Der menschliche Tod: Eine philosophische Revision 9783495811214, 9783495481219


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Inhaltsverzeichnis
I. Der vereinzelte Tod
1. Die Todesperspektive des Vereinzelten
2. Das Todesverhältnis des Vereinzelten
2.1 Todesliebe
2.2 Uti et frui des Todes
3. Die Diskriminierung des Todes
4. Todesphantasie und Seinsdenken
5. »Denn der Tod ist der Sünde Sold« (Paulus)
6. »Sein zum Tode« (Heidegger)
7. Dialektik von Leben und Tod
7.1 Lebensangst
7.2 Lebensschuld
7.3 Lebensopfer
7.4 Lebenshoffnung
II. Das Teilen von Leben und Tod
1. Das Meine
2. Gegenwart
3. Mein Eigenes
4. Mein Anderes
5. Der Tod als der ›andere Andere‹
5.1 Der Andere und der ›andere Andere‹
5.2 Das Todesverhältnis von Mutter und Kind
5.3 Insignifikante Tode
5.4 ›Große‹ Tote. Die Bedeutung des Leichnams
6. Die Gewißheit des Todes
7. Der ›eigene‹ Tod
7.1 Wie der Mensch stirbt
7.2 Als was der Mensch stirbt
8. Einander sterben und totsein
9. Die Gestalt des Todes
10. Abschiedserfahrungen
11. Abschied vom Leib
12. Abschied von Kunst und Philosophie
13. Abschied von Zeit und Geschichte
14. Abschied vom Kairos
15. Abschied vom Gebrauchtsein
16. Abschied von der Liebe
17. Abschied von der Gegenwart im Gedächtnis
III. Die Poetisierung des Todes
1. Der Zugriff auf den Tod
2. Der unaufgeklärte Tod
3. Der poetisierte Tod
4. Der ritualisierte Tod
5. Der dogmatisierte Tod
6. Der aufgeklärte Tod
Nachwort
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
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Der menschliche Tod: Eine philosophische Revision
 9783495811214, 9783495481219

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Rainer Marten

Der menschliche Tod Eine philosophische Revision

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495811214

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B

Rainer Marten Der menschliche Tod

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Die rationale und affektive Einschätzung des Todes ist sich in der philosophischen Tradition nicht gleichgeblieben. Was sich jedoch in ihr durchhält, ist die Orientierung des Todesdenkens am Einzelnen und Vereinzelten. Martin Heidegger, der sich in seiner Thanatologie radikal vom paulinischen Todesdenken absetzt und ihm gerade dadurch verhaftet bleibt, bringt den methodischen Ausschluss der Bedeutung des Anderen für menschliches Sterben und menschlichen Tod zum Abschluss. Marten stellt dem den eigenen Tod als den unübertrefflichen und unersetzlichen Intimus entgegen, der im Verein mit dem Anderen dem eigenen Leben Halt gibt. Unter dem Leitbild des Todes als Abschied entwirft er Grundzüge einer Ethik des menschlichen Todes, die sich sowohl gegen seine Poetisierung als auch gegen die naturwissenschaftliche Aufklärung über ihn abgrenzt.

Der Autor: Rainer Marten, geb. 1928, Professor für Philosophie an der Universität Freiburg i. Br. Zuletzt im Verlag Karl Alber sind von ihm erschienen: »Die Möglichkeit des Unmöglichen. Zur Poesie in Philosophie und Religion« (2005, 3 2015), »Maßlosigkeit. Zur Notwendigkeit des Unnötigen« (2009, 2 2014), »Radikalität des Geistes. Heidegger – Paulus – Proust« (2012), »Endlichkeit. Zum Drama von Tod und Leben« (2013, 2 2015).

https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Rainer Marten

Der menschliche Tod Eine philosophische Revision Um ein Nachwort erweiterte Neuausgabe

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Erweiterte Neuausgabe des Buches von 1987 (Schöningh Verlag)

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2016 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48121-9 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81121-4

https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Inhaltsverzeichnis

I. 1. 2.

3. 4. 5. 6. 7.

II. 1. 2. 3. 4. 5.

Der vereinzelte Tod . . . . . . . . . . . . . . Die Todesperspektive des Vereinzelten . . . Das Todesverhältnis des Vereinzelten . . . . 2.1 Todesliebe . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Uti et frui des Todes . . . . . . . . . . . Die Diskriminierung des Todes . . . . . . . Todesphantasie und Seinsdenken . . . . . . »Denn der Tod ist der Sünde Sold« (Paulus) »Sein zum Tode« (Heidegger) . . . . . . . . Dialektik von Leben und Tod . . . . . . . . . 7.1 Lebensangst . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Lebensschuld . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Lebensopfer . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Lebenshoffnung . . . . . . . . . . . . .

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. 7 . 7 . 10 . 11 . 15 . 25 . 31 . 45 . 55 . 85 . 88 . 91 . 97 . 104

Das Teilen von Leben und Tod . . . . . . . . . . Das Meine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mein Eigenes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mein Anderes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Tod als der ›andere Andere‹ . . . . . . . . . 5.1 Der Andere und der ›andere Andere‹ . . . 5.2 Das Todesverhältnis von Mutter und Kind 5.3 Insignifikante Tode . . . . . . . . . . . . . 5.4 ›Große‹ Tote. Die Bedeutung des Leichnams

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107 107 109 112 114 118 118 120 124 125 5

https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Inhaltsverzeichnis

6. 7.

8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17.

Die Gewißheit des Todes . . . . . . . . . . . Der ›eigene‹ Tod . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Wie der Mensch stirbt . . . . . . . . . . 7.2 Als was der Mensch stirbt . . . . . . . . Einander sterben und totsein . . . . . . . . . Die Gestalt des Todes . . . . . . . . . . . . . Abschiedserfahrungen . . . . . . . . . . . . Abschied vom Leib . . . . . . . . . . . . . . Abschied von Kunst und Philosophie . . . . Abschied von Zeit und Geschichte . . . . . . Abschied vom Kairos . . . . . . . . . . . . . Abschied vom Gebrauchtsein . . . . . . . . Abschied von der Liebe . . . . . . . . . . . . Abschied von der Gegenwart im Gedächtnis

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128 135 136 140 151 155 160 172 180 182 185 188 189 192

III. 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Die Poetisierung des Todes Der Zugriff auf den Tod . Der unaufgeklärte Tod . . Der poetisierte Tod . . . . Der ritualisierte Tod . . . Der dogmatisierte Tod . . Der aufgeklärte Tod . . . .

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Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

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I. Der vereinzelte Tod

1. Die Todesperspektive des Vereinzelten Der Mensch lebt paarig und gesellig, in Verbänden und Gemeinschaften, in Gruppen und Gesellschaften. Ein Einzelgänger, der seinen Namen rundherum verdient, ist ein wahrer Einzelfall, zumeist ein eher trauriger. Gleichwohl liebt es die Philosophie bis heute, wichtigste menschenbezogene Themen am Einzelnen zu demonstrieren, der gegenüber allem Besonderen abgegrenzt und – unbeschadet einer Zugehörigkeit zum ›Wesens‹-allgemeinen – für sich vereinzelt ist: am einzelnen Subjekt, an der einzelnen Existenz und Person, am einzelnen Lebewesen. Geht es um Sein und Handeln, Zeit und Bewußtsein, Erkenntniskraft und Gefühl, dann regiert das Individuum als solches die Nachdenklichkeiten. Es ist, als blockiere eine Ding- und Substanztheorie mit ihrer für Menschen unangebrachten Anschaulichkeit den Zugang zur richtigen phänomenalen Einstellung, nämlich Handlungszusammenhänge zu sehen, aus denen heraus als jeweils Ganzem Menschen in ihre Einzelnheit treten: ein Erwachsener, ein Berufstätiger, ein Kranker, ein Mann, ein Kind, ein Ausländer, auch ein Sehender und Fühlender, ein Sprechender und Denkender, ein Lebender und Sterbender. Stehen die Dinge so, dann ist es von vorneherein fraglich, daß die Philosophie brauchbare Gedanken zu Sterben und Tod entwickelt hat. Wenn Menschen sich über ihr Leben als Lebenszeit und Lebensweg verständigen, entschließen sie sich gerne dazu, das so borniert wie irgend möglich zu tun. Sie schauen dann 7 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Der vereinzelte Tod

gleichsam weder rechts noch links, um ja nicht auf anderes Leben, das sie belangt, aufmerksam zu werden, sondern beschränken sich auf ihr eigenes und vermeintlich eigenstes Vorne und Hinten, auf, wie sie sich vormachen, die rein selbst gelebte und noch abzulebende Zeit, auf den rein selbst zurückgelegten und noch zuende zu gehenden Weg. Mit dem, was Menschen sich da säuberlich von ihrem Leben und für es bewußt zu machen suchen, geraten sie gedanklich auf die Einbahnstraße des Lebens. Sie sehen sich als ein Leben, auf einer Bahn, in einem Sinn. Es ist die Vorstellung, das eigene Leben beginne mit dem Eintritt in das Leben, Geburt genannt, und ende mit dem Austritt aus dem Leben, Tod genannt. Zwischen beidem spanne sich die Lebensbahn. Wählen sie einen Betrachterstand außerhalb ihrer selbst, dann veranschaulichen sie sich traditionell die Bahn als eine gewölbte: bis zur Mitte, wo die Lebenskraft im Zenith steht, steigt sie an, danach, zum Ende hin, fällt sie wieder ab. Beharren sie aber auf der Perspektive der eigenen Lebensbahn, die einen augenblicklich nur den Punkt sehen läßt, der retrospektiv und eben nach hinten stracks zur Geburt, prospektiv nach vorne geradeso zum Lebensende führt, dann bringt es ihr Lebensverlaufsbewußtsein allein zur Anschauung eines schnurgerade verlaufenden Strichs. Die Todesvision, die sich auf der ›Einbahnstraße‹ des Lebens bewegt, ist der Philosophie nicht fremd. In ihren Gedanken zu Zeit und Tod liebt sie es, den Gesichtspunkt des Individuums einzunehmen und es mit janusköpfiger Vergangenheits- und Zukunftsorientierung geburt- und todwärts seine Lebenslinie ins Auge fassen zu lassen. Was von dem einen Zeitbewußtsein und seiner dreifachen Gegenwart bei Augustinus bis zu dem einen Zeiterlebenden mit seinen Protentionen und Retentionen bei Edmund Husserl an sachinadäquater Beschränkung der Zeitperspektive in der Philosophie methodisch

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Die Todesperspektive des Vereinzelten

vorgeführt wird, findet bei Maurice Merleau-Ponty mit Blick auf den Tod eine konzise Fassung 1 : (…) ich habe so wenig Bewußtsein davon, das wahre Subjekt meiner Empfindung zu sein, wie von meiner Geburt oder meinem Tod. Weder meine Geburt noch mein Tod können mir erscheinen als Erfahrungen, die die meinen sind, da ich, sie also denkend, mich voraussetzte als mir selbst präexistent und mich selbst überlebend, um sie erleben zu können, und so dächte ich also nicht wahrhaft meine Geburt oder meinen Tod. So kann ich mich denn stets nur erfassen als »schon geboren« und »noch lebend«, meine Geburt und meinen Tod immer nur als vorpersonale Horizonte: ich weiß, daß man geboren wird und stirbt, doch meine Geburt und meinen Tod vermag ich nicht zu erkennen.

Mein Tod, der eigene Tod, der einzelne und vereinzelt-vereinzelnde – darauf geht ein Leben, in seiner Todesvision dem einsinnigen Leben folgend, geradewegs zu. Nicht zuletzt Philosophen glauben ein Todesbewußtsein dann zu erfassen, wenn sie den Tod eines Menschen als rein seine Sache ansehen: als Sache seines Kopfes, seines Herzens, seiner Seele, seines Leibes, seiner psychosomatischen Einheit und Ganzheit und eben seiner Lebenszeit und seines Lebensweges. Die Todesperspektive des Vereinzelten ist, wie wir uns belehren lassen, πρότερον πρὸς ἡμᾶς, das methodisch ›Nähere für uns‹. Wir wählen sie zum Ausgang in der Absicht ihrer reductio ad absurdum. Zunächst aber bietet sie, mehr

1 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 253. Zu dieser Eingrenzung der Möglichkeit, sich individuell zu Geburt, Tod und Zeit zu verhalten, vgl. ebd. S. 398; 417; 493. J.-P. Sartre zeichnet in L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique, Paris 1943, unter der Überschrift »Ma mort« (IV, 1, 2 E) Tod und Geburt ganz entsprechend als Fakten, die außerhalb der Erfahrungsmöglichkeit des Subjekts liegen, das allein Erfahrungen macht, aber eben per definitionem vom Tod ausgelöscht werde. Schon Epikur hatte diesen Sachverhalt im Blick (Überwindung der Furcht, Übers. von O. Gigon, Zürich 1949, S. 45): »Solange ich lebe, ist der Tod nicht da; und kommt der Tod, dann bin ich nicht mehr da. Also berührt er mich nicht.«

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Der vereinzelte Tod

oder weniger streng eingehalten, Gelegenheit, überraschende Möglichkeiten menschlicher Todeszuwendung anzudeuten.

2. Das Todesverhältnis des Vereinzelten Der Einzelne in seinem ungeselligen Für-sich verhält sich zu seinem Tod je nachdem auf geistige, praktisch-voluntative und praktisch-tätige, nicht zuletzt auf affektive Weise, wobei nie die eine ganz ohne die andere wirksam ist. Er kann den Tod als Ende seines Lebens vorhersehen, seiner gewiß sein, ihn ahnen und vorausahnen, kommen fühlen. Das sind Möglichkeiten, rein für sich auf den eigenen Tod aufmerksam zu sein, ihn zu erfassen, ohne daß eigenes Leben darum schon in eigenen Tod überginge. Dem entgegen stehen die Möglichkeiten, den eigenen Tod am Ende der eigenen Lebenslinie nicht zu sehen, vor ihm die Augen zu verschließen, ihn sich zu verschweigen, zu verdrängen, von ihm einfach keine Kenntnis zu nehmen und kein Aufheben für das eigene Lebensverständnis zu machen, ohne daß eigenes Leben sich dadurch freilich vor dem eigenen Tode rettete und auch nur einen Tag gewänne. Der für gewiß genommene Tod läßt sich vom Einzelnen für sich bejahen oder verneinen. Er kann ihn frei annehmen, ihm schon bei Lebzeiten die Reverenz erweisen, oder jede freie Begegnung mit ihm, jedes Entgegenkommen ablehnen. Bemerkenswert ist, daß Todesbejahung nicht notwendig einer Lebensverneinung, Todesverneinung einer Lebensbejahung entspricht. Gerade Lebensbejahung kann Todesbejahung einschließen: das Ja zum Tod als Jawort eines selbstbewußten Lebens vorweg zu seiner Vollendung.

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Das Todesverhältnis des Vereinzelten

2.1 Todesliebe Die affektive Besetzung des Todesverhältnisses scheint dagegen für den Einzelnen, folgt er nicht Modeströmungen und Dichterphantasien oder pflegt er gar abnorme Praktiken, nur negativ sein zu können. Man hält es für üblich, daß er sich vor seinem Tod ängstet und fürchtet: vor der Auflösung, Vernichtung, Dunkelheit, Trennung. In eher unbewußten Personalisierungen wird er den Tod hassen und schmähen. Vom einzelnen Mann zur Zeit seiner Mannbarkeitsriten – schon weg von der Mutter und noch nicht bei den Frauen – kann heroische Todesverachtung verlangt sein. Friedrich II. von Preußen hat sich die jungen Offiziere zu diesem Zweck unverheiratet gewünscht. Das berüchtigte ›Navigare necesse est, vivere non necesse est‹, dieses der Hanse angedichtete Wort der Romantik 2 , hat in zwei Weltkriegen bewiesen, wie erfolgreich an affektives Todesverhalten zu appellieren ist. Anstatt aber in der Todesverachtung nach versteckter Todesliebe zu suchen, ist beim Einzelnen auf ein offenkundiges und fruchtbares Liebesverhältnis zum Tod zu sehen, das nicht nur möglich, sondern lebenspraktisch nötig ist. ›Geliebter Tod‹ ? Nein. Keine Euphemismen wie ›Gevatter Tod‹ und ›Freund Hein‹ sind gemeint. Nicht der ›schöne‹ Tod steht im Blick, wie er als schöner Jüngling mit Fackel zu sehen wäre. Der zu liebende Tod wird für den Einzelnen nicht als Geliebter vorgestellt, mit dem er lebendig schlafen möchte. Wie er für ihn als Möglichkeit und praktische Notwendigkeit zu sehen ist, bedeutet er keine Koinzidenz von Tödlichem und Erotistischem, von Todesbewußtsein und Überspringen bloß H. Walther, Carmina Medii Aevi Posterioris Latina, II/3 Proverbia Sententiae- que Latinitatis Medii Aevi 1965, p. 25, No. 15958 b, Verweis auf F. Frh. von Lipperheide, Sprichwörterbuch, Berlin 1907, S. 762: »SCHIFFFAHREN = Schiffahren ist nötig, leben nicht. Navigare necesse est, vivere non necesse est.« Inschrift an einem Schiffahrtshause zu Bremen.

2

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Der vereinzelte Tod

animalischer Sexualität. Es ist auch nicht an die Euphorie eines Sterbenden gedacht oder an einen Verbitterten, der von einem verhaßten Leben weg sich dem Tod als neuem, Besseres versprechendem Freund zuwendet. Dabei gäbe der tragisch ›geliebte‹ und so herbeigesehnte Tod außerordentliche Möglichkeiten von Affektivität zu entdecken. Sophokles läßt einen Helden hoffen, daß ihm sein Schwert aufs freundlichste den schnellen Tod bringe. 3 Um ihn eigens zu begrüßen, fordert der ihn sogar zu einem Auge in Auge heraus. 4 Aber das ist eben keine Todesliebe, die für das Leben fruchtbar sein könnte. Auch bei der Entdeckung, daß alles Lebendige danach strebt und treibt, den vorlebendigen anorganischen Zustand wiederherzustellen 5 , findet sich vom geliebten Tod keine Spur. Allenfalls der Tod, der in ein erfülltes Leben eintritt, ihm nichts mehr nimmt, sondern seiner gelassenen Erwartung entspricht 6 , läßt erahnen, welche affirmative affektive Besetzung des Verhaltens zum Tode möglich und zur lebenspraktischen Erfüllung nötig ist. Die abnorme, die heroisch-verführte, die allem Lebendigen eingeborene, die romantisch 7 oder surrealistisch 8 ästhetizierte ›Todesliebe‹ – dafür wird Verständnis aufgebracht. Den Tod aber wirklich zu lieben, scheint menschliches Leben von Grund auf und im Ganzen zu verkehren. Doch wir haben das anders zu sehen. Der eigene Tod ist, wie wir uns zur eigenen Überraschung selber überzeugen können, der unübertreffliche und unersetzliche Intimus des eigeSophokles, Aias 822. Ebd. 854 f. 5 S. Freud, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: Stud. Ausg. Bd. 1, Frankfurt 1969, S. 540. 6 Genesis 25, 8: »sterben in gutem Alter und zufrieden der Tage« (LXX: πλήρης ἡμερῶν, Luther: »lebenssatt«). 7 Vor allem Novalis, Hymnen an die Nacht: der Tod als Zurück in jede Art von Schoß, weswegen dann auch »des Todes Entzückungen« usw. 8 G. Bataille, Les larmes d’Eros, Paris 1961; ders., Le mort, Paris 1967. 3 4

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Das Todesverhältnis des Vereinzelten

nen Lebens. Insofern er ungewiß ist in seinem Wann und Wie, vor allem aber schlechthin undenkbar in seinem ›Sein‹, zeigt er sich als das Geheimnis des Lebens, insofern er aber gewiß ist in seinem Einst und Überhaupt, als das dem Leben höchst Vertraute. Das Todesverhältnis ist bereits vom Einzelnen in seiner Vereinzelung als das Intimverhältnis seines Lebens zu erfahren. Alle Lebensgewißheiten können in Gefahr geraten und ihre Lebenssicherungsfunktion einbüßen. Es gibt Lebensgewißheiten, die ein Kind im Aufwachsen dank Anderer und mit Anderen für sich gewinnt: die des festen Hauses, wes Kind es ist, der unwiderlegbaren Angst. 9 Es gibt lebensbefähigende gemeinsame Gewißheiten, zu denen Menschen gemeinsam finden und die sie gemeinsam bewahren. 10 Sie alle können im mißlingenden Leben verlustig gehen, verdunkeln und ihre Kraft verlieren. Nur die eine bleibt unmißverständlich und kraftvoll gegenwärtig: die Gewißheit einmal zu sterben und tot zu sein. Sie bleibt selbst dem Einzelnen, soweit er sich allein aus sich selbst zu verstehen meint. Sie bleibt ihm dabei nicht vordringlich und nicht einmal notwendig als Tatsache seines einsamen Bewußtseins, sondern als etwas, das in der Selbsterfahrung eigener Lebendigkeit steckt: als praktische Gewißheit. Gilt es, zugunsten des eigenen und des anderen Lebens seinen Nächsten wie sich selbst zu lieben 11 , dann ist entsprechend der eigene Tod zu lieben, das Intimverhältnis zu ihm zu bejahen – als ein Moment lebensbefähigender Selbstliebe. So ungewohnt es auch sein und so abwegig es erscheinen mag, Menschen tun bei der Verständigung über sich selbst gut daran, im eigenen Tod etwas von unschätzbarem Wert und außerordentlich Kostbares zu erkennen. Gäbe es dies Vertrauteste Ch. Wolf, Nachdenken über Christa T., Darmstadt/Neuwied 1986, S. 17; 23 ff. 10 Siehe unten Kap. II, 6, S. 130 f. 11 Matthäusevangelium 19, 19. 9

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Der vereinzelte Tod

und Geheimste des Lebens nicht, dann fehlte ihm ein unersetzbarer verläßlicher Halt; es geriete außer sich: aus seiner Bahn; es verlöre sich. Philosophen glauben, auf den Tod als je eigenen Lebenshalt theoretisch verzichten zu können, indem sie dem Menschen als Vernunftwesen andere ›Lebens‹-chancen eröffnen. Wahre Schreckensvisionen im Kleid schönster Versprechungen tauchen auf: Kants Gedanke von der Unsterblichkeit der menschlichen Seele als rein vernünftiges Erfordernis, dem Menschen die unendliche Möglichkeit zuzudenken, zu guter Letzt mit Hilfe Gottes und eben eines ewigen Lebens in einer neuen Welt doch noch vernünftig, moralisch und zugleich glücklich zu werden. 12 Dabei ist ja im Leben eines Menschen kaum je seine Vernünftigkeit, zumeist aber sehr wohl seine Affektivität in Gefahr. Stimmt bei einem Menschen das affektive Verhältnis zu seinem Vertrautesten und Geheimsten nicht, dann wird er mit einer Affektivität ›leben‹ müssen, die ihn von Grund auf zu lebensbedrohlicher Haltlosigkeit verführt. Im Verein mit dem eigenen Tod ist es allein der Andere, der lebende und der tote, der einem eigenen Leben Halt verleiht. Dabei kann der Andere ein fehlendes Verhältnis zum Tod nicht ersetzen. Die Liebe zum eigenen Tod ist zugleich ein Moment menschlicher Selbstachtung. Kant hat Würde und Achtung des Menschen an der Vernunft als dem abstrakt-allgemeinen Wesen der menschlichen Person festgemacht. Ohne den eigenen Tod aber als Intimus des eigenen Lebens gibt es keine Selbstachtung, wie sie Grund ist, für Andere jemand Würdiges und durch Andere jemand Geachtetes zu sein. Wer anderen Menschen selber als Mensch begegnen möchte, hat allem zuvor ihren eigenen Tod, nicht ihre Vernunft zu achten. Die Liebe zum eigenen Tod ist keine, die erst erklärt werden müßte. Es ist das Leben des Menschen ›selbst‹, das den Tod 12

I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781/1787), A 811–13/B 839–41.

14 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Das Todesverhältnis des Vereinzelten

liebt, anders gesagt: das ihn seinen Tod lieben läßt. Das Leben, sofern seiner selbst und seines Todes gewiß, ist mit dem Tod intim. Kein Mensch liebt darum den sofortigen Tod, den Tod zur Unzeit, den bösen Tod, der das Leben vernichtet, indem er jede Lebens- und Todesliebe mißachtet und zerstört. Den eigenen Tod zu lieben heißt gerade, mit ihm nicht als dem schlechthin Fremden, Gewaltsamen und Zerstörenden umzugehen. Wer den eigenen Tod liebt, schätzt nicht lebensbedrohliche Zufälle, keine Folterer und Mörder, nicht das, was sie vollbringen, begehrt keineswegs den unsanften Tod, das schwere Sterben, das den Sterbenden seiner Eigenheiten benimmt und fremd übermächtigt. Ein Bild mit dem Titel »Tod«, wie es Max Beckmann 1938 malt, den öffentlich-mächtigen Tötungswillen seiner Zeit vor Augen, stellt keine Liebe zur Schau, die dem Schrecken des Gesehenen gelten könnte.

2.2 Uti et frui des Todes Den eigenen Tod im eigenen Leben und für es zu sehen und nicht zu sehen, zu bejahen und nicht zu bejahen, zu lieben und nicht zu lieben – das spielt sich offenbar alles ›im‹ Lebendigen ab: in Kopf und Herz, Geist und Gemüt. Näher an einem realen Todesverhältnis und effizienter für es scheint da schon die Aktion zu sein, die Tätigkeit und Gewalttätigkeit, die den eigenen Tod eigens herbeiführt oder abwehrt. Doch das lebensklug-diätetische, das ärztliche und ggf. brachiale Tun, darauf bedacht, dem Tod zu trotzen und ihn zu verzögern, zu überlisten und zu fliehen, oder, im Gegenteil, ihn zu suchen und zu finden, eigens kommen zu lassen und sich anzutun – das alles lenkt von dem weniger diskutierten, jedoch interessanteren Problem ab, inwiefern der eigene Tod den Menschen praktisch braucht, damit er nicht zur Unzeit kommt, jedoch, wenn es Zeit ist, auch eintreten und gelingen kann. Der Sterbende kämpft nicht gegen den Tod, um zu über15 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Der vereinzelte Tod

leben, sondern um zu leben. Der Lebenswille, der dem Kranken aufhilft und dem auf den Tod Liegenden die Agonie durchstehen läßt, verkrampft sich nicht blind-animalisch in ein ›nacktes Daß‹. Gründet er in einem erfüllten und selbstbewußten Leben, dann dient der Lebenswille dazu, gegen einen unzeitigen Tod anzukämpfen. Berichten vom ›letzten Beistand‹ ist übereinstimmend zu entnehmen, daß Sterben und den Tod Eintretenlassen als eine Kunst zu verstehen ist. Manche Menschen sterben nicht, weil sie nicht sterben können, von sich aus nicht dazu fähig sind. Der auf den Tod Liegende bringt keine Todesbereitschaft auf, zeigt kein Entgegenkommen, weil zur Stunde noch etwas nicht geordnet, abgeschlossen, ins Reine gebracht ist, um das Leben als vollendet wissen und bejahen zu können. Nicht jede Hinterlassenschaft des Lebens taugt dazu, guten Gewissens und ohne Sorge ›mit ihr‹ in den Tod zu gehen. Schönsten Besitz und liebste Menschen zu hinterlassen, läßt sich zugunsten eines gelingenden Todes erlernen, nicht aber unbewältigter Haß, unvergebene Schuld, unvollendete Arbeit. Todesangst wird oftmals als Trennungsangst erkannt, als Angst vor dem radikalen Alleinsein. Nicht erst das Vordenken an Tod und Totsein, sondern schon die Erfahrung des Sterbens, wie bei Krebskranken beobachtet, führt zur Einsamkeitsangst. Doch Sorge und Gewissen, das Eigene und Nötige im Leben noch nicht vollends getan zu haben, sind weit mehr eine Kraft, die den Menschen todesunfähig macht, als jene Angst, von allen und allem verlassen zu sein. Der Geiz der letzten Stunden läßt Menschen um Stunden rein um der Stunden willen bangen. Die Unfähigkeit zur letzten Stunde spiegelt aber allein die Unfähigkeit des Lebens wider. Ernst Bloch hat sie in seiner Konzeption des unfertigen Lebens im Noch-Nicht zum Prinzip des gesellschaftlich ›verantwortlichen‹ Lebens erhoben. 13 Ist vom Handeln die Rede, 13

Siehe unten Kap. I, 3, S. 27.

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Das Todesverhältnis des Vereinzelten

vom Tun und Lassen, mit dem der Mensch lebenswillig und todesbereit dem eigenen Tod begegnet, um die Stunde des Todes praktisch als seine Zeit oder Unzeit wahrzunehmen, dann steht mit die Todesunfähigkeit zur Diskussion, die ein in bedeutsamen Stücken mißlingendes Leben sich erwirbt. Das alles gehört zusammen: den eigenen Tod sehen und seiner gewiß sein, ihn bejahen, lieben und ihn eintreten lassen können. Noch ein letztes ist zu nennen, um die Skizzierung des eigenen Todes in der Perspektive des Einzelnen zum Abschluß zu bringen: das uti et frui. So überraschend und frivol das auch klingen mag, für den Unreflektierten und für den Metaphysiker, der Mensch braucht den Tod und ›genießt‹ ihn. Dem vollendet zu lebenden Leben geht nichts über es selbst und seinen fruchtbar zu machenden Tod. Anders als in der Verwendung des uti et frui bei Augustinus, die ihm dazu dient, das eine Sein zum Gebrauch, das ganz andere einzigartig zum Genuß zu bestimmen, finden sich im lebendigen Todesverhältnis des Menschen beide Verhaltensweisen geeint. Es ist aber nicht um eine andere Verwendungsart, sondern um eine andere Denkart zu tun. Die Deutung des eigenen Todes verlangt bereits in der Perspektive des einen eigenen Lebens die Revision der traditionellen Bestimmung von Mittel und Zweck. Das Leben braucht, schon biologisch gesehen, den Tod. Wo kein Vergehen, ist auch kein Entstehen. Ein altes Wort 14 wählt das Bild: Es sei denn, daß das Weizenkorn in die Erde falle und ersterbe, so bleibt’s allein; wo es aber erstirbt, so bringt es viele Früchte.

In erweiterter Perspektive: die Evolution braucht den Tod. Der Mensch braucht aber den Tod noch viel ›näher‹ : er braucht ihn als praktische Gewißheit und als seinen intimsten Halt. Der eigene Tod wird jedoch damit nicht zu einem bloßen Mittel, zu etwas bloß Bedingendem und Dienendem, das ohne eigene 14

Johannesevangelium 12, 24 (Luther).

17 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Der vereinzelte Tod

Lebensbedeutung wäre. Im Gegenteil. Mit dem Eintritt des eigenen Todes, wenn er sich als das Vertrauteste des eigenen Lebens bewahrheitet und es mit ihm als seinem Geheimnis eins geworden ist, findet alles Um-zu-leben eines Lebens sein Ende. Wer auf seinen Tod sieht, ihn bejaht, liebt, eintreten lassen kann und braucht, sieht sich im Tod ein Ende finden, das schlechthin nicht als Mittel zu nehmen ist, etwa als Mittel zu einem neuen und ganz anderen Leben. Davon weiß ein Leben aus sich nichts. Hat ein Leben seine Möglichkeiten zu leben voll wahrgenommen, hat es selbst die verfügbaren Ressourcen ausgeschöpft, eigens am Leben zu bleiben, Ressourcen des Lebenswillens und der Überlebenskünste, dann richtet es nicht etwa ein neues Sinnverlangen über den eigenen Tod hinaus. Aus dem Sinn, den menschliches Leben im Leben findet, entwickelt sich nicht notwendig ein Sinn, der weiter reicht als das eigene Leben und sein Ende. Ein Leben, das im Tod sein Ende sieht und zu finden weiß, ist sich zeitlebens gewiß, den Tod nicht nur zu brauchen, sondern auch gleich einer Frucht zu genießen: im Tode wirklich mit sich am Ende zu sein und sein Um-zu vollbracht zu haben. Dieses Brauchen und ›Genießen‹ ist ausschließlich ein Vermögen des Lebens: seiner Gewißheit dieser Frucht und seines entsprechenden Handelns. Der Tod als Endzweck des Lebens und für sich als Selbstzweck – entschiedener scheinen lebendiger Sinn und lebendige Hoffnungen eines Lebens nicht verkannt werden zu können. Wer Tod als Mittel akzeptiert, als Mittel zum Leben oder zu ganz neuem Leben, wird genau in ihm nicht einen Zweck sehen können, der Selbstzweck wäre und zugleich Endzweck des Lebens. Doch diese Sicht ist auch gar nicht gefragt. Das Um-zu des Lebens, das manchen seit den Besinnungsaufsätzen der Schulzeit als Erklärungsnot verfolgt, ist differenzierter zu sehen. ›Der Mensch lebt, um zu leben‹, ›Ich lebe, um zu leben‹ – damit wird behauptet, ein bestimmtes Handeln sei sich selbst 18 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Das Todesverhältnis des Vereinzelten

genug. Würde jemand gefragt, warum er ins Land sehe, könnte er antworten: »Ich sehe, um zu sehen.« Wir stoßen ganz entsprechend auf Antworten wie ›trinken, um zu trinken‹, ›sich langweilen, um sich zu langweilen‹. An einem ›ich lebe, um zu leben‹ wäre insofern nichts Besonderes, schon gar nicht Verwerfliches zu entdecken, ebensowenig an einem ›ich sterbe, um zu sterben‹. Wenn Meister Eckhart dem eigenen Leben ein Warum abspricht, formuliert er das positiv 15 : ich lebe dar umbe daz ich lebe.

Nun mag man einwenden, das Leben könne doch nicht ganz mit dem Trinken mithalten. Trinken, um zu trinken, sei zwar glaubhafte Praxis, aber im Durst stecke der Unterschied. Obschon nämlich einer auch trinkt, um zu trinken – zu irgendwie trunkener Zeit, eigentlich werde doch getrunken, um Durst zu löschen, und sei es auch den der Trunksucht. Das Leben aber, das gelebt werde, um gelebt zu werden, befriedige in dieser Sicht nichts weiter als sich selbst, und das eben sei das Problematische. Trotz dieser Bedenken ist die Parallelisierung von Leben und Trinken zu einem guten Ende zu führen. Ist Trinken sich im Grunde nicht selbst genug, sondern gehört zu ihm wesentlich, ob eigens verspürt oder nicht, Antwort auf Durst zu sein, so hat Leben in sich selbst diese Spanne: es ist Lebenswille, Lebensdurst, Lebensliebe, und es ist Antwort darauf: eben Leben. Wer vom Leben ›etwas haben‹ will, denkt genau an Leben, an so oder so erfülltes. Allein Leben vermag Lebensdurst zu befriedigen. Wer also behauptet, er lebe, um zu leben, hat das ›trinken, um zu trinken‹, hat selbst ein ›reden, um zu reden‹ nicht zu fürchten. Gilt nämlich auch letzteres seit Platons Tagen als gut sophistisch, ersteres als Indiz für Sucht, dann wird es darum doch niemand dem

Meister Eckhart, Predigten, hrsg. von J. Quint, 1. Bd. Stuttgart/Berlin 1936, S. 92 (Predigt 5 b). 15

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Leben sinnvollerweise verübeln können, sich selbst als Grund und Absicht genug zu sein. Sobald aber Vernunft sich dieses Lebensselbstverständnisses bemächtigt und Leben, das einfach lebt, um zu leben, zum Selbstzweck erklärt, scheint schon das Unmögliche zu passieren: die Miterklärung des Todes zum Endzweck des Lebens und für sich selbst zum Selbstzweck. In der Tat: zum Leben gehört das Sterben und Totsein. Das Leben braucht den Tod: wie einer lebt, um zu leben, so lebt er auch, um zu sterben und tot zu sein. Einerseits kann der Mensch es gar nicht anders denken und sagen, als daß er nicht allein lebt, um zu leben, sondern von Anfang an auch lebt, um zu sterben und tot zu sein. Andererseits aber wehrt er sich wie instinktiv dagegen, den Tod als Endzweck des Lebens anzuerkennen und in den Geruch des Selbstzweckhaften kommen zu lassen (Tod als an sich Gutes). Lassen wir von der strikt finalen Konnotation des »um zu« und greifen wir das »um« in anderen Wendungen auf, dann wird es leichter, der Bemächtigung des Lebensselbstverständnisses durch die Vernunft zu entgehen. ›Im Leben geht es um das Leben und um das Sterben‹ soll jetzt heißen: ›das Leben wird um den Preis des Lebens und des Todes gelebt‹. Das ist als existentielle Deutung des Lebens zu verstehen, die als solche von den End- und Selbstzweckvorstellungen der Vernunft verschont bleibt. Mit ihr sind wir auf gutem Wege, dem Tod in seiner Lebensbedeutung gerecht zu werden, soweit es die gewählte Perspektive zuläßt. Der eigene Tod ist vom Einzelnen für nichts anderes anzusehen als für das Ende des eigenen Lebens. Lebe ich, um zu leben und zu sterben, lebe ich nämlich um den Preis des Lebens und des Todes, geht es mir in meinem Leben um mein Leben und meinen Tod, dann werde ich den Tod fruchtbar zu machen haben. Das besagt, daß ein Mensch in der praktischen Gewißheit eines bejahten und zu bejahenden Lebens das eigene Leben und den eigenen Tod zugleich für die Frucht seines Lebens 20 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

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nimmt. Gehörte der Tod nicht auf diese Weise zur praktischen Lebensbejahung eines Menschen, dann müßte er, um sich dennoch als ›Frucht‹ zu verstehen, einen theoretischen Standpunkt außerhalb seines Lebensvollzugs einnehmen und von dorther Sein und Vollendung seiner Natur erkennen. Kein Mensch aber kann daran denken, einfach fort- und weiterzuleben und aus seiner praktischen Todesgewißheit auszusteigen. Er lebt immer angesichts der Herausforderungen des Lebens und seines gewissen, der Zeit nach unbestimmten Endes. Die Endlichkeit steht für ihn außer Frage. Der lebendige Mensch stößt kraft seiner Endlichkeit die Selbst- und Endzweckvorstellungen der Vernunft vom Gedanken des über sich selbst verständigten Menschen ab. Das Leben kann angesichts des Todes nicht für sich ein Selbstzweck, der Tod nicht sein Endzweck sein. Das sind Kategorien einer anderen Denkart. Im Leben, das lebt, um zu leben, liegt kein Selbstzweck, weil es zugleich lebt, um zu sterben. Das Leben, das lebt, um zu sterben, sieht wieder den Tod nicht als Endzweck an, weil es zugleich lebt, um zu leben. Diese Gegenläufigkeiten im Zugleich des Lebenssinnes heben die Absichten, wie sie Vernunft mit dem Leben hat, überhaupt auf. Der eigene Tod gehört zum eigenen Leben. Er transzendiert es nicht, um es an seinem eigenen Sinn, als Sinn in sich und für sich selbst, verzweifeln zu lassen. Vielleicht nützt hier eine gewagte Analogie. Wie der propositionale Gehalt eines Satzes nichts über den Satz selbst aussagt 16 , so geht auch die ›Intentionalität‹ des Lebens nicht über das Leben hinaus, um etwa dem Leben – zugleich – von außen Sinn zu verleihen bzw. einzuholen. Ich lebe um den Preis des Lebens und, weil zum Leben das Sterben gehört, um den Preis des Sterbens und des Todes. Ich lebe, um zu leben und zu sterben. Ich sterbe, um zu sterben und gelebt zu haben. Die LeL. Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus, London Nr. 3.332; vgl. Nr. 6.123. 16

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1958,

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bensgewißheit übersteigt nicht das Leben. Analog zu Satz und Satzzeichen hätten wir von Leben und ›Lebenszeichen‹ zu sprechen, von letzterem eben als dem, was ein Leben als Leben markiert. Genau in diesem Sinne ist der Tod ein ›Lebenszeichen‹ des eigenen Lebens, Der Tod bleibt aber damit Sache des Lebens. Er kann nicht in sich selbst enthalten sein 17 ; niemand kann im Tode für sich tot sein. Das frui des Todes ist eine Erfahrung und praktische Bestimmung des endlichen Lebens, ist kein Wort der Spekulation über Seinsstand und Gebrauchsart des Todes im Tode ›selbst‹. Im ›leben, um zu leben‹ wird der Lebenswille (›Lebensdurst‹) befriedigt, im ›leben, um zu sterben‹ der Sterbensund Todeswille. Beides ist nicht animalisch bzw. kreatürlich verstanden. Todes- und Lebensliebe sind Momente praktischer Lebens- und Todesgewißheit. Auch die Zwänge des End- und Selbstzweckdenkens sind beseitigt. Frei läßt sich behaupten: ›ich sterbe, um zu sterben (und gelebt zu haben)‹. Sterben ist kein Selbstzweck. Es ist eine ›Frucht‹ des Lebens, ein Vollenden lebendiger Endlichkeit. Im Leben spielen Leben und Sterben (und Tod) dem Leben und Sterben ihren eigenen Lebenssinn zu. Zu leben, zu sterben und tot zu sein ist sinnvoll, – nicht an sich, sondern vereint im Selbstverständnis des endlichen Lebens als Leben angesichts des eigenen Lebens und des eigenen Todes. Das Leben, das lebt, um zu leben (und zu sterben), kann nicht vom Leben ausgespielt werden, das lebt, weil es lebt. Hier haben Philosophen falsche Spuren gelegt, z. B. Ernst Bloch, wenn er schreibt 18 : Wir leben nicht, um zu leben, sondern weil wir leben, doch gerade in diesem Weil oder besser: diesem leeren Daß, worin wir sind, ist nichts beruhigt, steckt das nun erst fragende, bohrende Wozu. Dergestalt, daß Ebd. Nr. 3.332. E. Bloch, Zur Ontologie des Noch-Nicht-Seins, in: ders., Philosophische Grundfragen, Bd. 1 Frankfurt 1961, S. 11.

17 18

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Das Todesverhältnis des Vereinzelten es das Nicht des unausgesuchten Bin oder Ist nicht bei sich aushält, darum ins Noch-Nicht sich entwickelt, das es vor sich hat.

Wer lebt, weil er lebt, lebt nicht in bloßer Faktizität, als nacktes Daß, im Verständnis reiner Unausgesuchtheit (Heidegger: ›Geworfenheit‹). Lebe ich, weil ich lebe, dann lebe ich, weil ich geboren bin, weil ich individuiert und sozialisiert bin, weil ich Vergangenheit und Zukunft habe, weil ich mich bejahe, weil ich angenommen und gebraucht bin, weil ich mich als endlich und öffentlich, als lebendig und sterblich weiß und entsprechend handle. Das Weil des Lebens signalisiert ebensowenig seine primäre Zwecklosigkeit wie das Um des Lebens seine Selbstzweckhaftigkeit. Zur Selbstverständigung über sein Leben kann der Mensch auf letzten Rat und letzte Ratlosigkeit der Vernunft gut verzichten. In seinem Leben und für sein Leben braucht der Mensch den eigenen Tod, um sich nicht lebendig schlechthin zu verlieren. Er nimmt ihn zugleich wie eine Frucht, weil er über ihn hinaus nichts braucht, ›um‹ zu leben. Er lebt endlich und seiner Endlichkeit gewiß. In Anbetracht des eigenen Lebens und Sterbens driften uti et frui nicht nach alter Art auseinander. Damit ist das menschenmögliche und -nötige Todesverhalten des Einzelnen hinreichend skizziert. Daß Ontologen aus diesem Blickwinkel das vom Menschen geforderte Verhalten anders sehen, läßt sich an zwei extremen Positionen belegen: am Denkverbot, mit dem Aristoteles des Menschen Sterblichkeit belegt, und am entsprechenden Denkgeheiß Martin Heideggers. Es ist aber nicht notwendig [und recht], daß einer den Ratschlägen folgt, als Mensch auf Menschliches zu sinnen, auch nicht als Sterblicher auf Sterbliches, sondern soweit er nur vermag auf Unsterblichsein (ἀλλ’ ἐφ’ ὅσον ἐνδέχεται ἀθανατίζειν) und alles zu tun, was dazu beiträgt, daß er ein Leben führt, das dem Stärksten in ihm [der Vernunft] gerecht wird. 19 19

Aristoteles, Nikomachische Ethik X 7 1177 b 31–34.

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Aristoteles gibt damit zu verstehen, daß der Mensch als Mensch zwar ›eigentlich‹ sterblich, das aber, was in ihm »am meisten« Mensch ist, die Vernunft, eigentlich göttlich sei. Danach gehört der Tod, obwohl dem Menschen als solchem ›eigen‹, nicht zu dem, was wahrhaft eigenheitsfähig ist. Denn das, was dem Menschen als Stärkstes und Lustvollstes eigen ist, die göttliche Vernunft als höchstgesteigertes Menschsein, macht eben für Aristoteles allein das, wie Kant es wörtlich nennt, eigentliche Selbst des Menschen aus. Das philosophische memento ›mori‹ lautet also: σπουδάζε ἀθανατίζειν, ›Bedenke, daß du nicht bloß Mensch bist, sondern Göttliches in dir hast, das dich praktisch verpflichtet! Vergiß für den wahren Moment der Selbstbemühung deine Sterblichkeit und deinen Tod: beziehe dich auf die Möglichkeit reiner Vernünftigkeit, reiner Göttlichkeit und damit Todlosigkeit!‹. Die Sterblichen sind die Menschen. Sie heißen die Sterblichen, weil sie sterben können. Sterben heißt: den Tod als Tod vermögen. Nur der Mensch stirbt. 20

Das ist Heideggers Versuch, dem Menschen klarzumachen, daß er signifikant kein Unsterblicher, kein Gott ist. Der Mensch habe sein Eigenes vielmehr darin zu finden, menschlich und sterblich zu sein, um sich genau so in sein durch Göttliches bedingtes Sein zu schicken. Es gibt zwei Wesensbestimmungen des Menschen, die sich in den traditionellen Bemühungen der Philsophie, sich über den Menschen als Menschen zu verständigen, wesentlich unterscheiden: 1. der Mensch ist eigentlich vernünftig, 2. der Mensch ist eigentlich sterblich, was ggf. bedeutet: M. Heidegger, Das Ding, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 177.

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Die Diskriminierung des Todes

1. der Mensch ist eigentlich göttlich, 2. der Mensch ist eigentlich nicht göttlich. Beide Bestimmungen des Menschen nehmen Maß an der Gottheit, die eine ein abgrenzendes, die andere ein übereinstimmendes Maß. An ein uti et frui des Todes ist beidemale nicht gedacht, bei Heidegger zumal deswegen nicht, weil er den Menschen, der das Sterben (als Sterben) vermag, seinsgeschichtlich auf eine künftige Zeit vertagt.

3. Die Diskriminierung des Todes Die Zusammengehörigkeit von Leben und Tod des Menschen, wie sie sich bereits in der Sicht des vereinzelten Individuums zeigt, macht es unvermeidlich, daß jede Mißdeutung des einen die des anderen einschließt. Ein hervorragender Beleg dafür, daß das nicht allein in spezieller Ausrichtung auf den Menschen gilt, ist das Lebens- und Todesverständnis, das sich in der Philosophie als das leitende herausgestellt hat. Zur traditionellen Ontologie gehört es, den Tod zu diskriminieren und gegenüber dem Leben abzuwerten. Damit aber diskriminiert sie das Leben. Das geschieht wider ihre eigentliche Absicht, ihre vermeinte Einsicht, wider das vorherrschende Verständnis ihrer Rezipienten. Niemand bezweifelt, sie schätze das eigentlich Lebendige dem eigentlich Seienden gleich. Ontologie hat sich vielfach den Namen Lichtmetaphysik verdient. Sonnenmädchen sind es bei Parmenides, die den Philosophen über alles Gewöhnliche des Menschen hinweg zur lichten Einsicht des Seins geleiten. Platons dialektischer Philosoph, der sich aus den gewöhnlichen menschlichen Verhältnissen löst, um Nichtsein, Schein und philosophischer Unbildung zu entgehen, gerät ins Licht, das ihm zunächst die Augen verdunkelt, dann aber alles Unwahre und Unklare vergessen läßt. Der Geist lebt im Licht, sieht Lichtes, ist licht. Dem einsehenden Menschen geht als solchem ein Licht auf, wird ein Licht 25 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

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angezündet. 21 Seine Einsicht reicht ins Hervorleuchtendste (φανότατον, ἐκφανέστατον, εἰλικρινές). 22 Das ist ganz verständlich, sofern Denken ein Sehen ist – mit den Augen der Seele. Doch es kommt darauf an, die einseitige Option für das Leben darin zu erkennen. Der Tod als das Dunkel, das jeden umfängt, sobald er den Tag des Lebens verläßt (Tod als »schwarzes Verhängnis«, als »finstere Nacht«, die den sterbenden Menschen »sogleich mit Dunkel die Augen« umfängt) 23 , wird damit, ausdrücklich und bewußt oder nicht, auf Nichtseinskurs gebracht, der allein insofern das Interesse der Ontologie verdient, als er ihr signalisiert, wovon sie genau abzusehen wünscht. In der Art der Ontologie, sich als Vernunft- und Bewußtseinsmetaphysik zu präsentieren, läßt sich ebenso klar das Vorurteil gegenüber dem Toten als dem Bewußtseins- und Vernunftlosen entdecken, das als Nichtseiendes der ontologischen Diskriminierung verfällt. Wenn ›logisches‹ Nichtsein (negative Prädikation und Identität) mit ›logischem‹ Sein (Affirmation) ontologisch gleichzieht 24 , dann gibt es auch eine ontologische Gleichwertigkeit von Sein und Nichtsein zu bedenken. Wo aber insgeheim oder offenkundig eine Gleichsetzung von Sein und Leben vorliegt 25 , sogar von Sein, Leben und Denken. (Vernunft) 26 , ist jedes Nichtsein als solches onto-

Platon, Siebter Brief 341 d; Aristoteles, Rhetorik III 10 1411 b 12 f. Platon, Politeia VII 518 c; Phaidros 250 d; Symposion 211 e. 23 Ilias 5, 652/659. 24 Platon, Sophistes 237 a / 258 bc. 25 Platon, Nomoi X: die Frage nach dem Sein der Götter als Frage, ob sie leben. Auch in der Wendung esse currat in nos (Augustinus) ist mit dem Sein das Leben angesprochen, das ›in uns strömt‹. Bei M. Heidegger steht in Sein und Zeit, Halle/Saale 1927, der sogenannte existentialontologische Ausdruck ›Sein des Daseins‹ für existentiell ›Leben des Menschen‹. 26 Platon, Sophistes 248 e – 249 a: im Gedanken des schlechthin Seienden (παντελῶς ὄv) gehören Sein, Leben und Vernunft zusammen. Augustinus, Soliloquien II, 1: sich wissen als seiend, als lebend, als denkend. 21 22

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Die Diskriminierung des Todes

logisch diskriminiert, weil es Name für etwas Totes (und Bewußtloses) ist. Besonders ›konsequent‹ wird die ontologische Diskriminierung des Todes in der Diffamierung alles Zeitlichen betrieben. Sein ist als solches für immer bleibend und ewig, nicht zeitlich. Ein Apfel ist nichtig, weil er gegessen wird, ein Mensch, weil er stirbt. Für Ontologie als Ewigkeitsmetaphysik haben Tod, Totsein und Totbleiben gleich allem Zeitlichen nichts Denkwürdiges ›an sich‹. Alle Seinsmetaphysik, ob sie sich genauer als Licht-, Vernunft-, Bewußtseins- oder Ewigkeitsmetaphysik zeigt, ist Lebensmetaphysik. Überall gibt sie eine Gleichsetzung von Sein und Leben, von Nichtsein und Tod zu verstehen. Selbst noch ein vernunftmetaphysischer Nachzügler wie Ernst Bloch gehört diesem Diskriminierungsverbund an. Seine Metaphysik des Noch-nicht-seins erkennt im – ausstehenden – Sein das noch nie stattgehabte Leben in der Heimat. Auf dem Wege zu ihr, unterwegs im Noch-Nicht, ist keine Zeit für den Tod. In den Spuren schreibt Bloch 27 : Aber das Halbe, in dem wir sind, kann von außen leicht gestört werden. (…) Was uns aber störte, in dem gehe schon Sterben um, (…) Schon vom Tod hört sich etwas in diesen Störungen; die starke Arbeit sammelt doch nicht genug, (…) da kann etwas Unzeitiges schon schmecken, (…) Man spürt dann, daß man noch nicht fertig ist, gerade nicht gut aufhören kann.

In der Seinsheimat einst angelangt, wäre aber erst recht wieder keine Zeit für den Tod, weil das ja hieße, die Heimat als Heimat zu verpassen, es sei denn, Heimat wäre insgeheim doch nichts anderes als das Ruhe und Frieden gewährende Totenhaus, was durchaus naheliegen könnte, wenn doch Utopien durchgängig mit ihren Ideen des Gleichbleibenden, Widerspruchsfreien und Quietistischen den Geschmack von Leblosigkeitsphantasien haben. ›Heimkehren und sterben‹ ? Nein. Bloch sieht allein 27

E. Bloch, Spuren, Frankfurt 1985, S. 128 f.

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das Leben vor, das von Vernunft vorgesehene einstig-heimatliche. 28 Die Ontologie Martin Heideggers steht der traditionellen Verurteilung des Todes in nichts nach. Seine antimetaphysisch stimulierte Lebensphilosophie von Sein und Zeit versteht sich als Seinsphilosophie (»wenn mit Dasein gemeint ist das Seiende in seinem Sein, das wir als menschliches Leben kennen«). Der Tod markiert in dieser Philosophie als Ausstand allein den Rest des noch zu lebenden Lebens, als eintretender aber nurmehr das Ende des Lebens, sein Aus und Vorbei. 29 Was bleibt, ist der – ›vorhandene‹ – Leichnam. 30 Das Dasein sieht Heidegger angesichts des Todes schlechtweg mit dem Nichtmehrdasein konfrontiert. Die vermeintliche Aufwertung des Todes in Sein und Zeit wird sich als ein problematischer Gedankenwechsel von Sein zu Seinkönnen (Leben zu Lebenkönnen) erweisen. Ist, nach ontologischem Diktat, der Mensch seinem Sein und Wesen nach Vernunft, dann hat er um seines Seins und Wesens willen der Vernunft zu leben. Ist er dagegen, nach anderem ontologischen Diktat, seinem Sein und Wesen nach der Sterbliche, dann hat er entsprechend dem Tode zu leben (Heidegger: »Sein zum Tode«, von Sartre als ›l’être-pour-mourire‹ mißverstanden). Ein Leben, das nicht dem Tode bzw. der Vernunft lebt, ist demnach eigentlich kein Leben. Die in der Diskriminierung des Todes implizite Diskriminierung des Lebens entdeckt sich. Metaphysische und nicht-metaphysische Lebensontologien haben es an sich, in eins dem Tod und dem Leben ein doppeltes Gesicht zu geben. Das Leben, das der VerObwohl Bloch es gut paulinisch meint, das Nichts für den Tod ansieht (»das Nichts effektuiert sich als Tod«), und, einmal im Sein, »die Verschlingung des Todes mit dem Sieg« erkennt. Zur Ontologie des NochNicht-Seins, S. 62. 29 »Vorbei« in diesem Sinne wird von Heidegger häufig in seiner Marburger Zeit gebraucht. 30 Sein und Zeit, S. 238. 28

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Die Diskriminierung des Todes

nunft bzw. dem Tode lebt, wird zum Indiz eigentlichen Lebens. In Abhebung dazu gibt uneigentliches Leben Anlaß, sich zugleich einen uneigentlichen Tod vorzustellen. Der Vernunft leben kann im übrigen keiner, der nicht vernünftig wäre. Fichtes Seinsbestimmung des Menschen lautet: Der Mensch soll seyn, was er ist, schlechthin darum, weil er ist. 31

In anderer Form: Ich bin schlechthin, weil ich bin, und bin schlechthin, was ich bin. 32

Das besagt: der Mensch lebt weil er lebt und was er lebt; er lebt der Vernunft und lebt als Vernunft. Genauer noch ist zu Fichtes Ich auslegend zu urteilen: Ich lebe absolut vernünftig, weil ich der Vernunft lebe; und ich lebe absolut vernünftig, weil ich als vernünftiges Ich und Selbst das wahrhaft vernünftige Leben lebe. Heideggers Seinsbestimmung des Menschen versteht sich ganz entsprechend: der Mensch lebt dem Tode, und er lebt ihm als Sterblicher. Der lebendige Mensch, der den Tod als Tod ›vermag‹ (Sein als Seinkönnen!), und der Mensch, der lebendig und sich selbst lebend dem Tode zulebt, gehören zusammen. Versteht sich philosophisch diktierte eigentliche Lebenspraxis aus dem Umgang mit Vernunft bzw. Tod, dann kann philosophisch diktiertes eigentliches Todesverhalten sich entsprechend nur darin wiederfinden, daß sich einer einzig und allein um die Vernunft als eigentliches Selbst (und ggf. um seine Unsterblichkeit) bzw. um die Existenz als eigentliches Selbst (und ggf. um seine Sterblichkeit) bemüht. Wer sich dagegen mit dem ›bloß Menschlichen‹ zufrieden gibt, wer seiner Vernünftigkeit die Affekte und seiner Sterblichkeit die geJ. G. Fichte, Von den Pflichten der Gelehrten, Phil. Bibl., Hamburg 1971, S. 6. 32 Ders., Grundriß des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre, Phil. Bibl., Leipzig o. J., S. 18. 31

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sellige Gegenwart beläßt, gilt schon zeitlebens für eigentlich tot. Wer nicht in absoluter Verallgemeinerung sich aus dem praktischen Nichtwiderspruch aller versteht, sondern mit die ›Interessen‹ des Leibes und der Sinne vertritt, hat sich schon an dem ›Unsterblichen‹ in ihm selbst versündigt. Wer nicht in radikaler Vereinzelung sich existentiell vom Tod her versteht, sondern gemeinschaftlich lebt 33 , hat auf seine Weise den eigentlichen Tod vertan: er lebt, ohne wahrhaft zu leben; er ist zugleich tot, ohne jedoch wahrhaft tot zu sein. Leben und Tod sind jetzt jeweils gedoppelt. Es gibt das echte und das bloß gelebte Leben, den echten Tod und Todesbezug (ggf. Unsterblichkeitsbemühung) und dagegen das bloße Sterben und Totsein. Tod und Leben haben diese Doppelung durch ihre wechselseitige Diskriminierung erreicht. Das, wie der Mensch unter Menschen leibt, lebt und stirbt, gilt nichts mehr. Die schlichte Umkehrung und Verkehrung ist perfekt: das bloß gelebte Leben des Menschen wird zum – ›lebendigen‹ – Tod des Menschen erklärt, der Tod des Menschen wiederum zu dem, was dem Menschen erst das wirklich ganze Leben ›hier‹, wenn nicht gar das wirklich ewige Leben ›dort‹ bringt. Im Leben bereits tot zu sein – das klingt erfreulich klar und verdammend, ganz gleich, ob das philosophische Urteil seine Position diesseits menschlichen Lebensendes einnimmt oder jenseits. Vom Tode her zu leben, durch den Tod zum Leben zu gelangen – das klingt, je nachdem, existentiell-heroisch oder wundersam tröstlich. Allen diesen Lebens- und Todesurteilen gelingt es, den Menschen, wie er leibt, lebt und stirbt, mit Mitteln des Denkens zu diskriminieren und in seinem Selbstverständnis zu verkehren. Der Gedanke von Sein als Leben und Leben als Sein, wie er in Anbetracht menschlichen (und ggf. göttlichen) Seins und Lebens selbstverständlich zu Heidegger spielt in seiner Marburger Zeit das »Ich bin«, in dem der Mensch sich eigentlich gewinne, gegen das »Ich spreche« aus, in dem er sich verspiele und verliere.

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sein scheint, führt Ontologen unterschiedlicher Herkunft und Absicht dazu, das uneigentliche Leben mit schlechtem Totsein und den eigentlichen Tod (und Todesbezug) mit gesteigerter Lebendigkeit zusammenzubringen. Doch was Ontologen da als Tod und ›Tod‹, Leben und ›Leben‹ unterscheiden, um es als Leben und Tod, ›Tod‹ und ›Leben‹ aneinanderzubinden, bedeutet in Wahrheit nur, daß für die überlieferte Ontologie die Diskriminierung des menschlichen Todes und des menschlichen Lebens eine Einheit bilden. Die Seinsspekulation von Parmenides bis Heidegger ist für diese Tatsache ein beredtes Zeugnis.

4. Todesphantasie und Seinsdenken Der Tagtraum, eines morgens wirklich ohne alle Schmerzen und Beschwerden zu erwachen – die Mediziner spotten, das sei Todesphantasie. In gewisser Analogie zu diesem Wunschbild konzipieren Ontologen den auf vollkommene Weise lebenden Menschen. Der Mensch, der nicht länger bloß zur reinen Vernunft bestimmt ist, sondern wirklich vollends reine Vernunft ist, hat keine Möglichkeit und Notwendigkeit mehr, Schmerzen zu beklagen. Er ›lebt‹ ohne aktuelle Sinnlichkeit und Leiblichkeit, ja ohne Individualität. Triebunterdrückung ist ihm selbst als Möglichkeit fremd geworden. Dem Menschen wieder, der radikal vereinzelt auf seinen eigenen Tod als seine eigenste Möglichkeit zielt, ergeht es nicht viel anders. Alter und Jugend, Männlichkeit und Weiblichkeit, Gesundheit und Krankheit, selbst völkische Unterschiede, kurz: alle Eigenheiten, die Menschen als gleiche und ungleiche in ihr Einander als Menschen einbringen, sind zur menschlichen (›daseinsmäßigen‹) Neutralität verblaßt. Das radikalisierte und letztgesteigerte individuelle Leben geht aus jeder Eigenheit, sogar aus jeder praktisch erfahrbaren Einzelheit heraus. Der Gedanke des universell-menschlichen Unter-sich von reiner Vernunft und des individuell-menschlichen Für-sich reiner Exi31 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

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stenz zeichnet in jedem Falle Verhältnisse, die ebeno abstrakt wie lebensverkehrend und ›tödlich‹ sind. Daß Philosophie den Vernünftigen und den Sterblichen wählt, um auf das eigentliche Leben des Menschen zu zeigen, hat seinen guten Grund, Das Denken des rein Vernünftigen und der vermochte Tod des Sterblichen, auch schon das Sein (›Leben‹) des rein Todbezogenen sind die beiden ausgezeichneten Möglichkeiten, aus der menschlichen Lebenswelt, wie sie praktisch besteht, auszusteigen. Die Transzendenz des Bestehenden als Ausstieg aus dieser Welt, aus dieser Zeit und Geschichte, aus diesem Leib und Leben, aus dieser Sicht der Dinge – das gelingt einzigartig mittels Vernunft und Tod, mittels des reinen theoretischen Vernunftstandpunktes und des radikalisierten existentiellen Todesbezugs (Todespraxis). Das Ergebnis entsprechender ontologischer Überstiege und Ausstiege ist ein purifiziertes lebloses ›Leben‹, das nach Tod schmeckt, freilich nicht nach einem Tod, wie er dem unter Menschen gelebten menschlichen Leben zugehört. Der Mensch als das vernunftbestimmte Wesen ist die herrschende Tradition. Dem Menschen, zeitlebens mit Vernunft begabt (die Entwicklung zum Erwachsenen vorausgesetzt), wird theoretisch zugemutet, ›jenseits‹ des leibhaftigen, affektmitbestimmten Lebens zum reinen Vollzug seiner Wesensbestimmung zu gelangen. Dieses ›Jenseits‹ soll entweder während des Lebens erreicht werden (in Voraussetzung einer einst schlechthin besseren Lebens- und Menschenwelt) oder nach ihm (in einer neuen Welt). Rein vernünftig zu sein, voll und ganz die ›eigene‹ Vernunft zu gebrauchen, die mit der Vernunft aller anderen völlig gleich ist, das ›eigenste‹ und zugleich allgemeine Wesen auszukosten und auszuleben – das wird als wesenhaftes Leben des Menschen angesehen, eben als Leben der Vernunft – kaum noch als Leben mit Vernunft, da eigentlich nichts anderes als Vernunft mehr denkbar ist, was als Selbst dieses Vernunftlebens fungieren soll. Jeder Seins- und Lebensentwurf der traditionellen Meta32 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Todesphantasie und Seinsdenken

physik, der zugunsten der Vernunftnatur des Menschen auf wahres, eigentliches, selbsthaftes und dabei auch gerne auf ewiges und göttliches Leben zielt, entwickelt, unvoreingenommen betrachtet, Phantasien von Lebensunbezüglichem, Lebensverkehrtem, Leblosem und Totem. Das ›gesteigerte‹ und ›reine‹ Leben, wie es gedacht wird, kennt in seiner Steigerung und Reinigung methodisch keinen anderen Weg, als das leibhafte Leben zu verabschieden und eben – theoretisch – zu Todgleichem überzugehen. Wer etwa metaphysisch die Idee des Guten als Idee des guten Lebens verfolgt, kommt leichthin auf den Gedanken von absolut Gutem, für das nurmehr die Namen Vernunft und Gott bleiben 34 , Namen von höchst lebendig Gemeintem, die aber in der Sache eine völlig verkehrte Lebendigkeit kennzeichnen. 35 Ineinanderspielende Phantasien vollkommen verkehrten Lebens, die eher Totsein ausmalen, sind uns aus der Tradition als vermeinte Sichten vollkommenen Seins und Lebens reichlich vertraut: 1. Die absolute Reglosigkeit. Nach dieser Vorstellung herrscht mit dem vollkommenen Sein die absolute Ruhe: keinerlei Trieb und Umtrieb regt sich. Nichts als Stille ist wahrnehmbar. Doch es ist nicht die Stille einer Andachtsminute oder eines musikalischen Intervalls, keine verdiente feiertägliche Ruhe und keine Ruhe vor dem Sturm. Diese absolute Reglosigkeit soll ja obendrein für immer sein. 2. Die absolute Veränderungslosigkeit. Das reine Bleiben ist gemeint, ggf. auf derselben Bahn als reines Kreisen in sich, und dies selbstredend für immer. 3. Die absolute Widerspruchslosigkeit. Im vollkommenen Sein sind alle Widersprüche des Lebens getilgt: nichts läuft mehr gegeneinander, keine Affekte gegen Affekte, keine Vernunft gegen Affekte und keine Affekte gegen Vernunft, keine 34 35

Aristoteles, Nikomachische Ethik I 4. Aristoteles, Metaphysik XII 7 1072 b 26–30.

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Der vereinzelte Tod

affektgebundene Vernunft gegen eine andere von gleicher Art, überhaupt nicht Einer gegen den Anderen. Aussöhnung und Harmonie beherrschen alle Verhältnisse, die reine Selbstgleichung der Vernunft hat statt, so nicht eh alles unterschiedslos Eins geworden ist. 4. Die absolute Todlosigkeit. Das absolute Sein kennt kein Ende, kein Verfallen und Vergehen, überhaupt kein zeitliches Geschehen, sondern verharrt in reinem Ausdauern, das von keinerlei Furcht und Hoffnung gezeichnet, von keinen Zukunfts- und Geschichtsperspektiven bestimmt ist. 5. Die absolute Distanzlosigkeit. In der vollkommenen Beziehung zum absoluten Sein wird die absolute Intentionslosigkeit vorgestellt, zugleich die absolute Perspektive- und Aspektlosigkeit – im ganzen eine Idee absoluter Nähe, die weder durch das Bild des Berührens noch durch das des Umfassens angemessen wiederzugeben ist. 6. Die absolute Schattenlosigkeit. Im absoluten Licht kann allein ein Auge verschattet sein, das sich noch nicht an die makellose Helle gewöhnt hat, nichts aber von dem, was es in ihm zu sehen geben soll. Sagen wir metaphorisch, alles habe seine zwei Seiten, dann gehen wir von der sichtbaren Welt des Tages aus, in der alles seine Licht- und Schattenseite hat. Im absoluten Licht ist, theoretisch vorgestellt, jedoch nicht einmal ein Leuchten am Werk, das sich aus unendlich vielen Lichtquellen speist, um solcherweise etwas Belichtetes ›rundherum‹ im Licht stehen zu lassen. Nein. Das absolute Licht bedeutet mit seiner absoluten Schattenlosigkeit auch Gegenstandslosigkeit.Es gibt nurmehr Licht zu sehen. Soweit Geheimnisse an Dunkel gebunden sind, herrscht mit dem absoluten Licht des vollkommenen Seins auch schon absolute Geheimnislosigkeit: das Licht ist es selbst, hat keine Wesenheit eigens als Quelle, sondern ist Licht und Quelle des Lichts. Keine Sonnenmetapher reicht wirklich bis zum absoluten Licht, keine ›Dialektik der Aufklärung‹. Das absolute Licht ist Aufklärung schlechthin. Kein Licht fällt in Augen. Kein Geist wandelt im Licht. Es 34 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Todesphantasie und Seinsdenken

gibt allein Augen und Augen- Blicke des Lichts. Reine Selbstspiegelung hat statt. 7. Die absolute Mühelosigkeit. Soweit vollkommenes Sein vollkommenes Leben vorstellt, vollzieht sich dies sonder Mühe und Eifer, da beide allein Söldner des leibgebundenen und zeitbedingten Lebens sind. 36 Göttliches Leben als Vorbild des wahren menschlichen Lebens kennt keine lebendige Anstrengung. Damit aber fehlt der Preis eines mühevollen Lebens und zugleich die Möglichkeit, sich selbst um alle Früchte von Lebensmühsal zu bringen. Die absolute Mühelosigkeit reinen Lebens schließt seine absolute Chancenlosigkeit, seine Aussichtslosigkeit und Unfehlbarkeit ein. Vollkommenes Lebendigsein mit seiner gegebenen Qualität hat nichts mehr zu gewinnen. 8. Die absolute Unterschiedslosigkeit. Vollkommenes reines Leben tut sich vor keinem anderen reinen Leben hervor. Das absolut reine Leben ist prinzipiell allein als das eine uniforme Leben in seiner, was die wesenhafte Lebendigkeit anbelangt, absoluten Einheitlichkeit zu denken. Im vollkommenen Sein reinen Lebens sind alle Lebendigen ein-›ander‹ gleich, all ihre Lebenstätigkeit und Lebens-›chancen‹. Es herrscht die Unterschiedslosigkeit und Differenzierungsunmöglichkeit. Jede eigentümliche Andersheit ist aufgehoben, jede Eigenheit, die im Vergleich die eine und die andere wäre, getilgt. So herrscht denn im reinen menschlichen Leben die Alterslosigkeit, Geschlechtslosigkeit, Klassenlosigkeit, und auch alles andere fehlt, was sonst menschlicher Lebensteilung Farbe und Kontur verleiht. Sehen wir uns die absolut verstandene Reinheit des seinsund vernunftvollkommenen menschlichen Lebens näher an, wie sie ineinanderspielt und sich ergänzt in absoluter Regund Veränderungslosigkeit, Widerspruchs-, Tod- und DistanzPlaton, Phaidros 247 b bis 248 b; Aristoteles, Metaphysik XII 7 1072 b 25.

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losigkeit, Schatten-, Mühe- und Unterschiedslosigkeit, dann werden wir überraschend gewahr, wie wir mit diesem – über das leibhafte Leben hinaus – gesteigerten Leben eigentlich den Tod vor uns haben, das Totsein, freilich ein schönes, szs. gestyltes Totsein, ein künstlich auf- und zubereitetes – als ›natürliche‹ Folge des Versuchs, vom menschlichen Leben alle leibhafte, sinnliche, endliche und gesellige Lebendigkeit wegzudenken. Das Stillende, Beruhigende, Erlösende, Unwiderrufliche, das Dimensions-, Subjekt- und Intentionslose – wie sollte in diesem Konzept absoluten Seins und Lebens anderes als Leblosigkeit zu erkennen sein: die abstrakt-äußerliche Vorstellung des Todes! Das zuhöchst gesteigerte Sein und Leben der Vernunft gelingt gedanklich nicht gänzlich als bloße Fortschreibung bzw. als abstraktes Hinaufreden (Analektik) des leibgebundenen und zeitbedingten Lebens. Bei dieser Konzeption ist auch Phantasie im Spiel, Phantasie allerdings, die nicht tagträumerisch von heldischen Wünschen nach hervorragender Lebensbewältigung gesteuert wird, sondern von Friedenssehnsüchten, Ruhebedürfnissen, harmonistischen Stimmungen, die den menschlichen Geist auf einen Aussöhnungs- und Erlösungskurs festlegen, wie er ihn in seiner prinzipiellen Radikalität und Totalität allein durch Utopien, die jedem Realitätssinn abschwören, ›verantworten‹ kann. Wenn der Philosoph keinerlei reale Folgen seiner Seinsund Friedensphantasien abzuschätzen und gar zu verantworten sucht, dann liegt das vermutlich nicht zuletzt daran, daß sie prinzipiell keine solchen Folgen haben. Zum Glück. Herrschte nämlich in einem Reich vermeintlich wahrhaft lebendiger selbstgleicher Vernunft nicht einfach eitel Tod, friedlichster Tod, leblosester Frieden, dann wäre nur an den absoluten Schrecken zu denken, an ein Regime, das in abstraktester und unlebendigster Vernunft nichts als den allgemeinen Tod zu verbreiten wüßte. Philosophische Konzeptionen einer vernünftigen einheitlichen dauerhaften Erdregierung setzen, so 36 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Todesphantasie und Seinsdenken

gut sie gemeint sind, dank ihres vollendeten Mißverständnisses menschlicher Vernunft in ihrer Beziehung zum menschlichen Leben und in ihrer Bindung an menschliche Affektivität insgeheim auf den absoluten Schrecken und den allgemeinen Tod. Die negativen Utopien des einen irdischen Vernunftstaates seit Jewgenij Samjatins Wir 37 haben zwei grundlegende Fehler: sie verharmlosen seine praktische Gestalt und sie geben ihn für realisierbar aus. Das reine menschliche Vernunftleben, individuell wie gesellschaftlich gedacht, ist Denkzeichen eines zum Tode gesteigerten Lebens. Es verdankt sich der Abstraktion von menschlicher Lebenspraxis, dem irrwitzigen Prinzip, in jedem menschlichen Lebenszeugnis ein wahres Lebensdefizit zu erkennen, schließlich der spekulativen Phantasie des Ontologen, die in mancherlei utopischen Konzepten geschult und erprobt ist. Freilich schwimmt sich diese Phantasie in ihren überbelichteten Bildern niemals wirklich frei. Das Erdenken und Erdichten des vernünftigen als des wahren und eigentlichen menschlichen Lebens bleibt an das Vermögen der Abstraktion gebunden. Wir kommen weitgehend damit zurecht, im vermeintlich reinen Sein und Leben das leibhaftige Leben auf verschiedenste Weise einfach fortgeschrieben zu sehen. So wird etwa menschliches Leben und Sterben zum bloßen Leben fortgeschrieben, Leben mit Anderen und durch Andere zum gleichen und selbst-ständigen Leben, bewegtes und entzweites menschliches Leben zum beruhigten, friedlichen und versöhnten, Leben im Unterwegs zum Angekommenund Am-Ende-sein. Es ist die alte Art der Philosophie, sich auf abstrakteste Weise absolut zu orientieren und ihr Heil in einem ›spekulativen‹ Maximumbegriff zu suchen, der, wenn es paßt, den Optimumbegriff einschließt. Seine bekannteste allgemeine Formulierung lautet: 37

J. I. Samjatin, Wir, Köln 1983 (Moskau 1928).

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Der vereinzelte Tod worüber hinaus es nichts Größeres zu denken gibt – nichts Höheres, Besseres, Vollkommeneres, Mächtigeres (quo majus cogitari nequit) 38 ,

zugleich: das größer (höher usw.) ist, als daß es gedacht werden könnte (majus quam cogitari possit) 39 .

Keine menschliche Gruppe sonst hat sich den Philosophen vergleichbar daran gewöhnt, so extrem die Grenzen des Sprachfähigen zu strapazieren. Mit ihrem Wahrsten und Eigentlichsten, Seiendsten und Besten, Vollkommensten und Mächtigsten, mit ihrem Totalen und Absoluten, Universellen und An-und-für-sich-seienden geben sie seit alters Versprechungen ab, die weiter nichts kosten, da ihr Halten oder nicht-Halten prinzipiell keiner Kontrolle zugänglich ist. Sie setzen einfach auf Adressaten, denen sprachliche Andeutungen von gedanklich Äußerstem und Letztem, wie ihnen selbst, der Spaß der Sache selbst sind. Das größte Denkbare und mit ihm auch schon das Undenkbare denken – menschlicher Geist tut in seinen Meisteradvokaten offenbar nichts lieber, als sich zu überfordern. Er nimmt sich eine Sache vor, die ihn entweder rein von ihm selbst her interessiert oder in der er als einer menschlich bedeutsamen schließlich sein eigenes Interesse wiederfinden kann, steigert sie begrifflich zum Äußersten und läuft dann der sich methodisch entziehenden Sache hinterher. Auf diese Weise ist es der Philosophie gelungen, ›Größtes‹ und ›Höchstes‹ zu denken. 1. Der höchste Satz. Das höchste Prinzip. Wer sich den absolut höchsten Satz ausdenken will, macht nicht bei einem Axiom halt, bei einem ›in sich würdigen‹ Satz. Axiome gibt es viele. Der höchste Satz aber ist einer. So kann es nur eine Axiomatisierung der Axiome tun: alle Sätze, gegen die prinzipiell 38 39

Anselm von Canterbury, Proslogion Kap. 2 f. Ebd. Kap. 15.

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Todesphantasie und Seinsdenken

nichts einzuwenden ist, aus einem einzigen Satz abzuleiten bzw. zu begründen. Anders als Axiome, die zu interpretieren sind, um wahr sein zu können, ist der eine Satz wahr, weil er wahr ist: er ist an und für sich wahr. Platon hat einen solchen Satz entworfen 40 , Fichte hat mit einem solchen Satz zu argumentieren gesucht. 41 Auch wenn ›vernünftiges Denken‹ heute an einer Axiomatisierung der Axiome Interesse nimmt, ein philosophisch höchster Satz ist prinzipiell ein Un-Satz: er gibt nichts zu verstehen, nichts zu interpretieren. Die reine Proposition der Wahrheit selbst als des Grundes aller Wahrheit ist unter Menschen unbrauchbar. 42 2. Das höchste Wissen, die höchste Wissenschaft. Das Wissen der höchsten Wissenden vom zuhöchst zu Wissenden ist gemeint, das Verhältnis leibungebundener und zeitunbedingter Geister zu dem, wodurch alles, was überhaupt zu erkennen und zu wissen ist, als solches begründet wird. 43 Damit steht etwas im Blick, was vom Menschen geistig eigentlich gar nicht mehr zu leisten ist, was zugleich für ihn an Geistigem eigentlich nicht mehr brauchbar ist 44 und was dem Nachverstehen das Problem aufdrängt, ob höchstes Wissen seinem Gehalt nach eigentlich Un-Wissen vorstellt. 45

Politeia VII 534 b: Der Logos des Guten selbst, der unmöglich zu Fall kommt. 41 J. G. Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, Jena 1794, § 1: der Satz »ist gewiß, weil er gewiß ist«. 42 Der Aristotelische ›Satz vom Widerspruch‹, Metaphysik IV, »über den man sich unmöglich im Irrtum befinden kann«, ist als »stärkstes Prinzip des Seienden« kein solcher Un-Satz, sondern eine verständliche Reflexion der Wahrheitsbedingung im allgemeinen: die Unmöglichkeit der Nichtidentität des Identischen als solchen. 43 Platon, Phaidros 246 d bis 247 e; Aristoteles, Metaphysik I 1 982 a 30– b 2; I 2 983 a 5–9. 44 Aristoteles, Metaphysik I 2 983 a 10: ἀναγκαιότεραι μὲν οὖν πᾶσαι ταύτης. 45 Aristoteles, Metaphysik XII 9 1074 b 32 ff.; vgl. ebd. 7 1072 b 18–30. In 40

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Der vereinzelte Tod

3. Die höchste Wahrheit. Jeder Rahmen menschlichen Verstehens und Einsehens ist mit diesem Begriff gesprengt. Der philosophische Zugriff gilt dem göttlichen Bewußtsein. Es ist, um Plotin beim Wort zu nehmen, die Wahrheit, die mit sich selbst zusammenstimmt: »was sie sagt, das ist sie auch, und was sie ist, das sagt sie« 46 . Mit der Idee reiner Selbstevidenz 47 aber bringt sich der Philosoph auch schon um alle praktisch und theoretisch brauchbare Wahrheit. 4. Die höchste Macht und Kraft. Mit ihrer Konzeption kommt das Denken so weit, daß es sie oder sich selbst in Frage stellt. Die höchste Macht kann nicht ohnmächtig unter sich selbst fallen; sie hat vielmehr auch noch sich selbst zu überwältigen; sie ist sie selbst und ist zugleich stärker als sie selbst. 48 Des Menschen Sache ist sie ohnedies nicht. 5. Das höchste Sein und Leben. Jedes philosophisch-begrifflich Höchste steht in Gefahr, sich selbst zu verkehren: der höchste Satz als Un-Satz par excellence usw. Auch keine höchste Beziehung, kein höchstes Gut und kein höchstes Glück ist zweifelsfrei das, als was es konzipiert ist. Unser Interesse gilt nun als letztem zuhöchst Gedachten dem Sein und Leben, um zu prüfen, inwieweit es nicht eher Un-Leben vorstellt. Bei Parmenides lauten die ›Zeichen des Seins‹ 49 – in negativer Formulierung: ungeboren, ohne Ursprung, unvergänglich, ohne Aufhören und Vergehen, unerschütterlich, unveränderlich, unbeweglich, ohne Ziel, der νόησις νοήσεως ›spiegelt‹, wie man sieht, der Geist nichts anderes als sich selbst. 46 Plotin, Enneaden V, 5, 2, 18 f.; vgl. III, 7, 4, 11 f. 47 Ebd. V, 5, 1, 8: 48 H. G. Frankfurt, The Logic of Omnipotence, in: The Philosophical Review 73 1964. 49 Fragmente der Vorsokratiker, hrsg. von H. Diels / W. Kranz, Berlin 1951 Bd. 1 Fragment 8, 2 ff.

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Todesphantasie und Seinsdenken ohne Vergangenheit und Zukunft, ohne Wachsen und Werden, ohne Teile und Unterschiede, unbedürftig,

in positiver: ganz, eins, kontinuierlich, standhaft verharrend als dasselbe in demselben.

Das ist eine ganz gewöhnliche Vorstellung absoluter Leb-losigkeit. Es ist, als suche Parmenides in einer vollständigen Konzeption von Totsein den archimedischen Punkt zu fixieren, der die Unsicherheit des Menschen behebt – seine Beunruhigung, sein Schwanken und seine Endlichkeit. Wie die Steigerung des Seinsbegriffs dazu führt, in dem Begriff alles bewährte Lebendigsein zu tilgen, so verführt das auf Transzendenz erpichte Seinsdenken auch leicht dazu, das wahre Sein im Un-Sein zu ›erkennen‹. Platons Gedanke der Idee des Guten als eines Seins, das über alles Wesen hinausliegt (ἐπέκεινα τῆς οὐσίας), ist vorzüglich dazu mißbraucht worden, dem Nichtsein die äußerste und letzte philosophische Aufmerksamkeit zu widmen. Obwohl die Idee des Guten für ihn ausdrücklich Sein (ὄv, εἶναι) 50 , ist, allein kein eigenheitliches bzw. arthaftes Wesen wie Schön- und Groß-sein, wählt man die Stelle, um dem Nicht und dem Nichts höheren und überbegrifflichen Seinsrang einzuräumen. Nur ein ›ist nicht‹, kein ›ist‹ garantiert dann noch, daß ein echter Seinsbegriff gelingt. Die logische Pervertierung wird nur allzu gern in Kauf genommen, um ja alles aus dem Blickfeld zu rücken, was an gewohntes und bewährtes Sein und Leben erinnern könnte. Wird höchstes Sein wörtlich als höchstes Leben gemeint, dann herrscht die Idee absoluter Einsamkeit vor. Was eigentlich der Nacht des Schlafes eigen ist 51 , wird so ins reine Licht projiziert. DER Philosoph, Aristoteles, denkt Gott das höchste 50 51

Politeia VI 509 b 9. Heraklit, Fragmente der Vorsokratiker, Fragment B 89.

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Der vereinzelte Tod

Leben zu. 52 Sein Leben sei die selbstbezügliche Wirklichkeit des Geistes (θεωρία als wirklicher, ἐπιστήμη als möglicher Geist). Und wie dieser Geist das Lustvollste und Beste, sei dieses Leben das beste und ewige. Thomas von Aquin pflichtet dem vorbehaltlos bei 53 : Gott ist Leben im höchsten Maße (vita maxime proprie in Deo); er ist das Leben im höchsten Grade (in Deo maxime est vita). Gott ist demnach sein eigenes Leben (est suum vivere); er hat keinen Grund des Lebens (non habet vivendi principium). Der Mensch ist dieser Auffassung zufolge gehalten, es dem göttlichen Leben wenigstens für Augenblicke gleichzutun: in reiner Theorie zuhöchst ›lebendig‹ zu sein. Die Einsamkeit des vom Philosophen geforderten und gewünschten ›Lebens‹ ist ungeheuerlich. Was sonst einem Leben die Anderen sind, die möglichen und die nötigen, hat sich völlig erübrigt. Es gibt kein Intimverhältnis zu Anderen, es kann und braucht keines zu geben, keine Öffentlichkeit, keine gemeinsame Vergangenheit und Zukunft. Kein Tod von Anderen spielt ins eigene ›Leben‹ herein, nicht einmal der eigene. Ohne Andere und ohne Tod fehlt dem vermeinten höchsten Leben jede lebensbefähigende Endlichkeit. Für den als momentan zuhöchst lebendig gedachten Menschen an Gott als den Anderen zu denken, der der eigenen Einsamkeit und Unendlichkeit aufhilft, ist hier nicht angebracht. Wie Gott selbst ohne Andere auskommt, so ist auch der Mensch, wie er vollends lebendig gelingen soll, in seinem besten Gelingen ohne jedes Gegenüber, ohne gesellige Gegenwart. Ἐνέργεια ἡ καθ’ αὑτήν 54 , actus purus 55 – das Lebendigste ist gemeint, das reine Leben, das nichts als Leben ist: die absolute Todlosigkeit. 52

Aristoteles, Metaphysik XII 1072 b 26–30; vgl. ders., De caelo II 3 286 c

9. 53 54 55

Summa Theologica, quaestio 18, 3, 4. Aristoteles, Metaphysik XII 7. Thomas von Aquin, Summa Theologica 3.2.

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Todesphantasie und Seinsdenken

In einem Leben jedoch, das lebt, indem es absolut sich selbst lebt, steckt die Abstraktion von aller Lebendigkeit des Lebendigen. Das signifikant Abstrakte des zum reinen Leben verselbständigten Lebens ist seine Einsamkeit. Es ist das schlechthin ungeteilte und partnerlose Leben. Es lebt sich einzig und allein mutterseelenallein. Wie um die Trennungsangst absolut zu unterbinden, übt sich das Denken in der Flucht nach vorn: in die absolute Egozentrik. Das reine Leben ist als solches rein mit sich selbst beschäftigt, rein sich selbst genügend. Es lebt sich in absoluter Lieblosigkeit, Fruchtlosigkeit, Äußerungslosigkeit. Dieser lebensverkehrende Gedanke feiert in der Philosophie immer wieder fröhlich Urständ. Hegel schmückt mit ihm das Ende seiner Encyclopädie. Dabei ist die Logik, daß das, was eines anderen bedarf, eo ipso weniger wert sei als das, was sich selbst genügt, klar außerhalb des Lebens des geschichtlichen Menschen angesiedelt. Was für Prinzipien gut ist, ist nicht schon für den Menschen gut. Das ohne Endlichkeit konzipierte Sein und Leben, nämlich ohne Geburt und Tod, aber auch ohne Andere, stellt eine Leblosigkeits- und schlechte Todesphantasie dar: die absolute Unendlichkeit als absolute Einsamkeit. Damit aber ist die Todesphantasterei der überlieferten Philosophie noch nicht vollends entdeckt. Auch dort, wo sie menschliche Endlichkeit im Prinzip bejaht, bringt sie es fertig, dem Menschen, wie sie ihn zum Menschen befreit sieht, in Wahrheit den Tod zu wünschen. Wer von den Menschen die Endlichkeit ablöst, zeichnet sie mit einem tödlichen Zug. Dasselbe tut, wer ihnen die Eigenheitlichkeit nimmt. Der junge Marx 56 denkt an die Rückkehr des Menschen zu sich, an die Aneignung des menschlichen Lebens, die den Menschen den Menschen produzieren läßt – sich selbst und

K. Marx, Nationalökonomie und Philosophie, in: ders., Die Frühschriften, hrsg. von S. Landshut, Stuttgart 1953.

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die anderen. Er denkt dabei vor allem an die wahrhafte Auflösung des Widerstreits zwischen Mensch und Natur, zwischen Mensch und Mensch. Was er als Ziel sieht, ist »der durchgeführte Naturalismus des Menschen und der durchgeführte Humanismus der Natur«. Aus der wahrhaften Auflösung des Streites zwischen Menschen und Natur, zugleich zwischen Existenz und Wesen, Vergegenständlichung und Selbstbetätigung, Individuum und Gattung sieht Marx den »reichen all- und tiefsinnigen Menschen« als »stete Wirklichkeit« der menschlichen Gesellschaft entspringen. 57 An diesem Menschen sind alle Eigenheiten getilgt: das Mann- und Frausein, Jung- und Altsein usw. Obwohl, dem Wortlaut nach, der menschlichen Sinnlichkeit ihr Recht zu verschaffen gesucht wird, hat doch die Vernunft das maßgebliche Wort: die vernünftige Vernunft. 58 Wenn Theodor W. Adorno in seinem Fortschritts-Aufsatz 59 zugunsten des Menschen an Erlösung und Versöhnung denkt und dafür den Gedanken der Totalität bemüht, zeigt er gut, wie auch und gerade für den ›ganzen‹ und den gesellschaftlichen Menschen die alte Vernunftgewichtung fortbesteht. Werden Antagonismen weggedacht, dann hat die Idee der Vernunft das Wort, die sich nicht um menschliches Leben, sondern allein um sich selbst kümmert: um ihre Selbstgleichheit und Widerspruchsfreiheit. Zwar wird dem Menschen nicht seine Endlichkeit abgesprochen, aber die Idee des rein Menschlichen unter Ablösung alles Eigenheitlichen ist kein geringerer Gedanke gegen das Leben als die Idee menschlicher Unendlichkeit. Die Ablösung differenzierter Eigenheitlichkeit resultiert nicht allein aus Vernunftkonzepten. Wenn Martin HeidegA. a. O., S. 235–243. Brief von Marx an Ruge vom September 1843. K. Marx, Die Frühschriften, S. 169: »Die Vernunft hat immer existiert, nur nicht immer in der vernünftigen Form.« 59 Th. W. Adorno, Fortschritt, in: Die Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt, hrsg. von H. Kuhn / F. Wiedmann, München 1964. 57 58

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»Denn der Tod ist der Sünde Sold« (Paulus)

ger 60 sein Weltspiegelspiel vorträgt, in dem alle Differenzen, Widersprüche und Trennungen getilgt sind, alles in seiner Einfachheit und Einfältigkeit einander zugetraut ist, ein Reigen und Ringen, Spielen und Spiegeln, Schmiegen und Fügen statthat, dann hat der Sterbliche kein Geschlecht und Alter mehr, keine Gesundheitszustände und Religionszugehörigkeiten, so daß auch in dieser religiös-irdischen Versöhnung ein für menschliches Leben tödliches Konzept steckt. Kein Mensch kann als Mensch leben, wenn das heißt, daß er im wesentlichen auf Vernünftigkeit und Sterblichkeit reduziert und mit seinesgleichen eingeebnet ist. Zum Menschen, wie er sich Anderen als Mensch entdeckt, gehört es vielmehr, als Frau unter Frauen und Männern zu leben, als junger Mensch unter Jungen und Alten, als Kranker unter Kranken und Gesunden, als Katholik unter Katholiken und Protestanten. Wer davon abstrahiert und auf ein Eigentliches und Wesentliches des Menschen zielt, um es, je nachdem, als das schlechthin Allgemeine des Menschen auszumachen oder als die ihm im allgemeinen aufgegebene radikale Vereinzelung, redet keinem brauchbaren Gedanken des Lebens, sondern einem falschen Bild vom Tod das Wort.

5. »Denn der Tod ist der Sünde Sold« (Paulus) Ein evangelisches Zeugnis zum Thema Tod lautet 61 : Die alte Schlange, Sünd und Tod, die Höll, all Jammer, Angst und Not hat überwunden Jesus Christ, der heut vom Tod erstanden ist. (…) Sein’ Raub der Tod mußt geben her, das Leben siegt’ und ward ihm Herr, zerstöret ist nun all sein Macht, Christ hat das Leben wiederbracht. M. Heidegger, Das Ding, S. 178 f. N. Herman, Erschienen ist der herrlich Tag, 1560, in: Evang. Kirchengesangbuch, Karlsruhe 1951 Nr. 80 Strophen 2 u. 3.

60 61

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Ein weiteres 62 : Die Höll und ihre Rotten, die krümmen mir kein Haar; der Sünden kann ich spotten, bleib allzeit ohn Gefahr. Der Tod mit seiner Macht wird nichts bei mir geacht’: er bleibt ein totes Bild, und war er noch so wild. Ich hang und bleib auch hangen an Christo als ein Glied; wo mein Haupt durch ist gangen, da nimmt er mich auch mit. Er reißet durch den Tod, durch Welt, durch Sünd, durch Not, er reißet durch die Höll, ich bin stets sein Gesell.

Paulus sagt zum Tod: Denn der Tod ist der Sünde Sold (τὰ γὰρ ὀψώνια 63 τῆς ἁμαρτίας θάνατος); aber die Gabe Gottes ist das ewige Leben in Christo Jesu, unserm Herrn. 64 (…) wie durch einen Menschen die Sünde ist gekommen in die Welt und der Tod durch die Sünde (καὶ διὰ τῆς ἁμαρτίας ὁ θάνατος) und ist also der Tod zu allen Menschen durchgedrungen, dieweil sie alle gesündigt haben. 65

Was sich hier als Sündentheologie entdeckt, kann sich gut auf Jesaja berufen. 66 Die Sünde-Tod-Theologie jedoch, die darin steckt, ist Jesaja fremd. Sie findet nicht einmal in ›Berichten‹, die in der Genesis notiert sind, eine Stütze. In dem Bericht, der die Schöpfung des Menschen als die gleichzeitige Schöpfung von Mann und Frau erzählt, ist diese das letzte Glied in der Kette der Schöpfung lebender Wesen (LXX: ψυχαὶ ζῶσαι). Auch im zweiten Schöpfungsbericht, demzufolge Eva aus der Rippe des Adam gebaut wird (ὠκοδόμησεν), entsteht der Mensch als Lebewesen (ἐγένετο εἰς ψυχὴν ζῶσαν). Diesem Menschen ergeht von Gott das Verbot, vom Baum der ErP. Gerhardt, Auf auf mein Herz, mit Freuden, 1647, ebd. Nr. 86 Strophen 4 u. 6. 63 ὀψώνιον, das Eingekaufte, auch der Lebensunterhalt hier der Lebensunterhalt, den die Sünde bietet und zahlt: der Tod. Zu denken ist auch an die laufende Zahlung, an den Tod also, wie er das ganze Leben über in Rechnung steht. 64 Römerbrief 6,23 (Luther). 65 Römerbrief 5, 12 (Luther). 66 Jesaja 53. 62

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kenntnis zu essen. An dem Tag, da er davon esse, stürbe er den Tod. Eva wiederholt das Eßverbot und die Strafdrohung – sie kann es nur von Adam gehört haben. Interessanterweise wird kein Verbot ausgesprochen, vom Baum des Lebens zu essen. Da der Mensch später an genau dem Tag nicht stirbt, muß, wenn der Bericht als einheitlicher aufgefaßt werden und sich reimen soll, sterben (ἀποθανεῖσθαι) umgedeutet werden in: einstmals sterben bzw. sterblich werden. Augustinus’ Konstruktion 67 , daß das, was an ›diesem Tag‹ zu geschehen hatte und auch geschah, nicht Tod als Trennung von Leib und Seele, sondern die Verschlechterung und Verderbung der menschlichen Natur war, operiert ausschließlich mit der paulinischen Unterscheidung von beseeltem und begeistetem Leib, und hat im Genesis-Text keine Basis. Für die Tiere gibt es in der Genesis keine Probleme mit ihrer Geschlechtlichkeit und Todesbestimmtheit, nur mit dem Menschen. Die Tiere sind ohne weiteres Tiere und enden (»Erde zu Erde«) nicht wegen Verbotsüberschreitung. Sie haben ihren Tod, wie er Lebewesen als solchen zugehört, nicht erst zu verdienen, schon gar nicht als schlimme Strafe. Offensichtlich muß allein der Mensch etwas anstellen, um auch wirklich Mensch zu werden – ein besonderes lebendes Wesen, das jedoch gleich allen lebenden Wesen sterben kann, sterben darf und sterben wird (von sterben müssen ist in der Septuaginta nicht die Rede). Die Schlange beschwört noch einmal den Menschen: daß er bei Fruchtgenuß nicht sterben, sondern vielmehr »wie Götter« (ὡς θεοί) sein und das Gute und Schlechte kennen werde. Im folgenden gibt Gott indirekt der Schlange recht. Der Mensch ist, wie Gott sich ausdrückt, »wie unsereiner« geworden (ὡς εἷς ἐξ ἡμῶν): er kennt das Gute und Schlechte. Davon, daß er deswegen zu sterben habe, ist nicht die Rede, wohl aber verordnet Gott wegen Verführung und Verbotsübertritt der 67

De civitate Dei, Buch XIII.

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Schlange das Kriechen, dem Menschenweib die schmerzhafte Geburt, und zum Menschenmann sagt er: Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zur Erde kehrst, von der du genommen bist. Denn Erde bist du, und zur Erde mußt du zurück (ὅτι γῆ εἰ καὶ εἰς γὴν ἀπελεύσῃ).

So ist Strafe hier der Schweiß, der Tod aber ist Kreatur-, Lebens- und Erdgeschick. Die Vertreibung aus dem Paradies, die folgt, wird allein damit begründet, daß der Mensch, der bereits ›wie Götter‹ geworden ist, ja nicht vollends mit deren Natur gleichzieht und, nach Genuß vom Baum des Lebens, auch noch ewiges Leben erlange. Nun aber, daß er nur nicht seine Hand ausstrecke und auch von dem Baume des Lebens breche und ewig lebe (καὶ ζήσεται εἰς τὸν αἰῶνα). So schickte ihn Gott der Herr fort aus dem Garten.

Die Cherubim haben denn auch allein den Auftrag, sich vor dem Paradies zu lagern und den Weg zum Baume des Lebens zu bewachen. Demnach ist das Versuchen der Früchte vom Erkenntnisbaum keineswegs der zureichende und nicht einmal der sachlich erste Grund der Paradiesvertreibung. Hinter ihr steht vielmehr die Erfahrung: wer einmal ein Verbot übertritt, tut es auch ein zweites Mal. Wenn dagegen Augustinus behauptet 68 , die Gnade Gottes hätte durch den Baum des Lebens den Menschen im Paradies vor Alter und Todeszwang bewahrt, dann kann das am ehesten noch als Schutzbehauptung zugunsten der Sünde-Tod- und der Erbsündentheologie verstanden werden. Dem Buchstaben und Geist des Genesis-Textes wird dieses Argumentieren in paulinischer Terminologie sicher nicht gerecht. Im Paradiesbericht, wie er überliefert ist, stimmt vieles nicht zusammen. Der Mensch ist wie die Tiere und ist es doch Zu unterscheiden von der ζωὴ αἰώνιος im NT als eschatologischem Versprechen (Lukasevangelium 16, 9), und dies wieder nicht im Sinne von ewiges = endloses Feuer.

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nicht. Er ist wie Gott und ist es doch nicht. Tod wird als Strafe angekündigt und erfolgt doch aus Kreatürlichkeit. Machte aber der Genuß der Erkenntnisbaumfrucht den Menschen allererst sterblich, wie sollte ihn dann der Genuß der Lebensbaumfrucht allererst ›unsterblich‹ machen? 69 Was dieser Bericht jedoch leistet, ist klar ersichtlich: er schildert den Menschen, wie er ist, nämlich als sterbliches Lebewesen, das sich dadurch auszeichnet, das Gute vom Schlechten zu unterscheiden und zu arbeiten. Er reflektiert damit menschliche Sexualität und menschliche Selbstverantwortung. Zugleich stecken kulturelle Selbstverständnisse in ihm: die Frau verführt den Mann, besorgt das Geschäft der Nachkommenschaft; der Mann arbeitet. Von Sünde (ἁμαρτία), szs. vom Fehler des Menschen, Mensch zu sein, ist nicht die Rede. Das ist auch und gerade dann nicht der Fall, wenn die Paradiesgeschichte gelesen wird als Verständigung des Menschen über sich selbst, kein Gott zu sein. Freilich hat auch der Mensch des Alten Testaments den Tod zu fürchten, aber das ist im wesentlichen der Tod zur Unzeit und der Tod (das Aussterben) des Geschlechts. So ist das, was Gott dem Gottesfürchtigen gewährt, das lange Leben (die »vielen Tage«, die »Größe der Tage«), und das Leben seines Samens (»so wirst du am Leben bleiben und dich mehren«). 70 Ist an des Menschen Seele als das gedacht, was eigens vom Tod zu erlösen ist 71 , dann mag damit, wenn der Mensch seines Erretters und Erlösers nicht sicher ist, der Tod als etwas Bedrohliches und Gefährliches vorgestellt sein, nicht aber als etwas Böses und Menschenverschuldetes. Nur eine apokryphe Stelle 72 kommt dieser Vorstellung nahe:

69 70 71 72

Ebd. Deuteronomion 30, 16–20. Psalm 16, 10; 33, 19; 56, 14; 49, 16; 139, 8. Weisheit Salomos II, 23 f. (Zürcher Bibel, Zürich 1955).

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Der vereinzelte Tod Denn Gott hat den Menschen zur Unvergänglichkeit (ἐπ’ ἀφθαρσία) geschaffen und ihn zum Abbild seines eigensten Wesens (τῆς ίδίας ίδιότητος) gemacht. Aber durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt, und es erfahren ihn alle, die jenem gehören.

Hier taucht wieder die Idee auf, daß menschliche Endlichkeit und Sterblichkeit nichts Selbstverständliches ist, der Mensch sich seinen Tod – diesmal mit Hilfe des Teufels – erst sträflich verdienen muß. Für Philosophen, die den Menschen seinem Wesen nach als zur Vernunft und zum Tode bestimmt begreifen, müßte es eigentlich bedenkenswert erscheinen, wie Menschen zwar auf den Gedanken kommen, die Wesensbestimmung Tod als Strafe anzusehen, nicht aber die Wesensbestimmung Vernunft. Daß der Mensch um eines menschlichen Lebens willen womöglich eher seine Vernunft als seinen Tod zu fürchten hätte, kommt offenbar niemandem in den Sinn. Selbst ein Vernunftverdacht wie der Martin Heideggers geht nicht so weit. Sehen wir auf die kanonisierten Schriften, dann ist es zuerst Paulus, der Feindschaft stiftet zwischen dem Menschen und seinem Tod. Was ihn dazu im einzelnen bewogen hat, stellt theologische und historische Fragen. Kirchenstrategisch ist das Ergebnis jedenfalls brauchbar. Herrscht Feindschaft zwischen dem Menschen und seinem Tod, dann haben wir es mit einem Menschen zu tun, der mit sich, mit seinem Leben und Sterben, von sich aus nicht mehr zurechtkommt. Diese Feindschaft verlangt nach der Herrschaft des – priesterlichen – Todentsühners bzw. Todentsühnungsvermittlers. Der soll herrschen über ihn: über sein Leben, sein Sterben, sein einmal Totsein. Der Mensch, der mit seinem Leben, Sterben und einmal Totsein nicht zurechtkommt, braucht für sein Todesverhältnis dreifach den Priester: er braucht ihn beim Eintritt des eigenen Todes, er braucht ihn für sein Totsein (wie er es sich im voraus für sich und die Seinen vorzustellen und zeitlebens darauf einzurichten hat) und er braucht ihn für den Tod, der bei Anderen eintritt. 50 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

»Denn der Tod ist der Sünde Sold« (Paulus)

Eine eigens gewollte und initiierte Feindschaft zwischen dem Menschen und seinem Tod bringt, wo sie ›segensreich‹ wirkt und als kulturelle Leistung gehandelt wird, den Menschen von seiner selbstverständlichen, ja zugleich lebensbefähigenden Lebens- und Todesoffenheit ab. Seine Iebensbefähigenden Gewißheiten, nicht zuletzt die zu sterben, werden überschattet von ebenso künstlichen wie bedrohlichen Unsicherheiten und Ungewißheiten. Menschen, die dazu verleitet werden, wegen ihres Todes und ihrer lebensbefähigenden Endlichkeit ›unendlich‹ besorgt zu sein, vor dem Tod und seinen Folgen die ›letzte‹ Angst zu haben, an seinen Ungewißheiten zutiefst zu leiden, ihn als Ur-Schuld auf sich zu nehmen und ihm mit teuersten Reuevorsätzen zu begegnen, um ihn gar endgültig loszuwerden, lassen sich damit auf eine Unterwerfung ein, die sie um den Vollzug ihrer Lebensbefähigung bringt: sich als lebendige Menschen unter Menschen zu wissen, unter lebenden und unter toten, und sich als solche in ihrer Endlichkeit zu bejahen und zu bewähren. Der eigene Tod ist fraglos etwas den Menschen Bedrohendes, wenn er als fremde überwältigende Macht auftritt, z. B. in der Gestalt lebensbedrohender Gewalt menschlicher Feinde. Wendet sich der Mensch gegen den lebensbedrohenden Tod zur Unzeit und den Tod des Samens, dann hadert er deswegen überhaupt nicht mit der eigenen Sterblichkeit. Die Sünde-TodTheologie setzt jedoch unbeirrt darauf, daß der Mensch, um wahrhaft Mensch zu sein und zu leben (während des leibhaften oder in einem andersgearteten Leben), vom Tode als ›der Sünde Sold‹ zu erlösen sei. Das Erlösungsbedürfnis 73 des Menschen ist bekanntlich groß. Er will aus der Gefangenschaft, aus der Feinde Hand, von wilden Tieren (Löwen, z. B.) erlöst sein, von den mensch-

73

Erlösen im Sinne von λύειν, ῥύεσθαι, und Komp., ἀφιέναι.

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Der vereinzelte Tod

lichen Schlechtigkeiten und Ungesetzlichkeiten 74 , kurzum: aus aller Not. 75 . Nun ist in den Evangelien zu lesen 76 , Christus habe seine Seele und d. h. sich selbst als Lösegeld (λύτρον) für Viele (ἀντὶ πολλῶν) gegeben. Obwohl damit nicht gesagt ist, wovon die Vielen freiwerden, mag die Auslegung gelten, daß hier keine andere Befreiung als die von der Sünde gemeint sei – ganz im Sinne von Jeseja. 77 Den Evangelientexten ist allerdings allein zu entnehmen, daß Christus sein Bundesblut (αἷμα τῆς διαθήκης) für Viele (ὑπὲρ/περὶ πολλῶν) vergossen hat 78 , sein Tod als Tod für Viele demnach den neuen Bund zwischen Menschen und Gott stiftet. Paulus freilich nennt die Gottlosigkeit 79 , Sündhaftigkeit 80 ; Ungesetzlichkeit 81 und vor allem Todesknechtschaft 82 des Menschen das, was Christi Tod und Blut erlöst. Christus habe für »jeden« (ὑπὲρ παντός) den »Tod geschmeckt« 83 . Das kann als Erlösung vom Tode im Sinne eines neuen ›gesetzlichen‹ Lebens mit Gott gedeutet werden. Daraus, daß der fromme Mensch nicht im Zerwürfnis mit Gott leben kann und will, folgt aber noch nicht, daß er nicht mit seinem ihm gewissen Lebenstod leben könnte und wollte. Wer von dem Leib dieses Todes (ἐκ τοῦ σώματος τοῦ θανάτου τούτου) befreit sein will 84 , wünscht sich auf jeden Fall mehr, als einem lebendigen Menschen gut tut: die Besiegung (τὸ νῖκος) seines leibhaftigen Lebens und seines lebensLuther übersetzt Psalm 130, 8: ἐκ πασῶν τῶν ἀνομιῶν αὐτοῦ, mit »aus allen seinen Sünden«. 75 U. a. Psalm 25, 22. 76 Markusevangelium 10, 45 (Matthäusevangelium 20, 28). 77 Jesaja 53, 10. 78 Markusevangelium 14, 24; Matthäusevangelium 26, 28. 79 Römerbrief 5, 6. 80 1. Korintherbrief 15, 3. 81 Epheserbrief 1, 7. 82 Hebräerbrief 2, 14. 83 Hebräerbrief 2, 9. 84 Römerbrief 7, 24. 74

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»Denn der Tod ist der Sünde Sold« (Paulus)

befähigenden Todes. Mit der Vernunft dem Gesetz Gottes, mit dem Fleisch aber dem Gesetz der Sünde zu dienen 85 , Kantisch gedacht: der reinen Vernunft nach frei, der Leibgebundenheit nach pathologisch zu sein – das ist eine Blasphemie des Lebens, die sich, ausdrücklich oder nicht, auf eine Blasphemie des Todes beruft. Wäre der Entwurf nicht abstrakt-utopisch, dann stünde zu fürchten, daß keine menschliche Lebenspraxis seine Realisierung heil übersteht. Es mag überraschen, daß es gerade ein mit paulinischer Tradition vertrauter und durch sie mitgeprägter Philosoph war, der in diesem Jahrhundert den am stärksten beachteten Versuch unternommen hat, einen Gegenentwurf zur christlichpaulinischen Todesfeindschaft vorzulegen. Wie in einer Flucht nach vorne hat Martin Heidegger sich in der Thanatologie von Sein und Zeit vom Glauben seiner Jugend und von den Hoffnungen seiner theologischen Studienzeit existentiell entschieden abgewandt, um in einer am menschlichen Individuum orientierten sg. Existentialontologie dem Menschen den lebensbedeutsamen Tod wiederzugeben. Der Theologe Karl Lehmann hat mit Recht darauf hingewiesen, daß bei Heidegger christliche Lebens- und Geschichtserfahrung nicht einfach vom Seinsdenken zu trennen sind. 86 Das gilt eben auch für Sein und Zeit. Die existentialontologische Forderung an den Menschen, seinen eigenen Tod existentiell zu bejahen, ist zwar mit ein Zeichen für den geistigen, um nicht zu sagen geistlichen Ausbruch in eine signifikant nicht-christliche Position. Gerade das aber zeigt nicht, daß Heidegger sich seiner christlichen Prägung entledigt hätte und sie ihm gleichgültig geworden wäre. Auch und gerade für Sein und Zeit sollten wir Heideggers Wort zur eigenen theologischen Herkunft gelten Ebd. K. Lehmann, Christliche Geschichtserfahrung und ontologische Frage beim jungen Heidegger, in: O. Pöggeler, Heidegger. Perspektiven zur Deutung seines Werkes, Königstein/Ts. 1984.

85 86

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lassen: »Herkunft aber bleibt stets Zukunft.« 87 In der Tat – Gott und das Göttliche, in Sein und Zeit spürbar abwesend, kehren bald ins Denken zurück, nicht zuletzt über die Auslegungen Hölderlins. Nun geht aber Lehmann noch einen Schritt weiter. Er erinnert Heideggers Vorlesung Einleitung in die Phänomenologie der Religion im Wintersemester 1920/21 und ihre textliche Grundlage, den 1. Thessalonicherbrief Kap. 4 und 5, um daraufhin in Sein und Zeit das Kairologische im Sinne dieses Paulusbriefes zu entdecken. Freilich muß er zugeben, daß die Gleichheit der kairologischen Ausrichtung für beide Geister allein als eine formale nachweisbar ist. Um aber den Heidegger von Sein und Zeit dennoch auch in sachlicher Verbindung mit Paulus sehen zu können, erklärt er, daß die »fragwürdigeren Analysen von Angst, Tod, Gewissen und Schuld« ihren Sinn überhaupt nicht in sich selbst, sondern allein im Dienste des Kairologischen hätten. Als guter Beleg gilt ihm dafür aus Sein und Zeit: Die Angst bringt nur in die Stimmung eines möglichen Entschlusses. Ihre Gegenwart hält den Augenblick, als welcher sie selbst und nur sie möglich ist, auf dem Sprung, 88

Heideggers Thanatologie ist damit für Lehmann kein Problem mehr. Die Chance scheint gegeben, daß geistig beherzte Christen in Sein und Zeit ihre eigene Art eschatologischer Zuversicht wiedererkennen. Doch genau diese Sicht ginge an Sein und Zeit vorbei und brächte uns darum, den merkwürdigen Versuch zu buchstabieren und ernst zu nehmen, mit dem Heidegger sich in seinem existentialontologischen Entwurf menschlicher Lebenspraxis und menschlichen Todesbezugs gegen seine Herkunft richtet und ihr dadurch verpflichtet bleibt. M. Heidegger, Aus einem Gespräch von der Sprache, in: ders., Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959, S. 96. 88 S. 344. Einige Kursivdrucke sind bei Lehmann inkorrekt wiedergegeben. 87

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»Sein zum Tode« (Heidegger)

Die traditionelle christliche Todesfeindschaft erhält in Sein und Zeit, wie zu zeigen ist, nur eine neue Gestalt. Dieses Werk steht dabei gut für die bedenklichste affektive Besetzung, die Philosophie dem Tod, wie er Menschen eigen ist, jemals zugedacht hat. Das ist bedenkenswert, weil nur dadurch die Sichten zusammenkommen, die insgesamt zu überwinden sind, wenn der Blick für menschlichen Tod freiwerden soll, wie er der Lebensbefähigung und Lebenspraxis eines gedeihlichen Lebens zugehört.

6. »Sein zum Tode« (Heidegger) Das Verständnis von Tod, Angst, Schuld und Gewissen je des Menschen gehört in Sein und Zeit zusammen. Alle diese sg. Phänomene verweisen aufeinander. Sie erregen, eines wie das andere, schon dadurch Aufmerksamkeit, daß sie in scharfer Kontur genau gegen ein christliches Selbstverständnis des Menschen abgehoben sind. Sie verwundern zugleich dadurch, wie ihnen, in ihrer Art für den Menschen wirklich und wirksam zu sein, ohne Ausnahme der Kairos verwehrt ist. Die alten – konnotativen – Gewichte der Wörter Tod, Angst, Schuld und Gewissen werden zwar genutzt, um den Leser ›abzuholen‹ und ›mitzunehmen‹. Wobei er dann aber ankommt, ist mehr als eine Abweichung vom Gewohnten oder selbst Umkehrung desselben. Um es mit dieser Verstehensherausforderung aufnehmen zu können, wird es sich als günstig erweisen, die Verständigung über Heideggers Todesgedanken in Sein und Zeit mit der Erörterung seiner Gewissenskonzeption zu beginnen. Für Heidegger hat, was überraschen muß, das Gewissen keine besondere Gunst der Stunde. Es ist ständig gefragt, genauer: es ruft ständig. Wir halten es sonst eigentlich eher mit jenem erschreckenden und zugleich trostreichen Wort 89 , daß 89

Prediger 3, 1 ff.

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bei allem die Zeit (LXX: χρόνος = Ordnung der Zeit) sei und Gunst der Stunde (καιρός = besondere Zeit), bei jedem ›Ding‹ unter dem Himmel, nämlich bei jedem menschlichen Tun und Lassen 90 , Gunst der Stunde etwa zu gebären und Gunst der Stunde zu sterben, Gunst der Stunde zu Tode zu bringen und Gunst der Stunde zu heilen. Aber Kairos für den Ruf des Gewissens und, im Gegenzug, Kairos für unbesorgtes Sichtreibenlassen – genau das ist Heideggers Gedanke nicht. Zwar treiben sich, wie er das sieht, die Menschen de facto zumeist bzw. immer wieder in der Gewissenlosigkeit herum. Dem gedachten Menschen, der seine menschlichen Möglichkeiten wahrnimmt, räumt er aber keinerlei Zeit ohne Gewissensgebrauch ein. Bevor jedoch diese Zeitlosigkeit des Gewissens näher zu erläutern ist, sollte der Auslegende sich erklären, wie er Heidegger überhaupt zu lesen gedenkt. Bei der Lektüre von Sein und Zeit gibt es nämlich methodische Schwierigkeiten besonderer Art. Die wichtigsten Wörter in diesem Werk, wenn wir seine Thesen verstehen und seinen Überlegungen folgen wollen, sind die Wörter Möglichkeit und Können. Ihre Verwendung weist es, in der Nachfolge Kants, als ein transzendentalphilosophisches aus. Gefragt sind jeweils die Bedingungen der Möglichkeit menschlichen eigentlichen Seins bzw. die Bedingungen menschlichen eigentlichen Sein-könnens. Doch da haben wir schon die Schwierigkeit. Ginge es nach Heidegger, dann dürften wir das Prädikat »menschlich« gar nicht gebrauchen. Zwar ist es ihm auf philosophisch-theoretische Art um den lebendigen Menschen zu tun, dies aber so, daß nicht seine faktischen und existentiellen Möglichkeiten bedacht werden. Er bringt sie wohl in Ansatz, setzt sie sogar methodisch vor-

Heidegger verkehrt den Sinn dieses alten Wortes völlig, wenn er Gunst der Stunde, also praktische Zeit, auf Dinge bezieht, und etwa von einem Krug meint, der habe wie alles seine Zeit, weil er einmal in Scherben geht.

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»Sein zum Tode« (Heidegger)

aus 91 , jedoch in der alleinigen Absicht, sie existentialontologisch zu entwerfen. Die Sprache von Sein und Zeit versteht sich weithin als eine »ontologisch« entwerfende, nicht aber als eine »ontisch« bezeichnende. Was ontisch Mensch heißt, wird ontologisch als Dasein bestimmt. Am Beispiel der Wahl läßt sich das Gemeinte noch deutlicher machen. Sich in einer Wahl selbst wählen, sich also nicht wahl-los herumtreiben und es mit der lebenspraktisch entlastenden Art der Leute halten, die ohne Reflexion auf eigentliches Seinkönnen einfach darauflosleben, sondern sich aus diesem Nichtgewählthaben zurückholen und wirklich selbst wählen – das sei eine existentielle Möglichkeit der Menschen. In existentialer Deutung aber heißt das »Entschlossenheit«. Dies Wort hat jetzt den Rang eines ontologischen Titels. 92 Es beschreibt nichts, benennt und erklärt keine Fakten, will vorgeblich keine entschlossenen Mienen assoziieren, sondern ist als Moment eines ontologischen »Entwurfs« (Deutung) menschlicher Lebensmöglichkeiten bzw. von Seinsmöglichkeiten des Daseins gedacht. Das ist Heideggers Art: er nimmt Wörter in Gebrauch, die besonders sprechend und geläufig sind, Wörter wie entdecken, entwerfen, entschließen, erschließen, vorlaufen, verfallen, dasein, existieren, Situation, Ekstase, man, – um ihnen als ontologischen Titeln im Prinzip das vertraut Konnotative zu untersagen und sie rein in ein ontologisches Deutungsnetz zu verspannen. Das freilich dient dem Zweck, sich philosophisch über die existentiellen Möglichkeiten des mit »Dasein« titulierten Wesens zu verständigen. Dabei entdecken die vertrauten, aber untersagten Konnotationen auch ihren Sinn: sie

Sein und Zeit (im folgenden: 1927) S. 310–316. Interessant ist eine einschlägige Zurücknahme – als Notiz in seinem sogenannten Hüttenexemplar zu lesen. 92 1927, 270. 91

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markieren akkurat die Grenze zum geforderten anderen und neuen Verstehen. Für die Erörterung des Gewissens- und Todesgedankens in Sein und Zeit soll ab sofort der Unterschied des entwerfenden und des beschreibenden Verstehens vernachlässigt werden. Alles von Heidegger existential Gemeinte wird zugleich für existentiell genommen. Das ist erlaubt, wenn Heidegger gelegentlich selber auf diese Möglichkeit verweist. 93 Das ist geradezu geboten, wenn man sein Denken nicht festzuschreiben, sondern sich über es zu verständigen sucht. In jedem Falle dient es der Absicht, Heideggers leitendes Menschenbild in Sein und Zeit so weit wie möglich freizulegen. Der Mensch, dessen Gewissen keinen Kairos hat, steht unter dem ständigen Anspruch der Eigentlichkeit, zugleich ist er der nicht weniger ständigen Möglichkeit der Uneigentlichkeit ausgesetzt. 94 Ob er aber vor sich selbst flieht und sein Gewissen überhört oder ob er eigens Gewissen haben will und offen für seine eigenste Seinsmöglichkeit ist, ständig bleibt er der »Existenz«, d. h. dem »Zu-sein«, dem eigens zu führenden Leben überantwortet. 95 Es muß keinen konkreten Anlaß geben, der ihm etwas Bestimmtes abverlangte, damit ein Mensch, ob er es hört oder nicht, pausenlos vom Gewissen gerufen ist, genauer: eigentlich vom Ruf des Gewissens getroffen sein und Gewissen haben wollen sollte. Der maßgebliche Grund, den Heidegger dafür angibt, ist das ständige Schuldigsein des Menschen. 96 Der Z. B. 1927, 295. 1927, 308. 95 1927, 276; 284. Im Kontext von »ständig« benutzt Heidegger das Wort »Stätigkeit« (1927, 390 f.), das nach einer mittelhochdeutschen Version von »Stetigkeit« aussieht. In dem angeführten Aufsatz von K. Lehmann wird es eigens zitiert (S. 149). Die Herausgeber von Sein und Zeit, die heute die Gesamtausgabe der Werke Heideggers betreiben, ändern es ohne Vermerk in »Ständigkeit«. 96 1927, 305 f. 93 94

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Mensch sei ständig schuldig, und das könne (und müsse) ihm allein das Gewissen zu verstehen geben. Dies hat für den Menschen damit nicht nur Aufklärungs-, sondern ebensosehr Seinsfunktion. Wie das Gewissen einem Menschen seine Schuld zu verstehen gebe, lasse es ihn in eins auch schuldig sein. Verstehen sei eine Seinsweise! (Praktisch-verbindlich von etwas abraten oder zu etwas raten sind keine Funktionen, die Heidegger dem Gewissen zudächte.) Das ständige Schuldigsein des Menschen geht hier gezielt nicht auf die Erbsünde des Menschen zurück, nicht auf eine Urschuld, die nur ein Wesen höherer Art vom Menschen zu nehmen wüßte. Der Mensch ist hier vielmehr selber schuld an einer »Nichtigkeit« seiner selbst, die seinen Daseinsgrund und Freiheitsgebrauch betrifft. 97 Die von Heidegger erdachte Schuld des Menschen muß jeden, der an der philosophischen Verständigung des Menschen über sich selbst Anteil nimmt, überraschen. Es ist die – vermeinte – Selbstschuld des Menschen: erstens selbst keine causa sui, zweitens selbst kein ens perfectissimum zu sein. Der Mensch nämlich habe sich nicht selber ins Dasein gebracht, sei vielmehr ins Dasein und ins Sein zum Tode geworfen 98 , sei also nicht selbst Grund seines Seins 99 ; und er könne bei freier alternativer Wahl nie beides wählen (was, wie schon Platon weiß 100 , insbesondere Kinder gerne möchten). Der Mensch soll mit einem Wort selber schuld daran sein, kein – scholastisch zurechtgedachter – Gott zu sein. Kein Wunder, daß es im tiefsten menschlichen Sein eines derart hartnäckigen, unablässig aktiven Gewissens bedarf, kraft dessen ein Mensch, solange er nur lebt, sich diese Grundschuld selber als Seinsart ohne Unterlaß in Erinnerung 1927, 283. 1927, 84. 99 1927, 85. Das könnte fast gute alte Tradition sein, etwa Psalm 100, 3: »er hat uns gemacht, und nicht wir selbst«. 100 Sophistes 249 d. 97 98

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zu bringen hat. Wieder läßt sich deutlich die Distanzierung zu paulinischem Denken erkennen. Es ist eben keine Urschuld des Lebens, keine menschliche Sterblichkeit als Strafe Gottes wegen Verbotsmißachtung, keine Schuld, nahezu vollends gleich Gott geworden zu sein, sondern gerade die Schuld des Menschen, kein Gott zu sein, kein suum vivere usw. Das ambivalente Verhältnis zur eigenen religiösen und theologischen Herkunft ist bei dieser Schuldkonzeption unübersehbar. Wenn man bisher so hartnäckig an dieser überzeugenden Lesart von Heideggers Schuldkonzept vorbeigelesen hat, dann war wohl insgeheim die Unhaltbarkeit dieses Konzepts daran schuld, die man nicht zugeben wollte, um ›fromme‹ Selbstdiffamierungen wie schuldig und nichtig nicht selber aufgeben zu müssen. Es kommt noch überraschender (und unhaltbarer), dort nämlich, wo Heidegger seinen Lesern die ungewöhnliche Situation klarzumachen sucht, in der es ein Mensch schafft, sich als Ungott eigens auszustehen. Schon seine ihm als gewöhnlich zugedachte Situation stimmt bedenklich. Obwohl in seinem Grunde und praktisch ständig schuldig, sei ein Mensch zumeist auf der Flucht vor sich selbst und seinem eigensten Sein. Der Mensch fliehe aber, wenn er vor sich selbst flieht, zu anderen Menschen. Menschlich-allzumenschlicher Alltag und menschlich-ungöttlicher ›Festtag‹ (»gerüstete Freude« 101 , von Lehmann verständlicherweise als paulinisch gedeutet) – das ist die Spanne von Selbstflucht in die Uneigentlichkeit und Sichselbstzurückholen in die Eigentlichkeit, die Spanne von geselligem Sein und nacktem Daß. Interessanterweise erfordert dies Offenwerden für die eigene Schuld und das nötige Sichselbstzurückholen nicht, daß ein Mensch mönchsgleich der Welt ade sagt, sich von den Menschen trennt und in Klausur geht. Das Gegenteil ist der Fall. Heideggers Schuldoffener geht eigens auf Welt und Menschen zu. Nur wer aus dem Gewissen seiner Schuld lebt, sei 101

1927, 310.

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frei für Andere, könne »zum ›Gewissen‹ der Anderen werden« 102 . Er würde ihnen dann freilich, wie vorauszusehen ist, nicht anders als in der Selbstgewißheit eigenster Ungöttlichkeit begegnen können. Wer Menschen so kommt, daß er in menschlicher Alltäglichkeit nichts als praktizierte Gewissenlosigkeit sieht, muß ihnen reichlich fremd vorkommen. Es ist unklar, was er überhaupt bei ihnen zu suchen hat, wenn doch, wer auch nur im geringsten auf Andere hört, das eigene Selbst bereits überhören soll. 103 Aber das befremdliche Auftreten, mit dem ein existentiell übersteigerter Mensch seine Mitmenschen irritieren mag, ist vermutlich noch nichts im Vergleich zu dem Befremdlichen, dem Heideggers Schuldoffener selber im erdachten Augenblick eigensten Schuldigseins ausgesetzt ist. Das erst stellt eine wahrhaft ungewöhnliche Situation vor. Der Schuldgewisse, der als solcher keine menschliche Neugier teilt, nicht auf das Gerede der Menschen hört, agiert merkwürdig entrückt unter Menschen. In seinem Selbstsein ist er absolut vereinzelt. Da wird mit der berühmten Formel, daß es einem Menschen in seinem Sein um dieses Sein selbst gehe 104 , schlechtweg ernst gemacht. Die Präsenz anderer Menschen hat keinerlei Gewicht mehr. Ein eigentlicher Mensch lebt ausschließlich aus und für sich allein. 105 Alles, was ihn jetzt noch trifft und mit ihm geschieht, denkt Heidegger ihm selbst zu. Wir finden bei ihm die einander ergänzenden Gedanken von Selbstruf: Selbstanrufung und Selbstaufrufung, von Selbstverstehen und Selbstfindung, von Selbstwahl und Selbstgrundlegung, von Selbstbestimmung und Selbstermöglichung, von Selbstbevorstand, Selbstbedrohung und Selbst1927, 298. 1927, 270 f. 104 1927, 12. Vgl. M. Heidegger, Die Geschichte des Zeitbegriffs (Marburger Vorlesung Sommersemester 1925) (im folgenden: 1925), Frankfurt 1979, S. 406: »bei seinem In-der-Welt-sein um (…)«. 105 1927, 263. 102 103

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aufgabe, von Selbstübernahme, Selbst-ständigkeit und Selbstgewißheit, von Selbstverbrauch und Selbstverwendung. 106 Dieser Solipsismus der Eigentlichkeit 107 , um nicht von Egoismus zu sprechen 108 , hat Züge des – existentiellen – Selbstbewußtseins, zugleich aber auch der Selbstaffektion. Am deutlichsten wird das bei der Angst, wie sie Heidegger dem schuldigen Menschen als solchem zudenkt. Daß sie nicht als reiner Affekt gemeint ist, sondern auch dem Bewußtsein Rechnung tragen soll, hat Heidegger mit der Wendung »nüchterne Angst« 109 anzusprechen gesucht. Bedeutsamer aber ist das Ansinnen, sie als eine rein selbstbereitete plausibel zu machen. Wie bei Kant das autonome Subjekt sich selber das Gesetz seines Handelns gibt und ihm doch zugleich als einer objektiven Nötigung begegnet, so hat bei Heidegger (wie schon bei Kierkegaard) die Selbstängstigung (Autophobie) des Menschen statt, bei der die Angst den Menschen dennoch überfällt. Das, was nach Heidegger den Menschen sich so außerordentlich ängstigen läßt, ist das Nichts. Wir haben dieses Nichts bei ihm als das zu verstehen, womit der Mensch konfrontiert ist, wenn er keinen Halt mehr findet an den Dingen, Geschehnissen und Menschen. 110 Im reinen Schuldverstehen und Schuldigsein, in diesem Moment selbstaffizierter und selbst-bewußter Ungöttlichkeit, steht der Mensch für Heideg1927, 250; 263–266; 271–275; 284; 287; 322 f.; 333. 1927, 188. 108 Zum existentialontologischen Selbstverständnis des »Ich« und »Ich bin« ist insbesondere auf den 1927, 268 Anm. 1 erwähnten Vortrag zum Thema Zeit aus dem Jahre 1924 zu verweisen. Dort soll »Ich bin« nicht für »Ich-bin-in- einer-Welt« stehen, sondern in Abhebung zu »Ich spreche« gebraucht sein, »Ich spreche« als Grundformel menschlicher Uneigentlichkeit, »Ich bin« als die menschlicher Eigentlichkeit. Vgl. auch 1925, 440: »Erst im Sterben kann ich gewissermaßen absolut sagen ›ich bin‹.« 109 1927, 310. 110 Siehe E. Tugendhat, Das Sein und das Nichts, in: Durchblicke. Martin Heidegger zum 80. Geburtstag, Frankfurt/M. 1970. 106 107

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ger als nacktes Daß im Nichts der Welt. 111 Wer einen Maximumbegriff von Unheimlichkeit und Unzuhause zu bilden sucht, wird Heidegger hierin nicht leicht zu überholen wissen. Daß Heidegger in Anbetracht eines derart ›selbst-ständigen‹ und momentanen Daseins auf Angst zu sprechen kommt, muß dann gar nicht mehr Wunder nehmen. Sie bleibt zwar rein erdacht, hat aber in ihrer Art Mischung von Horror vacui und Verlassenheits- bzw. Trennungsangst einige Plausibilität für sich. Angst, soweit sich bislang zeigt, ist in Sein und Zeit als Daseins-, nicht als Todesangst gedacht. 112 In ganz ungewöhnlicher Situation ist da ein Mensch in affektiver und zugleich bewußter Selbstübernahme seiner eigensten Seinsmöglichkeit, nämlich seiner Nichtigkeit und Ungöttlichkeit, mit dem Nichts der Welt konfrontiert: er ängstet sich. Wie bei mancher Art Lebensangst gehört auch zu dieser eine gehörige Portion Phantasie, in diesem Falle theologisch geschulte für menschliche Nichtigkeit. Ist bei Aristoteles das Göttliche im Menschen, die Vernunft, als das Eigentliche des Menschen bestimmt 113 , so ist es bei Heidegger gerade das Ungöttliche: die nichtige Art menschlicher Freiheit und die nichtige Art menschlichen Grundseins. Die Intention menschlichen Selbstseins hat sich grundlegend gewandelt. Der – im Augenblick – solipsistisch-eigentliche Mensch ist, obgleich auf bzw. in der Welt und unter Menschen (andere Menschen ›seinlassend‹), mit Kopf und Herz ganz wo anders, nämlich ganz auf sich selbst entworfen. Wir stoßen damit auf die in Sein und Zeit so wichtige Frage des Ganzseinkönnens des Menschen. Für gewöhnlich besinnen sich Menschen nicht auf ihr Ganzseinkönnen, sondern vielmehr auf ihr Ganzsein. In anti111 112 113

1927, 276 f. 1927, 276; 343. Nikomachische Ethik X 7 1178 a.

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ker Tradition wird der Mensch als ›ganz‹ gedacht, der in seiner ἀκμή steht: ein Mensch im Zenith des Lebens, ein Mann etwa in der Blüte seiner Zeugungs- und Geisteskraft, wobei der Kairos mit bedeutsam ist: zur rechten Zeit zu ›blühen‹. Heidegger sieht das völlig anders. Ein Mensch sei allein in dem Moment ›ganz‹, da sein Seinkönnen vom Nichtmehrseinkönnen, eben sein Dasein vom Nichtmehrdasein abgelöst wird. Zum ›ganzen‹ menschlichen Dasein gehört für Heidegger die Abgeschlossenheit des Lebens. Um aber den Menschen doch schon für die Zeit, da er lebt, als ganz vorstellen zu können, gilt es ihn so zu entwerfen, daß er auf lebendige Weise, ohne also tot zu sein, bereits ›beim‹ Tode ist. Heidegger löst dies Problem für sich so, daß er den Menschen nicht etwa auf den eigenen Tod starren, ihn fürchten und erwarten (obwohl auch er von der empirischen ›Gewißheit‹ des Todes ausgeht), sondern ihn sich aus ihm verstehen und auf ihn zu sein läßt – Tod als »unüberholbare« Seinsmöglichkeit und eben entscheidend als Seinsmöglichkeit. Heidegger ist es offensichtlich nicht primär um menschliches Ganzsein, sondern Ganzseinkönnen, nicht um menschliches Sein, sondern Seinkönnen zu tun. Das sieht nach einer merkwürdigen Verkehrung der Aristotelischen Ontologie des Möglichen und Wirklichen aus. Doch das ist nicht ohne weiteres vergleichbar. Heidegger behauptet nicht, Tod (»Nichtmehrdasein«) sei eine Lebensmöglichkeit. In seinem Entwurf ist aus dem Tod als Lebensende das Leben zu diesem Ende geworden. 114 Tod hat dann nicht die Bedeutung von Totsein, sondern mit der des Seins zum Tode die Bedeutung des Sterbens. 115 Die Endlichkeit des Menschen ist genauer die Sterblichkeit. Sterblich ist der Mensch, so entwickelt Heidegger seinen Gedanken weiter, der den Tod als Tod vermag. 116 114 115 116

1927, 245. 1927, 239; 252. Das Ding S. 177.

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Der Gedanke, schon zu Lebzeiten ›ganz‹ sein zu können, operiert demnach nicht mit Tod qua faktischem Lebensende, sondern mit dem Verstehen des Todes als dem sich im Leben und um des Lebens willen von ihm her Auslegen. Dennoch bleibt Heideggers Rede vom Tod als Möglichkeit (das meint »eigenste Seinsmöglichkeit«) befremdlich. Der Tod soll eine Möglichkeit sein, solange der Mensch nicht tot ist. Damit ist jedoch nicht gemeint, der Tod sei jederzeit ›möglich‹, denn dann stellte er ja keine ausgezeichnete Möglichkeit dar. Der Tod ist einerseits gewiß, und insofern ist er nicht bloß möglich, wenn das bedeutete: widerspruchsfrei denkbar. Andererseits ist der Tod keine realisierbare Möglichkeit für den Lebendigen, und zwar insofern nicht, als es für den Lebendigen als solchen unmöglich ist, tot zu sein. Allein das Sein zum Tode verbleibt als Seinsmöglichkeit, genauer: das Sichverstehen auf diese Seinsmöglichkeit. Wenn Heidegger davon spricht, der Tod sei die Möglichkeit der Daseinsunmöglichkeit 117 , dann muß er den Tod als Sein zum Tode meinen, denn der Tod ›selbst‹ wäre ja die realisierte Daseinsunmöglichkeit, d. h. ihre Wirklichkeit. Den Tod im Sinne des Totseins als Möglichkeit anzusprechen, die eine Lebens- und Seinsmöglichkeit sei, ist geradezu unsinnig. Wenn Heidegger dennoch immer wieder in mißverständlicher Kurzfassung den Tod als eigenste Seinsmöglichkeit anspricht 118 , spielt er ganz bewußt damit, seiner Deutung des Todes den Anschein der Unmittelbarkeit zu belassen, eben den unmittelbar gemeinten Tod ›selbst‹. Ein Beispiel 119 : Der Tod ist die eigenste Möglichkeit des Daseins. Das Sein zu ihr erschließt dem Dasein sein eigenstes Seinkönnen (…).

117 118 119

1927, 250. 1927, 250; 263; 313. 1927, 263.

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Der vereinzelte Tod

Reden wir, auslegend, nicht mit existentialontologischen Titeln, dann besagt das angeführte Wort in seinem Kontext: Im menschlichen Leben als einem Leben zum Tode versteht sich der Mensch in seinem eigensten Lebenkönnen: darin, daß es im Leben um Leben und Tod geht (»um das Sein des Daseins schlechthin« 120 ). Zum Tode leben bedeutet schlicht, sich in seinem Lebenkönnen zu verstehen. Doch der Tod, zu dem das Leben als seine »eigenste Möglichkeit« geht, ist eben allein als Nicht-mehr-am-Leben-sein gedacht. Demnach läßt das angeführte Wort erstens an das Nicht-mehr-leben als eigenste Lebensmöglichkeit denken, zweitens aber an das Leben, das dieser Möglichkeit eigens zulebt und das sich dadurch sein eigenstes Lebenkönnen erschließt, d. h. sich in ihm versteht. So gibt es für das Dasein zwei eigenste Seinsmöglichkeiten: erstens die Möglichkeit, nicht mehr da zu sein, zweitens die, sich von diesem bevorstehenden Nicht her so zu verstehen, daß Sein und Leben, worum es »schlechthin« geht, eigens in seiner Möglichkeit ergriffen wird. Diese Verdoppelung und Verkoppelung des Daseinsmöglichen aber ist ein Unding. Entweder verführt Heidegger mit diesem Gebrauch des Wortes »Möglichkeit« oder er hat sich selbst verführen lassen. Wenn der Tod bevorsteht, dann steht nicht die Möglichkeit, sondern die Wirklichkeit des Todes bevor. Ein Mensch hat die Möglichkeit zu sterben, nicht aber die Möglichkeit tot zu sein, man ließe ihn denn als Mensch über das Leben und den Eintritt des Todes hinaus bestehen. Das aber ist bei dieser theologischen Absetzbewegung gerade nicht gewollt. Heidegger hat Schwierigkeiten mit seiner selbstgewählten Sprache. Ist das Seinsverstehen des Daseins selbst eine Seinsweise, ja eben die Seinsweise, auf die es ontologisch ankommt, dann müßte er klarmachen, auch sich selbst, ob er mit »Sein zum Tode« faktisches Zugehen auf Nicht-mehr-da-sein oder Seinsverstehen in Richtung Nicht-mehr-sein oder gar insgeheim beides im Sinn hat. 120

Ebd.

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»Sein zum Tode« (Heidegger)

›Tod‹ als Seinsmöglichkeit des radikal vereinzelten Menschen ist, wenn überhaupt, als Seinsweise zu verstehen, die so oder so auf den Tod als Lebensende Bezug nimmt. ›Tod‹ als Seinsmöglichkeit – das ist bloße Provokation des Makabren und Effekthascherei, wenn Tod dabei etwas anderes besagen soll als »Sein zum Tode« oder wie man sonst menschliche Existenz benennen möchte, die als solche am eigenen Tod orientiert ist. 121 Heidegger denkt das Sein zum Tode und sieht dennoch weiterhin auf Tod als Lebensende. Das wird auch dadurch deutlich, daß er das Sich-vom-Tode-her-verstehen nicht rein, ja überhaupt nicht so recht als Sache des Bewußtseins ansieht. Die eigenartige Konzeption menschlichen Ganzseinkönnens zu Lebzeiten bringt ihn dazu, die Idee der Todesangst zu entwickeln 122 , einer Angst, wie sie sich mit der in der Idee der Daseinsangst gedeuteten nicht deckt. Das hat fatale Folgen für die Überzeugungskraft seiner Todeskonzeption im ganzen. Ist man zunächst nur überrascht, daß Menschen, um sich vom Tode her zu verstehen, auch Angst vor ihm haben müssen, so muß man bei genauerer Lektüre bald sehen, wie das Jonglieren zwischen Todesverstehen und Totsein dazu führt, den Angstbegriff seiner Eindeutigkeit und Verständlichkeit zu berauben. Heidegger unterscheidet zwischen »Faktizität« und »Existenzialität«. Mit ersterem kennzeichnet er das »Schon-sein«, das meint die Geburtlichkeit des Menschen, mit letzterem die Zukünftigkeit des Menschen als Todesbezüglichkeit. Auf diese Weise entwickelt er unter der Hand zwei Angstbegriffe: einen der »Faktizität« und einen der »Existenzialität« 123 . Sich – ›faktisch‹ – vor der Unheimlichkeit des Lebens ängsten, sich – ›exi121 A. Sternberger, Der verstandene Tod, Leipzig 1934, hat hier auch schon ein Problem gesehen. Seiner umständlichen Gedankenführung ist aber nicht klar zu entnehmen, worauf er genauer hinauswill. 122 1927, 251; 266. 123 1927, 275 f.; 344.

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stenzial‹ – vor der Bedrohung durch den Tod ängsten? 124 Nein. So läßt sich der Unterschied nicht begreifen, da Heidegger die Unheimlichkeit nicht beim Nichts der Welt beläßt, sondern auf den Tod überträgt. Gravierender aber als die Vermengung der Angstbegriffe ist das Problem, die Angst vor dem Tode, wie er sie erläutert, überhaupt als Angst zu verstehen. Heidegger möchte, daß das »Worum« und das »Wovor« der Angst sich decken. 125 Doch wir können bei ihm selbst lesen, daß der Mensch sich in der Daseinsangst um sein eigenstes Seinkönnen ängste 126 , in der Todesangst aber vor ihm. 127 Auf gut Deutsch hieße das, sich um das Leben und vor dem Tod ängsten. Doch das sagt er gerade nicht, da er Lebens- und Todesverhältnis in ihrer Weise der Angst je als »eigentliche« Verhältnisse zum »Eigensten« meint. Wir können also nicht die Angst um das Leben mit der vor dem Leben vergleichen, nicht neben der vor dem Tod eine Angst um den Tod ins Spiel bringen. Im eigentlichen Lebensverhältnis sei der Mensch nicht mehr und nicht weniger als ein »nacktes Daß«, im eigentlichen Todesverhältnis ein »vorlaufendes« Wesen – wobei Vorlaufen in den Tod »als Möglichkeit des Verstehens des eigensten äußersten Seinkönnens« 128 gedeutet wird. Entsprechend wird auch unterschieden: »Geworfenheit in das Dasein« und »Geworfenheit in den Tod« 129 . Wir haben das als Unterscheidung von Lebens- und Todesangst zu verstehen. In der Lebensangst habe der Mensch Angst vor dem Erdenleben als solchem 130 : vor der Nacktheit seines Daß »im Nichts der Welt« 131 . Dieses Nichts aber hat mit dem Nicht 124 125 126 127 128 129 130 131

1927, 265. 1927, 342. 1927, 276; 343. 1927, 251. 1927, 263. 1927, 251; 276: »in die Existenz«. 1927, 186. 1927, 276 f.

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»Sein zum Tode« (Heidegger)

des Nichtmehrdaseins nichts zu tun, gibt nicht einmal Anhalt und Anlaß, schräg darauf zu sehen. Die Lebensangst ist damit erneut verständlich, wenn auch nicht akzeptierbar geworden: es ist die Angst vor der radikalen Ungeselligkeit qua existentieller Eigentlichkeit. Mit der Verständlichkeit existentialer Todesangst steht es ungleich schwieriger. Sicherlich gibt es menschliche Angst, die sich als Todesangst versteht und artikuliert. Bereits Kinder geben Todesangst zu erkennen, z. B. in bestimmten Krankheitssituationen. Kraft seiner Phantasie ängstet der Mensch sich nicht allein vor dem eintretenden Tod, der ihm gegenwärtig Lebensbedrohliches signalisiert, sondern auch vor dem – einst – eingetretenen. Es gibt die der Phantasie aufoktroierte Angst vor dem Fegefeuer – vor seiner Länge, Schmerzhaftigkeit, vielleicht auch Schändlichkeit. Es gibt die Angst, als Toter verlassen und vergessen, im Dunkel und vernichtet zu sein. Doch die existentielle Todesangst ist nicht Sache der Phantasie, sondern der Unmittelbarkeit, keiner animalischen, sondern einer klarsichtigen. Ingeborg Bachmann notiert sie, wenn sie sich an den Nazieinmarsch in Klagenfurt und die erste Begegnung mit der bedrohlichen nackten Lebenskraft Anderer erinnert 132 : Aber diese ungeheure Brutalität, die spürbar war, dieses Brüllen, Singen und Marschieren – das Aufkommen meiner ersten Todesangst.

Sich durch Vernunft und Männlichkeit alle Besorgnis in Anbetracht des eigenen Sterbens nehmen zu lassen, ist nicht jedes Menschen Sache – unbeschadet der Tatsache, daß es eine philosophische Sterbekultur, zumindest theoretisch, gegeben hat. Zwei Zeugnisse genügen: Denn das Sterben fürchtet niemand, der nicht ganz und gar unvernünftig und unmännlich ist 133 , I. Bachmann, Wir müssen wahre Sätze finden, hrsg. von Ch. Koschel/ I. v. Weidenbaum, München 1983, S. 111. 133 Platon, Gorgias 522 e. 132

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Der vereinzelte Tod daß gerade die Weisesten beim Sterben den größten Gleichmut zeigen, die Dümmsten aber vor dem Tod am meisten zittern. 134

Bei weitem verständlicher als diese kalkulierte ist affektive Todesbejahung. Friedlich und geistvoll Lebende scheuten den Tod, Elende aber hofften auf ihn. 135 Nicht zu leben sei besser als schlecht zu sterben. 136 Der Tod wird gepriesen als Erlöser: So gibt es unter allen Menschen keinen, der nicht mehr als einmal in seinem Leben lieber tot wäre als lebendig. So ist der Tod dem Menschen die ersehnteste Lösung von allen Kümmernissen des Lebens. 137

Dem Tod wird sogar der unbedingte Vorzug vor dem Leben gegeben: Von allem das beste für Menschen auf Erden ist es, nicht geboren zu sein, ja nicht in die scharfen Strahlen der Sonne zu sehen, wenn aber geboren, so schnell wie möglich die Tore des Hades zu passieren und unter viel aufgeschütteter Erde zu liegen. 138

Aber auch die Einsicht, daß der Tod an der Zeit ist, führt zu seiner Bejahung: Im Herbst des Lebens als reife Frucht zu Tode fallen (…). Auf diese Reise freue ich mich so sehr, daß ich, je näher ich dem Tode komme, glaube, gleichsam ›Land in Sicht‹ zu haben und endlich nach langer Seefahrt in einen Hafen zu gelangen. 139

Cicero, Cato de senectute. Jesus Sirach 41, 1 ff. 136 Kritias, Fragment B 23, Fragmente der Vorsokratiker Bd. 2, Berlin 1952, S. 385. Vgl. Demokrit, Fragment B 99, ebd., S. 162; Gorgias, Fragment 11 u. 11 a, ebd., S. 299; 303. 137 Herodot, Historien VII, 46; vgl. I, 31 f. 138 Theognis, Anthologia Lyrica Graeca, E. Diehl, Leipzig 1950, II, 28. Vgl. Certamen Hesiodi et Homeri, in: Homeri opera, Oxford 1946, V, 228, das vielleicht auf Theognis zurückgeht. Siehe auch Sophokles, Ödipus auf Kolonos 1224–27. 139 Cicero, Cato de senectute. 134 135

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»Sein zum Tode« (Heidegger)

Menschen halten es für an der Zeit zu sterben, wenn es gilt, einem Nächsten nachzusterben, um wieder mit ihm zusammenzusein. Was am Vorzug des Todes vor dem Leben vernünftelnd und bigott, was lebensklug und lebenswahr ist, wird im einzelnen nicht so leicht auszumachen sein. Doch die Option für den Tod, theoretisch wie praktisch, bietet Anlaß genug, eine allgemeine Todesangst in Frage zu stellen. Angesichts der Beschränktheit verständlicher Todesangst und des Faktums verständlicher Todeshoffnung muß es verwundern, wenn Heidegger fraglos darauf setzt, daß menschliche Existenz im Vorblick auf Nichtmehrdasein von Todesangst ergriffen ist. Paulinische Erziehung und herrschender Existentialismus sind keine möglichen Erklärungen dafür, wenn es gilt, eine argumentativ gemeinte Thanatologie zu rechtfertigen. Selbst wenn dem Totsein bestimmte Gehalte zugedacht werden, geht nicht notwendig Beängstigendes von ihm aus. Ein altes Versprechen lautet, es gebe dann endlich wieder Ruhe, kein Leib schmerze mehr, nichts kränke. 140 Wenn Menschen, unterschiedlich motiviert, mit Hoffnung auf den Tod sehen und warten, dann kann er nicht ›selber‹ auf eine Weise begegnen, daß er bedroht und Angst macht. Der eigene Tod bedroht das eigene Leben überhaupt nicht; er beendet es vielmehr. Fällt auf einen Menschen Todesfurcht (δειλία θανάτου), dann geht das gut und gerne von den Feinden aus. 141 Der Tod ›selbst‹ droht keineswegs mit dem Tod und dem Ende. Wie das »Sein zum Tode« vor dem Tod Angst haben soll, ist schlechterdings uneinsichtig. Es geht mit ihm doch – angeblich – um die wahre Zukunft je eines Menschenlebens, um sein Ganzseinkönnen. Vor der Zukunft, wie Heidegger sie konzipiert, läßt es sich aber wohl ebensowenig ängsten wie vor dem von ihm in Betracht gezogenen Ganzsein. 140 141

Sophokles, Ödipus auf Kolonos 954 f. Psalm 55, 5.

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Der vereinzelte Tod

Mit seiner Fiktion ›menschlicher‹ Todesangst gelingt es Heidegger, etwas von Grund auf durcheinanderzubringen: die Angst des »Seins zum Tode« vor dem Tod ›selbst‹ und die Angst vor dem »Sein zum Tode«. Kohärent mit seinen Überlegungen zur Eigentlichkeit dürfte es überhaupt nur letztere Angst als Todesangst geben. Da hilft auch kein Wovor und Worum. Daß das »Sein zum Tode« wesenhaft Angst sei 142 , darf allein meinen, daß es Angst mache, sich vom Tod her zu verstehen und auf ihn hin zu leben (»zu sein«). So sieht und sagt es Heidegger an wichtigen Stellen selbst. 143 Wird das aber klar gesehen, dann hängt auch schon das Angstmachende des Todes in der Luft. Wenn wirklich nicht der Tod ›selbst‹, sondern das »Sein zum Tode« das Angstmachende und, in der Übernahme dieses Seins, das sich ängstende Sein ist, sollte man konsequenterweise auch nicht länger von Todesangst sprechen, sondern, Heideggers Wortgebrauch folgend, von Existenzangst. Entsprechend seinem terminologischen Gebrauch von »Dasein« und »Existenz« hätten wir Daseins- und Existenzangst zu unterscheiden. Daseinsangst wäre, wie gesagt, Angst vor der existentiellen Ungeselligkeit und Unbehaustheit, Existenzangst dagegen Angst davor, sich vom Tode her zu verstehen. Beide Ängste kämen darin überein, je Angst vor der Eigentlichkeit zu sein. Für einen Appell an Eigentlichkeit, wie Heidegger es tut, Tod und Angst zu bemühen, ist entweder ein Selbstmißverständnis oder bloße existentielle Stimmungsmache. Die freilich deutet sich in Sein und Zeit an, wo er ein ziemlich unglaubwürdiges Bild der Funktion des Todes für die menschliche Existenz zeichnet 144 : Nur Seiendes, das wesenhaft in seinem Sein zukünftig ist, so daß es frei für seinen Tod an ihm zerschellend auf sein faktisches Da sich zurückwerfen lassen kann (…). 142 143 144

1927, 266. 1927, 251; 277. 1927, 385.

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»Sein zum Tode« (Heidegger)

Was beim Zerschellen an etwas allenfalls noch zurückkommt, ist, so weiß es jedenfalls die Nautik, nicht mehr der Rede wert. Heideggers Verständnis von Daseins- als Todesangst kommt in seiner Marburger Vorlesung zum Thema Geschichte des Zeitbegriffs noch etwas deutlicher zum Vorschein. Todesangst wird da einmal als Angst angesprochen, wie sie sich im Sterben, d. i. beim Aus-der-Welt-gehen, einstellen könne. 145 Diese existentielle Angst setzt er gleich mit der absoluten Erfahrung eigenen In-der-Welt-seins. Menschliche Todesangst ist, so gesehen, gleichbedeutend mit der Weltsituation des Menschen als rein faktischer. Heidegger selbst spricht von »Befindlichkeit«: Todesangst sei die Befindlichkeit »des nackten In-der-Welt-seins selbst« bzw. »des reinen Daseins«. Die – auf den ersten Blick – verwunderliche Gleichsetzung von Todesangst und Befindlichkeit ergibt einen Sinn, wenn sich in dem künstlich erdachten reinen Dasein und eben nackten welthaften Sein die Kraft einer bestimmten Todesphantasie zeigt: Tod als Trennung. Der Mensch, der schon zu Lebzeiten von allem und jedem getrennt ist (»wo die Welt einem nichts mehr zu sagen hat und auch jeder Andere nichts mehr zu sagen hat«), – das ist die Fiktion einer Trennungsangst, die sich auf das Am-Leben-sein, nicht aber auf das Tot-sein projiziert. Die Todesangst ist eine Seinsangst – nicht die Angst, einst oder sogleich tot zu sein, sondern die Angst, im Am-Leben-sein ganz auf den Tod gestellt zu sein: Die Angst aber ist Angst vor diesem Sein selbst, so zwar, daß dieses Sichängsten vor ihm ein Sichängsten um dieses Sein ist. 146

Diese erdachte Angst im Sterben spielt natürlich mit dem Gedanken einer Angst vor dem Tode ›selbst‹, hält sich dann aber doch säuberlich an die Lebensangst. Heidegger will nicht durch Erfahrung widerlegbar sein. Sterbende, die nicht mehr für An145 146

1925, 403. 1925, 405.

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dere erreichbar sind, haben sich oftmals in den Tod gefügt. Von Angst ist dann genau nicht zu reden. Zugleich aber ist aus Erfahrung bekannt, daß Sterbende ›bis zuletzt‹ für Zuspruch erreichbar und offen sind. Nach Heideggers Konzept ängstet sich dagegen der Mensch bis zuletzt um sein Lebenkönnen, anstatt, was eigentlich nötig wäre, für sein Sterbenkönnen und Sterben Sorge zu tragen, so daß es ihm in seinem Sein um sein Nicht-mehr-sein selbst ginge. Es ist zu überlegen, ob Heidegger in seiner Deutung der Todesangst des Sterbenden als Seinsangst animalisches und praktisches Todesverhalten des Menschen miteinander vermengt, wie das gelegentlich vorkommt. So macht etwa Hoimar von Ditfurth keinen Unterschied zwischen Angst, die »sich bei dem Gedanken (R. M.) an den Tod in uns rührt« 147 , die sich also einem Vorstellen und ›Vorwissen‹ verdankt, und Angst, die unmittelbar animalisch (Ditfurth spricht auch christlich von »kreatürlich«) einbricht. 148 Bei Heidegger müssen wir uns entsprechend fragen, ob die von ihm gedachte Erfahrung des nackten Seins und reinen Daseins vielleicht doch keine bloße Erfindung ist, sondern sich als Deutung menschlicher Animalität versteht, deren sich der Mensch in den Augenblicken des Sterbens inne werde. Reine Animalität erklärte ja gut das Schweigen der Welt und der Anderen. In ihr ist die reine eigene leibhaftige Lebendigkeit aufdringlich – und dies in ihrer zunehmenden Vergeblichkeit. Aber das paßt nicht für Heidegger, jedenfalls nicht ganz. Animalische Angst vor dem eigenen Tod läßt sich wohl vorstellen, nicht aber animalische Angst um das eigenste Seinkönnen. Eher zu überlegen wäre noch, ob Heidegger hier insgeheim Überlegungen einer kreatürlichen Angst folgt, die im christlichen Selbstverständnis des Men-

H. v. Ditfurth, So laßt uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen. Es ist soweit., Hamburg 1985, S. 334. 148 Ebd. S. 329–335. 147

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schen als Gottverlassenheit aufscheint. So ist in den Psalmen zu lesen: Unter Toten muß ich wohnen, Erschlagenen gleich, die im Grabe liegen, deren du nicht mehr gedenkst (…). 149

Auch andersherum: Denn im Tode gedenkt man deiner nicht. 150

Entsprechend wäre zu fragen, ob Heidegger Todesangst als Verlassenheitsangst konzipiert, die signifikant von Gottverlassenheit schweigt, um mit der Weltverlassenheit auszukommen. Fraglos aber steht Heideggers Abweisung einer Angst vor dem Tode ›selbst‹ fest 151 und damit einer Todesangst, die nicht auf extreme Weise Seins- und Lebensangst wäre. Nun möchte Heidegger allerdings noch eigens begründen, warum der Tod ›selbst‹ dem Einzelnen Angst mache. Grund dafür sei die Unbestimmtheit seines Wann, sein jeden Augenblick möglicher Eintritt. 152 Dadurch nämlich gehe eine ständige Bedrohung von ihm aus. 153 Der eigene Tod sei einem Menschen gewiß, aber in diese Gewißheit sei gerade nicht die seiner Stunde eingeschlossen. Die sei prinzipiell unbestimmt. Mit dieser Begründung verdirbt sich Heidegger sein Todeskonzept vollends. Auf verwunderlichste Weise versieht er sich an menschlicher Erfahrung, daß der Tod für gewöhnlich gerade in dem Augenblick dem Einzelnen als reines Entsetzen gegenübertritt, da ihm seine Stunde bekanntgegeben wird. Die Unbestimmtheit des Wann des Todes wird von den Menschen auch gar nicht verdrängt. 154 Im Gegenteil. Gerade aus ihr lebt Psalm 88, 6 (Zürcher Bibel). Psalm 6, 6 (Zürcher Bibel). 151 Siehe dagegen Ditfurth, ebd. S. 330. 152 1927, 258; 265. 153 1927, 265. 154 Spinozas berühmter Satz »Homo liber de nulla re minus quam de morte cogitat; et eius sapientia non mortis, sed vitae meditatio est« ist 149 150

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es sich gelassen, es sei denn, man habe ernste Probleme mit dem Weiterleben, stehe etwa unter Selbstmorddruck. Die Angst jedenfalls, schon im nächsten Augenblick sterben zu können und zu müssen, weil einem womöglich ein Ziegel auf den Kopf fallt – das ist im besten Falle die Angst der klugen Else, wie sie ein Grimmsches Märchen erzählt. Dieses Versehen Heideggers ist von ziemlicher Bedeutung, zeigt es doch, wie lebens- und menschenblind er seiner existentialontologischen Idee vom Menschentod nachsetzt. Spätestens mit ihrer Aufdeckung muß Zweifel wach werden, ob Heidegger bei Abfassung seiner Thanatologie wirklich eine glückliche Hand hatte. Natürlich ist es weit weniger verwunderlich, daß ein Philosoph für sich auf eine derartige Idee verfällt, als daß sie ihm so viele abnehmen – bis heute. Es ist philosophisch unzulässig, allein der Ideologie von Heideggers Todesdenken Aufmerksamkeit zu schenken, nicht aber zuvor der Gedankenführung, die diese Ideologie ›argumentativ‹ entwickelt. Wem allein maßgeblich ist, daß Heidegger dem philosophischen Gedanken eines Lebens nach dem Tode mit der Thanatologie von Sein und Zeit ein endgültiges Ende gesetzt habe, der vernachlässigt die Tatsache, daß Tod in der Perspektive der vermeinten existentialen Todesangst überhaupt ein Unding ist. 155 Der Antrieb, den je eigenen Tod so und nicht anders zu deuten, ist bei Heidegger allem Anschein nach auf seine religiös-theologische Herkunft und auf das gestörte Verhältnis zu ihr zurückzuführen. Den menschlichen Tod, der sich gut paulinisch aus menschlicher Schuld- und Sündhaftigkeit versteht, als Opposition gegen die Todesliteratur des 17. Jahrhunderts zu lesen, nicht aber als Beklagung existentiellen Schlendrians. Siehe W. Barner, Der Tod als Bruder des Schlafs, Literarisches zu einem Bewältigungsmodell, in: R. Winau / H. P. Rosemeier (Hrsg.), Tod und Sterben, Berlin/ New York 1984, S. 158. 155 H. Ebeling, Philosophische Thanatologie seit Heidegger, in: ders. (Hrsg.), Der Tod in der Moderne, Königstein/Ts. 1979.

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sucht Heidegger ganz offensichtlich in heroischer Art durch Entmythologisierung und Existentialisierung loszuwerden. Tod und Angst kommen für ihn insbesondere in der Funktion überein, Menschen zu vereinzeln. Auf-sich-Vereinzelung aber ist die ausgezeichnete Weise des Helden. Von diesem Helden ist im Neuen und Alten Testament signifikant nichts zu finden. Wer um sein Leben, seine Seele und die Vergebung seiner Sünden bangt, baut auf Gott, genau nicht auf sich selbst. Allerdings wüßte jüdische Erfahrung des Menschen, wie sie in der Bibel aufbewahrt ist, mit Heideggers erdachter Todesangst selbst als Gegenentwurf nichts anzufangen. Verständlich dagegen scheint im Licht biblisch vermittelter Erfahrung die Ausrichtung des Todesgedankens am Einzelnen als Einzelnen zu sein. So ist der »Tag des Todes« nicht vergleichbar dem »Tag des Herrn« 156 , dem Tag der großen Verwüstung oder des Lichtes für den Menschen. Der Tag des Todes als das, was dem Einzelnen als sein Tag bestimmt ist, hat keine geschichtliche Prägung. Doch diese Unterscheidung des Einzelnen und des allgemeinen Menschen in Anbetracht des Todes ist durch Paulus im Prinzip überholt. Wo die Deutung vorherrscht, im Opfertod Christ liege das Ende des alten menschlichen Todes beschlossen, können Stunde und Tag des Todes nicht mehr Sache des Einzelnen und seiner alten Art zu Tode zu kommen bleiben. Tod erhält für den Menschen eine prinzipiell eschatologische Bedeutung. In Sein und Zeit dagegen wird das geschichtliche Sein des Menschen nicht als menschlich-endgeschichtliches, sondern als völkisches inmitten von Geschichte gedacht. 157 Dabei aber geht der Todesgedanke nicht etwa vom Tod des Einzelnen zum Tod des Volkes Jesaja, 2, 12; 13, 6; 1. Thessalonicherbrief 5, 1. Der geschichtlich, geschick- und schicksalshaft gesehene Mensch gehört in seiner Ganzheits- und Todesausrichtung einer Volksgemeinschaft zu (1927, 384), einer Generation und »seiner Zeit« (1927, 385). Heidegger läßt ihn in eine Überlieferung gestellt sein und zu eigener Selbstübernahme »sich seinen Helden wählen« (1927, 385; vgl. 371). D. h. die eigene 156 157

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über. Kein völkisches ›Vorlaufen‹ in den Tod ist gedacht, kein völkisches ›Ganzseinkönnen‹. Tod bleibt in Sein und Zeit Sache des Einzelnen, in Ausweitung des Gedankens menschlicher Zeitlichkeit zu menschlicher Geschichtlichkeit allerdings so, daß die Existentialität des Einzelnen völkisch modifiziert wird. Der eigentliche Tod kann völkischem Dasein dienen. Das wird nicht ausgeführt, ist aber als Konsequenz der Deutung menschlicher Geschichtlichkeit so zu denken. Das erhält Gewicht, wenn Heidegger dem »deutschen Dasein«, d. h. dem deutschen Menschen im Jahre 1933 jene »Urforderung alles Seins, daß es sein eigenes Wesen behalte und rette« 158 zu Gehör bringt. Doch nicht nur das Eschatologische, sondern ganz allgemein das Kairologische des biblischen Todesverständnisses macht die Vergleichbarkeit des Todes des Einzelnen zunichte. Der biblischen Einsicht, daß der Mensch keine Gewalt über die Stunde des Todes 159 , aber genau diese Stunde ihr ›an der Zeit‹ 160 hat, steht das Denken von Sein und Zeit völlig fremd gegenüber. Dieses Denken wehrt jedes kairologische Todesverständnis ab. Worte wie »letzte Stunde« 161 und »naher Kairos« 162 ergeben für Heideggers Einzelnen keinen Sinn. Für den geht es nicht um die Stunde des Todes, sondern um die ›Stunde‹ (Stunde um Stunde) des Seinkönnens. Wenn überhaupt ein Kairos dem Einzelnen in Sein und Zeit zuzudenken wäre, dann nicht ein eschatologisch-geschichtlicher (Tag des Herrn), nicht ein einmalig-lebensgeschichtlicher (Tag des Todes), sondern Existenz »wiederholt« die Existenz eines Anderen, der damit »gewesen« und nicht vergangen ist. 158 M. Heidegger, Ansprache vom 11. 11. 1933: Deutsche Lehrer und Kameraden! Deutsche Volksgenossen und Volksgenossinnen!, Nationalsozialistischer Lehrerbund Deutschland/Sachsen, Dresden 1934. 159 Prediger 8, 8. 160 Prediger 3, 2. 161 1. Johannesbrief 2, 18. 162 Offenbarung 1, 3.

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allein, was in einem Christuswort, auf den Unterschied bedacht, für den gewöhnlichen Menschen festgehalten ist 163 : eure Zeit aber ist immer bereit.

Die Geburtlichkeit des Menschen faßt Heidegger als »Geworfenheit« übrigens so, daß er den Kairos des Gebärens und der Geburt methodisch ausschließt. Die Sicht auf den Einzelnen in seiner Vereinzelung läßt an niemand anderen denken. Daß zum eigenen Leben auch die Mutter gehört, die, als die Zeit erfüllt war, mit einem Kind niederkam, das ich bin – dafür gibt es in Sein und Zeit keine Perspektive. Nicht nur die Toten und der Tod Anderer fehlt dem lebendigen Menschen. Die Anderen fehlen ihm in Sein und Zeit überall. Im Gedanken des »Seins zum Tode« eröffnet sich eine komplexe Ständigkeit des ›an der Zeit‹ : die ständige (»solange es ist«) 164 Möglichkeit des »Daseins«, eigentlich zu sein, das ständige Gewissenhabenwollen des wesenhaft Lebenden, sein ständiges Schuldigsein 165 , ja selbst seine ständige Angst weil ständige Todesbedrohung. 166 Wenn nämlich der Mensch »sich im Grunde seines Seins« ängstet 167 , wenn »Sein zum Tode« wesenhaft Angst« ist 168 , dann gibt es für den Menschen keinen Kairos des seligen und geborgenen Miteinander. Er müßte schon im »Schrein des Nichts« 169 verwahrt sein, um nicht länger die Nöte einsamster Eigentlichkeit zu fürchten und zu fliehen oder sie sich in »nüchterner Angst« und »gerüsteter Freude« angedeihen zu lassen. Der Mensch als Lebensheld, weil er »mors certa, hora incerta« zu seinem Lebensbewußtsein und Johannesevangelium 7, 6 (Zürcher Bibel). Luther: »Eure Zeit aber ist allewege.« 164 1927, 284; 305. 165 1927, 305. 166 1927, 265. 167 1927, 190. 168 1927, 266. 169 M. Heidegger, Das Ding, S. 177. 163

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Quell selbsthaft gesteigerten ›Lebens‹ macht – die Anstrengungen, die in Sein und Zeit unternommen werden, Angst, Schuld, Gewissen und Tod zusammenzudenken, scheinen in der Tat allein zu dieser Verzeichnung lebendigen Menschseins zu führen. In diesem Zusammenhang ist auch zu sehen, wie auffallend äußerlich und trivial der phänomenale Ansatz, die szs. ontische Sicht der Todesproblematik in Sein und Zeit ist. Um nur ja der Vereinzelung das Wort zu reden, schaltet Heidegger alle lebenspraktisch-gemeinsame Todeserfahrung aus – die Bedeutsamkeit des Todes von Anderen für das je eigene Leben und Sterben sowie des eigenen Todes für das Leben und Sterben von Anderen. Der tote Andere ist ihm sogleich nurmehr der Leichnam. 170 Im Grunde interessiert ihn am ›Phänomen‹ des Todes allein das »Nichtmehrdasein« als Gegenbegriff zum »Da-sein«, nämlich zum »Da« der Spanne von Geburt und Tod. 171 Diese nicht nur verkürzte und einseitige, sondern schlicht fehlgehende Sicht des Todes spricht auch klar aus dem von Heidegger verwandten »Vorbei«, das ja ganz ›realistisch‹ ist, weil es bekanntlich, tritt der Tod ein, mit dem Leben ›aus und vorbei‹ ist. Allein schon die zeitgenössischen argentinischen Tangos haben da besser Bescheid gewußt. 172 Nicht von ungefähr führt die äußerliche ontische Sicht dazu, daß der ontologisch entworfene Tod der Liebe völlig entrückt ist. In Heideggers Vereinzeltem geht es nicht etwa warm, sondern ausgesprochen kalt zu. 173 Bei dem Versuch, alltägliche Vorstellungen aus dem raum-zeitlichen Phänomenbereich zu zitieren, sind Heidegger auch sonst eklatante Fehlleistungen unterlaufen. Seine ›phä1927, 238. Das ist bereits von A. Sternberger, Der verstandene Tod, beachtet worden. 171 1927, 237. 172 Z. B. A. Le Pera, Volvió una noche. 173 1927, 277. 170

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»Sein zum Tode« (Heidegger)

nomenologische‹ Erörterung räumlichen In-seins enthält folgende Passage 174 : Dieses Seinsverhältnis läßt sich erweitern, z. B.: Die Bank im Hörsaal, der Hörsaal in der Universität, die Universität in der Stadt usw. bis zu: Die Bank ›im Weltraum‹.

Aus dem institutionellen Raum (Hörsaal) wird unversehens ein physikalischer. Eine Bank aber, die im Hörsaal steht, befindet sich insofern überhaupt nicht im Weltraum – durch keine Art von Vermittlung. Der Versuch, das Verständnis von Insein als Vorhandensein phänomenal am Ineinandersein auszuweisen, ist in sich unstimmig. Auch Kleider, die im Schrank sind, sind nicht mit dem Schrank in der Welt, wenn das meinen sollte: im letzten Umfassenden alles Vorhandenen. Was schließlich mit Studenten wäre, die in der Vorlesung, im Kino oder im Krieg sind, ließe sich aus Heideggers Perspektive erst gar nicht in den Blick bringen. Heidegger sieht auf ein und nur ein menschliches Individuum, löst es aus jedem lebenspraktischen Kontext, um so das Zeithaben und Zeitbrauchen dieses Individuums allein an ihm selbst und für es selbst in Betracht zu ziehen. Wenn Aristoteles glaubt, Zeit an einem und nur einem in Bewegung befindlichen Ding ausweisen zu können, Augustinus an einem und nur einem Bewußtsein, dann ist es Heidegger, dem dafür ein und nur ein Todentschlossener genügt. Gerade er in seiner methodischen Zuwendung zur menschlichen Zeit hätte sich aber nicht daran versehen dürfen, daß und inwiefern zu jedem menschlichen Zeitverhältnis die Anderen gehören: je gegenwärtig Vergangenheit und Zukunft zu teilen, einander Zeit zu geben und zu lassen, miteinander Zeit zu haben. Das künstliche und phänomenal irreführende Verhältnis von Sein und Nichtmehrsein (Leben und Nichtmehrleben, Dasein und Nichtmehrdasein) hat sich bei Heidegger in späteren 174

1927, 54.

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Der vereinzelte Tod

Schriften als Leitbild des Todesgedankens fortgesetzt. Es bleibt bei dem – vermeintlich angstmachenden – Aus und Vorbei. Nur die Tonlage ändert sich. Heldisch-kämpferisch hört sich das 1935 so an: Nicht-dasein ist der höchste Sieg über das Sein. Dasein ist die ständige Not der Niederlage und des Wiederaufspringens der Gewalt-tat gegen das Sein (…). 175

Dabei hatte er bei seinem Plädoyer für die Gewalttätigkeit des Lebens zuvor ausgeführt: Nur an einem scheitert alle Gewalt-tätigkeit unmittelbar. Das ist der Tod. (…) Sofern der Mensch ist, steht er in der Ausweglosigkeit des Todes. 176

Man muß sich schon eigens darauf besinnen, daß an diesen Äußerungen nicht das Pathos der Zeit, sondern die abstrakte und doch existentiell aufgeladene Vorstellung des Verhältnisses von Sein und Nichtmehrsein schuld ist. Noch in den mystifizierenden Todesdeutungen der Spätzeit (»Schrein des Nichts«, »Gebirg des Seins«) 177 klingt die äußerliche Deutung des Verhältnisses von Leben und Tod als radikal vereinzeltes Verhältnis von Sein und Nichtsein nach, die, außerhalb jeglicher lebenspraktischen Erfahrung, gegenüber einem einzelnen Leben einen Standpunkt einnehmen, von dem aus es sich zwischen Geburt und Tod als »da«, danach aber als »nicht mehr da« zeigt. Auch hier noch herrscht also die merkwürdige Ansicht vor, der Mensch dürfe ja nicht vom Leben aus, sondern müsse vom Tode her bestimmt werden 178 – als ob sich eben Leben und Tod so einfach auseinanderdividieren ließen, sobald die Sicht menschlicher Lebendigkeit weniger abstrakt und künstlich vollzogen wird. Woher bei dieser Todessicht die 175 176 177 178

M. Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Tübingen 1953, S. 136. Ebd. S. 121. M. Heidegger, Das Ding, S. 177. Ebd.

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»Sein zum Tode« (Heidegger)

Angst kommen soll, und gar die Angst der Unheimlichkeit 179 , nicht nur die der vermeinten Bedrohung, bleibt philosophisch ungeklärt. Mit der Todesangst, wie er sie in Sein und Zeit entwirft, zeichnet Heidegger sein Bild vom Menschen. Er braucht sie (samt der Daseinsangst), um seine Sicht menschlicher Nichtigkeit so zu vollenden, daß es alles in allem ein und dasselbe Verhalten ist, in dem je ein Mensch sein eigenstes ›Nichtsein‹ – heroisch – bejaht. Mehr noch als die vermeinte Nichtigkeit menschlichen Grundseins und Freiheitsgebrauchs ist es die vermeinte Nichtigkeit menschlichen Lebens, wie sie der Tod markieren soll, was Heideggers Menschensicht prägt. Die Nichtigkeit des Menschen, die ihm zufolge das je eigene Gewissen zu verstehen gibt, als – doppelte – Nichtigkeit gegenüber Gott, bewahrheitet sich für ihn aufs äußerste in der je eigenen Lebensendlichkeit: Ich bin nicht nur nicht Grund (Erzeuger und Gebärer) meiner selbst (causa sui), ich kann nicht nur nicht alle mir offenen Möglichkeiten realisieren (ens perfectissimum), sondern mir steht überhaupt ein Ende des eigenen Seins bevor. Von dieser ›Nichtigkeit‹, dieser dritten Art, kein Gott (ens aeternum) zu sein, ist Heidegger zutiefst betroffen. In der Weise, wie das von Heidegger konzipierte Gewissen nicht im Sinne Kants der Vernunft folgt, auch keine einsozialisierte Moral darstellt, und sich schon gar nicht glükkender menschlicher Lebensteilung verdankt, ist es, streng genommen, nichts anderes als Todesgewißheit. Die ganze breit angelegte ›Analyse‹ des Gewissens dient im Grunde allein dazu zu verschweigen, daß Gewissen Todes-›gewissen‹ ist. Damit ist freilich keine Todesgewißheit anvisiert, die zu irgendeinem philosophischen oder auch nur ›männlichen‹ Todesverhalten aufriefe. Nein. Die Todesgewißheit, die Heidegger gegenüber der sg. empirischen anzielt, ist als ontologische und theoretisch 179

M. Heidegger, Einführung in die Metaphysik, S. 121.

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Der vereinzelte Tod

entworfene überhaupt keine Gewißheit des Todes ›selbst‹ (damit spielt sie allenfalls), sondern ist eine Gewißheit, die das Sein zum Tode betrifft. Heidegger bleibt gar nichts anderes übrig, wenn wir uns seine Überlegungen als konsistent zusammenreimen, als mit der Todesgewißheit die Gewißheit zu meinen, im Sein zum Tode eigentlich zu sein. Die existentiale Gewißheit des Todes spricht nicht den Tod als Nichtmehrdasein an, sondern als Seinsmöglichkeit. Wie die Angst vor dem Tode allein die Angst vor der Eigentlichkeit des Todesverhältnisses meint, so kann auch hinter der entworfenen Todesgewißheit nichts anderes stecken als die Gewißheit, im Todesverhältnis (sich im je eigenen Sein und Leben vom je eigenen Tod her verstehen) eigentlich zu sein. Der Angst vor der möglichen Eigentlichkeit entspricht die Gewißheit der möglichen Eigentlichkeit. Das ›Gewissen‹ ist dazu ausersehen, das zu verstehen zu geben, und es hat auch keine weitere Funktion. Wie man sich Heideggers Betroffenheit von der ›Nichtigkeit‹ des – einzeln-vereinzelten – Menschen auch erklären mag, etwa durch Psychologisierung lebensgeschichtlicher Daten, die Menschensicht, die er daraus gewinnt und entwickelt, ist, menschlich gesehen, keinenfalls vielversprechend. Ein Mensch, der ganz mit sich selbst und seiner Ganzheit beschäftigt ist: mit existentieller Selbstverständigung und solipsistischer Todesorientierung, scheint praktisch für menschliche Begegnungen und menschliche Gesellschaft nicht weiter auffallend und bedeutsam zu sein. Kant läßt den Menschen im wesentlichen dadurch handeln, daß er seinen Willen auf universelle Vernunft verpflichtet und ihn sich damit in seinem Selbstsein moralisch gesonnen macht. Ein Handeln in der ›Welt‹ spielt in der Moralphilosophie Kants kaum eine Rolle. Auch bei Heidegger geht das menschliche Handeln im wesentlichen intern vor sich, nur ist es keine Aktion ›innerer‹ Vernunft, sondern ›innerer‹ Existenz. Der Existierende ist bei Heidegger als solcher in seiner existentiellen Vereinzelung auf Selbstfindung und Selbstübernahme bedacht, dies aber so, 84 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Dialektik von Leben und Tod

daß er ein heroisches Selbst- und Eigentlichkeitsbewußtsein, das die absolute Selbstrechtfertigung des eigenen Seins als eines »Seins zu« einschließt, ausbildet. Was bei Kant Gesinnungsethik ist, zeigt sich in Sein und Zeit als reiner Gesinnungsexistentialismus, der sich bewußt von einem aktionistischen Existentialismus distanziert. Natürlich ist ein Mensch existentieller Gesinnung, wie er existential gedeutet wird, in seiner Augenblicklichkeit zu nie weniger als ›bis zum äußersten‹ entschlossen. Doch das besagt nichts anderes, als daß er sich selbst in seiner dreifachen Nichtigkeit bejaht: nicht Grund seiner selbst, nicht vollkommen im Freiheitsgebrauch, nicht unsterblich zu sein. Andere Menschen sind von dieser Entschlossenheit, die nichts als Eigentlichkeit markiert, konkret nicht betroffen – weder zum Guten noch zum Schlimmen. Zumal auch für den, der sich seinen Helden gewählt hat, gilt: Das Dasein ist je schon und demnächst vielleicht wieder einmal in der Unentschlossenheit. 180

Das heißt: einmal ist einer »zum Tode«, ein andermal wieder nicht!

7. Dialektik von Leben und Tod Für eine philosophische Verständigung über den Menschen und seinen Tod, die sich an menschlicher Lebenspraxis orientiert, haben Tod als »der Sünde Sold« und Leben in einsamer Einzelnheit als »Sein zum Tode« keine Bedeutung. Das besagt nicht, menschliches Leben, wie es unter Menschen gelebt wird, verstehe sich ohne Angst und Schuld. Die nachfolgende Inszenierung einer Dialektik von Leben und Tod dient dem Zweck,

180

1927, 299.

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Der vereinzelte Tod

Angst und Schuld in einem möglichst freien Umgang mit der Überlieferung in ihrer Bedeutung für menschliches Lebensund Todesverhalten durchsichtig zu machen. Die gewählte Perspektive ist ein letztes Mal der Einzelne – allerdings nicht länger unter Betonung seiner ebenso radikalen wie engsichtigen Vereinzelung. Mit sichtlicher Begabung für Mythos ließe sich formulieren: Der Tod eines Menschen ist ein Rätsel, das das Rätsel seines Lebens löst – für ihn selbst und für die Anderen. Was im Leben als Leben zu raten und zu versorgen war, ist im Tod geraten und versorgt – für den Einen in Vorahnung und Vorwissen, für die Anderen unabweislich angesichts des eingetretenen Todes dieses Einen. Dem einen Rätsel mit dem anderen kommen – in der Sprache dialogischer Dialektik: der Frage mit der Antwort kommen. In unserem Falle hieße das: Der Tod beantwortet die Frage des Lebens – der Tod als die andere Frage. Tod als Antwort auf Leben, als, wenn nicht erste, dann sicher letzte Entgegnung auf Leben – diese Geschichte will nicht recht gefallen, weil sie zumindest nicht alles erzählt, was menschliches Leben dem Menschen – selbsterlebter- und erzählterweise – in Aussicht stellt. Bei allen Toden und in Erfahrung gebrachter Sterblichkeit geht menschliches Leben – bislang – weiter. Menschliche Gemeinschaften, denen einzelnes Leben stirbt, sterben darum nicht sogleich mit. Wir sind versucht zu sagen: im Gegenteil: Tod schafft Platz für neues Leben (daß er im Sinne der Evolution für neuartiges Leben Platz schafft, kann in Anbetracht des geschichtlichen Menschen vernachlässigt werden). Sichfortzeugen reflektiert der Mensch seit alters als eine Möglichkeit von Unsterblichkeit. 181 Immer von neuem ist darum menschliches Leben um eine Antwort auf sich selbst verlegen. Doch es gibt, über das Fortleben im eigenen Blut oder in 181

Platon, Symposion 208 e.

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Dialektik von Leben und Tod

den eigenen Werken 182 hinaus, wie Philosophen und Priester uns glauben machen und zu denken geben, die andere Chance, menschliches Leben, auch und gerade als individuelles, anstatt mit Tod, mit Leben zu beantworten. Menschlichem Leben wird in Aussicht und als Aufgabe gestellt, seine Frage mit ganz anderem Leben zu beantworten. Gelebtes Leben als eigenes mit dem eigenen Tod beantworten, oder als das eine gehende mit dem anderen fortgehenden und kommenden, oder schließlich als das vergängliche mit dem ganz anderen ewigen – all diese Antworten sind uns aus der traditionellen Verständigung des lebendigen Menschen über sich selbst vertraut. Wie es aber dem Einzelnen um sein eigenes Leben geht, wird ihm ›allgemeines‹ Weiterleben keine Antwort auf die eigene Lebensfrage bedeuten. Für ihn steht als erstes sein eigener Tod als Antwort auf die Frage eigenen Lebens zur Diskussion. Um sie zu eröffnen, wird man zuerst einmal wissen wollen, worum es denn dem Menschen in seinem Leben eigentlich geht: um Frage oder Antwort, um Leben oder Tod? Lebt er, um zu sterben, oder stirbt er, um zu leben? Bei welchem Rätsel glaubt er sich heimisch? Wie es sich bei der Erörterung des »Seins zum Tode« bereits anzeigte und wie es vollends die Sicht des einander Lebens und Sterbens sein wird: es geht ihm um beides. Leben und Tod sind für die Interessen des lebendigen und todoffenen Menschen nicht gegeneinander aufund abzuwerten. Sie gehören zusammen, konstituieren sich wechselseitig – was freilich nur stimmt, sofern beides zu seinem je eigenen Recht kommt. Im Sinne der zu inszenierenden Dialektik heißt das: Der Tod als Antwort auf das Leben ist zugleich so zu verstehen, daß das Leben eine Antwort auf den Tod ist. Keine der Antworten läßt sich als Antwort auf eine Frage fixieren. Beide Antworten sind und bleiben auch selber Fragen, im Bild gesprochen: Rätsel. Erklärungen wie ›Ich lebe 182

Platon, Symposion 209 c–d.

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Der vereinzelte Tod

um den Preis des Lebens und Sterbens‹, ›Ich sterbe, um zu sterben und gelebt zu haben‹, die nicht auf selbstbetrügerische Weise das Verhältnis von Leben und Tod überschreiten, sind von der freien, auf keinen Grund fixierten Wahrheit der Dialoge: ›Warum leben Menschen? Weil sie leben!‹, ›Warum sterben Menschen? Weil sie sterben!‹, in denen allerdings jetzt das genauere dialektische Verständnis steckt: ›Menschen leben, weil sie leben und sterben‹, ›Menschen sterben, weil sie sterben und gelebt haben‹. Menschen haben auf vielfältige Weise ihr Leben als Herausforderung erfahren und verstanden. Sehen wir uns das näher und ohne Beiwerk an, dann geben Menschen zu erkennen, wie ihr Leben ihnen ›an sich‹ Herausforderung ist: sie liegt im Leben ›selbst‹. In eigener Sicht lebenszeitlicher Herausforderungen kommt Karl Popper dazu, Leben als Problemelösen zu deuten. 183 Sein methodischer Vorschlag dazu lautet: trial and error. Damit ist im Prinzip die Möglichkeit ausgeschlossen, daß sich ein Leben durch seinen eigenen Tod beantwortet. Wer aus Fehlern lernt, ist stets für neue Versuche gut. Tod löste keine Probleme, sondern scheiterte an ihnen. Doch Poppers Vorschlag ist noch aus einem anderen Grunde abzulehnen: er ist zu kopflastig. Das Leben als Problem ist eine typische Schreibtischsicht, in der Rationalität auf sachliche Distanz geht. Die Unmittelbarkeit menschlicher Lebenspraxis samt der ihr eigenen Wahrheit ist ausgeblendet.

7.1 Lebensangst Um den Gedanken der Selbstherausforderung menschlichen Lebens in andere Bahnen zu lenken und zugleich Tod als mögliche Antwort auf Leben im Blick zu behalten, legt es sich nahe, K. Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt, München/Zürich 1984, S. 26. 183

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Dialektik von Leben und Tod

von der rein rationalen Version der Lebensdialektik abzugehen und Affektives ins Spiel zu bringen: die Angst. Die These dazu lautet: Menschliches Leben erfährt die Herausforderung, die aus ihm selbst spricht, als Angst. Das meint: menschliches Leben ist als solches ängstigend bzw. durch Angst herausgefordert. Lebensangst, wie wir sie in unserer Kultur entwickelt finden, hat, sehen wir von den situativen Zufälligkeiten ab, ein überraschend einfaches Muster. Dies zeigt sich freilich nicht sogleich. Zunächst gibt sich uns menschliche Lebensangst in der doppelten Gestalt einer Angst vor dem Leben und einer Angst um das Leben zu erkennen. Menschen, die sich vor dem Leben ängsten, ist offenbar das Geschick zuteil, nicht schon eigentlich im Leben zu sein. Die Lebenszeit liegt noch vor ihnen mit allem, was an Ungewissem, Erwartbarem und Gewissem kommen wird. Damit entdeckt sich die Angst vor dem Leben genauer als Angst vor der Zukunft des Lebens. Die Angst vor der Zukunft ist aber nur als Angst um die Zukunft zu Ende zu denken, es wäre denn, daß die Angst vor dem Leben den Angsthabenden vor aller und jeder Zukunft zurückschrecken ließe, die Bewältigung von Zeit überhaupt das Grundproblem seines Lebens wäre. Wo jedoch Angst vor Leben und Zukunft nicht rein affektiv und pathologisch das unmittelbare ›Ja‹ zur Lebensunfähigkeit erzwingt, ist Angst vor dem Leben als Angst vor der Zukunft des Lebens eine Angst um diese Zukunft. Angst vor dem Leben und Angst um es ist diesselbe menschliche Angst: die Zeit- und Zukunftsangst. Lebensangst, wie wir sie jetzt vornehmen, ist exakt Angst um Lebenszeit. Das Grundmuster dieser Zeitangst ist, sehen wir vom Schauder vor offener Zeit rein als solcher ab, die Angst davor, daß die (Lebens-)Zeiten sich ändern. Das schließt ein, daß Lebensangst auf einer Erfahrung von Gutem, Brauchbarem und Bejahtem gründet: auf der Erfahrung von gegenwärtiger Lebenszeit als anhaltendem – relativen – Wohlstand. Ist Lebensangst genau Angst um gegenwärtige gute Lebenszeit und ihre Fortdauer, 89 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Der vereinzelte Tod

dann entdeckt sich in der Angst vor künftiger Lebenszeit genauer die Angst vor Veränderungen. Drohende und angstmachende Veränderungen gelebter Gegenwart werden zumeist durch wirkkräftige Mächte besetzt, so daß die Angst um das Leben samt der Angst vor ihm im letzten zu einer Angst vor allem wird, was gute Zeiten zu schlechten werden, kürzer: was schlechte Zeiten befürchten läßt. (Wenn uns Deutschen, anders als den Schweizern, in der Umgangssprache das Wort Furcht nicht fehlt, ist das sicher kein zureichender Grund, es semantisch strikt von Angst zu trennen und die seit alters praktizierte semantische Vereinbarkeit beider Wörter aufzukündigen. Furcht als ›gegenstandsgebunden‹ und Angst als ›gegenstandslos‹, wie bei Jaspers und Heidegger in der Nachfolge Kierkegaards definiert wird, stellt für den gegebenen Zusammenhang keine brauchbare Unterscheidung dar.) Es wird vielleicht befremden, die Vielartigkeit menschlicher Lebensangst derart auf Zeit- und Zukunftsangst reduziert zu sehen. So steht ja nicht allein zu befürchten, daß Zeiten sich lebensbedrohlich verändern, sondern auch Orte und Ortsaufenthalte. Wem es droht, aus der Heimat in die Fremde vertrieben, vom besten an einen mit Sicherheit schlechteren Ort versetzt zu werden, wer auch nur zu befürchten hat, daß ihm die Heimat selbst fremd wird, hat allen Grund zur (Lebens-)Angst. Doch selbst das Wohlergehen an einem Orte hat seine Zeit. Für den lebendigen Menschen ist es wie selbstverständlich, alles Gute und Schlechte des Lebens unter seine guten und schlechten Zeiten zu subsumieren. Schwere, schlechte, üble Zeiten und Tage – das ist gängige Rede. 184

Zu diesem Verständnis von Kairos siehe Psalm 37, 19; Jesaja 49, 8; 2. Korintherbrief 6, 2; 2. Timotheusbrief 3, 1.

184

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Dialektik von Leben und Tod

7.2 Lebensschuld Lebensdialektik in ihrer vorgetragenen Versachlichung läßt den Menschen die Herausforderung seines Lebens nicht rational als Problem und Aufgabe, sondern affektiv als Angst erfahren. Zu leben heißt dann für ihn, sich zu ängsten, – zu ängsten um sein Weiterleben, wenn das zugleich meint: vor ihm. Genauer: er ängstet sich in seinem Leben um den Wohlstand und vor dem Übelstand des eigenen Lebens. Beides ist unlösbar miteinander verbunden. Die Zeiten bleiben nicht, sie ändern sich. Das ist gleichsam die Geburt des Kairos: alles hat seine Zeit – das praktisch Gute und Schlechte. Für Lebensangst hat nur das erste Bedeutung: daß das praktisch Gute gegenwärtiger Zeit nicht immer seine Zeit haben könnte und in der Tat nicht hat. Der Gang der Dinge und Zeiten ist nicht wirklich verfügbar. Weil dem Menschen seine Lebenszeiten mit ihren Grenzen und Veränderungen nicht verfügbar sind, ist es ihm auch seine Lebensangst nicht – Unverfügbarkeit nicht als psychologisches, sondern als kairologisches Faktum verstanden: die Mächte der Zeitgrenzen und Zeitveränderungen sind nicht verfügbar, das Angstmachende nicht. Es geht nicht um Lebenstechniken, nicht um Versuche, das Lebensfreundliche möglichst in lebenspraktischer Gegenwart zu halten, das Lebensfeindliche dagegen aus ihr abzudrängen. Es ist nicht um etwas von der Art irdischer Trübsal zu tun, die an günstiger Stelle in eine letzte wissende Heiterkeit zu überspringen wäre 185 , nicht um eine von Menschen zu bewerkstelligende rechte Mischung von Ernst und Heiterkeit. 186 Es geht wirklich um Angst. Damit er sie sich verfügbar macht, muß der Mensch nicht sich selbst, sondern die angstM. Heidegger, Der Feldweg, Frankfurt 1975, S. 5 f. Severitas et comitas, siehe Plinius der Jüngere, Ep. VIII, 21, Brief an Arrianus. 185 186

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machenden fremden Mächte in den Griff bekommen. Andernfalls wäre die Unverfügbarkeit der Angst ihr letztes Wort und Lebensangst die letzte Antwort auf die Herausforderung des Lebens. Menschen haben einen Weg gefunden, die angstmachenden Mächte in ihre Verfügungsgewalt zu bekommen: die Schuld. Schuld ist, so gesehen, verfügbar gewordene Angst. Die Herausforderung des Lebens hat damit eine neue Antwort erhalten. Leben wird, bei diesem Stand der Überlegung und der Dinge, mit Lebensschuld beantwortet. Sich schuldig fühlen, sich schuldig wissen, Schuld bekennen und übernehmen – das ist der Weg, wie Menschen dazu finden, sich im Prinzip für etwas verantwortlich und etwas für sich im Prinzip als verfügbar zu erklären, was sie und ihren Lebenswohlstand ›an sich‹ als unverfügbar und unverschuldet bedroht. Um sich in ihrer Lebensangst die drohenden Lebenszeiten als Lebensschuld verfügbar machen zu können, stellen sich Menschen unter Rechtsverhältnisse. Wer schuldig ist, bricht Recht. Gute Zeiten erfordern gerechtes Leben. Anders als es manche heutige menschliche Selbstgerechtigkeit will, ist der Mensch nach guter alter Tradition nicht an seinen guten, wohl aber an seinen schlechten Zeiten schuld. Ein Beispiel genügt, uns mit der herkömmlichen Idee von Lebensrecht vertraut zu machen. Menander, der ›Philosoph‹ des Glücks und des Zufalls, allem Utopischen und Chiliastischen abhold, war erstaunlicherweise kein Fatalist. Mit etwas Tugend und Vernunft lasse sich dem Glück zuarbeiten und für seine Erhaltung Sorge tragen. Aber selbst er bekennt, daß es letztlich dabei bleibt: die Zeiten ändern sich; jede Zeit hat ihre Grenze. Im Misanthropen läßt er einen armen Bauern sagen 187 :

Übers. nach Ménandre, Le Dyscolos, ed. J.-M. Jacques, Paris 1983, 271 ff. 187

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Dialektik von Leben und Tod Für alle Menschen gibt es, glaube ich, sowohl denen es gut als auch denen es schlecht ergeht, Grenze und Veränderung ihres Ergehens. Dem es gut ergeht, bleiben solange die guten Umstände des Lebens ohne Fehl erhalten, als er das Glück zu ertragen vermag und ja nichts Unrechtes tut (μηδὲ ποιήσας ἄδικον).

Das kleine Wort »Unrechtes tun« verwandelt alles. Sein Glück trägt einer nur dann durch die Zeit und die Zeiten, wenn er sich ja nichts Unrechtes zuschulden kommen läßt. Doch das geht auf die Dauer nicht gut. Schuldlosigkeit ist eines Menschen Art ggf. aus Mangel an Erwachsensein. 188 Ein ›klassisches‹ Wort lautet 189 : Ihr [ihr himmlischen Mächte] führt ins Leben uns hinein, ihr laßt den Armen schuldig werden (…).

Kein Lebensglück zu einer Lebenszeit verheißt demnach, an eigener Schuld vorbeizukommen und im Glück zu bleiben. In der entwickelten Sicht der Lebensdialektik bedeutet das: niemand, und gehe es ihm auch noch so gut, weiß sich vor Lebensangst gefeit, von der Herausforderung des Lebens verschont; jeder Mensch, weil und während es ihm gut geht, erfährt Leben als Lebensangst. Mit der Aufhebung von Lebensangst in Lebensschuld ändert sich menschliches Zeitverhältnis. In der Lebensangst gehen Menschen zu ihrer Lebenszeit auf Distanz. Lebensangst ist Lebensvorsorge ganz besonderer Art. Während z. B. Lebensmittelbevorratung Zeichen des Gedankens an gleichbleibenden Lebenswohlstand ist, verrät Lebensangst den Gedanken an Zeitenwechsel. Gilt die Lebensmittelbevorratung der einen gleichbleibenden Lebenszeit (Kairos), so verliert sich Leben in seiner Lebensangst bereits an die andere Zeit. Die Aufhebung

188 189

Ch. Wolf, Nachdenken über Christa T., S. 23. J. W. Goethe, aus: Der Harfner, in: Wilhelm Meister.

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Der vereinzelte Tod

von Lebensangst in Lebensschuld bewirkt jedoch die Aneignung der anderen Zeit. Sie ist nicht länger die zur Zeit (Chronos) andere und fremde, sondern, ob eingetreten oder nicht, die eigene, weil selber zu vertretende Zeit (Kairos). Beim ›Wechsel‹ von Lebensangst zu Lebensschuld machen Menschen in traditioneller Art Gebrauch von Mythos und Religion. Lebt sich ihr Leben gut, ja zu gut, dann erfaßt Menschen leicht Angst vor der Götter Neid. Daß Götter allesamt durch und durch neidisch sind, ist altes ›Wissen‹. Herodot läßt Solon zu Kroisos sagen 190 : alles Göttliche ist neidisch (φθονερόν),

und Aristoteles zitiert als Dichteransicht 191 : und es gehört zur Art des Göttlichen zu neiden (φθονεῖν).

Dem Versuch der Philosophen, dagegen ›aufzuklären‹ 192 , ist offensichtlich kein großer Erfolg beschieden. 193 Historien I, 32, 2. Metaphysik I 2 982 b 32 f. 192 Platon, Phaidros 247 a 7; vgl. Timaios 29 e 1 f.; Aristoteles, Metaphysik I 2 983 a 2 f. 193 Bemerkenswerterweise ist der jüdische und christliche Gott nicht neidisch. Wenn ihm ζῆλος (nicht φθόνος) zugesprochen wird, dann handelt es sich genauer um Eifer, allerdings um Eifer bis zur Eifersucht (Exhodus 20, 5; 34, 14; 2. Korintherbrief 11, 2). Grundlage seines Eifers ist seine Macht – Jahwes Macht über sein Volk (Jesaja 9, 7; 37, 32), so daß er sich entweder gegen den Ungehorsam seines Volkes, insbesondere gegen Götzendienst, oder aber gegen die Feinde seines Volkes richtet. Bezeichnenderweise haben die Rabbinen den menschlichen Zug des Eifers an ihrem Gott nicht akzeptieren können. Ein Wort wie Exhodus 20, 5 (Zürcher Bibel): du sollst sie nicht anbeten und ihnen nicht dienen, denn ich der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott (θεὸς ζηλοτής), der die Schuld (ἁμαρτία) der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Geschlecht (…) führt sie zu der Frage, wie das denn sein könne, daß Gott eifersüchtig und eben neidisch (so die Bedeutung des Wortstammes des hebräischen Wortes im rabbinischen Sprachgebrauch) ist auf die Götzen (siehe A. Stumpff, 190 191

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Dialektik von Leben und Tod

Wer der Götter Neid fürchtet, wird, anstatt dankbar oder einfach froh zu sein, schuldbewußt. ›Zu‹ gutes Leben sei eigentlich nicht Rechtens. Nicht weil zu gutes Essen den Leib ruinierte, leiblich-seelisch strapaziöse Promiskuität impotent machte. Nein, in der freundlichsten Zumutung ›wirklich‹ guten Lebens erfaßt sie die kalte Drohung: das kann und wird nicht gut gehen, weil es nicht nach rechter menschlicher Lebensart ist, sondern Züge des Gottgleichen trägt. Anstatt daß menschlicher Lebenswohlstand zu menschlicher Lebenssicherheit führte, sind wir in unserer Kultur oftmals Zeugen, wie gegenwärtig Glücklichen, die ihr Leben für glücklich halten, allein der pure Lebensglückswahn unterstellt wird. 194 Leben sei als Leben unfertig und damit zu Lebzeiten prinzipiell in seinem Wohl bedroht. Mythos und Religion bedrängen jedoch nicht allein den im Glück, sondern auch den im Unglück Lebenden, diesen allerdings vorzüglich, wenn sein Übelstand unversehens eingetreten und nicht von Natur ist. Überfällt Pest die Stadt (Athen unter Perikles, Genf unter Calvin), töten göttliche Pfeile die Sippe, dann rächt sich gerne ›vergessene‹ Lebens- und d. h. jetzt Gottesangst. Der timor Dei des gerecht Lebenden ist ein Grundzug seines Lebens. Menschliches Lebensrecht ist von Mythos und Religion durch Ungleichheit mit dem göttlichen Leben bestimmt. Anähnlichung an Gott, die über die Ebenbildlichkeit (καθ’ ὁμοίωσιν) 195 hinauszielt, ist für den Menschen nur beim philosophischen Vernunftgott mit Sinn und Recht verbunden. Wo ζῆλος, in: G. Kittel, Theolog. Wörterb. z. NT, 2. Bd. Suttgart 1935, S. 882). Bedeutsam sind insofern Stellen wie Hosea 11, 9: Ich will meinen Zorn (ὀργή) nicht vollstrecken (…), bin ich doch Gott, und nicht Mensch. Neidisch auf Menschen zeigt sich dieser Gott also nicht, allenfalls neidisch auf andere Götter. Das aber wäre dann kein menschlicher, sondern, wenn es angeht, ein göttlich-allzugöttlicher Zug. 194 Musterbeispiel dafür ist Herodots ›Bericht‹ von Kroisos und Solon, Historien I, 30 ff. 195 Genesis 1, 26.

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Der vereinzelte Tod

aber der Mythos Gott und den Göttern ein außerordentlich lebendiges Leben beschert bzw. bescheinigt, ist möglichst große Lebensgleichheit signifikant nicht gefragt. Hybris ist Schuld. Hochmut kommt vor dem Fall. 196 Wer als Mensch von seinem Leben zuviel hermacht, ist dem Zorn und damit auch der Rache der Götter ausgesetzt. 197 Insofern Mythos und Religion den Menschen maßgeblich dadurch bestimmen, geringer als Gott zu sein, ist jede Gleichheitserklärung des Menschen eine Kränkung und Erniedrigung (ὀλιγωρία) Gottes, die Zorn hervorruft und Rache verlangt, während der Mensch von Gott unmöglich gekränkt und erniedrigt werden kann, da er niedrig ist. Gottesfurcht, von Menschen als gottgewollt angesehen und als priesterverfügt erfahren, ist an Lebensbedeutung gleich mit Gottesliebe (charitas Dei, ἀγάπη θεοῦ). Jahwefurcht bringt Segen für menschliches Leben 198 und verlängert es. 199 Dabei ist es nicht zuletzt die Erhabenheit Jahwes, die in der Furcht vor ihm zur Anerkennung drängt. Gottesfurcht bedeutet Ehrfurcht und Unterwerfung. Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür, wie Götter menschlichen Hochmut grausam und mitleidlos strafen, ist das Geschick der »maßlosen« Niobe. 200 Das ganze Buch Hiob wieder kann als Unterwerfungsgeschichte gelesen werden. Solange Hiob glaubt, mit Gott einen Rechtshandel führen zu müssen und d. h. auf gleiSprüche 16, 18; vgl. Jesaja 13, 11. Aristoteles stellt diesen Zusammenhang von Zorn und Rache klar heraus. Rhetorik II 2 137 a 30–32 (Übers. von F. G. Sieveke, München 1980, 85): Es sei also Zorn ein mit Schmerz verbundenes Trachten nach dem, was uns als Rache für das erscheint, worin wir eine Kränkung unserer selbst oder eines unsrigen erblicken von jemandem, dem das Kränken nicht zukommt. 198 Sprüche 22, 4. 199 Sprüche 10, 27; 14, 26 f.; 19, 23. 200 Ovid, Metamorphosen 6, 151 ff. 196 197

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cher Ebene mit ihm zu verkehren, geht es ihm übel und übler. Erst als er sich der mit Taten und mehr noch mit Worten in Erinnerung gebrachten Übermacht Gottes unterwirft, wendet sich die Sache. Das rechte Wort zur rechten Zeit lautet da 201 : Siehe, ich bin zu gering, was soll ich dir antworten? Ich lege die Hand auf meinen Mund.

In seiner Ohnmacht ist der Mensch vor Gott ein Nichts, in seiner Un-Ewigkeit nicht weniger 202 , in allem eben, was an ihm nicht von der Art des Gottes ist. Negative Prädikation, eigentlich die gängigste und schadloseste Sache der Welt, macht, mit den Prädikaten Gottes besetzt, aus dem Menschen ein Nichts.

7.3 Lebensopfer Schuld ist gegeben, auf Schuld wird erkannt, damit Schuld beglichen wird. Die Begleichung der Lebensschuld verlangt Sühnung. Die dem Recht nachkommende Sühne und die ihm zuvorkommende stehen zur Wahl: Strafe (Bestraftwerden) und Opfer. Art und Weise der Übernahme der Schuld entscheiden diese Wahl vor. Wer sich eigene Lebensangst als eigene Lebensschuld verfügbar zu machen sucht, hat für gewöhnlich zwei Möglichkeiten: Selbstentblößung und Selbstunterwerfung. Sich selbst zu eröffnen, sich ganz zu enthüllen und zu zeigen – das ist eine der Möglichkeiten, sein Leben, ängstlich wie es ist, als Schuld zu bekennen und zu beichten. Lebensschuld gibt sich auf solche Weise als Schuld der Schamlosigkeit. Die ist, so gesehen, kein moralisches Vergehen, sondern im Gegenteil ein moralisches Gebot: sich voll und ganz dem Blick des (Lebens-) Rich201 202

Hiob 39, 34 f. Psalm 39, 6; 62, 10; vgl. 138, 6.

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ters auszusetzen. Das Schuldsein an eigener Schamlosigkeit ist eine Form menschlichen Schuldbekenntnisses – nicht böser Urheber eigener Schamlosigkeit zu sein, sondern in der Schuldübernahme einen Akt von Schamlosigkeit zu begehen. (Die schuldbewußte Gebärde der Schamhaftigkeit dagegen, eine Gebärde wie die Hände vor das Gesicht, ist im wesentlichen Zeichen der Selbsteinsicht und des Selbstgeständnisses und gerade kein vollendetes freies Bekenntnis vor dem Richter). Entsprechend verhält es sich mit Lebensschuld, die sich als Schuld eigener Nichtigkeit gibt. Selbsterniedrigung ist keine Übeltat, sondern ein Akt der Schuldübernahme. ›Wirklich‹ niedrig aber kann ein Mensch nur vor Wesen sein, die absolut im Recht sind. Nimmt der Mensch im ›Übergang‹ von bloßer eigener Lebensangst zu eigener Lebensschuld Maß, dann geschieht das in unserer Kultur zumeist an der Gottheit. Menschliche Selbstwertschätzung verlangt vor ihr Selbstgeringschätzung. Lebensdialektisch geurteilt antwortet der Mensch vor Gott auf die Fraglichkeit seines eigenen Wesens und Lebens: ›ich bin bloß ein Mensch‹. Auch ›wirklich‹ schamlos kann ein Mensch nur vor absoluten Richtern sein: ›siehe, so schwach und so schlecht bin ich‹ ! Der Gott, der alles sieht und alles weiß, verlangt bei der Selbstenthüllung des Menschen, nicht anders als bei seiner Selbsterniedrigung, die Wahrheit des Menschen. Stellt der Mensch sich in seiner Selbsterniedrigung eigens dem Maß der Gottheit, dann in der Selbstenthüllung eigens ihrem Blick. Damit aber ist schon vorgezeichnet, daß es eigentlich nicht genügt, die eigene Lebensangst in der eigenen Lebensschuld sich verfügbar zu machen. Die in ihrer Verfügbarkeit nicht etwa getilgte, sondern gerade konservierte Angst verlangt, daß das Verhältnis zu absolutem Maß und absolutem Blick nicht fixiert wird. Der Mensch in seiner Lebensnot kann nicht in der Geste der Proskynese und Entkleidung verharren. Er muß sich gleichsam wieder erheben und anziehen, um das 98 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

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Schuldbekennen zu beenden und für das Sühnen frei zu sein. In reiner Erniedrigung und Ungeschütztheit sein Ende zu erwarten, wäre Strafe (Sichbestrafenlassen). Leben, das die Antwort auf sich selbst selber zu geben sucht, verlangt keine Strafe, versteht sich nicht als Strafe. Der Witz, jedes Leben sei verurteilt zu ›lebenslänglich‹, ist, ob scharf oder harmlos, für menschliche Lebensdialektik ohne Pointe. Weder eine Strafe von außen durch den, an dem gemessen es niedrig und durch den gesehen es entblößt ist, kommt in Frage, noch eine Selbststrafung. Der Flagellant sucht Antwort auf eine Herausforderung seiner Zeit, die er als Strafe deutet (z. B. Pest). Er sucht die Bestrafung der Zeit durch Selbststrafung zu ›vergelten‹. Er ist wie übermächtigt und versteht sich nicht darauf, sein eigenes Leben, wie er frei seine Schuld übernimmt, es auch frei zu sühnen. Sein eigenes Lebens zu strafen – das ist sowohl die falsche Methode als auch der zu geringe Einsatz. Das Leben, wie es der Mensch auch führt, macht ihm Angst, sobald ihn Andere oder er sich selbst an das Maß und an den Blick des absoluten Richters erinnern. Es erscheint ihm dann zu groß, zu hoch, zu gut, zugleich auch – moralisch – zu schlecht und zu häßlich. Was ihm aber damit das Leben im Lichte von Mythos und Religion abverlangt, um auch die Angst noch zu tilgen, die von der Schuld gebändigt wird, ist nichts geringeres als das Lebensopfer. Es stellt die Antwort auf die Herausforderung des Lebens dar, mit der er die Lebensschuld als Antwort überholt. Nicht sich für immer dem absoluten Maß und Blick stellen, sondern sich dem Absoluten selbst darbringen – dann und nur dann sind nicht allein seine Angst überwunden und seine Schuld gesühnt, sondern auch das Maß über ihm entfernt und der Blick auf ihn gelöscht. Scham ist eine Form von Angst. Gleiches ist von der Hybris (hybride Größe) zu sagen. Bei ihr ist die Angst nur eher verstellt, bricht aber unverkennbar hervor, wo Größe dieser Art alles lebendig Gleichgroße neben sich beseitigt – aus purer 99 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

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Angst, sonst ihrer selbst nicht sicher zu sein. Erniedrigung und Schamlosigkeit sind nicht Weisen, Angst wirklich loszuwerden, sondern mit ihr in einem schuldigen Leben leben zu können. Wenn aber das schuldige Leben sich als solches nicht als lebensfähig erweist, hat auch die Angst in der Schuld noch nicht die zureichende Antwort gefunden. Es bedarf des Opfers. Doch selbst Mythos und Religion haben nicht, zumindest nicht in den Ausprägungen, die für unsere Überlieferung maßgeblich sind, verlangt, für die Herausforderung des eigenen Lebens schlicht das eigene Leben hinzugeben. Nicht der eigene Tod wird als Antwort auf eigenes Leben eingeklagt, sondern anderer Tod und Todesäquivalent. Unsere Geschichte ist geprägt durch die ›Humanisierung‹ der Lebensschuldeinlösungspraxis, in einem gewichtigen Moment sogar durch ihre ›Divinierung‹. Womit der lebendige, ängstliche und schuldige Mensch schließlich leben kann, ist das ritualisierte und das für ihn gebrachte Opfer. Nicht das eigene Leben zu opfern, aber das der eigenen unschuldigen jungfräulichen Tochter 203 , das von aufgegriffenen Schiffbrüchigen 204 , von Tieren (ihre besten Teile: »fette Schenkel« 205 , ihre ungenießbaren: Knochen und Galle), Tierblut dafür zu opfern, Wein selbst Wasser oder was sonst als Leben und Lebensäquivalent taugt. Es sieht nach Lebensökonomie aus: menschliches Leben kommt bis zum äußersten seiner eigenen Schuld nach und bewahrt doch immer billiger sich selbst und damit, nach eigenem Verständnis, das Wertvollere. Vermutlich trügt diese Sicht. Wird immer ›Geringeres‹ gegeben, dann kann das bedeuten: das rituelle Opfer verlangt nicht ein leibhaftiges Äquivalent für menschliches Leben, sondern ein geistiges: das Opfer ist Zeichen dafür, daß ein am ab-

203 204 205

Pindar, Pythien 11, 26. Herodot, Historien 4, 103. Ilias 1, 40 f.; vgl. Psalm 66, 15.

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soluten Maß Gemessener und im absoluten Blick Entdeckter sich darbringt. Der Geist wird geopfert, nicht der Leib: Denn Schlachtopfer begehrst du nicht, und gäbe ich Brandopfer, es gefiele dir nicht. Das Opfer, das Gott gefällt, ist ein zerbrochener Geist. 206

Wie hoch die Idee des Lebensopfers sich in unserer Überlieferung einschätzt und wie sehr sie einer ›Humanisierung‹ des Opfers im Sinne bigotter Lebensökonomie widerspricht, zeigt sich in dem, was eine Divinierung des Lebensopfers zu nennen ist: ein Gott gibt sein Leben für menschliche Lebensschuld. Wenn Christi Blut für den neuen Bund mit Gott nur vergossen ist, weil es zugleich für der Menschen Sünden vergossen ist 207 , dann wird ganz klar für das eine menschliche Leben mit anderem menschlichen Leben ›bezahlt‹. Der »Bundesmittler für das Menschengeschlecht« 208 hat »sein Leben zum Schuldopfer« 209 eingesetzt. Die Sünden der vielen auf einen Sündenbock laden und diesen in die Wüste treiben, das ist die eine Praxis 210 , die andere ist es, das Leben eines ›Menschensohnes‹ selbst zu opfern und in den Tod zu geben. 211 Es ist verständlich, wenn Theologen bemüht sind, Christi Opfertod (›Lamm Gottes‹) von jeglicher Nähe zum Opferkult mit Tierleben, Tierfleisch und Tierblut wegzubekommen und sein Opferblut als bildhafte Einkleidung des Gedankens freier Selbsthingabe sehen. 212 Doch wie man es auch sieht, in diesem Freitod besonderer Art, der nicht um des eigenen Totseins willen, sondern – stellvertretend – für das entsühnte Leben Anderer vollbracht wird, bleibt es bei der Dialektik von ›Leben für Leben‹. 206 207 208 209 210 211 212

Psalm 51, 18 f.; vgl. u. a. Sprüche 21, 3; dagegen Genesis 22,2. Hebräerbrief 9, 9. Jesaja 49, 8. Jesaja 53, 10. Leueitikon 16, 21. Jesaja 53, 12. Problem der Auslegung insbesondere von Hebräerbrief Kap. 8–10.

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Anstatt nun einfach menschliches Leben im Lichte dieses göttlichen Opfertodes anzustreben, hat Paulus eine Art Stellvertretung der Stellvertretung ersonnen, die es erlaubt, dem durch Christus gesetzten Lebensrecht nicht nur nachzukommen, sondern auf eigene Weise auch zuvorzukommen: die Abtötung des eigenen Fleisches und damit eigenen Lebens als Antwort auf eigenes Am-Leben-Sein. Das Leben, für das Schuld bekannt und gesühnt wird, erhält eine eigene Qualität: die Leiblichkeit und Geschlechtlichkeit. Nun ist ja menschliche Geschlechtlichkeit in der Tat schuld daran, daß es immer wieder neu menschliches Leben gibt. Die Lebensschuld des Geschlechts nicht einfach für Grund und Ursache anzusehen, sondern für Sünde, ist darum nicht ohne Reiz, stellt jedoch praktisch für Menschen eine äußerste Zumutung dar. Nicht zuletzt Augustinus hat ihr mit der Bestimmung der ›Erbsünde‹ die gültige Form und geschichtliche Wirkung verschafft. Das Fleisch sei als das, was es ist, »sündlich« 213 . Wer »fleischlich« ist, sei als solcher »unter die Sünde verkauft« 214 , so daß die Besinnung des Fleisches nichts anderes als Tod vorstelle (τὸ γὰρ φρόνημα τῆς σαρκὸς θάνατος). 215 Der lebenskräftige Mensch würde genau anders urteilen: die Gesinnung des Fleisches ist das Leben. Doch der hielte es eben nicht mit Paulus, daß Fleisch seinem Wesen nach Schwachheit bedeutet. 216 Nicht daß es, ihrem unterschiedlichen leiblichen Vermögen nach geurteilt, starke und schwache Menschen gäbe. Nein, für Paulus ist das Fleisch schwach. Ἡ ἀσθήνεια τῆς σαρκὸς ist ihm allein eine Periphrase von ἡ σάρξ. So gesehen kann der menschlichen Schwachheit einzig der Tod aufhelfen, dem Leben einzig mit der Lebensaufgabe und -hingabe gedient sein. Daß Abtötung von Fleischlichkeit und Ge213 214 215 216

Römerbrief 8, 3; 7, 25. Römerbrief 7, 14. Römerbrief 8, 6. 2. Korintherbrief 12, 5–7; Römerbrief 6, 19.

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schlechtlichkeit sich durchaus als Abtötung von Leben versteht, gibt klar Augustinus zu erkennen, wenn er gegen den körperlichen (ist jeder von uns ein »einziger Klumpen Dreck«, ein »Haufen der Sünde«) und zugunsten des körperfreien Menschen das Aussterben der Menschheit ohne Bedenken in Kauf nimmt. 217 Christlich inspirierte Praxis in der Zeit von der Entdekkung der Neuen Welt 218 bis zur Französischen Revolution gibt Anlaß, noch eine besondere Möglichkeit, eigenes Leben durch fremdes zu entsühnen, zu bedenken: die Folter der Inquisition, die offenbar religiösen Menschen die Chance verschafft, ihr eigenes schuldiges Leben dadurch zu entsühnen, daß sie anderes schuldiges Menschenleben strafen und opfern (von Motiven wie Sadismus und der ausschließlichen Erklärung durch Kirchengehorsam einmal abgesehen). Die Willigkeit von Vätern, ob »Glaubensheld« oder »tragischer Held« (Kierkegaard), einen Isaak und eine Iphigenie zu opfern, wäre dann in Vergleich zu ziehen mit der Willigkeit, in Mädchen und Frauen Hexen zu sehen, d. h. sie in der Folter zu Hexen zu machen 219 und zu opfern. Auch die bei Judenpogromen gängigen Judenabschlachtungen, z. B. im ›Heiligen Köln‹, wären womöglich als – atavistische – Menschenopfer zu deuten. 220

K. Flasch, Augustin. Einführung in sein Denken, Stuttgart 1980, S. 135. 218 Mit der ›Hexenbulle‹ Summis desiderantes affectibus gibt Innozenz VIII 1484 den Befehl zur Inquisition zauberischer Personen. Der in der Praxis höchst wirksame Kommentar dazu, der Hexenhammer (Malleus maleficarum) von H. Institoris und J. Sprenger, erscheint 1487 in Straßburg. 219 R. Sprandel, Über sozialen Wandel im Mittelalter, in: Saeculum 26, 1975, S. 212. 220 Die Vereinigung von Menschenbestrafung und Menschenopfer sieht Samjatin auch noch für die Herrschaft ›wohltätiger‹ Vernunft vor. (Wir, S. 37 ff.). 217

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7.4 Lebenshoffnung Zum Glück, möchte man meinen, sind menschliche Leben nicht nur glücklich, herrschen unter den Lebenszeiten nicht die Glückszeiten vor. Sonst hieße, wenn wir den angestellten Überlegungen trauen, zu leben wirklich allein, sich zu ängsten. Analog zu Sigmund Freuds Devise »Wo Es war, soll Ich werden« wäre dann die Idee der Lebensangst mit dem Wort »Wo Angst war, soll Schuld werden« auf den ersten, und mit dem Wort »Wo Schuld war, soll Opfer werden« auf den letzten Begriff zu bringen. Doch Leben ist, kairologisch geurteilt, nicht weniger als Ängsten ein Hoffen. Menschliches Leben antwortet auf die Herausforderung des Lebens mit Lebenshoffnung. Auch diese Antwort ist an Leben als Lebenszeit orientiert. Die Zeiten sind schlecht. Hoffnung geht darauf, daß sie sich ändern. Wie Angst ihr einiges Um und Vor hat, so Hoffnung ihr einiges Auf und Für. Der Mensch, dem es gegenwärtig schlecht ergeht, hofft auf alles, was schlechte Zeiten zu guten werden läßt, und er hofft es für sich, der zur Zeit schlecht lebt, ggf. für alle, denen es gegenwärtig schlecht ergeht. 221 Zukunft – was für den Menschen im Wohlstand das Wort der Angst ist, klingt dem im Übelstand als Wort der Hoffnung. Aber diese Hoffnung darf nicht frei vagabundieren. Sie darf, um Antwort auf die Herausforderung des Lebens zu sein, nicht unbegründet sein und blind auf Glück setzen. Wenn es für das Gute und Schlechte des Lebens je eigene Zeiten gibt, dann heißt das nicht, lebendiges Hoffen fände als nicht weiter begründetes Abwarten einer anderen und besseren Zeit statt, weil sie eben einfach von selbst kommen müßte. Wie sich der Reiche seine Angst und seine Angstmacher in der Rechtsform der Schuld verfügbar macht, so gewinnt der Arme die VerSiehe u. a. Hiob 30, 26; Psalm 4, 6; 22,5; 112, 7; Epheserbrief 1, 12; negativ: 1. Timotheusbrief 6, 17.

221

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fügung über seine Hoffnung und die Hoffnungsbringer durch die Rechtsform der Unschuld. Wer in schlechten Zeiten für sich auf gute hofft, ist auf ausgezeichnete Weise nicht Schuld an seinem Elend. Er ist szs. ursprünglich und von Natur arm. Wie es aber für den Reichen darauf ankommt, sein Glück zu ertragen, so für den Armen sein Unglück. Beiden wird dafür abverlangt, nicht gegen das Recht zu verstoßen. Doch die Armen, wenn sie nur nichts Böses in ihrer Armut tun und ihr Geschick (τὸν δαίμονα) mit Würde ertragen, auf den Gott der Zeit vertrauen, gelangen eines Tages mit der Zeit zur Zuversicht (εἰς πίστιν). 222

Der Arme darf in seiner Armut nichts Böses tun, kein Recht verletzen und schuldig werden, um mit seiner Hoffnung auch wirklich die Antwort auf sein Leben geben zu können. Doch hier urteilen Mythen und menschliches Selbstverständnis auch sanfter: der Arme hat gute Chancen, seine Unschuld zu erhalten. Wie er nämlich gerechterweise arm ist, so ist er als Armer zugleich wie von Natur gerecht. Anders als bei der Lebensangst, die als verfügbare zur Lebensschuld wird, hebt sich Hoffnung nicht in Unschuld auf. Hoffnung bleibt Hoffnung. Schuldlos an seinem – armen – Geschick, ist die Lebenshoffnung des Armen voll gegenwärtig, blüht sie mit seiner Schuldlosigkeit erst so recht auf. Dennoch taugen Lebenshoffnung und Lebensunschuld, wie sie zusammengehören, nicht gut als letzte Antwort auf die Herausforderung des Lebens. In der Konzeption der – rechtlichen – Unschuld der Armut steckt leicht allzuviel Naturrecht (der Sklave von Natur hat nach Aristoteles einen Körperbau, der nur zur Arbeit, nicht aber zur Wahrnehmung bürgerlicher Rechte taugt), als daß die Hoffnung auf bessere Zeiten in ihrer rechtlichen Begründung wirklich plausibel 222

Menander, Dyskolos.

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wäre. Die Antwort auf das Leben lautet zwar jetzt in ihrem äußersten ganz klar nicht Tod, sondern Leben, anderes und besseres Leben, aber mit der Lebenszeit wird es bei dieser Hoffnung für gewöhnlich ziemlich eng. Jedes Hoffnungsgebaren, das, wie das Blochsche, einem Realismus anhängt, programmiert Vergeblichkeit und Enttäuschung für alle erlebbaren Zeiten. Religion hat hier eine Lösung angeboten. Sie deutet die Zeiten- und Besserungshoffnung, wie sie in aller Lebensunschuld besteht, als Gnadenhoffnung. Zugleich deutet sie die erhoffte andere Lebenszeit in eine andere Art Leben um: in ewiges Leben. Für sie ist damit die Antwort auf die Herausforderung des menschlichen Lebens abschließend klar. Sie lautet: göttliche Gnade 223 und ewiges Leben. 224 Aus der Gottesfurcht der Reichen läßt sie das Gottvertrauen der Armen werden. Der Reiche hat, wie sie es den Menschen sagt, seine außerordentlichen Schwierigkeiten, ins Himmelreich zu kommen. 225 Ihm genügt eigentlich lebenspraktisch seine Angst. Er braucht keine Hoffnung. Er soll vielmehr sein Leben für sein Leben geben – Leben freilich durch eigene lebensbedeutsame Güter kompensierend. Zugleich soll er die Askese des Reichen üben, um den Geist des Reichen zu pflegen: reich sein, aber nicht reich leben. Tod als »der Sünde Sold« kann ihn dazu nur stimulieren. Ob ihn freilich diese Botschaft immer erreicht, ist eine andere Frage. Es ist gut möglich, daß der so gezeichnete Reiche auch einfach nur als Bild gebraucht wird, das man dem Armen vorhält, um ihn in der Bejahung seiner Armut zu bestärken. Die doppelte Zunge für Arm und Reich, für Oben und Unten ist ältestes Gemeingut geistlicher und weltlicher Macht.

223 224 225

1. Petrusbrief 1, 13; vgl. 2. Thessalonicherbrief 2, 16. Titusbrief 3, 7; vgl. 1. Petrusbrief 1, 3. Matthäusevangelium 19, 24.

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II. Das Teilen von Leben und Tod

Was von Sterben und Tod in der Perspektive des Vereinzelten auszumachen ist, reicht zu einem vollen Verständnis in nichts zu. Doch keine bloße Ergänzung, ein Neubeginn ist verlangt. Um mit der gewandelten Blickrichtung vertraut zu machen, werden zunächst die Elemente menschlicher Lebensteilung benannt.

1. Das Meine Zu wissen, was mein ist und das Meine, es zu wissen und zu sagen, ist der grundlegende Anfang menschlicher Lebensteilung und lebendiger Mitteilung. Mein – das ist, wenn die Rede denn stimmt, ein lebensteilig gelernter und bewährter Anspruch, der sich an ›Innigkeit‹ nicht übertreffen läßt. Mein – ›dahinter‹ stehe ganz ich selbst: es ist der reine Selbstzuspruch. Zugleich steckt in ihm der Andere, der ich genau nicht bin. Mein ist damit auch die grundlegende Abrede des Anderen, zu der er mir mit verhilft, das gemeinsam gesprochene Verdikt seines Selbstanspruchs an etwas, das nicht das Seine, sondern das Meine ist. Das Wissen und die Rede von dem, was mein ist und das Meine, zeigt bereits lebenspraktisches Gelingen: mir ist etwas; ich bin ›sachlich‹ für mich. Das – gelungene – Meine ist die im wahrsten Sinne des Wortes erstbeste Dimension, in der ich zuhause bin. Die demonstrative Selbstorientierung (›Deixis‹) in ihrer allein personalen und lokativischen (temporalen und 107 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

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spatialen) Bestimmtheit greift zu kurz, um zureichend Kenntnis von der lebenspraktischen Dimension des Meinen zu geben. Sicher: mein sind ›die Meinen‹, meine Zeiten, die gelebten und die zu lebenden, und meine Gegenden. Aber es sind auch Kräfte und Vollzüge, Äußerungen und Ausgriffe, Aufgaben und Ansprüche, Ausstände und Abschlüsse, Sichten und Verborgenheiten, die das Meine (›mein Meines‹) bestimmen und eben zeigen. Mein – das sind meine Freunde und meine Feinde, meine Erinnerungen und meine Sehnsüchte, meine Ängste und meine Freuden, mein Leben und mein Tod, mein Ungewisses und mein Gewisses. Hegel hat es für gut befunden, das Meine und das Meinen zusammenzubringen 1 : Ihre [der sinnlichen Gewißheit] Wahrheit ist in dem Gegenstande als meinem Gegenstand, oder im Meinen; er ist, weil Ich von ihm weiß.

Wer dieser subjektivistischen Verkehrung des Meinen folgt, verstellt sich die Möglichkeit des nötigen Umhörens: mein als anfängliche Selbstbehauptung, mein wie es als Aufklang zu hören ist, als Anstimmen der Selbstbejahung, ganz gleich, wie die Situation ist, welchem Sein der Selbstanspruch gilt. Im Mein-Wissen und -Sagen erschließt sich ein Mensch seine Distanz: er geht auf Distanz zu sich selbst – nicht in Abwendung und Entfernung, sondern in Zuwendung und Näherung. Im mein spricht und weiß sich das Auseinander eines Menschen, in dem alles zusammenkommt, was je für ihn zu einer Stunde und in einer Lage des Lebens und Handelns zusammengehört. Bei diesem gelingenden Zusammen in Distanz teilt er sein Leben, teilt er sein Leben mit. Mein, im Leben und Handeln gesprochen, ist das anfänglich innige und zugleich das erste gesellige Wort.

G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, hrsg. von J. Hoffmeister, Hamburg 1952, S. 83.

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Gegenwart

2. Gegenwart Wissen und Beanspruchen des ›Meinen‹ schafft Gegenwart. Weiß ich um meine Augen und beanspruche ich meine Sichten als meine, dann erweitere ich mich auch schon zur Gegenwart. Meine Augen – das ist Gegenwart, nämlich die Gegenwart sinnlicher Offenheit oder Verschlossenheit, wie ich sie für mich weiß und bin. Meine Sichten – das ist die Gegenwart meines Gesichtsfeldes, die ich selbst bin, indem ich Sichten sehend für mich bin. Leicht stellt sich das Bild ein, was mein ist, sei ›in‹ mir. David, der Psalmist, der nicht nur Auge und Herz, sondern auch Seele für ›mein‹ erklärt, sagt in einem Lied 2 : Ja, ich habe meine Seele gesetzt und gestillt; so ist meine Seele in mir wie ein entwöhntes Kind an seiner Mutter.

Ist meine Seele in mir, nämlich in mir wie an der Mutter, dann ist sie nicht in meinem Leib, sondern vielmehr in mir ›selbst‹ : ich bin in mir! Ganz entsprechend sind die Augen, die ›in mir‹ sind, nicht in meinem Leib, ebensowenig die Seele, von der Meister Eckhart, gut zur Denkanregung, feststellt 3 : Mîn lîp ist mêr in mîner sêle, dan mîn sêle in mînem lîbe sî. (Dicimus enim usualiter animam esse in corpore, cum tamen potius corpus sit in anima et ipse det esse corpore.)

Die Augen sind vielmehr ›in mir‹ als in meiner Selbstdistanz und Selbstgegenwart. Die Zeichnung des dimensionierten solus ipse scheint sich anzubahnen. Doch das scheint nur so. Selbstgegenwart als bloße Bewußtseinsleistung ist nicht gemeint, kann überhaupt nicht gemeint sein. Schon der Psalmist läßt das Meine entwöhnt sein: frei von mir und zugleich frei Psalm 131, 2. Zum ›in mir‹ der Seele vgl. Psalm 42, 6; 7; 12; 43, 5. Meister Eckharts Predigten, hrsg. von J. Quint, Bd. I Stuttgart/Berlin 1936, Predigt 10 S. 161. 2 3

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an mir – allerdings in der besonderen Einheit des Abgestilltund zugleich Gestilltseins. Ich bin nicht das Meine, indem ich mit ihm koinzidierte. Gerade das Gegenteil ist der Fall. Meine Selbstgegenwart gründet in dem, was ich genau nicht bin, was nicht mein ist: in der Selbstgegenwart des anderen Mein. Selbstgegenwart ist von Grund auf Gegenwart mit Anderen und ihrem ›Meinen‹. Selbstgegenwart ist ursprünglich ein Akt und ein Produkt der Geselligkeit. ›Meine Augen‹ – das ist bereits Sein zu Anderen hin und von Anderen her, Sein durch Andere, kurz: Gegenwart mit Anderen. Wenn ›mein‹ soviel besagt wie ›ich bin mir gegenwärtig‹, ›meine Augen‹ und ›meine Seele‹ soviel wie ›meine Augen sind mir gegenwärtig‹, ›meine Seele ist mir gegenwärtig‹, dann ist zwar im Kopf d. h. im Bewußtsein das gesellige Miteinander wie ausgelöscht, aber nicht in praxi. Selbstgegenwart in jeder Form ist von Grund auf eine Möglichkeit und eine Leistung gemeinsamer menschlicher Gegenwart. Ist, im Bilde des Psalmisten, nur das mein, was, als meiner entwöhnt, an mir ist, so läßt sich für die lebenspraktische Realität des weiteren behaupten: meine Augen und meine Sichten sind Zeugnis dafür, daß ich ›entwöhnt‹ und solcherweise ›an‹ Anderen bin. Ich bin das Meine, bin für mich meine Selbstgegenwart, weil und insofern ich Leben mit Anderen teile: mein Leben mit Leben, das nicht das meine ist, es aber mit zu dem meinen macht bzw. das meine sein läßt. Als mein kann ich nichts wissen und beanspruchen, in dem ich mir nicht gegenwärtig wäre. Zugleich gilt: Ich kann nichts als mein wissen und beanspruchen ohne Gegenwart, das hieße ohne Gegenwart der Anderen. So kündet sich im ›mein‹ unmißverständlich an, daß und inwiefern Gegenwart der Grundzug menschlicher Lebensteilung ist. Mit meinen Ängsten bin ich mir gegenwärtig und lebe sie zugleich mit aus der Gegenwart mit Anderen. Mit meinen Erinnerungen und Sehnsüchten, meinem Leben und meinem Tod, meinen Freunden und meinen Feinden ergeht es mir nicht anders. 110 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

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Gegenwart als Grundzug menschlicher Lebensteilung ist Grundzug menschlichen Lebens. Jedes erfüllte Leben braucht Gegenwart, braucht den Einen und Anderen. Darum zielt auch alle Lebenshoffnung auf Gegenwart. Urbild dafür ist das Gesicht der Mutter, das sich dem Kind zuwendet, sein Schauen spiegelt und erwidert. Im Spiegeln seines Schauens spielt sie ihm das erste ›Meine‹ zu: ›mein‹ Gesicht. Erfüllte Hoffnung in diesem ursprünglichen Sinne ist darum der Augen-Blick 4 gegenwärtigen Einanders, von dem einzigartig nicht zu sagen ist, er erniedrige oder erhöhe, er sei verschämt oder unverschämt, er sei schuldig oder unschuldig. Erfüllte Hoffnung ist – exemplarisch – der geglückte Augen-Blick menschlichen Einanders, menschlicher Gegenwart des Blicks. Wer von menschlicher Lebenszeit handelt, von Vergangenheit und Zukunft, Geburt und Tod, hat sich im Letzten an die Gegenwart zu halten, wie sie der Augen-Blick bildet und ist. Diese Gegenwart ist voller Vergangenheit und Zukunft. Daß Menschen ihre Lebenszeiten teilen und dadurch Lebensbefähigung erlangen und bewähren, liegt in der Gegenwart begründet, in der und als die der Eine und der Andere füreinander offen und einander bedürftig sind. Jede Deutung und Aneignung von Vergangenheit, jedes Planen, Entwerfen und Wünschen von Zukunft hat seinen Grund in menschlicher Gegenwart, wie groß und wie klein die Gemeinschaft auch sei – je nach den Umständen und Bedürfnissen.

4 Zu diesem Verständnis von Augen-Blick vgl. R. Marten, Die psychoanalytische Situation und der Augen-Blick, in: S. O. Hoffmann (Hrsg.), Deutung und Beziehung. Kritische Beiträge zur Behandlungskonzeption und Technik in der Psychoanalyse, Frankfurt 1983.

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Das Teilen von Leben und Tod

3. Mein Eigenes Die Ausführungen zu dem, was mein ist, und zur Gegenwart, mögen manchen allzu ideal und harmonistisch erscheinen. An Erzieher und Entwicklungspsychologen ist zu denken, die auf ein Kind zeigen, das im Kindergarten vor Kameraden sein Recht beansprucht und schreit: »Nein, das ist mein Buch«. Schon Haus und Bett geben als je meines 5 zu bedenken, ob das besitzanzeigende ›mein‹ wirklich geselliger Gegenwart entspricht, ob sein begründeter Anspruch diese Gegenwart schafft und bewährt. Wir haben ›mein‹ bisher als Grundwort menschlicher Lebensbejahung verstanden: als Bejahung lebensteiligen Lebens. Es fragt sich jedoch, ob ›mein‹ nicht in praxi, jedenfalls in häufig geübter Praxis, vielmehr eine Negation darstellt: ›Nein, das ist mein‹. Es ist nicht zu leugnen: menschliche Gegenwart ist nur eine Perspektive, das lebenspraktische ›mein‹ zu deuten. Eine andere sind menschliche Rechtsverhältnisse. In ›meine Augen‹ liegt: ›ich habe Recht auf meine Augen und meine Sichten‹. ›Meine Erinnerungen‹, ›mein Leben‹, ›meinen Tod‹ – das alles sind ebensogut Rechtstitel. Um das kenntlich zu machen, ist ein neues Wort hinzuzunehmen: das Eigene. Bislang hatten wir, sprachlich und vermutlich auch gedanklich nicht ganz ausgewogen, meine Augen von anderen Augen unterschieden. Jetzt aber haben wir (meine) eigene(n) Augen von Augen Anderer zu unterscheiden. Das ist deutlich ein Wort und ein Gedanke mehr. Meine Augen sind meine eigenen Augen, meine Erinnerungen meine eigenen Erinnerungen, mein Tod mein eigener Tod. Der Rechtsanspruch macht die Zäsur: mein und nicht dein, mein Eigen, an dem du nicht teilhast. Die Gegenwart ist wie zerschnitten, die Lebensteilung wie aufgekündigt. ›Mein Auge‹, ›mein Tod‹ – das klingt jetzt, im Hörbereich des Eigen5

Psalm 132, 3

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Mein Eigenes

heitsanspruches, wie: ›mein Tisch‹ und ›mein Bett‹, ›mein Auto‹ und ›meine Freundin‹. Doch man darf sich durch diese Tonart nicht irremachen lassen. Die Betonung des Eigenen akzentuiert, wie gesagt, Rechtsansprüche. Damit aber kommt es zum Einklagen von Lebensteilung als Teilung füreinander verbindlicher und förderlicher Rechtsverhältnisse. Menschliche Gegenwart wird selbst zu einer Rechtsdimension. Das Kind, das im Kindergarten mit ›Nein, das ist mein Buch‹ seine Selbstbejahung, Selbstbehauptung und Selbstgegenwart praktiziert, gibt sich damit zugleich frei in Rechtsverhältnisse, die es mit Anderen teilt. ›Nein, das ist mein Buch‹ ist typischer Ausdruck eines ›Entwöhnten‹, der sowohl frei bei sich als auch frei bei Anderen ist. ›Nein, das ist mein Buch‹ – wer richtig hinhört, wird diesem Wort nichts schlecht Egoistisches, sondern ein Stück gelingender Lebensteilung entnehmen. Wer ›Nein, das ist mein Buch‹ sagt, weiß insgeheim bereits, daß ›sein‹ Buch ihm auch etwas Fremdes und Anderes ist, ein Selbständiges (›Entwöhntes‹), das zwar ›an‹ ihm ist, aber eben als ein freies. Er muß es eigens als sein eigenes beanspruchen und behaupten, um es als eigenes zu gebrauchen und zu genießen. ›Mein eigenes Buch‹, ›mein eigener Tod‹, das ist in sich bzw. aus sich ambivalent: das ist eigen und zugleich anders und fremd. Bereits in meinem Eigenen wird alles durchgespielt, was mein Anderes ist. Zum Glück ist aber auch zu bemerken, wie entsprechend in meinem Anderen alles durchgespielt wird, was mein Eigenes ist. Ich muß nicht erst ›fremdgehen‹, um auf Befremdliches und Feindliches zu stoßen. Wie ich meine eigenen Freunde habe, so auch meine eigenen Feinde. Die Eigenheitssphäre konstituiert sich aus Selbst- und Fremddistanz, aus Selbstgegenwart und Gegenwart mit Anderen. Das Eigenheitliche hat mit den Grenzen zum Anderen auch schon Gemeinsamkeiten mit ihm, ja wie es in einer Hinsicht Grenzen zum Fremden und Feindlichen zieht, ist es in anderer Hinsicht davon durchspielt und durchherrscht. Das 113 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Das Teilen von Leben und Tod

Eigene ist von Anfang an nie nur eigenes Eigenes, sondern immer auch schon eigenes Anderes. Das Andere, gerade auch als Fremdes und sogar Feindliches gehört somit konstitutiv zum Eigenen. Menschliche Gegenwart ist damit jedoch nicht ebenso freundlich wie feindlich, ebenso fremd wie vertraut. Das mag zwar de facto im Leben so sein. Die Bildung lebensbefähigender Gegenwart jedoch hat in Freundlichkeit, Vertrautheit und Zuversicht des Einander ihr ›erstes Prinzip‹. Agierte das Gesicht der Mutter über dem des Kindes anders, gelänge überhaupt kein frei Entwöhntes.

4. Mein Anderes Gemeinsamkeiten sind nicht zu erinnern, um Grenzen und Unterschiede zu verwischen. Das Andere ist keineswegs dem Eigenen gleich, wenn das hieße, den Gedanken einer signifikanten Differenz zwischen dem eigenen Eigenen und dem eigenen Anderen vernachlässigen zu müssen. Das Andere, genauer: das eigene Andere übt ein Amt zugunsten des Eigenen aus, das niemals vom Eigenen selbst versehen werden könnte. Gedacht ist an die maßgebliche Funktion des Anderen als Anderen, dem ›Einen‹ in seiner eigenen Eigenheit Halt zu geben und Einhalt zu gebieten. Der solus ipse ist prinzipiell haltlos, findet für sich keine Grenze und kein Ende, keine Stütze und keinen Widerstand. Das frei in sich schwingende bloße Selbst als reine Selbstdarstellung ist eine schlechte Fiktion, ›gelingt‹ lebenspraktisch allenfalls als Lebensunfähigkeit und pathologischer Fall. Ein autistisches Bewußtsein bildet in seinem kranken Für-sich keine lebensbefähigende, selbstbejahende und selbstbehauptende Gegenwart. Gegenwärtig mit seinem Leben und seinem Tod, seiner Vergangenheit und seiner Zukunft, mit seinen Affekten und seinem Bewußtsein ist ein Mensch, je sich selbst – dies aber nur im Verein mit Zweien und Dreien, mit menschlichen 114 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Mein Anderes

Gruppen und Gemeinschaften, mit menschlicher Gesellschaft und Geschichte. Gegenwart – das ist Sache des menschlichen Einander, das ist vielfältige und vielschichtige menschliche Zeitgenossenschaft. Doch es gibt da besondere Raum- und Zeitprobleme. Auch Anderes, das nicht der Mensch ist, gibt auf seine Weise Halt, gebietet Einhalt. Die Erde als die ›alles tragende‹ gibt den Füßen Halt, dem Menschen Stand. Gebirge und gestirnter Himmel geben den Augen Halt. Orte, Gegenden und Distanzen menschlicher Lebenswelt geben dem Menschen nicht nur Orientierung im ›Raum‹, sondern auch Halt, gebieten ihm Einhalt. Zur Lebenswelt gehört alles mit, was in Einander und Gegenwart als dem Menschen Anderes hereinsteht. Dies gründet und bildet jedoch nicht aus sich mit Menschen Gegenwart. Das Lebensbefähigende, das vom Anderen im Sinne von ›ich bin nicht alle Realität‹ ausgeht, übt seine Funktion allein aus, wenn es in die Erfahrung und Bejahung des Anderen im Sinne von ›ich bin nicht jeder‹ eingeschlossen ist. Im Urteil menschlichen Lebens und Handelns zeigt sich der andere Mensch nicht als Moment der anderen Realität, sondern gehört umgekehrt das Andere in seiner lebensbefähigenden Funktion dem Anderen in der Gestalt des Menschen zu. ›Schönes‹ wie belebte Landschaften und ›Erhabenes‹ wie Gebirge und Gestirne könnte dem Menschen kein Halt sein, ließe ihn sich dennoch in kosmische Weiten verlieren, gäbe es nicht das gegenwartsbildende und -bewährende Einander der Menschen, an dem er seinen – ersten – Halt findet. Ohne leibliche Mutter und ihre Zuwendung könnte niemandem die Erde zur ›Mutter‹ werden. Himmel und Erde, Gestein und Gewässer, Wald und Feld (nicht zu reden von Städten und Dörfern, Straßen und Autos) geben auf ihre Weise dem Menschen (mit) Halt, weil es Menschen sind, die einander vor dem Hintergrund und aus der Distanz anderer Realität begegnen. Solange es für Menschen gedeihliches Einander gibt, ist Raumverlorenheit (horror vacui) nicht mehr als eine schlechte Fiktion. 115 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Das Teilen von Leben und Tod

Menschliche Zeitgenossenschaft bewahrt ebensosehr vor kosmischer Zeitverlorenheit. Gegenwart als Zeitgenossenschaft ist in sich Geschichtsgenossenschaft. Sie ist dabei als menschliches Einander, nicht aber als Zeit anzusehen. Zeiten gibt es allein zwei: Vergangenheit und Zukunft. In jedem gegenwärtigen Einander teilen Menschen beide Zeiten in komplexer geschichtlicher Prägung. Genau das meint Zeitgenossenschaft. Angesichts des gegenwärtigen Einander menschlichen Zeitgebrauchs ›Weltzeit‹ ins Spiel zu bringen, wäre abwegig. Selbst der Mensch, der gegen seine Zeit aufsteht (Ossip Mandelstamm: »War niemands Zeitgenosse, wars in keiner Weise«) 6 , braucht sie nicht. Sich in seiner Nichtigkeit, mehr noch: an der Unfaßbarkeit seiner Nichtigkeit zu weiden, hat dem Menschen immer wieder gefallen. In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der »Weltgeschichte«: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Athemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mußten sterben. 7

Doch das Spiel, das man mit unfaßlichen zeitlichen Dimensionen treibt, ein Spiel, das schon mit dem alten »vor Gott sind tausend Jahre wie ein Tag« für menschliches Selbstverständnis zum Ernst wurde, beruht auf künstlicher Verselbständigung des Chronos, dem aller Kairos entzogen wird. Jeder Gedanke aber, dem Menschen in seiner Zeitlichkeit sei im wesentlichen aller Kairos entzogen – seit alters oder in neuer und neuester Zeit, geht in die Irre. Schon allein der Kairos des Sterbens ist für den Menschen im Prinzip unaufhebbar. Gerade im Verein

P. Celan, Gesammelte Werke, Bd. V Frankfurt a. M. 1983, S. 151. F. Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, in: Nietzsches Werke, Leipzig 1903, Bd. X, S. 189. 6 7

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Mein Anderes

mit der Zeitgenossenschaft wird sich der Tod als Garant zeitlichen Halts und Einhalts erweisen. Nicht jeder Abgrund, der sich dem Geist des Menschen auftut, ist tief. Geister, die dem Menschen Halt anbieten, und Geister, die ihm seine völlige Haltlosigkeit schmackhaft zu machen suchen, verwalten oftmals denselben Geist: sie sind auf Lebens- und Daseinssinngebung aus, wo und wie sie weder gebraucht nocht gefragt ist. Wer den Menschen als ›Krone der Schöpfung‹ ausgibt, denkt ihm keinen brauchbaren Halt zu. Wer ihm – gut aufklärerisch – diesen Halt nimmt, stürzt ihn nicht in Haltlosigkeit. Was hier an Freude und Verzweiflung ausgeboten wird, sind in Wahrheit nicht lebensbejahende und lebensverneinende Affekte, sondern Spielmarken einer sich am Extrahumanen versuchenden Intellektualität. Für jeden Menschen ist es ein mit seiner Lebensbefähigung eigens erworbenes Gut, nicht jeder und alles zu sein. Die Anderen und mit ihnen das Andere beenden den je Einen in seiner Eigenheit. Die Anderen als das eigene Andere geben ihm Halt, gebieten ihm Einhalt. Sie und der eigenheitlich geprägte Eine schaffen sich einander Endlichkeit: vereint beenden sie einander, so daß sie endlich und lebensfähig sind. Die ›erste Endlichkeit‹, wie sie lebenspraktisch in Erscheinung tritt, ist endliches Menschsein als menschliche Gegenwart. Jede Art, sich selber frei gegenwärtig zu sein, ist Zeichen dafür, daß die Bildung lebensbefähigender Endlichkeit im Verhältnis des eigenheitlich Einen zu seinem eigenen Anderen geglückt ist. Menschliche Gegenwart und Endlichkeit bedingen einander. Um für sich und bei sich selbst zu sein, braucht der Mensch den ›Überstieg‹ über sich selbst hinaus und die Entgegensetzung, die er dabei erfährt: die befreundende und befremdende Spiegelung des Eigenen, präziser: des eigenen Eigenen im eigenen Anderen. Genau dafür ist alles eigene Andere gut – als Freund oder Feind, als fremd oder vertraut, in jedem Falle als Garant der Endlichkeit, ohne die nichts Eigenes zu sich selbst fände. 117 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Das Teilen von Leben und Tod

5. Der Tod als der ›andere Andere‹ Wir Menschen brauchen den Tod – den eigenen Tod und den Tod der Anderen. Wir brauchen und ›genießen‹ ihn. Das ist, wie sich zeigte, kein schwarzer Hedonismus, keine Aufforderung, mit dem Tod zu schlafen 8 , sondern versteht sich wörtlich aus dem uti et frui bei Augustinus. Der Sache nach erfordert es den Perspektivenwechsel. Was der Tod dem Menschen in seinem Leben und Handeln ist, entdeckt sich nicht im Blick auf den Einzelnen in seiner Vereinzelung. Thanatologie läßt sich nicht sinnvoll als Philosophie der einen Person und des einen Bewußtseins betreiben. Die reine Orientierung an dem einen Lebensweg, der einen Lebenszeit und eben dem einen Lebendigen verstellt sich den Zugang zur Sache. Um eine Neuverständigung über den menschlichen Tod zu provozieren, bietet es sich an, ihn als den anderen Anderen zu deuten. Der Tod als der ›andere Andere‹ – das soll sowohl für den eigenen Tod als auch für den der Anderen gelten.

5.1 Der Andere und der ›andere Andere‹ Der Vorschlag, den Tod mit dem – signifikanten – Anderen zu parallelisieren, geht davon aus, daß wir Menschen, wie wir den Anderen brauchen und für uns fruchtbar machen, so auch – entsprechend – unser Todesverhältnis praktizieren: das Verhältnis zum eigenen Tod und das zum Tod der Anderen. Das uti et frui des Anderen wehrt somit bereits Mißverständnisse des uti et frui des Todes ab. Wir brauchen den Anderen, lassen 8 Ph. Ariès, Geschichte des Todes, München 1985, S. 471 ff.; 517. Auch die Betrachtungsweise eines Georges Bataille ist nicht befolgt, die »la violence de la joie spasmodique« als »le coeur de la mort« entdeckt und in der Wollust »la ›petite mort‹« zu sehen bekommt, um so die Beziehung zu »la mort finale« herzustellen. G. Bataille, Les larmes d’Eros, S. 51 f.

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Der Tod als der ›andere Andere‹

uns von ihm brauchen und machen unser beider Verhältnis fruchtbar. Von Mittel und Selbstzweck zeigt sich auf beiden Seiten keine Spur. Das alles geht wechselseitig vor sich, trägt und hält sich im Einander. Da gibt es keinen – zu kurzen – Atem, um, gut nach Kant, Menschliches als Mittel zu begreifen oder zum Selbstzweck zu stempeln. Diese günstige Lage der Dinge findet sich auch beim Tod. Wie wir im Anderen nicht Mittel oder Selbstzweck sehen, so lassen wir ebenso den zu brauchenden und fruchtbar zu machenden Tod frei von diesen Urteilen der Vernunft. Daß der Vergleich zwischen dem Anderen und dem Tod sachlich trägt, zeigt sich an der beiden gemeinsamen Funktion, die sie für den haben, der in seinem Leben und Handeln auf den Anderen und den Tod gerichtet ist: das Haltgeben und Einhaltgebieten. Ohne Tod, ohne den eigenen und den der Anderen, gäbe es im Leben keinen Halt und für es keinen Einhalt, wie auch Menschen ohne Anderen keinen Halt fänden und Einhalt erführen. Das liegt an der Endlichkeit, wie sie der Mensch zur Lebensbefähigung braucht, an seiner Endlichkeit in der doppelten Prägung: zum Glück nicht jeder (und alles) und zum Glück nicht für immer zu sein. Nach dem Anderen als der – lebenspraktisch gewonnenen und erfahrenen – ›ersten Endlichkeit‹ ist der Tod, erkennen wir ihn in seiner lebensbefähigenden und das Leben beendenden Kraft, die ›zweite Endlichkeit‹. Nur wer – signifikant – Anderen (und Anderem) Realität eigens zu gönnen weiß, mit ihrer Realität eigens zu leben und zu handeln versteht, kann im Leben ›die Realität‹ bestehen. Das ist der positive Sinn von ›ich bin nicht jeder‹ (und ›ich bin nicht alles‹). Doch damit ist Realität noch keineswegs ›bestanden‹ – ausgestanden und ausgetragen. Lebensbefähigender Realitätssinn und entsprechende Praxis brauchen zugleich den Tod, brauchen die praktische und lebensbefähigende Gewißheit menschlicher Endlichkeit, die sich im ›ich bin nicht für immer‹ ausspricht. 119 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Das Teilen von Leben und Tod

Das eigene Leben wäre ohne jeden Halt und Einhalt, wüßte es nicht ein eigenes Ende, das es für sich und für Andere zu finden hat. Kein Anderer vermöchte in seiner Art, Halt zu sein, die fehlende praktische Gewißheit des eigenen Todes zu kompensieren (wie auch der gewisse eigene Tod nicht den Anderen). Es sind der Andere und der Tod, der Tod und der Andere, die einen Menschen beenden: ihm Halt geben und Einhalt gebieten. Das eigene Leben wäre aber nicht weniger ohne Halt und Einhalt, wenn es nicht um das Ende des Anderen wüßte, das er zu finden oder bereits gefunden hat. Der zu erwartende und der eingetretene Tod des Anderen gibt auf eigene Weise einem Leben den nötigen Halt und gebietet ihm lebensbefähigend Einhalt. Der Mensch braucht nie allein für sich den Tod. Es ist zugleich menschliches Einander, das den Tod braucht. Sagen Evolutionstheoretiker, Evolution brauche den Tod, weil es nur so zur Entwicklung neuer Arten komme, dann haben wir zu behaupten, daß menschliche Geschichte, kulturelle, gesellschaftliche, gemeinschaftliche und je die eines Lebens den Tod braucht.

5.2 Das Todesverhältnis von Mutter und Kind Ein Beispiel für den gebrauchten Tod Anderer ist der Tod der Mutter. Die Beziehung des eigenen Lebens zur eigenen Mutter ist endlich. Sie geht, macht sich ein ›Kind‹ Gedanken, kaum weiter zurück als bis zum Wunsch der Mutter nach einem Kind (nach ›mir‹) und seiner (›meiner‹) Empfängnis. Ohne endliche lebensgeschichtliche Vergangenheit wäre ein Kind nicht lebensfähig. Käme es nicht aus der ›Dunkelheit des Zeitenschoßes‹ (la nuit des temps), lebte es vielmehr allzeit, dann wäre sein Leben niemals (zu keiner Zeit = Chronos) an der Zeit gewesen. Da ist im Denken wirklich einzuhalten: anfangsloses Leben bedeutete, daß es keinen Kairos für es gegeben hätte, es 120 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Der Tod als der ›andere Andere‹

sich vielmehr im Universum des Chronos end- und grenzenlos verlöre. Der Kairos des Lebens aber ist die Grenze, die jeden Menschen vor Zeitentaumel und Zeitverlorenheit bewahrt. Er schützt Menschen vor dem lebensverschlingenden Chronos und macht gerade den – lebenszeitlichen – Chronos lebbar. Diesem Kairos ist es zu verdanken, daß es im Leben und Handeln nie ›die Zeit‹, sondern allein Zeiten gibt, wechselnde, gute und schlechte (wie es im lebenspraktischer Erfahrung nicht ›den Wind‹ gibt, den kosmischen, sondern Winde, wechselnde, günstige und ungünstige). Gunst oder Ungunst gehören zur je eigenen Empfängnis und Geburt, und selbst die Ungunst ist noch eher lebensbefähigend als der unausdenkbare Taumel im Zurück, nicht im Zurück der Zeiten, sondern in dem ›der Zeit‹, Die Beziehung des Kindes zur Mutter braucht und ›genießt‹ aber nicht allein den endlichen Anfang des Lebens aus ihr, sondern auch das endliche Ende des Lebens mit ihr, das zu erwartende und ggf. das bereits eingetretene. Besteht das Verhältnis zur eigenen Mutter als einigermaßen glückende gegenseitige Zuwendung, ja Liebe, dann braucht eben diese Liebe die Endlichkeit: selbst und gerade als Lebensendlichkeit. Immerwährende Liebe im Sinne ewiger Liebe ist eine sich selbst verlierende Phantasie, die dem Leben Unmögliches und Abträgliches zuzuschanzen sucht. Das meint nicht, Liebe sei prinzipiell ambivalent, auch in der gelingendsten stecke ein Gran Haß 9 , der zu erwartende Tod der geliebten Mutter lege ggf. den ›nicht gestatteten‹ Gedanken nahe, dieses Ereignis werde mit Gewinn, z. B. mit Gewinn an Besitz verbunden sein. 10 Nicht weil menschliche Liebe eigentlich gar nicht reine Liebe wäre, sondern weil sie die Zeit (Kairos) der Liebe braucht, ist sie mit ihrem Anfang und Ende der Zeit nach endlich. S. Freud, Totem und Tabu, in: ders., Gesammelte Werke (London, Imago Publishing Co.), Bd. IX, S. 73–78; ders., Zeitgemäßes über Krieg und Tod, u. a. X, 332. 10 Ebd. X, 342. 9

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Die – mögliche – Liebe zur eigenen Mutter, die mit der eigenen Empfängnis und Geburt noch nicht beginnt und mit dem Tod der Mutter nicht schon endet, braucht das Verhältnis zum eigenen ›dunklen‹ Anfang im ›Zeitenschoße‹ und im Leib der Mutter, braucht das Verhältnis zu ihrem Tod, zum gewiß einmal eintretenden oder bereits eingetretenen. Liebe hat ihre Zeit (Kairos), und genau die kann vertan werden. Um menschliche Handlungsfreiheit deuten zu können, müssen wir nicht aus der Zeit (und Kausalität) herausgehen. ›Sobald‹ Zeit sich den Menschen in Zeiten entdeckt, auch in Zeiten, deren Wechsel die Natur beherrscht, Zeiten wie Jahres- und Lebenszeiten, vermag der Mensch frei zu antworten, kann er die Zeit als Gunst der Stunde wahrnehmen oder vertun. Der einzige Garant dafür, daß Zeit (Chronos) für den Menschen allein Zeiten (Kairoi) sind, ist aber der Tod. Wechsel für sich ist noch nicht kairologisch zu verstehen. Die ›ewige Wiederkehr des Gleichen‹ etwa kennt keine Gunst der Stunde, die vertan werden könnte. Alles, aber auch wirklich alles ließe sich dieser Idee nach irgendwann nachholen. Das jedoch widerspräche nicht nur aller menschlichen Lebenserfahrung, das liefe auch der lebensbefähigenden Zeitlichkeit des Menschen zuwider. Hic Rhodus, hic salta! – ohne Gunst der Stunde und Gegenwart, wie sie der Tod dem menschlichen Einander zur Bedingung macht, hätte das Wort keinen Sinn. Alles, was der Mensch lebenspraktisch zu bereuen und zu vergeben, einzulösen und wahrzumachen hat, überhaupt alles Handeln verdankt sich in seinem nicht verfügbaren und nicht überspielbaren Kairos dem Tod. Wer den Menschen in seinem Lebensund Todesverhalten zu deuten sucht, tut sicher gut daran, sich seines methodisch menschenbezogenen Blicks nicht zu schämen. Kosmologische, physikalische und biologische Ausflüchte haben hier nichts zu suchen. Der Mensch hat keine Sinnprobleme, solange er sich zutraut, im Rahmen seiner Verständigung über sich selbst als Mensch den Blick auf sich selbst wirklich festzuhalten. Da sieht er gut, wie er sich zeitlich nicht 122 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

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verliert. Er findet seine Gegenwart und seine Gunst der Stunde in menschlicher Zeitgenossenschaft und in einem Verhältnis zum Tod – zum eigenen und dem des Anderen. Das Kind braucht gleich dem eigenen Tod den Tod der Mutter – als Lebens- und Sinnhalt, als Einhalt der Gunst der Stunde zu lieben, wie umgekehrt die Mutter nicht allein den eigenen Tod, sondern auf ihre Weise auch den des Kindes braucht. Keine Mutter könnte sich um ihr eigenes Kind sorgen, wenn nicht dessen Tod ihrer Sorge Halt gäbe. Sich um das Leben ihres Kindes zu sorgen, verdankt sie seiner Endlichkeit, seiner ›ersten‹ und ›zweiten‹. Die Zeiten des Stillens und Abstillens etwa sind nicht von rein biologischer Natur. Mit der Entwöhnung des Kindes wird auch auf eigene Weise die Mutter entwöhnt. Beider Freiheiten und beider Tode begegnen sich. Mutter und Kind geben einander frei, indem sie einander gegenwärtig werden. Zu jeder menschlichen Gegenwart aber gehört der Tod, Tod im Sinne einer Endlichkeit und Sterblichkeit, die jedem lebenspraktischen Kairos seinen letzten Grund gibt. Die Analogisierung des gebrauchten Todes ist für Mutter und Kind bis zum Ende durchzuführen. Wir können nicht behaupten, das Kind zwar brauche den Tod der Mutter nicht allein als ihre sichere Endlichkeit, sondern schließlich auch als den eingetreten Tod, während die Mutter ausschließlich die Sterblichkeit des Kindes brauche, aber ja nicht seinen Tod ›selbst‹. Doch das tote Kind macht nicht notwendig seine Mutter lebensunfähig, entbindet sie nicht der Sorge, entläßt sie nicht aus dem Kindverhältnis. Das letzte Bild endlicher Freiheit in freier Endlichkeit im Bild des entwöhnten Kindes an seiner ›entwöhnten‹ Mutter hat eine uns belangende Tradition in der Pieta gesehen.

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5.3 Insignifikante Tode Tod als der Halt gebende und Einhalt gebietende andere Andere ist in allen menschlichen Toden zu entdecken, sofern sie Menschen in ihrem Einander von Leben, Sterben und Totsein lebensbefähigend beenden. Bedeutet das Halten und Beenden, das der Tod Anderer gewährt, für menschliches Leben weniger ein Stützen und Tragen als vielmehr ein Mahnen, ja selbst Erschrecken, dann hat das Lebensbefähigende des Todes eher den Charakter des zum Leben und Handeln Herausfordernden. Das gilt vielleicht für die Toten von Auschwitz und überhaupt für die Toten des Zweiten Weltkrieges, das gilt womöglich für die denkbaren Toten einer menschengemachten Apokalypse, die mit zu verhindern in eigenen Kräften stünde. Doch hier sind Grenzen gesetzt. Nicht jeder menschliche Tod geht jeden Menschen in praxi etwas an. Kein menschlicher Tod tritt überall und jederzeit als anderer Anderer auf. Zum Tod als anderem Anderen zählen nicht die insignifikanten Tode anderer Menschen, wie sie z. B. in blinder Gleichzeitigkeit 11 statthaben. Für die Tode insignifikanter anderer versteht sich das von selbst. Doch wer zu diesen anderen zählt, ist nicht in jedem Falle selbstverständlich. So können wir uns vorstellen, daß genau in dieser Stunde auf der Erde uns unbekannte Menschen durch Menschen zu Tode kommen, direkt und indirekt, durch Folter, Mord, Hunger, Verzweiflung am menschlichen Leben, um dann versucht zu sein, uns diese Tode selbst zuzurechnen. Wir gingen etwa von einem erd- und menschenweit auch von uns verweigerten und ungewollten, unversuchten oder mit durch uns mißlingenden menschlichen Einander aus. Doch solche an den Prinzipien allgemeiner Menschenvernunft und allgemeiner Menschenliebe festgemachten Für eine nähere Erklärung des Ausdrucks siehe R. Marten, Philosophische Aspekte der Gleichzeitigkeit, in: Zeitschr. f. Philos. Forsch. XVIII 1965. 11

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Vorstellungen schaffen dem eigenen Leben im Prinzip für sich und sein Handeln keine Grenzen, geben ihm keinen Halt. Blinde Gleichzeitigkeit, die durch ins allgemeine ausgreifende bloße Vorstellungen erleuchtet und von frei im allgemeinen flottierenden Affekten durchmessen wird, schafft kein Einander, läßt auch keines mißlingen. Die Schuld müßte konkreter, die schuldige Liebe und Vernunft weniger allgemein sein.

5.4 ›Große‹ Tote. Die Bedeutung des Leichnams Der Gedanke des anderen Anderen erfaßt mit den signifikanten Toden auch alle Toten, die für je eigenes menschliches Leben als Leben bedeutsam sind. Der Tod solcher Toten muß nicht selber ›erlebt‹ worden sein. Wenn wir Conrad Ferdinand Meyers Wort in den Ohren haben: Wir Toten, wir Toten sind größere Heere als ihr auf dem Lande, als ihr auf dem Meere

dann spricht diese ungleiche Quantität nicht gegen die mögliche Bedeutsamkeit geschichtlicher Tode und Toter. Bedeutsame Tote gehören zu jeder Art menschengeschichtlicher Bestimmtheit eines Menschen – angefangen mit lebensgeschichtlich bedeutsamen Toten der Familie und des näheren Freundes- und Bekanntenkreises. Geschichtlich bedeutsame Tote größerer Gemeinschaften erhalten gern das Prädikat des ›großen‹ Toten. Man spricht von den großen Toten einer Stadt und eines Volkes, einer geistigen und geistlichen Tradition. Jedesmal spricht die Größe des Toten mit für die Größe der Bedeutung dessen, dem der tot ist: die Stadt erhält durch ihn eine besondere Größe, das Volk, die geistige und geistliche Tradition. Von großen Toten der Menschheit ist darum besser nicht zu reden, da in diesem Falle etwas bloß Spezielles, etwa eine besondere Form gelebter Moral, im Mißverständnis des Besonderen mit einem allgemeinen Wesen des Menschen gleich125 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

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gesetzt würde. Ödipus aber, wie ihn Sophokles im Ödipus auf Kolonos sterben läßt, wirkt mit seinem Tod städtegründend. Sokrates wieder, wie ihn Platon im Phaidon sterben läßt, wirkt mit seinem Tod moralbegründend. ›Dem Menschen‹ in seiner leeren Allgemeinheit kann niemand tot sein, schon gar nicht auf bedeutsame Weise. Nun haben es sg. große Tote oftmals ›an sich‹, von betroffenen Überlebenden als Leichname anvisiert zu werden. Sieht schon ein Martin Heidegger im Toten sogleich den Leichnam, nimmt es nicht wunder, wenn Unreflektiertere den Leichnamen großer Toter etwas zugutehalten. Napoleon im Pariser Invalidendom, Lenin im Moskauer Leninmausoleum, die ›Blutzeugen der Bewegung‹ einst auf dem Königlichen Platz in München, der Kopf des ›Lazarus‹ in Autun, Schelling in Bad Ragaz. Ohne Leichnam hätte der große Tote auf Erden nicht den Platz mehr, den die Überlebenden offensichtlich brauchen, um das Haltgeben und Einhaltgebieten dieser Toten gebührend zu erfahren. Wir müssen uns fragen, ob in diesen Wertschätzungen des menschlichen Leichnams sich nicht noch einmal aufs neue die Bedeutung leibhaften Bezugs im Einander Geltung verschafft. Es ist nicht anzunehmen, daß dabei sonderlich leibhaftige Gestalt und leibhaftiger Ausdruck eine Rolle spielen, die daran erinnern mögen, daß es doch der lebendige Leib eines großen Handelnden und eines großen Geistes ist, der sein Kraftzentrum umreißt und von dem seine Wirkung auf Andere ausgeht. Von einem Leichnam gehen für gewöhnlich keine lebendigen Kräfte aus, ganz sicher nicht die, denen die großen Toten die ihnen zuerkannte Größe verdanken. Wenn Leichname, anders als Heraklit es dachte, nicht eher als Mist verdienen, daß man sie wegwirft, dann liegt das vermutlich an einem außerordentlichen Vermögen des lebendigen Leibes, das sich im Leichnam wiederfindet: an dem Vermögen Gegenwart zu schaffen. Dem Leichnam, wie er den Tod als den anderen Anderen in menschlicher Lebenswelt repräsentiert, ist das 126 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Der Tod als der ›andere Andere‹

Vermögen des Anderen belassen bzw. neu verliehen, daß der Eine, dem es der Andere ist, ihm gegenübertreten kann. Anstatt daß Totengedenken und Gegenüber zum Toten sich rein im Kopf abspielten, erhalten sie eine klare Orientierung im leibhaft bestimmten Lebensraum. Die Ortung des Toten im Leichnam bzw. an der Stätte, wo er, wie versichert, verwahrt wird oder der Erde zurückgegeben wurde, ist keine metaphorische Handlung. Wer sich betroffen an den Ort der ›sterblichen Überreste‹ wendet, lebt nicht mehr aus unendlicher Verlorenheit, sondern findet dort für eigene, das meint besondere Lebensinteressen wirklich Halt, und erfährt sich zugleich in seinem Unvermögen, als Lebender schon wirklich bei den Toten zu sein. Die Wertschätzung des Leichnams ist damit nicht als anthropologisches Faktum behauptet. Vom Leichnam wird gesagt, er habe überhaupt erst den Begriff eines bösen Geistes geliefert. 12 Der Tod wird als Toter gesehen, und dabei als ein Toter, der tötet, weshalb es angezeigt erscheint, den Leichnam sofort über den Fluß ins ›Jenseits‹ zu befördern. 13 Doch das trifft nicht unsere maßgebliche Tradition. Bei Märtyrern der gerechten menschlichen Sache und des Glaubens hat man sich nicht weniger des Leichnams zu bemächtigen gesucht, als bei Heroen, die für völkische Größe verantwortlich zu machen waren. Leichname geistlicher Größen wurden portionsweise als irdisch-›leib‹-haftige Repräsentanten des Heils in alle Richtungen verkauft. Leichname weltlicher Größen wurden oftmals besser bewahrt und bewacht als leibhaft Lebendiges, um Menschen an ihrer Stätte Halt und Identität finden zu lassen, ja auch allererst zu einem solchen Fund zu verführen. An Leichnamen dagegen noch Leben zu erkennen 14 , HeilS. Freud, Totem und Tabu, IX, 74–76 – in Erwähnung von R. Kleinpaul, Die Lebendigen und Toten in Volksglaube, Religion und Sage, o. O. 1898. 13 Ebd. 14 Ph. Ariès, Geschichte des Todes, S. 451–503: »Der tote Körper«. 12

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mittel aus ihnen für kranke Lebende zu gewinnen, sie für anatomische Kenntnisse nutzbar zu machen, sie der Nekrophilie preiszugegen, wie sie in der Kunst des 18. Jahrhunderts auftritt und von der in ihrer naiven Form schon Herodot aus Ägypten zu berichten weiß – Vereinnahmungen des Leichnams dieser Art berühren nicht die Wertschätzung der Leichname großer Toter.

6. Die Gewißheit des Todes Die Rede vom anderen Anderen fordert dazu heraus, die Gewißheit des Todes zu überdenken. Wenn sich ein Mensch nie eines Anderen gewiß ist, seiner Gefühle und Empfindungen, wie soll er dann, meint der ›andere Andere‹ nicht bloß Metaphorisches, des Todes gewiß sein. Das Verständnis des Todes, wie es hier entwickelt wird, ist den gleichen behavioristischen Bedenken ausgesetzt, wie das des Anderen. Diese Bedenken sind insofern hilfreich, als sie auf die Konsequenz des Gedankens des anderen Anderen aufmerksam machen: der Tod ist uns nicht gewisser als der Andere – er ist uns ebenso gewiß. Der behavioristische Ansatz, der es sich versagt, den Anderen aus dem Einander zu verstehen, und darum zu überhaupt keinem brauchbaren Begriff eines Anderen kommt, hat hier von vornherein ausgespielt. Der Andere deutet als solcher auf das Einander menschlichen Lebens und Handelns, der andere Andere ebenfalls. Tod ist keine frei vagabundierende Macht, sondern gehört voll und ganz menschlichem Einander zu. Der andere Andere ist ein Moment des Anderen, wie der Andere ein Moment des anderen Anderen ist. Sie kompensieren einander nicht; sie sind gleichrangig: einander zu lieben und einander zu sterben – das ist die Art, wie der Andere und der andere Andere zusammengehören und gleichsam gemeinsam auftreten. Der Tod als der andere Andere ist nicht ein Wort allein für den eigenen 128 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Die Gewißheit des Todes

Tod, nicht einmal vorrangig, sondern spricht zugleich den eigenen Tod und den Tod des Anderen an. Der andere Andere ist überhaupt nicht ohne den Anderen zu denken, wie umgekehrt der Andere zu kurz begriffen würde, verstünde man ihn ohne den anderen Anderen. Es verhält sich genau anderes, als es Martin Heideggers solipsistische Todeskonzeption wahrhaben möchte: die Anderen gehören zum Tod, zum Tode der Anderen nicht mehr und nicht weniger als zum eigenen Tod. Die Anderen gehören dabei genauso gut zum Tod, wie sie zum Leben und zur Liebe gehören. Wer dem Verhältnis von Eros und Thanatos nachgeht, hat sich mit menschlichem Einander zu beschäftigen, um dabei zu entdecken, daß die Zusammengehörigkeit beider kein außerordentliches Schicksal ist, sondern ihre alltägliche Art. Der Eine und der Andere können sich allein ihrer Liebe versichern, wenn sie sich auch ihres Todes versichern, und umgekehrt. Wenn Zwei sich einander in Liebe versprechen und verbinden, sind sie sich ihrer Liebe praktisch gewiß. Diese Aneignung des fruchtbaren Einander, wie sie praktische Gewißheit und Mitwisserschaft bedeutet, ist jedoch nur ein Moment des Liebesverhältnisses. Augenblicke der Liebe, mögen sie noch so innig und zeitvergessen sein, sind mitbestimmt durch Distanz und Zeit. Jede ihrer selbst gewisse Liebe sorgt sich zugleich um sich selbst. Liebe sucht immer neu nach Selbstvergewisserung. Nun gelingt aber kein einander Versprechen, das in das Verhältnis des Einen und Anderen nicht auch den anderen Anderen einbezöge. Jedes Liebesversprechen ist, provokativ formuliert, zugleich ein Todesversprechen. Das aber bedeutet, daß die einander ihrer Liebe Gewissen nicht nur zugleich ihres Todes gewiß sind, sondern daß sie sich, entsprechend der Sorge um die Liebe, auch Sorge um den Tod zu machen haben und eben machen. Wie die Liebe im Einander gewiß bleiben muß, so der Tod. Er darf ebensowenig ›verloren gehen‹ wie sie, soll das Verhältnis glücken. Sich als Lebender und Liebender um 129 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Das Teilen von Leben und Tod

den Tod sorgen, auf daß niemand sich mit seinem Tod gleichsam davonschleicht – das ist die Art, im einander Brauchen auch den anderen Anderen zu brauchen. Wenn Sigmund Freud die Ambivalenz herausstellt, dem Anderen, auch und gerade dem liebsten, in Sorge um sein Leben insgeheim zugleich den Tod zu wünschen 15 , dann ist das etwas vollkommen anderes. Schon Eugen Bleuler betont, daß diese affektive Ambivalenz ein in der Regel bei Kranken auftretendes Phänomen beschreibt. 16 Ob aber krank oder gesund, diese Ambivalenz deckt sich überhaupt nicht mit der menschlichen Art, im Liebes- und Todesverhältnis einander zu brauchen und zu ›genießen‹. Der gewisse und der ggf. bei eigenen Lebzeiten eintretende Tod des Anderen, wie er zur Gewißheit und Sorge des Einander gehört, führt bei keinem der Partner zu einem schlechten Gewissen. Im Gegenteil. Sich um den Tod zu sorgen, um den eigenen und um den des Anderen, nicht nur so zu sorgen, daß er nicht zur ›Unzeit‹ kommt, sondern daß er sich auch ja nicht davonschleicht, genau das gehört dem ›Gewissen‹ gemeinschaftlicher Mitwisserschaft zu. In menschlicher Lebensbefähigung, wie sie sich geteiltem Leben verdankt und in ihm bewährt, äußert sich die Gewißheit des Einanders. Als praktische Gewißheit besetzt sie nicht das Bewußtsein, liegt sie nicht propositional vor, sondern ist sie in einer Weise selbsthaft angeeignet, daß sie unmittelbar als Selbstsicherheit, Selbstvertrauen und Selbstbewußt-sein des Handelnden herrscht. In der Art des Menschen, lebensbefähigt endlich und öffentlich zu sein, zeichnen sich vier maßgebliche Züge von ihr ab: die Gewißheit von Anderen geliebt zu sein und Andere zu lieben, die Gewißheit öffentlich von Anderen gebraucht zu sein und Andere zu brauchen, die Gewißheit durch Andere und mit Anderen Zeit zu haben und Anderen Zeit zu lassen, schließlich die Gewißheit des eigenen Todes 15 16

S. Freud, Totem und Tabu, IX, 76 f. E. Bleuler, Lehrbuch der Psychiatrie, Berlin 4 1923 (1 1916), S. 95 f.

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Die Gewißheit des Todes

und des Todes der Anderen. All diese Gewißheiten sind nicht die von isolierten Selbsten. Sie herrschen überhaupt nur als geteilte. Niemand hat sie an und für sich. Es gehört zu ihnen, daß sie Einer für sich und für Andere sowie mit Anderen hat. Keine dieser Gewißheiten gibt es allein für sich. Sie entspringen zusammen dem gemeinsamen Leben und stellen im Verein die Mitwisserschaft des Lebens und des Todes dar. Diese kann als Sediment des gelingenden Lebens gesehen werden. Es gibt Zeiten des Sich-einander-Versprechens und der gegenseitigen Vergewisserung. Für gewöhnlich aber wird über das lebenspraktische Einverständnis des Einander nicht gesprochen, wird es nicht als geschlossener Vertrag behandelt, auf den man sich berufen könnte, wird es nicht in Frage gestellt. Einander zu lieben, einander öffentlich zu brauchen, miteinander Vergangenheit und Zukunft zu teilen (Lebens- und Geschichtszeit), einander zu sterben – dessen sind sich der Eine und Andere unmittelbar gewiß. Praktische Gewißheit bedeutet stets soviel wie mitwisserschaftliche Gewißheit. Die Idee lebenspraktischer menschlicher Gewißheit verläßt schon im Ansatz Anthropologie, Psychologie und Bewußtseinstheorie als Theorien der einen Person. Wenn der Erkenntnistheoretiker Johann Volkelt sich ein Leben lang um Gewißheiten bemüht, die sich von »reiner Erfahrung« als »Innesein von Bewußtseinstatsachen« abheben, dann haben es ihm sein methodischer Ansatz und die Abhängigkeit von der Transzendentalphilosophie Kants doch verwehrt, zu Gewißheiten zu kommen, die etwas anderes darstellen als ein besonderes theoretisches Verhalten des Individuums. 17 »Intuitive« und »vitalistische« Gewißheit meint bei ihm das Überzeugtsein von unserem persönlichen Selbst, von J. Volkelt, Die Quellen der menschlichen Gewißheit, München 1906; vgl. ders., Erfahrung und Denken. Kritische Grundlegung der Erkenntnistheorie, Hamburg/Leipzig 1886; ders., Das Problem der Individualität, München 1928.

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Das Teilen von Leben und Tod

der Außenwelt, vom Sittengesetz und von Gott. Was er in dieser Art von Gewißheiten an – vernünftiger – »Transsubjektivität« ansiedelt, läuft ausschließlich auf die Gewißheitsarbeit des Individuums heraus, in der es sich mit seiner Transsubjektivität zugleich seiner Übernatürlichkeit versichert. Das letzte Resultat von Volkelts Bemühung um Gewißheiten und Selbstgewißheit ist das Durcheinander von vitalistischem Selbstgefühl und theoretischer Selbstgewißheit des Ich als metaphysischer Wesenheit. Praktische mitwissenschaftliche Gewißheit ist methodisch ausgeschlossen. So transsubjektiv Volkelts IchMensch ist, so isoliert ist er auch. In den mitwisserschaftlichen Selbstgewißheiten menschlicher Lebenspraxis zeigt sich Intimität. Alles Meine und Eigene ist als solches der Intimität preisgegeben. Gerade dort, wo mitwisserschaftliche Intimität – in therapeutischer Absicht – künstlich verweigert wird, wie beim ›Einander‹ von Analytiker und Analysand 18 , ist ihre prinzipielle Bedeutung für Lebenspraxis gut zu erkennen. Die psychoanalytische Situation zielt durch die Art des Analytikers, künstlich Intimität und Gegenwart zu verweigern, beim Analysanden auf ein Moment absoluter Schamlosigkeit. Das wird dadurch gerechtfertigt, daß der Analytiker für den Analysanden genau nicht der Andere ist, mit dem er sein Leben zu teilen hat. Auf die Frage, was ihm an einer Analyse am wichtigsten sei, soll der Analytiker Donald W. Winnicott geantwortet haben: »am Leben zu bleiben«. In der Situation, einander für das Leben zu versprechen, würde das gerade nicht zu bekennen sein. Insofern trifft Winnicott den Sachverhalt. Die psychoanalytische Situation ist exemplarisch kein Verhältnis, das auf den Tod bezogen ist. Analytiker und Analysand haben nach der Konzeption ihres Verhältnisses, die als praktisch bewährt gilt, in nichts vor, einander zu sterben und sich einander den eigenen Tod zu eröffnen. AbsoEine systematische Darstellung dieser Verweigerung findet sich in R. Marten, Die psychoanaltische Situation und der Augen-Blick, S. 49 ff.

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Die Gewißheit des Todes

lute Schamlosigkeit des Einen unterbindet das Einander des Einen und Anderen und damit auch schon das Einander, das vom anderen Anderen beherrscht wird. Mitwisserschaftliche lebenspraktische Gewißheiten sind kein Produkt gegenseitiger Aufklärung. Sie verlangen nicht, daß Tod und Leben in ihrer wechselseitigen Intimität ans volle Tageslicht gezogen werden. Schon bei den drei Gewißheiten: einander zu lieben, einander öffentlich zu brauchen und miteinander Vergangenheit und Zukunft zu teilen herrscht unter den Partnern keine Schamlosigkeit, es läge denn gegenseitiger Mißbrauch vor und ›gemeinsames‹ Leben tendierte auf Läsion von Lebensbefähigung. Doch der Tod übersteigt alle sonst praktizierte Intimität. Die vollendete Intimität mit dem Anderen spricht aus der Gewißheit einander zu sterben. Sie entdeckt sich genau nicht als absolute Schamlosigkeit. In dieser Intimität halten sich vielmehr der Eine und Andere immer auch voreinander bedeckt, zeigen sie gegenseitiges Erschrekken, so daß sie ihre Scham und Scheu teilen. Das Verhältnis zum Tod des Anderen und zum eigenen Tod gehört dabei gleicherweise in die Intimität des Einander, d. h.: der eigene Tod und der Tod des Anderen sind von gleicher Intimität. Das Verhältnis zum eigenen Tod öffnet sich dem Anderen, so daß er in das Verhältnis des Anderen zu seinem eigenen Tod eingeht. Wer sich auf seinen eigenen Tod einläßt, hat die Anderen mit ihrem eigenen Tod schon zugelassen. Der eigene Tod wäre kein Halt, trüge ihn nicht der Tod der Anderen mitwisserschaftlich mit, der Tod, der lebenden Anderen gewiß oder der bei ihnen eingetreten ist. Weder hat das Verhältnis zum eigenen Tod einen Vorrang vor dem Verhältnis zum Tod des Anderen noch umgekehrt. Es ist auch nicht sinnvoll zu sagen, der eigene Tod sei mit dem des Anderen ranggleich. Sie gehören in der mitwisserschaftlichen Gewißheit des einander Sterbens einfach zusammen. In seiner lebensbefähigenden ›zweiten Endlichkeit‹ braucht der Mensch den einen Tod wie den anderen. 133 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Das Teilen von Leben und Tod

Alles, was mein und mir eigen ist, verlangt als solches Selbstvergewisserung und Selbstgewißheit. Am eigenen Tod zeigt sich, wie das Meine und mir Eigene in seiner Gewißheit allein kraft Mitwisserschaft Gegenwart erlangt. Diese Nähe des Todes des Anderen, die der des eigenen gleichkommt, erfordert nicht, daß wir an zwischenmenschliche Ausnahmeverhältnisse denken, etwa an Kampf- und Todesfreundschaften der Spartiaten, die als erotische Männerfreundschaften nicht nur bis in den Tod versprochen, sondern überhaupt auf den Tod abgestimmt waren. Jede glückende menschliche Zugehörigkeit zueinander, jede Liebes- und Lebensgemeinschaft, jede Lebens- und Handlungsgemeinschaft, jede lebenspraktisch belangvolle Zeitgenossenschaft ist auf der Mitwisserschaft des Todes gegründet. Tritt der Tod des Anderen ein, stirbt er mir, dann erfüllt sich die Mitwisserschaft des Todes als unüberholbare Intimität. Den eingetretenen Tod des Anderen als empirischen Beleg für die theoretische Gewißheit des Todes und der menschlichen Sterblichkeit zu nehmen, ist eine Sache. Eine andere aber ist es, den Tod des Anderen aus der praktischen Mitwisserschaft des Todes als Garanten eigener Endlichkeit zu erfahren. Die Intimität des eigenen Todes ist von der Intimität des Todes des Anderen nicht zu trennen. Alle lebenspraktischen und mitwisserschaftlichen Gewißheiten des Menschen gründen auf der Gewißheit des Todes. Der Tod als der andere Andere vermag zwar nicht den Anderen zu kompensieren, aber er ist es, der jedem menschlichen Einander erst seinen Halt gibt. Wer in der praktischen Gewißheit des einander Liebens an der Intimität des Todes vorbeigeht, versieht sich bereits am Lieben. Liebe hat nur Halt, wenn sie in den Tod versprochen wird und in der Gewißheit des einander Sterbens ihrer selbst gewiß ist. Dasselbe gilt für das öffentliche Gebrauchtsein. Wäre es als endlos vorgesehen, könnte es nicht zu sich selbst finden. Deutlich gibt auch die Gewißheit Zeit zu haben und im einander Zeitlassen und Teilen von Vergangenheit und Zukunft zu erkennen, wie es die 134 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Der ›eigene‹ Tod

Intimität des Todes ist, des eigenen und des Todes des Anderen, die das praktische Zeitverhalten von Grund auf beherrscht. Der Chronos des Todes als die hora incerta macht den Tod niemals äußerlich. Stets ist sein Chronos mit dem Kairos menschlichen Einanders verknüpft – im Äußersten mit dem Kairos des einander Sterbens. Die Frage, inwieweit das Bewußtsein eigener Identität mit dem Todesbewußtsein verbunden ist, tritt überhaupt noch nicht in die Diskussion menschlicher Lebenspraxis ein. Die theoretische Selbstgewißheit in ihrer solipsistischen Sicht zielt allein auf die zeitliche Existenz des seiner selbst Gewissen: Solange ich denke, bin ich mir ebensolange gewiß, daß ich ein Denkender bin. Die praktischen Selbstgewißheiten des geteilten Lebens zielen auf das Einander. In ihnen versichert sich ein Mensch mit Anderen nicht weniger seines fruchtbaren Lebens als seines fruchtbaren Todes.

7. Der ›eigene‹ Tod Dem Menschen den Tod allein durch das Verhältnis zum signifikant Anderen in doppelter Gestalt finden zu lassen, bedeutet nicht, ihm den Tod selbst zu nehmen und zu entfremden. Im Gegenteil. Das Verständnis des Todes als des anderen Anderen erschließt sich aus dem Gedanken des eigenen Todes. Menschliche Eigenheit braucht, um sich nicht zu verlieren, in jedem ihrer Momente Endlichkeit. Die aber wird ihr allein durch den Anderen im Verein mit dem Tod gewährt. Die Rede vom ›eigenen Tod‹ ist reich besetzt, die Differenz des Gemeinten nicht gering. Auffassungen, wie einer zu sterben hat, um eigenen Todes zu sein, und als was, vermengen sich. Das Einander des Todes ist in ihnen generell ausgeblendet.

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Das Teilen von Leben und Tod

7.1 Wie der Mensch stirbt Die Frage des eigenen Todes ist vordergründig die einer Perspektive. Ob sein Gelingen am Wie der Agonie oder des bloßen Übergangs vom Leben zum Tod festgemacht wird, hängt davon ab, wer daran Interesse bekundet: Medizin, Theologie, Biologie oder wer sonst für sich menschlich allgemeines Interesse zu vertreten beansprucht. Drei Vorschläge sind es, die der Gegenrede bedürfen: der eigene Tod als der freie, als der individuelle und als der bedeutungsvolle. Wer den eigenen Tod als das Recht auf ihn einklagt, gibt zu erkennen, daß er für ihn keine Selbstverständlichkeit (mehr) ist. Eigener Tod und eigenes Leben – das sind zunächst einmal Ansprüche. Das Recht auf eigenen Tod wird aus dem Recht auf Selbstverwirklichung abegeleitet. 19 Leben und Tod, sofern sie als ›eigen‹ gelingen, werden als Momente menschlicher Selbstbestimmung, Selbstgestaltung und Selbstverwirklichung angesehen. Eigener Tod als wirklich freier, vom menschlichen ›Selbst‹ selber gestalteter – das macht ihn nach allem, was über menschlichen Tod einst und jetzt in Erfahrung zu bringen ist, rar, vielleicht ebenso rar wie den natürlichen Tod. Jeder unfreie und unfreiwillige Tod, jeder befremdende und fremdverfügte wäre kein eigener mehr, wobei noch offen ist, wo der Akzent des Freien und Unfreien gesetzt wird – im Geistigen, Geistlichen, Psychosomatischen oder Somatischen, ob die Umstände des zu Tode Kommens im Vordergrund stehen oder die Gerüstetheit für den Ausgang aus dem Leben. Doch das Mißverständnis des Eigenen liegt bereits im Ansatz begründet. Wer im Erleiden des Todes Menschen um den eigenen Tod

H. Schott, Eros und Thanatos. Spekulationen über Tod und Sterben in der Medizin, in: J. Geyer-Kordesch u. a., Hrsg., Leiden, Sterben und Tod, Münster o. J., S. 73.

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Der ›eigene‹ Tod

gebracht sieht, mag es gut mit ihnen meinen, versieht sich aber an ihrem lebenspraktischen Interesse. Der eigene Tod ist keine Frage der unmittelbaren Ursachen und Umstände des eintretenden Todes, der Agonie, der letzten Stunde und Minute. Epidemisches Massensterben im 14. Jahrhundert, Massensterben in den von Erich von Falkenhayn angestifteten Massakern bei Langemarck und vor Verdun, Massensterben bei Schiffsuntergängen, Flugzeugabstürzen und Vulkanausbrüchen spricht nicht gegen die Möglichkeit eines eigenen Todes. Ein schrecklicher fremdverfügter Tod widerruft nicht schon ein gelungenes, in seiner Endlichkeit gefestigtes Leben. Von denen, die auf der Höhe 303 tödlich zerfetzt und unidentifiziert begraben worden sind, steht nicht eo ipso fest, daß sie keinen eigenen Tod gefunden hätten. Nicht die ›schöne‹ Agonie, kein dem Tod ›Präsidieren‹ in der Abschiedsrunde machen den Tod zu einem eigenen, sondern das lebensteilige Leben, sofern es darüber entscheidet, daß Einer dem Anderen stirbt, Einer den Anderen im Tod freigibt, Einer wie der Andere den Tod im Leben zu brauchen versteht – als Garant lebensbefähigender Endlichkeit. Wer einem Anderen stirbt, hat seinen eigenen Tod gefunden. Das Eigene und Freie des Menschen bestimmt sich je aus dem Verhältnis des Einen zum Anderen, nicht aber daraus, was einer selber mit sich selbst anzufangen versteht. Haben Mediziner mit sich selbst und ihrer prinzipiell todesfeindlichen Praxis Probleme, machen sie sich deswegen Gedanken, ob Menschen auf Intensivstationen nicht das Recht auf ihren eigenen Tod genommen werde, dann sprechen sie Fragen der ›Humanisierung‹ des ›Ringens mit dem Tod‹ an, vertreten sie das ›Recht auf eigene Agonie‹, haben aber nicht menschlichen Tod im Sinn, wie er lebensteiliges Leben prägt. Nicht allein im Grauen massenhaften Geschehens scheint einem der eigene Tod, wie er als frei verwirklichter gemeint ist, vergehen zu können, sondern auch einfach im Tod als gemeinsam Menschlichem. Wer dann noch einen ›eigenen‹ Tod haben 137 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Das Teilen von Leben und Tod

möchte, müßte die allgemeine Solidarität der Sterblichen und geschichtlich herausgebildete besondere Solidaritäten angesichts des eintretenden Todes aufkündigen, um Individualistisches zum Zuge kommen zu lassen. Mönche des 9. Jahrhunderts haben sich aus Angst vor dem einsamen Tod um Fürsprecher im Jenseits gesorgt und eine weltweite Verbrüderung der Sterblichen und Heiligen zuwegezubringen gesucht. 20 Noch bis ins 20. Jahrhundert wacht der Herr am Sterbelager seines Knechtes, um ihm bis zum letzten die Fürsorge zu bezeugen. 21 Wer nicht allein und einsam zu sterben hat, scheint nicht den eigenen Tod zu sterben, nicht sterben zu können, nicht sterben zu müssen: er stirbt, wie es aussieht, als Glied der irdischen Menschengemeinde, als Glied einer ›großen‹ Familie (die nicht um das Leben Einzelner, sondern um die Familie besorgt ist), nicht aber als – autonomes – Individuum. Das ergänzt sich: am liebsten in der Agonie noch seiner Selbstverwirklichung zuarbeiten und als Sterbender, obwohl das Geschick alles Lebendigen erleidend, doch etwas ganz Besonderes, genauer: unverwechselbare Person sein. Beidemale ist der reklamierte eigene Tod dem für eigenes Leben und Sterben bedeutsamen Einander entzogen, so daß ›Eigenes‹ praktisch ins Leere läuft. Der eigene Tod als der auch ›in letzter Minute‹ noch frei gestaltete, als der individuelle, der nicht in allgemeine menschliche Sterblichkeit, in kein Massenschicksal aufgehoben, durch keine Fremdeinwirkung gefährdet ist – das sind nicht schon alle Versuche, den Begriff des eigenen Todes zu besetzen und menschliches Einander zu überspielen. Der Historiker Arno Borst bringt anläßlich der Diskussion der Möglichkeit oder Unmöglichkeit des eigenen Todes in historischer Sicht die Unterscheidung zwischen »bedeutsamem« und »bedeutungs20 21

A. Borst, Zwei mittelalterliche Sterbefälle, in: Merkur 1980, S. 1089. J. d’Ormesson, Au plaisir de dieu, Paris 1975, S. 30.

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Der ›eigene‹ Tod

losem« Tod ins Spiel. Tod ist für ihn bedeutsam, wenn das Sterben als Krise erfahren wird, sich also zwischen Lebendigund Totsein ›Welten‹ auftun. Er ist bedeutungslos, wenn es einem Menschen als hervorragendem Individuum oder als Glied einer Gruppe nichts ausmacht zu sterben, weil die Sache gewißlich weitergehe – nicht das Leben, wohl aber der Geist. 22 Der Tod als Zäsur: das sei das gut oder schlecht geführte Leben – es folgen Himmel oder Hölle. Der Tod ohne Zäsur: das sei das geistig geführte Leben, das seinen Geist weiterzugeben versteht an die nächste Generation und gar noch darauf hoffen darf, nach dem Tod als Geist selbst auf Verwandtes zu treffen. Der Tod mit Zäsur soll der eigene Tod sein, der ohne Zäsur der gegenüber dem Eingenen des Menschen indifferente. Fazit: wer mit sich, seinem Leben und seinem Tod zurechtkommt, hat keinen eigenen Tod; wer aber einsozialisierte Lebensschuld und Todesangst bei sich großzieht, hat ihn. Das ist eine absonderliche Ideologisierung menschlicher Eigenheit. Fürchten Mönche um ihr Seelenheil, dann ist ihnen durch ihr realistisches Verständnis von Mythen der eigene Tod eher genommen. Mit ihrem gewissen Tod sind sie der Vergewaltigung durch unverfügbare geistige Mächte ausgesetzt. Weder können sie sich selber zu ihrer Sterblichkeit bekennen, noch verstehen sie es, sie Überlebende zu bejahen, da sie in deren (Weiter-) Leben nur wieder Anhäufen von Schuld für die Zeit des Totseins sehen. Die Eigenheit des Todes liegt nicht an seiner Aufdringlichkeit, ebensowenig an der ideologischen Aufladung des gelebten Lebens mit Bedeutung für die ›Zeit‹ nach dem Tode. Wenn dagegen jemand, Boccaccio z. B., mit seinem Tod gut zurechtkommt, weil er seine Sache als Geist über das eigene Leben hinaus gut bestellt zu haben meint, so daß für ihn der Tod so groß keinen Unterschied mehr bedeutet, dann hat er damit nicht notwendig den eigenen Tod überspielt. Er hat ihm doch gerade zeitlebens besondere Bedeutung bei22

A. Borst, Zwei mittelalterliche Sterbefälle, S. 1089; 1096.

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Das Teilen von Leben und Tod

gemessen, hat auf ihn hin seine Arbeit ausgerichtet, damit sie mit dem Tod nicht zuschanden werde, hat das Ende der eigenen Arbeit akzeptiert, um nachfolgenden Geistern auf Erden eine neue Chance zu geben, zumal denen, die ihn bewahren und seine Sache fortsetzen. Eine aktuelle Variante, den Tod für bedeutungslos zu erklären und ihn damit als eigenen zu problematisieren, scheint die Evolutionstheorie bereitzuhalten. Im Lichte monistischer Theorien der Soziobiologie hat menschliches Leben keinen Sinn für sich selbst, sondern allein als Moment eines Entwicklungsganges bzw. eines Systems, in dem es eine ganz bestimmte Funktion erfüllt: Gene von einem Leben zum anderen zu vermitteln. Dient aber Leben allein der Gen-Transmission (und auch Gen-Maximierung), geht es ›im Leben‹ allein um die Erhaltung der eigenen genetischen Information, dann ergeht es dem Tod nicht anders. Evolution braucht, wie gesagt, den Tod. Doch das ist schlicht eine Frage der Perspektive. 23 Der eigene Tod liegt außerhalb der (sozio-) biologischen, aus der sich weder Argumente für noch gegen ihn ergeben.

7.2 Als was der Mensch stirbt Plädoyers für eigenen und nicht-eigenen Tod geben bereits zu verstehen, als was der Mensch zu sterben hat, zu sterben hätte: als frei wirkendes Individuum, als leidendes Glied einer Gemeinschaft. Allein schon diese Divergenz gibt Anlaß, die Frage, als was der Mensch eigentlich stirbt, neu zu überdenken. Das Eigene des Todes, das sich menschlichem Einander Siehe dagegen P. Koslowski, Evolution und Gesellschaft, Tübingen 1984, über E. O. Wilson, On Human Natur, Cambridge, Mass., 1978, der durch die biologische Perspektive menschliche Personalität, Subjektivität und christlichen Glauben bedroht sieht.

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Der ›eigene‹ Tod

verdankt, hat weder Züge des Individuellen noch des Wesensallgemeinen. Ist es das Individuum als solches, das auf seinem eigenen Tod besteht, dann wendet es sich nicht nur dagegen, in ›allgemeinen‹ blutigen Gemetzeln zugrundezugehen; es möchte, sterbend, ebensowenig in allgemeines Wesensschicksal oder in eine Bluts- und Fürsorgegemeinschaft eingeschlossen sein, da es sich in keiner Weise als Glied, Teil, Moment eines Umfassenden zu verstehen wünscht. Hätte es sich jedoch nicht so sehr auf die Ideologie autonomer Einzigartigkeit versteift, sondern beachtet, wie es menschlichem Einander zugehört, wäre ihm die Erkenntnis nicht entgangen, daß es allgemeinmenschliches Sterben in praxi gar nicht gibt (ebensowenig wie individuelles), seine Sorge eine bloße Kopfgeburt ist. Menschen, wie sie selbst und einander sterben, sterben nicht als Menschen, sind nicht als Menschen tot. Auf Menschenfriedhöfen lesen wir von Kindern, Gattinnen, Soldaten, daß sie ›in Frieden ruhen‹, nicht von Menschen. Philosophie hat die Menschen darin nicht irrezumachen vermocht, sich je besonders zu verstehen, und kein schlechthin allgemeines Wesen für sich in Betracht zu ziehen. Praktisch geurteilt gibt es kein ›Wesen‹, demzufolge Menschen vernünftig, sterblich oder sonst etwas wären bzw. zu sein hätten. Wenn Menschen etwas ›wesenhaft‹ zukommen soll, dann sind es ›Spezialitäten‹, durch die sie sich einander gleichen und voneinander unterscheiden. Sie allein sind es, die uns einander als Menschen entdecken und anerkennen lassen. Zu diesen Spezialitäten gehören die verschiedenen Lebensalter, Gesundheitszustände, Gesellschaftsstände, Geschlechter, Nationalitäten, Geschichtszeiten (Zeitgenossenschaften). Die ›speziellen‹ Lebensverhältnisse bringen es mit sich, daß einer Mutter ihr Kind stirbt, einem Freund der Freund, und, wie es zu Zeiten war und vielleicht auch irgendwo noch ist, einem Bauern sein Knecht, einem Land sein Herrscher. Todesanzeigen halten als Todesspezialitäten fest: »im blühenden Alter«, »im gesegneten Alter«, »nach langer Krankheit«, 141 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Das Teilen von Leben und Tod

»plötzlich und unerwartet«, »wohlvorbereitet«, »lebenssatt«. Biographien berichten vom Tode »in Armut«, »in völliger Verlassenheit«. Nachrufe beschwören den Tod eines »echten Demokraten«, eines »großen Geistes«, einer »tapferen Frau«. Das alles benennt das Als menschlichen Sterbens (und Totseins), prägt den eigenen Tod als solchen. Wer einen eigenen Tod stirbt, ist als der, der stirbt, ein Kind, eine Frau, ein Kranker, ein Feudalherr, ein Katholik – ggf. kann mehreres zutreffen und von Überlebenden unterschiedlich gewichtet werden. Ist wirklich einmal zu hören, jemand sei »als Mensch« gestorben, dann wird in der Regel emphatisch zu verstehen gegeben, jemand habe unter unmenschlichen Bedingungen im Tode ›die Würde des Menschen‹ bewahrt. Um ›als Mensch‹ zu sterben, muß man schon einem Unmenschen sterben – ein Einander, das hier nicht gefragt ist. Nun gibt es immer wieder Zeiten und Sichten, in denen sich vielfältig Besonderes zum einheitlich Allgemeinen verklärt. Die imperiale Pax augusta führt dazu, daß ein Reich sich nicht mehr als eines unter anderen, sondern – allgemein – als Reich des Menschen versteht. Man kann es sich erlauben und glaubt es der ›Menschlichkeit‹ zu schulden, das Los der Sklaven zu verbessern, in ihnen Menschen zu entdecken und sich, soweit vertretbar, mit ihnen gemein zu machen. Christen wieder kommen dazu, in sich – allgemein – den Menschen in seiner Kreatürlichkeit und Gottesebenbildlichkeit zu sehen, so daß sie sich angesichts göttlicher Dreifaltigkeit nicht eingeschränkt als Christen unter anderen Gläubigen, sondern schlicht als Menschen verstehen. Als Mensch der Pax augusta anzugehören, Christ zu sein – Menschheitsideen dieser Art verdankt sich die Ideologie, kommt es für Menschen zum Tod, daß sie als Menschen stürben. Doch das sind eher historische Fragen. Philosophisch dagegen ist die Idee, der Mensch habe ein Wesen, Menschen bestimmten sich als solche nicht aus ihren eigenheitlichen Differenzen wie Jung und Alt, Mann und Frau, sondern aus 142 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Der ›eigene‹ Tod

der einen allgemeinen ununterschiedenen Eigenheit. Für die aber steht seit alters die Vernunft. Die Frage des ›eigenen‹ Todes wird damit zu einer Frage der einzigartigen Eigenheit des Menschen: der Vernunft. Der eigene Tod ermißt sich dann als solcher daraus, wie es dieser Eigenheit beim Tode eines Menschen ergeht, wie sie sich selbst zum Leben, Sterben und Tod verhält. In traditioneller philosophischer Wesenssicht wird der Mensch als Vernunftwesen erkannt, dem sein Wesen aufgegeben ist. Darum sei der Mensch keine unkündbare Selbstidentität. Er müsse vielmehr in seinem Wesen zu seinem Wesen frei sein. In dieser Wesenssicht gehören Vernunft und Freiheit zusammen. Der Mensch, der im rechten Freiheitsgebrauch seiner Wesensaufgabe gerecht werde, handle und erkenne vernünftig, sei sich zugleich seines vernünftigen Erkennens und Handelns bewußt. Weil aber Bewußtsein nicht zum geringsten Todesbewußtsein ist, wird theoretische und praktische Vernunft zum maßgeblichen Vermögen, sich auf rechte Art des eigenen Lebens und eigenen Todes anzunehmen. In traditioneller philosophischer Sicht dient dabei Vernunft nicht dem Leben und Sterben; sie verfolgt vielmehr, da sie ja selbst der eigentliche Mensch ist, ihr eigenes Interesse: ihre Selbsterhaltung, die darauf basiert, in keinem der durch sie bestimmten Verhältnisse einen Widerspruch zuzulassen bzw. gelten zu lassen. Regieren Vernunft und vernünftige Freiheit als Wesen des Menschen eigenes Leben und eigenen Tod, dann stellt eigenes Leben als solches die Aufgabe, es vernünftig zu führen, um es als gelebtes rechtfertigen zu können. Als vernünftiges wird es damit für die usurpatorisch sinngebende Vernunft zum Selbstzweck. Der eigene Tod dagegen stellt in vernünftiger Sicht schlicht die Aufgabe, ihn hinauszuzögern. So tritt für das eigene Leben die sinngebende, gegen den eigenen Tod aber die instrumentelle Vernunft auf (falls man nicht, altvordern, sich als Vernunft am Tod vorbei in Todlosigkeit zu retten hofft). Als das dem Menschen eigene Wesen (ἰδία οὐσία, οἰκεῖα οὐσία) bestimm143 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Das Teilen von Leben und Tod

te Vernunft, was es je mit dem eigenen Leben und eigenen Tod für den Menschen auf sich hat. Jede Beurteilung menschlichen Lebens, Sterbens und Totseins, die sich – ausdrücklich oder insgeheim – auf die Interessen der Vernunft beruft, ist inakzeptabel. In philosophischer Vernunftsicht, die den Menschen verengt im Einzelnen erkennt, weil sie an ihm das schlechthin Allgemeine verifiziert, sieht sich die menschliche Person als vernünftigen Selbstzweck und d. h. als Selbstzweck der Vernunft an. Rücksicht auf andere, die sich hierbei einstellt, ist niemals lebenspraktischer Art, sondern meint das Universum der Vernunft, das aus nichts anderem als vernünftigen Wesen besteht, die untereinander ohne jede Differenz sind. Dabei ist Selbstzweck als reines Vernunfturteil völlig unpassend für menschliches Leben. Die Vernunft beweist das selber dadurch, daß sie sich in diesem ›Lebens‹-urteil selbst als alleiniger Selbstzweck setzt: als vernünftiges Leben, das sich als Leben der Vernunft versteht. Diese Beurteilung des Lebens ist nicht lebensfremd, sondern lebensfeindlich. Eigenes Leben läßt sich allein durch sein gemeinschaftliches Gelingen ›rechtfertigen‹, niemals aber durch Vernunft. Doch nicht nur die sinngebende Vernunft ist hier fehl am Platze, sondern auch die ihr gehorchende instrumentelle. Ob nämlich Vernunft allein zugunsten eines langen vernünftigen Lebens den Tod verzögern möchte oder aber am liebsten herbeiführen, weil sie dann endlich mit dem Wesen des Menschen für sich alleine wäre (man erinnere nur Platons Phaidon), beidemale herrschte typische Philosophie der einen Person, die dem Menschen in seinem einander Brauchen und ›Genießen‹ in nichts gerecht wird. Ein Mensch, der stirbt und seinen eigenen Tod findet, stirbt nicht als Mensch. Das liegt daran, daß Menschsein keine Eigenheit von Menschen ist. Zwar sind nur Menschen eben Menschen, aber an diesem Sein ist nichts ›Wesenhaftes‹, wie es eine alte Tradition wahrhaben möchte. Die hatte es darauf abgesehen, an einer für möglich erachteten reinen und gleich144 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Der ›eigene‹ Tod

artigen Geistigkeit den Menschen zu erkennen – blind für die reiche Verschiedenartigkeit lebensteilig gelebten Lebens. Nicht nur Vernunftadvokaten haben sich dabei an der wirklichen Eigenheit je eines menschlichen Todes versehen. Martin Heidegger kündigt das alte »aus Erde zu Erde« auf, das als Anfangs- und Endgeschick allem Lebendigen gleicherweise zugedacht ist 24 , und benennt das eine einheitlich prägende Wesen des Menschen mit Sterblichkeit: Nur der Mensch stirbt. Das Tier verendet. 25

Einheitssichten der Vernünftigkeit und Sterblichkeit, die mit ihrem Blick allein zwischen schlechtin Allgemeinem und Individuellem hin und her zu pendeln wissen, versehen sich an dem praktizierten Reichtum menschlicher Eigenheit vor allem deshalb, weil sie ihr lebens-, gesellschafts- und geistesgeschichtliches Zeitdenken ausschließlich am Chronos orientieren. Als was der Mensch stirbt, bestimmt sich aber vorzüglich aus dem Kairos und der Vielfalt der Zeiten, nicht aus der einen Zeit. Der Mensch in seinem lebensteiligen Leben und Handeln ist eigenheitlich nicht durch seine ›endliche‹ Stellung in der Zeit geprägt, sondern durch Zeitlichkeit als jeweiliges An-derZeit-sein (ἔγκαιρος, opportunus atque idoneus), durch je ›meine‹ und ›unsere‹ Zeit. 26 Seinem praktisch-selbsthaften ›Wesen‹ nach ist der Mensch durch menschliches Einander bestimmt, und eben dies hat, in der Vielfalt des Eigenheitlichen, je, zum Guten oder Schlechten, seinen Kairos. Alle Philosophie der einen Person und einen Existenz verkennt die Zeitart des eigenheitlich Menschlichen: das zeitlich Günstige und Ungünstige im Einander. Sie kennt nur den – ggf. ins Immer und Ewig verlängerten – Chronos. Jede Eigenheit, die den Men24 25 26

Genesis 3, 19. M. Heidegger, Das Ding, S. 177. Siehe schon Aristoteles, Nikomachische Ethik III 1 1110a 14.

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Das Teilen von Leben und Tod

schen in einem speziellen Als des eigenen Lebens und eigenen Todes fähig ausweist, ist eine Kairosgestalt des Menschen. Um gegen die irreführenden Einheitstendenzen traditioneller Wesensphilosophie die Spur des menschlich Eigenheitlichen zu verfolgen, müssen wir die Vorstellung vom menschlichen Individuum als einem chronisch-substantiellen und chronisch-existenten Wesen verabschieden und uns den prinzipiell geselligen Kairosgestalten zuwenden. Frau – das ist eine Kairosgestalt des Menschen, ebenso Kind, Schüler, Kranker, Armer, selbst Maler, Polizist, Großbürger, Holländer. Allenfalls Wesensutopisten, die eine ganz neue Menschenwelt gutund die ›alte‹ schlechtheißen, meinen von einem Kairos des rein und einheitlich Menschlichen zu wissen. Die – kairosbestimmte – Eigenheitlichkeit des Menschen mit der Eigenheitlichkeit seines Todes zusammenzubringen, verlangt von uns nicht, Belege für Frauen-, Maler- und Holländertod als Todesspezialitäten beizubringen. Zweifellos stellt die Typisierung des Todes eine Versuchung dar. Platons gottfrommer reicher Alter 27 gibt zu bedenken, ob es nicht etwas wesentlich anderes ist, in Not, Armut und Bitterkeit als in Reichtum und Selbstzufriedenheit wohlbestellter Dinge zu sterben. Wir denken an den epidemischen Tod, den Krebstod. Rainer Maria Rilke, betroffen vom Tod der Malerin Paula Bekker-Modersohn, bringt uns den – einst so häufigen – Tod der Wöchnerinnen nahe 28 : altmodisch starbst du in dem warmen Hause den Tod der Wöchnerinnen, welche wieder sich schließen wollen und es nicht mehr können.

Der Pädiater Carl Bennholdt-Thomsen berichtet von todesgewissen Kindern, die ihre Eltern wegschicken, weil sie nicht mehr helfen können, ganz so, als hätten sie von ihnen eigent27 28

Politeia I. R. M. Rilke, Requiem. Für eine Freundin.

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lich Schutz und Hilfe gegen den Tod zu erwarten. 29 Vom Tod des Reichen, des Kranken, der Frau, des Kindes ist es dann nur noch ein Schritt zu Gretchen, wenn sie in Goethes Faust als Kindesmörderin, und zu Faust, wenn er da blind vor den Lemuren als Teufelspaktierer zu Tode kommt. Das alles könnte in der Tat dazu verführen, eine Typologie des Todes zu entwerfen, die einer sich dem Individuum annäherenden Ausdifferenzierung offenstünde. Immer wieder können wir uns ja fragen, ob die Unterschiede der Lebensstellungen und Lebensumstände des Sterbenden nicht den Tod als Tod verschieden machen. So sterben, wie es scheint, selbst Todesunwillige nicht eines Todes, wenn etwa ein Mädchen erst noch Mutter, ein Alter dagegen mit gelebtem Leben es immer erst noch vollenden wollte. Die gleiche Frage, ob davon nicht der Tod als Tod betroffen ist, gilt dem sanften und qualvollen, dem Tod ›fürs Vaterland‹ und dem in der Gaskammer. Doch jede Typisierung ist für das Verständnis des eigenen Todes irrelevant. Soweit in ›typischen‹ Toden menschliche Eigenheiten verselbständigt sind, treffen sie genau nicht das, was den eigenen Tod aus menschlichem Einander seine Bestimmung finden läßt. Die Kairosgestalten des Menschen repräsentieren nur darum die Möglichkeiten eigenen Todes, weil sie sich aus dem menschlichen Einander verstehen: einem Mann stirbt seine Frau, ein Maler stirbt einer Kunstöffentlichkeit, ein Holländer seinem Land. (Bei fernen Flugzeugabstürzen wird ja oft als erstes gefragt, ob dem eigenen Land ein – eigener – Landsmann zu Tode gekommen sei.) Der eigene Tod gehört dem Einander. Es gibt keinen typischen Menschentod. Ein Mensch, der einem Anderen sterbend als Mensch käme, wäre unbrauchbar und ›ungenießbar‹. ›Der Mensch‹ ist eine Reflexionsgestalt C. G. Bennholdt-Thomsen, Sterben und Tod des Kindes, in: ders., Das gefährdete Kind. Sein Lebensraum in der Massengesellschaft, München 1973, S. 122.

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und keine lebenspraktische Größe. Die Kairosgestalten, in denen Menschen eigenheitlich einander begegnen, sind die Voraussetzung, daß Menschen einander als Menschen reflektieren und erkennen. ›Der Mensch‹ ist die Chance, sich in der Gleichheit und Verschiedenheit des je Eigenen und An-der-Zeit- seienden als Gemeinsames zu begreifen. Damit aber wird Gemeinsames nicht zur einigen und gar einzigen Eigenheit. Das reflektierte Gemeinsame bleibt das praktische Einander: in ihm lebt und handelt menschliche Eigenheit als mannigfaltige, die, je nach den Verhältnissen, Gleiches oder Ungleiches hervorkehrt. Nicht Gott, Tier und Maschine sind es, nicht der ›neue‹, ›noch nicht‹ erreichte Mensch, der Menschen einen brauchbaren Begriff ihrer selbst als Menschen vermittelt, sondern der eigenheitlich Eine und Andere. Jung und Alt, Gesund und Krank, Mann und Frau, Deutscher und Holländer, Künstler und Großbürger – das ist sich fremd genug, um in der Reflexion Gemeinsames entdecken zu lassen, nämlich das Gemeinsame, der Eine und der Andere zu sein, die sich einander beenden und Halt geben. Genau das ist menschlich: als der Eine und Andere zu leben und zu handeln. Das groß Befremdliche und Fremde außerhalb des Menschlichen braucht es nicht, damit der Mensch sich als Mensch begreift. Wo er dennoch davon Gebauch macht und ihm gegenüber ein Menschenwesen erfindet, hat er sich auch schon in seiner Eigenheitlichkeit verfehlt. Wie der Tod nicht menschenweit typisch gleich ist, so macht er auch nicht gleich, ist er kein wesensgleiches Schicksal. Freilich sterben alle Menschen: Arme und Reiche, Gesunde und Kranke, Junge und Alte, Lebenshungrige und Lebenssatte, Verzweifelte und Hoffende, Moralisten und Libertins, Demütige und Stolze. Tod scheint unter Menschen wahrlich keinen Unterschied zu kennen – nicht für die, denen er kommt, nicht für das, was er ist. Doch dieser Anschein beleuchtet nicht die gefragte Sache: den eigenen Tod. Daß Leben insgesamt mit Tod 148 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Der ›eigene‹ Tod

›bezahlt‹ wird, ist eine Sicht, die sich nur außerhalb der Perspektive bietet, in der eigener Tod sich zeigt. Der eigene Tod, wie er nicht wesens-›eigen‹ und d. h. wesensallgemein ist, gehört ebensowenig dem Einzelnen in seiner Vereinzelung. Wie niemandem, streng genommen, ein Mensch stirbt, so auch kein Paul und keine Paula. Daß, als Faktum notiert, jeder Tod einmalig ist, und, individuell notiert, jeder Mensch seinem Tod als einmalig eigenem begegnet, wird damit nicht bezweifelt. Objektive Befunde und subjektive Erfahrung menschlicher Individualität haben ihre Wahrheit. Der Mensch, der stirbt und dabei seinen eigenen Tod findet, ist dennoch eigenheitlich-lebensteilig bestimmt. Das Kind, das seinen ›eigenen‹ Tod hat, stirbt als der Eine eines menschlichen Einanders. Das Recht des Kindes auf einen eigenen Tod, wie es der Pädagoge Janusz Korczack einklagt, beruht auf dem besonderen und eben wirklichen Menschsein des Kindes. Weil Kinder im Unterschied zu Erwachsenen und im Verein mit ihnen Menschen sind, nicht mehr und nicht weniger als diese, haben sie auch eigene ›Menschenrechte‹ : Recht auf eigenen Tod, auf eigenes Geld. Doch wie das Taschengeld nicht als Geldform verselbständigt zu typisieren, sondern aus dem Einander des Geldbesitzes und Geldgebrauchs zu verstehen ist, so auch der ›Kindertod‹. Stirbt Paula als Kind, dann stirbt sie nicht den Paulatod, auch nicht den ›typischen‹ Kindertod, der aus dem reinen An-und-für-sich des Kindes zu begreifen gesucht würde. Stirbt Paula als Kind, dann ist dies das prägende Als des eigenen Todes – verstanden aus dem Einander. Stirbt jemandem ›seine Paula‹, dann sagt das ›seine‹ (›meine‹) schon das Einander an. Aber Paula ist keine Eigenheit. Paula als Paula taugt zu keinem Einander. Und so ist denn in ›meine Paula‹ auch schon mitgesagt: ›meine kleine Paula‹, ›mein Kind Paula‹ – die Eigenheit ist konnotiert. Als Kind zu sterben, selbst zu Zeiten und in Gegenden, da es das übliche Schicksal war und ist, darf nicht zu einer Art eigenen Todes verselbständigt werden. Wer typisch stürbe, 149 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Das Teilen von Leben und Tod

könnte nur allgemein sterben, das Eigene und das Einander des Todes wären ausgeblendet. Doch es ist ja Paula selbst, die stirbt. Das Eigene des Menschen als sein Reichtum des Besonderen im gleichen und ungleichen Einander ist nie ohne den Einen und Anderen und d. h. nie ohne den Einzelnen. Allerdings ist es nie mit dem Einzelnen, der – abstrakt – in reiner Einzelnheit zu begreifen gesucht wird. Es ist nicht das Eigene einer Substanz oder einer vereinzelten Existenz. Wie es, aller Sozialität beraubt, keine Sprache gibt, so auch kein Sterben, keinen eigenen Tod. Dazu gehören allemal Zwei und Drei, Gruppen und Gemeinschaften, Gesellschaft und Geschichte. Das befreit nicht davon, je im Tod selbst gemeint zu sein. Doch angesichts des eigenen Todes verlangt es das Selbst nicht nach der Verschwiegenheit autistischer Existenz. Seiner Genese nach ist es lebensteilig und so bewährt es sich auch – zuletzt im eigenen Tod. Stirbt Paula als Kind, dann stirbt sie als Mädchen, als Tochter, ggf. als krankes Kind, einziges Kind, Kind armer Eltern, als Freundin. Menschlichen Eigenheiten, die in das Eigene eines Todes eingehen können, sind da nicht so leicht Grenzen gesetzt. Die bestehen nur, unüberwindlich, zum schlechthin Allgemeinen und Individuellen. Es bleibt dabei: als Mensch zu sterben und zuvor zu leben, das ist ein Stückchen zu hoch, als Einzelwesen zu sterben und zuvor zu leben, zu kurz, und beidemale ins Leere gegriffen. Zum Menschsein gehören gleiche und unterschiedliche Besonderheit, gehört die Zeitlichkeit des An-der-Zeit. Menschen, in der Geselligkeit und Ungeselligkeit ihres Lebens und Handelns gesehen, sind Kairosgestalten. Wer es, wie die herrschende philosophische Tradition, mit dem Menschen anders hält, operiert, ob er Vernünftigkeit oder Sterblichkeit im Sinn hat, je nachdem auf utopische, chiliastische und eschatologische Weise mit einem Wesen des Menschen, das er zur Zeit ›noch nicht‹ ist.

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Einander sterben und totsein

8. Einander sterben und totsein Menschliches Einander, so es gelingt, ist in jeder seiner Ausprägungen ein einander Brauchen und Fruchtbarmachen. Beim einander Sterben und Totsein widerstrebt jedoch unser geläufiges Verstehen, ein Brauchen und gar Fruchtbarmachen zu erkennen, zumal es schon einfach das Einander in Frage gestellt sieht. Wie nämlich soll ein Einander überhaupt statthaben, wenn zwar der Eine am Leben, der Andere aber doch eben tot ist, beide also durch ›Welten‹ geschieden sind. Martin Heidegger beherrscht mit seinem Begriff der ›Jemeinigkeit‹ nicht von ungefähr die Thanatologie der Gegenwart. Mein Tod trifft im wesentlichen mich und ist mir der wesentliche Tod, ob ihn mir die Anderen gönnen oder nicht, ob Tod mir zuvor im Anderen begegnet oder nicht – das scheint plausibel zu sein und kommt dem Ansinnen, das Heidegger mit der Jemeinigkeit des Todes verfolgt, entgegen. Daß in anderer Perspektive der Tod, der je meiner ist, zugleich ›je deiner‹ ist, berührt, wie man sich das vorzustellen gewohnt ist, den eigenen Tod, falls überhaupt, nur äußerlich. Heidegger scheint gut beraten, dem Gedanken einer antwortenden ›Jedeinigkeit‹ des Todes keinerlei Aufmerksamkeit zu schenken. Die Bedenken gegen ein betontes Einander des Sterbens lassen sich weiter verfolgen. Gerne wird darauf abgehoben, das Enden des eigenen Lebens könne einem niemand anderes abnehmen. Wenn bereits im Felde der Mann allein auf sich selber steht (solange ihn feindliche Andere darauf unbeschädigt martialisch herumirren lassen), wie sehr ›steht‹ er dann erst selbsthaft allein, wenn er da zu Fall und, nicht gänzlich unvorhersehbar, zu Tode kommt. In der Tat: Todesgedanken, wie sie einer für sich selber anstellt und wie sie ihn überfallen, vereinsamen, selbst wenn man daraus kein derart lautes existenztheoretisches Aufheben machen möchte, wie es von den 20er bis 50er Jahren unseres Jahrhunderts kontinentaleuropäisch der Fall war. So nah auch Menschen während ihres Lebens 151 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Das Teilen von Leben und Tod

und Sterbens einander kommen, und wäre es selbst, wie man sagt, ganz nah – keiner dringt doch offensichtlich in das sterbliche und todesbedenkliche ›Selbst‹ des Anderen in einer Weise ein, daß er die eigenen Gedanken des Anderen als eigene mitdächte, sich aus der Mitwisserschaft des Todes szs. das Gewissen des Todes des Anderen machte und dessen eigene Erfahrungen im Todesverhalten und Sterben teilte. Auch der nächste Mensch in unserem lebensteiligen Leben geht an unserem eigenen sterblich gestimmten und todbedachten Selbst vorbei, d. h. tritt ihm nicht zu nahe, vereint sich nicht mit ihm. Schon bei geringeren Verlusten können wir die Probe aufs Exempel machen. Beißt sich einer beim vertrauten Mahl zu Zweit ein Stück Zahn aus, dann mag der Andere noch so sehr Anteilnahme erweisen, das Zahnstück bleibt doch ein je-eigener ›Selbst‹-verlust. Der Verlierer merkt bald, wie die Sache mit dem Verlust eigentlich nur die seine ist. Für das rechte Verständnis des einander Sterbens und Totseins kann es nur dienlich sein, das Eigene und Unvertretbare des Sterbens und des Todes nicht zu bagatellisieren. Wie wir in unserem reichen Einander nicht von Anderen vollends selbsthaft vertreten werden können und wollen, so wollen wir auch nicht verwechselt werden mit Anderen, von einem Wiederholtwerden durch Andere ganz zu schweigen. Menschliche Nah- und Nächstenkonstellationen sind sehr wohl in Betracht zu ziehen, Konfluktionen mit Nahen und Nächsten nicht. Alkestis übernimmt den Tod für Adeimantos – das ist möglich. Aber sie stirbt nicht den Adeimantos – das wäre unmöglich. Gerade zum gelingend-lebensteilig erkannten Tod gehört es, die Grenzen zwischen dem eigenen Tod und dem des Anderen, zwischen dem, der in den Tod geht und dem, der am Leben bleibt, nicht zu verwischen. Der Gedanke des einander Sterbens geht davon aus, daß Einer nie allein für sich stirbt, sondern zugleich für Andere. Der Gedanke des einander Totseins sieht darauf, wie kein Mensch den Tod je in einer Weise für sich hat, daß er für sich 152 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Einander sterben und totsein

tot wäre. Für den Gedanken des einander Sterbens und Totseins wird darum zu begründen sein, inwiefern es zum Sterben gehört, selber selbst und zugleich Anderen zu sterben, und inwiefern zum Totsein, Anderen tot zu sein. Es ist der Gedanke des einander Brauchens und Fruchtbarmachens, der zu dieser Begründung führt. Kein Toter hat je den Tod für sich, ist für sich tot. Den Tod zu brauchen und fruchtbar zu machen, ist Sache der Lebenden. Doch der Gedankengang erfordert eine Unterbrechung. Die Rede vom uti und insbesondere vom frui des Todes ist allzu anstößig, der gemeinte Sachverhalt unklar. Was sind schon Euphemismen gegen diese – scheinbare – Verklärung des Todes. Die ›natürliche‹ Reaktion des Menschen auf den Tod ist Abwehr – Abwehr des eigenen Todes und, sind es keine Feinde, des Todes Anderer. Das Leben, auch das menschliche, scheint als Leben dem Kampf gegen den Tod gewidmet zu sein. Der Physiologe Xavier Bichet bestimmt das Leben als l’ensemble des forces, qui resistent à la mort. 30 Da bringt also das Leben akkurat nicht den Tod und schon gar nicht dient der dem Leben. Der Psychoanalytiker Johannes Cremerius bewundert Rationalismus und Stoizismus des dem Tode zusterbenden Freud, seine Art, das eigene Sterbenselend nicht als heroisches Sterben und Kampf gegen den Tod zu nimbieren, um doch selber »Kampf, »Wettlauf« und »Bewältigen« das Wort zu reden – als reiner Fürsprech des Lebens die Gegenrede zum Tod führend. 31 Mit Freud kennt er bejahend nur eins: weitermachen, weiterarbeiten und unter der »Herrschaft des Ich« bleiben. Dann aber scheint er Freud einen guten Abgang zu sichern: in letzter Minute gebe der doch frei den Griffel aus der Hand, öffne er dem Tod die Tür soeben noch selber. Aber das ist zu spät und zu wenig. Auf diese Weise wird der Tod nicht X. Bichet, Recherches physiologiques sur la vie et la mort, Paris 4 1822. J. Cremerius, Freuds Sterben. Die Identität von Denken, Leben und Sterben, in: Psychoth. med. Psychol. 33 1983, S. 163 ff.

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gebraucht, geschweige denn fruchtbar gemacht, zeigt er sich nicht als das, was dem Leben Halt gibt, wird er nicht als das erkannt und anerkannt, was mit den ›Realitätssinn‹ konstituiert. Das biologische Todesprogramm in allem Lebendigen ist eine Sache, Freuds Konzeption des Todestriebes (Rückkehr in den anorganischen Ausgangszustand) 32 eine weitere, – beides unterschieden von der freien Art des Menschen, den Tod zu brauchen und zu ›genießen‹. Den unzeitigen freilich, wie ihn natürliche und menschliche (Lebens-) Feinde herbeiführen, den mit Schrecken und Qualen zu erleidenden Tod zu ›genießen‹ – das wäre pervers. Es ist nicht einmal an den ›Genuß‹ eines erlösenden Todes zu denken, wie ihn ein Freud mit Sehnsucht als Übergang ins Nichtsein erwartet. Allein um den ›Genuß‹ des gelingenden Todes ist es zu tun. Den Lebenden ist in ihrem selbstbewußt geführten und gemeinsam verbrachten Leben der Tod das Geheimste und Gewisseste. Sie leben in einem Ureinverständnis und Urvertrauen 33 mit dem Tode: ihrem unübertrefflichen Intimus. Das gilt nie nur für den eigenen Tod, sondern immer auch für den der Anderen. Im gelingenden Leben leben Menschen in und aus der Mitwisserschaft mit Anderen, daß es Zeit gibt zu leben und Zeit zu sterben. Leben und Tod haben je ihren Kairos, der nur dann ausbleibt, wenn Leben und Sterben in nichts gelingt. Den Tod fruchtbar zu machen, den eigenen und den des Anderen, verlangt nicht mehr und nicht weniger, als sein Geheimnis und seine Intimität, seine Gewißheit und seine Mitwisserschaft für ein gelingendes Leben und Sterben zu nutzen. S. Freud, Jenseits des Lustprinzips, XIII, 40 f. u. a. Erikson entwickelt seinen Begriff des Urvertrauens (basic trust) ohne Rücksicht auf den Tod. Für ihn ist das vertraute Gesicht der ursprüngliche Zufluchtsort des Urvertrauens, das Gesicht, aus dem genau kein Tod blickt. Auch zieht er ein Verständnis von Vertrauen (trust) als Zuversicht (confidence) in Betracht, das allein zur Lebenszukunft paßt. E. H. Erikson, Einsicht und Verantwortung, Frankfurt 1971, S. 88; ders., Kindheit und Gesellschaft, Stuttgart 1971, S. 241.

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Den Tod im Tode ›selbst‹ zu kosten – das vorzustellen bleibt einem okkultistischen Solipsismus vorbehalten. Menschliches Sterben erfaßt nicht, wer methodisch beim puren solus ipse ansetzt. In keinem Moment versteht es sich auf bloße ›Jemeinigkeit‹. Im Sterben geht ein Leben zuende – für den Sterbenden ist es das eigene Leben, das er mit Anderen gelebt hat, für den, dem da jemand stirbt, das andere, das nahe und vielleicht geliebte Leben, auch für ihn das geteilte. Menschlicher Tod trifft Lebensteilung: er ist stets eigener Tod und zugleich Tod des Anderen. Das ist keine Äußerlichkeit und Zufälligkeit, keine Sache bloß der Perspektive. Wenn eigenes Leben und eigener Tod am Leben und Tod Anderer faktisch nicht vorbeikommen, weil eben dem Einen Andere sterben, weil die Einen anderes Leben und mit ihm anderen Tod neu zeugen und gebären, weil der Tod des Einen die Anderen trifft und schmerzt, dann ist das lebensteilige Einander von Leben und Tod keineswegs schon erfaßt. Das eigene Leben und der eigene Tod brauchen vielmehr Leben und Tod der Anderen, brauchen beides zum ›Genuß‹, um überhaupt selber zu gelingen. Das ist als konstitutiv für gelingenden Tod und gelingendes Leben anzusehen: sterben kann nur, wer, indem er stirbt, zugleich jemandem stirbt. Komplementär dazu gilt: leben kann nur, wer nicht allein selber sich selbst lebt, sondern zugleich Anderen. Im Verbund lautet diese Komplementarietät: leben kann nur, wer auf eigene Weise Anderen als Sterbenden und Toten zugehört, wie auch sterben und tot sein nur der kann, der auf eigene Weise Lebenden zugehört.

9. Die Gestalt des Todes Wer kein kultur- und geistesgeschichtliches Sammelsurium zum Thema Tod vorzulegen, sondern eine philosophische Verständigung über den menschlichen Tod durchzuführen sucht, tut gut daran sich zu entscheiden, unter welcher Gestalt er ihn 155 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

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vornehmen möchte. Der Tod als Moment menschlicher Selbstverständigung und Selbstauslegung ist von keiner Objektivität, die eine und nur eine Sicht erlaubte, oder nur die eine mit der einen – komplementären – anderen. Die eigentümliche Ungreifbarkeit des vollendeten Sterbens und Totseins, der Fehl an Phänomenalität und Empirizität, gibt menschlicher Selbstdeutung in Sachen Tod einen weiten Spielraum. So zeigt der Tod, wie er für Menschen unserer Kultur und Tradition als außerordentlicher und doch zugleich alltäglicher Vorfall ins Leben hereinsteht, recht unterschiedliche Gesichter, weckt er die verschiedenartigsten Vorstellungen. Einige sehen im Tod den ›Bruder des Schlafes‹. »Sanft entschlafen« formuliert noch heute mancher Todesbericht. Sigmund Freud sieht das »Phänomen« des Todes dem des Schlafes für »ähnlich« an. 34 Vom gesteinigten Stephanus wird berichtet 35 : Herr Jesus, nimm meinen Geist (…) Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an. Nach diesen Worten entschlief er.

Den Geist aufgeben und entschlafen gehören da zusammen. Totsein als Schlafen – das ist schon das Geschick homerischer Helden. Apollon geleitet mit den Söhnen der Nacht 36 , den Zwillingsbrüdern Hypnos und Thanatos, den gefallenen Sarpedon in seine Heimat. 37 Totsein als Schlafen paßt auch zur leibhaften Auferstehung, wenn es in ihr gilt, sich einfach die Augen zu reiben, um wieder da zu sein, wenn auch ganz woanders (als ›derselbe‹ Neugeschaffene oder als der Alte – lautet die Kontroverse). In den Tod gleichsam hinüberzuschlafen ver-

S. Freud, Totem und Tabu, IX, 95. Apostelgeschichte 7, 59 – 8, 1. 36 Hesiod, Theogonie V, 756 ff. 37 Ilias 16, 676 ff. Dazu G. E. Lessing, Wie die Alten den Tod gebildet, Berlin 1769. 34 35

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spricht, nicht wie aus jedem Schlaf wieder erwachen zu müssen, sondern für immer ›fort‹ zu sein. Andere können sich unter dem Tod rein nichts, am Ende das ›reine Nichts‹ vorstellen. Auch die Vergänglichkeit des Menschen, wie sie zur Idee seiner Nichtigkeit führt (ein Hauch, ein Schatten, ein Nichts, ›Eintagsfliegen‹) 38 , bringt das Nichts ins Spiel: ist der Mensch schon ›hier‹ nichts, ist er zumal ›dort‹ nichts. Der Tod vollendet nur, was bereits sein lebenszeitlich knappes Sein prägt. Allerdings wehrt die eingestandene eigene Nichtigkeit nicht notwendig den Schrecken ab, der vom endlosen Nichts ausgehen kann. 39 Wieder andere hadern mit dem Vergessen. Der Tod tut sich ihnen als reine Bewußtlosigkeit und Selbstvergessenheit auf, schlimmer noch: als absolutes Vergessenwerden. Der Tod zeigt sich so als Trennung von allem Einander, als Verlassenheit, als Nicht-mehr-sein für Menschen oder Gott: einmal tot, denke der Mensch nicht an Gott und Gott nicht an ihn. 40 Etliche suchen ›Unsterbliches‹ zu vollbringen, zumindest daran zu partizipieren, um dagegen anzukämpfen. 41 Weitere Sichten bieten sich an: Tod als Veränderung des eigenen Seins, als Reinigung (von allem Irdischen, Zeitlichen, überhaupt allem ›Unreinen‹), als Verallung (Austritt aus aller Vereinzelung). Wir lassen das alles auf sich beruhen. Nichts davon ist für eine philosophische Verständigung über den Tod tauglich, da sämtliche Vorstellungen auf je eigene Weise bereits damit spielen, was ›hinter‹ dem Leben ist, was ›nach‹ ihm sein wird – in ›reiner‹ Phantasie. Für unsere Absicht legt sich einzigartig

Im Alten Testament und in der griechischen vorklassischen Literatur reich belegt. 39 S. Freud, Die Traumdeutung, II/III, 260. 40 Psalm 6, 6; 88, 6. 41 Plinius des Jüngeren Korrespondenz mit bedeutenden Persönlichkeiten der Zeit verfolgt ausdrücklich dieses Ziel. 38

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ein Gedanke nahe, mit dem Menschen unserer Kultur und Herkunft immer wieder dem praktischen Gehalt des Todes eine Deutung gegeben haben: der Gedanke des Abschieds. Abreisen als Traumsymbol für Sterben 42 , Abschied, wo und wie auch immer, als Antizipation des Todes 43 – so plausibel es sich auch gibt, das Bild des Abschieds scheint dennoch eine Todesidylle zu zeichnen. Sich noch einmal in die Augen sehen und die Hand geben, dann loslassen und sich aus den Augen verlieren – die letzte Berührung, den letzten Blick und Gruß nurmehr im Herzen des Bleibenden. Oder: der Sterbende präsidiert dem Abschied, den die Seinen in Ehrerbietung von ihm nehmen – scheu vor dem Sterbenden und vor dem Tod. Die gängige Wirklichkeit sieht anders aus. Heute steht uns, wenn die Zeichen nicht trügen, als Wirklichkeit der von Philosophen für unvernünftig erklärte selbstgemachte Genozid ins Haus – ein Abschied, bei dem alles ginge und niemand bliebe. Aber nicht nur der gewaltsame menschenverfügte Tod trübt das Bild des Abschieds, auch der ›natürliche‹ Tod, wo er etwa epidemisch und länderverödend auftritt, läßt einem trauten Adieu als Leb- und Stirbwohl keine Chance. Weder selten noch entlegen tritt der Tod unter Menschen in häßlichster Qualität und erschreckendster Quantität auf. Der Tod in seiner ›Unart‹ und zu seiner ›Unzeit‹ herrscht vor. Auch der mit einem Makel behaftete plötzliche Tod 44 , der, ›völlig unerwartet‹, den Menschen unvorbereitet trifft, legt es nicht gerade nahe, sich Gedanken über den Tod als Abschied zu machen. Doch ›Tod als Abschied‹ versteht sich als Gedanke, nicht als Abbild und ebensowenig als Vorbild menschlicher Ster-

S. Freud, Die Traumdeutung, II/III, 390; ders., Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse, XI, 154, 43 W. Barner, Der Tod als Bruder des Schlafes, S. 161. 44 Ph. Ariès, Geschichte des Todes, S. 19 ff. 42

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bens- und Todeswirklichkeit. Der anschauliche Gedanke ist gewählt, um den gelingenden menschlichen Tod zu skizzieren. Das ist kein Tod, der, dem geschichtlichen und zeitgenössischen Tod entrückt, im utopischen Noch-nicht des wahren und eigentlichen Menschen seine Heimat hätte. Er gehört einer philosophischen Verständigung des Menschen über sich selbst zu. Herrscht der häßliche, schreckliche, absurde (unvernünftige, inakzeptable) Tod vor, dann ist damit noch kein Verdikt über den gelingenden Tod gesprochen. Das ist nicht darum nicht der Fall, weil menschliche Selbstverständigung ein asylum ignorantiae realitatis darstellte, sondern weil jedes menschliche Zu-Tode-kommen die Frage des Gelingens und Nichtgelingens aufwirft. Soll sich der Gedanke des Abschieds für die Verständigung über den Tod als brauchbar erweisen können, dann muß sich Tod als Abschied in jedem menschlichen Tod finden – und sei es als Fehl. Doch wer ist schon so krank, daß er in nichts gesund wäre, wessen Leben und Sterben derart mißlungen, daß ihm der Tod in nichts gelänge. Eine philosophische Verständigung über den menschlichen Tod sieht sich angesichts der Wirklichkeit nicht dazu aufgefordert, sich vom nackten Entsetzen packen zu lassen und allenfalls Kraft zur Klage wider den Tod zu finden (wenn es nicht bloß einmal mehr die alte philosophische Klage wider menschliche Unvernunft sein soll). Ohne einer verklärenden Ästhetisierung, Humanisierung und Idealisierung des menschlichen Todes zu dienen, zeichnet sie ihn so, wie jedes zu gemeinschaftlichem Leben und Handeln befähigte Leben besser oder schlechter von ihm Zeugnis gibt und sich selbst darin erkennt.

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10. Abschiedserfahrungen Der Tod ist, mit einem Wort, der Abschied vom Leben. 45 Das schlichte Los, Ab und Weg von ihm in den Tod unterschlägt allerdings die wesentliche Differenz, die bei diesem Abschied in Erscheinung tritt: der Abschied vom eigenen und vom Leben Anderer. Das ist bereits die Sicht des eigenen Todes. Beide Trennungen von Leben gehören in ihm zusammen, sind in ihm zugleich zu vollbringen. Der Sterbende verabschiedet sich mit seinem vollendeten Sterben von sich und von den (Weiter-)Lebenden. Auch die aber, von denen der Sterbende sich trennt, nehmen – ggf. – Abschied von ihm. Das meint nicht, daß sie ihn sprachlos umstünden oder trösteten und ›gute Reise!‹ wünschten, sondern daß sie die Trennung eigens vollbringen: ihn sterben und totsein lassen und sich selbst zu neuem weiteren eigenen Leben losgelassen wissen. Für Tod als Abschied ist die Perspektive des eigenen Todes die maßgebliche, weil sie die des Sichverabschiedenden ist, der sich vom Leben Anderer und vom eigenen Leben trennt. Man könnte sich allerdings fragen, ob die Perspektive des Lebensabschieds im eigenen Tod nicht ein Komplement verlangt bzw. in sich birgt: die Perspektive des Todes und des Toten. Anstatt allein an Scheidung und Weggang (›Abreise‹) zu denken, wäre womöglich der Blick komplementär auf Heimreise und Heimkehr zu lenken, vielleicht auch im Gegenteil auf Ankunft im Unheimlichen. In der Tat sind ja die Bilder gut ausgemalt, die unsere Überlieferung bereithält, das Wohin zu schildern, bei dem der Tote und Abgeschiedene anlangt. Das Reich der Toten als Reich der Seelen und Schatten, als Hölle der Verdammten oder als Himmel, auch Insel der Seligen. Andererseits wissen

Worte um die Zeit Platons, die Tod zu verstehen geben: ἀπαλλαγὴ τοῦ βίου, ἡ τοῦ ζῆν ἀπαλλαγγή oder einfach nur ἀπαλλαγή. 45

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wir, daß die Toten nachweislich ›drüben‹ und eben im ›Jenseits‹ ankommen, werden sie als Leichname genommen. Ein breiter Strom trennt Diesseits und Jenseits. In Ägypten ist es der Nil, der zwischen dem Ostufer der Lebenden und dem Westufer der Toten dahinfließt. (…) Schon am Rande der Wüste, in Sichtweite der Siedlungen, beginnt das Unbekannte, in das die Toten gehen. Das Dasein dort ist »geheimnisvoll« und »verborgen« 46 .

Doch in unsere Perspektive fällt weder das eine noch das andere. Der gebotene methodische Zugriff reicht in Anbetracht der eigens zu vollbringenden letztgültigen Trennung des Einander nicht über den Gedanken des Lebensabschieds hinaus. Ein Mensch, der aus dem eigenen und aus dem Leben Anderer geht, hat gemeinhin im Abschiednehmen lange Erfahrung, die bis ins Unerinnerbare zurückgeht: der Abschied von der Mutter als Abnabelung am Tage der Geburt. Der Abschied von der Mutter als ›Ausbruch‹ aus der Symbiose mit ihr und als Sichentwöhnen. Der Abschied vom Elternhaus, Abschiede auf Bahnhöfen, sich wiederholende und endgültige. Doch nicht nur Abschiedserfahrungen im Umgang mit Anderen, sondern auch ganz eigene gehören seiner Lebenspraxis zu, relativ zeitig etwa beim Abschied von eigenen Hoffnungen, von der eigenen Kindheit und Jugend. Er hat bei diesen und jenen Erfahrungen gelernt, wie zum Abschiednehmen jeweils zumindest Zwei gehören: der Abschiednehmende und der, von dem Abschied genommen wird. Auch weiß er, daß das nicht beliebig umkehrbar ist. Trennen sich Zwei voneinander, dann ist es zumeist so, daß der Eine geht, der Andere bleibt. Das hat er nicht zuletzt an Anderen erfahren, die von ihm als Lebenden durch den Tod scheiden. Nun scheint der Abschied von Eigenem das Soll der Zwei zu unterlaufen. Abschied von eigenen Hoffnungen – das mag noch angehen. Wem es gelingt, sich von seinen ersten LiebesE. Horg, (Hrsg.), Ägyptische Unterweltsbücher, Zürich/München 1972, S. 9. Vgl. S. Freud, Totem und Tabu, IX, 75.

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hoffnungen, aus denen nichts wurde, lebensbefähigend zu trennen, hat zwar sich selbst von seinen eigenen Hoffnungen gelöst, aber doch zugleich höchst real von einer anderen Person. Die Lösung vom Anderen ist hier das Entscheidende, auch wenn nicht bloß ein einstmals geliebter Mensch, sondern mehr noch und näher, eine eigene gelebte Gestalt liebenden Lebens zurückbleibt. Sie ist wirklich gelebt und nicht noch zu leben. Allenfalls als Triumph der Selbstüberwindung gehört sie noch zum Fundus gegenwärtiger Lebensbefähigung. Sprechen wir dagegen bei den lebensgeschichtlichen Zeiten und Altern eines Menschen von Abschied, dann fehlen offensichtlich die realen Zwei: der Abschiednehmende und der, von dem Abschied genommen wird. Die reine Selbstdistanzierung scheint anzustehen. Doch gerade das Altern erweist sich als hervorragend geeignetes Beispiel, um zu zeigen, inwiefern bei der Lösung von Eigenem, für die kein realer Zweiter ›im Hintergrund‹ steht, je in Einem Zwei zugegen sind und zugleich Andere mit hereinspielen. Altern, nicht als biologischer Verlauf, sondern als lebenspraktischer Vollzug betrachtet, ist ein fortwährendes Abschiednehmen ohne Wiederkehr. Wie keine andere Aufgabe seines Lebens fordert es den Menschen ständig heraus, sich im Scheiden zu üben und den Abschied von sich selbst zu lernen. Eine besondere Zäsur kann der Abschied von der eigenen Jugend bedeuten. ›Irgendwann‹ ist ein Mensch nicht mehr jung. Mag er auch, wie man so sagt, Jungen- bzw. Mädchenhaftes für sich bewahrt haben, das ›Kind im Manne‹ intakt sein – im Selbstverständnis seiner Lebenszeit nimmt er eines Tages unversehens, oder nach einer Reihe von Vorverständigungen mit der Zeit, wahr, daß er alt ist, die eigene Jugend nicht mehr selbsthaft zu ihm gehört. Das aber ist die Stunde der eigenen ›Zwei‹ : ein ›Selbst‹, das bleibt, ein ›Selbst‹, das (weiter-)geht. Es genügt jedoch nicht, das eigene Alter und Altsein für sich zu bemerken und sich selbst gegenüber nicht mehr leugnen zu können, um von der eigenen Jugend ›wirklich‹ loszukommen. 162 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

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Die Kopfeinsicht lebenspraktischer Nichtidentität vollbringt noch lange keinen Abschied. Wer bewußt und gerne lebt, weiß oftmals seinem Alter und Altsein eine Deutung zu geben, die es gegenüber Jugend und Jungsein aufwertet. Reife wird gegen Unreife herausgekehrt, Klärung und Abklärung gegen Gärung. Obwohl eigentlich die Kräfte leibhaften Lebens zu schwinden beginnen, schätzt das Alter es bisweilen, sich das Prädikat der Meisterschaft des Lebens zu geben. Ein Philosoph, noch keine Sechzig, gibt zu verstehen: Alt sein heißt: rechtzeitig dort innehalten, wo der einzige Gedanke eines Denkweges in sein Gefüge eingeschwungen ist. 47

Doch weder der geistige noch der psychosomatische Zustand des altgewordenen und sich seines Altseins bewußten Menschen sind hier das Problem, nicht der Realismus oder die Ideologie seiner Selbsteinschätzung, nicht die mögliche Vermaledeiung oder Verklärung des Alters, sondern allein der Abschied, wie ihn das eigene Leben im Verhältnis seiner Lebensalter fordert, und für den es mit dem bloßen Bemerken des je gegenwärtigen Altersstandes nicht getan ist. Wer von seiner Jugend Abschied nimmt, trennt sich von sich selbst, so daß sein jugendliches Selbst nicht länger selbsthaft zu ihm gehört. Er scheidet sich in eine abgelegte Gestalt seines – gelebten – Lebens und in ein neu zu gestaltendes Leben. Erfahrungen mit Alten sprechen dagegen, in ihnen jeweils die vollendet-geschlossene Gestalt eines Lebens zu sehen. Nicht nur wachsende eigene Todesnähe und zunehmende eigene Gebresten, neue eigene Versuche mit Arbeit, Kommunkation, Kunst und Religion, auch das Heranwachsen von Kindern und Kindeskindern, überhaupt alle Neuerungen der Zeit und an Anderen, die im eigenen Lebensbereich wirksam M. Heidegger, Aus den Erfahrungen des Denkens (1947), Pfullingen 1954, S. 19.

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werden, ändern im Alter das Leben. In jeder lebensgeschichtlichen Gegenwart eines Menschen gibt es grundsätzlich zwei Gestalten des Lebens: das gelebte und das zu lebende Leben, Lebensvergangenheit und Lebenszukunft, im gegebenen Beispiel: die gelebte Jugend und das zu lebende Alter. Diese beiden Gestalten stehen im Prinzip für die Zwei, die den Abschied eigenes handelnd vollziehen. Das älter und alt gewordene lebendige ›Selbst‹ scheidet das eigene jugendliche ›Selbst‹ ab. Dieses, mit bleibendem Eigenwesen, wie es die selbsthafte Erinnerung garantiert, läßt sich abscheiden. So ist es das gelebte Leben, das bleibt, das zu lebende Leben, das fortgeht. Die Jugend dieses Menschen mit ihrem verbleibenden Eigenwesen wehrt sich nicht, will nicht künstlich dort Rechte wahrnehmen, wo sie keine mehr hat. Je weniger sie trotzt, desto besser wird sie, obwohl in ihrer gelebten Eigenheit nicht revitalisierbar, den Alternden und Alten als seine Jugend begleiten und seinem Alter – für ihn selbst und für Andere – jugendliche Züge verleihen, die es nicht maskieren und verunstalten. Dahinter steckt nicht die Idee einer nur bildhaften Jugendlichkeit, wie sie etwa Kant verfolgt, wenn er die mögliche andere Schönheit der Frauen im Alter preist, die bei entsprechend geglückten Geschöpfen aus jeder Runzel anstatt des Liebreizes das Edle hervorleuchten läßt. 48 Hat man bei jedem Kranken etwas Gesundes und bei jedem Gesunden etwas Krankes zu finden, dann werden Gesundheit und Krankheit nicht im Wechsel bildhaft gebraucht. Dasselbe gilt vom Verhältnis von Jugend und Alter. In jedem Jungsein steckt ein authentisches Stück Nicht-jung-sein, in jedem Altsein ein entsprechendes Stück Nicht-alt-sein. Das ist nicht quantitativ zu deuten – als Zeitabstand von Geburt und Tod, aus dem sich für jede lebendige Gegenwart rechnerisch ein Zugleich von Jung und Alt ergibt. Das Alter in der Jugend und die Jugend im I. Kant, Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764), Akad. Ausg. II, 239 f.

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Alter ist qualitativer Art, ist etwas, das praktisch im Verhältnis der Lebensalter zu realisieren ist. Dabei hängt die besondere lebensbefähigende Qualität des im je eigenen Alter mitgegenwärtigen anderen Alters entscheidend davon ab, wie Menschen verschiedenen und gleichen Alters einander begegnen, wie sie miteinander ihr Leben teilen. Der alte Mensch, sehen wir zunächst noch einmal auf ihn allein in seiner von ihm selbst geleisteten Zweiheit, läßt seine Jugend sich als selbsthafte Möglichkeit verabschieden, um sie in eins selber aus seinem altgewordenen Leben zu entlassen. Gelingt es, zur rechten Zeit jung zu sein und zur rechten Zeit alt, dann wird ein Mensch im Übergang vom einen zum anderen die Sache der Jugend und die des Alters gleich gut wahrnehmen: in der Selbstscheidung das eine aus der eigenen Selbsthaftigkeit fortgeben und das andere als neues Selbst übernehmen. Es gibt für den Menschen nicht ein vollkommenes Lebensalter. Wer den vollkommenen Menschen zum jugendlichen Greis oder greisenhaften Jüngling stempelt, weil es ohne Alter keine menschliche Vollkommenheit in personam gebe 49 , widerspricht glückender gemeinsamer Lebenspraxis: er läßt weder dem jungen Menschen noch dem alten sein je eigenes Recht zukommen, im gedeihlichen Einander je für sich vollends Mensch zu sein. Statt Lebensteilung von Jung und Alt ist beider Vermischung vorgesehen. Das Altern eines Menschen, wird es praktisch als Trennung von gelebtem Leben vollzogen, hat nie nur einen Akteur, der seine beiden Zeitgestalten ganz für sich selbst zu spielen wüßte. Wie jedes Abschiednehmen ist Altern zwar in eins ein Von-sich-weg-gehen und Zu-sich-kommen, aber genau dieses Selbstverhältnis ist ohne entsprechendes Verhältnis zu Ande-

Siehe R. Sprandel, Modelle des Alterns in der europäischen Tradition, in: H. Süssmuth, (Hrsg.) Historische Anthropologie. Der Mensch in der Geschichte, Göttingen 1984, S. 112. 49

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ren undenkbar. Zum Abschied von der Jugend gehören wesenhaft andere Menschen – junge und alte. Wer seine eigene Jugend verabschiedet, trennt sich zugleich von Anderen, die ›jetzt‹ jung sind, und schlägt sich Anderen seines neuen Lebensalters zu. Jede Lebenszeit stellt eigene Aufgaben menschlicher Lebensteilung. Differenzieren wir nicht weiter als bis zu Jung und Alt, dann gehört zum Altsein die Lebensteilung mit Alten und Jungen, zum Jungsein die mit Jungen und Alten. Altseinkönnen verlangt, mit Anderen alt sein zu können, das eigene Alter und das gleichartige Alter der Anderen nicht nur zu akzeptieren, sondern eigens zu bejahen, zugleich aber, den Jungen ihr Jungsein eigens zu gönnen. Der alte Mensch ist darauf angewiesen, als Alter nicht allein zu sein. Nur wenn andere Alte mit von der Partie sind, können sich Junge zu ihm als Alten verhalten, um dem Alter, eben ihm und seinesgleichen, das Altsein wirklich zu gönnen, das meint beizutragen, es brauchbar und ›genießbar‹ zu machen. Entsprechendes gilt für das Jungsein der Jungen und das Verhalten alter zu jungen Menschen. Die Trennung von der eigenen Jugend als komplexe lebensteilige Handlung gehört in den Lernprozeß, der einen alten Menschen fähig macht, vom eigenen Leben im Tod Abschied zu nehmen. Der Abschied von Anderen, die sterben, entdeckt ein anderes Moment desselben Prozesses. Die traditionelle Philosophie hat dem Menschen für sein Leben im wesentlichen zwei Vorschläge gemacht: er habe sich als Lebewesen zu verstehen, das zur Vernunft und das zum Tode bestimmt ist. Was die Todesbestimmung anbelangt, geht sie davon aus, er habe sich für das Wesen zu nehmen, das genau kein Gott ist. In philosophischen Bestimmungen und poetischen Selbstverständigungen von Homer bis Hölderlin, von Heraklit bis Heidegger erscheint der Mensch als Sterblicher (θνητός), der als solcher nicht zu den Unsterblichen zählt (ἀθάνατοι).Sterben und dem Tod begegnen lernen hieße demnach, sich der Einsicht öffnen, kein Gott zu sein. Anstatt die 166 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

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eigene sterbliche Art notwendig als Kränkung durch Andere oder eigene Schuld aufzufassen, ergäbe sich dabei die Möglichkeit, frei in die eigene Nichtigkeit einzuwilligen und sich fromm der Macht der Unsterblichen zu unterwerfen. Das memento mori als Wesenspruch, »Mensch werde wesentlich!« als Aufforderung, sich in sein ›zum Tode‹ zu schicken. Doch eine Philosophie, die nicht vorhat, sich der Phantasie der Mythen auszuliefern, verfügt so oder so nicht über die Möglichkeit, einen gottangepaßten Sterblichen in Ansatz zu bringen, um das ›Phänomen‹ menschlicher Lebensendlichkeit zu ›retten‹. Eingedenk ihrer Möglichkeiten und ihres Interesses an menschlicher Selbstverständigung wird sie nicht darauf sehen, wie Menschen ihre Sterblichkeit in Distanz zu Göttlichem begreifen, sondern sie vielmehr untereinander ausmachen. Der Mensch in seiner reifenden, sich unter Menschen entwickelnden und erfüllenden Sterblichkeit lernt gewöhnlich beizeiten menschlichem Tod begegnen. Ist es der junge Mensch, dem der Tod im alten Menschen begegnet, und der alte, der dem jungen stirbt, dann ist der eine der Partner voller Lebensversprechen, der andere dagegen repräsentiert ein Minimum an Lebens-, jedoch ein Maximum an Todesversprechen – wenn er nicht bereits abgelebt ist und sein Versprechen eingelöst hat. Ein junger Mensch lernt vorzüglich dem Tod begegnen und ins Eigene eintreten lassen durch den Tod alter Menschen, die für ihn von Bedeutung sind, z. B. durch den Tod der Großeltern. Deren Tod geht nah, doch nicht so nah, daß das eigene Leben durch allzu Befremdliches wirklich bedroht würde. Gehendes Leben ›besetzt‹ nicht nur betroffenes überlebendes Leben, sondern macht ihm als kommendem Leben auch Platz. Der Enkel bezieht das Zimmer des Großvaters. Ein erster ›Höhepunkt‹ in der Begegnung mit dem Tod ist zumeist der Tod der Eltern, vor allem der Tod der Mutter, wenn er gleich einer zweiten Abnabelung erfahren wird. Von da ist es ein ganzes Stück Weg bis zu jenem 167 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

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»Ach«, das einem Erwachsenen entfährt, wenn er einen »fernen Tod« notiert. 50 Dem Tod begegnen zu lernen heißt nicht, zuerst an Anderen und bald auch an sich selbst auf ein Nachlassen der Natur aufmerksam zu werden, sich mit der Zeit mit dem Schwinden der Lebenskraft vertraut zu machen, sich daran zu gewöhnen, um sich schließlich – nolens volens – auf den eigenen Tod einzustellen, sich in die eigene Sterblichkeit zu schikken. Nun lehrt schon die Biologie, daß Tod nicht der Exhaustion der lebendigen Kräfte zu verdanken ist, sondern im Lebendigen sein eigenes Programm verfolgt. Doch das ist nicht der Grund, den Todeslernproß nicht als Prozeß fatalen Fügsamwerdens anzusehen. Bei der Vorstellung des ›braven‹ einzelnen Todes und seiner Art, höchst individuell das eigene Nichts wahrzumachen, fehlt einfach der Sinn für das Lebensteilige und Partnerschaftliche, wie es konstitutiv für menschliches Leben und Sterben ist. Der junge Mensch, der dem Tod im Tod Anderer begegnen lernt, sieht sich dem Tod nicht rein als seinem eigenen ausgesetzt, nicht einmal vordringlich und erstlich. Bevor der so recht lebensbedeutsam wird, hat er in den begegneten Toden und Toten bereits ›Freunde‹ gewonnen – fürs Leben. Werden Begegnungen mit Sterben und Tod Anderer lebensteilig fruchtbar, dann sind diese Todeserfahrungen zugleich Vergewisserungen, eigens am Leben gelassen zu sein, ein gegönntes Leben zu führen und eben durch den Tod neue Freiräume zu erhalten. Geglückte Todesbegegnungen wirken sich reichhaltig lebensbefähigend aus. Umgekehrt lernt es der junge Mensch dadurch, Tote tot sein zu lassen, ihnen ihr Totsein zu gönnen. Nicht zuletzt aber wirken sich diese Begegnungen für ihn auch todesbefähigend aus. Als junger Mensch nahen Anderen den Tod wünschen (ggf. im Traum), sie sich als tot vorstellen, Tötungsversuche 50

Ch. Wolf, Nachdenken über Christa T., S. 31; 33.

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unternehmen, ja den Bruder, den Vater, die Mutter, den Freund der Schwester totschlagen, bei der Tötung von Feinden mithelfen, darüber aufgeklärt sein, indirekt an Menschentötung teilzuhaben – auch das sind Möglichkeiten, schon in jungen Jahren Erfahrungen mit dem Tod Anderer zu machen. So bedeutsam sie aber für die Erfassung gemeinschaftlicher und gesellschaftlicher Wirklichkeit sind, so wenig taugen sie zur Verständigung über den gelingenden Abschied vom Leben. Dem Tod im Tod Anderer begegnen und für sein eigenes Leben und Sterben fruchtbar werden lassen kann nicht bedeuten, ihm seine Unheimlichkeit und sein Erschrecken zu nehmen. Tod befremdet den Lebenden immer aufs neue, bleibt ihm wesentlich fremd. Ein Kind, das begreift, daß dieser Vogel, der da am Strand liegt, sich nie wieder erheben und fliegen wird, ist zutiefst betroffen vom Geschick des Lebendigen. Wer sich plötzlich klar darüber wird, daß die Beine, die er da neben dem kriegszerstörten Haus nackt und schmutzig unter einer Plane herausstrecken sieht, die Beine von Toten sind, ist sich in seiner Lebensfrische und Lebenserwartung wie doppelt gewiß, daß es nicht die seinen sind. Es reicht nicht einmal zu, zu denken, daß es eben die Beine von anderen sind, nein: das sind die Beine ganz anderer; vielleicht sogar: das sind schon gar keine Beine mehr, keine Beine von Menschen. Kein Beistandsgefühl wird sich regen, Befremdlichkeit überhandnehmen. Sieht jemand, in anderer Situation, über einem Gesicht, das ihm soeben noch lebendig, nah und lieb war, die ›Majestät des Todes‹ aufscheinen, wird sein Befremden eher Bestürzung sein. Das Gesicht des Todes hat Züge der Endgültigkeit und Unerreichbarkeit, die dem verbleibenden Leben keine andere Chance lassen, als sich wieder ganz auf sich zu besinnen und weiterzuleben – im Sinne der bewährten Redensart ›das Leben geht weiter‹. Kommt die Begegnung mit dem Tod der Anderen auch nicht am Leichnam der toten Anderen vorbei, so ist doch der gerade nicht das, was die lebenspraktische Gegenwart des To169 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

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ten für den neu ins Leben Entlassenen bestimmt. Ein Kind, das den Tod seiner Mutter nicht begreift, entdeckt auf dem Heimweg von ihrem Begräbnis in der Jackentasche einen Flicken, von ihr genäht (Martin Heidegger erzählte diese Geschichte von ›der Duse‹). Das ist eine Erfahrung der Endgültigkeit des Abschieds, die der im Angesicht des Toten nicht gleicht. Sigmund Freud berichtet von einem zehnjährigen Jungen, der zwar begreifen kann, daß sein Vater gestorben ist, nicht jedoch, warum er nicht zu Tisch kommt. 51 Das ist natürlich Zeichen eines Noch-nicht-gelernt-habens, weist aber auf die Sachlage. Der Tote ist ›gegenwärtig‹, nämlich als abwesend bei Tisch. Das geteilte Bett ist es, der geteilte Tisch, die geteilte Alltagssorge, die geteilte Sicht, die geteilte Verantwortung – all das wird im Tod aufgehoben. Doch zugleich eben wird im Bett, am Tisch, bei der Sorge, in der Sicht und in der Verantwortung etwas frei. Die Begegnung mit der Endgültigkeit des Todes schränkt die Lebensmöglichkeiten des signifikant Überlebenden nicht nur ein, sondern gibt auch neue hinzu. In der fruchtbaren Begegnung mit dem Tod der Anderen macht der Mensch die Erfahrung, eigens am Leben gelassen zu sein. Sein Leben reflektiert sich als neu zu lebendes im vollbrachten Tod des Anderen. Auf diese Weise im Tod des Anderen das eigene Leben zu entdecken, ist nicht die ›Schaden‹freude des Altersheims, den eher beliebigen anderen zuerst sterben zu sehen. Das gehört vielmehr zur lebensbefähigenden Selbsterfahrung und Selbstgewißheit des Lebens. Leben, wie es Menschen praktisch mit Anderen teilen, lebt sich szs. in ›unauffälliger Vertrautheit‹ mit eben dem Leben. Es bedarf für gewöhnlich schon des Lebensbeeinträchtigenden und -bedrohlichen, damit Leben sich selber aufdringlich und auf sich aufmerksam wird. Doch es gibt eine Selbstvergewisserung und Selbstgewißheit, auf die menschliches Leben, soll es erfüllt sein, nicht verzichten kann. Es ist 51

S. Freud, Traumdeutung, II/III, 260 Anm.

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nicht die Einkopfgewißheit einer Existenz, wie sie Descartes interessiert, nicht die Einherzgewißheit eines Albano, die zu den Worten findet: Wie herrlich ist’s, daß man ist! 52

ist nicht die vereinzelnde ›Selbstverlorenheit‹ in Meditation und großer Natur, sondern ist die praktische Gewißheit der Lebensteilung. Der Tod ist für den Menschen in der Sache der erste und letzte Grund der – praktischen – Vergewisserung seines Lebens: daß er lebt, daß er nämlich lebensteilig lebt – daß er geliebt wird und selber liebt, öffentlich gebraucht wird und Andere braucht, mit Anderen Vergangenheit und Zukunft teilt und daß er einander stirbt. Im Lernen, dem Tod zu begegnen, ist es der Tod des Anderen, der menschliches Leben praktisch an sich selbst erinnert: an sein einander Lieben, Brauchen, Zeitlassen. Ist der Tod der Intimus des Lebens, dann ist Leben auch der Intimus des Todes. Todesgewißheit und Lebensgewißheit befruchten einander. Wie aber in der Todesgewißheit nicht zuletzt das Befremden herrscht und der Mensch zu sich selbst auf Distanz geht, so auch in der Lebensgewißheit. Wem das menschliche Leben nicht zugleich auch fremd wäre – das eigene und das der Anderen, könnte dem Tod kein ›Freund‹ sein, wie auch der, den der Tod nicht befremdete – der eigene und der Tod der Anderen, sich nicht mit dem Leben zu befreunden wüßte. Jede praktische Gewißheit ist lebensteilig, ist Moment einer Mitwisserschaft. Darum sind weder Lebens- noch Todesgewißheit mögliche Stätten der Selbstverliebtheit und des Selbsthasses. Die Lebensgewißheit braucht den Tod als das einander Sterben. Die Todesgewißheit braucht das Leben als das einander Lieben, öffentlich miteinander Handeln und miteinander Teilen von Vergangenheit und Zukunft.

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Jean Paul, Titan, in: Sämtliche Werke Bd. XXII, Berlin 1827, S. 137.

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11. Abschied vom Leib Abschied vom Leben Anderer bedeutet Abschied von Anderen. Abschied vom eigenen Leben versteht sich entsprechend als Abschied von sich selbst. Das damit angesprochene Selbst ist kein solus ipse. Es ist das Selbst, das ein Mensch jeweils im Gewinn und Vollzug seiner Lebensbefähigung mit Anderen bildet und bewährt – im menschlichen Nahbereich, in der Öffentlichkeit, in der lebenspraktischen Zeitgenossenschaft, und dies bei jeder gedeihlichen Lebensteilung. Genau von diesem Selbst gilt es Abschied zu nehmen, wenn ein Mensch ›selbst‹ stirbt. Damit aber zeigt sich die Selbstverabschiedung als in sich verquickt mit der Verabschiedung von Anderen. Wer radikal ›selbst‹ zu sterben sucht: ganz für sich selbst, ohne mögliche Teilhabe anderer, betrügt sich um das gedeihlich-geteilte Leben und betrügt sich selbst. Er müßte ja niemandem gelebt haben und niemandem tot sein; kein Mensch dürfte ihn sterben gelassen haben und überleben. Nur der Fall des Pathologischen kann Leben und Sterben im Selbstverständnis des Lebenden und Sterbenden um allen Handlungscharakter und jede Partnerschaft bringen. In Wahrheit gilt dann für ihn eine Lebensteilung von Krank und Gesund, möglichst von Patient und therapeutisch Bemühtem. Selbst diejenigen, die sich dem Suiziddruck in sich selbst nicht entziehen können, schreiben im übrigen noch Abschieds-›grüße‹, um zu bekennen, wie sehr sie eigentlich daran denken, jemandem zu sterben und tot zu sein. Doch werden wir konkreter: der eigene Leib. Der Abschied von sich selbst und vom eigenen Leben verlangt den Abschied vom eigenen Leib. Den erfährt einer ja immer selber, nicht nur bei leibhaften Schmerzen und Freuden, sondern auch einfach im sinnlich wachen Selbstgefühl: das Knie, das er als sein Knie beim Radfahren auf und ab bewegt und auf und ab gehen sieht, seine Gestalt und sein Gesicht in der Schaufen-

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Abschied vom Leib

sterscheibe, Leichtigkeits- und Kraftgefühl vor spielerischer und sportlicher Erprobung. Zu leiblichen Selbsterfahrungen gehören von früh an Erfahrungen geteilter Leiblichkeit. An der Brust der Mutter liegen, auf ihrem Schoß sitzen; der Bruder kneift in den Arm; der Doktor reißt das Pflaster ab; frühe Reize vom Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Berühren anderer Menschen, beim einander Sehen, Hören und Schmecken. Wer sich im Tod von sich und seinem Leib trennt, löst sich zugleich von Anderen in ihrer Leiblichkeit. Doch auch der Andere als der Überlebende ist zum Abschied vom Leib gefragt. Wie es zum Sterben eines Menschen gehört, daß Andere ihn sterben lassen (was nicht nur ein Problem des nicht selten lebens- und todesblinden Eifers auf der Intensivstation ist), so ist auch der andere Leib loszulassen. Das vertraute Gesicht, die vertraute Hand, der vertraute Gang, die vertraute Stimme, der ganze vertraute Leib ist eigens in den Tod freizugeben. Das ist von großer Bedeutung für die voneinander Abschiednehmenden. Gelingt nämlich das Weggehen und Bleiben, steckt von beiden Seiten her ein gutes Stück Freiheit darin, dann bedeutet das von seiten des Sterbenden die Bejahung eigener gelebter Leiblichkeit und zugleich die von neu zu lebender Leiblichkeit der Anderen, von seiten der Überlebenden die Bejahung von anderem gelebten und zugleich eigenem neu zu lebenden leibhaften Leben. Jede vollbrachte Trennung hat hier wechselseitig den Charakter von Freigabe und Eröffnung. Das bejahte Ende eigener Leiblichkeit schließt als solches die Bejahung neuer Entfaltung leibhafter Lebendigkeit der Anderen ein, wie das bejahte Ende der Leiblichkeit des Anderen der Bejahung neuer Möglichkeiten eigener Leiblichkeit zuarbeitet. Zum Sterben und sich im Tod selbst Freigeben gehört Selbstbejahung. Sich vom eigenen Leib zu verabschieden, kann darum auch nicht bedeuten, ihn aus der Selbstbejahung aus173 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Das Teilen von Leben und Tod

zuschließen, um sich etwa ganz auf einen neuen ›geistlichen‹ Leib, wie ihn Paulus verspricht 53 , zu besinnen. Paulus hat am lebendigen Leib (σῶμα ψυχικόν, corpus animale) nichts Gutes gelassen, er sei denn ein Tempel für den heiligen Geist. 54 Der lebendig-fleischliche Leib erscheint ihm nicht bald stark bald schwach, bald sündig bald nicht sündig, bald lebendig bald des Todes, nein: er ist ihm als der Leib, der er ist, schwach, sündig, des Todes. 55 Die Art der Kirche, den Alten gut nach Paulus dazu zu bestimmen, sich vom Leibe zu befreien, ihn in sich absterben zu lassen, damit er sich geistig und geistlich auf das Jenseits aller bedürftigen Leiblichkeit vorbereite 56 , hat nur zum Schein die Ideologie für sich, aus der Not des Alters eine Tugend zu machen. In Wahrheit liegt in ihr eine Aufkündigung menschlicher Lebensteilung, die Menschen schließlich auch um den lebensteiligen Vollzug des Abschieds bringt. Die Freigabe des eigenen Leibes ist in nichts ein Akt ideologischer Leibfeindlichkeit. Im Gegenteil. In der Verabschiedung von sich selbst als vom eigenen Leben und eigenen Leib bejaht der Sterbende die eigene gelebte und angeeignete Leiblichkeit zugleich mit der – ohne ihn – neu zu lebenden Leiblichkeit der Anderen. Für den Sterbenden ist es sein Leib nicht allein in dieser letzten Gestalt, sondern im ganzen des leibhaftlebensteilig gelebten Lebens, von dem er sich trennt. Gelingt das, dann hat menschliche Leiblichkeit lebensteilig nicht nur ein Ende gefunden, sondern auch einen neuen Anfang. Das abschiedliche Verhältnis zum eigenen Leib als gelingendes ist in sich eine Bejahung und Freigabe neuer Leiblichkeit der Anderen, weil es allein aus lebensteiligem Verhalten und als solches gelingt. 1. Korintherbrief 15,44: σῶμα πνευματικόν, corpus spirituale. Vgl. Römerbrief 8, 5 f.: φρόνημα τοῦ πνεύματος. 54 1. Korintherbrief 6, 19. 55 Siehe u. a. Römerbrief, 7, 5; 14; 18; 23; 25; 8, 3; 6; 10; 13. 56 Augustinus, De civitate Dei, Buch XIII. 53

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Abschied vom Leib

Nun zeigt sich jedoch der Tod gerade in Anbetracht menschlicher Leiblichkeit häufig als Lebensabbruch. Der leibhaft-lebenskräftige, der jugendlich-schöne Mensch stirbt. Ein Abschied in den Tod, wie dargelegt, scheint nur mißlingen zu können, wenn nichts als zerfaserte Bruchstellen das Bild des Todes prägen, schwer heilbare Wunden für die Überlebenden. Wer daraufhin noch von wechselseitiger Freigabe spricht, hat sich offenbar doch auf die Seite der Ideologen geschlagen, um ab sofort bei sich die Selbstlüge zu installieren, daß alle Leiblichkeit im Grunde zu verachten sei. Aber das Gegenteil ist der Fall. Es ist gerade eine gehörige Festigkeit verlangt, sich nicht vom ›Pfahl im Fleische‹ vereinnahmen, und auch den Menschen ›in der Blüte seiner Jahre‹ lebensteilig wirklich sterben zu lassen, nicht aber allein den verwelkten Alten, der eh am Ende ist. 57 Wie lebensfrisch oder verlebt der Leib des Sterbenden auch immer sein mag, das Sichselbst- und das Einanderfreigeben ist prinzipiell möglich und für das Gelingen des Abschieds nötig. Hektor, den großen jugendlichen Helden, »umhüllt das Ende des Todes« 58 , von Achill gleich einem Hund erschlagen, vorzuwerfen den Hunden. 59 Kleine Komtessen verlieren ihren Kopf unter der Guillotine. Anne Frank findet im Alter von Fünfzehn im KZ Bergen-Belsen den Tod. Das ist der gewaltsame, von Menschen (und Göttern) verfügte Tod, nach menschlichem Ermessen der Tod ganz offenbar zur Unzeit. Martin Heidegger sagt von den Gefallenen der beiden Weltkriege, daß sie vor der Zeit geopfert

seien. 60 Hansjörg Riehm, der als Arzt zwanzig Jahre Erfahrung 57 58 59 60

Römerbrief 4, 19: der »abgestorbene« Leib eines Hundertjährigen. Ilias 22, 361. Ilias 22, 355 ff. M. Heidegger, Der Feldweg, S. 6.

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mit krebskranken Kindern hat, formuliert für kindliches Sterben allgemein und unmißverständlich 61 : Der Tod eines Kindes ereignet sich zur »Unzeit«

um die Frage anzuschließen: warum sollte auch der wachsende Organismus vor Erreichen von Maturität und Alter vorzeitig vergehen?

In der Tat: entweder gibt es da keine Zeit zur Reife oder keine Zeit in der Reife. Das leibhafte Leben ist so gut wie ungelebt, zumindest nicht ausgelebt, schon gar nicht in seinen lebendigsten Möglichkeiten. Dennoch. Wer der Trennung vom Leibe zur ›Unzeit‹ das Wort redet, läuft Gefahr, den Vollzug des einander Sterbens biologisch fehl zu interpretieren. Wer erklärt, der unausgereifte und der lebenskräftige jugendliche schöne Leib sei unmöglich zum Sterben bestimmt, sein Inhaber von Natur aus weder abschiedsbereit noch abschiedsfähig, verschätzt sich an seiner eigenen Argumentationsbasis: er übersieht, daß leibhaftes Leben, biologisch geurteilt, zumeist redundant ist. Hohe Kindersterblichkeit spricht, wie wir wissen, nicht notwendig gegen die Fortexistenz von Familie und Sippe. Zur problematischen biologischen Bestimmung des ›vorzeitigen‹ Todes schreibt ein Psychiater 62 : Richtigerweise müßte der Tod ein friedliches Verlöschen sein, eine aktiv geleistete Vollendung, ein freiwilliges Einwilligen in das Gesetz der Natur, nach einem biologisch und seelisch erfüllten Leben. Gewiß gibt es auch den sinnlosen Tod junger Menschen, doch als sinnlos erscheint er nur für die davon Betroffenen. Die Menschheit als Ganzes überlebte die Jahrmillionen ihres Bestehens.

H. Riehm, Tod und Sterben von krebskranken Kindern, in: R. Winau / H. D. Rosemeier, Tod und Sterben, S. 13. 62 E. O. Haisch, Sterben und Tod, eine Bedingung des Lebens, zitiert nach H. Schott, Eros und Thanatos, S. 84. 61

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Abschied vom Leib

Das ist Kants Gedanke der Natur, die ihren Zweck mit dem Menschen auf die Gattung richtet. 63

Heute wird gefragt, (Ivan Illich), ob nicht die Industrieländer mit ihrer Hygiene der ›dritten Welt‹ die Kindersterblichkeit und damit ihre populative Überlebenschance nähmen. Biologisch gesehen hat es immer wieder menschliche Überproduktion gegeben. Empfängnisverhütung und Auswanderung sind seit alters probate Mittel, ihr entgegenzuwirken. Was soll überhaupt die – biologische – Idee des Auslebens menschlichen Lebens, wenn doch der Mensch – anders als Geister wie Teilhard de Chardin – nicht guten Wissens und Gewissens behaupten kann, daß die Natur besonderes Interesse an ihm hätte. Trotz aller ex- eventu-Prophezeiungen mußte es keineswegs zum Menschen auf Erden kommen. Auch zeichnet sich keine verständliche Notwendigkeit ab, daß er mit seinem Leib auf Erden bleiben und auch nur Spuren hinterlassen müsse. Eine wirklich schlüssige biologische Argumentation, daß jedes Leben ›eigentlich‹ in seinem Lebensprogramm auszuleben und auf solche Weise ›wesensmäßig‹ zuendezuleben sei, gibt es nicht. 64 Muß aber Leben nicht in jedem Lebendigen ausreifen, fruchtbar werden und sich erschöpfen, um sich gegenüber biologischen Sinngebungsansprüchen rechtfertigen zu können, dann wird damit auch die Ansicht suspekt, Menschen sei ein rechter Abschied von Leib und Leben nur dann beschieden, wenn es ihnen zuteil würde, eines natürlichen, das meint physiologischen Todes zu sterben. Wer von sich selbst bei gegebener Leibesstärke prinzipiell nicht lassen kann, wird es auch nicht bei gegebener Leibesschwäche können. Gälte die Logik des schlechten und unzeitigen Todes für jedes Leben, I. Kant, Mutmaßlicher Anfang der Weltgeschichte (1786), VIII, 115 f. Die Idee der notwendigen ›Beförderung‹ von angelegten Vermögen ist eine Vernunftidee, die vornehmlich die Selbsterhaltung der Vernunft im Blick hat. Siehe u. a. I. Kant, Metaphysik der Sitten (1797), VI, 445.; ders., Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), IV, 422.

63 64

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Das Teilen von Leben und Tod

solange es auch nur über die geringsten Lebensreserven verfügt, wäre überhaupt kein Leben am Leben, das nicht noch ›eigentlich‹ leibhaft zu leben hätte, kein Leben, das Andere im lebensteiligen Leben, verabschiedet es sich daraus, nicht ›wesenhaft‹ vermissen würden. Sicher – das Gesicht der Mutter wird immer fehlen, nicht weniger die Stimme des Geliebten. Selbst der geliebte Großvater mit seiner Art auf einen zuzugehen und einen hochzunehmen, kann, so gesehen, nie anders als zur ›Unzeit‹ aus dem Leben gehen, kein Enkel ihn je – frei – sterben und totsein lassen. Wenn jedoch nicht biologisch, sondern lebenspraktisch geurteilt sein soll, darf aus wirklichem Schmerz und Unwillen nicht schon geschlossen werden, freier Abschied sei unmöglich. Ein Großvater, den seine Enkel ungern leibhaftig sterben sehen, hat mit seinem Recht auf einen eigenen Tod auch das Recht auf Freigabe des eigenen Leibes. Kinder und Enkel haben ihn sterben zu lassen, haben sich von seiner lebendigen Gestalt und Erscheinung zu verabschieden, haben sich angesichts dieses Todes neu in ihrer Leiblichkeit zu bejahen. Das Gleiche gilt für das Mädchen, das stirbt, noch ehe es Frau war. Soll ein Tod lebensteilig vollzogen und fruchtbar werden, und dazu ist prinzipiell die Möglichkeit gegeben, dann hat auch es sich im Tode eigenes vom eigenen Leib und der Leiblichkeit der Anderen zu verabschieden, haben Andere von seiner individuellen und besonderen Leiblichkeit eigens Abschied zu nehmen, mögen später auch noch so viele Porträts einer eingeschränkten Erinnerung dienen. Je mehr das Sterben bei Reife versprechendem und schönem lebenskräftigen Leib für die betroffenen Überlebenden eine besondere Herausforderung darstellt, um so eher ist es angezeigt, dieser Herausforderung nach Kräften im einander freigebenden Abschiednehmen zu entsprechen. Das setzt freilich voraus, daß der ›Versprechende‹ bereits Leben gelebt, Selbstsein gebildet und eigene Möglichkeiten, wie anfänglich und gering auch, entfaltet hat. Wie der Tod im Leben allgegenwärtig ist, so ist es zum 178 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Abschied vom Leib

Sterben für den Menschen allezeit Zeit. Kein zur Zeit menschlichen Lebens versagt es dem Tod, an der Zeit zu sein. Hier gilt keine biologisch und naturrechtlich verankerte Kairologie, kein Auseinanderdividieren von θάνατος und κήρ, mors und letum, wie es Lessing unternimmt 65 : Unter Κηρ versteht er [Homer] die Nothwendigkeit zu sterben, die öfters traurig werden kann; einen frühzeitigen, gewaltsamen, schmähligen, ungelegenen Tod: unter Θανατος aber den natürlichen Tod, vor dem keine Κηρ vorhergeht; oder den Zustand des Todtseyns, ohne alle Rücksicht auf die vorhergegangene Κηρ. Auch die Römer machten einen Unterschied zwischen Lethum und Mors.

Dem Christen zeigen Christus und danach die Märtyrer, wie es mit dem ›an der Zeit‹ des Sterbens steht. Er lobt den ›Herrn‹, ob Leben gegeben oder genommen wird; er stirbt dem Herrn. Doch es muß kein Gott sein, keine Bezeugung Gottes und kein Vertrauen auf Gott, was den naturzeitigen Tod als den allein zeitigen außer Kraft setzt. Im Menschen selbst, in seinem lebenspraktisch gelingenden Einander, gehören Lebens- und Todesbejahung zusammen. Nun kommt es auch vor, daß einem Menschen, stirbt ihm sein Nächster, daraus gerade keine neue Bejahung eigener Leiblichkeit und Lebendigkeit erwächst. Es ›bricht‹ ihm vielmehr ›sein Herz‹, oder es verlassen ihn ab dem Tag nach und nach die Kräfte. Er stirbt dem Nächsten, wie man sagt, nach. In diesem Falle ist wohl am besten von einem gemeinsamen Tod zu sprechen. Zwar wird da kaum ein altes Paar gleich Philemon und Baucis auf einmal von Göttern verwandelt, um sich beim Abschied in den Tod und angesichts der Verwandlung zurufen zu können 66 : ›Leb wohl, o mein Gatte!‹ riefen sie beide zugleich (dixere simul) G. E. Lessing, Wie die Alten den Tod gebildet, Sämtl. Schriften, hrsg. von K. Lachmann, Leipzig 1855, Bd. 8, S. 235. 66 Ovid, Metamorphosen VIII, 717 f. 65

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Das Teilen von Leben und Tod

aber auch bei der zeitlichen Differenz ist es für die betroffenen Überlebenden wie ein Abschied, wie ein Tod.

12. Abschied von Kunst und Philosophie Das Leben eines Menschen will im Tod auch eigens von Sinnlichkeit und Geistigkeit verabschiedet sein, z. B. von den ›Sichten‹. Sichten sind die unvermeidlichen und unerläßlichen Auslegungen des Gesehenen. Sie werden nie rein subjektivindividuell gebildet. Menschliche Sinnlichkeit kennt keine ›Privatsprache‹. Sichten sind stets geteilte und nicht geteilte Sichten. Dennoch, ja deswegen sind sie je eigene. An Künstlern, denen nachzusagen ist, das sinnliche Gewissen je einer Zeit zu sein, läßt sich das verdeutlichen. Ihre Klang-, Farb-, Gestalt- und Bewegungsvisionen werden stets von einer sinnlichen Öffentlichkeit geteilt, wie groß sie auch sein mag, ob sie die Kultur einer Zeit beherrscht oder nicht. Im Tode gilt es, sich von den Sichten zu verabschieden, von den Blicken und Perspektiven. Das bedeutet nicht, am Ende des Lebens als Künstler die eigene Kunst zu widerrufen, erfordert nicht notwendig, als älterer Künstler bei jüngeren zu lernen (was viele versuchen und tun), sondern heißt allein, im gelingenden Abschied die eigenen Sichten freizugeben, um so auch den – sinnlich – überlebenden Anderen, den Künstlern und ihrem Publikum, eigene und neue Sichten zu lassen, in denen anderes Sehen frei dazu findet, ob es die alten verabschiedeten Sichten als ›dieselben‹ neu sieht und so über den Tod hinaus teilt, oder ob es sich von den Sichten einer im Tod verabschiedeten Kunst und Zeit löst, um ›ganz‹ neu zu sehen. Auch die Überlebenden haben entsprechend abschiedlich und sinnlich zu handeln: dem Sterbenden seine Sichten als die seinen zu belassen, in den Abschied von ihm einzubeziehen, um so selber eigens und aufs neue sinnlich-sehend gefordert zu sein. 180 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Abschied von Kunst und Philosophie

Der Tod des Menschen gehört zum Leben der Kunst. Kunst macht keine Fortschritte, wird nicht besser, nicht künstlerischer. Kunst hat aber ihre Zeiten (Kairoi): sie lebt. Ohne Tod, ohne gelingenden Abschied von Sinnlichkeit im menschlichen Einander von Leben und Sterben, würden maßgebliche Sichten von Künstlern, die das sinnliche Gewissen ihrer Zeit repräsentieren, dem menschlichen Einander entzogen. Sie verselbständigten sich zu ›ewigen‹ Gesetzen und Wahrheiten, die auf Dauer jede Kultur töten. Die bewahrenden und erneuernden Prozesse, wie sie jedes zeitgenössische Kunstgeschehen kennzeichnen, brauchen freilich auf den ersten Blick nicht den Tod. Lebende Künstler, auch junge, können für künstlerisch ›tot‹ erklärt und aus der Öffentlichkeit der Kunst verdrängt werden, längst tote in den Mittelpunkt des Kunstlebens rücken. Wir sind aber auch nicht von der Kunst auf den Tod, sondern vom Tod auf die Kunst gekommen. Da aber eben zeigt sich, daß und inwiefern menschliche Lebensteilung im Sinnlich-Künstlerischen den Tod als Abschied braucht. Die bewahrenden nicht weniger als die erneuernden Sichten der Kunst haben die alten freizugeben, um neu und ggf. Neues zu sehen. Gleiches gilt von ›Sichten‹ des Geistes. Platon setzt den Wert des geschriebenen Wortes gegenüber dem Mündlichen herab, indem er daraufhinweist, es könne sich nicht selber verteidigen. 67 Doch das ist ja ein Glück, denn sonst könnte ein Geist in alle Ewigkeit Recht behalten wollen und sich immer neue Verteidigungen seines einmal literarisch objektivierten Wortes ausdenken. Alternde Philosophen sind bekannt dafür, nicht mehr sonderlich lernfähig zu sein und nurmehr ihre eigenen Ansichten zu ›teilen‹. Wenn für Martin Heidegger gilt, daß der alte Philosoph als solcher rechtzeitig bei einem vollends gefügten Gedanken innezuhalten habe, bei einem Gedanken mit Schlußstein, dann wird er an keinem einzigen Bau67

Platon, Phaidros 275d-e.

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Das Teilen von Leben und Tod

stein seines geistigen Gefüges rütteln lassen wollen. Der alte Heidegger bekundete Besuchern schelmisch, er läse nurmehr sich selbst, um wirklich Gutes zu lesen. Auch zeigt er sich als ein Meister, wenn es gilt, überzeugende Einwände, die ihm gegenüber vorgebracht werden, bereits in seinem Werk berücksichtigt zu sehen, das er daraufhin uminterpretiert und mit insgeheimen Absichten versieht. Das spricht nicht gegen Heidegger, wohl aber gegen den Wunsch, einem geistigen Menschen für immer das Wort haben zu lassen. Verdient sein Wort als ›dasselbe‹ weiter gesagt zu werden, dann haben das Andere zu tun, die es frei als neues, nun eigens von ihnen gedachtes und gesagtes aufnehmen. Auch lebendige Philosophie braucht ihre Toten, denen es im Tode gelungen ist, sich von ihren Sichten zu verabschieden und Anderen ihre eigenen Sichten freizugeben. Die sind in jedem Falle, auch wenn sie alte Sichten wiederholen, neu. Überlebende sind es, die die Sichten der Toten denselben eigens belassen, sich von ihnen als von gesehenen Sichten verabschieden, um selber sehen zu lernen – vielleicht ›dieselben‹ Sichten. Gegenüber Studenten, die mit ihm über ›Heidegger‹ fachsimpeln wollen, gebraucht Heidegger das Wort: »Stehen Sie nicht auf zwei Augen!«. Für das Leben der Philosophie genügen nicht verschiedene Schulen, die nicht miteinander reden, und sich in ihren Epigonen tod-los fortzeugen. Philosophie braucht gelingende Abschiede von sich selbst, um, wenn es glückt, immer wieder einmal an der Zeit zu sein.

13. Abschied von Zeit und Geschichte Wer im Tod von seinem Leben Abschied nimmt, trennt sich von der eigenen Lebenszeit: von Vergangenheit und Zukunft, das ist von Zeiten (Chronoi), die er als die seinen mit Anderen geteilt hat. Jetzt, mit seinem Tode, gewinnen die Anderen Vergangenheit und Zukunft, die er mit ihnen nicht mehr als die 182 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Abschied von Zeit und Geschichte

seinen zu teilen hat. Die werden ganz die ihren. Er gibt sie als Eigenes den Anderen frei. Die wieder sind es, die sich von seiner Vergangenheit und Zukunft zu trennen haben. Sie lassen ihn bei seinem Tode aus der Zeit gehen, auch wenn ihr Verhältnis zu ihm ein zeitbedingtes, den Veränderungen der Zeit unterworfenes bleibt. Lesen wir von jemandem, er hätte seine Hoffnungen mit ins Grab genommen, dann können wir darauf nur antworten, daß er das nicht hätte tun sollen. Es wäre besser gewesen, sich von ihnen zu verabschieden, ihnen als den eigenen auch von Anderen den Abschied geben zu lassen, um neue – lebendige – Hoffnungen frei den Überlebenden zu überantworten, und wären es ›dieselben‹ Hoffnungen. Entsprechendes ist von den Erinnerungen zu sagen. Doch wer möchte sich schon von seiner Biographie trennen. Die Einmaligkeit des Lebens versteht sich gern als die des gelebten Lebens. Das menschliche Individuum aber wird, möchte man meinen, beim Abschied in den Tod dem Abschied von der eigenen ›Individualität‹ den härtesten Widerstand entgegensetzen, und nicht etwa dem von seinen Kairosprägungen (z. B. alt, krank, Mann und Philosoph zu sein). Doch eine Gewichtung unter dem, wovon sich Einer im Tod zu trennen hat, ist lebenspraktisch ohne Sinn. Wenn es für Einen an der Zeit ist, sich selbst in den Tod und die Anderen ins Leben freizugeben, hat er mit gar nichts zu geizen. So gehört der Abschied von den Geist und Blut gewordenen eigenen Erinnerungen und den Erinnerungen Anderer schlicht zum Sterbenkönnen. Nur auf diese Weise sind auch die Anderen fähig, ihn sterben zu lassen und sich von seinen Erinnerungen zu trennen. Marcel Proust hat es dramatisch beschrieben, was aus Erinnerungen an einen Menschen wird, den man nicht tot sein zu lassen versteht. Der Tod Albertines bringt den Helden der Recherche dazu, daß sich seine Erinnerungen verselbständigen, sich aus sich selbst zu speisen beginnen, und einen mitleidlosen Kampf gegen die Lebensbefähigung ihres ›Eigners‹ 183 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Das Teilen von Leben und Tod

führen. 68 Bemerkenswert sind auch Beobachtungen an ›geschädigten‹ Kindern, die über keine Freiheit der Phantasie verfügen und beispielsweise wie zum Trotz für sich ein Bild des gestorbenen Vaters fixieren, um gegen alle Welt Recht zu haben, wer der tote Vater eigentlich war und ist. Hoffen und Erinnern, Vergangenheit und Zukunft brauchen den Tod. Wo kein Kairos wahrzunehmen ist, im Tod alles Zeitliche (im Sinne von Chronos) zu verabschieden, da gibt es auch keinen Kairos des Lebens, aufs neue einander Zeit zu geben und zu lassen, Vergangenheit und Zukunft in lebendiger Gegenwart neu zu teilen. Zu menschlichem Leben gehört es, aus gelingendem Tod jeweils seine neue Zeit zu gewinnen. Menschliches Leben läßt sich nicht von Leben zu Leben mit ein und derselben ›alten‹ Zeit leben. Es gibt keine zeitenübergreifende Verbindlichkeit, kein zeitnivellierndes Diktat gelebter Erinnerungen und Hoffnungen. In der einen ›alten‹ Zeit würden alle Lebenserinnerungen und Lebenshoffnungen zu toten. Lebendige Hoffnungen und Erinnerungen brauchen Zeiten des Lebens und Zeiten des Sterbens, brauchen Aneignung und Verabschiedung. Das gilt nicht nur von den Zeiten der Lebensgeschichte, sondern nicht weniger von jeder den Menschen belangenden Geschichtszeit. Keine Neugier auf das, was die politischen, kulturellen, wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen bringen werden, keine Befürchtung, aber auch kein Drang der Selbstgestaltung geschichtlicher Zukunft wird in einem Leben vollends ausgelebt, befriedigt und bewahrheitet. Anstatt aber mit dem eigenen Leben alles ›Weitere‹ für beendet und sich selbst, als geschichtlich am Ende, auch schon für ein geschichtlich Letztes zu erklären, spricht gedeihliche Lebensteilung dafür, daß der Sterbende, wie aus dem Leben, auch aus der Geschichte zu gehen versteht: die Dialektik der Herausforderung des Menschen in seinem Leben auf Erden unter Menschen zu 68

M. Proust, À la recherche du temps perdu, Paris 1954, III, 478 ff.

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Abschied vom Kairos

bejahen, und die Überlebenden neue Antworten auf neue geschichtliche Herausforderungen finden zu lassen. Verfügungen über den Tod hinaus, wie sie geschichtliche Persönlichkeiten, nicht zuletzt politische Machthaber treffen, belegen zumeist nicht mehr als Unwillen und Uneinsichtigkeit, im Tode auch die eigene Geschichtlichkeit, aktive wie passive, freizugeben und Andere neu geschichtlich sein zu lassen.

14. Abschied vom Kairos In das biologisch erkannte Erfordernis des Todes einzuwilligen, wäre eine falsch gestellte Aufgabe. Dafür ist der Mensch zu weit von einem Leben entfernt, das sich biologisch verstehen wollte, oder gar ohne alle Reflexion schlicht den Gesetzen ›des Lebens‹ folgen könnte. Etwas ganz anderes ist es, sich mit dem handlungstheoretisch erkannten Erfordernis des Todes auseinanderzusetzen. Hier sind keine fatalistischen Einwilligungen verlangt, keine heroischen Attitüden, sondern die Fähigkeit des Brauchens und Fruchtbarmachens gefordert. Da der Tote jedoch unfähig ist, für sich eine Rechnung darüber aufzumachen, was ihm der Tod an Gewinn gebracht hat – er ist für Überlebende und nicht für sich tot, kann die praktische Bedeutung des Todes allein an zwei Dingen festgemacht werden: erstens an dem Anstoß zu neuem Leben, der für betroffene Überlebende von einem Tod ausgeht, und zweitens an der Vergegenwärtigung dessen, was an Lebensverkehrendem und Lebensaufhebendem sich für einen Menschen einstellen müßte, der todlos für immer zu ›leben‹ hätte. Eine ewige Zeit (Chronos) hebt mit Vergangenheit und Zukunft als den beiden Zeiten (Chronoi) auch alle praktischen Zeiten (Kairoi) auf. Für ein einziges ewiges Wesen ist nichts mehr an der Zeit. In seiner Ewigkeit streitet es aber schon mit jedem anderen Wesen, weil es in der grenzenlosen Art, Chronos zu sein, allem und jedem den Kairos nimmt. Was es selbst 185 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Das Teilen von Leben und Tod

nicht hat, macht es zugleich bei anderen unmöglich. Die für äußerst denkergiebig erachteten Überlegungen, wie denn ein ewiges Wesen zur Schaffung von Zeit und Zeiten (Chronos, Chronoi) gekommen sein konnte und wie einem zeitlichen Wesen, das unter dem ewigen steht, selbstverantwortlich genutzte Kairoi überlassen sein sollten (Augustinus und Schelling in ihrem Freiheitsdenken), zehren davon. Sie lenken von dem Gedanken ab, wie menschlicher Tod im Einander praktisch fruchtbar zu machen ist. Zu einem gelingenden Tod gehört darum nicht zuletzt, den Kairos freizugeben. Das aber bedeutet, nicht nur nichts Eigenes in den Tod mitnehmen zu können, sondern eigens von jedem Versuch in diese Richtung Abstand zu nehmen, d. h. eben sich im ganzen Reichtum seiner kairologischen Gestaltung selbst und für Andere freizugeben. Ein gutes ›weltliches‹ Beispiel dafür ist die Freigabe der Gelegenheiten (Kairoi) für Gewinn in der Zeit (Chronos) und für zeitlichen Gewinn selbst. Das berühmte »alles ist vergeblich und nichtig« (Luther: »alles ist eitel«) des Prediger Salomo spiegelt die Tatsache wider, daß ein Mensch nichts von dem, was er mit der Zeit faktisch und rechtlich zu dem Seinen macht, ›mitnehmen‹ kann. Alles muß er Überlebenden hinterlassen. Für den Prediger ist das »verdrießlich« und ein »großes Unglück«: der Inbegriff der Nichtigkeit menschlichen Lebens. 69 Präziser kann das Unverständnis gegenüber der Fruchtbarkeit menschlichen einander Sterbens nicht gefaßt werden. Der reine Egoismus des Besitzer-›glücks‹ wird vorgeführt. Platons Reicher zu Eingang der Politeia, auch ziemlich auf sich selbst (und die Götter) bedacht, hatte immerhin noch ein Wohlgefallen daran gefunden sterben zu können, ohne jemandem Geld schuldig zu bleiben, um so seinen kleinen abschiedlichen ökonomischen Beitrag zur Ordnung von Polis und Kosmos zu leisten.

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Siehe vor allem Prediger 1, 3; 2, 21; 3, 9.

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Abschied vom Kairos

Keinerlei Besitz und Eigentum verträgt auf Dauer Zeit (Chronos). Jede Institutionalisierung von Werten und Schätzen verselbständigt sie und entfremdet sie ihrem Gebrauch. Der Besitz wird chronisch, jeder Kairos, zu etwas zu kommen, steht nurmehr im Dienste des Chronischen. Jeder Erbgang führt Besitz und Eigentum neu dem Gebrauch zu – auf die Gefahr hin, verschwendet und vergeudet zu werden. Erbteilung, das Faktum, daß es zumeist eine Mehrzahl ist, die in den Genuß des Erbes eines Erblassers kommt, erfüllt mit den Zweck, die in die bloße Dauer enthobenen Güter in lebenspraktische Brauchbarkeit und Fruchtbarkeit zurückzuführen. Jeder Besitz und jedes Eigentum hat in sich die Tendenz, der Besitz alles Besitzbaren, das Eigentum alles als Eigentum zu Habenden zu werden. Der Zug ins Unbrauchbare und Unfruchtbare der bloßen Zeit ist im Erwerbs- und Gewinnverhalten des Menschen grenzenlos. Wem es gelingt, sich von zeitlichem Gewinn zu verabschieden und ihn Erben eigens freizugeben, gibt etwas, was bereits chronisch zu erstarren drohte und erstarrt war, an den Kairos menschlicher Lebenspraxis zurück. Die Erbenden werden entsprechend nicht mit ambivalenten Gefühlen 70 zu hadern haben: zum einen möglicher Schmerz wegen des Todes, zum andern sichere Freude über das Erbe, wie es alte und neue Komödienwahrheit ist. Das Zerreißen eines Einanders durch des Einen Abschied in den Tod bedeutet immer auch: das freigewordene Zimmer, die freigewordene Verantwortung. Die Freude über das, was neu als Eigenes zu brauchen und fruchtbar zu machen ist, darf ungeteilt sein, verlangt kein schlechtes Gewissen.

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S. Freud, Zeitgemäßes über Krieg und Tod, X, 342.

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Das Teilen von Leben und Tod

15. Abschied vom Gebrauchtsein Zu seinem vollends gelungenen Abschied gehört, daß der Tote nicht nur tot, sondern in seinen praktischen Vermögen auch wirklich nicht mehr gebraucht ist. Die Erben verstehen es oder verstehen es nicht, mit der Hinterlassenschaft umzugehen – den Erblasser brauchen sie in keinem Fall dazu. Wer seine öffentlichen Sachen endgültig zu regeln hat, um sie Anderen zu hinterlassen, hat sich mit einem Wort, vom gemeinsamen Gebrauchtsein zu verabschieden, was des näheren heißt, sich von Arbeit, Sorge, Verantwortung als je eigener zu trennen. Die Freigabe der eigenen Arbeit verlangt die Einsicht, daß, was selbst zu tun war, getan ist. Die Rede, es gäbe etwas, was einzig und allein einem selber gelingen könnte, wird unwahr. Tod ist eine Aufhebung von Arbeitsteilung: Arbeit wird im ganzen übergeben, entsprechend mit ihr öffentliche Sorge und Verantwortung. Wo Arbeit, Sorge und Verantwortung zeitlebens gedeihlich geteilt werden und nichts davon ungeteilt in Durchsetzung eines Alleinvertretungsanspruches übernommen wird, ist das Gelingen des Abschieds vorgezeichnet: der Tote, der frei von öffentlichen Verpflichtungen ist, die betroffenen Überlebenden, die neu frei dafür sind. Ohne öffentlichen Tod gäbe es für Menschen im letzten nichts Neues gemeinsam zu tun, nichts neu gemeinsam zu verantworten. ›Nichts Neues unter der Sonne‹ gewänne die Bedeutung: ›Am Turm zu Babel wird weitergebaut – für alle Zeit‹. Jede öffentlich in Gang gebrachte Arbeit und übernommene Verantwortung geriete ohne letzten Abschied vom öffentlichen Gebrauchtsein zum Imponiergehabe eines Turmbaus zu Babel. Öffentlichkeit lebt entscheidend mit von ihren – gelingenden – Toden: sie bringen das Neue unter der Sonne, das wirklich nach neuer Arbeit, Sorge und Verantwortung fragt. Fortführung des Alten bleibt möglich, folgte aber keinem Zug des Unbedingten. Der für die Öffentlichkeit Tote wird von ihr nicht mehr 188 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Abschied von der Liebe

gebraucht. Die Moral davon ist, daß, soviel auch ein Gestorbener zu tun unterlassen haben mag, was ›eigentlich‹ öffentlich von ihm gefordert war, er davon doch im Tode nichts schuldig bleibt. Wie keine weitere Arbeit zu erbringen ist, so verbleibt auch kein Rest, der nach Sühnung und Wiedergutmachung verlangte. Wenn sonst das öffentliche Gewissen seine Ohnmacht daran erfährt, einen Schuldigen, der tot ist, nicht mehr erreichen zu können, dann hat es mit dem Toten, der von der Öffentlichkeit in den Tod freigegeben ist, erst gar nichts vor. Bei jeder gelingenden Trennung vom Leben wird dem Es-war sein Gift, dem Noch- nicht seine bedrückende Macht genommen. Was als vorgefallen erkannt und was für ausstehend angesehen wird, ist ›jetzt‹ neue alleinige Sache der Überlebenden. Moralisches Leben, das als lebensteiliges auf keine individuelle Verantwortung in alle Ewigkeit festgelegt ist, braucht den Tod, wird aufs neue fruchtbar durch ihn.

16. Abschied von der Liebe Bei allem für nötig erkannten und der Lebensbefähigung förderlichen Haß – kein Leben bejaht menschliches Einander, das sich nicht ›zuvor‹ geliebt weiß und selber zu lieben versteht. Liebe, wenn es denn Liebe ist, wirkt in jeder ihrer Formen für lebensbefähigende Lebensteilung grundlegend. Vielfach beherrscht sie menschliches Einander wie ein Unbedingtes. Darum scheint keine Lebenszeit, auch die der Todesnähe nicht, sich darauf einlassen zu können, sie wechselseitig freizugeben. ›Gebrochene Herzen‹ deuten Unersetzbarkeit an. Forderungen und Versprechen sind belegt, einander die Liebe ›über das Grab hinaus‹ zu bewahren. Doch gerade einem Liebsten als dessen Liebster zu sterben, verlangt, sich einander je vom Geliebten und der Liebe zu ihm zu verabschieden. Der Liebende und Wiedergeliebte stirbt als solcher dem von ihm Geliebten und ihn Wiederliebenden, niemandem 189 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Das Teilen von Leben und Tod

sonst. Das besagt nicht, die Liebe dauere, vom Tode unbeindruckt, fort. In keiner füreinander fruchtbaren und lebensbestimmenden Teilung der Zeiten, auch in der auf den Tod versprochenen und bis zu ihm währenden erotisch- agapischen nicht, werden unlösbare Knoten geknüpft. Das würde die Selbstaufgabe des Einen und Anderen bedeuten. Zu jedem voll genutzten und fruchtbaren Einander gehört es, daß der Eine und der Andere je er selbst und d. h. je im Eigenen des Anderen frei ist. Die Kairosgestalt des Liebenden ist im Tod nicht mehr und nicht weniger freizugeben als jede andere. Darum macht der Tod eines geliebten Wiederliebenden, wenn er als Abschied gelingt, den Anderen, steht dessen Sinn danach, für neue Bindungen offen und fähig, steht sein Sinn anders, für eine neue Bindung an die alte Liebe, die sich als die lebens- und veränderungsfähige zu einem Toten zu bewähren hätte. Zwar bleibt Unersetzbarkeit. Wiederholung ist unmöglich. Neues jedoch ist möglich – in neuer und in alter Orientierung. Gerade wirkliche Unersetzbarkeit und Nichtwiederholbarkeit eröffnen neue lebenspraktische Möglichkeiten. Je freier es im Tode, der den Einen vom Anderen scheidet, gelingt, die Sache des Lebens neu zu der des Überlebenden zu machen, desto klarer zeichnen sich freie Möglichkeiten für das Leben ab, dem sein anderes gestorben ist. Wer nach verbindlichen Erklärungen verlangt, sie erhält und selber gibt, sich niemals wieder neu und anders zu binden, nachdem einer der Liebespartner den Tod gefunden hat, setzt kein Zeichen glückender erotisch-agapischer Lebensteilung. Im Grunde wird damit auch eine nach dem Tode mögliche Erneuerung der alten Beziehung verneint. Liebe braucht den Tod – in ihm findet sie von Grund auf Halt. Der Sache nach ist es nie eine bloße façon de parler, einander auf den Tod zu versprechen, so man sich einander Liebe verspricht. Liebe braucht den Tod, schon um sich nicht in uferloser Ausschöpfung von Kraft und Phantasie gegenseitiger Zuwendung auszuzehren. ›Auf ewig‹ lieben – das bedeutete, real gemeint, von vornherein den Tod der Phantasie, die Impotenz 190 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Abschied von der Liebe

des Gefühls. Im Gegenzug gibt es aber auch kein Liebesversprechen auf Zeit. Sich auf den Tod zu versprechen, setzt der Liebe keine Zeit, die Chronos und nicht Kairos wäre. Das Versprechen auf den Tod sieht zwar auf eine endliche Zeit (Chronos) vor, nicht aber auf eine durch Chronos begrenzte, sondern auf eine allein durch den Kairos des Todes markierte: durch das An-der-Zeit-sein, daß der Eine dem Anderen stirbt. Wie es kein Liebesversprechen auf Zeit gibt, so auch kein Probelieben, das womöglich als Lieben mit »kleinen Energiemengen« 71 zu verstehen wäre. Wenn sich einander Versprechende vor der Heirat ausprobieren, ob es bei der Paarung zu Kindern kommt, hat das seine Bedeutung für Rechts- und nicht für Liebesverhältnisse. Andererseits setzt Liebesversprechen keine Liebesheirat voraus. Die rechtliche Form der Verbindungen, in denen sich Menschen einander auf den Tod versprechen, ist nicht stets und überall von Gewicht. Liebesversprechen auf den Tod werden einander auch außerhalb rechtsverbindlicher Verbindungen gegeben. Im Versprechen der Liebe auf den Tod und der Freigabe der Liebe in den Tod entdeckt das Verhältnis von Tod und Liebe eine außerordentliche Herausforderung und Bewährung menschlicher Freiheit. Das einander in Liebe Verbinden ist ursprünglich ein einander Freigeben in den Tod. Die Diskussion der Willens- und Handlungsfreiheit, wie sie die philosophische Tradition beherrscht, schließt als individualistische wie als universalistische ein lebenspraktisches Freiheitsverständnis methodisch aus. Freiheit in praxi braucht den Einen und Anderen, nicht den Vereinzelten, nicht alle (nicht den Universalisierten). Menschen sind frei, wenn sie frei sind, im Eigenen des Anderen. Zur menschlichen Freiheit gehört nicht nur die ›erste Endlichkeit‹, nicht jeder zu sein, sondern auch die ›zweite‹, nicht für immer zu sein. Zum Begriff des Probehandelns siehe S. Freud, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, XV, 96; vgl. II/III, 605.

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Das Teilen von Leben und Tod

Philosophen haben die Idee der Freiheit am Freitod festgemacht. 72 Ganz abgesehen von der Frage der Pathologie des ›freien‹ Todes – die Freiheitstheorie, die im Freitod die grundlegende Möglichkeit menschlicher Freiheit entdeckt, vergißt schlicht die Liebe und das Einander. Das Verhältnis, das menschliche Freiheit vor allen anderen Verhältnissen herausfordert, ist das des einander Liebens und Sterbens. Die Einschränkungen, die menschliche Freiheit herausfordern und an denen sie sich bewährt, sind der Andere und der ›andere Andere‹, der Tod. Liebende finden aneinander Halt, weil sie als Liebende ihren Halt mit am Einander ihrer Tode haben. Einander in die – je eigene – Liebe freizugeben, gehört mit dem einander Freigeben in den Tod zusammen. Im einander Versprechen der Liebe auf den Tod liegt für die Versprechenden, insofern sie das tun, auch schon eine je eigene Befreiung zum Tode. Wer als Liebespartner das Lieben und Geliebtsein für Lebensbefähigung und Leben fruchtbar macht, ist auf besondere Weise todesbefähigt. Das einander Versprechen auf den Tod und die darin begonnene Mitwisserschaft, einander in den Tod freizugeben, sind es, in denen die Todesbefähigung eines Lebens gründet. Liebe braucht den Tod; sie ist kein Bündnis gegen ihn.

17. Abschied von der Gegenwart im Gedächtnis Einander lieben – das meint: der Eine liebt den Anderen und umgekehrt. Einander sterben und tot sein – hier hat das »einander« eine andere Bedeutung: Einer stirbt dem Anderen, Einer ist dem Anderen tot. Wechselseitigkeit hat nicht statt. Dasselbe gilt für das Gedächtnis. Stirbt Einer dem Anderen und ist er dem Anderen tot, dann bewahrt dieser sein Gedächtnis. Der Überlebende bestimmt die Gegenwart, in die er den 72

H. Ebeling, Über die Freiheit zum Tode, Diss. Freiburg 1967.

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Abschied von der Gegenwart im Gedächtnis

Toten kraft Erinnerung holt. Der Tote hat kein Für-sich, ist nicht aus sich zur Gegenwart fähig. Doch auch das freundlichste und beste Gedächtnis garantiert keinem Verstorbenen ewige Gegenwart. Als ein letztes gehört es zum Tod als Abschied, sich von der Gegenwart im Gedächtnis Anderer vorweg zu verabschieden, da sie nicht von Dauer und auch nicht auf Dauer gebraucht und fruchtbar ist. Sigmund Freud schreibt in einem Brief 73 : Sie werden mich nach meinem Tode in Ihrer freundlichen Erinnerung fortleben lassen, die einzige Art begrenzter Unsterblichkeit die ich anerkenne.

Das klingt ›realistisch‹ – dem Tod klar in die Augen sehen und akzeptieren, was er bringt: limitierte Unsterblichkeit durch den Anderen, weil man in seinem Bewußtsein Wohnung bezieht; dann schließlich endgültiges Vergessensein, weil dieses Bewußtsein keine ewige Bleibe bietet. Das hat etwas vom Aufgeklärtsein ›alter Schule‹, von der Rationalität eines Grandseigneurs, der menschlich ›Rasse‹ zeigt. Zugleich aber hat es den Beigeschmack des Fatalistisch-Heroischen. ›Begrenzte Unsterblichkeit‹ – ließe es die Realität zu, würde man gerne mehr davon haben. Im Grunde sagt Freud nichts anderes als das, was täglich beschwörend und zum Selbsttrost in Todesanzeigen jüngst Verstorbenen nachgerufen wird: Wer im Gedächtnis seiner Lieben lebt, ist ja nicht tot, er ist nur fern, tot ist nur wer vergessen wird.

Der Autor dieses Dreizeilers 74 meint es gut mit den Toten: ›selber‹ weiterzuleben, indem sie im Gedächtnis Anderer ›leben‹. Doch es verhält sich genau anders, als es sich beide Schreiber ausmalen. Ein Gestorbener ist nur solange tot, als Aus einem Brief an Marie Bonaparte. Zitiert nach J. Cremerius, Freuds Sterben. 74 J. Ch. von Zedlitz, 1790–1862. 73

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Das Teilen von Leben und Tod

er für jemanden tot und nicht aus aller Gedenken und Gedächtnis geschwunden ist. Einander zu sterben und tot zu sein, ist nicht das letzte, wozu ein Mensch unterwegs ist. Das alte ›aus Erde zu Erde‹ im Menschen will mehr. Um in der Gewißheit des Todes den Lebenshalt und beim Eintritt des Todes den Tod zu finden, ›wirklich‹ in Totsein überzugehen und jemandem gestorben und tot zu sein, bedarf es der Anderen. Die Gewißheit des Todes greift aber immer schon weiter aus. In ihr liegt von vornherein die Gewißheit der ›dritten Endlichkeit‹ : ich bin nicht nur nicht jeder, bin nicht nur nicht für immer am Leben, ich bin auch nicht für immer tot. Das ist kein Auferstehungsgedanke. Das ist vielmehr als erfreuliches Moment menschlicher Gewißheit anzusehen, daß wir, die wir uns im Leben einander beenden und je durch den Tod beendet sind, durch den eigenen und durch den Tod der Anderen, selbst und gerade in unserem Teilen von Leben und Tod einmal ein Ende finden. Auch menschlicher Abschied ›verweht‹, und seine Stätte kennt ihn nicht mehr. Wie gesagt: erfreulicherweise. Nicht schon im Abschied vom einander Lieben vollendet sich die Verabschiedung aus der Mitwisserschaft des lebensteiligen Lebens, sondern im Abschied vom einander Gedenken. Die lebenspraktische Gewißheit des Menschen, einander zu lieben und zu brauchen, miteinander Zeit zu haben und einander zu sterben, vollendet sich in der Gewißheit, vergessen zu werden. Das einander Gedenken über den Tod hinaus kann und will an dieser Gewißheit nicht vorbei. Zur Gewißheit des Todes gehört die Gewißheit gänzlichen Vergessenseins. Niemand hat auf Dauer ein Toter zu sein, der Lebende bewegt und sich in deren Bewegtsein immer neu gestaltet. Der Mensch braucht die Gewißheit gänzlichen Vergessens, um im Tode sein Leben vollends gelebt zu wissen. Die Anderen, die vorerst am Leben bleiben, müssen nicht erst noch das Rechte aus seinem Leben machen, wenn er gestorben ist. Ihr neu zu lebendes Leben gestaltet nicht gelebtes anderes, 194 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Abschied von der Gegenwart im Gedächtnis

sondern eigenes Leben, um, wenn es Zeit ist, selber gänzliches Vergessen zu finden. Das ist kein Lob der Vergänglichkeit, kein verklärter Ton des eigentlich bloß Schmerzlichen, sondern die Bestimmung dessen, was menschliches Leben und Sterben in seinem Einander letztlich braucht und fruchtbar macht. Die praktische Gewißheit, vergessen zu werden und nicht für immer tot zu sein, ist von ganz eigener und erheblicher Bedeutung, dem Menschen ein vollendetes Leben zu garantieren. Gäbe es die Gewißheit des Vergessens samt ihrem Grund nicht, dann würde der Mensch sein Leben, wie es auch kommt und endet, stets für defizitär und sinnlos ansehen müssen. Es gäbe keinen Kairos des Sterbens und keinen des Lebens, weil das Leben aus sich und in sich unfähig wäre, vollendetes Leben zu sein. Allein in der Gewißheit zu sterben und vergessen zu werden ist das Verständnis des Menschen von sich selbst angelegt, sein im Einander gedeihliches Leben bedürfe keiner Sinnergänzung, keines Sinn-Spruchs von außerhalb. Das ist freilich dem Menschen mit am nachhaltigsten eingeredet worden: wenn das Leben schon alles wäre, dann wäre es nichts, dann bliebe nur trostlose Verzweiflung. Mögen aber auch Lebenssemantiker immer Konjunktur haben, einmal die Sinn-Nachfrage, ein andermal das Sinnangebot überwiegen – was da an Sinnbedarf und Sinnverbrauch behauptet wird, gehört Wunsch- und Trostbildern zu, ohne die Menschen unter Umständen nicht leben und sterben mögen, offensichtlich nicht leben und sterben können. Wer alt, verarmt und vereinsamt auf seinen Tod wartet, wer jung und verzweifelt seinen Tod kommen sieht, für den kann das große alte Wort des Paulus von nicht zu überschätzender lebenspraktischer Bedeutung sein 75 : Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum, wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. 75

Römerbrief 14, 8 – nach Luther.

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Das Teilen von Leben und Tod

Sich nicht allein zu wissen, zumal in der Stunde des Todes nicht – das ist Sinnergreifung par excellence. Der Mensch setzt auf anderes Bewußtsein, um leben und sterben zu können, und, wenn sonst nichts hilft, auf ›ganz‹ anderes Bewußtsein. Das hat ein Philosoph wie Augustinus entsprechend durchgespielt 76 : Wenn die ganze Welt, ja die Wahrheit selbst untergeht, ist es noch wahr, daß die Welt und die Wahrheit untergegangen sind. Nichts ist aber wahr ohne die Wahrheit. Also geht die Wahrheit nie und nimmer (nullo modo) unter.

Alles, was geschieht, auch der Untergang des Menschen und ›seiner‹ Welt, hat jemandem zu geschehen. In den Untergang des Ganzen (totus mundus) schließt Augustinus, ebenso logisch bedenklich wie theologisch absichtlich, das Bewußtsein Gottes nicht mit ein. ›Dem Herrn zu sterben‹ – das bietet, wie wir ermessen können, nicht nur dem lebenspraktisch Vereinsamten, sondern auch der vom Genozid bedrohten Menschheit, mit menschlichem Tod ohne Zeit der Grabstätte und des Gedächtnisses, Trost. Sinngebungen, die von einem als extern gesetzten Standpunkt aus gegeben werden, mögen lebens- und todesbefähigend, auch -schädigend, mögen von großer oder geringer religiöser und poetischer Kraft sein 77 , sie kommen beim Blick auf das Einander, in dem sich Menschen zum Leben und Sterben befähigen, ihr Lebens- und Todesverhältnis brauchen und fruchtbar machen, einfach nicht in Betracht. Diesem Blick Soliloquien, II, 28. Zu den Möglichkeiten von Vernunft und Glauben, auf je eigene Weise den Horizont menschlichen Lebens und menschlichen Todes zu überspielen, siehe R. Marten, Leben und Vernunft. Thesen zur Ideologie menschlicher Selbsterhaltung und zur Neubestimmung menschlicher Selbstbejahung, in: Zeitschr. f. Philos. Forsch. 38 1984; ders., Glauben als wahrheitsfähiges Handeln, in: Neue Zeitschr. f. System. Theol. u. Religionswiss. 19 1977.

76 77

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Abschied von der Gegenwart im Gedächtnis

zeigt sich das Einander, in dem sich menschliches Leben und Sterben vollendet, als Sinnganzes. Wer über den Anderen nicht den ›anderen Anderen‹ vergißt, wird eben am Tod für ein Leben Halt gewinnen, das einander in den Tod und das Vergessen freigibt. Wer hier ein Sinndefizit feststellen zu müssen glaubt, möchte Dinge, die er nicht hat, anderen andienen, die sie nicht brauchen. Mit Überlebensgiganten von der Art eines Sokrates und Augustus, auch eines Darwin und Proust, die es zu werden versprechen, hat es sein eigenes Bewenden. Geht es um Lebenssinn von außen, dann scheinen die Genannten am ›zweiten Sinn‹ des Lebens zu partizipieren: am Fortleben auf Dauer im Gedächtnis der Menschen. (Als ›erster Sinn‹ käme das Fortleben auf Dauer in der eigenen Nachkommenschaft in Betracht, als ›dritter‹ das Fortleben auf ewig im Bewußtsein eines Gottes, ev. verbunden mit Auferstehung, mit neuem Leib – externe Sinngebung hier als extraterrestrische, ja extramundane.) Der Schein trügt. Sokrates und Augustus, vielleicht auch Darwin und Proust, sind nicht Tote, die im Gedächtnis Späterer (fort-)leben. Ihr ›Leben‹ ist, wie es als Biographie und Werk historisch vorliegt, lebendige Wirklichkeit, die auszulegen, anzueignen oder abzuweisen ist. Sie sind nicht ›todlos‹, weil sie, obwohl eigentlich tot, im Gedächtnis bewahrt würden, sondern weil sie Lebendiges hinterlassen haben, das zur Auseinandersetzung herausfordert, zur je neuen Verständigung des Menschen über sich selbst als Mensch. Den Genannten ist es nicht gelungen, etwa zu hinterlassen, um dadurch ›selbst‹ auf unabsehbare Zeit so gut wie ungestorben zu sein. Was ihnen zu verdanken ist, läßt sich als Vermächtnis an mit ihnen und nach ihnen Lebende verstehen: teilzuhaben an Verstrickung und Entzerrung (comédie humaine, tragédie humaine), an Spiel und Ernst (παιδιά, σπουδή), worin sich menschliches Leben als solches zu erkennen gibt, und so ihre Hinterlassenschaft lebendig zu vergegenwärtigen und zu überliefern. Menschliche Selbstfindung und Selbstbestimmung sind es, 197 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Das Teilen von Leben und Tod

die sich immer neu lebendigen Vermächtnissen von Menschen zu verdanken haben. Wenn Sokrates seinen Tod, wie Platon ihn auslegt, kraft moralischer Vernunft auf sich nimmt und als – vorbildliche – moralische Vernunft veröffentlicht, dann gibt er sich exemplarisch als moralisches Wesen in den Tod frei. Dank seines so ausgelegten Todes ist Sokrates längst niemandem mehr tot, wohl aber kann es sein, daß er jemandem als lebendige, Geschichte gewordene Moral begegnet, um ihn dazu herauszufordern, sein Leben der moralischen Vernunft zu unterstellen. Wieder anders verhält es sich mit einem Attila und Friedrich Barbarossa, einem Franz von Assisi und einer Elisabeth von Thüringen. In ihrer verklärten Erscheinung, wie sie aus Geschichte und Mythos gewirkt ist, sind sie keine Toten, die heutigen Menschen tot wären, um allein in ihrem Gedächtnis zu ›leben‹. Sie leben vielmehr in der Geschichte eines Volkes oder eines Glaubens, sind für Menschen lebendige Überlieferung, mit der sie sich – halb historisch, halb mythisch – identifizieren können. König Etzel und die Nibelungen, Barbarossa im Kyffhäuser, der hl. Franziskus mit den Tieren, die wohltätige hl. Elisabeth – das alles ist von geschichtlichem Leben verinnerlichtes legendäres Leben. Weder die Lektüre des Phaidon noch die Verehrung der hl. Elisabeth verhelfen dem Sokrates und der Elisabeth von Thüringen im nachhinein zum Sinn des Lebens und zur – relativen – Unsterblichkeit desselben. Lebenspraktisch geurteilt sind sie niemandem mehr tot. Die ›dritte Endlichkeit‹ des Menschen ist für sie längst erreicht. Was unter ihrem Namen lebt, ist Wirklichkeit, historische und mythisch verklärte, die einfach dadurch ihre Lebendigkeit beweist, daß sie heutigen Menschen in ihrer philosophischen, künstlerischen, religiösen, wissenschaftlichen und politischen Gegenwart begegnet und bedeutsam wird. Eher noch sind es diese geschichtlichen Menschen in ihrer ausgelegten und neu auszulegenden Gestalt, die

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Abschied von der Gegenwart im Gedächtnis

dem Menschen in geschichtlicher Gegenwart zum Leben verhelfen, als daß das Umgekehrte der Fall wäre. In die lebensbefähigende Gewißheit, einmal vergessen zu werden und niemandem mehr tot zu sein, ist die Gewißheit eingeschlossen, zunächst erinnert zu werden. Bevor das Denken eines auf Halt in der ›dritten und letzten Endlichkeit‹ bedachten Lebenden so weit gehen kann, tröstet und stärkt er sich damit, daß ungeschriebene und unabgesprochene ›Gesetze‹ bestehen zwischen ihm, der einmal tot ist, und den dann Lebenden mit ihrem Gedenken und Gedächtnis für ihn. Der auf den Abschied von sich selbst und seinem Leben Vordenkende nicht weniger als der, der diesen Abschied gerade nimmt, braucht die Gewißheit, als Toter gut erinnert zu werden (de mortibus nil nisi bene – bene, kein bonum ist gefordert). Es ist die Gewißheit, mit seinem Tod Schmerz zu verursachen und Trauer zu verbreiten. Es ist ein Moment nötiger Selbstwertschätzung des sich in seinen eigenen Tod Freigebenden, gewiß zu sein, daß sich mit ihm wirklich ein Selbst aufgibt, das menschlicher Lebensteilung zugehört. Mit der gemeinschaftlich vollbrachten freien Selbstaufgabe wird Lebensteilung aufgekündigt und aufgehoben. Der Abschied in den Tod vollzieht eine Trennung des lebendigen Einander. Die Gewißheit, zunächst gut erinnert zu werden, unmittelbar den Überlebenden Schmerz zuzufügen und sie in Trauer zu stürzen, ist die Gewißheit der Verletzung des eigentlich unzertrennlich selbsthaften menschlichen Einanders. Zugleich aber gönnt der Todbedachte in dieser Gewißheit den Anderen auch schon Schmerz und Trauer, damit sie fähig sind, die Verletzung, die die Trennung des lebendigen Einander ihnen selbst zugefügt hat, beizeiten zu heilen. Die Überlebenden brauchen ihr Gedenken des Toten, um sich von ihm zu entwöhnen. 78 Das verletzende Auseinander selbst Im Prinzip trifft Freud diesen Sachverhalt mit seinem Gedanken der Trauerarbeit. S. Freud, Trauer und Melancholie, X, 430 ff.

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Das Teilen von Leben und Tod

nämlich in seiner Plötzlichkeit ist keine Leistung menschlicher Freiheit. Der Überlebende ist vielmehr gefordert, die neue Freiheit, die das Sichfreigeben in den Tod des Sterbenden mit sich bringt, verstehen und gebrauchen zu lernen. Es geht um neue Selbstaneignung lebensteiliger Möglichkeiten. Die ganze – neue – Lebensbefähigung steht auf dem Spiel. Die gefragte Freiheit, die den Sterbenden in den Tod freigibt und sich auf das neue offene Leben entwirft, um neu Halt und Einhalt im Leben zu finden, kann nicht als Kopfleistung erbracht werden, auch nicht als bloße Willensanstrengung. Der Schmerz ist es, was die Verletzung des Einander, die Trauer, was das Fehlen des Verstorbenen erinnert. Schmerz und Trauer in ihrer Zeitgestalt fördern Heilung und Entwöhnung. Schmerz und Trauer sind gebundene Erinnerung an den Toten. Die freie Erinnerung an ihn bedeutet den Durchbruch zum Gebrauch der eigenen neuen Freiheit. Der sich in den Tod Verabschiedende braucht den Schmerz der Anderen zu seiner Selbstwertschätzung, die Anderen brauchen ihn zur Selbstaneignung ihrer Freiheit, neu mit Anderen Leben zu teilen. So gehört zum gelingenden Abschied in den Tod einerseits die Gewißheit, Schmerz zu bereiten, andererseits die Erfahrung des Schmerzes und seine Überwindung.

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III. Die Poetisierung des Todes

1. Der Zugriff auf den Tod In der Philosophie gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, wie rein und pointiert ein Thema gedanklich und sprachlich abzuhandeln ist. Platon zeigt, wie versuchte ›Orthologie‹ zu nichts Gutem führt. Wer Nichtsein thematisiere und dabei nichts als Nichtsein denken und sagen möchte, betrüge sich um die Möglichkeit negativer Prädikation und Identität. 1 Wer Entsprechendes beim Einen unternehme, lande bei der Einsicht, daß ein derart rein und pointiert gemeintes Eines weder Eines ist noch überhaupt ist. 2 Martin Heidegger zeigt sich nicht belehrt. Er stellt sich die Aufgabe, Sprache rein und gezielt als Sprache zur Sprache kommen zu lassen und als nichts sonst. 3 Er möchte das Sein rein als das Sein ›sein lassen‹, und nichts sonst dazu denken und sagen: vom Selben als dem Selben in das Selbe das Selbe sagen. 4 Wer sich ganz eng und genau an menschliches Leben hält, wird von ihm sagen, daß es gelebt werde. Um ›etwas‹ zu sagen, wird er hinzufügen, es werde geführt. Der Mensch lebt, indem er handelt. In der begrifflichen Engführung, die Orthologie und Tautologie hinter sich hat und wirklich etwas zu verstehen Platon, Sophistes 239b ff. Platon, Parmenides 141d. 3 M. Heidegger, Das Wesen der Sprache und Die Sprache, in: ders., Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959, S. 161 ff.; 12 ff. 4 Siehe dazu R. Marten, Martin Heidegger: Den Menschen deuten, in: U. Nassen (Hrsg.), Klassiker der Hermeneutik, Paderborn 1982. 1 2

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Die Poetisierung des Todes

gibt, kommt es leicht zu einer fragwürdigen Beleuchtung von Tatsachen – mit nachhaltigen Folgen für menschliche Selbstverständigung. Menschliches Leben erscheint als etwas, das nicht mehr und nicht weniger erfordert, als praktisch ›durchgezogen‹ zu werden. Gelebt ist gelebt, gestorben ist gestorben. Leben hat offensichtlich einfach das zu sein, was es ist, das zu tun, was das Seine ist, um bestens mit sich zurecht und zum Ende zu kommen: gelebt, ausgelebt, abgelebt. Das erinnert an um Aufwachsen besorgte Pädiater und Pädagogen, die bei Kindern nichts lieber feststellen als Phasen, die ›wieder‹ geschafft sind: Leben als ›Packen‹ und ›Schaffen‹ lebensgeschichtlicher Entwicklung. Das ist nicht mehr weit entfernt von Leben als Probleme Lösen und Gentransmission. Das philosophische Interesse am Teilen von Leben, Sterben und Tod zeigt, daß es von reinen Thematisierungen nichts hält. Das reine Leben, der reine Tod, ja auch beides in möglichster Reinheit, haben in der Optik menschlicher Lebenspraxis keine methodische Chance. Dennoch ist der Umgang des Menschen mit seinem Tod viel reicher, als es die philosophische Erörterung in den Blick zu bringen versteht. Einander leben und sterben, von sich und Anderen in allen lebenspraktischen Belangen Abschied zu nehmen – es fragt sich, ob damit nicht Bedeutsames vom Tod verspielt ist. Ohne von spekulativer und positivistischer ›Reinheit‹ und Engstirnigkeit zu sein, könnte dieser Zugriff auf den Tod dennoch zu unmittelbar und naiv verfahren.

2. Der unaufgeklärte Tod Es kann keinen ernst gemeinten und gut bedachten philosophischen Versuch geben, den Menschen über seinen Tod aufzuklären. Ihm ist seitens der Philosophie nicht mit den Tatsachen des Todes zu kommen, wie man ihn familiär und öffentlich über seine Sexualität aufzuklären sucht, aber auch 202 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Der unaufgeklärte Tod

nicht mit der Vernunft des Todes. Die hat von sich aus zum Tod nichts zu sagen. Darum wird der Tod auch keine ›Dialektik der Aufklärung‹ erfahren. Wenn es schon einmal ›vernünftig‹ oder ›nicht vernünftig‹ sein sollte zu sterben, Tod allgemein für den Menschen als Werkzeug der Evolution ›vernünftig‹ erscheint, dann diente Vernunft sich bestimmten Perspektiven und Wertsetzungen an, ohne sie selber zu bestimmen. Aufklärung ist ein Versuch der Unmittelbarkeit: Konfrontation mit Tatsachen und logischem Zwang. Doch das ist nicht die Art des Lebens und des Todes, allerorten und allezeit mit sich umgehen zu lassen. Leben hat zu sich selbst, zu seinem Halt und Einhalt ein klar darstellbares ›einfaches‹ Verhältnis. Aber es hat in seiner geschichtlichen Wirklichkeit auch ein ganz anderes dazu: ein höchst distinguiertes, kultiviertes, artifizielles. Wenn es im Leben Ungewißheiten und Überraschungen gibt, ein Außersichsein vor Freude oder Verzweiflung, dann ist der Mensch für gewöhnlich nur dadurch fähig, dies Außergewöhnliche auszuhalten, daß er es Kräften und Weisen seines mittelbaren Lebens anzuvertrauen versteht. In seiner Möglichkeit des Außerordentlichen ist menschliches Leben nicht mehr ohne weiteres mit sich, dem Anderen und dem Tod konfrontiert. Anstatt sich in – theoretisch – klare Verhältnisse einsperren zu lassen, macht es, gezwungen und frei, vom Reichtum seiner künstlerischen Kräfte und der durch sie geschaffenen Institutionen Gebrauch. Jetzt kann es ekstatisch sein und alle vorgezeichneten klaren Verhältnisse sprengen, zeigen, wie es im besten Sinne unfähig und unwillig ist, es bei sich, bei seinesgleichen und in der Helle des Bestimmten auszuhalten. Es gibt sich der Grenzenlosigkeit seines Leids und seiner Verzweiflung, der Unstillbarkeit seiner Sehnsüchte und seines Verlangens hin. Solange es nur seine mittelbaren Vermögen beherrscht, ist es fähig zur Haltlosigkeit: Haltlosigkeit als eine Form der Kultur und Kunst. Menschliches Leben und Sterben in seiner Mittelbarkeit ist dem Affektiven und Traumhaften (eher songe als rêve) der Kunst anvertraut, dem sie ihr 203 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Die Poetisierung des Todes

Positives und Kompositives zugibt, ihr Kalkulierendes und Balancierendes, ihr Formatives und Imaginatives, ihr Regulatives und Normatives, ihr Vereinfachendes und Klärendes, zugleich ihr Schmückendes und Feierliches, ihr Änigmatisches und Mystisches – mit einem Wort: dem Getriebenen, Emotionalen, Traumgesichtigen der Kunst ist es anvertraut und all ihrem Freien dazu, dem Überschuß, über den sie selbst verfügt. Allzeit schutzlos unter den Augen des eigenen Selbst, des Anderen und des ›anderen Anderen‹ stehen, das wäre wie im Hochsicherheitstrakt, dessen Insassen nicht über Einsamkeit, sondern über Schutzlosigkeit vor dem Gesehenwerden klagen 5 , wäre ›tödliche‹ Aufklärung. Menschliches Leben hat die Tendenz, sich aus den eigenen Augen und denen der Anderen zu verlieren, aus sich für sich und Andere ein Geheimnis zu machen. Das gehört, soweit wir sehen, zu seiner Art Lebensführung. Um menschliches Leben zu verstehen, wird es nötig, es zu guter Letzt auch in Distanz zu sich selbst gehen zu lassen, nicht darauf zu sehen, wie es einfach ›ist‹, sondern wie es sich auslegt, aufführt, spielt, verkleidet, außer sich gerät, sich verliert, sich selbst entzieht, sich aber dennoch in seiner mittelbaren Art zu leben und zu sein unter Kontrolle behält. Was Platon vom philosophischen Wahnsinn im Unterschied zu allem anderen göttlich inspirierten Wahnsinn behauptet, daß nämlich der von ihm Betroffene, dennoch bei sich bleibt 6 , gilt auf eigene Weise auch von dem, was hier als Wahnsinn des Lebens aufscheint: Gestaltkraft der Kunst und Spiel geben die Leitung nicht auf. Das Außerordentliche ist, bei aller Unmittelbarkeit des Affektiven, in Formen mittelbaren Lebens gelenkt. Ein Leben in artifizieller Selbstdistanz hat sich von seinen praktischen Gewißheiten gelöst. Es ist sich nicht mehr notS. Cohen / L. Taylor, Psychological Survival. The Experience of LongTerm Imprisonment, Penguin Books 1981. 6 Platon, Phaidros 249d ff. 5

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Der poetisierte Tod

wendig gewiß, Andere zu brauchen und den Tod zu finden. Getrieben und frei ist es dabei, mit der eigenen Unsterblichkeit zu spielen, mit einem ›dritten Anderen‹. Unsterblichkeit – das ist der unaufgeklärte Tod par excellence. Dieses Spiel ist nicht ungefährlich, da in ihm Halt und Einhalt fehlen, wie sie das Leben – in klarer Einschätzung seiner Verhältnisse – zu brauchen und fruchtbar zu machen gewohnt ist. Ein Mensch, der – im Spiel – unsterblich ist, kommt ohne den Anderen aus, ist um den eigenen Tod und den der Anderen nicht besorgt. Doch das Spiel geht weiter. Mit der einzigen Bedingung, in das Spiel der Kunst einbehalten zu sein, gerät das Leben überschäumend und enthusiastisch, auch verzweifelt und leidübermächtigt in die ›absolute‹ Haltlosigkeit. Ist mittelbares spielendes Leben bei seiner äußersten Haltlosigkeit angelangt, dann wendet es sich auch schon damit: der ›dritte Andere‹ tritt auf, der nicht weniger eine Form der Kunst als die Haltlosigkeit selbst ist. Das Leben in seiner ›absoluten‹ Haltlosigkeit findet zum Halt im ›Absoluten‹ : im ›dritten Anderen‹ als dem ganz Anderen. Geringeres als ein sog. Absolutes tut es dann nicht mehr. Der unaufgeklärte und überspielte Tod, zu dem ein mittelbares Leben führt, ist nur dann auszuhalten, wenn in das Spiel ohne Anderen und Tod ein deus ex machina eintritt. Mit ihm kehren auch Tod und Anderer in es zurück, vollständig gewandelt, als überwundener Tod und eben als deus. Alles, was jetzt Halt gibt, je in einem selbst und in jeder Art Anderem, ist allein ein Gott. Das ist keine psychologische Erklärung von Religion, sondern der Anfang, die Poetisierung des Todes zu deuten.

3. Der poetisierte Tod Die Geschichte des menschlichen Todes ist die Geschichte seiner Poetisierung, und diese ist so alt wie der geschichtliche Mensch. In ihr kommt das auf den ersten Blick Überraschende, 205 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Die Poetisierung des Todes

im Grunde aber Selbstverständliche zum Vorschein, daß nicht nur der Mensch seinen Tod, sondern sein Tod auch ihn braucht. Wie Liebe davon lebt und darin gelingt, daß sie sich immer neu auslegt und poetisiert, so auch der Tod – eine Analogie mit sachhaltigem ›Band‹ 7 . In Dichtung im weitesten Sinne, in Epik und Geschichtsschreibung, Lyrik und Malerei, Komödie und Tragödie, Musik und Tanz, Bildhauerei und Architektur, religiösem Wort und religiöser Handlung hat die Poetisierung des Todes statt. Der Mensch, der sich selbst und dem Anderen ein Rätsel ist, sucht nicht zuletzt den Tod als sein Geheimnis zu brauchen und für sich fruchtbar zu machen. Doch bereits in der Weise, wie er ihn als solches braucht, ist es auch schon der Tod, der den Menschen braucht, damit er aus ihm ein Geheimnis macht, ihn als Geheimnis versteht, ihm als Geheimnis lebt. Der Tod braucht Bilder und Geschichten. Um ihm als einem Geheimnis zu leben, braucht er sogar Poesie und Mystik. Zum Menschen gehören nicht allein Liebes-, sondern auch Todesdichtung, nicht nur geheimnisbildende und -bewahrende Einweihungen in die Liebe, sondern auch in den Tod. Der geschichtliche Mensch, wie er uns vertraut (und zugleich unheimlich) ist, hat immer neu bewiesen, daß mit Liebe und Tod der Aufklärung bis heute Grenzen gesetzt sind. Entpoetisierung des Kosmos – etwa in der Art, daß Gestirne eben doch (wie schon die griechische Aufklärung es anders als Platon wußte und wahrhaben wollte) keine Lebewesen sind, das haben Menschen schließlich hingenommen. Doch hier läßt es sich auch, wie unsere Gegenwart es wahrscheinlich macht, mit einem ›kleinen Selbstbetrug‹ leben: eine Vollmondnacht ist schön und geheimnisvoll, obwohl man von lächerlichen Dingen weiß, die die Erfüllung eines US-amerikanischen ›Traumes‹ der 60er Jahre auf diesem kalten Gestein wirklich hinterlassen hat. Bei Liebe und Tod dagegen ist es mit dem kleinen 7

Platon, Politikos 309c

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Der poetisierte Tod

Selbstbetrug offensichtlich nicht getan. Beides fordert Menschen bis heute zu Poetisierung und Mystifizierung heraus, als könne nur so das Leben reich und hoffnungsvoll, ja auch nur irgendwie erträglich und annehmbar sein. Tod und Liebe brauchen für alltägliche Lebenspraxis und aufs Ganze des einander Lebens und Sterbens gesehen ihre Bilder, Geschichten und Einweihungen. Eine Repoetisierung und Remystifizierung von Liebe und Tod ist nicht angezeigt. Das setzte eine Aufklärung und Ernüchterung voraus, die es bei beidem nicht gegeben hat. Menschen haben sich schon immer darauf verstanden, einander um Liebe und Leben zu bringen und sich den häßlichen Tod zu geben. Die Nichtigkeit des Menschen als eines zu liebenden, im Leben und Sterben verbundenen Wesens hat einzigartig der Mensch praktiziert. In der Vernichtung von Liebe, Leben und Tod durch Menschen gibt es nichts dazuzulernen, allerdings auch nichts zu vergessen. Kein Verhalten steht in Aussicht, das, in großer Mehrheit praktiziert, unser Wissen von Liebes-, Lebens- und Todesfeindschaft überflüssig machte. Menschliches Einander, wie es Liebe und Tod zum Austrag bringen, gibt sich oftmals als in sich poetisch. Fruchtbare Liebes- und Lebensbeziehungen erscheinen als Produkte der ›Lebenskunst‹, die das Leben ›selbst‹ ist – das gelebte, geführte, sich auslegende und gestaltende. Jede menschliche Beziehung ist ja eine Auslegung ihrer selbst in der besonderen Art der Wechselseitigkeit. Wo nur im geringsten die Unmittelbarkeit aufgehoben ist, gibt sich keine Liebe als etwas Tatsächliches und Nachweisbares, als etwas Vernünftiges und Begründbares zu erkennen, kein Tod. Jeder Tod ist dann für poetisiert anzusehen, jede Liebe. Wie Liebes-›dichtung‹, sofern sie im Einander praktisch bedeutsam und nicht von reiner Künstlichkeit ist, das Problem ihrer Glaubwürdigkeit stellt, so auch Todes-›dichtung‹. Der Liebende ist bisweilen bereit, seine dichterische Auslegung und Gestaltung der Beziehung um ihrer Glaubwürdigkeit wil207 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Die Poetisierung des Todes

len durch sein Leben zu bezeugen. Das ist erst recht bei Vertretern von Todesdichtung der Fall, Daß es sich genau so mit dem Tod verhält, wie dichterisch und einweihend verkündet, so und nicht anders, dafür werden Menschen zu Märtyreren, zu Blutzeugen. Für die Verbindlichkeit ihrer Bilder, Geschichten und Einweihungen bürgen sie mit ihrem Leben, geben sie ihr Leben. Wer allerdings bereit ist, für die Wahrheit zu sterben, gibt zu erkennen, für sie im Prinzip auch sterben lassen zu können.

4. Der ritualisierte Tod Poetisierung und Mystifizierung von Liebe und Tod stellen keinen menschlichen Selbstbetrug (im großen) dar. Im Auslegen und Gestalten seiner lebenspraktischen Beziehungen macht der Mensch sich nicht etwas vor, von dem er schließlich nicht mehr wüßte, daß er es sich vormacht. Auch kommt er nicht dazu zu wissen, wie es sich in Wahrheit verhält, um es dennoch anders zu glauben und zu praktizieren. Der Wahrheitsanspruch des Poetischen und Mystischen sieht sich nicht mit Tatsachen und Vernunft konfrontiert. Er ist nicht von der Art des Propositionalen, sondern des Spielerischen. Das Aussagenkräftige an Poesie und Mystik dient allein dazu, zum Spiel zu führen: die Auslegung und Gestaltung des Verhältnisses im Leben voll zu übernehmen und damit praktisch zu sein. Im lebendigen Umgang mit den Bildern und Geschichten vom Tod und den Einweihungen in ihn lernt der Mensch, aus der Unmittelbarkeit seines Lebens, seines Verhältnisses zum Anderen und zum Tod herauszutreten. Die Distanz zu sich selbst im gelebten Einander hat den Charakter des Spiels, das als Spiel gespielt und insofern als Spiel praktisch gewußt wird. Kein Ernst fehlt in dem Spiel; es ist durch und durch ein Spiel mit dem Ernst. 208 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Der ritualisierte Tod

Das seiner selbst praktisch gewisse Spiel, das sich an die Poetisierung und Mystifizierung des Todes hält, hat die institutionelle Form des Ritus. Riten sind Lebensformen, deren Wahrheit nicht zu bezweifeln ist. Wird so rituell gehandelt, dann wird auch so gelebt, auf den Tod gedacht, gestorben und der Toten gedacht. Der Ritus ist die Wahrheit der Poesie und Mystik. Ein Ritus läßt sich nicht dahingehend aufklären, daß alles bloß Spiel sei, weil er sich als Spiel praktisch weiß und will. Im ritualisierten Spiel herrscht die praktische Gewißheit, daß es Spiel ist: das Spiel weiß sich als Spiel, indem es gespielt wird. In seinen poetischen und mystischen Riten ist der Mensch das, was er spielt. Die praktische Gewißheit des Spiels hebt seinen praktischen Seinscharakter nicht auf, sondern konvergiert mit ihm: der Mensch ist sich seines poetischen und mystischen Seins gewiß. Der (große) Selbstbetrug ist methodisch ausgeschlossen. Allerdings ist der Ritus damit von einer Wahrheit, in der keine allgemeine Verbindlichkeit liegt. Ein Spiel ist etwas, zu dem einzuladen, nicht aber etwas, das mit Überzeugung zu vertreten ist. Todesdichtung und Einweihung in den Tod vollbringen eine Art von Appräsentation: was sich vom Tod nicht zeigt, was nicht von ihm zu kennen, an ihm nicht zu begreifen, ja ungewiß von ihm zu erwarten ist, wird in das gelebte Todesverhältnis hereingeholt, um es zu ›ergänzen‹. Dabei aber liefert das Hinzuvergegenwärtigte nicht aufklärendes theoretisches Wissen, sondern stiftet es geheimnisbewahrendes Brauchtum. Aus dem Spiel wird nicht falscher Ernst, der Ernst im Bewußtsein, sondern allein der Ernst der Praxis. Die artifizielle ›Appräsentation‹ gibt dem Todesverhältnis in seinem gegenwärtigen Ausgriff eine volle Gestalt, mit der sich spielend leben läßt.

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Die Poetisierung des Todes

5. Der dogmatisierte Tod Jede Poetisierung und Mystifizierung steht in der Gefahr der Verselbständigung, des falschen Auftritts als verbindliche und zwingende Wahrheit. Die Idee aber eines verbindlichen Ritus gibt es nur, wenn eine Ideologie herrschend wird, die zuvor den propositionalen Gehalt des Poetischen und Mystischen für verbindlich nimmt. Jetzt gibt es plötzlich Menschen, die theoretisch verbindlich wissen, wie es um die unerfahrbare Seite des Todes steht. Der Tod grassiert dann nicht selten menschenverfügt unter Menschen, weil diese Ideologien versuchen, ihre ›richtige‹ Todesauslegung gegen die ›falsche‹ der Anderen durchzusetzen. Des Todes sein, weil man vom Tod falsch denkt und entsprechend falsch spielt – das ist in unserer Geschichte an der Tagesordnung. Daß der Mensch den Tod braucht und der Tod den Menschen, hat dann keine Bedeutung mehr. Das Dogma des Todes herrscht über seinen Ritus, die theoretische Anmaßung über die praktische Wahrheit. Fundamentalismus und Dogmatismus im menschlichen Todes-›wissen‹ werden nicht zu bannen sein, solange es Poetifizierung und Mystifizierung des Todes und damit die Gefahr der Verselbständigung und Fehlgewichtung ihres propositionalen Gehalts gibt. Aber wie sollte der Mensch schon auf die Poetisierung verzichten? Der Andere in der reinen Funktion des Halts und Einhalts, der Tod ebenso – das ist für Menschen ganz offensichtlich bis jetzt nicht erträglich, widerspricht ihren lebenspraktischen Bedürfnissen. In ihrer bloßen Funktionalität wären der Andere und der Tod Vordergründiges – ohne Tiefe, Fülle und volle Gestalt. Daß der poetische und mystische Mensch zur Appräsentation greift, kommt nicht von ungefähr. Erst Bild, Geschichte und Einweihung lassen den Tod ›ganz‹ aussehen. Das kraft Kunst Hinzuvergegenwärtigte macht dabei den Tod nicht etwa erst so recht faßlich. Im Gegenteil. Das Spielen und die Möglichkeit zum Mitspielen zeigen den Umgang mit dem Tod in seiner Unfaßlichkeit. Erst der ›ganze‹ Tod 210 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Der dogmatisierte Tod

ist der geheimnisvolle. Freilich steht alles, um das der Tod durch Poesie und Mystik ›ergänzt‹ wird, dafür offen, es in seinem Grundzug zu verkehren und für die neue – theoretische – Faßlichkeit auszugeben, ganz so, als hätte man ihn – ›erkennungsdienstlich‹ – erkannt und gefaßt. Poetisierung und Mystifizierung des Todes haben nicht nur ihre freie Seite. Sie stehen immer auch wieder unter Zwang und Fremdbestimmung. Es sind Natur- und Menschengewalten, die menschlichem Leben drohen, überwältigt, ausgelöscht und entleert (banalisiert) zu werden. Menschen, die diesen Gewalten ausgesetzt sind, werden dazu geführt, ihrem Einander einen Sinn zu geben, der nicht von selbst in ihm liegt, eine Gestalt, die es nicht von selber hat, eine praktische Wertung, die es nicht aus sich selbst erhält. Religion, die wesentlich das poetische und mystische Spiel des Todes betreibt, zählt nicht zuletzt Schwache und Hilfsbedürftige, Vergewaltigte und Entrechtete zu ihren Mietspielern. Anders als im religiösen Ritus liegt im religiösen Dogma der (große) Selbstbetrug beschlossen. Man reagiert in Religionsdingen, das meint in dogmatischen Fragen, allein darum so heftig, weil man sicher ist, seiner Sache nicht sicher zu sein. Im Grunde sind sich die Menschen über den Tod einig. Was im Groben davon zu wissen ist, weiß so gut wie jeder. Aber dieses ›im Grunde‹ zählt eben nicht, weil der Mensch, wie er leibt, lebt und handelt, keine ›Naturwissenschaft‹, sondern Mitwisserschaft ist. In der aber sind Poesie und Geheimnis des Lebens und Sterbens zuhause. Wer glaubt, die Wahrheit des Ritus könne unmöglich schon die Wahrheit der Religion sein, dem ist ein merkwürdiges philosophisches Votum zu bedenken zu geben. Wenn Platon gegen die Sophisten, die sich wie der Thor aus Psalm 14 benehmen, den Götterbeweis führt (daß sie existieren und sich um die Menschen kümmern), dann führt er ihn im wesentlichen aus der Existenz bzw. Praxis des religiösen Ritus. 8 8

Platon, Nomoi X.

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Die Poetisierung des Todes

Nun scheint es leicht zu sein, die Wahrheitsmöglichkeit des Ritus ad absurdum zu fuhren, wenn man davon ausgeht, daß dann auch eine ritualisierte folie à deux (à plusieurs) ihre Wahrheit hätte. Zwei bilden sich ein, ein Kind zu haben, handeln, als ob sie ein Kind hätten. Sie bilden in ihrer folie ›Riten‹ aus. Was unterscheidet dies, müssen wir uns fragen, von der Poesie des Todes und der Ritualisierung des Todesverhältnisses. Die Antwort ist denkbar einfach: das eine ist Wahnsinn, das andere Spiel. Der Wahnsinn täuscht sich über die Realität, ist ›an sich‹ realitätsorientiert, das Spiel nicht. Unsterblichkeit ist, anders als das Kind, nichts, das sich als Faktum denken ließe. Darum bildet sich auch niemand ein, unsterblich zu sein (er wäre denn krank), handelt niemand, als ob er unsterblich wäre (er hätte denn seinen Realitätssinn verloren). Diese durch Realorientierung bedeutsamen Wendungen kommen im Spiel nicht vor. Unsterblichkeit ist ein reines Wort der Poesie, ist als Tatsache undenkbar und insofern faktisch ausgeschlossen. Die folie à deux dagegen ist nichts Poetisches, sondern etwas Krankhaft-Realistisches. Die Akteure in Who is afraid of Virginia Woolf? 9 verletzen schon einfach die Grammatik der Selbstauslegung und des poetischen Spiels, wollte man sie – fälschlich – als Poeten einschätzen. Sie laden, wenn sie laden, nicht zum Mitspielen, sondern zum Mitkranksein ein.

6. Der aufgeklärte Tod Die Poetisierung des Todes ist jeweils ein authentisches Stück menschlicher Selbstauslegung und Selbstgestaltung: der poetisierte Tod gehört, wenn er zu ihm gehört, zum Menschen als Menschen. Für den Betreffenden bedeutet er keine Verdrängung, Verharmlosung, ›Entverifizierung‹, Entwirklichung, 9

E. Albee, Who is afraid of Virginia Woolf?, New York 1962.

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Der aufgeklärte Tod

zeitbedingte Romantisierung. Gerade seine Poetisierung ist fähig, ihn zu einer lebenspraktischen Macht werden zu lassen, deren Gewalt größer ist, als er sie in Verhältnissen hat, in denen Selbstauslegung und Selbstgestaltungen des Menschen eher ruhen. Darum ist auch nicht jede Poesie und Mystik des Todes ›schön und gut‹, taugt nicht jede überall und für immer. Poesien werden von einzelnen Menschen und Menschengruppen als solche aufgehoben, Riten entsprechend aufgekündigt, wenn sie unbrauchbar geworden und für die Lebenspraxis des Einander nicht mehr fruchtbar zu machen sind. Poetisierung kann unter gewandelten Verständnis- und Spielbedingungen sich von Lebensbefähigendem in Lebensbedrohliches verkehren und als unmenschlich empfunden werden. Es liegt dann nahe, daß sie ihren Spielcharakter verlieren, als Poesien aufgehoben und nurmehr realistisch verstanden werden. Doch es ist auch möglich, daß sie allein verdrängt und besiegt werden durch neue Poesien, die sich als stärker und wertvoller erweisen. Da hilft auch schon einmal das Schwert nach, wenn Interesse besteht, neue Poesien unter Menschen einzuführen und als Riten verbindlich zu machen. Werden Poeme obsolet, verliert Poetik nicht schon notwendig ihren geschichtlichen Kairos. Es sieht so aus, als gehörte Todespoesie keiner besonderen Periode des geschichtlichen Menschen an, um eines Tages ihre Zeit gehabt zu haben. Noch immer ist aufgegebener neue gefolgt. Menschliches Todesbrauchtum hat ein zähes Leben, ist aber auch wandlungsfähig. Doch es könnte anders kommen. Der Mensch ist denkbar ohne Poesie: als ›neuer Mensch‹. Kein Tod würde mehr inszeniert – auf keiner Bühne, in keinem Buch, auf keinem Bild, von keiner Kanzel, in keiner menschlichen Beziehung. Die Unmittelbarkeit der Tatsachen und die Folgerichtigkeit der Abläufe herrschte allein. Menschliche Sensibilität und Deutungskraft reflektierten sich nurmehr in ihnen. Sehen wir uns um, was ggf. dafür spricht, daß Poesie ihre lebenspraktische Wirksamkeit unter Menschen einbüßt, dann 213 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Die Poetisierung des Todes

entdecken wir leicht, daß es nicht nur den ›Großinquisitor‹ 10 gibt, der an der Poetisierung nicht für sich selber teilhat, sondern sie instrumentell einsetzt: für Andere therapeutisch, für sich selbst herrschaftsstabilisierend. Es gibt darüber hinaus Mächte, die seine Poetisierung nicht mitmachen, sie im Horizont ihres Interesses nicht zulassen und öffentlich ihrem Ende zuarbeiten. Der instrumentelle religiöse Realismus braucht notwendig Poesie und Mystik, um seine Interessen zu verfolgen. Das ist bei den todaufgeklärten Mächten ohne religiösen Machtanspruch nicht der Fall. Sie zeigen die Möglichkeit einer ganz anderen Verselbständigung: Aufklärung als einziges Instrument menschlicher Verständigung über sich selbst. Das bedeutete die Heraufkunft des endlosen Tages des Lebens als Selbstzweck in allen seinen ›rein‹ rational zu vertretenden Äußerungen. Die bloße genetische Reproduktion stünde an – in großperspektivischer Erwartung der Höherentwicklung des ›Lebens‹. Würde man dann noch eine ›komplementäre‹ Sicht für menschliches Leben zulassen, szs. ein Binnenverständnis des Menschen von sich selbst, das dem Gemüt aufhilft, wäre der Zynismus der Aufklärung komplett, ihre Blauäugigkeit evident. Vollends aufgeklärt, wird die Tatsache menschlichen Lebens so begriffen, daß die Mittel, die für es eingesetzt werden, sein eigentlicher Selbstzweck seien. Genau das ist die rationale ›Wirklichkeit‹ des Lebens, die sich des näheren aus der rationalen Begründung von Lebensschutz ableiten läßt, von Lebensvermehrung, Lebensvorbereitung, Lebensentwicklung, Lebensleitung, Lebensverwaltung, Lebensverwertung und Lebensbeseitigung, und die wir selbstverständlich in der rationalen Durchführung dieser Selbstzweckbestimmungen des Lebens wiederfinden. Es ist offensichtlich nicht notwendig, daß der Mensch den Tod braucht und fruchtbar macht, schon gar nicht, daß der Tod ihn braucht, um eigens ausgelegt und ge10

F. Dostojewskij, Die Gebrüder Karamasow.

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Der aufgeklärte Tod

staltet zu werden. Der Mensch findet auch ohnedies lebensgeschichtlich und einst gattungsgeschichtlich sein Ende. Interessanterweise nimmt aufgeklärte Macht immer wieder Möglichkeiten des unaufgeklärten Menschen wahr. So kann sie in der – instrumenteilen – Akzeptanz der Poetisierung und Mystifizierung des Todes durchaus mit machtbedachter religiöser Dogmatik gleichziehen. Sie wird sich dabei in den meisten Fällen dort bedienen, wo religiöse Macht Poesie und Mystik, Gesinnung und Ritus zum Gebrauch bereithält. Ob sie sich zwecks Machtstabilisierung und Erleichterung der Gewaltausübung der Poesie bedient oder auch nicht, in der aufgeklärten Macht hat sich, von solider Affektivität getragen, die Rationalität der Macht verselbständigt. Forschen, Wissen, Können, Produzieren, Verkaufen, Handeln, Verteilen, Konsumieren, Verwalten, Beherrschen, Bekriegen, Beseitigen – alles ist Selbstzweck. Das Verselbständigte und zum Selbstzweck Rationalisierte ist unfähig zu verzweifeln, braucht für sich keinen Sinn, ist sich selbst genug. An einen fruchtbaren Tod ist von da aus für den Menschen nicht zu denken. Die Mächte der Aufklärung sind mit der Kraft der Kunst im Prinzip unvereinbar. Der Mensch, wie er einander lebt, stirbt und tot ist, wie er mitwisserschaftlich sein Leben teilt und auslegt, steht jedem Zugriff aufgeklärter Macht offen. Der sich spielende Mensch ist nichts, was geschützt werden kann. Wir können darum nicht wissen, ob es bei der Poetisierung des Todes (und der Liebe) bleibt, oder ob es zum ›neuen Menschen‹ kommt, der Leben, welches seiner Äußerungen er auch eigens zu vertreten hat, als Selbstzweck begreift, der letztlich lebt, um sich als psychophysischen Apparat und zugleich die Evolution in Gang zu halten. Der Tod hätte für diesen Menschen keinen eigenen Geschmack mehr, er wüßte von keiner Süße des Lebens, von keiner Bitternis. Mit seiner rationalen Lebensäußerung und seinem Anteil an Lebensübermittlung überspielte und übertrumpfte er die Früchte des Lebens wie des Todes. 215 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Die Poetisierung des Todes

Weder Aufklärung über Leben und Sterben noch Poetisierung von Liebe und Tod ist Sache der Philosophie 11 , aber ihre eigenen Interessen werden von beiden Vorgängen berührt, die eigene Stellung bedrängt. Jede verselbständigte dogmatische Todesauffassung, die eine Realutopie vorgibt, aber auch jede Todespoesie, die des Menschen Lebensbefähigung praktisch beeinträchtigt oder seine Lebensorientierung theoretisch in die Irre führt, treibt sie der Aufklärung in die Arme. Umgekehrt verführt sie das Programm einer für den ›neuen Menschen‹ lebenspraktisch verbindlichen Nüchternheit, die Selbstzweckrationalität zum alleinigen Gesetz macht, zur Poesie. Philosophie, die sich der Verständigung des Menschen über sich selbst annimmt, bleibt darum nicht sprachlos gegenüber den Gefahren, die von verselbständigten Machtinteressen und außer Kontrolle geratenen Phantasien dem Menschen und seinem Tod drohen. Doch das Wort zur Gefahr kann nur Nebenwerk sein. Für sich selbst wendet sich der Gedanke des Todes als Abschied nicht gegen die Poetisierung des Todes, nicht gegen seine Aufklärung, sondern folgt er rein den Spuren seines uti et frui im Einander von Leben und Sterben. Der Andere, gerade auch der nächste und vertrauteste, verdient zu Zeiten unsere Scham und Scheu. Das gilt nicht weniger für den Tod. Nach soviel Zugriff auf seine Intimität ist es an der Zeit, sich angesichts seiner wieder bedeckt zu halten und eher Erschrecken zu zeigen.

Wenn Philosophen sich poetisch versuchen, wie Martin Heidegger in seinem ›Poem‹ von Himmel und Erde, Sterblichen und Göttlichen als den einigen Vier (M. Heidegger, Das Ding), wechseln sie von ihrer philosophischen zu einer – versuchten – künstlerischen Kompetenz.

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Nachwort

I. Menschen töten mit Vorsatz Menschen. Das ist, wie uns der Mythos aufklärt, von Anfang an so. 1 Ist für Platon der Beginn menschlichen Menschseins mit dem Ende des Kannibalismus verbunden, 2 so gab es doch keine vorgeschichtliche und geschichtliche Zeit, in der Menschen nicht Menschen gemordet hätten – von der Keule der Bronzezeit bis zu Harry S. Trumans Atombomben, vom Bethlehemitischen Kindermord 3 bis zu den Gaskammern der Nationalsozialisten, von Morden in den Familien über die Ermordung ganzer Populationen bis zum Genozid. Sollte, wenn das einander Essen noch ein unmenschGenesis 4,8: »Und Kain sagte zu Abel, seinem Bruder, ›Gehen wir aufs Feld‹. Und als sie auf dem Feld waren, richtete sich Kain gegen seinen Bruder Abel auf und tötete ihn.« Kain war in Rage geraten, weil Gott die ihm von Abel dargebrachten Opfer sah, die seinen aber ignorierte. Gott ist schuld an menschlicher Unmenschlichkeit. Das wird sich bei Paulus wiederholen. 2 Platon, Epinomis 975a. Platon spricht hier nicht von »Menschenfresserei«, sondern, anschaulicher, von »Einanderfresserei«. Aristoteles berichtet von Völkern am Schwarzen Meer, die, raublustig, stets zum Morden und Menschenfressen bereit waren. Aristoteles, Politik (gr. ed. W. D. Ross, Oxford 1957, dt. ed. W. Kullmann, Reinbek 1994) VIII 4, 1138b20. Einanderfresserei aus Überlebensnot ist etwas anderes. Siehe Herodot, Historien III, 25. 3 Matthäusevangelium 2,1 ff. Der Judenkönig Herodes der Große, der ihn befohlen haben soll, war berüchtigt für sein machterhaltendes Morden, selbst unter eigenen Nachkommen. 1

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Nachwort

licher Zug des Menschen ist, einander Morden schon ein menschlicher sein, eine Spielart seiner Natur? Das faktische Zu-Tode-Kommen von Menschen durch Menschen war nicht Gegenstand dieses vor mehr als fünfundzwanzig Jahren erstmals verlegten Buches und kann es auch heute nicht sein. Es ging um einen philosophischen Perspektivenwechsel: weg vom Tod des Einzelnen in seiner Vereinzelung, hin zum Tod des Einen und Anderen im lebensteiligen Miteinander, weg auch vom Tod als dem großen Übel des Lebens, hin zum Tod als dem Intimus des Lebenden, der ihm zeitlebens Halt gewährt und schließlich seinem Leben Einhalt gebietet. Die Gelegenheit ist da, den neugewonnenen Blick auf den menschlichen Tod noch weiter zu schärfen.

II. Kann das wirklich alles gewesen sein: gezeugt, ausgetragen und geboren zu werden, aufwachsen, das eigene Tun wählen, lieben, Leben weitergeben, altern, vom eigenen Tun lassen, sterben? Die Selbstgewißheit, daß eigenes Leben mit eigenem Tod endet, wird durch die Frage aufgestört, ob das Ende, das der Tod markiert, endgültig ist. Sie sät den Zweifel, ob der Tod zum Eigensten des Menschen gehört. Stellt aber das Leben den Tod in Frage, dann ist in Wahrheit das Leben durch den Tod in Frage gestellt, das Leben als das in der Akzeptanz seiner Endlichkeit gelebte. Seit der Mensch Leben und Tod als seine grundlegende Mitgift nicht mehr einfach hinnimmt, agiert er als Künstler: Er verändert Wirkliches, das ihn belangt, indem er es überhöht. Das ist die Geburtsstunde der Sinngebung. Dem, was ist und sich ereignet, einen Sinn zu geben, ist die nicht zu überbietende Überhöhung des Wirklichen. Das Zögern bei der Annahme menschlicher Mitgift erweckt im Menschen die Bereitschaft, selber zu bestimmen, was das ihm Zugeteilte ist. Taugt das, was wir von unserem Leben und Sterben 218 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Nachwort

zu wissen bekommen, realistisch geurteilt, niemals zur Sinngebung, so ist es der Künstlermensch, der diese Tatsache entkräftet. Er fängt an, über sich hinaus zu dichten: über seinen Tod und über sein Leben. Die Frage nach dem Sinn menschlichen Lebens und Sterbens ist unbeantwortbar. Von früh an sind Hochkulturen dabei, sie zu beantworten, besser gesagt, ihrer Unbeantwortbarkeit Gestalt zu geben. In ihrer unmöglichsten, die Wirklichkeit weitestgehend überhöhenden Form lautet ihre Botschaft: Der Tod hat keine Macht über den Menschen. Damit stellt er nicht länger das Leben in Frage, gehört er auch nicht mehr zu dem, was den Menschen ausmacht. Das neue Leben ist das tod- und endlose, der mit ihm erhöhte Mensch nicht mehr der, der wir sind. Gibt der Mensch, der sich selbst in Frage stellt, sich selbst letzte Antworten darauf, dann trägt das Unmögliche, an das er sich wagt, notwendigerweise Züge des Nicht-Menschlichen. Behält der Blick auf das überhöhte Leben die Perspektive des Zeitlichen, dann ist – unmögliches – Leben erdichtet, das zu keinem Zeitpunkt zu Ende gelebt ist. Der Wechsel von der Vergänglichkeit zur Immerheit (sempiternitas) ist vollzogen. Für uns, die wir endlich leben, zeichnet sich nichts Wünschenswertes ab, im Gegenteil. Kommt dieses Leben nämlich, nehmen wir es zur Probe für ein mögliches, mit seinem Gang ins Unendliche über den Anfang nie recht hinaus, so wüßte es doch für alle Zeit im voraus, daß, weil alles sich vertagen ließe, nie etwas an der Zeit wäre, seine Zeit hätte. Endliches Leben ist gezeichnet vom Zunehmen der Lebenskraft, ihrem Höhepunkt und ihrem Abnehmen, von einem Halbkreis, der sich durch Neugeburt von Leben zu einem ganzen schließt. Immerheit dagegen verfolgt eine gerade Linie, die alles, was kommt, in seiner Lebensbedeutung nur als einander gleich und damit als bedeutungslos vorstellen lassen kann. Läßt sich alles endlos vertagen, dann vertagt sich im endlosen Leben das Leben selbst. Es ist, vom lebenden Menschen aus geurteilt, kein Leben. 219 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Nachwort

Sind die Auspizien eines immerwährenden Lebens in der Zeit nicht gerade günstig, dann muß es erstaunen, wie zuversichtlich Religionen von früh an das dem Menschen eigentlich bestimmte Leben in die Ewigkeit (aeternitas) verlegen. Ein Gewinn ist dennoch sogleich ersichtlich. Ist aus Allzeitigkeit Zeitlosigkeit geworden, dann soll und kann auch gar nichts mehr an der Zeit sein. Anstatt die Phantasie damit zu beschäftigen, wie das Leben, das wir kennen, vorzustellen ist, wenn es ewig dauert, ist unmittelbar klar, daß ewiges Leben ein ganz anderes sein muß. Das Leben ist neu ein Rätsel. Anstatt auf den endlos vertagten Kairos blicken wir, wir wissen nicht wie, auf den erfüllten Äon als das – empathisch – wahre Humanum, wenn es denn noch eines ist. Heißt der Grundsatz religiöser Poesie: »Der Mensch ist kein Gott«, der von monotheistischen Religionen: »Der Mensch ist nicht Gott«, dann kann das nur ein erster sein, dem notwendig als zweiter folgt: »Der Mensch ist dazu ausersehen, (wieder) bei Gott zu sein, ja sich mit ihm zu vereinen«. Was einem Gilgamesch, zu einem Drittel Mensch, zu zwei Drittel Gott, trotz größter Anstrengung nicht gelang, die Grenze zwischen Mensch und Gott zu überschreiten, ist für Mädchen, von denen das Evangelium der Alten Kirche erzählt, uneingeschränkt möglich, ja unvermeidbar. Die »klugen Jungfrauen« 4 sind es, die gleichnishaft für Klugheit zum Guten 5 stehen, klug für das Eu des Eu-Angeliums. Sie erlangen, als Heilung vom Menschsein, das ewige Leben. Christliche Mystiker wissen bis ins einzelne, was sie da erwartet. Angelus Silesius (1624–1677) besingt es in 1256 Versen. Ich wähle acht davon: Da höret auf all ihr Begehrn, Da stirbet alls Verlangen, Matthäusevangelium 25,1–13. Rainer Marten, Klugheit zum Guten, in: W. Kersting (Hg.), Klugheit, Weilerswist 2005.

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Nachwort Da stehn sie ewig im Gewährn, Und ewig im Empfangen. Da sitzen sie zu ewger Zeit In höchster Ruh und Friede, In Zufluß und Genüglichkeit Und werdens niemals müde. 6

Das ist kein menschliches Leben, nichts, an das ein »Leben wie Gott in Frankreich« auch nur im geringsten herankäme. Niemals und ewig, höchst und all – kein Äußerstes wird ausgelassen, um das Verlockende des ganz anderen Lebens im wahrsten Sinne des Wortes in den Himmel zu heben. Kein Eigenwille ist mehr am Platze, keine Spontaneität. Alles ist Geschenk, an allem ist genug. Eine Überwirklichkeit (sur réel) wird geschildert, die aber ganz zu der durch Poesie überhöhten Wirklichkeit (plus réel) gehört. Nichts des Besungenen ist zu überprüfen, ob es denn möglich sei. Das von Menschen für Menschen Erdichtete gehört der einen Menschenwelt zu. Ist Leben ein durch religiöse Poesie verrätseltes ewiges und damit ein Werk der Kunst, die sich um ihrer selbst willen zuhöchst engagiert, genau dann kann es für Menschen, die ihr endliches Leben leben, von herausragender Bedeutung sein. Religiöse Dichtung, wie jede der Religion zuträgliche Kunst, ist in ihren gelungenen Werken stimulierend für religiöses Leben und damit überhaupt für das Leben. L’art pour l’art, Kunst um der Kunst willen, ist signifikant kein Wort, das einen »Egoismus« der Kunst kennzeichnete, ein Abseits von dem, was menschliche Bedürfnisse sind. Ist Kunst als Kunst gelungen, in diesem Falle religiös interpretierte, dann ist künstlerisch alles getan, religiöses Leben zu einem gesteigerten und erhöhten menschlichen zu machen. Geht von einer Religion etwa Verheißungsvolles und Tröstliches aus, dann verdankt sie das ihrem Gelingen als Kunst. Angelus Silesius, Sämtliche Poetische Werke (ed. H. L. Held), Bd. 3, neu überarbeitete 3. Auflage, München 1949, S. 283 f. 6

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Nachwort

Bedenken kommen auf, ob sich das bei einer Religion wie der christlichen wirklich so verhält. Zu den erdichteten klugen Jungfrauen gesellen sich ebenso viele törichte. Mit einem Schlag wird Ewigkeit zweideutig. Die lockende Einladung zum ewigen Leben ist mit einer Drohung verbunden. Der Gläubige weiß schon im Leben, daß ihn mit dem Wechsel von der Zeit zur Ewigkeit eine Alternative erwartet: ewiges Leben oder ewige Verdammnis, Himmel oder Hölle. 7 Christus wird das Wort, das dann George W. Bush für seinen Irakfeldzug nutzte, in den Mund gelegt: »Wer nicht mit mir ist, ist gegen mich«. 8 Ist das noch Glaube um des Glaubens, Kunst um der Kunst willen? Ihre Instrumentalisierung scheint der Religion den poetischen Charakter zu nehmen. Es sieht danach aus, als sei aus einem dem plus réel der Kunst zugehörigen sur réel, der himmlischen Entrückung, weltliche Moral geworden. Die nicht »klug« waren, finden bei den Klugen (phronimoi) keine Gnade (sie geben ihnen nichts ab, was sie retten könnte) und schon gar nicht bei Christus. Stehen sie reuevoll und bettelnd vor ihm dann sagt der nur knapp »Ich kenne euch nicht« (ouk oida hymas). Strafende Moral, gar nicht so »poetisch«, verabreicht für das Versäumnis, zur rechten Zeit klug gewesen zu sein, ewige Verdammnis, die keinen Zeitnachlaß kennt, weil, wie die Hölle nun einmal erdichtet ist, es in ihr weder Zeit noch Zeiten gibt. Versprechen der Christus der Evangelien und der in seinem Namen auftretende Apostel Paulus, den Menschen von seinem alten Adam zu befreien und, aus Gnade, mit einem neuen zu beschenken, dann wird die »Frohe Botschaft« nicht für jeden wahr. Der christliche Mystiker, der »Die ewigen Freuden der Seligen« besingt, weiß auch über »Die ewigen Peinen der Verdammten« Bescheid. Von den mit gleicher dich-

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Matthäusevangelium 25,46; vgl. 7,13 f. Matthäusevangelium 12,30.

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Nachwort

terischer Verve vorgetragenen 568 Verszeilen wähle ich wieder acht: Dem stoßet man das Herz entzwei Mit Rädern und mit Rammen, Den stampft man gar wie einen Brei Mit Spinnengift zusammen. Dem schneidet man das Fleisch vom Rump, Den peitschet man mit Schlangen, Den schlägt man lahm, den andern krumb, Den reißet man mit Zangen. 9

Theologisch Erdachtes und religiös Erdichtetes überraschen damit, für menschliches Leben auf Erden ein Disziplinierungssystem zu errichten. Gibt es sich einladend, dann ist es ein Belohnungssystem nach der Art des Do-ut-des: Gibst du »hier«, dann wird dir »dort« gegeben. 10 Der Schatz im Himmel, der sich durch irdisches Geben bildet, ist, wie der Evangelist uns wissen läßt, vor Motten sicher. 11 Gibt es sich drohend, dann ist es ein Strafsystem: Gibst du »hier« nicht, dann erhältst du »dort« deine Strafe. Etwas Unvorstellbares und Unausdenkbares wie ein ewiger Mensch wird erfunden, um im Sinne einer letzten Gerechtigkeit über sein gelebtes Leben zu Gericht sitzen zu können. Es ist, als hätten die Schriftführer der christlichen Religion, die den Gott der Ewigkeitsstrafen einführen, das Fragment B 25 des Kritias (ca. 460–403 v. Chr.) gelesen, das den Gedanken durchspielt, ob nicht ein schlauer Mann zur Disziplinierung schlechter Menschen als Schreckmittel einen zu fürchtenden Gott erfunden habe. 12 Im Hôtel-Dieu zu Beaune, dem Haus der Alten und Siechen, das Gott gehört, hat man die Insassen jeden Sonntag vor Angelus Silesius, ebd., S. 259. Matthäusevangelium 5,52 et al.; vgl. Lukasevangelium 6,23. 11 Matthäusevangelium 6,19. 12 Fragmente der Vorsokratiker (ed. H. Diels/W. Kranz) Bd. 2, Berlin 1952, S. 387. 9

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Nachwort

das wandbreite Bild des Jüngsten Gerichts 13 gebracht: Da, schaut Eure Alternative, die Euch nahe bevorsteht! Weil Poesie nur poetisch zu begegnen ist, mußte im Schauenden sein poetisches Vermögen geweckt werden. Das konnte hier allein der religiöse Glaube sein. Gelang der religiöse Verbund von Bild und Betrachter, dann war der Gläubige für die Momente mitschaffenden Schauens in eine höhere Wirklichkeit versetzt. Kein Für-wahr-halten des Kopfes hatte statt, sondern eine Flutung des Gemüts. Konfrontiert mit der Rätselhaftigkeit eines letzten Heils oder Unheils war er für Momente Teil einer höheren Welt. Trifft diese Deutung im Großen und Ganzen zu, dann hat in dem sonntäglichen Ritual der Bildbegegnung keine Instrumentalisierung der Kunst zugunsten der Moral statt. Die Alternative der Ewigkeit vor Augen, fühlt sich der Schauende, dem Tod schon nahe, in seinem Glauben gestärkt, gesteigert und erhöht. Religiöser Glaube als poetische Begegnung mit Poesie – das ist, gerade auch wenn es um einen Blick auf ewige Verdammnis geht, der Vorschlag der erhellenden philosophischen Aufklärung. Was die Kirche praktisch aus der Alternative der dem Menschen zugedachten Ewigkeit macht und gemacht hat, ist eine andere Frage.

III. Die Ankündigung eines »Tages des Gerichts« 14 , der jenseits der Zeit endgültige Gerechtigkeit schafft, entspricht dem verbreiteten Rechtsempfinden, daß Übeltäter nicht ungestraft davonkommen dürfen. Kann das Recht nicht bei Lebzeiten des Täters hergestellt werden, dann bleibt dafür allein die Ewigkeit. Theologische Philosophen haben argumentiert, mit dem Von Rogier van der Weyden, 1442–1450. Matthäusevangelium 10,5 et al.; Apostelgeschichte 24,25: »kommendes Gericht«. »Jüngstes Gericht« ist eine freie Übersetzung Luthers.

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Nachwort

Tod eines Menschen könne für ihn nicht alles vorbei sein, weil er dann, hat er Übles begangen, der Strafe entginge. Platon hat seinen Sokrates Gründe dafür anführen lassen, daß die Seele älter ist als der Leib, woraus folgt, daß sie im Leben zwar mit dem Leib verbunden, nicht aber notwendig an ihn gebunden ist. Im Tode vollziehe sich die Ablösung (apallagê) der Seele vom Leib. Mit anderen Worten: Die Seele ist unsterblich. Löst und erlöst der Tod den Menschen nicht von allem, sondern allein von seinem Leib, 15 dann sei die vom Leib befreite Seele doch eine von dem zeitlichen Leben mit dem Leib geprägte. 16 Denn das wäre ja für den Schlechten ein Glücksfund, wenn er mit dem Leib auch seine Schlechtigkeit los wäre. Der Wechsel vom Zeitlichen zum Ewigen hat so den Sinn, den Menschen zumindest jenseits der gelebten Lebens für es zur Rechenschaft ziehen zu können. Das in der Unterwelt auszutragende Geschick einer »ungereinigten« Seele wird ein anderes sein als das einer »geordneten und bedachten«. 17 Im Extremfall bleiben die Einen für immer im Schlund des Tartaros, wie es der dem Logos beigesellte Mythos erzählt, während die Anderen Anders als Paulus macht sich Platon keine Gedanken, ob die Seele, vom Leib des zeitlichen Lebens abgelöst, für den Äon ihrer Unsterblichkeit doch auch einen, natürlich ganz anderen, Leib braucht. Römerbrief 8,23; 1. Korintherbrief 15,35 ff. Gegen Bultmann lese ich Römerbrief 8,23 »Erlösung vom Leib«, nicht »Erlösung des Leibes«, da es um das sôma psychikon geht, von dem erlöst wird, nicht schon um das sôma pneumatikon, den Leib des geistigen und ewigen Lebens. R. Bultmann, Art. apolytrôsis, in: G. Kittel (Hg.), Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament Bd. 4, Stuttgart 1942, S. 355. Ob es für die Verurteilten noch eines dritten Leibes bedarf, um das »unlöschbare Feuer« der ewigen Verdammnis zu spüren, war Paulus keiner Überlegung wert. 16 Im Buch Prediger des Alten Testaments (um 250 v. Chr.) wird dagegen die Klage erhoben, daß alle Mühen des Lebens umsonst seien: man könne nichts mitnehmen, auch nichts von dem, was unter der Sonne getan wurde. Prediger 9,5: »Die Toten erkennen gar nichts mehr. Auch erhalten sie keinen Lohn (misthos) mehr.« 17 Platon, Phaidon 106d–108b. 15

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Nachwort

in immer schöneren Wohnungen ihr heiliges Leben führen. Zu glauben (oiesthai), daß es sich irgendwie so verhält, bedeutet für den Philosophen ein »schönes Wagnis«. So gibt er zu verstehen, hier nicht durch begründende Vernunft zur Gewißheit gelangen zu müssen, es aber dank einer außerordentlichen Methode sehr wohl mit dem Mythos halten zu können. Ist nicht logisch zu argumentieren, weil einem Mythos poetisch zu begegnen ist, so hat er sich nun selbst zu besingen (epadein heautô), das heißt mit Zaubersprüchen zu beschwören. 18 Es zeugt von außerordentlichem Methodenbewußtsein, zu erkennen, wann es angezeigt ist, die Grenzen des philosophisch Möglichen zu überschreiten und doch, wenn auch gewagt, Philosoph zu bleiben. 19 Um menschlichem Tod seine Endgültigkeit zu nehmen, setzt der Philosoph sich selbst aufs Spiel: Er übergibt das Argument, daß die Unsterblichkeit der Seele gut dazu sei, die vom Leib gelösten Seelen in reine und ungereinigte zu scheiden, der poetischen Magie. Platon, der Philosoph des Rechenschaftgebens (logon didonai), läßt seinen Sokrates den Zauber der Selbstbeschwörung nutzen, um seinen Schülern Mut zu machen und Zuversicht für das vom Leib abgelöste Leben der Seele zu vermitteln. Er schließt sich nicht den Bildern des Mythos an, weil das nicht mit der Vernunft harmonierte. Sehr wohl aber sei es vernünftig, an der Vision einer letzten Gerechtigkeit mitzudichten. Die Scheidung der Menschen in seelisch Reine und Ungereinigte, in zu Belohnende und zu Bestrafende, ist der wirksamste Ansporn für ein vernünftiges, die Tugenden entfaltendes Leben. 20 Sehen Philosophen ihr eigenPlaton, Phaidon 114d; 77. Platon, Politeia X, 608a; Theaitetos 149d; 157c. 20 Bei Kant ist die Unsterblichkeit der Seele »praktisches Postulat«, damit einer, der moralisch gelebt und gehandelt hat, seine Belohnung empfangen kann. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (Raymund Schmidt), Hamburg 1952, B 839–841; Kritik der praktischen Vernunft, Akademieausgabe Bd. V, Berlin 1968, S. 122 ff. Siehe oben S. 14. 18 19

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stes Vermögen, das Denken, dadurch gewahrt, daß der Denkende nicht schläft und nicht stirbt, wie es Platon und Aristoteles ausdrücklich tun, dann bleibt es doch dabei, daß Schlaf und Tod zum Menschen gehören. Ganz unsterbliche Seele zu sein, die nichts als denkt, ganz der göttliche Teil des Menschen zu sein, der so sehr wie nur möglich um seine Todlosigkeit besorgt ist 21 – das zielt auf Denken als Selbstzweck. Wie aber Platon das Zusammenspiel von Logos und Mythos vorführt, wie er den Tod entmachtet, damit eine letzte Gerechtigkeit gesichert ist, ist kein Denken um seiner selbst willen für ihn leitend, sondern der Gedanke der Möglichkeit, daß im Leben der Menschen das Recht die Oberhand behält. Das Argument für die Unsterblichkeit der Seele im Phaidon wertet das unter Menschen gelebte Leben auf: Wie es geführt wurde, ist auf ewig gültig, weil es, in den Worten des Mythos, ewige Belohnung oder ewige Bestrafung erfährt. Worum es dabei philosophisch geht, sind nicht Seelenheil und Seelenunheil des Einzelnen, sondern das Gelingen gesellschaftlicher und politischer Gemeinschaft. Adressat des den Logos stützenden Mythos ist der die Gemeinschaft Schädigende, seine aktive Untugend der Schlechtigkeit (kakia). Lebensteiliges Gelingen braucht nicht Ewigkeit, sondern Besonnenheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Edelsinn (eleutheria), Wahrhaftigkeit (alêtheia) 22 – dieser Schwarm von Tugenden ist ein Erfahrungsschatz menschenmöglicher Sozialität und Solidarität. Gehen Mythos und Logos realistisch davon aus, daß die Tugend niemals ganzheitlich siegt, dann steht die Beschwörung einer letzten Gerechtigkeit im Dienste menschenmöglichen Gelingens. Versteht es sich als schönes, das heißt als gutes und fruchtbares Wagnis, zu glauben, daß es sich so verhält, dann ist »letzte Gerechtigkeit« keine Utopie, sondern überhöhte Wirklichkeit, wie sie von Kunst geschaffen und verant21 22

Aristoteles, Nikomachische Ethik X 7, 177b16–1178a8. Platon, Phaidon 114e-115a.

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wortet wird, ja höhere Wahrheit. Wird der Menschentod durch die Zauberkraft des Vernünftigen beschworen, den Weg freizumachen für die Bestrafung des Schlechten, dann verwandelt er sich in den Zugang zum unentrinnbaren Gericht.

IV. Religiöser Glaube geht andere Wege als philosophische Argumentation. Es könnte jedoch sein, daß auch in der Orthodoxie des Christentums, wie sie den Sieg über das vom Tod bedrohte Leben beschwört, 23 der Tod als ein dem Menschen Eigenstes gewahrt bleibt. Den Weg dazu in der Theologie des Paulus aufzuspüren, ist nicht einfach. Zunächst gilt es einzusehen, daß für den Christusgläubigen alles, aber auch wirklich alles auf den Glauben ankommt. Pascal, der sich streng an Paulus hält, erkennt als das größte Wunder christlichen Wunderglaubens die Vererbung (transmissio) der Sünde. 24 Dabei aber entdeckt er, daß der Glaube an dieses größte Wunder selbst das größte Wunder ist. Das Wunder wird zur Sache des Gläubigen. Sind aber wundersamerweise alle Menschen wegen Adams Tat, ohne an ihr beteiligt gewesen zu sein, straffällige Gottesverfehler, dann ist auch schon die Sache des Glaubens nahtlos mit der Sache der Gerechtigkeit verbunden. Es zeichnet sich ab, daß die Grundmotivation christlichen Glaubens nicht der versprochene Übergang von einem kurzen bedrohten in ein zeitlos geborgenes Leben ist, sondern die Aussicht auf eine letzte Gerechtigkeit. Ausgang für Paulus’ Glaubenslehre ist die Tatsache, daß kein Mensch fähig ist, gerecht zu sein. Das nämlich verlangte, 1. Johannesbrief 5,4; 1. Korintherbrief 15,55. Siehe dazu Rainer Marten, Radikalität des Geistes. Heidegger – Paulus – Proust, Freiburg 2012, S. 145, 155.

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zeitlebens das mosaische Gesetz einzuhalten, das ja nichts anderes als gelingende Lebensteilung codiert: den Anderen nicht anzulügen, nichts von ihm zu stehlen, nicht nach seinem Besitz zu verlangen usw. 25 , das Paulus in dem Gebot zusammenfaßt: »Du sollst dem Anderen nichts Böses antun, sondern lieben wie dich selbst«. 26 Die Unfähigkeit, gerecht zu sein, von Adam abzuleiten, eine Erfindung von Paulus, macht sie zur menschlichen Natur: Es ist keine Mitgift des Menschen, sich immer miteinander zu vertragen. Für den Gläubigen ist nun aber seine vorgeschichtlich erworbene »böse« Natur etwas, das er loswerden muß und loswerden kann. Glaubt er, straffällig geworden zu sein, dann glaubt er auch schon der Frohen Botschaft, daß sein Weg zum Gerechtsein einzig die Gnade einer höchsten Macht ist. Er muß nicht an sich selbst arbeiten und Tugenden pflegen, um nicht länger straffällig zu sein. Das ist allein Sache des geglaubten Gottes. Der hat schließlich seinen Sohn geschickt, um dem an ihn Glaubenden für immer die Unfähigkeit zu nehmen, gerecht zu sein. Von sich aus wäre er es nie. Es ist des Staunens wert, welchen Weg die paulinische Theologie findet, um einen Menschen gerecht werden zu lassen, ohne daß er es für sich selbst ist. Nicht Selbstbeherrschung und Enthaltsamkeit sind nötig, weder Exerzitien in wahrer Rede noch in Gutsein, obwohl das alles höchst wünschenswert ist, sondern nichts als der Glaube. Ein Mensch wird einzig aus Glauben und zum Glauben gerecht. 27 Es ist der Glaube an Jesus als den Messias, von Gott gesandt, um den gläubige Menschen rein aus Gnade von seiner Schuld freizusprechen bzw. freizukaufen. Was sich als wahrer Gehalt des Glaubens zeigt, ist nicht ewiges Seelenheil, sondern die GeExodus 20,13–17. Leviticus 19,18; Römerbrief 13,8 f. 27 Römerbrief 1,17; 4,17; 25; 9,30; 10,6; Philipperbrief 3,9; Hebräerbrief (anonymer Autor) 11,33. 25 26

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rechtigkeit Gottes. Der durch den Glauben gerecht gewordene Mensch steht für keinerlei menschliches Gerechtsein mehr, auch für kein menschliches Gerechtigkeitsempfinden. Besteht sein Gerechtsein ausschließlich in seinem begnadeten Gläubigsein, dann ist es seine Gerechtigkeit vor Gott, nicht vor den Menschen, ja seine Teilhabe an der Gerechtigkeit Gottes. Gott ist die Gerechtigkeit, der Glaube an seine Gerechtigkeit die einzige Möglichkeit, als gläubiger Mensch gerecht zu sein. Der den Menschen gerecht machende Glaube an die Gerechtigkeit Gottes tut sein Werk unter Lebenden, also vor dem Tod, nicht nach ihm. Die Poesie dieses Glaubens, die an das sur réel rührt, hat ein höchst wirksames plus réel geschaffen. Der Mensch muß sein Verlangen, ja seine Sehnsucht nach Gerechtigkeit nicht länger Utopien anvertrauen oder in alle Ewigkeit »vertagt« sehen. Sie ist schon da – im Glauben. Das Leben ist wieder ein Rätsel, nicht durch den Tod, sondern durch den Glauben an die Gerechtigkeit Gottes. 28 Alles, was für den Gläubigen in seinem Leben unter den Menschen geschieht, ist gerecht, weil es im Banne einer letzten Gerechtigkeit und das heißt eines kommenden Tages des Gerichts steht. Belohnung und Bestrafung im Einst sind Nebensache. Was wirklich zählt, ist der aktuelle Glaube, der den Gläubigen sicher sein läßt, daß in seinem Leben alles gerecht zugeht, zugegangen ist und, endet es, zugegangen sein wird. Die Verrätselung des Lebens könnte größer nicht sein: Menschliche Güte hat Seltenheitswert. Überall mangelt es an Nächstenliebe. Es wird betrogen, gelogen, gestohlen, gemordet. Menschen sind so. Freilich heißt es: »Verfehle dich nicht wieder gegen Gott«. 29 Bleibt aber beim Gesetzesbruch eines Gläubigen der Glaube an eine letzte Gerechtigkeit intakt, dann auch die Gerechtigkeit Gottes und des Gottesglaubens.

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Römerbrief 3,25; 10,3. Johannesevangelium 5,14.

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Die Orthodoxie des Glaubens, in erhellender Aufklärung poetisch gelesen, stärkt mit all ihrem sur réel, das im Sieg über den Tod als letztem Feind kulminiert, das plus réel eines Gerechtigkeitsglaubens, das seine Wahrheit einzig im Leben und für das Leben verstrahlt. Die unerforschliche Gerechtigkeit Gottes, die in menschlichen Augen die absurdesten Wege wählt, für unser Empfinden selbst die unmenschlichsten, gibt dem Gläubigen Halt, den sonst der Tod gibt. Aus dem erlittenen Unrecht ist höheres Recht geworden. Er muß nicht ewig leben, um das genießen (frui) 30 zu können: Der Tod mag kommen, und er ist sich auch sicher, daß er kommt, ist er doch ein Mensch. Paulus’ Christusgläubiger, dieser insgeheime Schöpfer einer Welt, in der alles auf erhöhte Weise gut und gerecht ist, hat sich mit dieser Erdichtung offenbar zuviel zugemutet. Zwar weiß er bekennerhaft, daß die einzige Ungerechtigkeit, die es gibt, die seine ist: das Fehlverhalten gegenüber Gott (»Sündigen«), das darin besteht, das zu tun, was in Gottes Augen das Schlechte ist (to poneron enôpion sou). 31 Am Ende aber fragt er sich, ob Gott vielleicht doch nicht alles gut gemacht hat und nicht immer gerecht ist. Das treibt ihn dazu, Gott in Anbetracht der Übel in der Welt, die er zuläßt, ja selbst herbeiführt, zu »rechtfertigen«. Das ist ein Unterfangen, das an christlichem Selbstmißverständnis nicht zu überbieten ist. In Anbetracht Gottes hat der Mensch keine Rechtssache zu führen, gerade auch dann nicht, wenn er aus Glauben Gott Recht geben will. Gottes Gerechtigkeit verträgt kein Argumentieren. Sie will, das hat Hiob spät verstanden, ein »in Staub und Asche«, nichts sonst. Dem sekundiert der Römerbrief mit seinem Gnadenglauben, der ebenfalls nichts anderes Nach Augustinus werden die Dinge des Lebens, auch die des guten Lebens, »gebraucht« (uti), allein die ehrwürdigsten und höchsten Dinge des Geistes, im letzten also Gott, werden »genossen«. Siehe oben S. 15–25. 31 Psalm 51,6. 30

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als die absolute Unterwerfung erfordert. Jeder Versuch einer Theodizee ist im Ansatz eine geistige Totgeburt. Stellt sich Paulus die gläubige Menschen immer wieder umtreibende Frage, ob der zürnende Gott nicht ungerecht ist, einmal selbst, dann antwortet er darauf triumphalisch: »Das sei ferne! Denn wie richtet Gott sonst die Welt?«. 32 Das ist der wahre Triumph des Christusglaubens, der Todlosigkeit und Ewigkeit des Lebens bei weitem übersteigt: Alles, was im Leben eines Gläubigen geschieht, ist, und ginge die Welt unter, in einem höheren, ja höchsten Sinne gut und gerecht. 33

V. Heidegger versucht, das Todesverständnis zu revolutionieren, indem er Sterben und Tod nicht mehr zum menschlichen Leben gehören läßt, sondern ganz zur Sache des von ihm erdachten »Da-seins« macht, das meint den Menschen im Daß seines Da. Er will nicht länger wahrhaben, daß wir, wie es das alte Wort veranschaulicht, mitten im Leben vom Tod umfangen sind, auch nicht, daß er uns als Lebendigen einwohnt. Er hat radikal anderes im Sinn, was unausweichlich ist, wenn das von ihm angezielte »eigentliche« Sein des Menschen über die Realität eines Phantoms nicht hinausreicht. Dieses erdachte Sein, von ihm das »Sein selbst« genannt, ist reines Daß ohne alles Was. Ein Überhaupt-da-sein ist gemeint, ein »Sein« im zeitlosen Augenblick ekstatischer Authentizität. Für uns dagegen ist ein Mensch, der existiert, einer, der lebt, unmöglich aber ein nacktes Daß ohne Was und Etwas. Um Heideggers Radikalität, die zur Absurdität führt, Römerbrief 3,5. Wer sich stark genug fühlt, diesen Glauben teilen zu können, sollte zur Selbstprüfung das 9. Kapitel des Römerbriefes lesen, ob er es wirklich aushält, was da dem Glauben alles abverlangt wird.

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schärfer in den Blick zu nehmen, ist zu erinnern, daß die Tradition Gründe hatte, »leben« und »sein« für Synonyme zu nehmen: »Den lebendigen Dingen ist das Leben das Sein« (Vivere viventibus est esse), 34 »Das Leben ist dem Lebenden das Sein« (to de zên tois zôsi to einai estin). 35 So denken und sprechen wir auch. Für Aristoteles und Thomas kommt auch Gott als ewigem Lebewesen Leben und damit Sein zu. 36 Indiz für Leben alias Sein ist in jedem Falle Tätigsein, bei Menschen an erster Stelle Denken und Wahrnehmen. Heidegger dagegen versucht ein menschliches Sein zu denken, das keine Züge von Leben hat, das nicht nur ohne Leiblichkeit und Geschlechtlichkeit, sondern auch, obwohl es selbsthaft sein soll, ohne Persönlichkeit ist. Mit der Was- und Etwaslosigkeit entfällt zugleich jede Individualität. 37 »Ein Mensch stirbt, wie er gelebt hat« – dieser Volksweisheit ist der Boden entzogen. Für Heidegger sind nicht im Tode alle gleich, sondern im »Sein zum Ende« – sein Ausdruck für »Sterben« des Seinswesens Mensch. Beginnt für uns das Leben mit der Geburt und endet es mit dem Tod, dann ist das für ihn die vulgäre Sicht der Dinge, die sich am Eigentlichen versieht. In der Sicht dieser Daß-Seins-Ontologie stirbt ein Mensch, der lebt, nicht, findet auch nicht den Tod: Er lebt ab. 38 Ausgerechnet dem leib- und leblosen, nicht in der Zeit existierenden Seinswesen sind Sterben und Tod vorbehalten. Wie Sterben von Menschen unter Menschen statthat, wird so radikal ausgeblendet, daß nichts von einer lebendigen Erfahrung bleibt. »Stirbt« das Da-sein, dann soll das heißen, daß es im jähen Daß seines Seins sein Möglichsein, nämlich sein Nicht-mehr-da-sein-können ist. Die beiden MöglichkeitsThomas von Aquin, Summa Theologica I,18,2, in: Summa Theologica, dt.-lat., Bd. 2, Salzburg/Leipzig 1934, S. 123. 35 Aristoteles, De anima (ed. W. D. Ross, Oxford 1956), Bd. 4, 415b13. 36 Siehe dazu auch S. 41 f. 37 Martin Heidegger, Der Begriff der Zeit, Tübingen 1995, S. 27. 38 Martin Heidegger, Sein und Zeit, S. 247. 34

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begriffe, possibilitas und potestas werden dazu vereinigt: Es ist möglich (es kann sein), daß das Da-sein endet und nicht mehr da ist. Aus Da-sein wird Weg-sein. Dann aber wird diese Möglichkeit (es kann sein) zu einem Vermögen umgedacht (das Dasein kann das), und zwar zu seinem eigentlichen: Es vermag sein Zum-Ende-sein. Ist das Ende des Da (der »Tod«) die, wie er sagt, eigenste eigentliche Möglichkeit des Da-seins, dann vermischen sich possibilitas und potestas aufs wunderlichste. Tod ist jetzt prinzipiell eine authentische, aber entindividualisierte Möglichkeit, keine Wirklichkeit. Möglich, wie er ist, ist er nicht zu verwirklichen, wenn doch das Da-sein am Möglichsein des Nicht-mehr-da hängt. Wie Da-sein kein Aufwachsen und Reifen kennt, keine Hoch-Zeit (akmê), 39 so auch kein Altern, kein Sterben und auf den Tod Zugehen. Meint »Sterben« nurmehr »Sein zum Ende« und gleichbedeutend »Sein zum Tode«, 40 dann ist es schon darum kein Sterben, weil es reines Möglichsein ist und kein Prozeß. Mit ihm verändert sich nichts, schon gar nicht die Nähe zum Tod. Es zielt einzig auf ein Daß und Wie geistiger Existenz, auf ein seins- und das heißt möglichseinsgerechtes Ergreifen eigenster Eigentlichkeit. Sofern das Da-sein »stirbt«, ist es ekstatisch-solipsistisch seine ganze Möglichkeit (possibilitas und potestas in eins). Dieser »Tod« ist unmöglich ein soziales Ereignis. An Sterbebegleitung ist nicht zu denken, nicht an Abschied von Anderen und von sich selbst. Mit ihm steht überhaupt nicht der menschliche Tod im Blick. Sterben tue das Da-sein »immer schon«, 41 »solange es existiert«. 42 Diese Verkehrung des Sinnes von Sterben bringt Heidegger dazu, das Da-sein, das nicht in der Zeit existiert, mit Platon, Politeia V, 460e-461a, akmê als die Hoch-Zeit der leiblichen und geistigen Kräfte für Mann und Frau. 40 Sein und Zeit, S. 254, 374. 41 Sein und Zeit, S. 254. 42 Sein und Zeit, S. 251. 39

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einem Zeitprädikat zu versehen: »gebürtig«. 43 Was sich als Auszeichnung anhört, besagt allein, daß das Da-sein in seinem Sein nichts anderes ist als Sein-zum-Ende und Sein-zumnicht-mehr-dasein. Die berühmte »Jemeinigkeit« des »Todes« 44 betont nur, daß das Da-sein in der ihm zuerkannten Selbsthaftigkeit von nichts als sich selbst beansprucht, auf nichts als sich selbst ausgerichtet ist. Das Da-sein kann und will sich unmöglich zu Anderen und Anderem verhalten. In seiner menschlichen Unmöglichkeit (A-Humanität) trägt es die Züge der In-Humanität. Eine Möglichkeit, das von Heidegger zu Sterben und Tod Erdachte in die Verständigung des Menschen über seine Endlichkeit sinnvoll einzubeziehen, zeigt sich nicht.

VI. Wo Höchstes und Heiliges verehrt wird, geben Menschen in Wahrheit dem Tod die Ehre. Sich in Ehrfurcht vor Toten zu verneigen, gleicht der Verneigung vor höchster Majestät. Das Rätsel des Todes, das unser Leben verrätselt, will nicht erraten sein. Ehrfurcht und Scheu, wie sie der menschliche Tod erweckt, hat in allen Kulturen schöpferische Kräfte mit größten Energien freigesetzt. 45 Nichts übertrifft die mitreißende Gewalt der Werke der Kunst, die, offenkundig oder insgeheim, einer Bewahrung des Rätsels des Todes dienen. Ihm sind die Kultstätten und Grabstätten geweiht, die Tempel und Dome. Bis heute ist er größter Schatz und stärkster Garant unseres Nichtwissens. Wie magisch zieht er menschliches Künstlertum an, ihm Mythen und Mysterien vom Fortbestand des Sein und Zeit, S. 374. Sein und Zeit, S. 240. 45 Der Blick richtet sich hier ausschließlich auf Todeskulturen, nicht auf Tötungskulturen wie die der Inkas. 43 44

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Nachwort

Lebens entgegenzuhalten. Wiedergeburt, Auferstehung, ewige Wohnstatt im Himmel, ewige Verdammnis in der Hölle – das sind Höchstformen der Gestaltung des erregendsten menschlichen Nichtwissens. Die Sinnfrage des Lebens, die der Tod stellt, ist eine bleibende Herausforderung. Wer sie annimmt, ist als Künstler gefragt, als einer, der sich die Freiheit nimmt, Künstler zu sein. Es ist die Freiheit zur Kunst, die aller künstlerischen Freiheit zugrunde liegt. Jeder gründende Akt menschlicher Freiheit aber hat es in sich, daß seine Gründung eine notwendige ist. Wer aus Freiheit Künstler ist, dem ist seine Kunst etwas Notwendiges. Es ist wie ein Wunder: Ist dem, der die Unbeantwortbarkeit der Menschenfrage mitgestaltet, seine Kunst notwendig geworden, dann auch sein Tod und sein Leben. Tod und Leben als Rätsel haben den Bewahrenden nötig, der Bewahrende Leben und Tod, deren Rätsel sein Schaffen gilt. Wer sich darauf versteht, das Leben zu brauchen, das er unter und mit Anderen lebt, und den Tod, der ihn von sich selbst und von Anderen endgültig Abschied nehmen läßt, macht Gebrauch von gründender Freiheit. Was so geschieht, gleicht einer Berufung (vocatio), die, wie jede künstlerische, vom Berufenen selbst ausgeht. Sich zum Leben und zum Tode berufen zu wissen – damit sind die Grenzen der Grundlegung künstlerischer Freiheit gezogen. Wer jetzt Kosmogonien und Theogonien entwirft, sich Göttern und Gott zuwendet, ewige Freuden und ewige Qualen kommen sieht, Heiligtümer errichtet und heilige Rituale initiiert, im Auftrag eines Höchsten predigt und Weihehandlungen vollzieht, sich einem Höchsten hingibt und anvertraut, der weiß im Innersten, daß er sich frei zur poetica beruft, zur poetica aperta oder poetica abscondita, zur Poesie, die sich offen als Poesie gibt, oder zur Poesie, die sich poetisch als Poesie verbirgt. Jede Kunst ist Überstieg, ist höhere Wirklichkeit, im Falle des Rätsels von Tod und Leben mit Überwirklichkeit angereichert. Es ist die Freiheit zur 236 https://doi.org/10.5771/9783495811214 .

Nachwort

Kunst, die den Grund bereitet, daß Tod wie Leben dem Menschen notwendig sind – das Drama von Tod und Leben als Grundzug des Humanum.

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