Der menschliche Mensch: Abschied vom utopischen Denken 9783495817735, 9783495489499


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Table of contents :
Inhalt
I. Der Mensch im Spiegel des Anderen
1. Endlichkeit und Öffentlichkeit des Spiegelblicks
2. Menschliche Selbstinszenierung
3. Die Urszene
4. ›Regard-regardé‹ und ›regard-regardant‹
5. Der methodisch verweigerte Augen-Blick
6. »Jetzt noch sehen wir durch einen Spiegel im Rätselbild« (Paulus)
7. Eigenheitliches Sehen
8. Die Gegenwart des Einen und Anderen
II. Der Mensch im Spiegel der ›Menschlichkeit‹
1. Die Spiegelmetapher
2. Die Spiegelung als Mensch
3. Das Selbstverständnis Mensch zu sein
4. Der Mensch im Spiegel seiner moralischen Maßstäbe
5. Der Mensch im Spiegel seiner poetischen Transzendenz
III. Der Mensch im Spiegel reiner Vernunft
1. Die Vorhaltung philosophischer Vernunft
2. Die Vorspiegelung von Vernunft als menschlicher Eigenheit und Wesenheit
3. Der Mensch im Spiegel seines utopischen Noch-nicht-Seins
3.1 Die Idee des Neuen Menschen
3.2 ›Negative Dialektik‹
3.3 Der Mensch als Selbstspiegelung der Vernunft
3.4 Der Mensch im Spiegel des Vernunftbedürfnisses
3.5 Der Mensch im Spiegel vernünftiger Gesinnung
3.6 Der Mensch im Spiegel der Kritik des Unmenschlichen
3.7 Die Vorspiegelung vernünftiger Hoffnung
IV. Der Mensch im Spiegel dienlicher Vernunft
1. Vernunft im Dienste des Lebens
2. Vernunft im Dienste des Einen und Anderen
3. Vernunft im Dienste des Dissens
4. Vernunft im Dienste des Kompromisses
5. Vernunft im Dienste des Gewissens
V. Der Mensch im Spiegel des gegenwärtigen Zeitalters
1. Das Unmaß des Verfügbaren
2. Der Umgang mit dem Fortschritt
2.1 Die Möglichkeiten des Rechts
2.2 Die Kompromißlosigkeit des Fortschritts
2.3 Der Rechtsstaat als Kompromiß
2.4 Kompromißfähigkeit und Kompromißbereitschaft der vom Fortschritt Betroffenen
3. Der instrumentelle Mensch
4. Was an der Zeit ist
4.1 Die Geschichtlichkeit des instrumentellen Menschen
4.2 Die Menschlichkeit des instrumentellen Menschen
4.3 Die Feststellung des ›Ungleichzeitigen‹
4.4 Der Bürgerkrieg der Einstellungen
5. Was auf dem Spiel steht
5.1 Abstand
5.2 Halt und Einhalt
5.3 Vielfalt
5.4 Gewissen
5.5 Gesicht
Nachwort
Literaturverzeichnis
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Der menschliche Mensch: Abschied vom utopischen Denken
 9783495817735, 9783495489499

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Rainer Marten

Der menschliche Mensch Abschied vom utopischen Denken

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495817735

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Rainer Marten Der menschliche Mensch

VERLAG KARL ALBER

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https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Rainer Marten

Der menschliche Mensch Abschied vom utopischen Denken Um ein Nachwort erweiterte Neuausgabe

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Rainer Marten The Human Human Being Leaving Utopian Thinking Behind Theologians tell us that we are simply »human,« biologists tell us that, of course, we already are »human.« Philosophers, however, once again prove to be idiosyncratic and would have us believe that we are supposedly not yet human. Rainer Marten argues against this typical philosophical postponement of theoretical corroboration regarding the question of our humanness and, referring to philosophers such as Kant, Marx, and Heidegger, Marten shows that the »human human being« is always already present – but always present together with the »inhuman« and »inhumane.« The human being does not have an »essence« that, qua »pure reason,« is to be actualised in a »classless society« or in the mirror-play of the »fourfold.« Instead, we are always already human beings precisely because we enact the play of being human for each other. Marten’s book reflects the drama of human self-dramatisation and -aggrandisement in five reflections. This side of utopia and acceptance the human being, who we are, finds a new form.

The Author: Rainer Marten, born in 1928, Professor of Philosophy at Freiburg University. Latest publications at Alber among others: ›Die Möglichkeiten des Unmöglichen. Zur Poesie in Philosophie und Religion‹ (2005, 32015) (English: The possibilities of the impossible. On poetry in philosophy and religion), ›Maßlosigkeit. Zur Notwendigkeit des Unnötigen‹ (2009, 22014) (English: Exorbitance. On the necessity of the unnecessary), ›Radikalität des Geistes. Heidegger – Paulus – Proust‹ (2012) (English: Radicality of the mind. Heidegger – Paul – Proust), ›Endlichkeit. Zum Drama von Tod und Leben‹ (2013) (English: Finitude. On the drama of life and death), ›Lob der Zweiheit. Ein Philosophisches Wagnis (2017) (English: The praise of twoness. A philosophical venture).

https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Rainer Marten Der menschliche Mensch Abschied vom utopischen Denken Theologen lassen uns wissen, wir seien bloß Menschen, Biologen, wir seien es schon und sogar. Allein Philosophen überraschen uns mit der Vorhaltung, wir seien es noch nicht. Gegen die theoretische Vertagung des wahrhaft Humanen, wie sie in der Neuzeit an Bedeutung gewinnt und in den Philosophien von Kant, Marx und Heidegger ihre maßgebliche Ausprägung findet, zeigt Rainer Marten, dass der »menschliche Mensch« immer schon präsent ist – gemeinsam mit dem »unmenschlichen«. Der Mensch hat kein »Wesen«, das als »reine Vernunft«, in der »klassenlosen Gesellschaft« oder im Spiel des »Weltgevierts« erst noch zu realisieren wäre. Menschen sind wir vielmehr immer schon, indem wir uns voreinander und vor uns selbst als Menschen inszenieren. Das Buch führt das Drama menschlicher Selbstinszenierung in fünf Spiegelungen vor. Diesseits von Utopie und Akzeptanz gewinnt dabei der Mensch, der wir selbst sind, eine neue Gestalt.

Der Autor: Rainer Marten, geb. 1928, Professor für Philosophie an der Universität Freiburg i. Br. Zuletzt von Rainer Marten im Verlag Karl Alber erschienen sind: Die Möglichkeit des Unmöglichen. Zur Poesie in Philosophie und Religion (3. Aufl., 2015), Maßlosigkeit. Zur Notwendigkeit des Unnötigen (2. Aufl., 2014), Radikalität des Geistes. Heidegger – Paulus – Proust (2012), Endlichkeit. Zum Drama von Tod und Leben (2013), Der menschliche Tod. Eine philosophische Revision (Neuausgabe 2016), Lob der Zweiheit. Ein philosophisches Wagnis (2017), Denkkunst. Kritik der Ontologie (Neuausgabe 2018).

https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Die Originalausgabe des Buches erschien mit gleichem Titel 1988 im Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn.

Für Johannes Cremerius und Annemarie Cremerius

Um ein Nachwort erweiterte Neuausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48949-9 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81773-5

https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Inhalt

I. 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Der Mensch im Spiegel des Anderen . . . . . . . . . Endlichkeit und Öffentlichkeit des Spiegelblicks . . . Menschliche Selbstinszenierung . . . . . . . . . . . Die Urszene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ›Regard-regardé‹ und ›regard-regardant‹ . . . . . . . Der methodisch verweigerte Augen-Blick . . . . . . »Jetzt noch sehen wir durch einen Spiegel im Rätselbild« (Paulus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Eigenheitliches Sehen . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Die Gegenwart des Einen und Anderen . . . . . . . . II. 1. 2. 3. 4. 5.

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11 11 20 32 40 45

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48 52 55

Der Mensch im Spiegel der ›Menschlichkeit‹ . . . . . 62 Die Spiegelmetapher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Die Spiegelung als Mensch . . . . . . . . . . . . . . . 65 Das Selbstverständnis Mensch zu sein . . . . . . . . . 73 Der Mensch im Spiegel seiner moralischen Maßstäbe . 87 Der Mensch im Spiegel seiner poetischen Transzendenz 100

III. Der Mensch im Spiegel reiner Vernunft . . . . . . . . 116 1. Die Vorhaltung philosophischer Vernunft . . . . . . . 116 2. Die Vorspiegelung von Vernunft als menschlicher Eigenheit und Wesenheit . . . . . . . . . . . . . . . . 120

7 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Inhalt

3. Der Mensch im Spiegel seines utopischen Noch-nichtSeins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Die Idee des Neuen Menschen . . . . . . . . . . . 3.2 ›Negative Dialektik‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Der Mensch als Selbstspiegelung der Vernunft . . 3.4 Der Mensch im Spiegel des Vernunftbedürfnisses . 3.5 Der Mensch im Spiegel vernünftiger Gesinnung . 3.6 Der Mensch im Spiegel der Kritik des Unmenschlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7 Die Vorspiegelung vernünftiger Hoffnung . . . . .

IV. Der Mensch im Spiegel dienlicher Vernunft 1. Vernunft im Dienste des Lebens . . . . . . 2. Vernunft im Dienste des Einen und Anderen 3. Vernunft im Dienste des Dissens . . . . . . 4. Vernunft im Dienste des Kompromisses . . 5. Vernunft im Dienste des Gewissens . . . .

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169 178

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185 185 189 196 212 221

V. Der Mensch im Spiegel des gegenwärtigen Zeitalters . 1. Das Unmaß des Verfügbaren . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Umgang mit dem Fortschritt . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Möglichkeiten des Rechts . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Kompromißlosigkeit des Fortschritts . . . . . . 2.3 Der Rechtsstaat als Kompromiß . . . . . . . . . . 2.4 Kompromißfähigkeit und Kompromißbereitschaft der vom Fortschritt Betroffenen . . . . . . . . . . 3. Der instrumentelle Mensch . . . . . . . . . . . . . . . 4. Was an der Zeit ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Die Geschichtlichkeit des instrumentellen Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Die Menschlichkeit des instrumentellen Menschen 4.3 Die Feststellung des ›Ungleichzeitigen‹ . . . . . . . 4.4 Der Bürgerkrieg der Einstellungen . . . . . . . . .

227 227 234 234 239 241

8 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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144 144 150 154 160 164

250 254 261 261 270 274 280

Inhalt

5. Was auf dem Spiel steht 5.1 Abstand . . . . . . 5.2 Halt und Einhalt . . 5.3 Vielfalt . . . . . . . 5.4 Gewissen . . . . . . 5.5 Gesicht . . . . . . .

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287 287 288 290 292 294

Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Literaturverzeichnis

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308

9 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

I. Der Mensch im Spiegel des Anderen

1. Endlichkeit und Öffentlichkeit des Spiegelblicks Menschen spiegeln sich: je der Eine im Anderen. Ohne das fänden sie nicht zueinander und zu sich selbst. Sich im Anderen zu sehen, heißt vor allem, im eigenen Leben und Handeln selbsthaft Halt zu gewinnen und Einhalt zu erfahren. Am Anderen führt praktisch kein Weg vorbei. Noch der weiteste Ausgriff des menschlichen Blicks wird vom spiegelnden Anderen aufgefangen und ›beendet‹. Worauf Einer auch sein Auge richtet, es ist der Andere, der ihn zu sich selbst führt. Niemand, es wäre denn einer absolut für sich, kann sich sehenden Auges in Unendlichkeiten verlieren und seiner selbst verlustig gehen. Sehen ist seiner selbsthaften und spiegelnden Natur nach endlich. Der Andere steht dem Einen nicht nur im Wege, sich selbst für jeden und alles anzusehen und so, ohne Gegenwart und Gegenüber zu finden, selbstverloren ins Unendliche abzutreiben. Er nimmt ihm zugleich den Blick auf unendlich zu lebendes Leben. Wer den Anderen sieht, direkt oder indirekt, ist sich praktisch gewiß, nicht für immer zu sein. Im Spiegelverhältnis des Einen und Anderen entdeckt sich das Verhältnis von Leben und Tod. Wer im Anderen zu sich selbst findet, eignet sich eigenes Leben und eigenen Tod an. Jede glückende Selbstspiegelung ist Manifestation der Endlichkeit des Selbst und des Lebens. Wie am Anderen, so führt auch am Tod kein Weg vorbei. Das gehört zusammen. Der Tod ist kein zweiter Spiegel neben dem Anderen. Tod, sofern zu ›sehen‹, Tod der Anderen und eigener, ist im Verhältnis des Einen und Anderen als einem endlichen Verhältnis gegenwärtig. Der Eine und Andere sind in eins lebenspraktisch und zeitlich verbunden: in ihrem jeweiligen 11 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Der Mensch im Spiegel des Anderen

Selbstsein und einander Gegenwärtigsein, in ihrer Lebendigkeit und (Lebens-)Endlichkeit. Sie teilen in jedem Moment ihres Einander ihr Leben und Handeln, ihre Zukunft und Vergangenheit. Der Andere, ob alt oder jung, gesund oder krank, ist nicht der Tod, sieht nicht wie der Tod aus. Er ist in der Begegnung eine Zeitgestalt, die als solche die ›Gunst der Stunde‹ wahrnimmt, voll die lebensbefähigende und lebenserfüllende Endlichkeit des Einen zu spiegeln: sein endliches Selbst und sein endliches Leben. Selbsthaft zu leben und zu sterben weiß nur Einer, der sich im Anderen selbst sieht. Sprechen wir freilich davon, Menschen brauchten und gebrauchten Spiegel, dann haben wir für gewöhnlich künstliche und natürliche im Sinn, wie sie seit alters dazu dienen, einem Menschen das eigene Aussehen ohne ersichtliche Mitwirkung anderer vor Augen zu führen. Besonderen Metallen, Gläsern und Wassern zugewandt, nehmen Menschen offenen Auges ein Verhältnis zu sich und ihrer Erscheinung auf, das rein für sie selbst zu bestehen scheint: die Spiegelung des eigenen Gesichts und der eigenen Gestalt ohne Gegenwart von Gesicht und Gestalt des Anderen. Aristoteles möchte darum bei einem Menschen, der sich im Spiegel sieht, gar nicht von einem Selbstbezug, sondern allein von einem solchen des Gesichts sprechen: wenn wir unser Gesicht sehen wollen, sehen wir in den Spiegel, wenn uns selbst, auf den Freund, denn er ist, wie wir sagen, das andere Ich (ἕτερος ἐγώ). 1

Nach dieser Unterscheidung von Spiegeln und Erkennen ist allein der Sichselbsterkennende nicht autark, sondern bedarf des freundschaftlich Anderen 2 , während der Sichspiegelnde für vollends selbstgenügsam gilt. Aristoteles, Große Ethik, II 15 1213a 21. Es ist bemerkenswert, daß das alter ego in die philosophische Reflexion als Freund eingeführt wird, nicht als Jedermann der einen Lebens- und Erlebniswelt (Edmund Husserl), nicht als Feind (Jean-Paul Sartre). 2 Aristoteles, ebd. 1213a 26. 1

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Endlichkeit und Öffentlichkeit des Spiegelblicks

So sorgsam und genau aber das Sich-für-sich-Sehen im Spiegel auch durchgeführt werden mag, keine leibhafte Ungegenwart der Anderen bringt es zuwege, daß sie nicht doch im Sichsehen des Sichspiegelnden mit dabei sind und mitsehen, ja das Sehen gründen und freigeben, mit dem Einer sich im Spiegel sieht – sein Gesicht und eben doch sich selbst. Sich zu spiegeln bringt dem Menschen mit der Erfahrung eigener Endlichkeit zugleich die eigener Öffentlichkeit. Es gibt kein privates, individuell-autarkes Spiegeln, keine autistische Selbstsicht. Wer sich selber für sich selbst spiegelt, ist sich praktisch der Augen des Anderen gewiß: sie erregen und durchherrschen sein sinnlich wahrgemachtes Interesse an sich selbst, gewähren ihm Halt, gebieten ihm Einhalt. Mag sie auch noch so subjektiv und ›falsch‹ sein – die Sicht, die jemand aus seinem Spiegelbild von sich selbst für sich gewinnt, trägt Züge öffentlicher Auslegung. Dabei hat jedes Sich-für-sich-selbst-Sehen mit seinem öffentlichen zugleich einen exemplarischen Charakter. Die – ungegenwärtigen – Anderen sehen nicht nur mit aus dem eigenen Spiegelbild heraus; der Sichspiegelnde sieht sie auch mit hinein. Wie da Einer sich selber für sich selbst sieht, könnte er stets Vorbild für die Selbstsicht Anderer sein, sähen sie nur seinen Blick mit. Wer eine extreme Möglichkeit des Sich-für-sich-Spiegelns nützt und sich seinen Spiegel aus seiner ›eigensten‹ Lebensgeschichte, nämlich aus der Geschichte der eigenen Kindheit selber fertigt, wird sich dabei gegenüber Anderen öffnen und ihnen die Chance geben, den Blick auf das offengelegte eigene Spiegelbildnis zu teilen und sich in ihm als einem ›Vorbild‹ selbst zu entdecken. 3 Andrej Tarkowskij bemerkt zu seinem autobiographischen Film: »Im ›Spiegel‹ wollte ich nicht von mir selbst erzählen, sondern vielmehr von den Gefühlen, die ich mir nahestehenden Menschen gegenüber empfinde, von meinen Beziehungen zu ihnen, meinem ewigen Mitgefühl für sie (…).« Und eine Zuschauerin aus Gorkij schreibt ihm: »Haben Sie Dank für den ›Spiegel‹. Ganz so sah meine Kindheit aus … Nur – wie haben Sie davon erfahren können? (…) als ich im dunklen Kinosaal auf ein von Ihrem Talent

3

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Der Mensch im Spiegel des Anderen

Jede Spiegelung, auch die vermeintlich rein subjektive, ist öffentliche Selbstauslegung. Der im Einzelnen vereinte und ihn lebenspraktisch auszeichnende Reichtum des Besonderen bricht sich im Blick ›auf sich selbst‹ in Erfahrungen menschlicher Lebensteilung. Die ›innersten‹ Gefühle, die ›eigensten‹ Sichten und Erfahrungen sind jeweils an Eigenheitliches gebunden, das Einer mit Anderen teilt oder auf praktisch bedeutsame Weise nicht teilt. Aus allen Lichtern und Schatten, Farben und Gestalten, in denen Einer sich selbst sieht, schaut Besonderes heraus, das menschliches Einander prägt und aus dem es lebt: schön oder häßlich zu sein, geliebt oder verschmäht, jung oder alt, gesund oder krank. Wer sich im einander Spiegeln selbst auslegt und identifiziert, erfaßt sich nicht schon in seiner Individualität. Die Eigenheiten, ob sie als unterschiedene oder gleiche einander begegnen, sind von allgemeiner Art. Es reicht nicht zu, sich für eine gegenwärtige Konstellation von Eigenheiten einen ›unteilbaren‹ Stand- und Gesichtspunkt vorzustellen, um auf Individualität zu stoßen. Schon gar nicht ist sie, ihrem lebenspraktischen Verständnis nach, aus dem abzuleiten, was Biologen an menschlichen Individuen als die paar Prozent individuelle genetische Information feststellen. Der gemeinschaftlich Lebende und Handelnde gibt in seinem endlichen und öffentlichen Einander Individualität nur insoweit zu erkennen, als das mitgesehen wird, was daran genau nicht zu seiner Endlichkeit und Öffentlichkeit findet. Praktische Individualität kommt nur in den Blick, wenn die Unerschöpflichkeit und Unergründlichkeit des Einen und Anderen für einander und für sich selbst in ihren eigenheitlichen Äußerungen wahrgenommen wird. Nicht die in einem Moment aktualisierte Mannigfaltigkeit des Eigenheitlichen spiegelt für sich Individualität. Zu ihrer Erscheinung gehört geausgeleuchtetes Stück Leinwand schaute, da fühlte ich zum ersten Mal in meinem Leben, daß ich nicht allein bin.« (A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit. S. 155; 10 f.)

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Endlichkeit und Öffentlichkeit des Spiegelblicks

rade das, was da für einander im Dunkeln bleibt, sich in der Vielfalt des Eigenheitlichen einer jeden Äußerung der genauen Aussonderung und Benennung entzieht. Die komplexe Eigenheit eines Schönen und Geliebten oder eines Alten und Kranken ist niemals im Reichtum ihres Was zu klären (›auszudifferenzieren‹), sondern läßt sich allein, in freier Bejahung dieser Unschärfe, als ›individuelles‹ Wie erfassen. Auslegen und Identifizieren sind dem Eigenheitlichen als Besonderem und Nichtindividuellem verschrieben. Darum kommt auch beides – zum Glück der lebensteilig Handelnden – prinzipiell zu keinem Ende. Zu verstehen ist, streng genommen, überhaupt nur, was interpretierbar ist. Jede Verständigung unter Menschen setzt voraus, daß sie nicht ›eineindeutig‹ miteinander verkehren, sondern sich in Verallgemeinertem aufhalten, das als solches nach Deutung verlangt – ganz so wie Sprache, die der Verständigung dient, in jedem ihrer Prädikate ein allgemein und nicht eigennamentlich Benennendes ins Spiel bringt. Menschen bleiben einander und sich selbst ein Rätsel, eine Überraschung, eine stets neue Aufgabe der Auslegung und Identifizierung, sofern sie ein verstehend-freies und kein mechanisches Verhältnis zueinander haben. Der Einzelne ist aber in seiner Individualität nicht etwa ein ›Ding an sich selbst‹, weil im Einander stets nur sein Besonderes zur ›Erscheinung‹ käme. Die Individualität des Einen und Anderen kommt vielmehr in der Spiegelung des eigenheitlich Besonderen voll zum Vorschein (sc. als Individualität), wenn nur mitgesehen wird, daß keine Allheit von Eigenheiten dingfest zu machen, niemand vollends und endgültig auszulegen und zu identifizieren ist. Gerade dadurch bewahren sie sich ihre lebendige und aktive Individualität, daß sie ihre lebensbefähigende Endlichkeit und Öffentlichkeit im Allgemeinen finden, ohne jedoch darin aufzugehen. Ein Ineinanderspiegeln absolut geklärter Individualität ist, was die freie lebensbefähigende Art des Einander anbelangt, nur als tödlich vorzustellen. Die lebenspraktische Bedeutung des Spiegelblicks ist nicht 15 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Der Mensch im Spiegel des Anderen

stets die gleiche. Noch bevor Kinder sich im Spiegel klar und ausdrücklich selbst erkennen, wechseln sie ihr Verhalten vor ihm von einer naiven Freude in affektives Ihrer-selbst-bewußtsein: sie reagieren auf ihr Spiegelbildnis mit Verlegenheit, Schüchternheit, Wegsehen und Clownerie. 4 Das ist bereits ein Vorschein der Öffentlichkeit des Spiegelns: Sehen, Sichsehen und eben Gesehenwerden. Sobald sich dann Kinder im Spiegel selbst erkennen, zeigt sich vollends, daß es kein unmittelbares Verhältnis von Sehen und Sichsehen gibt. Das Selbst der frühen Selbsterfahrungen und des zeitig erlernten Unterscheidenkönnens zwischen sich selbst und Anderen erhält eine neue Dimension: sich selbst öffentlich zu sein. Der Sichentwickelnde unterscheidet jetzt den eigenen Leib vom eigenen Selbst und beginnt gerade deswegen im Interesse seines Leibes zu handeln. Auf diese Weise stabilisiert er sich für sich selbst als Selbst- und Fremdverhältnis. Er ist nunmehr auch stark und empfänglich genug für Selbstbewunderung. Kein Sichsehen im Spiegel, soll es nicht pathologisch sein, darf so weit gehen, daß sich in ihm der Sehende durch und durch fremd ist, er sich gänzlich von außen beobachtet und nicht länger selbst in seinen gegenwärtigen Erfahrungen lebt. 5 Mit der Öffentlichkeit, die er freigibt, ist der Spiegel Schauplatz lebensbefähigender Selbstfremdheit und Selbstbefremdung, nicht aber pathologischer Selbstentfremdung. Erschrickt ein Philosoph im Spiegel vor sich ›selbst‹, weil er nachts im Omnibus von der anderen Seite einen herabgekommenen Schulmeister hereinkommen zu sehen meint, in Wahrheit aber sich selbst im Spiegel sieht, dann überrascht er sich selbst in einer Ausgelegtheit, die er eigentlich nur Anderen zukommen lassen möchte (sein Klassenhabitus ist zwar getroffen, nicht aber das entsprechende Selbstbewußtsein), erkennt und akzeptiert aber B. K. Amsterdam, Consciousness of Self, S. 68 ff. P. Schilder, Selbstbewußtsein und Persönlichkeitsbewußtsein, S. 54 (zitiert nach F. A. Weiss, Self-Alienation, S. 44).

4 5

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Endlichkeit und Öffentlichkeit des Spiegelblicks

daraufhin dennoch sich selbst. 6 Er bleibt der Sehende und Gesehene, agiert in nichts selbstlos, wird sich nicht schlechthin äußerlich. Mit dem Spiegel sein Spiel treiben und ihn zur bloßen Verdoppelung vertrauter eigener leibhafter Empfindungen nutzen, um solcherweise allein Sinnlichkeit zu reflektieren, nicht aber sich selbst, stellt einen künstlichen Spiegelgebrauch ohne lebenspraktische Bedeutung dar. Wer, vor dem Spiegel rauchend, die glatte und heiße Oberfläche des Holzes nicht nur dort fühlt, wo seine Finger sind, sondern auch in jenen »verklärten, nur sichtbaren Fingern, die in der Tiefe des Spiegels sind« 7 , belegt in der Tat, wie das spiegelnde Trugbild das eigene ›Fleisch‹ nach außen zu ziehen vermag. 8 Er beweist damit jedoch nur, wie ein momentan eingeschränktes Interesse auch einmal die Bedürfnisse eigener Endlichkeit und Öffentlichkeit übersehen läßt, die den Menschen sonst dazu bringen, in den Spiegel und aus ihm zu sehen. Jedes Befremden vor dem Spiegel, das einen Menschen sich zunächst nicht selbst erkennen, das ihn verlegen werden und von seinem Spiegelbildnis wegsehen läßt, verweist deutlich auf Probleme, die Sichsehende als solche mit sich selbst haben. Wie different auch die Umstände und die Entwicklungsstufen des Selbst sein mögen, jedesmal handelt es sich um eine Art von Objektivierung und Entäußerung, um ein Sichfremdsein. Der Spiegelnde findet sich als solcher in seiner lebendigen Selbsterfahrung und seinem praktischen Selbst-verständnis nicht bestätigt. Diese Fremdheit und Befremdung läßt ihm aber sein Spiegelbildnis nicht zu etwas real Äußerlichem geraten. Er hält sich im Blick vielmehr selbst aus – als (selbst-)beobachtet. Anstatt das Bild im Spiegel zu verneinen und bedeutungslos zu E. Mach, Die Analyse der Empfindungen, S. 3 Anm. 1. P. Schilder, The Image and Appearance of the Human Body (zitiert nach M. Merleau-Ponty, L’œil et l’esprit, S. 33). 8 M. Merleau-Ponty, ebd. 6 7

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Der Mensch im Spiegel des Anderen

machen, nimmt er es eher noch zum Vorbild seiner selbst. (Wo das bei Kindern beobachtet wird, sprechen Psychoanalytiker vom primär-narzißtischen Ideal-Ich – im Unterschied zum IchIdeal als einem Produkt des ödipalen Prozesses.) 9 Der Mensch ist an sich weder endlich noch öffentlich, weil er nicht an sich selbsthaft ist. Endlichkeit und Öffentlichkeit bestimmen den Menschen nur dann in seiner lebenspraktischen Gegenwart, wenn es ihm glückt, gemeinschaftlich sein Selbst zu bilden und zu bewähren – das Selbst seines Selbstbewußtseins 10, Selbstvertrauens und seiner Selbstbejahung. 11 Darum zeigt das Verhalten vor dem Spiegel auch Züge sich entwickelnder Öffentlichkeit. Erlernen Kinder vor dem Spiegel besondere Funktionen der Körperbeherrschung, benutzen sie ihn für autoerotische und spielerische Entdeckungen des eigenen Körpers, dann sind sie, wie es scheint, ganz bei sich selbst, in Wahrheit aber doch auf dem Weg, sich sich selbst und Anderen zu entdekken und zu eröffnen – als eigenen Leibes, eigener Sinnlichkeit, eigenen Geschlechts, eigener selbsthafter Lebendigkeit. 12 Am Beginn dieses Weges und zur Grundlegung der Öffentlichkeitsfähigkeit vollzieht sich das – glückende – Leib an Leib (Mund an Brust), Gesicht in Gesicht. Was sich auch immer dem entdecken mag, der im Spiegel auf seine leibhafte Erscheinung und bestimmte Körperteile sieht, nicht erst der Volkstribun, wie er J. Lacan, Le stade du miroir, S. 93–100. Vgl. ders., Propos sur la causalité psychique, ebd., S. 34. Siehe auch M. Merleau-Ponty, The Primacy of Perception (zitiert nach B. K. Amsterdam, Consciousness of Self, S. 74). 10 Damit sind hier nicht Stolz, eigene Wichtigkeit und entsprechende Arroganz eines Einzelnen angesprochen, sondern die praktische Bejahung des endlichen und öffentlichen Einander. 11 Nicht als Akt eines Einzelnen, sondern als Gemeinschaftsleistung, z. B. von Kind, Mutter und Vater, zu verstehen. 12 Der unmittelbare Auge-zu-Auge-Kontakt wird ab der achten Woche beobachtet. Siehe D. N. Sterne, The Interpersonal World of the Infant, S. 37. Bedeutsam ist auch die experimentell gesicherte Feststellung, daß das Sehen des Kindes als Antwort auf die Frage, was es lieber sieht: Gesichter oder sonstiges, eindeutig das menschliche Gesicht vorzieht. Siehe ebd. S. 40. 9

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Endlichkeit und Öffentlichkeit des Spiegelblicks

vor dem Spiegel die Beherrschung demagogischer Mimik und Gestik übt, gibt zu bedenken, daß der eigene Leib als selbstgesehener bereits ein veröffentlichter ist. Selbsthaft, wie er ist, verfügt der Mensch über keine hermetische Selbstheit, die ihn den eigenen Leib ganz für sich behalten ließe. Der Jüngling hätte vor dem Spiegel nicht »Reiz«, »Lieblichkeit« und das »freie Spiel der Geberden« gefährden können, wären nicht, »von der Gunst der Frauen herbeigerufen, die ersten Spuren von Eitelkeit« an ihm zu erblicken gewesen. 13 Sich spiegeln – das ist Kommunikation mit sich selbst und Anderen. Zur Routine geworden und unaufdringlich ist sie, wenn Menschen in den Spiegel sehen, um sich – konventioneller Schönheit zuliebe – zu ›putzen‹. Fragt sich aber Eine, gleich der Königin im Märchen, ob sie die Schönste sei, dann zeigt sie sich der Öffentlichkeit und fordert sie mit ihrem Spiegelblick zugleich eigens heraus. Im Spiegel bleibt ihr daraufhin gegebenenfalls selber für sich selbst nurmehr zu entdecken, daß sie zwar ›hier‹ (von sich), nicht aber auch ›dort‹ (von Anderen) für die Schönste angesehen wird und anzusehen ist. Mit ihrem Blick in den Spiegel und aus ihm heraus auf sich selbst kommt sie am sehenden und gesehenen Gesicht der schöneren Anderen in keinem Falle vorbei. Jede Venus im Spiegel, den Cupido ihr vorhält, sieht halb bewußt den Paris mit. Der Narziß der Fabel 14 zeigt, wie selbstzerstörerisch und tödlich es ist, im eigenen Spiegelbild allein sich selbst zu sehen. Wer schlechthin spröde ist, wer selbst Echo, die »klangreiche« und vor Liebe »heiß erglühte« Nymphe verschmäht, ist unfähig, im Spiegel sich selbst öffentlich zu werden. Notwendig setzt Trug ein: der Wahn, in sich selbst den einzig zu begehrenden Anderen zu sehen. Der wahre Blick in den lauteren Quell gelingt nicht richtig und kommt zu spät. Als Narziß endlich im Spiegel sich ›selbst‹ erkennt, sehen ihn noch immer keine Anderen an, er13 14

H. von Kleist, Über das Marionettentheater, S. 379. Ovid, Metamorphosen, 3, 346 ff.

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reicht ihn weiterhin keine Öffentlichkeit. Das jede Selbst- und Fremddistanz aufhebende Begehren, sich im spiegelnden Wasser selbst zu küssen, wird abgelöst von dem Wunsch, sich vom eigenen Leib zu trennen. Physische Selbstvernichtung setzt ein. Der sich ›narzißtisch‹ Spiegelnde ist somit Gegenbild des Voyeurs, der im Schauen ›Anderer‹ praktisch bei sich selbst bleibt. Narziß demonstriert die Implosion des Spiegels, während der Voyeur allein die lebenspraktischen Möglichkeiten des Spiegels vergibt, indem er Widerspiegelndes mit Durchsichtigem vertauscht. Er ist nur zu schwach für die Öffentlichkeit – ein verarmter und isolierter Augeninhaber. 15 Narziß dagegen ist die leibhaftige Negation des lebensbefähigenden Spiegels: er ist von Grund auf um seine Endlichkeit und Öffentlichkeit gebracht. Wie der Exhibitionist im Sichzeigen ist Narziß im Sichsehen allein sich ›selbst‹ gegenwärtig. Er hat keinen Anderen, der ihm Halt und Einhalt garantierte und überhaupt zum Leben und Handeln motivierte. Er ist so ein Beispiel dafür, wie kein Spiegel, der an sich ohne Leben und Sehkraft ist, dazu taugt, einen Menschen sich selbst zu sehen zu geben, wenn er als Spiegel so bleibt, wie er an sich ist.

2. Menschliche Selbstinszenierung Der Mensch inszeniert sich selbst – der heimische und fremde, der schöne und häßliche, der männliche und weibliche. Jede eigenheitliche Äußerung von Menschen, jede ihrer lebenspraktischen Identifizierungen ist ein szenisches Spiel, in dem sie sich Eine bedeutsame zeitgenössische Variante des Voyeurismus, nämlich der geteilte in der gemeinsamen sexuellen Passivität, wird von dem US-amerikanischen Maler Eric Fischl sichtbar gemacht (Bad Boy, 1981; Birthday Boy, 1983). Ihm gelingt es zudem, den Bildbetrachter in das szenische Wechselspiel der Voyeure einzubeziehen. Die unaufhebbare Selbstverlorenheit des Voyeurs wird dabei besonders anschaulich. Siehe u. a. D. B. Kuspit, Voyeurism. 15

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Menschliche Selbstinszenierung

als sie selbst vor Anderen und vor sich aufführen. Die Inszenierbarkeit ist nur dort nicht gegeben, wo Leben in Symbiose mit Anderen oder mit Hilfe Anderer ›geführt‹ wird. Sind Menschen aufgrund von Lebensalter oder pathologischem Zustand selbstunfähig und auf die tragende Selbsthaftigkeit Anderer angewiesen, dann findet von ihnen aus keine Inszenierung statt – noch nicht, nicht mehr, noch nicht wieder. Extreme Situationen von Passivität oder Affektivität schließen Selbstinszenierungen ebenfalls aus. Wird z. B. Folter nicht masochistisch erfahren, sondern – in totaler Übermächtigung durch den Anderen – als ›Sprengung des Ich‹ erlitten, dann hat der Leidende für sich und Andere nichts aufzuführen. Auch wer im Affekt völlig außer sich gerät und ohne jegliche Selbstkontrolle ist, spielt seinen ›Wahnsinn‹ nicht. Da sich andererseits Pflege- und Hilfsbedürftige, Leidende und ›Rasende‹ oftmals ausgezeichnet selbst zu inszenieren verstehen, bedarf es eines genauen formalen Kriteriums für die Bestimmung der Unfähigkeit zur Selbstinszenierung. Dies ist in der Unfreiheit des Ich und Selbst zu sehen, irgendein Verhältnis zu sich selbst aufzunehmen bzw. sich irgendwie selbst zu unterscheiden. Die völlige Unmöglichkeit der Selbstinszenierung besteht, allgemein beurteilt, in der reinen und unverfügbaren Unmittelbarkeit der Existenz. Gemeinschaftliche und gesellschaftliche ›Rollen‹, selbst wenn sie als Klischeeübernahmen erscheinen, sind unausweichlich Inszenierungen und selbsthafte Aufführungen: Mutter und Kind, Schüler und Lehrer, Politiker und Privatier, Liebhaber und Umworbener, Intellektueller und Narr. Aber nicht nur sie, jedes ›Sein‹, das einem Menschen in der Begegnung mit Anderen die prägende Gestalt verleiht, bedeutet ein Spiel seiner selbst. So sind auch der Naive und Schüchterne, der Melancholiker und Hypochonder Spieler ihrer selbst: was sie sind und wie sie lebenspraktisch Anderen begegnen, führen sie auf. Der ›Wahre‹, der sich stets sogleich ohne Rück- und Vorbehalt selbst öffnet und ganz zu erkennen gibt, mag sich noch so unmittelbar gerieren, es bleibt auch ihm ein Stück Distanz zu sich selbst, das ihm 21 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Der Mensch im Spiegel des Anderen

die praktische Gewißheit verleiht, im Leben wie auf einer Bühne zu sein. Sogar noch ein Parzival in seiner reinen Torheit und ein Othello in seiner blinden Eifersucht entdecken Züge der Selbstinszenierung. Parzival spielt die heldgewordene ›Tumpheit‹ in Diensten des Grals und der Minne. Er erscheint als reines Werkzeug übermenschlicher Erlösung. Genau besehen ist er jedoch ein Mensch, der sich vor Anderen selbst zu inszenieren versteht und zu sich selbst Distanz hat: Parzival reit niht eine: dâ was mit im gemeine er selbe und ouch sîn hôher muot. 16

Hat er auch seine – vorgesehene – Bestimmung, so wird er doch nicht gespielt; er spielt sich selbst. Er ist es, der im Kampf über seine edle Gesinnung verfügt, der aus der Minne sich selber Kraft verschafft. Wie er zwar rein, aber nicht ununterschieden Einer ist, so auch sein Herz: in ihm liegt Übermut bei Mäßigung (vrevel bî der kiusche). 17 Selbst Richard Wagner, der Parzival in seinem Leben zwischen Magie und Ohnmacht von anderswoher inszeniert sein läßt, gibt ihn als einen Menschen zu verstehen, der im vollen Zeitgang seines Handelns zur Darstellung bringt, wie er als ›reiner Tor‹ eigentlich ein Wissender ist, der in all seinem törichten Verhalten (gegenüber Natur, Edelleuten und anderem Geschlecht) Selbstsein manifestiert. Er ist ihm niemals ungeschieden Tor. Seine ›Tumpheit‹ läßt er darauf angelegt sein, von sich selbst zu wissen. Othello wieder erliegt nicht seiner Obsession, um in reiner Unmittelbarkeit zu ›agieren‹. Er inszeniert vielmehr den zutiefst Gekränkten, den, der überhaupt nicht mehr erreichbar ist – von keinerlei Argumentieren und Flehen. Von einem Augenblick Wolfram von Eschenbach, Parzival, S. 124 f., XV 737, 12–15. In Prosaübertragung von W. Stapel, S. 373: »Parzival ritt immerhin nicht allein: da waren beisammen er selbst und sein hoher Mut.« 17 Ebd., S. 122, XV 734, 25. 16

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auf den anderen akzeptiert er, durch Realität belehrt, falsch gespielt zu haben. Haß und Rachsucht der vollendeten Eifersucht werden von ihm eben nur voll ausgespielt. 18 Die »äußerste Verwirrung« 19 , in die er gerät, sobald Eifersucht bei ihm erst einmal erweckt ist, hindert ihn nicht, sich als ein »ehrenhafter Mörder« zu verstehen. 20 Ehrenhaftes Handeln jedoch, das der Wiederherstellung der Ehre dient, zumal der Ehre des Mannes, Kriegers und Herrschers, ist allemal inszeniert. Die Verletzung der Ehre bedeutet den Bruch eines Vertrages. Mit der Ehre gilt es ein Recht wiederherzustellen. Die Institution des Rechts aber ist mit die altehrwürdigste Institution menschlichen Spiels. Mord und Selbstmord der Ehre wegen, ob als Masochismus zu deuten oder nicht, ist bei allem Ernst ein Spiel. Die Getriebenheit dieses Eifersüchtigen hebt nicht seine Selbstdistanz auf. »Zu sehr« geliebt zu haben, nur »nicht weise« 21 , deutet auf keine reine und unverfügbare Unmittelbarkeit der Existenz. Wer nicht zu spielen versteht, ist nicht er selbst. Sein und Spiel gehen zusammen. Die Schöne führt sich als solche vor konkurrierend Schönen und weniger Schönen auf, vor Faszinierten im Nahbereich und in der Öffentlichkeit. Die Mutter ist und spielt Mutter vor ihren Kindern, vor dem Vater ihrer Kinder, vor der weiteren Familie und Bekanntschaft, gegebenenfalls auch in einem gesellschaftlichen und politischen Schaustück – etwa bei der Verleihung des ›Mutterkreuzes‹. Wie sie es tut – persönlich-individuell oder ganz als Kind ihrer Zeit und Kultur, mag kritisierbar sein, nicht aber daß sie es tut. Sie wäre Arrigo Boito, der Othello für Giuseppe Verdi umdichtet, gibt das gut im letzten Wortwechsel seines Othello mit Desdemona zu verstehen – vom »Tu invano ti difendi« und »Giù cadi! giù cadi! prostituta!« über »Muori« und ein dreimaliges »No« bis zu »È tardi!« und »Calma come la tomba«. 19 W. Shakespeare, Othello, V, 2 v. 345. 20 Shakespeare läßt ihn auf die Frage »What shall be said to thee?« antworten: »Why, any thing: / An honourable murderer, if you will; / For nought did I in hate, but all in honour.« Ebd., V, 2 v. 292–295. 21 V, 2 v. 343. 18

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sonst gar nicht Mutter. Denn wie man sie auch ansieht, die Mutter entdeckt sich jeweils als etwas Inszeniertes, als je eigene Handlungsgestalt mit der eigenen Gunst und Ungunst der Stunde. Selbstinszenierungen wie die der Schönen, der Mutter und des Intellektuellen bedeuten genau nicht, daß ein Mensch sich in seinem eigenheitlichen Selbstsein, das er aufführt, für bloßes Spiel nähme. Die Aufführung auf der ›Bühne des Lebens‹ ist nichts weniger als das Leben selbst. Eine Frau ist nur Mutter, insofern sie es versteht, sich als Mutter (ohne jede Färbung eines ›als ob‹) zu inszenieren – Mutter als lebenspraktische Gestalt und nicht als biologische Kategorie genommen. Entsprechendes gilt für jedes andere eigenheitliche Sein. Das ›bloße‹ Spiel, die Aufführung auf der Bühne der Kunst, ist eigener Art. Da spielt eine Frau den jugendlichen Liebhaber (Don Gil), und ist doch kein Mann und Liebhaber. Ein Eifersüchtiger spielt, sich zu erstechen (Othello), tut es aber nicht, ist auch gar nicht selbsthafter Inhaber der gespielten Eifersucht. Platon stellt eine Rangordnung auf: der Dichter sei der Erste, der Schauspieler der Mittlere (ὁ μέσος), der Zuschauer der Letzte. 22 Der Schauspieler kann ein Gedicht »übel zurichten« 23 – er spielt gar nicht sich selbst, vielmehr einen anderen, noch dazu nach dem Willen des ›Ersten‹. Auch ist er das, was er spielt, weniger für sich selbst als für die ›Letzten‹ – von ›völligen‹ Identifizierungen abgesehen, die die Gefahr heraufbeschwören, daß der Schauspieler sich als solcher vergißt und zum Gespielten wird. Das aber ist pathologisches Spiel: die Nachahmung praktisch für das Vorbild zu nehmen und auszugeben. Freilich spielt ein Schauspieler nicht stets sein Spiel zur bloßen Schau, um in jedem Augenblick sein Spiel als bloß zum Schauen gespieltes sichtbar zu machen. Zur Schauspielkunst gehört es auch, das Schau-Spiel als solches verdecken zu können. 22 23

Platon, Ion 536a. Vgl. ders., Nomoi II 668c; Politeia III 395a-b. Platon, Charmides 162d.

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Menschliche Selbstinszenierung

Der Schauspieler sorgt beim Zuschauen für Illusion. Es geht ihm dann z. B. darum, keine Leidenschaft zu beschreiben, sondern vor den Augen des Zuschauers entstehen, und ohne Sprung, in einer so illusorischen Stetigkeit wachsen zu lassen, daß dieser sympathisieren muß, er mag wollen oder nicht. 24

Diese Art, auf besondere Affekte und Wirkungen bedacht zu sein – nach der klassischen Deutung des Tragikers und des Tragöden auf Furcht, Mitleid und in eins auf Reinigung von beidem 25 , nach Komödienart auf Lachen, Larmoyance und Rührung 26 , verlangt eine gewisse Unmittelbarkeit im Verhältnis von Handlungsspiel der Schauspieler und Handlungsaufnahme bei den Zuschauern. Doch diesen darf dabei keineswegs jede Gewißheit genommen werden, daß sie ›Nachahmung‹ zu sehen bekommen: Nachahmung idealer Realität oder alltäglicher Erfahrung, Realität also, die es eigentlich geben sollte oder die es ›im allgemeinen‹ bereits so gibt. 27 Es ist insbesondere das Moment der Kunst, wodurch Spiel, das gleich Realität ist, und bloß gespielte Realität bzw. bloß gespieltes Spiel klar geschieden werden. Scherz, Belehrung, Affekt – jede Mitteilung wird poetisiert und dramatisiert. Gerade das aber kann und soll dem Zuschauer nicht schlechtweg verborgen bleiben, auch wenn er vom Bühnengeschehen vereinnahmt und mitgenommen sein will. Er weiß, daß der Schauspieler auf die Minute bereit ist, so oder so zu agieren. Die Bühne als feste Institution hat ihre festen Zeiten; sie gibt dasselbe wiederholt G. E. Lessing, Hamburgische Dramaturgie, VII, 8. Aristoteles, Poetik, 6 1449b 21 ff. 26 G. E. Lessing, Abhandlungen von dem weinerlichen oder rührenden Lustspiele, IV, 114 ff. Des weiteren wären Aufgabe und Wirkung von Harlekin, Clown und Narr zu unterscheiden, auch Shakespeares Aufzählung, wofür Schauspieler im besonderen gut sind, zu berücksichtigen: tragedy, comedy, history, pastoral, pastoral-comical, historical-pastoral, tragical-historical, tragical-comical-historical-pastoral (Hamlet II, 2 v. 423 ff.). 27 Sophokles wird von Lessing als moralischer Idealist, Euripides als moralischer Realist zitiert (Hamburgische Dramaturgie, VII, 393). 24 25

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zum besten. Die Kunst des Schauspiels liegt als solche auch vor Augen, wenn sich bei Schauspielern die körperliche Bewegung als eine kunstvoll einstudierte zeigt. Wie die Pantomime alles nachahmt – durch Mimik, Gestik 28 und eben durch körperliche Bewegung, so gibt sich die Schauspielkunst auch als Kunst der ›körperlichen Beredsamkeit‹. 29 Nur das Auge, das auf die Schauspielkunst als Kunst gerichtet ist, bleibt sich sicher, den Spielenden als jemanden zu sehen, der nicht sich selbst spielt, und der zu ihm als dem Adressaten der Aufführung nicht wirklich ein unmittelbares Verhältnis eingeht. Alle Versuche, den Zuschauer in das Geschehen einzubeziehen und die Grenze der Bühne gegenüber dem Publikum aufzulösen, können nicht sinnvoll bezwecken, das kunstvoll-Gekonnte, das exemplarisch-Verallgemeinerte und das von Zeit zu Zeit Wiederholbare des Schauspiels dem mitgehenden Zuschauer zu verdecken. Die Bühnenzeit ist niemals die Weltzeit – wie ›modern‹ und aktuell das Stück auch sein mag. Die Bretter ›bedeuten‹ die Welt, sind sie aber nicht: der Boden der Bühne behält seine genauen Grenzen, sollte es auf ihr auch ›realistisch‹ zugehen – der Stoß treffen, der Liebesakt vollzogen sein. Das verliert selbst dann nicht seine Wahrheit, wenn jemand im Bühnenspiel die ›wirklichere Welt‹ erwartet und die ›Wahrheit der Kunst‹ höher schätzt als jede andere. 30 Im Alltag sind die Übergänge freilich fließend. Aus dem ›bloßen Spiel‹, wie es eigentlich gemeint war, kann unversehens ›bitterer Ernst‹ werden. Flirt und Liebe, Schabernack und VerMimik hier nicht als ›habitueller Ausdruck der leiblichen Erscheinung‹ im Unterschied zu Gestik als ›aktuellem leiblichen Ausdruck‹ (Ph. Lersch, Einführung in die Charakterkunde, S. 90), sondern beides als Körpersprache des Augenblicks. 29 G. E. Lessing, Der Schauspieler, XI, 19 ff. Ders., Abhandlung von den Pantomimen der Alten, ebd., S. 11 ff. 30 So ergeht es dem Ich der Recherche, wenn es ›die Berma‹ als Phädra in Racines Phädra zu sehen erwartet. M. Proust, À la recherche du temps perdu, I, 440–562. 28

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letzung, selbstlos vertretene und selbsthaft übernommene Position können nahe beieinanderliegen. Das hat seinen Grund mit darin, daß kein freies Verhalten jemals voll über sich selbst verfügt, sondern jeweils der Andere ›mit‹-spielt. Wer bloßes Spiel zu treiben sucht, kann durch den ›Ernst‹ des Anderen, in dem sich seine sichselbstdistanzierende Aufführung spiegelt, in diesen Ernst hineingezogen werden. Jedes Spiel hat sich, sobald es beginnt, auch schon zu einem guten Teil der Selbstkontrolle begeben. Der Andere spielt mit. Wie aus jedem Spiegel der Andere mit heraussieht und er bei jedem Spiegelblick in den Spiegel mit hineingesehen wird, so spielt auch bei jeder Selbstinszenierung schon der Andere mit, auch bei der, die als bloß spielerische gemeint ist. Allein die Institution der Kunst-Bühne ist eine ziemlich sichere Gewähr dafür, daß es bei der lebenspraktischen Trennung zwischen Schauspieler und Zuschauer bleibt. Ihre ganz eigene Möglichkeit, den Menschen in seinem Spiel zu reflektieren, verdankt die Bühne dem besonderen Verhältnis von Dichter, Dichtung, Schauspieler und Zuschauer. Allerdings wäre es gar nicht möglich, ein Schauspiel zu schreiben, zu spielen und zu sehen, niemand könnte die Handlungen und das Leben 31 Anderer hier und jetzt in Szene setzen, wäre menschliches Leben und Handeln in seiner eigensten Art nicht Spiel. Nur weil in der Welt gespielt wird, kann auch auf der Bühne gespielt werden – ein Spiel eigener Art. Jede Bühneninszenierung setzt freilich voraus, daß das in ihr zur Darstellung Kommende von den Zuschauern wenn nicht mitgespielt, so doch mitgedacht wird. Das Schauspiel verlangt das gleiche Niveau. P. Wie würden Sie es machen, wenn Sie mit Verfremdungen arbeiten wollten?

Aristoteles, Poetik, 6 1450a 16 f.: »Denn die Tragödie ist nicht Nachahmung von Menschen, sondern von Handlung, Leben, Glück hund Unglücki.«

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B. Ich müßte die Schauspieler völlig umschulen und würde bei ihnen und beim Publikum einen ziemlich hohen Bewußtseinsstand benötigen, Verständnis für Dialektik und so weiter. 32

Inszenierungen eigenheitlichen Seins gelingen gut oder schlecht. Kriterium für die Bewertung ist das lebenspraktische Einander, die Lebensteilung. So kann im einzelnen eine Inszenierung als praktisch verlogen und unwahrhaftig bewertet werden oder im Gegenteil als die eines wahren Selbst. Es gibt spielerisches Sein, das selbstbewußt auftritt und einen starken Selbsteinsatz manifestiert, anderes dagegen, das sich minimal selbsthaft zum Einsatz bringt, ›seine Sache‹ eher lasch, ja außengesteuert betreibt. Vor allem aber gibt es Selbstinszenierungen, die des Guten zuviel tun, die die eigene Eigenheit nicht nur übertreiben und überzeichnen (überdramatisieren), sondern dazu noch den Anderen überspielen, ihn nicht zu seinen Spielzügen, zu seinem Mitspiel kommen lassen. Das unterscheidet sich nicht zuletzt von Aufführungen, die kaum noch als solche wahrnehmbar sind, weil Menschen aus lebensgeschichtlichen Gründen fast nicht mehr die Kraft zu Spiel und selbsthaftem Sein finden. Haben wir es mit einer verlogenen Selbstaufführung zu tun, dann ist mit ihr keineswegs der Spielcharakter eigenheitlichen Seins und Lebens als solcher in Frage gestellt. Weil selbsthaftes Leben kein unmittelbares Verhältnis zu sich hat, sondern sich selbst szenisch vermittelt und vermittelt ist, kann es durchaus dazu kommen, daß ein Mensch hinsichtlich dieser und jener Eigenheit ein falsches und unwahres Leben führt und entsprechend in Szene setzt. Wer sich auf diese Weise unwahr aufführt, ist und lebt unwahr. Um diese Unwahrheit dingfest zu machen, haben wir nicht Wesen und Erscheinung auseinanderzudividieren und Wahrhaftigkeit als individuelle Tugend zu reklamieren, wie das bis heute philosophische Art ist. 33 Die verlogene InszeB. Brecht, »Katzgraben«-Notate, Bd. 16, S. 798. Siehe u. a. J. Habermas, Vorbereitende Bemerkungen, S. 112 f. Die nicht zu übertreffende Absurdität individueller Wahrhaftigkeit in ihrer univer-

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nierung verbirgt nicht etwa das wahre Selbst (und ›Wesen‹). Der Mensch ist das, was er spielt, und ist, wie er spielt. Spielt er verlogen, dann ist er verlogen. Das ist an den lebenspraktischen Folgen im Einander leicht nachzuprüfen: die verlogene Mutter erweist sich als solche am Kind (die Mutter z. B., die gegen die Wahrheit ihrer Ängste und Schuldgefühle handelt, am Kind, das in Konsequenz durch ›maternal overprotection‹ geschädigt ist), der verlogene Mann an der Frau, der verlogene Heimische am Fremden. Das Spiel ist eben wirklich ernst. Es gibt keine Selbstdarstellung, bei der die Unterscheidung von Wesen und Erscheinung, Innen und Außen usw. praktisch trägt. Das sind theoretische Sichten auf das isolierte Subjekt, die Lebensteilung zu ihrem eigenen Schaden ausblenden, insofern sie sich allein am Menschen als Vernunftwesen und an Vernunft als einzig angemessener menschlicher Verkehrsform orientieren. Kriterium für die Verlogenheit einer Inszenierung ist stets die ›Wahrheit‹ des Einander und kein ›wahres‹ Selbst, wenn man es sich gleich dem Kern eines singulären isolierten Geschöpfes vorstellt. Jedes Kern-Selbst (core self) verdankt sich glückendem eigenheitlichen Einander. Sich zu inszenieren heißt Eigenheiten zu inszenieren, nicht aber einen an sich bestehenden Kern, um den herum sich Eigenheiten gruppierten, der aber ›für sich‹ eigenheitslos wäre. Eine verlogene Mutter, eine Frau also, die sich verlogen als Mutter aufführt, verleugnet darum in eins ihr Kind (sie ist und spielt nicht die Mutter, die das Kind als Kind braucht, wie zudringlich sie es auch ›bemuttert‹) und sich selbst, – sich selbst nicht als abstrakte Person, sondern als Eigenheit: als Mutter. Wer so spielt, dem ist seine Wahrheit unverfügbar geworden: er ist, wie gesagt, verlogen. Spielt dagegen eine Mutter ›bloß‹ die falsche Mutter, ohne sich selbst zu spielen, spielt sie etwa Aschenputtels Stiefmutter, dann kann das Kind gerade an diesem Spiel sein Glück mit der wahren Mutter erkennen. salistisch begründeten Forderung führt Kant in seiner Schrift Über ein vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen vor.

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Wird angesichts der verlogenen Inszenierung die Wahrheit des Einander für unverfügbar erklärt, dann scheint darum die wahrhafte Inszenierung noch lange keine freie zu sein. Die Erwartungshaltungen der Anderen, gesellschaftliche Normen, Rollenzwänge – all das scheint darauf hinzuwirken, einen Sichinszenierenden um seine Freiheit zu bringen. Doch das täuscht. Die vielfältig herrschende öffentliche Unfreiheit reicht für gewöhnlich nicht zu, eigenheitlichem Menschsein die Freiheit zu nehmen, sich selber auszuspielen und aufzuführen. Selbst noch im symbiotischen Verhältnis von Mutter und Kind läßt sich diese Freiheit nachweisen. Schreit das Kind, dann weiß die Mutter, die sich als solche inszeniert, das Schreien zu deuten und selber darauf zu antworten. Auch wenn eine Zeit auf die Richtigkeit von ›command feeding‹ setzt und entsprechenden Druck ausübt, nimmt dieser Zeitzwang einer Frau nicht schon die Möglichkeit, sich in der – zeitgemäßen – Zuwendung zum Kind als Mutter selbsthaft einzubringen und das heißt frei zu inszenieren. Freiheit ist dann keine individualistisch zu deutende Potenz von Wahl und Entscheidung, sondern findet ihren Grund im Einander: im Fragen und Antworten, Geben und Nehmen, kurz: im einander Zugewandtsein und Brauchen. Inszenierungen leben als solche von der Öffentlichkeit. Sichinszenierende brauchen die ›Bühne des Lebens‹ – die Möglichkeit, sich im Aufführen von Eigenheiten einander zu begegnen. Wer auf dieser Bühne einmal ganz allein agiert, ist wohl für den Augenblick ›rein‹ für sich, um aber doch nur ›soeben‹ sich von Anderen zurückgezogen zu haben und ›sogleich‹ wieder auf Andere zu treffen. Diese Bühne läßt sich als eine ›Szene‹ verstehen, auf der es zu ›Szenen‹ kommt: zu Auftritten und Blickwechseln von Menschen, die, zumindest für den Moment, in besonderen Konstellationen ihr Leben teilen. Eine einzelne Szene bedeutet lebensteilige Selbstaufführung in der klassischen Einheit von Ort und Stunde, bedeutet die Gegenwart des Einen und Anderen. Blinde Gleichzeitigkeit kommt auf dieser Bühne prinzipiell

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nicht in Betracht. 34 Immer geht es auf ihr darum, sich eigenheitlich einzubringen und sich solcherweise Anderen zu eröffnen. Die auf dieser Bühne (wie auch auf der Schaubühne) Agierenden sind nicht in abstrakter Allgemeinheit Menschen, sondern sind Schöne und Häßliche, Lustige und Traurige, Geliebte und Ungeliebte, Stillende und Gestillte, Junge und Alte, Naive und Bigotte, Romantiker und Aufklärer, Mächtige und Ohnmächtige, Fremde und Vertraute, Schaffende und Tötende, Menschen also, die sich in ihren Eigenheiten gleichen, unterscheiden und entgegengesetzt sind. Jede Gegenwart und Gleichzeitigkeit der Aufführenden hat damit eine praktische Qualität: Anerkennung und Ablehnung, Zuwendung und Abwendung, Ermunterung und Beschämung, Vergleichung und Diskriminierung – mit einem Wort: jede Art von Lebensja und Lebensnein. Auf der ›Bühne des Lebens‹ gibt es auch künstliche ›Szenen‹ und ›Begegnungen‹, die überhaupt nicht von der Art der Kunst sind, wie sie dem Schauspiel eigen ist. Ein hervorragendes Beispiel dafür sind Analytiker und Analysand, wie sie der ›psychoanalytischen Situation‹ zugehören. Sie begegnen einander in ihrer öffentlichen Bestimmung als Arzt und Patient. Insofern teilen sie Kultur- und Gesellschaftsgeschichte. sind sie Menschen ›unserer‹ Zeit und Gegenwart. Sobald sie beide sich aber in einem Prozeß befinden, der sich aus dem Verhältnis von Übertragung und Gegenübertragung bestimmt, ist Gegenwart totaliter aliter geworden. Sie hat sich, wie man sagt, in eine

Jean-Paul Sartre deutet Gegenwart und Gleichzeitigkeit mit Blick auf das Einander, bringt aber nicht das je Eigenheitliche des Einen und Anderen ein, so daß beide als Zusammenanwesende (co-présences) und als Anwesendebei (présences-à) doch einander in der universellen Zeit erscheinen und sich je selbst als in eine universelle Gegenwart geworfen begreifen. Das aber ist durch phänomenologische Naivität verfälschter Physikalismus. Universelle Gegenwart und Gleichzeitigkeit (Eugen Fink: »Jetzt ist es überall«) sind schlicht falsche Vorstellungen, die weder für die Physik noch für die praktische Philosophie taugen. J.-P. Sartre, L’être et le néant, S. 325.

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›Szene‹ verwandelt. 35 Beide sind nicht mehr ›ganz von hier‹. Das ›Hier und Jetzt der Übertragung‹ 36 bedeutet nicht im gewohnten Sinne ein öffentliches oder privates Treffen mehrerer Personen. ›Jetzt‹ herrscht ›hier‹ die Lebensgeschichte des Patienten als Leidens- und Hoffnungsgeschichte, das heißt als die dem therapeutischen Prozeß ausgelieferte Vergangenheit und Zukunft. Der Analysand sucht in ›analytischer Gegenwart‹ sein Gegenüber mit der eigenen Vergangenheit (als erzählter, gedeuteter, leidensmanifester) heim, um sie an ihm und mit ihm so einzuholen, daß sie als gelebte Lebensgeschichte und beschrittener Lebensweg zukunftsfähig wird und sich neuen Lebensmöglichkeiten öffnet. Die Inszenierungen des Leidens und des Verhaltens zum Therapieversuch von seiten des Patienten schaffen in Begegnung mit den theorie- und therapiebestimmten Inszenierungen des Arztes eine ambivalente Öffentlichkeit. Lebensteilung hat nicht statt.

3. Die Urszene Der Begriff der Urszene ist von Sigmund Freud geprägt. 37 Er sieht dabei nicht auf das ursprüngliche Einander menschlicher Selbstinszenierung, wählt überhaupt nicht die Perspektive des Einander selbst, sondern hat die erste Erinnerung an ein nur gesehenes Einander im Sinn bzw. die ›Urphantasie‹ dieses Einander. 38 Die – gesehene – ›Urszene‹ hat keine sonderliche BedeuÜber die Umgestaltung der Beziehungsfunktion zur Szene schreibt H. Argelander, Der Flieger, S. 12 f. 36 Siehe J. Cremerius, Gibt es z w e i psychoanalytische Techniken?, S. 583. 37 S. Freud, Aus der Geschichte einer infantilen Neurose, VIII, 158. Vor dieser ersten veröffentlichten Verwendung des Wortes spricht Freud von Urszene bereits in einem Brief an W. Fließ vom 2. 5. 1897. 38 S. Freud, Psychoanalytische Bemerkungen …, VII, 169 f.; vgl. ders., Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, I, 362: Aus der Geschichte …, VIII, 209 f.; 156. 35

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Die Urszene

tung für die, die sie spielen, sondern allein für den, der sie beobachtet oder gar phylogenetisch ›weiß‹. 39 Der von der ›Urszene‹ als Szene eigentlich Betroffene ist an ihr selbst nicht beteiligt – er sieht ja nur, und wird allein dadurch von ihr lebenspraktisch vereinnahmt. Freud entwickelt damit die Idee des beteiligten Voyeurs: das Kleinkind sieht offenen Auges die Eltern kopulieren, und das, als gehöre es zur rechten Gestaltung der ›Urszene‹, in der alten Tierstellung a tergo. Dem frühkindlichen AugenBlick entdeckt sich dabei für ein weit späteres Bewußtwerden und Verstehen das doppelte Geheimnis: ›Woher kommen eigentlich die Kinder?‹, ›Was passiert eigentlich in der Hochzeitsnacht?‹. 40 Im exemplarisch Beobachteten stößt der kindliche Voyeur an die Grenze des eigenen Daseins: an seinen eigenen Ursprung im Geschlechtsakt der Eltern. Die ›Urszene‹ ist somit eigentlich ›Urphantasie‹ : sie hat nicht im Leben und auf der ihm eigenen Bühne selbst statt, sondern im Schauen und Phantasieren. Die praktische Wahrheit liegt hier nicht in der ›Urszene‹ selbst, sondern in ihrer Beobachtung bzw. Phantasie. 41 Die Wahrheit der von Freud gedeuteten ›Urszene‹ liegt nicht im Spiel der Geschlechter, sondern im ›Urbewußtsein‹ des beteiligten Voyeurs. Ur-›szene‹ – auch Freud denkt an Bühne und Theater. 42 In diesem Falle geht der Mensch ›ins Theater‹, um die Wahrheit zu sehen: die zuäußerst mögliche Aufdeckung des Sexuellen und der eigenen Herkunft. Aber die Perspektive eines Voyeurs vermittelt eben keinen Zugang zu dem, was praktisch der Fall ist: die Eltern setzen sich für sich als Mann und Frau in Szene: sie inszenieren Geschlechtsliebe, führen sich im Liebesspiel auf. Dieser Inszenierung ist als solcher kaum das more ferarum wesentlich, auch nicht das ›nach dem Essen‹, ›am hellen NachmitS. Freud, Vorlesungen …, I, 362. S. Freud, ebd., I, 267 f. 41 Aristoteles ist zu erinnern, Metaphysik, VI 4 1027b 25–28: οὐ γάρ ἐστι (…) τὸ ἀληθὲς ἐν τοῖς πράγμασιν (…), ἀλλ’ ἐν διανοίᾳ. 42 S. Freud, Vorlesungen …, I, 228. 39 40

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tag‹, ›halb entkleidet‹, ›im Zimmer‹, ›auf dem Bett‹. Das ist eher äußerliches Szenarium. Es kommt vielmehr darauf an, daß der Mann sich als Mann (gegebenenfalls als ›erfahrener Liebhaber‹, ›Frauenkenner‹, seinen Affekt Bejahender usw.) inszeniert, die Frau sich entsprechend als Frau. Aber das entzieht sich bereits der Perspektive von Freuds Beobachter und Phantasierendem. Das Kind kann als Kind allein eine Inszenierung der Eltern, wie sie ihm etwa durch besondere Zuwendungen als Ernährende und Umsorgende vertraut sind, sehen, nicht aber eine der Geschlechter. Doch die ›Eltern‹ in ihrem Für-sich der Geschlechter führen sich gar nicht als Eltern auf: ihnen fehlt dafür die Öffentlichkeit – das Kind, das sie in dieser Eigenheit zu selbsthaftem Sein und Spielen herausforderte. Vor einem Voyeur, von dem man nichts ahnt und weiß, führt sich überhaupt niemand auf. Den insgeheim beobachteten Eltern kommt es nicht in den Sinn, im ruhenden Kleinkind gegenwärtige Öffentlichkeit zu vermuten. Es ist ja nicht die Stube von einst, in der sich das Leben, Lieben und Sterben von allen für alle vollzog. Freud meint aber offenbar, daß das Kind gar nicht als Kind auf die Eltern sieht, sondern kraft eigener Geschlechtlichkeit vielmehr als unbeachteter Sexual-›partner‹. Es sieht dann die Eltern auch nicht als die Aufziehenden, sondern als die es Zeugenden, das heißt als Geschlechtswesen. Freilich ist diese Sicht des Kindes auf die Eltern erst eine im nachhinein lebensgeschichtlich vermittelte. Das Kind sieht, falls Freuds Theorie brauchbar ist, die ›Urszene‹ allein darum als Geschlechts-›partner‹, weil es sich in der Folge geschlechtlich entwickelt. Setzen wir uns mit Freuds Sicht der ›Urszene‹ auseinander, dann haben wir das beobachtende Kind nicht nur darum als beteiligten Voyeur zu deuten, weil es um seine Eltern und die eigene – geheimnisvolle – Herkunft geht, sondern mehr noch deswegen, weil es in dieser Beobachtung ein lebenspraktisch bedeutsames Nein erfährt: es ist von der praktischen Realität der ›Urszene‹ ausgeschlossen. Obwohl Vater, Mutter und Kind eigentlich eine Dreierbeziehung darstellen, ist in der ›Urszene‹ 34 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Die Urszene

das Kind genau nicht in das selbsthafte Verhalten einbezogen. Im Beobachten erfährt es seinen Ausschluß aus der praktizierten Gegenwart: es ist nicht gebraucht und kann die Eltern nicht brauchen. Die sind sich in ihrem Einander praktisch genug. Gehört es zur Bildung lebensbefähigender Endlichkeit, daß je der Eine den Anderen beendet, dann gewinnt das Kind als das Andere zu den Eltern seine Endlichkeit prinzipiell in einer Dreierbeziehung – gegebenenfalls erweitert durch Geschwister, Mutterbruder (Avunkulat) usw. Soweit jedoch die Eltern das Kind nicht brauchen und sich ihm nicht zuwenden, sondern praktisch für sich sind, findet dies in der Beobachtung dieses Für-sich keine Antwort auf seine voyeuristische ›Beteiligung‹. Sein Interesse gewinnt zwar einen ›theoretischen‹, aber keinen praktischen Halt. Es macht die Erfahrung, daß das, was eigentlich Halt gibt, bloß ›theoretisch‹, aber nicht praktisch da ist. In seiner Herausforderung durch die ambivalente Gegenwart der Eltern (›anwesende Abwesenheit‹) ist – entgegen Freud – auch eine mögliche positive Bedeutung für die Gewinnung eigener Lebensbefähigung zu sehen. Nach Kant macht der Geschlechtsakt die Menschen je selbst zu Sachen, so daß es eigens der Wiederherstellung ihrer Würde und Persönlichkeit, wie sie in der Selbstzweckhaftigkeit beschlossen liegen soll, bedarf. 43 Diese individualistische und zugleich rationalistische Deutung des Menschen gibt nichts her, was zur Auseinandersetzung mit Freuds Begriff der ›Urszene‹ beitragen könnte. Auch die Ansicht, daß der ›Höhepunkt‹ des Geschlechtsaktes keine Möglichkeit menschlicher Selbstinszenierung darstelle, sondern die reine Tierheit hervorkehre, brächte die Überlegung nicht voran. Für das Verhältnis KindEltern ist in diesem Falle allein die ›erlebte‹ Ambivalenz der Gegenwart von Bedeutung. Was das Kind anbelangt, stehen Bildung und Bewährung lebensbefähigender Endlichkeit auf dem Spiel: es erfährt ihre signifikante Verweigerung, das lebensprak43

I. Kant, Metaphysik der Sitten, VI, 278.

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tische Nein von Halt und Einhalt, dies aber doch so, daß es dabei seine Stärke erprobt, für den Moment auch damit leben zu können, nicht geliebt und gebraucht zu sein. Verhält es sich so, dann ist mit der ›anwesenden Abwesenheit‹ die Toleranzgrenze für die Praxis der Endlichkeit (und Öffentlichkeit) markiert. Wer, eingebettet in Zeiten der Zuwendung und des ›Beantwortetseins‹, für eine Zeit die Ambivalenz der Gegenwart erträgt, hat seine lebenspraktische Bewährungsprobe bestanden. Mit einer eindeutigen Abwesenheit fertigzuwerden – das ist um vieles leichter. Das Wort Urszene ist Freud nicht länger zu überlassen. Es wird gebraucht, um Leben ursprünglich als Inszenierung zu verstehen. Dafür ist ihm eine neue Bedeutung zu geben. Jede eigenheitliche Begegnung, die Menschen in gemeinschaftlicher Gegenwart lebensbefähigende Endlichkeit und Öffentlichkeit bilden und bewähren läßt, ist eine Szene. Urszene ist der Gedanke der – ontogenetisch geurteilt – ursprünglichen Szene. Freud hatte ›Urszene‹ entweder als etwas Reales verstanden, das während der Kindheit vorfällt und auf die Entwicklung des Kindes einwirkt, oder als phylogenetische Ur-Tatsache, die von Natur aus vom Menschen ›erinnert‹ wird. Im Ursprünglichen, das nichts historisch Anfängliches meint, ist jedoch etwas Idealtypisches zu sehen, das im Prinzip jedes praktische Verhältnis bestimmt, nicht aber entsprechend als tatsächlich nachzuweisen ist. Die Urszene ist die Szene, die nicht faktisch das Spiel jeder Begegnung beherrscht, die aber für den sehenden Menschen die Grundmöglichkeit ist, sich überhaupt szenisch zu entfalten. Sie stellt das praktische Urverhältnis seiner leibhaftigen Lebendigkeit dar. Ohne Leib gäbe es keine Gegenwart, bräuchte es keine. Damit gilt auch schon: ohne Leib gäbe es keine Selbstinszenierung, bräuchte es keine. Menschliche Lebensbefähigung, wie sie an glückender Endlichkeit und Öffentlichkeit hängt, hat ihren Grund in lebensteiliger Leiblichkeit. Das, was Menschen in leib36 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Die Urszene

haft-lebendiger Zuwendung zueinander und zu sich selbst gebrauchen, sind vor allem Auge, Mund, Hand und Geschlecht. In den möglichen Wechselbeziehungen dieser ›Organe‹ kommt im wesentlichen das zum Austrag, was Menschen einander und sich selbst in leibhafter Lebensteilung und Lebensgestaltung ›mitzuteilen‹ haben. Sie heben sich von anderen Organen der Mitteilung (und Wahrnehmung) dadurch ab, daß sie im Verhältnis des Einen und Anderen ihr je eigenes passendes und stimmendes Ineinander finden. Diese Zusammengehörigkeit von der Art der σύμβολα ist es auch, die dem Mythos von der ursprünglichen Einheit des Menschen, wie ihn Platon im Symposion erinnert, zur Entstehung verholfen hat. Die Geschichte der Liebespaare, die er unausgesprochenerweise idealtypisch vorzeichnet, verläuft ja einfach als die der Abfolge von Augein-Auge, Hand-in-Hand, Mund-an-Mund, Geschlecht-in-Geschlecht. Von ausgezeichneter lebenspraktischer Bedeutung ist das Verhältnis von Auge-in-Auge: der Wechselblick des Einen und Anderen. Der unverwandte Augen-Blick ineinander nämlich gibt Menschen ihre reine selbstoffene Gegenwart. Genau in diesem Blick- und Selbstverhältnis des Menschen ist das ursprünglich inszenierte Einander zu sehen: die Urszene. Psychologen unterscheiden beim sehkräftigen vollgeöffneten Auge den schauenden und den offenen Blick. 44 Der schauende sei charakteristisch für das Kleinkind, das sonder Wille und Intellekt unkritisch bereit ist, sinnlich Eindrücke einfach hinzunehmen. Auch der offene Blick sei Sache des Kindes, dies aber nicht mehr in seiner reinen Weltbezogenheit, sondern in seiner sozialen Beziehung. Aus ihm spreche Vertrauen – Vertrauen aus Naivität, Unbefangenheit, Unerfahrenheit. Im Unterschied zur Wahrnehmungsfunktion des schauenden Blicks habe er Beziehungsfunktion. 45 Mit diesen Versuchen, faktisches Sehverhalten zu analysieren und zu deuten, kann und will die Entwick44 45

Ph. Lersch, Einführung in die Psychodiagnostik, S. 34. Ph. Lersch, ebd., S. 37.

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lung der Idee eines reinen Auge-in-Auge nicht konkurrieren. Der unverwandte Blick von Augen ineinander ist zwar, wie er dargestellt wird, an Erfahrungen menschlicher Lebenspraxis orientiert (z. B. an dem unmittelbaren Auge-zu-Auge-Kontakt ab dem zweiten Lebensmonat), ist damit aber nichts, was empirisch nachweisbar wäre. Der Augen-Blick als Gesicht-zu-Gesicht und Auge-in-Auge, wie er die Urszene des Menschen ist, hat den Charakter des offenen Blicks. Im unverwandten Augen-Blick erblicken Menschen einander, ohne daß sich Gesichter und Mienen zeigen. Selbst die Augen haben kein besonderes Aussehen – an Farbe und Form, keine Richtung, keinen Ausdruck, überhaupt nichts, was eigens zu deuten wäre – etwa als Blick ›nach oben‹ oder ›von unten‹. 46 Sie sind rein und unverwandt ineinander gewendet – ohne Diener eines geistigen und psychischen Selbst, ohne Äußeres zu einem Inneren, Instrumente zu einem höheren und tieferen Zweck zu sein. Der unverwandte Augen-Blick vollendet sich im Wechselspiel der offenen Blicks einander begegnenden Augen. Was an diesem Blick die Offenheit bestimmt, ist das sich öffnende und zugleich eröffnende Selbst. Der offene Blick des unverwandten Einander ist selbsthaft. Die Urszene ist keine – transzendentalphilosophisch gemeinte – Bedingung der Möglichkeit glückenden Lebens, sondern, idealtypisch gefaßt, Vollzug und Zeugnis der Selbsthaftigkeit und Selbstbewußtheit geteilten Lebens. Sie zeigt sich dabei genauer als ein einander Begegnen, Spiegeln und Zuneigen. In der Begegnung mit den Augen des Anderen finden die eigenen zu sich selbst: sie verlieren sich nicht, sondern gewinnen Halt und erfahren zugleich Einhalt. Die Augen des Einen, wie sie so in denen des Anderen ihr Gegenüber finden, stoßen nicht auf einen artfremden Widerstand (›Gegenstand‹). Ihr Blick verdankt es vielmehr dem Gegenblick, nicht unendlich und Ph. Lersch, ebd., S. 39 f. Vgl. ders., Die Mimik der Augen, in: ders., Gesicht und Seele, S. 40 ff.

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Die Urszene

selbstverloren zu sein, sondern Gegenwart zu bilden und zu teilen. Im einander Begegnen der Blicke, wie es zu denken ist, hat das reine Wechselspiel der Augenpaare statt. Die geteilte Gegenwart in der Begegnung der Blicke ist ein Indiz geglückter und sich bewährender Endlichkeit. Die Art, sich in den Blicken einander zu beenden und Gegenwart zu verleihen, ist als Spiegeln zu deuten. Das Selbst ist es, was das ›Glas‹ der Augen undurchsichtig aber widerspiegelnd macht. Die Urszene, idealtypisch beurteilt, bedeutet die ursprüngliche Spiegelung des Menschen, in der er sich einander selbsthaft eröffnet und beendet. Fänden sich menschliche Augenpaare nicht zum reinen Ineinander, wüßte der Mensch sich faktisch in keinerlei weltlichem Stoff mit lebenspraktischem Gewinn zu spiegeln. Wie es aber das je eigene Selbst des Blicks ist, das sich im je Eigenen der selbsthaft anderen Augen spiegelt, so hat das reine einander Spiegeln den Charakter menschlichen Selbstseins. Der je eigene Spiegel ›glänzt‹ in reiner Selbstoffenheit. Die Augen, die im unverwandten Augen-Blick einander begegnen, sind ebenso selbstoffen wie spiegelnd. Im reinen – urszenischen – Erblicken des Einen und Anderen korrespondiert jedem Spiegelnlassen ein Sichspiegeln; es kommt zu keiner einseitigen veristischen Selbstspiegelung. Für die Urszene gilt voll das Prinzip der Gegenseitigkeit: ›so offen und selbsthaft sind wir!‹, ›ich sehe mich als Selbst, weil wir uns selbsthaft sehen‹. Das Selbstsein im Sichspiegeln ist Indiz glückender und sich bewährender Öffentlichkeit. Der unverwandte Augen-Blick ist somit seiner Idee nach sinnliches einander Mitteilen als Selbst. Dazu aber gehört, daß im sinnlich-selbsthaften einander Begegnen und Spiegeln eine eigene Bejahung dieses Verhältnisses liegt, eine Tendenz, es zuwegezubringen. Zur Kennzeichnung dieser praktischen Gestalt des Einander der Urszene eignet sich der Begriff der Zuneigung. Mit dem Zugeneigtsein im einander Begegnen und Erblicken ist kein besonderer Ausdruck gemeint, keine Pose der Augen, nichts von dem, was eine Öffnung der Augen und einen Wahr39 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Der Mensch im Spiegel des Anderen

nehmungsvorgang des Gesichts begleiten kann, sondern allein die bejahte Innigkeit selbsthaft-sinnlicher Lebensteilung. Der unverwandte Augen-Blick des urszenischen Einander ist der Augenblick der Zuneigung. Wie jede von Menschen geteilte Sinnlichkeit, ist auch die des reinen einander Spiegelns bejahend, und sie allem zuvor. Lebensbejahung, wie sie Lebensbefähigung gründet und leitet, geht nicht im Kopfe vor sich, ist kein Bewußtseinsakt, ist aber auch kein Willensakt, sondern ein Moment sinnlich-selbsthafter Lebensteilung. Sich selbsthaft zu spiegeln heißt auch schon, sich entsprechend zu bejahen. Lebensbejahung und Selbstbejahung vollziehen sich in gelingender gemeinsamer Lebenspraxis wie von selbst. Die Urszene ist – idealtypisch – der Urakt dieser Bejahung. Sinnliches Selbstsein bedeutet gemeinsames Leben, geteilte Sinnlichkeit und dabei gegenseitig geteilte Zuneigung. Gegenwart, wie sie nicht äußerlich vom Raume aus vorzustellen, sondern aus der menschlichen Begegnung selbst zu deuten ist, hat den Grundzug der Zuneigung. In der Bestimmung reinen einander Zuneigens und Zugeneigtseins der selbsthaft offenen Augen vollendet sich der idealtypische Entwurf des unverwandten Augen-Blicks. Doch dabei kann es nicht bleiben. Menschen, wie sie sich urszenisch verhalten, sind nichts abstrakt-Allgemeines, sondern eben selbsthaft-Eigenheitliches. Der Mensch der Urszene und des unverwandten Augen-Blicks ist nie schlechtweg Mensch, sondern ist Mann oder Frau, Gesunder oder Kranker, Heimischer oder Fremder. Er ist zugleich geschichtlich – voller Zukunft und Vergangenheit. Darum hat er sich in seinem ursprünglich beendenden und haltgebenden Verhalten auch je etwas mitzuteilen.

4. ›Regard-regardé‹ und ›regard-regardant‹ Das Blickverhältnis als Verhältnis des Einen und Anderen, in dem sie einander nicht beobachten und vergegenständlichen, 40 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

›Regard-regardé‹ und ›regard-regardant‹

muß nicht das des unverwandten Augen-Blicks sein. Jean-Paul Sartre hat unter der Leitidee des Blicks die Idee eines »primären Verhältnisses« entwickelt, das zwischen dem bewußten Ich und dem Anderen besteht. In ihm ist der Andere der Blickende, der insofern nicht als Objekt (was den Zusammenbruch seines Blickseins bedeutete) 47 , sondern »direkt als Subjekt« 48 gegeben ist. Sartre versteht dies primäre Verhältnis als »Grundbeziehung« (rapport fondamental) »meines Für-Andere-Seins« und sucht nach ihr als dem »Urverhältnis« (relation originelle) des Menschen. 49 Sein methodischer Ansatz ist der theoretische Widerstand, den eine Menschenidee am erkenntnistheoretischen Skeptizismus à la Descartes findet: die bloße, wenn auch gegebenenfalls höchste Wahrscheinlichkeit, daß dies ein Mensch und kein Roboter, das ein Mensch und keine Puppe ist. Er stellt sich damit das Problem von Urverhältnis und allestragender Beziehung nicht als das menschlicher Lebenspraxis, sondern als das des Bewußtseins. Der blickende Blick des Anderen ist insofern für ihn nichts, was einem begegnete, um sich praktisch darin selbst zu spiegeln. Er ist allein so zu »erfassen«, daß einer Bewußtsein davon erlangt, erblickt zu werden. 50 Wer mit eigenen Augen erfaßt, daß er selbst gesehen wird, sieht nicht in andere Augen, hat an keinem Augen-Blick des Einen und Anderen teil – schon gar nicht an einem unverwandten. Sartre erörtert in L’être et le néant ausführlich ein Verhältnis von erblicktem Blick des Ich und erblickendem Blick des Anderen, das sich genau nicht als das des Augenblicks der Begegnung, Spiegelung und Zuneigung darstellt. 51 In ihm blickt mir der Andere, der mich sieht, nicht in die Augen, schaut auch nicht auf meine äußere gegenständliche Erscheinung, sondern erblickt mich im ganzen, z. B. mich als etwas im ganzen Scham47 48 49 50 51

J.-P. Sartre, L’être et le néant, S. 327. Ebd., S. 311. Ebd., S. 311. Ebd., S. 316. Ebd., S. 310–364.

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haftes und Angstvolles. Ich nämlich fühle mich im Erblicktsein jeweils im ganzen bzw. selbst erblickt. Wo ich mich auch aufhalte des Tags und des Nachts – im Walde oder auf Straßen, vor dem Feind oder im eigenen Haus, stets bin ich mir der Wahrscheinlichkeit bewußt, daß der Andere seinen Blick auf mich gerichtet hat. Auf diese Weise lebe ich ständig in der Furcht des existentiell Ertapptwerdens – als Voyeur am Schlüsselloch oder gar selbst nackten Leibes. Mich anzukleiden erfahre ich so als die Möglichkeit, das Recht für mich in Anspruch zu nehmen, zu sehen ohne gesehen zu werden und damit »reines Subjekt« zu sein. 52 Ich, der erblickte Blick, bin jeweils – konkret und leibgebunden – in einer bestimmten Stellung, in einem bestimmten Zustand zu sehen. Was ich als Gesehenwerden erlebe (und nicht erkenne) 53 , was mir, während ich mich erblickt fühle, durch den erblickenden Blick in mir selbst vermittelt wird (entre moi-même et moi) 54 , ist stets auch meine Leiblichkeit – als erblickte. Scham, Stolz, Angst – all das sind psychische Antworten darauf, daß ich mich durch Blicke in meiner leibhaftigen Existenz überrascht fühle. Ich bin stets der erblickte Blick, der Andere stets der erblikkende. Es ist dies eigentlich prinzipiell die Situation des Voyeurs, der praktisch selber nichts zu sehen bekommt, sondern selbst der Gesehene ist, der beim ›Sehen‹ Überraschte. War bei der Auseinandersetzung mit Sigmund Freud vom beteiligten Voyeur zu reden, so jetzt vom enteigneten. Der Blick des Anderen ist es, der ihn zum Voyeur macht, und zwar so, daß er sich zutiefst seinen eigenen Möglichkeiten ›entfremdet‹ und seiner Freiheit verlustig geht. 55 Der Andere, wie er als Blick gegenwärtig ist, wirft ihn in eine »universale Gegenwart«, in der die Welt sich entweltlicht und ihm entgeht. 56 52 53 54 55 56

Ebd., S. 349. Ebd., S. 319. Ebd., S. 336. Ebd., S. 321; 323. Ebd., S. 325.

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›Regard-regardé‹ und ›regard-regardant‹

Erfaßt der enteignete Voyeur in einer konkreten Situation den erblickenden Blick und erlangt er so entschieden das Bewußtsein erblickt zu werden, dann sieht er den Anderen, der ihn ansieht, nicht als eine raum-zeitliche Erscheinung. Er sieht nicht einmal seine Augen. Mit Blick auf ihn tritt der Andere gleichsam maskierend vor seine Augen – sein Blick ist es, der seine Augen zum Verschwinden bringt. 57 Es sind eben auch nicht die Augen des Anderen, die ihn ansehen, Augen als mögliche Wahrnehmungsgegenstände, sondern der Andere als Subjekt. 58 Sobald der Voyeur sich erblickt und enteignet sieht, ist alle Gegenständlichkeit des Anderen aufgehoben, die ihn gegen den Anderen verteidigen könnte. 59 Das ›sehend‹-gesehene Ich begegnet dem Anderen in dem ›primären Verhältnis‹ seines eigenen Bewußtseins zu dem des Anderen, und zwar so, daß der Andere ihm gegenwärtig ist als Subjekt, nicht aber umgekehrt es zugleich auch ihm. 60 Der Andere übt ›in mir‹ (im ›sehend‹-gesehenen Ich) seine Vermittlerfunktion (zwischen »mir-selbst und mir«) als Unmittelbares. 61 Wer sich vor dem Anderen seiner selbst schämt, ist, wie Sartre die Geschichte des ›ersten Verhältnisses‹ erzählt, ein enteigneter Voyeur. 62 Wer glaubt, ein positives Gefühl zu haben, indem er vor dem Anderen stolz auf sich ist, muß entsprechend als enteigneter Exhibitionist verstanden werden. Sartres existentialpsychologische Analyse des erblickenden und des erblickten Blicks sieht es zu keinem selbsthaften und eigenheitlichen Einander kommen: zu keinem unverwandten einander Ebd., S. 316; 327. Ebd., S. 336. 59 Ebd., S. 327. 60 Ebd., S. 329: Mais cette présence n’est pas réciproque. 61 Ebd., S. 336; vgl. S. 328: autrui m’est présent sans aucun intermédiaire comme une transcendence qui n’est pas la mienne. 62 Ob das, wobei einer ›sehend‹ überrascht wird und wofür er sich vor Anderen schämt und was er deshalb bewußt nicht-öffentlich inszeniert, im Prinzip unglücklich macht, wird von Sartre nicht diskutiert. 57 58

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Der Mensch im Spiegel des Anderen

Begegnen offener selbsthafter Augen, zu keinem Spiegeln des je eigenen Selbst im Eigenen des Anderen, zu keiner Zuneigung und Bejahung. Sartre stellt gerade das enteignete Subjekt heraus, wie es in der Alltäglichkeit seines sich schauend und geschaut Zurschaustellens den Wechselfällen seines ›Selbst‹-gefühls ausgesetzt ist – vom Anderen als Blick völlig beraubt: seiner Welt, Freiheit und Gegenwart. Maurice Merleau-Ponty hat sich nicht weiter an Sartres Überlegungen gehalten, wenn er knapp zwanzig Jahre später den menschlichen Leib als sehend-sichtbar reflektiert. 63 Auch hier wird die Auseinandersetzung – gut französisch – mit Descartes geführt. Von dem cartesischen ›cogito, me cogitare‹ wechselt er zu einem ›video, me videre‹. Der eigene Leib ist zwar für Merleau-Ponty aus demselben Fleisch gemacht wie die Welt – er ist wie sie sinnlich wahrnehmbar, aber nur der eigene sieht und ist sichtbar, während die Welt allein sichtbar ist. Sie ist nun – als reflektierendes Fleisch – gleicherweise Spiegel wie einer aus Glas oder wie der ›Gesichtspunkt‹ des Anderen. Das leitende Problem ist das sinnlich-leibhafte Verhältnis von Mensch und Welt bzw. Mensch und Natur, in dem sich der Mensch nicht als Objekt erfährt, sondern ein offenes oder verfehlendes Verhältnis zu sich selbst eingeht. Es handelt sich damit bei Merleau-Ponty um eine Ontologie und nicht Psychologie der Sinnlichkeit, schon gar nicht um praktische Philosophie. Der Andere wird zwar gelegentlich angesprochen, erhält aber praktisch keine Bedeutung für die Selbsthaftigkeit des Menschen. Der sehend-sichtbare Mensch ist prinzipiell universal sichtbar.

Notizen aus dem Frühjahr 1960, veröffentlicht in: M. Merleau-Ponty, Le visible et l’invinsible. Vgl. ders., L’œil et l’esprit.

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Der methodisch verweigerte Augen-Blick

5. Der methodisch verweigerte Augen-Blick Sartres existierendes Subjekt hegt keine Hoffnung, im unverwandten Augen-Blick des Einen und Anderen die Grundkonstellation glückender Lebensteilung zu finden. Seine Interessen und Möglichkeiten als die des existierenden Bewußtseins sind gänzlich anders gelagert. Das andere Subjekt ist für es prinzipiell ein Feind. Der Analysand dagegen, wie er der psychoanalytischen Situation zugehört, setzt seine Hoffnung zuhöchst auf ein Auge-in-Auge. Wovon er ausgeschlossen ist, was ihm verweigert und entzogen wird, worauf er verzichten muß – all das dient ihm methodisch der Wiedergewinnung sinnlich-selbsthafter Lebensteilung. 64 In der psychoanalytischen Situation ist methodisch auf die Sinne, nicht zuletzt auf den Gesichtssinn zu verzichten. Ein Wahrnehmungsvakuum herrscht, der Verzicht auf das ›wahre‹ Gesicht 65 , auf das ›von Auge zu Auge‹. 66 Das ist jedoch noch nicht die Wahrheit des die psychoanalytische Situation kennzeichnenden sinnlichen Verzichts. Als ein methodischer betrifft er zwar in der Tat die gesamte Wahrnehmungssinnlichkeit (aktiv und passiv) und damit alle durch Sinneswahrnehmung und Körperlichkeit zu stimulierende und zu befriedigende triebhafte Sinnlichkeit. Aber das ist gerade nicht äußerlich zu verstehen. Die Nichtzuwendung der Gesichter aufgrund des Arrangements ist nur als der leichten Reiz- und Verführbarkeit der Sinne entgegensteuerndes Mittel anzusehen. Die eigentliche Unsinnlichkeit hat im psychoanalytischen Prozeß statt, nicht im sinnlich reduzierten Verhalten der beiden Personen während der ›Stunde‹. Der methodische Verzicht auf Sinnlichkeit ist der einschneiDie folgenden Überlegungen sind erstmals entwickelt worden in: R. Marten, Die psychoanalytische Situation und der Augen-Blick. 65 L. Stone, Die psychoanalytische Situation, S. 45; 23. 66 J. Klauber, Schwierigkeiten in der analytischen Beziehung, S. 186. 64

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Der Mensch im Spiegel des Anderen

dendste Eingriff der psychoanalytischen Technik in die Beziehung von Analytiker und Analysand, ihr tiefstes und unüberholbares lebenspraktisches Nein. Sinnliches Verhalten ist in seinen wahren Möglichkeiten schlicht tabu. Ein befriedigender sinnlich-körperlicher Kontakt ist völlig ausgeschlossen. 67 Der Analysand bejaht dieses Nein, weil er darin das für sich größte Versprechen erkennt. Es rührt unmittelbar an seine Leiden, zugleich an seine Phantasien und Hoffnungen. Mit ihm willigt er ein, auf das sinnliche Selbst zu verzichten, das ihm eigentlich das nächste Selbst ist: auf den selbsthaft Anderen als Nächsten. In menschlicher Sinnlichkeit liegt die Befähigung zur nächsten selbsthaften Gemeinschaft. Der Verzicht auf Sinnlichkeit ist der eigentliche Verzicht auf den lebenspraktisch Nächsten. Das Nein der psychoanalytischen Situation läuft methodisch darauf hinaus, daß in ihr zutiefst keine Sinnlichkeit geteilt wird, kein sinnliches Selbst es selbst ist. Im größten Versprechen ist das Ja zum – methodisch! – tiefsten lebenspraktischen Eingriff gegeben. Darum geht in dieses Versprechen auch die größte Erwartung ein. Der Patient erwartet von seiner neu zu gewinnenden Lebensbefähigung, selbsthaft vernünftig und ›natürlich‹ zu sein, selbsthaft mit Anderen Gegenwart zu bilden und zu teilen, vor allem aber und aufgrund von all dem, in der Wahrnehmung des καιρός, mit Anderen Sinnlichkeit zu teilen. Im methodischen Nein der psychoanalytischen Situation zur Sinnlichkeit liegt, wenn die ›Dialektik‹ von Fehl und Erfüllung zu Ende gedacht wird, als schlechthin verheißungsvolles Versprechen für den Analysanden die Teilung selbsthafter Sinnlichkeit mit dem Nächsten, wie es sich – idealiter – nicht zuletzt beim selbsthaften Auge-in-Auge erfüllt. Daß es in der psychoanalytischen Situation nicht zu einer Teilung von Gegenwart kommt, hat seinen mächtigsten Grund in dem Verzicht auf sinnliche Begegnung. Nur dann, wenn das Auge des Analysanden sich ganz in das des Analytikers kehren 67

L. Stone, Die psychoanalytische Situation, S. 103; vgl. S. 45.

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Der methodisch verweigerte Augen-Blick

könnte, gewänne er an ihm seine lebensbefähigende Endlichkeit. Doch es bleibt, ob geöffnet oder geschlossen, sinnlich selbstverloren. Die ›Passivität‹ des ›spiegelnden‹ Analytikers wieder ist Ausdruck dafür, daß er sich – methodisch – dem Sich-einanderSpiegeln entzieht. Er ist nicht selbsthaft und selbstoffen Spiegel. Wäre er das, dann würde er sich im Eigenen des Anderen erblicken. Doch das ist gerade nicht möglich. Der Andere ist zwar selbsthaft krank, aber nicht selbsthaft sinnlich. Er ist gar nicht fähig, selbstoffen zu blicken und zu spiegeln. Die ›Kälte‹ des spiegelnden Analytikers spiegelt somit allein das selbsthafte Unvermögen des Analysanden wider – nicht um es abzubilden und zu fixieren, sondern um es zu beheben. Die kalte, einseitige, ›passive‹ Spiegelung des Analysanden durch den Analytiker birgt – idealiter – das Versprechen des unverwandten AugenBlicks selbsthafter Sinnlichkeit. In der psychoanalytischen Situation selbst, wie sie methodisch Verzicht auf sinnliches Spiegeln übt, ergibt sich für den Augen-Blick prinzipiell keine Chance. Nun gibt es eine Methode, die noch überzeugender demonstriert, wie es möglich ist, mit Anderen selbsthafte Sinnlichkeit genau nicht zu teilen. Das ist die Methode, sich kraft divinatorischen Handelns in den Anderen hineinzuversetzen, ihn sozusagen aus sich ›selbst‹ verstehen zu wollen. Sollen Empathie und Intuition das A und O der psychoanalytischen Erkenntnis sein 68 , dann gibt das akkurat die Methode an, die selbsthaftes Zusammenfinden und Sich-selbst-im-Anderen-Finden unmöglich macht. Empathie und Spiegelung verhalten sich zueinander wie die warme und kalte Seite derselben Methode. In der Wärme der Empathie wird nicht mehr und nicht weniger ›menschliches‹ Selbst des Analytikers entbunden als in der Kälte seines Spiegelns, nämlich einzig und allein sein Selbst als Therapeut. Die

Zu dieser Ansicht von Melanie Klein siehe H. Thomä, Die Aktivität des Psychoanalytikers, S. 39.

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Empathie des Analytikers ist eindeutig unsinnlich und gegenwartslos. Sie ist ein grundsätzlich einsames Geschäft. Wird sie für den Patienten wirksam, dann vermittelt sie ihm allein insoweit eigene Kräfte, als er durch sie die Fähigkeit gewinnt, sich in seine Lebensgeschichte (nicht schon in die Gegenwart geteilten Lebens) zu finden. Die Intuition wieder (das intuitive Erfassen des Anderen in seiner Lebensgeschichte, wie sie als Leiden präsent ist, und das intuitiv ihm gegenüber das Richtige Tun) ist die zielgenaue Verfehlung der Lebensteilung mit dem Anderen. Wo es der Intuition bedarf, sehen Menschen einander nicht, spiegeln sie sich nicht sinnlich ihr Selbst zu. Zwar mag die Intuition als nachträglich rationalisierte dem Analysanden mitgeteilt und von ihm akzeptiert werden, aber sie wird von ihm unmöglich als Intuition geteilt. Intuitionen sind einsame Ereignisse – ohne antwortenden Blick, auch wenn dank ihnen für den Anderen das Richtige gesehen und getan wird. Wer im psychoanalytischen Spiegeln dem Anderen dessen ›Selbst‹ zeigen will, wer Empathie und Intuition einsetzt, um aus dem Anderen selber zu ihm ›selbst‹ zu kommen, der betreibt eine komplexe Kunst, die sich darauf versteht, gerade in der Beziehung zum Anderen selbsthaft ›draußen‹ zu bleiben. Methodische Divinatorik, für sich genommen und ohne Rücksicht auf das mit ihr praktisch Versprochene, ist methodischer Solipsismus. Methodische Empathie des Analytikers bedeutet damit auch den methodischen Verzicht auf zu gewährende und selbst zu empfangende Zuneigung.

6. »Jetzt noch sehen wir durch einen Spiegel im Rätselbild« (Paulus) Paulus hat gegenüber den Korinthern davon gesprochen, ›wir‹ seien Spiegel und Spiegelgebrauchende. Wir spiegelten mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wider und würden dadurch in dasselbe Bild verwandelt: die geistig Schauenden 48 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

»Jetzt noch sehen wir durch einen Spiegel im Rätselbild« (Paulus)

in das Bild des geistig Geschauten. 69 Wir gebrauchten einen wunderbaren und rätselhaften Spiegel, in dem durch den Geist Unsichtbares sichtbar würde, um einst unsere Schau im VonAngesicht-zu-Angesicht mit dem Herrn zu vollenden. 70 Er hat damit, so läßt sich das verstehen, einen Spiegel versprochen, der dem Menschen nicht sein Abbild zu sehen gibt, sondern die Wahrheit. Hier also ist das gewöhnliche Spiegelverhältnis verkehrt: der in den Spiegel schauende Mensch als leibhaft-sinnliches Wesen ist ein Abbild, das im Spiegel Geschaute aber ein Vorblick auf das ganz andere Urbild. 71 Für die Verständigung über das Verhältnis von Mensch, wahrer Mensch und Gott in Anbetracht der Bestimmung von Bild und Spiegel bei Paulus ist es angezeigt, den Begriff Gottes von dem des Anderen abzuleiten. Wenn wir uns bei der Spiegelschau der eigenen Erscheinung in einem materiellen Anderen sehen, lebenspraktisch aber im anderen Menschen, dann legt es sich nahe, im Spiegelverhältnis von Mensch und Gott, das den Menschen sich in Gott spiegeln und im Spiegel Gott sehen läßt, von Gott als dem ganz Anderen zu sprechen. Die traditionell emphatische Ontologie hat es für das Denken zur Gewohnheit gemacht, immer dann, wenn das Überlegen und Verstehen ins Unbegreifliche ausgreift, schlicht als Tendenzanzeige des versuchten Gedankens ein Emphatikon einzusetzen: ›selbst‹, ›wahrhaft‹, ›eigentlich‹, ›schlechthin‹ usw. Auch Glaubensschriften haben es so gehalten. 72 Im gegebenen Fall reicht das Emphatikon ›ganz‹ zu. Der Abstoß vom Geläufigen und die Tendenz des Abstoßes werden durch es hinreichend verständlich. Für das Verständnis des ›ganz‹ Anderen bleibt das des Anderen leitend. Gibt 2. Korintherbrief 3, 18. 1. Korintherbrief 13, 12. 71 Cusanus, Von Gottes Sehen, Kap. 15: »Was er in diesem Spiegel der Ewigkeit sieht, ist nicht Abbildung sondern Wahrheit, von der er, der Sehende, Abbild ist.« 72 Lukasevangelium 24, 34: »Der Herr ist wahrhaftig (ὄντως, vere) auferstanden.« 69 70

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Der Mensch im Spiegel des Anderen

der Andere Halt, dann gibt der ganz Andere eben auf ganz andere Weise Halt. 73 Die Ebenbildlichkeit des Menschen mit Gott (κατ’ εἰκόνα … καὶ καθ’ ὁμοίωσιν) 74 legt die Vergleichbarkeit von Mensch und Gott fest: der Mensch sieht Gott gleich, nicht aber Gott dem Menschen. 75 Der Mensch kann sich in Gott sehen und erkennen, nicht aber Gott in ihm. Paulus geht es im 1. Korintherbrief um die Schau Gottes, und zwar so, daß der Mensch in ihr als Schauender erst vollends erwachsen wird. Der Blick in den Spiegel, wie er jetzt noch geboten ist, muß insofern als kindisch verstanden werden. Der Spiegel- und Rätselblick ist der noch unausgereifte, nicht vollends entwickelte. Er bedeutet Unklarheit, Ferne und Fremdheit. Gott schaut und erkennt bereits den Menschen. 76 Im Spiegel wird Gott noch wie ein Mensch gesehen. 77 Der Mensch hat also, zur Vollendung seiner Selbstschau, den Spiegel zu überwinden. Gott steht mit ihm bereits jetzt in einem Von-Angesicht-zu-Angesicht, der Mensch aber erst dann – wie

Wenn Jean-Paul Sartre die Transzendenz des Göttlichen in Kafkas Der Prozeß und Das Schloß am Begriff des Anderen festmacht (L’être et le néant, S. 324: Mais Dieu n’est ici que le concept d’autrui poussé à la limite), dann liegt dem auch sein eigenes Konzept des Anderen zugrunde. 74 Genesis 1, 26 f. 75 Das Problem der Asymmetrie der Ähnlichkeit bei realer Ab- und Nachbildung besteht auch für die platonische Idee: schöne junge Männer sind der Idee der Schönheit nachgebildet und sehen ihr ähnlich (sehen, insofern sie schön sind, der Idee der Schönheit gleich), aber jene Idee ist darum nicht ihnen ähnlich. Vgl. Die Erzählungen aus den tausendundein Nächten, 422. Nacht, III, 587: »Da hat er die Jünglinge mit den Huris verglichen. Nun ist aber ohne Zweifel das, mit dem verglichen wird, von höherem Werte als das, was verglichen wird. Wenn also die Frauen nicht von höherem Werte und schöner wären, so hätte er nicht die anderen Wesen mit ihnen verglichen.« 76 1. Korintherbrief 13, 12; Galaterbrief 4, 9; vgl. 2. Timotheusbrief 2,19. 77 Das Neue Testament (J. Zink), 1. Korintherbrief 13,12, S. 399: »Jetzt sehen wir Gott wie unser eigenes Gesicht in kupfernem Spiegel, fremd und rätselvoll.« 73

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»Jetzt noch sehen wir durch einen Spiegel im Rätselbild« (Paulus)

eine Auslegung besagt: »in der Stunde unseres Sterbens.« 78 Die Idee, sich im Schauen des ›ganz Anderen‹ schauend zu vollenden, ist die Idee der Selbstaufgabe. 79 Wenn auch überschwängliche Bilder von dem verheißenen Blickverhältnis gerne darüber hinwegtäuschen 80 – kein Einander ist vorgesehen. Die Augen des Menschen halten denen Gottes nicht stand, sondern gehen in ihn über. Ein pantheistischer Zug ist unverkennbar: auf daß Gott sei alles in allen. 81

Es ist kein kosmologischer, sondern ein praktischer Pantheismus: Gott ist in allen 82 die Freiheit. Alle Menschen sind frei, weil sie sich schlechthin Gott unterworfen haben. Es ist freilich nicht das niedergeschlagene, sondern das offene Auge, allerdings, entsprechend dem ganz Anderen, das offene ganz andere Auge. Das paulinische ›Von-Angesicht-zu-Angesicht‹ ist ein schlechthin entrücktes. Die Poetisierung des Augen-Blicks, wie sie Paulus betreibt, wirft kein Licht auf den urszenischen unverwandten Augen-Blick.

D. Bonhoeffer, Bonhoeffer Brevier, S. 424. Siehe D. Bonhoeffer, ebd., S. 420; 425: der Mensch handelt ›dann‹ nicht mehr selbst, ist nicht mehr er selbst. Vgl. A. Schlatter, Die Korintherbriefe, S. 166: »Nun sind wir sein.« 80 W. Meyer, 1. Korinther 11–16, S. 185: »Berufen aber sind wir zur direkten Schau von Angesicht zu Angesicht im kommenden Aeon. Dies ist nicht bloß im Sinne überirdisch-leibhafter Begegnung gemeint, sondern darüber hinaus als jenes unbeschreibliche Sich-in-den-Armen-Liegen von Schöpfer und Geschöpf, von Vater und Kind, von Himmel und Erde in der erlösten Welt.« 81 1. Korintherbrief 15,28. Vgl. A. Schlatter, Die Korintherbriefe, S. 197: »Nun haben alle nichts in sich, als was Gott in ihnen wirkt, sind nichts, als was Gott aus ihnen macht, und haben an Gott allein ihren ganzen Besitz, ihre ganze Kraft und ihre Herrlichkeit.« 82 Nicht: ›in allem‹. Vermittlungsvorschlag: ›in allen Menschen und allen Dingen‹, in: Das Neue Testament und frühchristliche Schriften (ed./trad./ comm. Klaus Berger / Christiane Nord), 2. Aufl., Frankfurt a. M./Leipzig 2015, S. 109. 78 79

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Der Mensch im Spiegel des Anderen

7. Eigenheitliches Sehen In der Urszene führt sich der Eine und Andere nicht je für sich und von sich aus als Mensch auf. Einander unverwandt in die Augen zu blicken, verlangt keinen ›Wesens‹-blick, läßt keinen zu. Selbst wenn der Eine und Andere einmal im alltäglichen Umgang miteinander sich gegenseitig für Menschen ansehen und als solche entdecken, setzt das nicht voraus, daß sie dabei als Menschen blickten. Es gibt gar keinen menschenspezifischen Blick im Sinne eines allgemeinen Wesens des Menschen, der lebenspraktisch für das Einander Bedeutung hätte. Wenn Philosophen von einem solchen Blick sprechen, haben sie anderes im Sinn: Blick also auf gen Himmel, o Mensch, und erfreue dich schaudernd deines unermeßlichen Vorzugs, den der Schöpfer der Welt an ein so einfaches Prinzipium, deine aufrechte Gestalt knüpfte. Gingest du wie ein Tier gebückt, wäre dein Haupt in eben der gefräßigen Richtung für Mund und Nase geformt und danach der Gliederbau geordnet: wo bliebe deine höhere Geisteskraft, das Bild der Gottheit, unsichtbar in dich gesenket? Selbst die Elenden, die unter die Tiere gerieten, verloren es: wie sich ihr Haupt mißbildete, verwilderten auch die inneren Kräfte; gröbere Sinne zogen das Geschöpf zur Erde nieder. Nun aber durch die Bildung deiner Glieder zum aufrechten Gange bekam das Haupt seine schöne Stellung und Richtung. 83

Das ist ein der Naturwissenschaft aufgesetztes poetisierendes Selbstlob der Vernunft, wie es ohne Rücksicht auf lebensteilige Verhältnisse ausgesprochen wird. Essenzen blicken nicht. Als philosophische Abstraktionen und Setzungen haben sie allein fiktionale Sinnlichkeit. Wie es aber – in Anbetracht des Einander – keinen wesensallgemeinen J. G. Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Kap. IV, 1: Der Mensch ist zur Vernunftfähigkeit organisiert. Die Psychoanalyse sieht dagegen die Bedeutung der Aufrechtstellung für menschliche Sehmöglichkeiten im Erblicken des Geschlechts und der Gewahrwerdung eigener Geschlechtlichkeit.

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Eigenheitliches Sehen

Blick gibt, so auch keinen wesensindividuellen. Sieht Paul Paula in die Augen, dann inszeniert er keinesfalls einen Paulsblick, möglicherweise aber einen Mannesblick. Die Art des Einen und Anderen, sich, einander sehend, ursprünglich in Szene zu setzen, ist im Besonderen zuhause. Das – idealtypisch – reine Einander des Blickens und Erblikkens sieht nichts am Anderen – an seinem Gesicht, Auge, seiner Gestalt, bringt keine nähere Information über seine Individualität ein. Dennoch ist das Einander der Urszene nicht ein bloß numerisches. Im reinen Blickwechsel gewinnen der Eine wie der Andere Halt, erfahren sie Einhalt. Das bedeutet: dem je Anderen ist rein im Blick eigenheitlich als Anderem zu begegnen, ohne daß Beobachtungen an ihm gemacht und Erkenntnisse von ihm gewonnen würden. Der Eine und der Andere zu sein ist eine praktische Qualität, die es ohne Eigenheitlichkeit nicht gäbe. Daraus scheint zu folgen, daß die Urszene durch einen ›Spezialistenblick‹ geprägt ist: durch besondere Blickarten wie die des Schönen und Häßlichen, Kindlichen und Mütterlichen, Männlichen und Weiblichen. Doch dann käme Beobachtbares ins Spiel: Ausdruck, Mimik und Gestik. Sich eigenheitlich zu sehen heißt aber für den unverwandten Augen-Blick allein: sich als der Eine und Andere zu sehen. Das ist die grundlegende praktische Differenz. Aristoteles sagt vom Sein, daß es »sogleich« eine gattungshafte Mannigfaltigkeit sei. 84 Wird mit Blick auf das praktische Verhältnis des Einen und Anderen dem Menschen ein – allgemeines – Wesen abgesprochen, dann ist entsprechend zu denken, daß der Mensch ›sogleich‹ eigenheitlich unterschieden ist: Mann und Frau, Mutter und Kind. Heimischer und Fremder. Urszenisch vollzieht sich, genau bedacht, kein Blick von Mensch zu Mensch, sondern von Mann zu Frau und von Mann zu Mann. Der Mann, der so sieht, weiß sich praktisch als Mann und gibt dem Anderen seine Aristoteles, Metaphysik, IV 2 1004a 4 f.: ὑπάρχει, γὰρ εὐθὺς γένη ἔχον τὸ ὄν.

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Der Mensch im Spiegel des Anderen

Eigenheit entsprechend zu wissen. Spiegeln sich Blicke, dann spiegelt sich kein Aussehen, schon gar keines der Blicke, sondern das reine Einander. Der Mann, der in seiner ursprünglichen Selbstinszenierung nicht männlich dreinschaut und sich in seinem Blickverhalten nicht an einer Idee des Männlichen orientiert, ist von reiner Selbstoffenheit, die im Einander als solchem ihre Erfüllung findet. Die komplexe Eigenheitlichkeit eines Mannes, die Facetten und Nuancen seines individuellen Mannseins, – das ist vom spiegelnden Anderen der Urszene nicht erfaßbar, steht für ihn überhaupt nicht im Blick. Die ›Identifizierung‹ des Anderen als eines Anderen in der Urszene vollzieht sich in der vergleichenden Spiegelung: ›er ist ungleich‹, ›er ist gleich‹, in einer Spiegelung, die mit der praktischen Gewißheit zusammenfällt, selbsthaft zu sein, das heißt diese und jene Eigenheit als der Eine eines Einander zu inszenieren. Die – individuelle – Unerschöpflichkeit und Unergründlichkeit des Einen und Anderen wird bei dieser Spiegelung nicht als solche wahrgenommen. Die Inszenierung der selbstoffenen Augen bestimmt die Urszene als Szene. Diese Augen sind dergestalt nicht für Organe zu nehmen. Weder läßt sich durch sie, sofern sie die des Einen sind, am Anderen etwas wahrnehmen, noch kann der Eine, sofern es die des Anderen sind, durch sie hindurch in den Anderen hineingelangen. Eine Typisierung selbstoffener Augen-Blicke (im Falle der Blickbegegnung von Mann und Frau etwa in schüchterne, fragende, verliebte, verneinende, …) ist in nichts angezeigt. Das selbstoffene Auge steht vielmehr für die Selbsthaftigkeit des Einen und Anderen: in der Wechselseitigkeit des Blicks bildet es die Gegenwart von eigenheitlich Unterschiedenem und Gleichem. Ohne es bliebe dem Sehenden nichts als Voyeurismus. Die Individualität des Einen und Anderen in der Urszene ist einfach die ihrer wechselseitigen Gegenwart: ihres Gehaltenund Eingehaltenseins, ihres Haltgebens und Einhaltgebietens. Der Eine und Andere, wie sie sich lebenspraktisch erfahren und gewinnen, sind die ursprünglichen Gestaltungen menschlicher 54 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Die Gegenwart des Einen und Anderen

Individualität, das Ich und Selbst, wie sie das Einander artikulieren, ihre ursprünglichen Namen. Was sich in den Wechselfällen menschlicher Lebensteilung an Individualität und das heißt an gebundener Eigenheitlichkeit des Einen und Anderen gegenseitig reichlich mitteilt, überholt die individuierende Differenz des Einen und Anderen, wie sie der Augen-Blick praktiziert, nie an lebenspraktischer Bedeutung. Sieht Paul ›seine‹ Paula, dann sieht der Liebhaber die Umworbene, der Mann die Frau usw. Was er sieht, ist der Reichtum bzw. die Armut des Inszenierten: Paulas Umworbensein, Frausein usw. Der Blick der Urszene aber und ihre Gegenwart des Individuellen bedarf dieser Art von Reichtum und Armut nicht. Menschliche Eigenheiten sind im Prinzip nicht limitiert – selbst für den Einzelnen nicht. Welche natürlichen und kulturell entwickelten Eigenheiten es auch jeweils sein mögen, die Menschen bei ihren Begegnungen ins Spiel bringen – ohne das Gesicht des Anderen, ohne ursprüngliches eigenheitliches Spiegeln in ihm, bildete niemand ein verläßliches Verhältnis zum Anderen und zu sich selbst aus. Das Zueinander der Gesichter und Ineinander der Augen als ursprüngliche Inszenierung des Einander ist seiner Idee nach von unübertrefflicher Innigkeit und Öffentlichkeit: der Eine und Andere stehen ohne Selbstvorbehalt offen im Vergleich. Es ist in eins der Augenblick der Sozialität und Individualität je als solcher.

8. Die Gegenwart des Einen und Anderen Gegenwart ist immer menschliche Gegenwart. Nicht Zeiten und Räume sind gegenwärtig – weder ›einander‹ noch jemandem, nicht Dinge und Ereignisse, sondern Einer dem Anderen. Wem Zeiten und Ereignisse ›gegenwärtig‹ sind, weil er sie, vergegenwärtigt, im wachen Bewußtsein ›präsent‹ hat, bringt nur dann wirklich Gegenwart zustande, wenn er sich im Vergegenwärtigen von etwas selbst gegenwärtig wird, etwa als Distanz von 55 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Der Mensch im Spiegel des Anderen

freudigem und schmerzlichem Selbst, schuldigem und reuigem, umtriebigem und abgeklärtem. Spielte er dagegen nach Art der Gott zugedachten Omnipräsenz den Allvergegenwärtiger, dann machte er aus sich ein Kopfwesen, das sich um die eigene sinnlich-selbsthafte Gegenwart gebracht hat. Gegenwart, wie sie die Lebensbefähigung belangt, ist je eine lebenspraktische Beziehung von Menschen. ›Lebendige‹ (praktizierte) Gegenwart ist immer schon Lebensteilung – zum Guten oder Schlechten, als geeintes oder entzweites Einander. Idealtypisch ist die ursprüngliche Inszenierung des Einander im unverwandten Augen-Blick auch Ursprung menschlicher Gegenwart. Welchen Anteil Hand, Mund und Geschlecht auch in einer konkreten praktischen Situation an der Konstituierung der Gegenwart haben – ursprünglich verdankt sie sich dem Auge-in-Auge. Die Urszene ist die Urgestalt von Gegenwart. Gegenwart – das ist kein Verhältnis ›menschlicher‹ Substanzen in einem homogenen Raum. Die selbstoffenen Augen des unverwandten Einander sind nicht den Polen einer Lichtschranke vergleichbar. Gegenwart ist aus ihrem Ursprung und in ihrem Vollzug ein durch und durch praktisches Verhältnis. Sie ist dabei stets ein Verhältnis menschlicher Eigenheiten. Nicht Einzelwesen als solche konstituieren Gegenwart, nicht Exemplare der Gattung oder des (abstrakt-)allgemeinen Wesens, sondern Menschen in der Vielfalt ihrer ›Spezialitäten‹. Sind z. B. Heimische und Fremde einander gegenwärtig, Fremde und Fremde, entsprechend Männer und Frauen, Kinder und Mütter, Bedürftige und Wohlhabende, dann zeigt sich leicht, daß ihr Verhältnis, idealtypisch reduziert auf das einander Erfahren, Erkennen und Bejahen in unterschiedener und auch gleicher Eigenheitlichkeit, seiner ursprünglichen Prägung nach den Charakter der Begegnung, Spiegelung und Zuneigung hat. Die praktische Gegenwart des Einen und Anderen in der ursprünglichen Inszenierung des Einander stellt zwischen beiden kein neutrales Verhältnis her, bringt nicht Homogenes in einem homogenen Medium zum Vergleich. Kein umfassender Raum 56 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Die Gegenwart des Einen und Anderen

gleich einer Kammer oder einem Distrikt stellt Gegenwart her, sondern die lebenspraktische Beziehung. Darum wäre die Vorstellung abwegig, zur Gegenwart von Menschen könnte es auf neutralem Boden bzw. an einem neutralen Ort kommen. Es gibt keinen Handlungs-›raum‹, der nicht durch eigenheitliche Parteiung markiert wäre. Selbst wenn sich gegenwärtig gleiche Eigenheiten treffen, garantiert die Eigenheit als solche, daß die praktischen ›Standpunkte‹ sich selbsthaft und nicht bloß numerisch als die des Einen und Anderen unterscheiden. Gleiche Eigenheiten sind niemals gleich angeeignet. Zur Lebensbefähigung gehört stets die Nuance der unverwechselbar ›eigen‹ präsentierten Eigenheit. Jede Allgemeinheit des lebenspraktisch Besonderen befähigt zwar als solche den Menschen, Leben im Unterschied des Einen und Anderen eigenheitlich zu teilen. Aber diese Allgemeinheit hebt die Einzigartigkeit des je Einen nicht auf, dessen komplexe Eigenheit nicht nur eine individuelle Verflechtung (Zustand), sondern auch eine individuelle Aneignung (Geschichte) von Besonderem darstellt. Jede Gegenwart hat von Grund auf den Charakter von Intimität und Öffentlichkeit. Menschen, die sich einander – idealtypisch – offenen Auges begegnen, spiegeln und zugeneigt sind, stehen in einem unüberbietbar innigen Verhältnis zueinander. Zugleich aber sind sie in ihrer Selbstoffenheit auch schon sich selbst und vor einander öffentlich. Gegenwart als das ursprüngliche und grundlegende Verhältnis menschlicher Lebensteilung ist DIE ›Bühne‹ des Gemeinschaftlichen und Gesellschaftlichen. Jedes Handeln wirkt mit daran, Gegenwart, ohne die alles Inszenieren vor dem Nichts stünde, zu bilden und zu bewahren. Gegenwart als eigenheitliches Einander ist geprägt von Kultur-, Gesellschafts- und Lebensgeschichte. Darum fällt sie ebensowenig in eine umfassende Zeit. Gegenwart – das ist nicht die an sich neutrale Stunde, kein mehr oder weniger extensiver Ausschnitt der einen homogenen, aus der Zukunft in die Vergangenheit verlaufenden Zeit, kein Stück Zeit, das sich aus einem ›soeben noch nicht‹ und einem ›sogleich nicht mehr‹ zu57 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Der Mensch im Spiegel des Anderen

sammensetzte. 85 Wie das ›Räumliche‹, so ist auch das ›Zeitliche‹ der Gegenwart allein praktisch zu fassen. Die Gegenwart des Einen und Anderen in ihrer eigenheitlichen Bedingtheit und mit ihren eigenheitlichen Möglichkeiten versteht sich nicht aus der allgemeinen Zeitordnung (χρόνος), sondern aus der Gunst der Stunde (καιρός). In der Gegenwart des Auge-in-Auge herrscht die praktische Zeit. Gegenwart ist καιρός – zum Guten oder Schlechten. Καιρός – das ist kein Stück Zeit gleich einer Gottesgabe, ist nichts ›von oben‹ für eine auserwählte Gegenwart, sondern ist die durchgängige ›Zeit‹-gestalt von Gegenwart. In ihrer Art Gunst der Stunde zu sein, ist Gegenwart die geschichtliche Szene der Aufführungen von Angst und Hoffnung, Zuversicht und Resignation, Erinnerung und Vergessen, von Arbeit an gelebtem und an zu lebendem Leben. Gegenwart liegt nicht als Nullpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft, ist auch kein ›ziemlich kleines‹ Stück von Vergangenheit und Zukunft inmitten der – vorgestellten – Uferlosigkeit beider Zeiten. Vergangenheit und Zukunft sind praktische Horizonte und solcherweise das, was gegenwärtig voll anzueignen ist: was sich je in seiner geschichtlichen Bedeutung aus der Gunst der Stunde erhellen und verschleiern, eröffnen und verschließen, mit Sinn erfüllen und als sinnlos erkennen läßt. Der Mensch, eigenheitlich gesehen, ist eine Kairosgestalt: Fremder, Alter, Mann, Mutter, Wohlhabender, Aufklärer zu sein – all das bedeutet je gegenwärtig die Gunst der Stunde, das eine zu tun und das andere zu lassen. Der Mensch braucht Gegenwart, um das zu sein, was er – eigenheitlich – ist. Gegenwart als καιρός der Zuneigung, des Vertrauens, der Verständigung, des Zusammenwirkens, entsprechend als der des Hasses, des Mißtrauens, des ›run-away‹, der Obstruktion ist jeweils καιρός von Mutter und Kind, von Bedürftigem und Wohlhabendem – zum Guten oder Schlechten. Der Mensch entginge aber Gegenwart, Zu einer entsprechenden Verwendung von ἤδη und ἄρτι siehe Aristoteles, Physik, IV 13 222b 7 ff.

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Die Gegenwart des Einen und Anderen

καιρός und Aneignung der – eigenen – Eigenheiten, wenn er nicht ursprünglich dazu fände, sich im Anderen zu spiegeln, und zwar so, daß auch der Andere sich in ihm spiegelt. Gegenwart, wie sie sich ursprünglich konstituiert und bewährt, ist das Spiegelverhältnis zweier Spiegel. Nur darum hat mit dem Blick in den Spiegel keine Wiederholung statt, findet sich in ihm weder Abglanz noch Doppelgänger, weil das Gegenwarts- und Spiegelverhältnis überhaupt kein gegenständliches, sondern ein rein praktisches ist. Lebensteilung als Teilung von Gegenwart, καιρός und Geschichtszeit (Zukunft und Vergangenheit) gründet im Einander eigenheitlichen Sehens. Das selbsthaft offene Auge sieht – idealtypisch – auf ein gleiches, das entsprechend zurückblickt. Alles andere wäre gegenständliches Sehen und kein selbsthaftes Begegnen, Spiegeln und Zugeneigtsein. ›Praktisch‹ und nicht gegenständlich sehen heißt z. B. als Mann sehen. Wer als Mann sieht, gibt sich zugleich als Mann zu sehen – im Spiegel einer Frau (sc. als Frau). In alltäglicher Lebenspraxis ist freilich nicht davon auszugehen, daß Menschen als Geschlechtswesen frei darüber verfügen, sich im anderen Geschlecht nach Belieben selbsthaft zu spiegeln, um auch schon einander zugeneigt zu sein. Für diese Praxis ist es vielmehr bedeutsam, daß Menschen im Inszenieren eigenheitlichen Seins aufeinander treffen, um, sind sie sich einander nicht gleichgültig, zu einer lebenspraktischen Klärung ihres Verhältnisses zu kommen. Sie haben entweder ein Einverständnis oder ein Nichteinverständnis zu erzielen, haben ihr praktisches Verhältnis zu bejahen oder zu verneinen. Das gilt sowohl für Verhältnisse wie die zwischen Mann und Frau, Heimischem und Fremdem, als auch für die von Frauen und Heimischen je untereinander. Das – unerläßliche – Wort zur Gegenwart als καιρός lautet Ja oder Nein. Menschliche Lebensteilung ist prinzipiell konsentistisch oder dissentistisch. Jedes gelingende und lebensbefähigende eigenheitliche Sehen und Sichinszenieren geht – idealtypisch – auf das selbsthafte Auge-in-Auge, die selbsthafte Spiegelung der 59 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Der Mensch im Spiegel des Anderen

zwei Spiegel zurück. Nur wegen dieser ursprünglichen Differenzierung eigenheitlichen Seins sind Konsens und Dissens von Grund auf möglich. Das Auge-in-Auge als das einzigartige Sichspiegeln zweier Spiegel vollzieht das ursprüngliche Einverständnis des Menschen: die Selbstbejahung mit dem Anderen und durch ihn. Dieses Einverständnis ist ein gegenwärtig-praktisches, kein theoretisches und sprachlich abgefaßtes. Im unverwandten AugenBlick sich begegnender Eigenheitlichkeit herrscht, je nachdem, die praktische affirmative Gewißheit Heimischer und Fremder zu sein, Mann und Frau, Mutter und Kind. Leibhaft-sinnliche Gegenwart gehört so zur Konstitution von Selbsthaftigkeit und Eigenheitlichkeit. Der Mensch ist nicht seinem Wesen nach Vernunft, um dann – zum Leidwesen von Göttern, Priestern, Regenten, Ärzten, Aufklärern, Erziehern und Eltern – auch noch (irgendwie wesenlos) leibhaft-sinnlich zu sein. Ohne Leiblichkeit und Sinnlichkeit gewänne der Mensch nicht seine lebensbefähigende Endlichkeit und Öffentlichkeit, teilte er keine Gegenwart, hätte er weder Vergangenheit noch Zukunft. Schon Platon, eigentlich ein Vernunftphilosoph, gibt zu bedenken, daß ein Einverständnis wie das der Liebe kein rationales und theoretisches Ereignis ist. Bei ihm erhält das – einverständige – Sichspiegeln im Anderen noch eher den Charakter eines Naturvorgangs als den einer Bewußtseinsleistung. Seine Erklärung der Gegenliebe des Geliebten, die das Einverständnis der Liebe bedeutet, lautet (verkürzt) 86 : Die Ausströmung der Schönheit des in glänzender Gestalt 87 zu schauenden Geliebten: sein Liebreiz (ἵμερος) geht in den Liebenden ein, erfüllt ihn, geht wieder aus ihm heraus und in den Schönen zurück. Er geht dabei durch die Augen des Geliebten in dessen Seele, die er mit Liebe erfüllt. Er liebt also, wen aber, weiß er nicht, ja überhaupt nicht,

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Phaidros 255c–e. Phaidros 254c; vgl. 251c; 253e.

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Die Gegenwart des Einen und Anderen

was ihm begegnet, weiß er oder kann er sagen, sondern wie einer, der sich von einem andern Augenschmerzen geholt, hat er keine Ursache anzugeben; denn daß er wie in einem Spiegel in dem Liebenden sich selbst beschaut, weiß er nicht.

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II. Der Mensch im Spiegel der ›Menschlichkeit‹

1. Die Spiegelmetapher Sieht Einer sich selbst im Anderen, begegnen Menschen einander Auge in Auge je sich selbst, dann ist es ein metaphorischer Wortgebrauch, wenn wir den Anderen bzw. seine Augen und sein Gesicht Spiegel nennen und beim Sich-Sehen des Einen im Anderen von einem Spiegel reden. Spiegel – das sind menschengefertigte Gebrauchsdinge aus Metall und Glas. Wird Wasser als Spiegel gebraucht, dann führt auch das noch nicht dazu, das Wort in eine andere Bedeutung zu übertragen. Die Nutzung als Spiegel bleibt sich gleich. 1 Mag darum ein Mensch von einem künstlichen oder natürlichen materiellen Spiegel nur dann zu seinen Gunsten Gebrauch machen können, wenn es ihm ursprünglich im Glanz eines anderen Gesichts glückt, auf die Spur seiner selbst zu kommen, so bleibt das Gesicht als Spiegel doch eine Metapher. Und blickt sogar aus dem Spiegel stets mit der Andere heraus, ist die Öffentlichkeit des – ›materiellen‹ – Spiegelblicks unabweisbar, dann gibt ein Spiegelbild, wird das Wort in seiner ›ersten‹ Bedeutung verwendet, doch ein Wahrnehmungsbild und Abbild zu erkennen. 2 Wer sich in seinem Spiegelbild nicht als in einem Abbild wahrnimmt, sondern sich in ihm in seiner Wahrheit erkennt, in ihm zu sich selbst findet oder gar in ihm sein Vorbild erblickt, versteht es im übertragenen Sinne. Aristoteles, Metereologica, 8 345b 26: ἐν ὕδατι καὶ τοῖς τοιούτοις ἐνόπτροις. 2 Platon, Timaios 71b 4: »wie ein Spiegel Eindrücke in sich aufnimmt und Abbilder (εἴδωλα) zur Ansicht gibt«. 1

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Die Spiegelmetapher

Aristoteles hat als Kriterien einer brauchbaren Metapher festgehalten: sie solle leicht verständlich, nicht oberflächlich und nicht weit hergeholt sein. 3 Den Rhetor und Gorgiasschüler Alkidamas kritisiert er ausgerechnet wegen des Gebrauchs der Spiegelmetapher. Der nämlich nennt die Odyssee einen »schönen Spiegel des menschlichen Lebens«. Das ist Aristoteles zu weit hergeholt und darum »unglaubwürdig«. Der Mensch ist nach ihm offensichtlich unfähig, sich, wie er lebt, in einer Dichtung wiederzuerkennen, zumal wenn es die eines außerordentlichen Schicksals ist. Liegt die Dichtung eines Anderen wirklich zu weit ab, um darin die eigene Lebendigkeit zu spiegeln, dann scheint der leibhaftig-gegenwärtige Andere die Grenze des erlaubten metaphorischen Gebrauchs des Wortes Spiegel darzustellen. Es ist in der Tat erforderlich, die Spiegelmetapher in ihrem Gebrauch zu beschränken. Wie dem Menschen zugedacht wird, das Maß aller Dinge zu sein 4 , so könnte ihm auch quasi umgekehrt die einzigartige Fähigkeit zugerechnet werden, alles was ihm begegnet und ein Anderes ist, zum ›lebendigen‹ Spiegel seiner selbst zu machen. Ob er dann in den gestirnten Himmel, in elementare und erhabene Natur sähe, ob sein Blick auf die Dinge der Lebenswelt fiele, unbelebte und belebte – stets brächte er es fertig, das alles so zu erblicken, um sich darin selbst zu sehen. Die ganze Welt würde dadurch zu einer Leber, die Haruspizes zur Auslegung offenstünde, würde entsprechend zu Vogelflug und Konstellation der Gestirne. In jedem Ausblick, von überall her wäre der Mensch von Bedeutung bedrängt. Kein Schritt gelänge ihm, ohne daß er sich nicht selbst sähe und deutete. Doch ›oversignificance‹ dieser Art ist keine Lebensmöglichkeit, es sei denn eine pathologische. Die Welt als Spiegelhaus wäre ein Irrenhaus. Der Mensch braucht immer wieder Blicke, die ihn von sich selbst wegführen, soll er nicht an Introvertiert3 4

Aristoteles, Rhetorik, III 10 1410b 32 f. Platon, Theätet 152a; Kratylos 385e f.; vgl. Nomoi IV 716c.

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Der Mensch im Spiegel der ›Menschlichkeit‹

heit leiden. 5 Er hat Not an Dingen und Ereignissen, die ihm so begegnen, daß sie zunächst einmal für sich selbst Bedeutung haben. Die Art des Menschen, zu sich selbst auf Distanz zu gehen und in Distanz zu sein, sich zu spiegeln, zu spielen, aufzuführen, sich über sich zu verständigen und sich zu deuten, sich selbst zu bestimmen und zu bejahen 6 , läßt zwar den Gedanken nicht aufkommen, er könne in seinem Sein und Leben je an sich selbst vorbeisehen. Dennoch sieht er sich, wie er zum Leben befähigt ist, nicht in allem. Die aristotelische Begrenzung des Gebrauchs der Spiegelmetapher ist gleichwohl aufzuheben. Jede Gestalt des Menschen, in der er sich selbst als in einem Anderen sieht und erkennt, ist mit guten Gründen als ein Spiegelbild anzusehen. Es können Entwürfe und idealisierende Zeichnungen des Menschen sein, übersteigerte oder realistische Typisierungen, Sichten diskursiver Selbstverständigungen, ausgewählte Formen seiner Existenz, die in der Geschichte Spuren hinterlassen haben, auch Urteile des Rechts und der Moral, Institutionen der Frommen und der Gewalthaber, worin er je zu einer Zeit sich selbst erkennt. Das alles ist darum unbedenklich als Spiegel anzusehen. Insofern ist auch kein Grund gegeben, die Odyssee nicht doch zu den Spiegeln des Menschen zu rechnen. Es bedarf nicht des Selbstbewußtseins eines Odysseus und einer Nausikaa, um in diesen Gestalten je eigene menschliche Züge zu erkennen, mögen sie schön sein oder nicht. Das Sichspiegeln des Menschen, das nicht im anderen Menschen als Spiegel seine Grenze hat, sondern das alles Menschliche in Betracht zieht, in dem der Mensch sich selbst zu sehen vermag, ist kein bloßes Plaisir, kein Weltverhalten, das, je nachGoethe weiß für den krankhaft introvertierten Friedrich Plessing das Richtige: »daß in solchem Fall eine rasche gläubige Wendung gegen die Natur und ihre gränzenlose Mannichfaltigkeit das beste Heilmittel sei«. Zitiert nach K. R. Eissler, Goethe, S. 50. 6 Von Lebensverneinung kann hier nicht im selben Atemzug die Rede sein, da durch sie die Lebensbefähigung in Frage gestellt würde. 5

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Die Spiegelung als Mensch

dem, auch zur Disposition stehen könnte. In der Urszene wird zwar der Grund des lebensbefähigenden praktischen Selbstbewußtseins gelegt, aber es erwächst niemals aus ihr allein.

2. Die Spiegelung als Mensch Mensch ist keine Eigenheit und nur angeblich ein Wesen. Dennoch geht in der Spiegelung je besonderen und eigenheitlichen Menschseins, unterschiedenen und gleichen, gemeinsames Menschsein nicht verloren. Spiegeln Menschen eigenheitlich einander, dann spiegelt sich z. B. Einer als Mensch, der ein Mann, auch als Mensch, der ein Fremder ist, aber es bleibt doch eben bei ›als Mensch‹. Behaupten wir jedoch, Mensch zu sein sei nichts Eigenheitliches und gar Wesenhaftes, dann scheint die Spiegelung als Mensch nicht mehr als einen Nebeneffekt darzustellen, sobald ein Mann sich als solcher in einer Frau, ein Fremder sich entsprechend in einem Heimischen sieht. Man ist versucht, in der Art, wie sich Menschen einander ›auch‹ als Menschen sehen, analog zur aristotelischen Lehre von den ›zweiten Wesenheiten‹ 7 die Bildung eines bloß sekundären Selbstbewußtseins zu erkennen. In seiner biologischen Prägung stünde es für das allgemein vermittelte Bewußtsein, nicht nur gegebenenfalls im Besonderen gleich zu sein, sondern jedenfalls ›auch‹ im Allgemeinen und Gattungshaften. In seiner theologischen bzw. religiösen Prägung wieder zeigte sich in ihm eine gemeinschaftlich verbindende gläubige Gewißheit, im Leben und im Tode aufs Ganze gesehen, dasselbe Geschick zu teilen. Doch diese Überlegung folgt einer falschen Fährte. Menschsein, wie es die eigenheitliche Spiegelung ›mit‹ zu sehen gibt, ist kein möglicher Gegenstand biologischen Wissens und gläubiger Lebewesen als wesenhaft Allgemeines von Ochs und Mensch gilt Aristoteles als ›zweite Wesenheit‹. Im Unterschied dazu bestimmt er Denkseele als ›erste Wesenheit‹ des Menschen. Aristoteles, Kategorien, 5 2a 11 ff.

7

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Der Mensch im Spiegel der ›Menschlichkeit‹

Gewißheit. Seine Sicht resultiert aus der Praxis gemeinsamer Selbstbildung und Selbstbewährung. Schon der Mann, wie er sich in der Frau, und der Fremde, wie er sich im Heimischen sieht und selbsthaft findet, sind keine biologischen oder historischen Tatsachen, sondern praktische Erfahrungen und entsprechende Gewißheiten. Mensch, wie er in der Spiegelung eigenheitlichen Seins zum Vorschein kommt, ist eine praktische Reflexionsgestalt und kein theoretischer Reflexionsbegriff. Um sich am Menschen als solchem praktisch nicht zu versehen, muß man achtgeben, bei der Spiegelung eigenheitlichen Einanders nicht zu früh Menschsein einzublenden. Daß der Andere als Mensch ins Licht tritt, daß er nicht schlicht der Mann, der Fremde bleibt, ist in der Verständigung über die selbstbildende Spiegelung des Menschen der methodisch letzte Schritt. Menschen gleicher Eigenheit, die sich im Verhältnis zueinander dieser Gleichheit praktisch sicher sind, finden insofern keinen Grund, einander eigens als Menschen anzusehen. Ihre gleichartige Besonderheit reicht zu, um lebensbefähigendes Selbstgefühl und Selbstbewußtsein zureichend zu entwickeln – unbeschadet weiterer Besonderheiten, die je nachdem mit hereinspielen. Menschen, die ihre Gleichheit im Besonderen eigens suchen und finden, scheinen es darum überflüssig zu machen, sich des weiteren oder näheren ›auch‹ als Menschen zu verstehen. ›Wir Männer‹, ›wir Ausländer‹ – Selbstgefühl und Selbstbewußtsein dieser Art, das auf solidarischer Erfahrung elitär-diskriminierender oder diskriminierter Besonderung beruhen kann, spricht dafür, daß das unter Umständen genügt. In Wahrheit jedoch läßt sich die lebenspraktische Notwendigkeit, einander im gleichen Besonderen auch wirklich als praktisch gleich zu finden, nicht von der entsprechenden Notwendigkeit lösen, in der Unterschiedenheit des Besonderen zu einer eigenen praktischen Gleichung zu finden, die zwar auf dieser Unterschiedenheit gründet, jedoch nicht auf sie fixiert bleibt, sondern auf eine Gleichheit der Praxis abhebt. Die – spiegelnde – Erscheinung des Menschen ist in Anbetracht lebensbefähigenden 66 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Die Spiegelung als Mensch

Selbstbewußtseins niemals redundant. Es gehört zum sich einander Brauchen der Menschen und zum Fruchtbarmachen ihrer Beziehungen, daß sie einander als Menschen sehen, verstehen und bejahen. Paul, wie er uns vorgeführt wird 8 , sieht in Paula zweifellos ›seine‹ Paula, sogar ›die‹ Paula. Das allerdings gelingt ihm nur, weil er mit seinem eigenheitlichen Blick Eigenheiten ins Auge faßt, so individuell gebunden der Blick beiderseits auch ist. Paul vermag in Paula allein ›die‹ Paula zu sehen, insofern er in ihr z. B. ›die‹ Frau sieht – vorausgesetzt, er blickte als Mann. In anderen eigenheitlichen Perspektiven, wie sie Pauls augenblicklichen Mann-Frau-Blick auf Paula begleiten (oder zu anderen Zeiten und unter anderen Umständen leiten), wird er in ihr die Arbeiterin, die Mutter, eine Spielart des wachen Zeitgeistes, die Gutherzige, die Exaltierte sehen, diejenige, die keine Uberlebenschance beim dritten Kind hat, und wird sich entsprechend in ihr erfahren. Das Spiegelverhältnis, das Paul und Paula je für sich ihre Eigenheitlichkeit übernehmen und im Einander ins Spiel bringen läßt, ist nur insofern durch Individualität geprägt, als sie Besonderes inszenieren. Paula ist weder für Paul noch für sich selbst einfach als Paula zu sehen. Es gibt kein Paulasein als Eigenheit. Wenn sie programmierte: ›ich bin jetzt mal ganz die Paula‹, dann bliebe ihr zur Realisierung des Programms nichts anderes, als sich ›ganz‹ auf dieses und jenes eigenheitliche Sein zu entwerfen. Allein das – angeeignete und eigenheitlich inszenierte – Besondere läßt sich spiegeln, braucht die Spiegelung und macht sie fruchtbar. Paul mag für den Augenblick noch so sehr auf Paula fixiert sein und sich in keiner Gerda und keinem Gerd spiegeln, es ist Paula in ihrem eigenheitlichen Als, auf die er sieht, und die sich in ihm entsprechend erkannt oder verkannt sieht.

U. Plenzdorf, Die Legende von Paul und Paula. Ders., Legende vom Glück ohne Ende. 8

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Der Mensch im Spiegel der ›Menschlichkeit‹

Das Verhältnis zweier Einzelwesen rein als solcher wäre ein ›einzelnes‹, was bedeutete, daß es nicht allein einmalig vorkäme, sondern sich auch gar nicht aus sich selbst als Verhältnis begreifen könnte. Es müßte als solches ›von außen‹ (von einem ›Dritten‹) vermittelt werden. Doch Paul und Paula sind in ihrem Einander, z. B. als Mann und Frau, bereits aus ihrer verschlossenen und selbstlosen Unmittelbarkeit herausgetreten. Ihr Blick für einander ist selbstoffen. Ihr ›individuelles‹ Selbstgefühl und Selbstbewußtsein existiert allein als eigenheitlich-besonderes und öffentliches. Paul hat kein unmittelbares (symbiotisches) und nicht einmal ein ›einmaliges‹ Verhältnis zu Paula und sie kein solches zu ihm, wie auch beide kein unmittelbares und einmaliges zu sich selbst haben. Die einzelnen Minuten des Lebens sind unwiederholbar, die einzelnen Umstände des Handelns nicht wiederherstellbar. Die Erfahrung des einen und anderen Geschlechts (der einen und anderen Volkszugehörigkeit usw.) dagegen, seine Bejahung und Verneinung, ist zu wiederholen. So verstehen sich Paul und Paula aus dem, wie sie eigenheitlich einander und sich selbst erfahren, wie sie sich zueinander und zu sich selbst verhalten – das heißt aus dem Glücken und Mißglükken von Lebensteilung. Keine Spiegelung verläuft passiv. In jeder legen der Eine und Andere selber je sich selbst und einander aus, führen sie sich im Einander selbst auf, bejahen oder verneinen sie einander und sich selbst. Mann und Frau, Deutscher und Ausländer – wie Menschen sich solcherweise eigenheitlich spiegeln, sind sie als Reflexionsgestalten Auslegungs-, Aufführungs- und Kairosgestalten, nichts aber, was sich in der einen Zeitordnung als objektiver Tatbestand einstellte. Leibhaftige Berührungen von Paul und Paula stellen darum in einer Hinsicht zwar Unmittelbarkeit her und bringen Einmaliges zuwege, das über sich selbst verständigte und selbstausgelegte Verhältnis jedoch bewegt sich in freier Öffentlichkeit, Selbstdistanz und Wiederholbarkeit. Bei strikter Einmaligkeit und Unmittelbarkeit könnte kein Mensch den Tod des ›einzigartig‹ Anderen überleben. 68 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Die Spiegelung als Mensch

In ihrer eigenheitlichen Spiegelung als Mann und Frau, aber auch in allen weiteren möglichen Spiegelungen ungleicher oder gleicher Eigenheitlichkeit, bleiben Paul und Paula nicht dabei, sich allein in diesen selbsthaften Besonderheiten zu sehen – einander und sich selbst. In ihrer selbstbewußten und selbstbejahten lebensträchtigen Angewiesenheit aufeinander entdecken sie sich auch als von ›übergreifender‹ Gleichheit, nämlich als – gleicherweise – Lebensgenossen. Das aber ist eine praktische, keine theoretische Angelegenheit für sie. Es ist nicht etwa beider Problem, sich auf ein und denselben Begriff zu bringen. Es gehört jedoch zu ihrem Einander, sich – über alles Ungleichartige und Gleichartige im Besonderen hinaus – darin als gleich zu erfahren, daß sie im strengen Sinne Zeitgenossen sind, nämlich im Kairos von Gegenwart ihr Lebens- und Todesverhältnis augenblicklich und wiederholt teilen. Paul und Paula sind je als Mann und Frau nicht gleich, sind weder von gleicher Art noch von gleicher Selbstaneignung, aber sie handeln gleich. In diesem genauen Sinne sind sie einander praktisch gleich. Die praktische Gleichheit der Menschen im Einander – das ist das, wofür mit Blick von Mensch auf Mensch der Name Mensch steht. Ist in der eigenheitlichen Spiegelung von Paul und Paula als Mann und Frau eine der alltäglich glückenden Inszenierungen geteilten Lebens zu sehen, dann sind mit ihr Möglichkeit und Notwendigkeit gegeben, ihr eigenheitliches Einander von Mann und Frau in seinem praktischen Vergleich als das von Menschen anzusehen. Handelt eine Frau als Frau und ein Mann als Mann, dann handeln sie lebensteilig – zumindest tendenziell. Lehnt eine Frau die Männerwelt, die sie zeitgenössisch vorfindet, ab, und hält sie sich an das eigene Geschlecht, dann zeigt auch das eine Möglichkeit, sich aus der Begegnung mit eigenheitlich Anderem selbst zu finden. Die eigene Eigenheit verselbständigt sich nicht, insofern die andere von praktischer Bedeutung für sie ist. Eine Frau handelt als Frau gleich dem Manne als Mann, nämlich – tendenziell oder erfüllt – lebensteilig. Nach dieser Deutung, aber 69 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Der Mensch im Spiegel der ›Menschlichkeit‹

wirklich nur nach dieser, ist jedes eigenheitliche Handeln von Menschen genau für ein menschliches anzusehen. Handeln, das lebensteilig glückt, wird zum praktischen Vergleich, zur praktischen Gleichung. Mann und Frau sind nicht gleich, Heimischer und Fremder, Kind und Mutter ebenfalls nicht. Man kann ein Gleichsein von ihnen allenfalls in strategischer Absicht einklagen, weil es in der Sache unbegründbar ist. Die biologische Wertung, daß jemand an sich Mann und damit zugleich an sich Mensch ist, hat keine praktische Bedeutung. Zum Mannsein gehört die Spiegelung in der Frau und zum Menschsein eigenheitliche Lebensteilung. Die Gleichheit von Mann und Frau als Menschen ist ein praktisches Gut, lebt aus der Lebenspraxis des Einander. Allein lebensbeeinträchtigende Verselbständigungen bringen es dahin, daß es sinnvoll und notwendig wird, für jeden ›Menschen‹ als Menschen und das heißt als etwas theoretisch Gleiches einzutreten. Menschenrechte haben insofern strategische Bedeutung. Sie dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß ein Mensch sein Recht je als Mann braucht und fruchtbar zu machen hat, als Heimischer, als Kind. Die praktische Gleichheit kann nicht eingeklagt, sondern allein, wenn die Gegenwart und die Stunde danach ist, vollzogen, erfahren, bewährt und bejaht werden. Mensch zu sein heißt (z. B. für Paul und Paula in ihrem Einander), sich im einander Spiegeln, voreinander und füreinander Aufführen und einander Bejahen gleicherweise einander zu brauchen und das Einander fruchtbar zu machen. Wer einer Frau der Mann und einem Mann die Frau ist, einem Heimischen der Fremde und einem Ausländer der Deutsche, weiß sich und den Anderen praktisch als Menschen. Doch Menschen finden sich als solche nicht allein im Austrag eigenheitlicher Differenzen. Auch Mensch zu Mensch von gleicher Art (Geschlecht, Volk, Lebensalter, …) erfährt sich gegebenenfalls in gleicher Praxis. Der Mensch, wie er als Reflexionsgestalt eine praktische Gleichung ist, tritt als ›Genosse‹ in Erscheinung. Das ist kein ideologisch gefärbter Wunsch, sondern eine alltägliche Erfah70 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Die Spiegelung als Mensch

rung: Kairosgenosse im Geschlechtlichen, im Völkischen, im Lebensalter, im vielfältig Eigenheitlichen der gemeinschaftlich, gesellschaftlich und geschichtlich geprägten Verhältnisse. Paul und Paula inszenieren auf ihre Weise Genossenschaft und Lebensteilung – nicht für ›uns‹, sondern füreinander. Beide müssen deswegen nicht das Wort Mensch in den Mund nehmen und für einander gebrauchen. Sie haben ihrer Gleichung nur praktisch gewiß zu sein. Wird es einmal nötig, dann fällt ihnen der Name Mensch als der dafür gebräuchliche wie von selbst ein. Freilich verfallen Menschen immer neu dem Glauben, in schönsten menschheitlichen Augenblicken gäbe es die reine menschliche Solidarität – als Urwunder menschlicher Güte. So läßt etwa Ödön von Horváth einen guten Menschen, einen Mann, auftreten, der schließlich einer Frau zu verkünden weiß: Wissens Fräulein (…), es gibt nämlich etwas auch ohne das Verliebtsein, und das ist halt die menschliche Solidarität. 9

Er wird der selbstlose Mensch genannt, ganz so, als hätte er im Augenblick seiner Güte keine andere Eigenheit (›Qualität‹) als die des Menschen, wenn doch Verliebtsein und Mannsein eigens ausgeschlossen sind. Aber der Kontext entdeckt anderes. Da handelt es sich klar um den enteigneten Menschen: den Entrechteten, Mittellosen und Unmoralischen. Genau der findet hier sein – eigenheitliches – Einander. So lautet denn auch das präzisere Wort Horváths für die, die sich hier genossenschaftlich finden (im ›Genuß‹ des Zeitenelends), »Mistvieher«: Wenn sich alle Mistvieher helfen täten, ginge es jedem Mistvieh besser, überhaupt sollten sich die Mistvieher mehr helfen. 10

Und sich selbst nennt er: ein selbstloses Mistvieh (…) ein liebes, gutes, braves Mistvieh. 11

Ö. von Horváth, III, 278. Ebd., S. 276. 11 Ebd., S. 278. 9

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Der Mensch im Spiegel der ›Menschlichkeit‹

Der gute Mensch als das solidarische ›Mistvieh‹ – das ist denkbar. Mensch selbst aber als selbstbewußte Eigenheit – das gibt es nicht. Die Bedeutung der Spiegelung im Einander ist nicht zureichend erfaßt, wird sie allein darin gesehen, wie sie zur Entwicklung eines lebenstauglichen Selbst führt, das sich in der Fülle seiner Eigenheiten zu ergreifen und öffentlich zur Geltung zu bringen versteht. Eigenheitliche Besonderheiten bergen die ständige Gefahr ihrer Verselbständigung – zuungunsten des Einander und überhaupt der Lebensbefähigung des Anderen. Eine ›Selbstherrlichkeit‹ von Paul als Mann wäre dem lebensteiligen Verhalten notwendig abträglich. Erst wechselseitiges einander Spiegeln als Menschen, das den Einen und Anderen die praktische Gleichheit eigens erfahren und bejahen läßt, bannt die Gefahr der Verselbständigung des Einen gegenüber dem Anderen. Diese Gleichheit ist keine bloße Theorie, auch nicht bloßes Gefühl. Es gibt sie nur als vollzogene. Gemeinsames uti et frui – das ist Gleichheit. Gleich dem religiösen Ritus ist sie von der Wahrheit des Performativen. Die fruchtbare Not praktischer Gleichheit auf dem Grund unterschiedlich angeeigneter ungleicher und gleicher Eigenheiten hat darum überhaupt nichts mit einem Gleichheitsprogramm wie dem der Französischen Revolution zu tun, das sich als Moment einer Todesdrohung zu verstehen gibt: Liberté, égalité, fraternité ou la mort!

Dieses, nimmt man es wörtlich, lebensfremde Programm, das allenfalls als Strategie verständlich ist, versieht sich wie absichtlich an der lebensbefähigenden Gleichheit, die sich in lebensteiliger Praxis herstellt. Menschen, die die leibhaft-lebendige Unmittelbarkeit und Einmaligkeit selbstloser Symbiose überwinden, um ihre Eigenheitlichkeit im Umgang mit Anderen frei und selbstbewußt wahrzumachen, gehen eine praktische Gleichung mit Anderen ein: sie sehen, verstehen, erfahren und bejahen einander als 72 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Das Selbstverständnis Mensch zu sein

Menschen. Die Gleichung ›Mann ist gleich Mensch‹ dagegen hat, nicht anders als die Gleichungen ›Erwachsener ist gleich Mensch‹ (Aristoteles), ›Gesunder (›Normaler‹) ist gleich Mensch‹, ›Grieche ist gleich Mensch‹ (als römische Überzeugung), ›Deutscher ist gleich Mensch‹ (Adolf Hitler) 12 , ideologische, nicht lebenspraktische Gründe. Jeweils soll eine vorgebliche Wesensvollendung verselbständigte Eigenheiten und ihre Macht begründen, um lebenspraktische Realität oder Programme zu ihrer Veränderung im Interesse ihrer Verselbständigung zu rechtfertigen. Werden menschliche Gleichsetzungen dieser Art mit entsprechenden Konsequenzen für die Lebenspraxis durchgesetzt, dann bedeutet das eine methodische Unterbindung der lebensteiligen Spiegelung von Eigenheiten. Unmenschlichkeit herrscht. Das ist bedeutsam: die gelungene wechselseitige Spiegelung von Menschen als Menschen, ihre praktische Gleichung, versteht sich für den Augenblick als Menschlichkeit. In ihr ist jede Selbstherrlichkeit der einen Eigenheit gegenüber der anderen ausgeschlossen. Stellt dagegen die Reflexion des Menschen nicht praktizierte Lebensteilung, sondern den bloßen Begriff dar, dann liegt in dieser Art den Anderen als Menschen zu sehen nichts, was gegen Unmenschlichkeit spräche.

3. Das Selbstverständnis Mensch zu sein Einmal am Leben, zum Leben fähig und mit dem Leben vertraut, sehen Menschen sich selbst und einander ganz selbstverständlich für Menschen an. In der zweiten seiner Meditationen über die Erste Philosophie erinnert Descartes sein Selbstverständnis als Mensch: Wofür habe ich mich denn also früher angesehen? Für einen Menschen selbstverständlich. 12

A. Hitler, Mein Kampf, S. 434 ff.

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Der Mensch im Spiegel der ›Menschlichkeit‹

Hominem scilicet – die von Descartes autorisierte Übersetzung des Duc de Luynes schreibt dafür: sans difficulté j’ai pensé que j’étais un homme.

Doch dann fragt sich der Philosoph weiter: Was aber ist ein Mensch?

Ein methodisch gewollter Ausbruch aus dem Selbstverständnis ist vollzogen. Im Selbstgespräch, das der Theoretiker fortführt, stellen sich Fragen über Fragen wie von selbst ein. Das spontan und allgemein zustimmungsfähige Verständnis, selbst Mensch zu sein, wird davon nicht berührt, geschweige denn erschüttert. Um sich als Mensch zu verstehen, braucht ein Mensch auch gar keine Antwort auf die ganz allgemein an ihn gerichtete, ein Wesen voraussetzende Was-Frage. Es könnte sogar sein, bekäme er eine zu hören, daß er ›sich selbst nicht mehr verstünde‹. Denn sein Verständnis von sich selbst, über das er mit seinem entwikkelten Selbstbewußtsein ohne Bedenken verfügt, gründet sich unmöglich auf philosophische Theorie, wohl aber auf Praxis der Spiegelung des Einander. Die Reflexionsgestalt des Menschen und mit ihr die praktische Gewißheit menschlicher Kairosgenossenschaft und Solidarität gehen darauf zurück, daß Menschen sich miteinander eigenheitlich inszenieren. Das menschliche Wir (›wir Menschen‹) wäre nicht tragfähig, gründete es nicht auf geglückter, einander zur Gleichung bringender Praxis. Das grundlegende Wir-Verständnis des Menschen verdankt sich der Gleichungspraxis und keinem Abgrenzungsbegriff. Menschliche Solidarität ist von Grund auf nicht aus der Abgrenzung gegen den Gott (βροτοί, θνητοί) oder gegen das Tier (λόγος, νοῦς) zu gewinnen, sondern durch glückende Lebensteilung. Lösten sich Mutter und Kind nicht aus der Symbiose und fänden in frei einander zugewandter Praxis zum Ich, Du und Wir, dann gäbe es keinen ›Menschen‹. Lebenspraktische Erfahrungen des Unterschieds zum Tier wie etwa die eines Kindes, daß es mit Hund und Katze nicht 74 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Das Selbstverständnis Mensch zu sein

umgehen kann wie mit Eltern und Geschwistern, sind nur möglich, wenn die Entwicklung zum ›Menschen‹ mit Menschen geglückt ist. Wahrhaft ein Mensch zu sein und kein Tier (feria, bestia), bloß ein Mensch zu sein und kein Gott 13 – ohne ein Wir, das auf dem entwickelten Ich und Du basiert, hätte dergleichen keine Verständnischance. Biologisches und religiöses Wissen um eigenes Menschsein sind gegenüber seiner praktischen Gleichung im eigenheitlichen Einander etwas bloß Aufgesetztes. Freilich ist das Selbstverständnis Mensch zu sein, wie es Menschen im Leben begleitet, ein kulturell institutionalisiertes, in dem sich Praxis und Theorie durchdringen. Menschliches Selbstbewußtsein kann sich, lebensgeschichtlich bedingt, mehr und mehr in den Kopf verlagern. Die extremen Möglichkeiten eines demütigen und hochmütigen Selbstverständnisses belegen dann aber nur auf ihre Weise, daß die – vergessene – Praxis der eigentliche Grund des ›Mensch‹-seins ist. Das Selbstverständnis Mensch zu sein ist freilich kein auf die Neuzeit beschränktes Faktum. Soweit wir auch unsere Überlieferung zurückverfolgen, ›immer schon‹ haben Menschen von sich als Menschen gewußt, einander als Menschen erkannt, von sich selbst und voneinander als Menschen gesprochen. Ilias und Odyssee, Altes Testament und Veda – die Mythen und Geschichten alter Völker sind reich an Zeugnissen für die, wie man meinen möchte, eigentlich erstaunliche Tatsache, daß Menschen über alle Unterschiede und Grenzen hinweg einander für Menschen ansehen. Alkinoos, der König der Phäaken, stellt »diesen Fremden« vor 14 : ich weiß nicht, wer noch woher er ist, ob von Menschen gegen Osten oder Westen.

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Cicero, Ad Atticus, IV 15, 2; XIII 21, 2. Odyssee 8, 28 f.

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Der Mensch im Spiegel der ›Menschlichkeit‹

Bei aller Fremdheit erkennt und präsentiert er Odysseus ohne weiteres als Menschen und spricht damit das Selbstverständnis der Umstehenden aus, daß der Fremde, wes Volks er auch sei, ein Mensch ist, wie auch die einheimischen Phäaken Menschen sind. Heimisch und fremd sind sie von einer Unterschiedenheit, die mit am ehesten den Menschen zur Spiegelung seiner selbst als Mensch führt – vorausgesetzt, das heimische und das fremde Volk haben an der Entwicklung des Menschen teilgenommen, die ihn dazu bringt, das Verhältnis von Heimisch und Fremd als Rechtsverhältnis zu praktizieren. Zwischen Wilden und Zivilisierten gibt es keine Spiegelung als Mensch, da keine Lebensteilung möglich ist. Ohne Gastfreundschaft und Gastrecht kommt es zwischen Einheimischen und Fremden zu keiner praktischen Gleichung als Menschen. 15 Der Plural von Mensch ist im Griechischen auch das Wort für Völker. Odysseus ist Fremder (Mann, Fürst usw.), der als solcher Mensch ist. Als Fremder gehört er einem anderen Menschenvolk, in der Gleichung mit Alkinoos einem anderen – edlen und fürstlichen – Menschengeschlecht an. Das Selbstverständnis des Alkinoos, Odysseus sei ein Fremder und als solcher ein Mensch, hat ein Vorspiel. Odysseus fragt sich, als er am Strand erwacht, in das Land von welchen Sterblichen (βροτοί: sterbliche Menschen) er gekommen sei: ob es Wilde oder Gastfreundliche seien. 16 Mit Wilden nämlich ließe sich als Fremder kein Leben teilen. Als er weibliches Geschrei hört, zweifelt er, ob es von Nymphen oder sprechenden Menschen herrührt und macht sich selber auf zu sehen: mit bedeckter männlicher Scham tritt er vor die Mädchen. Nausikaas Dienerinnen fliehen vor dem Mann 17 , sie selbst, die »unbezwungene Jungfrau«, hält der schrecklichen, von der Salzflut entstellten Erscheinung stand. Odysseus’ Frage, ob sie ein Gott 15 16 17

Ebd., 6, 119 ff. Ebd., 6, 119 ff. Ebd., 6, 199–202: φώς, ἀνήρ.

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Das Selbstverständnis Mensch zu sein

oder ein Mensch sei, gehört zur poetischen Inszenierung der Begegnung. Er erkennt sie als das, was sie ist: als Frau und Herrin. 18 Bei ihr sucht er Schutz, da er »von den anderen Menschen« 19 , denen hier Stadt und Land gehören, keinen kenne. Nausikaa antwortet ihm als einem Fremden, der sich als Mann zeigt. 20 Odysseus versteht sich selbst als Mann, wenn er die Mädchen bittet, seiner Scham wegen abseits zu stehen, solange er sich wäscht und ölt. 21 Diese Erzählung zeigt, wie Odysseus und Nausikaa einander eigenheitlich spiegeln: sie führen sich einander als Mann und Frau auf, als heimisch und fremd, als edlen Geschlechts – erkennen sich selbst im Anderen. Um sich in dieser Praxis des Erkennens als Menschen zu verstehen 22 , brauchen sie keinen Abgrenzungsbegriff gegen Tier und Gott, auch wenn das Bewußtsein der Differenz zu den Unsterblichen sie in ihrem Handeln begleitet. 23 Eine Verwechslung käme ja allenfalls mit Göttern und Zwischenwesen zwischen Mensch und Gott in Frage, niemals aber mit dem Tier. Das poetisierende Verhältnis zu menschlichen Erscheinungen, das im Selbstbewußtsein des Menschen Klarheit über Mensch und Nichtmensch (Gott) schafft, verhilft zwar mit zu einem gemeinsamen Bewußtsein, aber das sich im eigenheitlichen Einander als Mensch Sehen und auch schon Bejahen hat einen anderen Grund. Der spiegelnde Blick Nausikaas 24 gewinnt aus praktischer Distanz und Nähe zu Odysseus die Gleichung mit ihm: die Frau mit dem Manne (und der Mann mit der Frau). Die beobachtende und feststellende Äußerlichkeit biologischen Erfahrungswissens (Abgrenzung gegen das Tier) hätte nichts Vergleichbares zu bieten. Auch der poetisierende 18 19 20 21 22 23 24

Ebd., 6, 168; 175. Ebd., 6, 176 f. Ebd., 6, 187. Ebd., 6, 221. Ebd., 6, 177. Ebd., 6, 119; 149. Ebd., 6, 244: »wenn doch ein solcher mein Gatte heißen möchte«.

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Der Mensch im Spiegel der ›Menschlichkeit‹

Zugriff ›kein Gott, keine Göttin, nur göttlicher Mensch‹ könnte die praktische Gleichung des Menschen nicht ersetzen. Beides hat erst dann im Selbstverständnis Mensch zu sein besondere Bedeutung, wenn dies sich gegenüber der Praxis verselbständigt und das Einander-als-Mensch-Sehen nicht mehr das Bejahen einschließt. Das Selbstverständnis Mensch zu sein ist unter den beiden Geschlechtern von gleicher Bedeutung wie unter Völkern. Mythen erzählen vom gleichzeitigen Entstehen von Mann und Frau. Ungeachtet und unbeschadet eines herrschenden Patriarchats geben sie damit zunächst einmal Gleichheit zu verstehen. Mag die Frau auch dem Manne zugehören (nicht umgekehrt) und ihm nachbenannt sein, so ist sie doch dem Mann gleich Mensch. In einem der Menschenentstehungsmythen der Genesis heißt es 25 : Gott schuf den Menschen (LXX. τὸν ἄνθρωπον), und er schuf sie (αὐτούς) männlich und weiblich.

Demnach gibt es zwar nicht DEN Menschen, sondern sogleich Mann und Frau, aber von beiden Arten und zugleich Wesen gilt eben, daß sie ›zunächst‹ einmal Menschen und ›dann‹ erst Mann und Frau sind. In den Namensgebungsmythen der Genesis, nimmt man sie zusammen 26 , liest sich das jedoch wie folgt: Adam und Eva werden von Gott beide mit dem Namen Adam = Mensch benannt. 27 Adam – das ist der mit dem Eigennamen Adam benannte erste Mann, nach einer Version der Genesis auch der erste Mensch. 28 Eva – das ist die mit dem Eigennamen Leben (Ζωή, hebräisch Eva, weil im Austragen, Gebären und Stillen Genesis 1, 27; vgl. 5, 2. Ebd., 2, 3 und 5. 27 Ebd., 5, 2. 28 Ebd., 2, 22. Adam ist insofern der Prototyp des Menschen, in dem alle menschlichen Eigenschaften vereinigt sind. 25 26

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Das Selbstverständnis Mensch zu sein

Lebensspendende) 29 , aber auch mit dem ›Nach-Namen‹ Männin (Γυνή, weil vom Manne = ἀνήρ Genommene) 30 benannte erste Frau und Frau des ersten Mannes. Adam und Eva (Zoe) sind Adame – der Eigenname des Mannes wird zum ›Eigennamen‹ aller Menschen, zum Namen des Menschengeschlechts. Die Namengebung erfolgt nach der Entstehung. Der unvermittelte Übergang im Schöpfungs-›bericht‹ vom Singular zum Plural (… τὸν ἄνθρωπον, αὐτοὺς …) zeigt an, daß der Mensch geschaffen wird, nämlich Mann und Frau, der Namengebungs›bericht‹ dagegen, daß es Mann und Frau gibt, die Mensch genannt werden. Danach wären Menschen zunächst Menschen und dann erst Mann und Frau, hießen aber zunächst Mann und Frau, danach Menschen. Die Namengebungsgeschichte könnte die Wahrheit der Lebenspraxis bewahren: Mann und Frau sind es, ihre unterschiedenen Eigenheiten, die es im Vergleich auf anderer Ebene einheitlich zu verstehen gilt. Die Schöpfungsgeschichte dagegen ›erklärt‹ bereits auf der Basis sedimentierter und internalisierter Spiegelungspraxis, indem sie davon ausgeht, daß es Menschen gibt, um dann verständlich zu machen, wie es zu Mann und Frau kommt. Im Selbstverständnis Mensch zu sein gehört es zusammen, sich als unterschieden (geschlechtlich) und gleich (menschlich) zu verstehen. Ist es lebensgeschichtlich soweit, daß das mit einiger Verläßlichkeit praktisch entschieden ist, dann kann sich das Selbstverständnis auch in der anderen Reihenfolge reflektieren: gleich und unterschieden. Um das Verhältnis von einheitlichem Menschsein und zweierlei Geschlecht bemühen sich Mythen auf unterschiedliche Weise. Tacitus überliefert einen germanischen Abstammungsmythos 31, wonach ein doppelgeschlechtliches Wesen namens Tuisto am Anfang steht, dem sein Sohn namens Manus folgt. 29 30 31

Ebd., 3, 20. Ebd., 2, 23. Tacitus, Germania, Kap. 2.

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Der Mensch im Spiegel der ›Menschlichkeit‹

Dieser ist als Stammvater vieler Völker nicht einfach als erster Mann, sondern vielmehr als Urmensch zu verstehen. Der Mensch hat demnach einen Stamm, ist aber von doppelter Natur. Im Symposion 32 läßt Platon den Aristophanes die »alte« und »andersartige« Natur des Menschen erklären. Es habe drei Geschlechter des Menschen gegeben: das männliche als Ausgeburt der Sonne, das weibliche als Ausgeburt der Erde, »und ein drittes gabs dazu«: das androgyne als ursprüngliche Ausgeburt des Mondes. Sonne und Erde garantieren die je eigenständige Natur des Männlichen und Weiblichen, der Mond die des Androgynen, das, wie der Mond selbst, an Sonne und Erde, an Männlich und Weiblich teilhat. Auch hier wird als Natur des Menschen seine – unterschiedene – Geschlechtlichkeit genannt (als inter- und intraindividuell gegeben). Von einer übergreifenden Einheitlichkeit als Natur ist nicht die Rede. Das Selbstverständnis Mensch zu sein, das sich da mythisch über sich selbst ›aufklärt‹, macht von keinem Wesensbegriff Gebrauch, wie er die philosophische Tradition von Aristoteles bis Martin Heidegger beherrscht. Anstatt sich festzulegen, was der Mensch seinem Wesen nach einheitlich ist (Aristoteles: vernünftig, Heidegger: sterblich bzw. existierend), stellt er die Eigenheit des Menschen in drei eigenen Ausprägungen vor. Wenn im eddischen Götterlied Vafþrúðnismál der Mythos der Entstehung eines ersten Menschenpaares aus der Achselhöhle eines zweigeschlechtlichen Riesen überliefert wird, und nach der Volospa Götter am Strand zwei Baumstämme finden und aus ihnen Askr und Embla machen – ein Menschenpaar 33, dann begegnen wir der gleichen Ansicht: der Mensch versteht sich als Mensch, weil er verschiedenen Geschlechts ist. Sein Selbstverständnis, einer Art, aber nicht eines Wesens zu sein,

189d–190b. J. de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte, § 570 S. 360; § 578 S. 371.

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Das Selbstverständnis Mensch zu sein

reflektiert er aus sich selbst: aus der einen Herkunft, nicht aus der einen ›Natur‹. 34 Auch sonst in alten Mythen wie in hebräischen 35 , iranischen 36 , indischen 37 und japanischen 38 werden Zwitterwesen, Urpaare (auch Zwillingspaare) an den Anfang gestellt, um den Ursprung des Menschen in seiner Unterschiedenheit und Gegensätzlichkeit zu deuten. Ist das Urwesen ein Einzelwesen, dann ist es in sich so reich gegliedert, daß aus seiner Zergliederung alle in Betracht kommenden eigenheitlichen Differenzen hervorgehen. Diese Entstehungs- und Schöpfungsmythen führen den Menschen selbstverständlich als Teil und Glied des Entstandenen und Geschöpften an, unterscheiden ihn von Gott und Tier. Sie nützen aber die Dichtung der Einheit des Ursprungs nicht, um ein allgemeines Wesen des Menschen festzulegen, wie es Philosophen tun, wenn sie ihn für geschlechtlich und völkisch ›neutral‹ ansehen, sondern werden zugleich dem Selbstverständnis der lebenspraktischen Perspektiven gerecht: es gibt sie nur als Mann und Frau, als Völker, als Stände (Kasten) usw. Ist es der Mensch, der sich im Einander als Mensch in Erfahrung bringt, dann sind gerade Entstehung und Erhaltung der Art davon nicht auszuschließen. Für die lebendigen Auswirkungen menschlicher Geschlechtlichkeit gilt dasselbe wie für ihre handlungsbestimmte Gegebenheit. Das Selbstverständnis, daß aus der Vereinigung von Mann und Frau ein weiblicher oder männlicher Mensch entsteht, repräsentiert zunächst einmal lebenspraktisches Erfahrungswissen, das sich auf lebensgeschichtliche Dimensionen menschlicher Lebensteilung bezieht, nicht auf die Andersartigkeit anderer Lebewesen oder gar auf die UnDieser Mythos hat im übrigen, wie J. de Vries belegt, indogermanische Parallelen. 35 R. v. Ranke-Graves / R. Patai, Hebräische Mythologie, S. 82 f. 36 G. Widengren (Hrsg.), Iranische Geisteswelt, S. 50 ff. 37 M. Winternitz, Geschichte der indischen Literatur (Rig-Veda X, 10). 38 N. Naumann, Das Umwandeln des Himmelspfeilers. 34

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Der Mensch im Spiegel der ›Menschlichkeit‹

vergleichlichkeit eines Gottes. Der Mensch versteht sich zwar nie rein aus sich selbst als Mensch. Das Mitwissen um andersartiges Leben ist stets lebendig. Was er aber aus sich und untereinander bzw. unter seinesgleichen ›über‹ sich selbst als Mensch ausmacht, bleibt grundlegend, weil sein praktisches Selbstverständnis, das allem theoretischen Wissen um sich voraufliegt, sich den Gleichungen im Einander der Eigenheiten verdankt. Die Richtigkeit der biologisch gemeinten Feststellung, daß aus Menschen wieder Menschen entstehen (ἄνθρωπος ἄνθρωπον γεννᾷ) 39 , und die Möglichkeit, mit ihr einen moralischen Appell zu untermauern (hominem esse te et hominis patrem) 40 , ändern daran nichts. Vom biologischen Begriff des Menschen führt prinzipiell kein Weg zu seiner praktischen Reflexionsgestalt, wohl aber kann das, was praktisch gewiß ist, eigene – theoretische – Bewußtseinsformen finden. Das Selbstverständnis Mensch zu sein entwickelt sich aber nicht allein zwischen Heimischen und Fremden, Mann und Frau, Mutter und Kind, sondern zwischen allem eigenheitlich Unterschiedenen. Glaubt man freilich für den Gebrauch des Wortes Mensch abschließend feststellen zu können (mit Blick auf das frühgriechische Epos), daß es als allgemeinste Bezeichnung für einen, mehrere oder sämtliche Menschen diene, wenn von den individuellen Merkmalen abgesehen werden soll 41 , dann ist das irreführend, insofern damit so gut wie alles ausgeblendet wird, was den Menschen sich als Menschen verstehen läßt: seine eigenheitliche lebensteilige Praxis. Wenn Odysseus’ Sohn zu Eurykleia über seine Mutter sagt 42 : sie ehrt einen der sterblichen Menschen (μερόπων ἀνθρώπων), auch wenn er geringer ist,

39 40 41 42

Aristoteles, Metaphysik, VII 7 1032a 25 et passim. Plinius der Jüngere, Briefe, IX, 12. J. Latacz, ἄνθρωπος, Rubr. 879 f. Odyssee 20, 132.

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dann lebt dieses Selbstverständnis, es mit einem Menschen zu tun zu haben (der einmal stirbt), von der eigens wahrgenommenen Unterschiedenheit des Menschen im Besonderen: von der eigenheitlich bestimmten Lebensteilung zwischen den Ständen. Nicht weil von seinem Geringsein abgesehen würde, sondern gerade wegen desselben wird er aus der Praxis der Unterscheidung als gleich erfahren und als Mensch genommen. Das Selbstverständnis Mensch zu sein und den Anderen als Menschen zu erkennen garantiert noch keine ›Menschlichkeit‹. Wer Menschen niederer Stände, selbst Sklaven, selbstverständlich für Menschen ansieht (Sklaven werden mit Weib und Kind und vor dem Vieh als Besitz gezählt) 43 , respektiert in ihnen noch lange nichts, was, theoretisch geurteilt und idealdemokratisch gemeint, gleich wäre. Die Gleichheit, wie sie für das Selbstverständnis Mensch zu sein bedeutsam ist, wird im Einander allein praktisch vollzogen. Wo sie theoretisch und als bloßer Anspruch auftritt, ist sie Sache je eines Kopfes und hängt insofern in der Luft. Jemanden für einen Menschen anzusehen heißt nicht schon, ihn gleich zu behandeln. Beruht die Art, jemanden als Menschen zu behandeln, einzig und allein darauf, daß er als Mensch erkannt wird, dann ist die Behandlung für jede Menschlichkeit und Unmenschlichkeit gut. Nur einem Menschen kann man unmenschlich kommen. Gerade auch die ›Menschenrechte‹ schließen, weil sie bloß theoretisch-strategisch sind, Ungeheuerlichkeiten von Mensch gegen Mensch nicht aus. Wird ein Mensch Rechtens malträtiert und gar gefoltert, dann begegnet man ihm – theoretisch – nicht unmenschlich, sondern läßt ihm nach dem Selbstverständnis unserer Tradition eine ausgesprochen ›menschliche‹ Behandlung angedeihen. Nur so läßt es sich auch verstehen, daß heutige Politiker die ›philosophische‹ An-

43

Platon, Politeia IX 578e; Plinius, Naturalis historia, 33, 135.

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sicht gewinnen und vertreten, Folter könne unter Umständen »sittlich geboten« sein. 44 Im Unterschied zum theoretisch-wesensbegrifflichen deckt das praktisch-eigenheitliche Verständnis vom Menschen keine Unmenschlichkeiten ab. Wer Lebensteilung im unterschieden Eigenheitlichen lebensschädigend aufkündigt, diskriminiert und verneint im Anderen den Menschen. Wer, um seiner Schwäche (›Ichschwäche‹) aufzuhelfen, den Feind braucht, wird immer Andere finden, um sie als Menschen herabzusetzen – moralisch und mit physischen Folgen. Der ›Feind‹ (Carl Schmitt), der ›Sündenbock‹ – das sind Auspizien des Einander, die ausschließlich sein Mißlingen erwarten lassen. Die theoretische Unmenschlichkeit besteht in der ideologischen Diskriminierung von Menschen als Menschen. Es kommt für ihre abschließende Bewertung darauf an, ob sie zur praktischen Unmenschlichkeit führt: zum lebenspraktischen Nein der Gleichung als Mensch. Aristoteles hat das ›Eigene‹ des Sklaven im Blick, wenn er behauptet, der Sklave sei Mensch, aber nicht Mensch seiner selbst, sondern eines Anderen. 45 Daraus kann theoretisch Unmenschlichkeit abgelesen werden: der Sklave wird als Mensch erkannt und zugleich herabgesetzt. Sollte Aristoteles damit eine athenische Rechtslage und Praxis treffen, die für den Sklaven jede selbstbildende Spiegelung im Herrn unterbindet und die praktische Vergleichung als Mensch unmöglich macht, dann wäre die theoretische Unmenschlichkeit nichts anderes als der ›Überbau‹ der praktischen. Überschlägt man die Möglichkeiten, sich im eigenheitlichen Unterscheiden ›genossenschaftlich‹ spontan als Mensch zu verstehen, wird man erkennen müssen, daß dabei nicht alles von gleicher Bedeutung ist. Das einander Verstehen als Menschen, wie es zwischen Menschen statthat, die anderen Volkes (heimisch-fremd) und anderen Geschlechts sind, hat eindeutig Vor44 45

E. Albrecht, Der Staat – Idee und Wirklichkeit, S. 174. Aristoteles, Politik, I 2, 7 1254a 15 f.

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rang. Das läßt sich dadurch begründen, daß die Gemeinschaft des Lebendigen sich allem zuvor (und kulturunabhängig) als lebensschaffend und -weitergebend bewährt. Jedes lebensteilig erworbene Selbstverständnis Mensch zu sein gründet in lebensund geschlechtsgeschichtlichen Erfahrungen. Heimisch und Fremd, Mann und Frau, auch Eltern und Kinder, Jung und Alt als gelebte und geteilte Verhältnisse prägen diese Erfahrungen. Im Verhältnis der Verantwortung Übernehmenden und Überlassenden (Herr und Knecht, Offizier und Gemeiner, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Politiker und Wissenschaftler) dagegen kann sich das Lebensinteresse der Einen gegenüber den Anderen bereits vollends verselbständigt haben und Lebensteilung, wie sie im Einander zur Vergleichung kommt, inexistent bzw. unmöglich geworden sein. Es bleibt dabei: das Selbstverständnis Mensch zu sein, das theoretisch seiner selbst sicher ist und nicht eigens auf Erfahrung gelingender Lebensteilung rekurriert, verspricht keinerlei moralische Qualität. Für sich selbst hat es sich von der Praxis des Vergleichens und der in ihr sich bildenden ›Moral‹ gelöst. Andererseits hat auch diese Praxis kein Vermögen, von sich aus dem theoretischen Menschenverständnis ein Stück theoretischer Vernunftmoral mitzugeben. Die praktische Vergleichung von Eigenheiten ist ja nicht etwa ein Akt versöhnlicher ›Gesinnung‹, demonstriert keinen Respekt vor der menschlichen ›Person‹, und stellt insofern nichts dar, was in theoretisch bewußte Humanität übergeführt werden könnte. Auch der schönste Begriff des Menschen verbürgt keinerlei Humanität, selbst ein welt- und menschenweites – theoretisches – Selbstverständnis des Menschen ist ohne jede moralische Bedeutung. Maurice Merleau-Ponty hat überzeugend daran erinnert, daß Staatsverfassungen mit besten Präambeln keineswegs eine bessere Verfassungswirklichkeit garantieren als solche mit weit schlechteren. Eher das Gegenteil ist der Fall. 46 46

M. Merleau-Ponty, Humanisme et terreur, S. IX ff.

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Der Mensch im Spiegel der ›Menschlichkeit‹

Wer, eingedenk der Schrecken nationalsozialistischer Menschenvernichtung, appellativ zu erinnern sucht: Wir alle sind zuerst einmal Menschen, versteht ihr, Menschen, Menschen, Menschen!

um darauf die Behauptung folgen zu lassen: daß Menschen – Menschen sind, und erst danach Erzbischöfe, Russen, Ladenbesitzer, Tartaren, Arbeiter

weil er die Ansicht teilt: daß wir den Menschen achten, bedauern, lieben wollen 47

hat auf höchst beachtliche Weise menschliche Güte im Sinn, doch er hält sich dabei in seinem Appell allein an theoretische Humanität, an Menschlichkeit gleichsam von Kopf zu Kopf, ohne an eine Kraft zu denken, die praktischer Inhumanität auch wirklich Paroli bieten könnte. Dazu taugte nur ein lebenspraktisch sedimentiertes Selbstverständnis Mensch zu sein, wie es in selbsthaft-erfülltem gemeinschaftlich gelingenden Leben gründet. Die Eigenheit der Frau, des Kindes und des Fremden zu vertreten, ist, praktisch geurteilt, ungleich menschlicher (dem praktischen Interesse des Menschen angemessener), als im Rundumschlag mit dem Begriff des Menschen zu operieren. Die – theoretische – Erfindung eines Menschengeistes, der human ist, etwa die Erfindung reiner praktischer Vernunft, darf zwar jederzeit mit viel Beifall rechnen, ist aber in ihrer praktischen Bedeutung, die strategisch-ideologische ausgenommen, gleich Null.

W. Großmann, Leben und Schicksal, S. 296 – A. Tschechow zitierend. Dagegen Bundespräsident von Weizsäcker: »als Bürger dieses Landes ist man zuerst Deutscher und dann ein Mensch« (DIE TAGESZEITUNG vom 30. 10. 1985, S. 13).

47

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Der Mensch im Spiegel seiner moralischen Maßstäbe

4. Der Mensch im Spiegel seiner moralischen Maßstäbe Um sich als Mensch zu verstehen und anzunehmen, genügt kein Selbstverständnis Mensch zu sein. Wenn sich Mann und Frau nicht erst in der einzelnen Begegnung, sondern ›immer schon‹ als Menschen entdeckt haben und stets neu entdecken, auch die lebensgeschichtliche Erfahrung sich fortzeugenden Menschseins nicht erst an einem einzelnen Verhältnis von Mutter und Kind, Jung und Alt ihren Stoff gewinnt, dann ist das Selbstverständnis Mensch zu sein genau das, was keinem Menschen eigens in die Augen fällt. Was eigentlich lebensteilig gleich leuchtenden Spiegeln ineinander gewendet sein sollte, um unübersehbar Menschen einander als Menschen zu entdecken, zeigt sich so gut wie blind. Zwischen Mutter und Kind, Jung und Alt, selbst zwischen Heimischen und Fremden hat Menschsein für gewöhnlich nichts Hervorstechendes an sich. So selbstverständlich es ist, so unbeachtet bleibt es auch. Menschen aber, wie sie gemeinschaftlichen Umgang mit einander haben, sind nie nur Träger und Zeugen von Lebens- und Geschlechtergeschichte. Das Sichverstehen als Mensch hat zugleich seine eigene Geschichte, die sich in den Bahnen besonderer völkischer Charaktere und Schicksale, gesellschaftlicher Prozesse und kultureller Entwicklungen bewegt und jeweils in einer zeitgenössischen Dimension präsentiert. Die Vergewisserung des Menschseins vollzieht sich in diesem Geschichtsgang nicht in einzelnen Beziehungen von Mensch zu Mensch, sondern in der Bezugnahme auf Institutionen, die Niederschlag praktischer und empirischer Selbstverständnisse des Menschen im Fortgang der Zeiten sind. Der geschichtliche Mensch sucht als solcher nicht das – selbstoffene – Gesicht und die Eigenheiten des Anderen, um sich als Mensch zu verstehen, auch nicht die Erfahrung, der sich das Wissen um die Weitergabe des Lebens der eigenen Art verdankt. Er spiegelt sich vielmehr in diesen Institutionen, nimmt an ihnen Maß, um sich als Mensch abzuschätzen. Im Spiegel derselben bildet sich kein Selbstverständnis 87 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Der Mensch im Spiegel der ›Menschlichkeit‹

Mensch zu sein, sondern menschliches Selbstbewußtsein. Für den lebendigen Menschen, der sich über seine Lebens- und Geschlechtergeschichte hinaus als geschichtlich begreift, steht das alltäglich praktizierte Selbstverständnis Mensch zu sein im Lichte des kulturell entwickelten Selbstbewußtseins. In unserer Tradition hat sich die Geschichte menschlichen Selbstbewußtseins unlöslich mit der Idee des Fortschritts des Menschlichen verbunden. Der selbstbewußte Mensch versteht sich in seiner Geschichtlichkeit als Produkt des Fortschritts des Menschlichen, der wirklich stattgefunden habe, zumeist auch gegenwärtig stattfinde und jedenfalls noch nicht abgeschlossen sei. Jede lebensfähige menschliche Gemeinschaft und Gesellschaft, die sich dem Menschlichen, seiner Förderung und seinem Fortschritt verpflichtet weiß, ist Zeichen ›positiven‹ menschlichen Selbstbewußtseins. Wo der Mensch nicht eigens von sich als Mensch etwas hält, nicht eigens von sich als Mensch überzeugt ist und sich seiner selbst wegen schätzt, gibt er sich keine Chance, sich in seiner bewegten Geschichte auf dem Wege des schätzenswerten und sich fortschreitend entwikkelnden Menschlichen zu sehen. Die mögliche Verifizierung der Idee des Fortschritts des Menschlichen ist eine Frage der Perspektive. Stets ist es die einer geschichtlichen Gegenwart, zumeist dabei die einer Oberschicht, die sich selbst für fortschrittlich hält und sich im gegenwärtig durch sie und für sie Erreichten wiederfindet. Wir tun darum gut daran, die Warnung im Ohr zu behalten, daß Urteile über die zu einem geschichtlichen Zeitpunkt für eine menschliche Gemeinschaft erreichte Menschlichkeit allein sehr beschränkte Geltung haben können, als sie sich meist auf das Leben der höheren Stände beziehen. 48

Für Blindheit gegenüber anderen Lebenslagen von Menschen zur selben Zeit und im selben Bereich ist damit methodisch ge48

J. Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, S. 403.

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sorgt. Ein Wort aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. gibt in seiner idyllischen Verbrämung einen Vorgeschmack davon, wie Wissenschaft, Technik, Industrie und Markt es einmal verstehen werden, ihre Fortschrittsinteressen – naiv oder zynisch – öffentlich als die des menschlichen Menschen zu vertreten: Die Welt wird täglich besser, kultivierter und zivilisierter als zuvor. Überall baut man Straßen, jede Region ist bekannt, jedes Land dem Handel geöffnet. Felder lächeln, wo finstere Wälder standen, Herden haben die wilden Tiere abgelöst, selbst auf dem Sand kann man säen, Felsen aufbrechen, Moore trockenlegen. (…) Wo immer es eine Spur von Leben gibt, gibt es auch Häuser, Ansiedlungen und wohlgeordnete Regierungen. 49

Die in sich einige Fortschrittsidee unserer Tradition hat, zeitlich verschoben, zwei Stoßrichtungen: die moralisch-rechtliche und die wissenschaftlich-technische. Im gegebenen Zusammenhang interessiert allein die erste. Der kulturell und zivilisatorisch fortgeschrittene Mensch lebt in gesitteten und rechtlichen Verhältnissen. Kult, Besitz, Herrschaft und Dienst erlangen Rechtsverbindlichkeit. Die legale Gewalt (einschließlich Terror) sorgt für Ruhe und Ordnung (›Frieden‹) als den Grundbedingungen der Entfaltung und Entwicklung des Sittlichen. So stellen, in der Perspektive der Idee des Fortschritts des Menschlichen, die gesitteten und rechtlichen Verhältnisse jeweils diesen Fortschritt dar, fordern aber zugleich dazu auf, ihn fortzuführen und die Qualität der Verhältnisse weiter zu verbessern. Der Fortschritt sittlich-rechtlicher Zivilisierung konkretisiert sich in Institutionen, die den jeweils erreichten Stand des Menschlichen spiegeln. Sie erweisen sich als die maßgeblichen Identifikationsobjekte und geben den hinlänglich Entwickelten die Möglichkeit, sich geschichtlich als Menschen zu begreifen und einzuschätzen (inwiefern sie auf der Höhe der Zeit sind). Die philosophisch-theoretische Entwicklung moralischer MaßTertullian, De anima 30 (zitiert nach C. Wells, Das Römische Reich, S. 251).

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stäbe hat dabei nichts zu sagen, sondern allein die anerkannte Höchstform allgemeiner Praxis. Entgegen der Wahrheit des Urteils: Abendländische Völker können einander mißhandeln, aber glücklicherweise nicht richten 50

hat das Gewissenhaben für Andere und die moralische Beurteilung Anderer allzeit Konjunktur. Institutionen des Menschlichen, in denen sich besondere Individuen und Gruppen als Menschen wiederfinden, werden dazu genutzt, ganz allgemein in ihnen die Glieder einer Zeit›genossenschaft‹ zu spiegeln, um daraufhin bestimmen zu können, inwiefern sie sich – einzeln oder in Gruppen – als Menschen zu verstehen haben und inwiefern nicht. In jedem Schritt über das Selbstverständnis Mensch zu sein hinaus, der im menschlichen Selbstbewußtsein vollzogen ist, werden Menschen in Anbetracht ihrer Menschlichkeit unterschieden. Was in Näherung zum institutionalisierten Menschlichen gesehen wird, ist der tendenziell menschliche Mensch 51 , was in Entfernung zu ihm, der tendenziell unmenschliche. Anders als das Selbstverständnis Mensch zu sein braucht das – sich absetzende – Selbstbewußtsein des Menschen die Unterscheidung von Menschen als die von Menschen und Unmenschen. Auf der Spiegelung des Menschen im menschlichen Menschen, wie er kein Ideal, sondern institutionell und exemplarisch (in Individuen und Gruppen) gegeben ist – die Höhe der erreichten Entwicklung moralisch-rechtlicher Zivilisation markierend, liegt ein Schatten: der Unmensch. Seit der frühen Tradition elitären menschlichen Selbstbewußtseins trifft einzigartig ein anderer Name auf ihn zu: der des Untiers – hier das Präfix als J. Burckhardt, ebd., S. 403. Hier nicht als philosophische Tautologie im Sinne von Martin Heidegger und Jürgen Habermas, die utopisch und eschatologisch orientiert ist, sondern als Vorstellung der Entwickelten, die sie in ihren gelebten Vorbildern für realisiert ansehen, wie Römer der Kaiserzeit bestimmte Ausprägungen griechischer Bildung.

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Intensivum, dort als Negation gebraucht. Der geschichtliche Schatten des Menschen, ein Schatten seiner Herkunft, aber auch immer neu ein Schatten seiner möglichen Zukunft, ist der ›Mensch‹ im Menschen, der kein gesittet-zivilisierter, sondern das allzu wilde und tierische Tier ist. Nicht der vormalige Wilde und noch nicht Zivilisierte in ihm ist gemeint, schon gar nicht das Vieh. Im Untier steckt keine ›natürliche‹ Ursprünglichkeit, die ein Rousseau für besseres Menschsein reklamieren könnte, sondern die entwickelte Möglichkeit des Unmenschlichen und eben Untierischen. Bei jeder Spiegelung in Institutionen des Menschlichen, wie sie der geschichtliche Mensch vollzieht, ist das Untier präsent. Das entwickelte und differenzierende Selbstbewußtsein des Menschen spiegelt sich vor dem Hintergrund dieses ihm anhaftenden Schattens. Biologen sehen den Menschen als höherentwickeltes Wesen im Unterschied zum Tier 52, auch Theologen, wenn sie geistiggeistlich einen Ordo bauen, der – gut ding- und substanzontologisch – vom Staubkorn bis Gott reicht. Für das in Rede stehende Selbstbewußtsein des Menschen aber hat nicht die biologische und ontologische (auch nicht existentialontologische) 53 Unterscheidung zum Tier, sondern die moralische zum Untier Bedeutung. Nicht das Tier, sondern das Untier ist der Unmensch. Das Untier ist das Gegenwesen zum gebildeten und sittlich-zivilisierten Wesen als dem menschlichen Menschen (so Plinius der Jüngere, wenn er die Griechen für homines maxime homines ansieht). 54 Das Tier ›im‹ Menschen ist ja Mensch, nur nicht der ganze. Es teilt mit dem Menschen die Leiblichkeit und Sinnlichkeit, nur eben nicht die Geistigkeit und Sittlichkeit. Seneca spricht von einer res minime humana, wenn er daran erinnert, daß es Pompejus dem Großen nicht genug gewesen sei, E. O. Wilson, On Human Nature. M. Heidegger, Über den Humanismus, S. 13 ff. 54 Briefe, VIII, 24 – als Wort an jemanden, der von Amts wegen zu ihnen unterwegs ist. 52 53

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Menschen gegen Tiere auf Leben und Tod kämpfen und anderntags von Tieren zerfleischen zu lassen. Er mußte am dritten Tag weitere auch noch von Elefanten zermalmen lassen. 55 Cicero berichtet von diesem Spiel: Da staunte die Masse und der Pöbel, aber recht warm wurden sie nicht. 56

Unmenschlich zu handeln (rem minime humanam gerere) heißt nicht, die Sache des Tiers bzw. der Tierheit im Menschen, die seiner Leiblichkeit, Sinnlichkeit, Begehrlichkeit und Affektivität zu betreiben, sondern die des Unmenschen (homo immanis) als des Untiers in ihm. Der Unmensch im Menschen entdeckt das ins Entsetzliche gesteigerte und ins Unnatürliche verkehrte Tier. Im Römischen ist der Mensch als Untier die belua – fera et immanis. Immanitas, allein genannt, steht für Unmenschlichkeit. Im Begriff der immanitas laufen Unmensch und Untier genau zusammen: das in seiner Unart gesteigerte Menschliche und Tierische ist in eins das Entsetzliche des Unmenschlichen. Steht die Unnatur des Unmenschen und Untiers von Menschen Art im Blick, dann ist, moralisch anklagend (z. B. wegen Sodomie), vom monstrum hominis die Rede. Das so gedeutete Untier ist freilich nur eine Wahrheit des Unmenschen, die leicht dazu mißbraucht werden kann, die weitaus gefährlichere, weil als menschlich legitimiert auftretende, zu verdecken. Ist es nämlich der gebildete und sittlich-zivilisierte Mensch, der Vernunftgründe vorzulegen weiß, um andere (andersartige) Menschen für Unmenschen zu erklären und aus der Gemeinschaft der Menschen zu eliminieren 57 , dann zeigt das Erscheinungsbild dieses elitären und diskriminierenden Men-

Seneca, De brevitate vitae, XIII, 6 f. Cicero, Ad familiares, VII 1, 3 (übers, von H. Kasten). 57 Adolf Hitler argumentiert mit der »höheren Kultur« und dem »höchsten Menschentum«, wenn er das deutsche Volk als einzigartiges »Herrenvolk« vorstellt. A. Hitler, Mein Kampf, S. 438 f. 55 56

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schen prima facie kaum die Züge des Untiers. Auch hier aber ist bemerkenswert, wie sowohl der theoretisch erklärte als auch der praktizierende Unmensch im Menschen und nicht im Tier zu orten ist. Das Selbstbewußtsein des unmenschlich Handelnden nicht anders als das des Unmenschliches Leidenden erhebt sich nicht über das Tier, sondern über eine – vermeinte oder reale – Unart seiner selbst. Um sich über sich selbst als moralisch entwickeltes Lebewesen zu verständigen, scheint der Mensch allerdings gerne den für ihn leichteren Weg zu wählen: nicht die eigene Möglichkeit signifikanter Amoralität mitzuerkennen, sondern einfach sich selbst zu sehen, wie er sich kraft seines eigentümlich Menschlichen von der Gesamtheit der Lebewesen (Tiere) abhebt. In Wahrheit haben wir darin jeweils nicht mehr als eine Kurzfassung und Veranschaulichung seines Selbstbewußtseins vor uns, keinenfalls seine Begründung. Im homerischen Epos wird kein Gegensatz zwischen Menschen und Tieren herausgestellt. 58 Tiere gehören dem Menschen zu 59 , beide kommen miteinander vor. 60 Interessant ist, daß ein Philosoph wie Platon, der seine Probleme mit der Leiblichkeit und Sinnlichkeit des Menschen hat, sich dafür stark macht, Mensch und (wildes) Tier ebensowenig für einen in der Natur liegenden Unterschied anzusehen wie Hellene und Barbar. Den Menschen von den Tieren absondern hieße ihm zufolge »schnitzeln«, das meint: nicht sachgerecht aufgliedern. Die »wahren« sachgerechten Abgrenzungen (»Schnitte«), wie sie im methodisch-dialektischen »Entzweischneiden« zutagetreten, hätten gleichen Rang, gleiche Gewichtung. So wären die wilden Tiere von den zahmen zu unterscheiden, und den Menschen träfe man beim methodisch richtigen Schnitt nicht mit ›Hellene und

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J. Latacz, ἄνθρωπος, Rubr. 882 f.; 888. Odyssee 17, 419 ff. Ilias 17, 550.

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Barbar‹ (da es unzählig mehr Barbaren als Hellenen gibt), sondern mit ›Mann und Frau‹. 61 Bei Hesiod wird der Mensch erstmals vor den Tieren hervorgehoben: er sei von Zeus mit δίκη begabt. 62 Platon läßt Protagoras in einem Mythos im Verein mit Recht (δίκη) die Scham (αἰδώς) nennen. 63 Im Gegenlicht steht aber damit nicht das Tier, sondern der schamlose und unverschämte Mensch, der Mensch, wie er noch nicht in Rechtsverhältnissen lebt. Auch hier legt sich das Selbstbewußtsein des Menschen nicht eigentlich mit dem Tier, sondern mit dem – noch – unzivilisierten Menschen an. Das Tier hat nur eine Hilfsfunktion für die Reflexion, in der der Mensch sich über seine Entwicklung zum menschlichen Menschen verständigt. In der Epinomis, dem nicht-platonischen Anhang zu Platons Nomoi, findet sich eine Bestimmung der »notwendigsten Weisheiten«, mit denen der Mensch sich vom Tiere absetze, die aber mit fortschreitender Entwicklung der menschlichen Verhältnisse ihre Anerkennung als Weisheit verlören, deren man sich sogar im gesellschaftlichen Zustande der Sittlichkeit zu schämen habe. Die erste von ihnen sei das Aufhören des Einanderverzehrens (ἀλληλοφαγία) der Tiere – entweder gänzlich oder in Beschränkung auf ein gesetztes Maß. 64 Die Menschen waren Tiere und aßen als solche einander – sich und andere, wie es sich traf. ›Jetzt‹ verzehren sie Rechtens nurmehr Tiere, die nicht ihresgleichen sind. Das ›erste notwendige Wissen‹ bedeutet den ersten notwendigen Schritt zu Gesetz und Sittlichkeit. Der Mensch schert aus dem gemein-tierischen Verhalten (wenn es denn eines ist) aus. Den Adonis nicht mit Liebes-, sondern mit Freßlust anzusehen, ist in der Tat wild-tierisch 65 , nicht menschlich-sittlich (ebensowenig göttlich-sittlich, so es Venus ist, die 61 62 63 64 65

Platon, Politikos 263c-d. Hesiod, Werke 275–279. Platon, Protagoras 322c. Epinomis 975a (Platon, Bd. V). Ovid, Metamorphosen, X 548 ff.

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mit Augen an ihm hängt). Auch in dieser Verständigung des Menschen über sich selbst herrscht noch der Gedanke vor, daß er sich als sittlich-zivilisiert vom Schatten eigener Vergangenheit, vom wilden und allzu wilden Tier in sich selbst gelöst hat. Der Philosoph jedoch distanziert den Menschen von Untier und Tier. Platon zeichnet das Bild des Menschen als eines Wesens, das zwar äußerlich als Mensch erscheint, im Inneren aber nicht nur Mensch, sondern auch Löwe und des weiteren ein buntes, mit Köpfen und Leibern zahmer und wilder Tiere gestaltetes Tier ist. 66 Da stecken also im ›Menschen‹ bleibend Tier und Untier. Als Mensch ist er sittlich entwickelt und dadurch klar vom Untier getrennt, allerdings auch vom Tier. Genau damit beginnt die Verdächtigung des Leiblichen, Sinnlichen und Affektiven. Doch diese Erhebung über das Tier gehört schon nicht mehr zur gesellschaftlichen Reflexion der Entwicklung des Menschlichen, sondern zu einem idealistisch-philosophischen Programm. Das essende und trinkende, zeugende und gebärende Tier im Menschen sei eigentlich des Menschen unwürdig 67 , überhaupt alles Sinnliche und Leibliche. 68 Das ist bereits ein Vorschein der sich utopisch spiegelnden reinen Vernunft, die keine durch den Willen zur rechten Lebensführung gesteuerte Klugheit (φρόνησις im Sinne der Nikomachischen Ethik des Aristoteles), sondern lebensfremder philosophischer Tagtraum ist. Menschliches Selbstbewußtsein verdankt sich der Spiegelung in existierenden moralischen Maßstäben. Mit der philosophischen Erhebung des Menschen über das Tier (Lebewesen), die den Menschen als solchen keine Art von Lebendigkeit mit dem Tier teilen läßt und ihn zum reinen Geistwesen macht, hat sie nichts gemein. Dasselbe gilt von dem im Dunstkreis zwischen Philosophie und Biologie an den Tag kommenden Stolz, der 66 67 68

Platon, Politeia IX 588b–589a. Platon, Phaidon 64d. Platon, Phaidon 82d–83a.

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Mensch sei vollkommener als das Tier, der nur die andere Seite der Koketterie ist, der Mensch sei, gemessen am Tier, ein Mängelwesen. Dem Triumph der Vernunft geht in der von ihr erzählten Geschichte ihr Fehl voraus: daher werden sie von den wilden Tieren ausgerottet, weil sie in jeder Art schwächer waren als diese. 69

Der Mensch sei seiner natürlichen Herkunft nach ein zum Leben mangelhaft gerüstetes, durch leibhaft-lebendige Primitivität geprägtes Wesen. Da werden kokett »Organprimitivismen« zugegeben, um danach stolz mit »Organersatz«, »Organentlastung« und »Organüberbietung« (hat er keine Flügel, baut er sich eben Flugzeuge) aufzutrumpfen. 70 An dem müßigen Spiel, aus der Vorhandenheit der Vernunft ihre Notwendigkeit gleich einem deus ex machina zu erklären, hat sich von Protagoras bis heute nichts geändert. Menschliches Selbstbewußtsein wird dadurch nicht gegründet. Dessen Schatten ist nicht die biologische Vergangenheit des Menschen, sondern seine (un-)moralische Vergangenheit und Gegenwart, sein Licht keine natürliche Mitgift, sondern selber Bewirktes und zu Verantwortendes. Die ›Natur‹ des Menschen ist sicher wohlbegründet (wie zufällig es auch zu ihr gekommen sein mag), seine Moralität nie. Darum kann es menschliches Selbstbewußtsein im Prinzip nur geben, wenn es einem auch vergehen kann. Sich zu schämen, ein Mensch zu sein (»being a human, … a man«), nicht länger dieser Art angehören zu wollen, der Verlust von »selfrespect« – das steht dem selbstbewußten Menschen geschichtlich immer neu bevor. 71 Das kann übrigens auch für Selbstbewußtsein gelten, Platon, Protagoras 322b. So (in der Tradition von Anthropologen wie J. G. Herder und J. Ennemoser) A. Gehlen, Der Mensch, S. 91 ff.; 107 ff. Ders., Anthropologische Forschungen. Zur Selbstbegegnung und Selbstentdeckung des Menschen, S. 93 f., zit. nach P. Probst, »Organprimitivismen«, in: Histor. Wörterb. d. Philos., Darmstadt 1984. 71 J. Dos Passos, U.S.A. Nineteen Nineteen, S. 199. 69 70

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Der Mensch im Spiegel seiner moralischen Maßstäbe

das nicht auf sittlich-rechtlichem, sondern auf wissenschaftlichtechnischem Fortschritt gründet. Hier allerdings löste die Scham Mensch zu sein den Stolz nicht wegen eines Mangels, sondern wegen eines Zuviel an ›Fortschritt‹ ab. 72 Mit der Entwicklung von Sitte und Recht, Kultur und Zivilisation werden Menschen selbst zu Institutionen, in denen sich der Mensch als Mensch spiegelt, mit denen sich Menschen in ihrer menschlichen Gesinnung identifizieren. Diese ›großen‹ Menschen dienen als Vorbild und Maßstab. Wer mit ihnen richtig umzugehen weiß, nutzt sie nicht nur zur Spiegelung im Idealen, sondern im tatsächlich Erbrachten. Niemand übernimmt dabei die Verpflichtung, es ihnen gleichzutun. Sittlichkeit der Großen muß nicht allgemeine Praxis werden, um ihre Wirkung zu tun. Wie Dauerkonsumenten von Berichten über Hautevolee davon zehren, daß es anderen unerreichbar gutgeht, Wettkampfbeobachter davon, daß andere unerreichbar gut sind, so genügt es menschlich-sittlicher Gesinnung zumeist, den menschlichen Menschen exemplarisch in anderen realisiert zu wissen. Das ist ihnen schon offensichtlich darum anzuraten, weil von der Antike bis heute für die moralische Elite gilt, daß es die Wenigen sind. Platon setzt auf die Wenigen (gegen die Vielen) 73 , auch Martin Heidegger. 74 Sie sind heute allgemeiner wissenschaftlicher Konsens: The postconventional level is reached by a minority of adults. 75

In psychologisch-soziologisch-philosophischer Einmütigkeit hat man dabei (in Anlehnung an Kants Idee einer im Prinzip funktionierenden universalistisch-praktischen Vernunft) Leute im Sinn, die sich an universellen ethischen Prinzipien orientieren,

Zum Begriff der »prometheischen Scham« siehe G. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, S. 21 ff. 73 Platon, Kriton 50a–51c. 74 M. Heidegger, Der Feldweg, S. 5. 75 L. Kohlberg, Moral Stages and Moralization, S. 37. 72

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Der Mensch im Spiegel der ›Menschlichkeit‹

sich auf Verfahren der Normenbegründung verstehen und überhaupt voll des Vermögens der Selbstbestimmung sind. 76 Sokrates läßt sich durch Vernunft zur Gesetzestreue bestimmen 77 , Albert Schweitzer durch Affekt zur Ehrfurcht vor allem Leben. 78 Beides ist im Prinzip nachvollziehbar, faktisch für gewöhnlich nicht. Dennoch hält sich die Gelassenheit gegenüber menschlich-sittlicher Überlegenheit exemplarisch Einzelner und Weniger über alle anderen gesellschaftlich in Grenzen. Das Selbstbewußtsein des Menschen wird nämlich öffentlich auch angegangen, sich dasselbe nicht nur zu Lehen geben und damit aushalten zu lassen. Es müsse vielmehr selber verdient werden. An Bildungsanstalten, die nicht zuletzt als Stätten der Vermittlung sittlicher Werte zu nutzen gesucht werden, liebt man es, Sprüche anzubringen, die zum Wettstreit der ›Edlen‹ auffordern: αἰὲν ἀριστεύειν καὶ ὑπείροχον ἔμμεναι ἄλλων (immer der Beste zu sein und anderen überlegen). 79

Nicht dem Tier, sondern dem anderen Menschen überlegen zu sein, ist die Devise. Wie sie verstanden wird, bedeutet sie nicht zuletzt die Aufforderung zum moralischen Agon. Der Mensch legt damit, um der vermeinten Förderung des Sittlichen willen, den Grund zur Diskriminierung von Menschen. Anstatt sich gemeinschaftlich und gesellschaftlich in den maßstäblich sittlichen und rechtlichen Verhältnissen zu spiegeln, als Mensch zu verstehen und sein Selbstbewußtsein zu gewinnen, dividiert er sich auseinander. In der gröbsten Form der Teilung werden L. Kohlberg, ebd., S. 37; ders., The Philosophy of Moral Development, S. 241. Auch Habermas stimmt – implizit – den Wenigen zu, wenn er mit Kohlberg allein darin differiert, wie der Mensch zur höchsten Stufe der Moral kommt, nicht aber darin, wie er sie praktiziert. J. Habermas, Gerechtigkeit und Solidarität. Eine Stellungnahme zur Diskussion über »Stufe 6«, S. 291–318. 77 Platon, Phaidon 84a; 98e. 78 Siehe D. Birnbacher (Hrsg.), Ökologie und Ethik, S. 127–130. 79 Ilias 6, 208; 11, 784. 76

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Der Mensch im Spiegel seiner moralischen Maßstäbe

die einen dem menschlichen, die anderen dem unmenschlichen Menschen zugeschlagen. Jetzt ist es bereits verdächtig, moralisch-praktisch von mediokrer Art zu sein. Glaubt eine Demokratie die unterschiedenen Stände der Moralität verkraften zu können, sobald und solange die moralisch hochwertigen Stände die Verantwortung für die minderwertigen übernehmen, dann bleibt doch die Gefahr der Verselbständigung der ›siegreichen‹ Vorbilder und mit ihr die der Diskriminierung von Menschen. Anstatt Menschen sich in ihrem Vorbild auch selber als Menschen sehen und in ihm eigenes menschliches Selbstbewußtsein finden zu lassen, stößt es sie nunmehr auf ihre eigene Minderwertigkeit. (Gründet menschliches Selbstbewußtsein in einem Mehr an Können, Macht, Geld und Vitalität, dann steht es um die Diskriminierung nicht anders. Menschliches Selbstbewußtsein ist in industriellen Leistungsgesellschaften zu einem Privileg selbstermächtigter Eliten geworden. Der Unterschied liegt nur darin, daß diese Eliten ein fundamentum in re haben, während sich die Eliten der Moral, zumal wenn es die einer universalistischen Moral sind, mit einer Selbstbefriedigung im Prinzipiellen und in der Gesinnung zufriedengeben müssen.) Im verselbständigten moralischen Vorbild schwindet der Lebensbezug. Wo in der Bestimmung des menschlichen Menschen Diskriminierung angelegt ist, lauert auch schon der abstraktideale Wesensbegriff. Was der Mensch jetzt in seinem sittlichen ›Vorbild‹ zu sehen bekommt, läßt nichts mehr von dem erkennen, was dem Menschen eignet, sofern er leibt und lebt, Leben teilt und ihm Leben gemeinsam gelingt. Die diskriminierende Energie, die in jedem moralisch Überlegenen steckt, führt, wo sie Einfluß auf philosophische Menschenentwürfe gewinnt, zum Spiegelbild eines Homunkulus, dem jedes Besondere und Eigenheitliche fehlt. Was Menschen sonst als ihre Ehre reklamieren, hat sich in diesem Kunst-Werk zur Würde des Menschen verflüchtigt. War die einmal der Ähnlichkeit mit dem Schöpfer zu verdanken, so versteht sie sich jetzt als Selbstnimbierung des ebenso reinen 99 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Der Mensch im Spiegel der ›Menschlichkeit‹

wie artifiziellen Vernunftwesens. ›Bei meiner Ehre‹ – das ist allem zuvor ein Schwur auf Eigenheiten. Traditionell herrscht die Ehre der Macht vor, des Adels der Herkunft und des Verdienstes um das Allgemeine. 80 Was auch von Ehre dieser Art zu halten ist, sie verdeutlicht jedenfalls, daß da niemand die Ehre des Menschen als die seine geltend macht. Das gilt nicht weniger, wenn wir von der Ehre des Handwerks sprechen, der Frau und selbst des Ganoven. Wie individuell oder allgemein sich Ehre auch in ihrem Anspruch gibt, ob sie sich eher auf Leib und Leben oder ›innere‹ Qualitäten stützt, niemals äußert sich in ihr ein allgemeines Menschenwesen. Eine Ehre des Menschen kann sich allenfalls in der Aufklärung als ein Vernunftprodukt (und Religionsersatz) einstellen, das für die Praxis nicht taugt. Was die Idee der Würde des Menschen anbelangt, so mag sie für die Durchsetzung von – individualistischen – ›Menschenrechten‹ strategische Bedeutung haben. Wie sie aber als Bestimmung des Menschen zur universalistischen Vernunft begründet wird, täuscht sie schlicht einen um seine Lebendigkeit reduzierten allgemeinen Menschen als Eigenheit des Menschen vor. Ehre und Würde, wenn es sie denn gibt, gehören in praxi menschlichen Eigenheiten zu. Die Würde des – allgemeinen – Menschen ist bloße, erfahrungsunabhängige und praktisch fehlzielende Theorie.

5. Der Mensch im Spiegel seiner poetischen Transzendenz Menschen hadern mit der Endlichkeit. Anstatt ihre Lebensart und ihr Lebensglück mit darin zu erkennen, nicht für immer und nicht überall zu sein, erfahren sie, wie sie sich selbst verstehen, dieses doppelte und in sich zusammengehörige Nicht als Verneinung und Beschämung ihrer selbst. Während sie sich in der Sorge um den menschlichen Menschen im allgemeinen ein 80

Aristoteles, Rhetorik, I 5, 9.

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Der Mensch im Spiegel seiner poetischen Transzendenz

Leben lang frei und verantwortlich wissen, halten sie den Zeitund Ortsaufenthalt im Leben für ihre Unfreiheit par excellence. Sie geben sich, als hätten sie die inneren Zwänge eines Entfesselungskünstlers, um sich von ihrem Erdendasein wie aus einer Gefangenschaft zu befreien. Reden sie von ihrer irdischen Überlegenheit: vieles ist gewaltig, nichts aber gewaltiger als der Mensch

dann bekennen sie doch beschämt: allein den Tod zu fliehen schaffen sie nicht 81

ganz so, als wäre das eigentlich und nahezu auch wirklich ihre Sache, als stünde es um sie unendlich besser, hätten sie nur für immer zu leben. Die Seele vom Leib gefangen 82 – das ist ein recht eingängiges Bild, wenn es auch in die Irre führt. Den Menschen aber, wo und wie immer er auf Erden zu Hause ist und sich bewegt, für gefangen anzusehen – den Flußschiffer auf seinem Kahn, die Richterin auf ihrem Stuhl, fällt schwer. Nicht weniger absurd erscheint die Ansicht, der Mensch sei eingesperrt, weil er jeweils seine eigene Lebenszeit habe und nicht auch noch andere dazu. Kein Wunder, daß Menschen in ihrer Art ort- und zeithaft zu sein, diese ›Gefangenschaft‹ an sich selbst gar nicht entdecken können. Sie haben sich dafür eigens einen Spiegel gebildet, der reine Äternität und zugleich, wenn nicht reine Ubiquität, dann doch zumindest ungehemmte mundane Mobilität ausstrahlt. In ihm erst als dem eigenheitlich ganz Anderen spiegeln und entdecken sie ihre eigene Unfreiheit. Dem Spiegel haben sie die Namen »Unsterbliche« (ἀθάνατοι) und »Himmlische« (ἐπιουράνιοι) gegeben, sich selbst als den Gespiegelten die Namen »Sterbliche« (θνητοί, βροτοί, ἐφήμεροι; vgl. auch μέροπες)

81 82

Sophokles, Antigone 361 f. Platon, Phaidon 66e–67c.

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Der Mensch im Spiegel der ›Menschlichkeit‹

und »Irdische« (ἐπιχθόνιοι) 83 . So spiegeln sie sich in Poesie und poetisieren sich selbst. Im Lichte der Unsterblichen und Himmlischen ist mit den ›Sterblichen‹ und ›Irdischen‹ nichts Tatsächliches mehr beschrieben. Zog ein triumphierender Heerführer im Streitwagen in Rom ein, um zum Tempel des Juppiter Optimus Maximus zu fahren, dann hatte hinter ihm ein Sklave zu stehen, der ihm immer wieder ins Ohr sagte: Gedenke, daß du (bloß) ein Mensch bist!

Im Spiegel eines Optimus und Maximus genügt es »Mensch« zu sagen, um den Menschen zu meinen, wie er bloß das ist, was er ist. Bloß Mensch – das ist das Grundwort der Poesie menschlicher Endlichkeit, ihrer Spiegelung aus dem ganz Anderen. Es ist nicht weniger von religiöser als von poetischer Bedeutung. Die geistige und die ›weltliche‹ Herrschaft des Menschen über den Menschen nimmt Poesie in Gebrauch. Wer öffentlich zeigt, wie kein anderer legitimiert zum Optimus und Maximus unterwegs zu sein, gibt zu erkennen, daß ihm diese menschlichen Unerreichbarkeiten als Insignien seiner Macht eigentlich selbst zugehören. Die Erinnerung, nicht der Optimus und Maximus zu sein, hat für die politischen Verhältnisse die Bedeutung, es gerade praktisch zu sein. ›Bloß‹, ›nur‹, ›eitel‹ Mensch – dieser Name kennzeichnet den Menschen und gibt ihn sich selbst in einer Blöße zu verstehen, die reine Dichtung ist. Es ist die – poetisch-unvordenkliche – ungeheuerlichste und folgenreichste Deutung seiner selbst, die er in der Geschichte der Verständigung über sich selbst als Mensch zustandegebracht hat und nicht selten heute noch zustandebringt – von Kindheit an. Bloß Mensch zu sein heißt in seiner kulturgeschichtlich vorherrschenden Lesart: bloß für eine Zeit und bloß auf Erden zu Vgl. auch χάμαι, »zur Erde«, »auf der Erde«, z. B. Ilias 5, 442: Menschen gehen, anders als Götter, über die Erde.

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leben. Im Spiegel des letztgesteigerten ganz Anderen beginnt der Mensch, seine Vermögen in Unvermögen umzudeuten. ›Auf der Erde‹ heißt dann soviel wie ›nicht im Himmel‹, ›zeitlich‹ soviel wie ›nicht ewig‹, ganz so als bedeutete aus dem Schoße einer Mutter zu stammen, nicht dem Kopf des Zeus entsprungen zu sein, sich einem Vater zu verdanken, keine unbefleckte Empfängnis für sich reklamieren zu können. 84 An das Vermögen der Poiesis hat die Poetisierung menschlicher Endlichkeit im Lichte des ganz Anderen interessanterweise nicht gerührt. Das demiurgische Selbstbewußtsein des Menschen ist bei aller poetischen Selbstentblößung intakt geblieben. So sind keine Klagen darüber bekannt geworden, daß der Mensch nicht selber – pankratorisch – das anfängliche Tohuwabohu geordnet, Licht und Finsternis geschieden und die Erde gemacht habe. Wie er sich im Lichte des Besten und Höchsten sieht, peinigen ihn allein die Bande seines zeitlich-örtlichen Seins im Verein mit den Grenzen seines Wissens. Denn das gehörte zusammen: alles zu wissen, was war, ist und sein wird, und ewig und überall zu sein. Die Spiegelung eigener Endlichkeit als Gefangenschaft und Unfreiheit läßt den Menschen sich selbst als ein Nichts sehen. Maßgeblicher Bezugspunkt ist die zeitliche Endlichkeit. Eintagsfliegen. Was ist schon wer, was nicht wer? Eines Schatten Traum ist der Mensch. 85 Sieh, nur handbreit hast du meine Tage gemacht, und meine Lebenszeit ist wie nichts vor dir. Ja, ein Hauch nur ist alles, was Mensch heißt. 86

Nicht als poetische, sondern als philosophische Selbstbeschämung findet das bei Martin Heidegger seine Deutung in einem dreifachen Grund- und Schuldsein des Menschen an seiner »Nichtigkeit«, in diesem Fall an seiner Schuld, nicht causa sui zu sein. M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 84 f. 85 Pindar, Pythien, VIII 95 f. Vgl. Aischylos, Agamemnon 839: εἴδωλον σκιάς. Sophokles, Fragment 13: ἄνθρωπός ἐστι πνεῦμα καὶ σκιὰ μόνον. Hiob 8, 9: σκιὰ γάρ ἐστιν ἡμῶν ἐπὶ τῆς γῆς ὁ βίος. 86 Psalm 39, 6; vgl. 39, 7; 90, 5; Hiob 14, 1. 84

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Der Mensch im Spiegel der ›Menschlichkeit‹

Der leibhaft-lebendige Mensch sieht sich als einen Schatten, einen Hauch, ein Nichts, weil es mit ihm – kurz über lang – zu Ende geht. Bleibt aber der Mensch nicht am Leben, dann bleibt auch für ihn nichts. Alles Handeln, Schaffen und Erwerben im zeitlich-endlichen Leben ist eo ipso vergeblich. 87 Sich beim Anblick des fortwährenden Wechsels der Gezeiten des Meeres und seines sich unablässig wiederholenden Wellenschlags gegen die Küste auf die Kürze und Schwäche des eigenen Lebens gestoßen zu sehen, geschähe zu Unrecht. Das Meer hat dem Menschen an ›Leben‹ nichts voraus, was er sinnvoll auf sich beziehen könnte. Wer sich mit Gras und blühenden Blumen real vergleicht, weil auch ihn die Stätte nicht mehr kennt, geht einmal der Wind darüber, wo er zu Hause war 88, verfährt nicht besser. Kein Mensch hätte Grund zur Freude, es mit der ›Unvergänglichkeit‹ der Winde und Stätten dieser Erde aufzunehmen. Natur mit ihren Kräften, Gezeiten und Dimensionen eignet sich schwerlich, um das gemeinsam gewonnene Selbstbewußtsein seines endlichen Lebens zu kränken. Sie dient allenfalls als Gleichnis und ist es nicht selbst, durch die er sich in seiner Endlichkeit herausgefordert sieht, begegne sie nun freundlich oder feindlich. Erschaudert der Mensch vor den ungeheuren Dimensionen des Weltraumes und der Weltzeit 89 , droht er sich in ihnen zu verlieren, dann liegt das nicht an diesen Unmaßen des Universums, sondern am Menschen selbst: er kündigt die Bejahung seiner Endlichkeit auf, indem er beginnt, sich im Optimalen und Maximalen, das ihn unendlich übersteigt, zu spiegeln. 90 Psalm 39, 6; 7; Prediger 1, 3; 2, 21; 3, 9. Psalm 113, 16 f. 89 Zum ›Auseinanderfallen‹ von Lebenszeit und Weltzeit, Lebensraum und Weltraum als ein vom antiken Wirklichkeitsbegriff gelöstes neuzeitliches Problem siehe H. Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit. 90 Für Pascal gilt vom Menschen: n’est produit que pour l’infinité. Das ist genau der Mensch, der zum unendlichen Programm des theoretischen Fortschritts als des Fortschritts einer Erfahrung gebraucht ist (Pascal: l’homme 87 88

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Endlichkeit, wie sie der Mensch im Verhältnis zu signifikant Anderen und zum Tod, zum eigenen und zu dem der Anderen, immer neu bildet, gibt Halt soweit das Leben reicht. Wer sich aber aus der lebensbefähigenden Praxis und Erfahrung löst, nicht jeder und nicht alle Realität zu sein, nicht für immer und nicht überall zu sein, nicht alles zu können und alles tun zu müssen, nicht alles zu wissen, wer sich demnach nicht länger im Verhältnis zu Anderen und zum Tod lebensbefähigend zu beenden versteht, gibt auf ganz bestimmte Weise sich selbst auf: er wird haltbedürftig an etwas, das per definitionem nicht dazu taugt: am Unendlichen. Bei den Unsterblichen und Himmlischen Halt zu suchen, wie es die Konsequenz dieser Poesie ist, verlangt ja, sich in die unendliche Abfolge der Zeiten und die unendlichen Weiten des Himmels zu verlieren, in die unendliche Ferne und Andersheit des Besten und Höchsten. Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden. 91

Ohne Zweifel, – die Poetisierung menschlicher Endlichkeit im Spiegel des ganz Anderen mutet dem Menschen den Verlust seines lebendigen Selbstbewußtseins zu, sei es um sich wirklich universel). Siehe dazu Blumenberg, ebd., S. 173–177. Kant hat die entsprechende Entselbstung des endlichen Menschen für ein unendliches Programm des praktischen Fortschritts formuliert: »Die völlige Angemessenheit des Willens aber zum moralischen Gesetze ist Heiligkeit, eine Vollkommenheit, deren kein vernünftiges Wesen der Sinnenwelt in keinem Zeitpunkte seines Daseins fähig ist. Da sie indessen gleichwohl als praktisch nothwendig gefordert wird, so kann sie nur in einem ins Unendliche gehenden Progressus zu jener völligen Angemessenheit angetroffen werden, und es ist nach Principien der reinen praktischen Vernunft nothwendig, eine solche praktische Fortschreitung als das reale Object unseres Willens anzunehmen. Dieser unendliche Progressus ist aber eben nur unter Voraussetzung einer ins Unendliche fortdauernden Existenz und Persönlichkeit desselben vernünftigen Wesens (welche man die Unsterblichkeit der Seele nennt) möglich.« I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, V, 122. 91 F. Hölderlin, Frankfurter Ausgabe, Bd. 9, S. 104.

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für ganz und gar nichtig zu erkennen, sei es um die neue und gänzlich unbegreifliche Chance zu sehen, es den Unsterblichen und Himmlischen gleichzutun. So findet er angesichts des Unendlichen dennoch Halt: entweder im poetischen Ja zur eigenen Vergänglichkeit und Ohnmacht als unabänderlichem Geschick, oder im poetischen Ja zur Hoffnung, unter anderen Umständen selbst unendlich zu sein. Um den Halt, den das Unendliche gibt, nicht mißzuverstehen, muß klar gesehen werden, daß und inwiefern der Mensch sich allein in den eigenen zeitlichen und räumlichen Möglichkeiten als endlich und lebensbefähigt erfährt. Jede Spiegelung, durch die er sich selbst als Mensch sieht und entsprechend Selbstbewußtsein ausbildet, ist ein Vollzug seiner Endlichkeit: ein Halt- und Einhaltfinden. Er braucht dazu das Gesicht des Anderen, seine lebensteilige Zuwendung, aber auch das, was sich als Menschliches geschichtlich objektiviert und in Institutionen eine Existenz von relativer Dauer gefunden hat. Institutionen, in denen sich der Mensch als Mensch spiegelt, sind in sich Wertschätzungen der Endlichkeit. Der endliche Mensch, insofern er als solcher nicht jeder ist, findet Halt in Wertschätzung und Ansehen seines Berufes (Berufsstandes), insofern er als solcher nicht überall ist, in Wertschätzung und Liebe seiner Heimat, insofern er als solcher nicht für immer ist, in der Wertschätzung (auch Würde) seines Lebensalters. Alle Institutionen dieser Art sind der Gefahr der Verselbständigung und mit ihr der Gefahr, sich in ihrer Funktion als Halt zu verkehren, ausgesetzt. Das ist von besonderer Bedeutung für den Halt, den das Unendliche gibt, insofern es sich ausgezeichnet dazu eignet, in seiner haltgebenden Funktion mißbraucht zu werden. Ehre ist ein vorzügliches Beispiel dafür, wie Menschen in einem geschichtlich institutionalisierten Gemeinsamen ihren endlichen Halt finden und sich zugleich der Gefahr aussetzen, ihn als Halt zu pervertieren. Nicht anders als Berufsstand, Heimat, Lebensalter, aber auch als Ehe, Volk usw. tritt Ehre als 106 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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etwas in Erscheinung, das auf seine Art objektivierbar ist. Sie ist Sache der öffentlichen Schätzung und Achtung (τιμή) – z. B. eines Standes. Menschen dieser – eigenheitlichen – Ehre internalisieren sie als tragendes Moment ihres lebensbefähigenden Selbstbewußtseins. Indem sie – selbstbewußt – auf die Ehre ihres Standes achten, stehen sie zusammen: mit Leuten gleichen Standes gegen Andere. Ehre gibt Halt, ist Halt. Allerdings kommt es entsprechend darauf an, daß sich die Standesleute in ihren ›Gegnern‹ als Menschen spiegeln, soll sich ihre Ehre nicht verselbständigen und die eigene Eigenheit, in Gegnerschaft zu der der Anderen, für sie selbst zum Selbstzweck werden. Wer auf seine Ehre hält, leidet nicht an Raum- und Zeitverlorenheit. Gelingt es, auf eigene Ehre im Einander der Eigenheiten (und Ehren) zu halten, dann finden Menschen in den sie unterscheidenden Schätzungen den endlichen Halt – sie teilen ihr Gehaltensein. Das ist lebensbefähigende Lebensteilung im Unterschied der Eigenheiten (und Ehren). Wird allerdings die eigene Eigenheit zum Zwang, an jedem Rache zu üben, der Fremdes an sie heranträgt und gar in sie hineinmischt, zum Zwang unbefleckter Identität, dann findet sie als solche nicht Halt im einander Beenden mit unterschiedenen Anderen. Sie spiegelt nurmehr sich selbst – ohne Sinn für den Menschen als Menschen. Aus dem lebensbefähigenden Halt am Eigenen im Einander ist der lebensbedrohliche Halt rein am eigenheitlich Gleichen geworden: der eigene Stand gerät zur festen Masse des Unmenschlichen weil Diskriminierenden inmitten von Menschen. Noch krasser zeigt sich die Gefahr des Inhumanen und der Perversion des Haltgewährens, wenn Ehre als die des Einzelnen auftritt. Ehre heißt dann soviel wie: sich rein und einzig aus dem eigenen Selbst ein Gewissen machen. Das lebensbefähigende Selbstwertgefühl verkehrt sich in absolute Intoleranz gegenüber ›moralischen‹ und ›rechtlichen‹ Verletzungen. Diese Art von ›persönlicher‹ Ehre zeigt mit ihrer praktischen Selbstverlogenheit deutlich einen pathologischen Zug. 107 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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Seinen lebenspraktischen Halt kann der Mensch grundsätzlich nur bei sich selbst finden: von Mensch zu Mensch, von Mensch zu Menschlichem. Orte und Zeiten z. B. gewähren heimatlichen Halt nur, wenn sie gemeinschaftlich und gesellschaftlich bestimmt sind. Heimat in einem akzeptablen Sinn 92 ist undenkbar ohne glückende Lebensteilung, ohne gemeinsame Bildung von Endlichkeit. Heimat ist ihrer Natur nach nichts Beschränktes, keine lebenspraktische Negation. Sie ist vielmehr der Name für die Praxis der Endlichkeit, insofern sie ›am Ort‹ an der Zeit ist. In DER Zeit, in DEM Raum und in DER Natur heimisch zu sein, hat der Mensch weder Möglichkeit noch Bedürfnis. Endlichkeit läßt jede Zeit (χρόνος) für den Menschen durch die Gunst der Stunde (καιρός) geprägt sein, jeden Ort durch die Eignung für das Einander des Wohnens und Handelns. 93 Auf den ersten Blick sprengt die Spiegelung in den Unsterblichen und Himmlischen alle gesetzten Maßstäbe lebenspraktisch fruchtbarer Selbstsicht. Eine radikale Entfremdung von sich und seiner Welt zeichnet sich für den Menschen ab. Entweder ist ›diese‹ Welt in ihrer unfreien und nichtigen Endlichkeit für ihn alles – dann schätzt er sich selbst nicht mehr, oder er setzt alles auf ›jene‹ Welt, die als Versprechen und Hoffnung gänzlich neu und unbegreiflich vor ihm liegt – dann überschätzt er sich. Die Spiegelung im Unsterblichen und Himmlischen, Optimalen und Maximalen zeigt, so gesehen, den Menschen sich selbst, wie er für sich in dieser Welt unannehmbar, in jener unerreichbar ist. Wie aber jene ›Unannehmbarkeit‹ seine Endlichkeit ist, so diese ›Unerreichbarkeit‹ seine Unendlichkeit. Die Poesie bietet damit, recht besehen, kein Paradox an, verspricht dem Menschen nicht Halt in dem, was schlechthin ohne Halt H. Bausinger, Heimat und Identität, S. 28. Vgl. R. Marten, Heideggers Heimat. 93 Zum Begriff einer praktischen Qualität von Zeit und Raum siehe bereits Aristoteles, Nikomachische Ethik, I 4 1096a 26 f. Zum Problem des Haltfindens in bebauter Landschaft siehe R. Marten, Baulandschaft und Heimat. 92

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und Einhalt ist. Poesie ist nicht in einem empirisch-wissenschaftlich gemeinten Sinne realistisch. Das in der Spiegelung aufscheinende Unendliche ist seiner wohlverstandenen Natur nach nichts, worin ein Mensch haltlos dem Taumel des horror vacui verfallen könnte. Ein Unendliches, das dazu Gelegenheit und Anlaß böte, wäre nichts Widerspiegelndes, sondern die reine, alle Sichten verschlingende Aussichtslosigkeit. Gerade das Unendliche der Himmel und der Zeiten, wie es die Poesie dem Menschen vorhält, gibt ihm Halt, gebietet ihm Einhalt, läßt ihn sich selbst als Mensch sehen. Das Unendliche, das sich für den Menschen in den Unsterblichen und Himmlischen spiegelt, ist ohne Widerspruch endlich, weil es im Menschen selbst liegt: in seiner Poesie. Bildet der Mensch – poetisch – ein ganz Anderes zu sich, dann darf er eben nicht vergessen, im selben Zug sich selbst zu poetisieren: er ist damit Reflex des Unendlichen, ob er sich nun als ›ewig‹ von ihm geschieden versteht oder als einst mit ihm vereint. Wer seine Endlichkeit als Gefangenschaft poetisiert, dichtet für gewöhnlich zugleich an seiner neuen und freien Heimat im Einst. So sieht er sich bloß zeitlich und irdisch in seinem jetzigen Leben, ewig und himmlisch im künftigen. Beides gehört poetisch zusammen. ›Bloß Mensch‹ – immer wieder ist zu realisieren, daß bereits und vor allem dieser Gedanke Poesie ist. Mit der Spiegelung im Überzeitlichen und Überirdischen kann der Mensch, der bloß Mensch ist, lebenspraktisch sinnvoll umgehen und seinen Halt finden, weil sie als Poesie das Menschliche gar nicht verläßt. Was den Menschen unendlich überragt, liegt in ihm selbst: in der von ihm geschaffenen äußersten Spiegelspannung der Selbstsicht. In der Bildung des Spiegels und im Vollzug der Spiegelung bringt die Poesie den Menschen auf den Weg einer selbstauslegenden Annäherung an das Unendliche (tendenzielle Entfernung von Tod und Erde) und damit zu einem Selbstüberstieg, zugleich aber entfernt sie ihn entsprechend davon und führt ihn zu seiner Selbsterniedrigung, Selbstentsagung, Selbstbeschämung und Selbstmißachtung: 109 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Der Mensch im Spiegel der ›Menschlichkeit‹

Was ist doch der Mensch, daß du ihn groß achtest. 94

Die Geschichte des Menschen als Menschen in der griechischrömischen und jüdisch-christlichen Kultur ist nicht allein die Geschichte der Entfernung vom Untier als der sittlichen Unfreiheit im Menschen selbst, sondern auch die der Entfernung von der als Unfreiheit poetisierten Endlichkeit. Der Mensch im Spiegel dieser Kultur erlebt die Geschichte seiner tendenziellen Emanzipation in doppelter Hinsicht: sich von den Zwängen seiner triebhaften Kräfte zu befreien und von den selbstgebildeten Ängsten und Schuldgefühlen seiner zeithaft-irdischen Endlichkeit. (Poesie als Faktum genommen läßt auf Erwägungen wie Unterwerfungsinstinkt und Ehrfurchtstrieb verzichten.) In diesen zusammenspielenden Geschichten des selbstbewußten Menschen zeichnen sich keine Fortschritte ab. Der Mensch wird, so oder so, nicht menschlicher, nicht freier. Die ›untierische‹ Barbarei bleibt gleich nah, der Himmel gleich fern. Die Prinzipien der Moralität können Fortschritte machen, die Entfaltung der Poesie. Das gelebte Leben bleibt von diesen ›Befreiungen‹ so gut wie unberührt. Die Evolution denkt in zu großen Zeiträumen, als daß sie für die Natur des geschichtlichen Menschen erkennbare Änderungen in Aussicht stellen könnte (etwa die Entwicklung der Großhirnrinde mit ihren ›moralischen‹ Folgen). Die poetische Erwartung eines ewigen himmlischen Lebens und die Hoffnung darauf hat aber als solche sowieso mit realistischen Begründungen und Erfüllungen nichts im Sinn. Wenn schon bei den menschenweit auftretenden Paradiesträumen Realaufklärung verlangt sein sollte, dann wäre bei ihnen gut an Todesphantasien zu denken. Zudem ist zu berücksichtigen, daß zu allen Zeiten der uns bestimmenden Kultur Menschen am Werk waren, ›gewillt, Bösewichter zu sein‹ 95 , und ebenfalls Menschen, die es zu Hiob, 7, 17. In poetischer Gestalt: Richard III. bei Shakespeare und Jago im Othello von Arrigo Boito.

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Der Mensch im Spiegel seiner poetischen Transzendenz

keiner Zeit ihres Lebens für sich auf eine Spiegelung im Unsterblichen und Himmlischen haben ankommen lassen. Poesie ist nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Sie kann lebensbefähigende aber auch lebensbedrohliche Folgen haben. Kennt die Geschichte der Poetisierung menschlicher Endlichkeit aus ihrer Entgegensetzung zur Unendlichkeit keinen praktisch bedeutsamen Fortschritt, so ist sie darum nichts Harmloses, das gleichsam auf der Stelle tritt. Die poetisch gebildete Unendlichkeit im Menschen ist auf ihre Art keine weniger gefährliche Instanz für ihn als das sogenannte Untier in ihm. In der Poesie ewiger und himmlischer Freiheit liegt nichts geringeres als eine Aufkündigung aller lebenspraktisch in Gebrauch genommenen Freiheit als Freiheit. Verselbständigt sich Poesie, lädt sie nicht mehr dazu ein, frei an ihr mitzuwirken (mitzuspielen) und sie als Poesie zu praktizieren, sondern tritt sie von außen an den Menschen als dogmatische 96 und realistische Forderung heran, dann bedroht sie sein Selbstbewußtsein: sie droht ihn als Menschen unfrei zu machen und blind ›fremden Mächten‹ zu unterwerfen. Der lebensbedrohende Triumph der dogmatisierten Ohnmacht des Menschen bestünde darin, daß er die poetisierte Ohnmacht als fremde und unverfügbare Realität bejaht, anstatt gerade in der Poesie des spiegelnden Unendlichen eine lebensbefähigende Bejahung seiner Endlichkeit zu finden. Das ›Untier‹ in ihm kann sich dann für seine selbstbewußte Lebensführung gegenüber der Unart des Unendlichen in ihm geradezu noch harmlos ausnehmen. Sobald von dem, was eigentlich zum Spiegeln geschaffen ist, unbedingte Forderungen ausgehen, besteht Gefahr für das selbstbewußt zu führende Leben. Mythen und Legenden von Wesen, die den Menschen unendlich überragen, aus denen absolute Verbindlichkeiten für Wo sich Dogmatik, und sei es auch nur in Ansätzen, selbst als doxologisch und das heißt als poetisch versteht, gilt das natürlich nicht. Siehe E. Schlink, Die Struktur der dogmatischen Aussage als ökumenisches Problem, S. 251–306.

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Der Mensch im Spiegel der ›Menschlichkeit‹

menschliches Handeln herausgelesen werden, haben ihren poetischen Charakter verloren. Sie stehen nicht mehr der mitspielenden, Selbstinszenierung des Menschen offen, sondern bedrohen seine lebenspraktisch bewährte und benötigte Freiheit. Die Wahrheit des den Menschen spiegelnden Unendlichen muß eine Wahrheit der Poesie bleiben, darf nicht zu einem wahnhaften Realitätsbezug ausarten, soll der Mensch damit frei und befreit leben können. Kann jemand nurmehr leben und für das Leben Halt finden, wenn er sich als unsterblich ›weiß‹ und des Himmels ›gewiß‹ ist, dann muß er – internalisiert-unbewußt oder bewußt – dazu stehen, nicht ohne Poesie leben zu wollen und leben zu können. Wissenschaftliche ›Aufklärung‹ etwa wäre für ihn ›tödlich‹. Poesie als Entwurf und ritualisierte Praxis ist jedenfalls nichts, was sich naturwissenschaftlich als Schwindel entlarven ließe 97, sondern ist von eigener Wahrheit: der Mensch sieht und versteht sich in der Tat so und handelt entsprechend. 98 Tritt aber dogmatisches ›Wissen‹ auf, wo eigentlich Poesie zuhause ist, dann macht es mit seiner Forderung, poetisch Gespiegeltes realistisch zu sehen, menschliches Verhalten zum Wahn. Ist Poesie nicht realistisch mißzuverstehen, hat ihre Welt für den Menschen dennoch Realität. Selbst dort, wo sie ihre schmückende und feierliche, änigmatische und mystische Art hervorkehrt, verläßt sie der ihr eigene Realitätssinn nicht. Der Mensch, wie er geschichtlich in Erscheinung tritt, lebt nicht vom Brot allein. Er braucht auch ›himmlisch Manna‹ – mit einem Wort: er braucht Poesie. Taugt dem Menschen seine Erkenntniskraft dazu, ihn bei seinem Erd- und Weltaufenthalt zu orientieren, damit er, nicht zuletzt, für seine leibliche Ernährung sorgen kann, dann hat es keinen Sinn, darum himmlisches Manna für Zur Auseinandersetzung mit Bertrand Russell, der in jeder dichterischen Aussage eine falsche Existenzbehauptung erkennt, siehe R. Marten, Existieren, Wahrsein und Verstehen, S. 99 ff. 98 Zur Unterscheidung eines Handelns aufgrund von Poesie und einer folie à deux siehe R. Marten, Der menschliche Tod, S. 138 f. 97

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Der Mensch im Spiegel seiner poetischen Transzendenz

unerkennbar und irreal zu erklären. In den Gestaltungen und Bewegungen der Poesie aus Worten, Klängen, Körpern und Farben wird es reichlich angeboten. Kants Gedanke des ›als ob‹ ist von Grund auf irreführend. 99 Er suggeriert entsprechend der Einheit der Vernunft eine solche der Realität, die sich nach theoretischer Erkennbarkeit und praktischer Verbindlichkeit unterscheidet. Wer aber ein Trostwort vernimmt, als ob es himmlisches Manna sei, hat seinen Bedarf an Poesie in nichts gedeckt. Lebt einer im Vertrauen auf Unsterbliche und Himmlische, dann macht er aus sich selbst und für sich selbst und auch mit anderen reale Erfahrungen. Alles geben Götter, die unendlichen, Ihren Lieblingen ganz, Alle Freuden, die unendlichen, Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz. 100

Freilich ist nicht jede Erfahrung, die einer aus sich und für sich macht, Poesie. Halluzination, Rausch, Wahn (folie à deux), um vom Traum nicht zu reden – das sind Realitäten, die den Menschen um seinen Realitätssinn bringen, der ihm die Orientierung in der Welt des Brotes erlaubt. Dazu aber führt und verführt Poesie in keiner Weise. Die platonische Tradition sieht alle Poesie im Vergleich mit der trompe l’oeil-Malerei. Sie unterstellt ihr als beste Absicht und Möglichkeit, vorgegebene Realität der Brotwelt so ähnlich wie nur möglich nachzuahmen und durch bloß poetische – abweichende – Realität täuschend zu vertreten. Doch Poesie bringt dem Menschen eine eigene Art von Realität, die der naturwissenschaftlich und leibhaft nutzbaren schon darum an Realität nicht nachsteht, weil sie mit ihr überhaupt nicht sinnvoll vergleichbar ist. Dazu verleitet nur immer neu zum einen die Phantasie, die in der Poesie mitwirkt, indem sie für ihre Sichten Bildstücke der Brotwelt requiriert, zum an-

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Kritik der reinen Vernunft, A 619 / B 647. J. W. Goethe, Gedichte aus dem Nachlaß.

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Der Mensch im Spiegel der ›Menschlichkeit‹

dern das kalkulierte realistische Mißverständnis der Poesie, das sich Dogmatiker zunutze zu machen suchen. Poesie ist und bleibt ein Spiel, eine Inszenierung des Menschen, freilich ein Spiel voller Ernst und Realität. Das spielend-ernste Verhältnis zu Unendlichkeit und Unsterblichkeit ist ein Zeugnis poetischer Realität unter vielen, und damit eben ein Zeugnis von Realität. Wer den poetischen Charakter der Spiegelung im ganz Anderen zur eigenen Endlichkeit verkennt, meint im Spiegel der Unsterblichen und Himmlischen eine solidarische ›objektive‹ menschliche Erfahrung auszumachen. Er hat dann nicht den poetisierten Lebensvollzug eines endlichen Menschen im Blick, der sich aus ›seiner‹ Unendlichkeit versteht, sondern den Begriff des Menschen, den er aus seiner dogmatisch-realistischen Schätzung ableitet. Den Menschen, der sich über sich selbst verständigt, aus dem Verhältnis zu einem real und objektiv Unendlichen zu begreifen, ist nicht weniger falsch als entsprechend beim Tier anzusetzen. Bemerkenswert ist, daß es gerade Dogmatiker sind, z. B. Augustinus, die den Menschen im Spiegel eines real Unendlichen auf einen Begriff zu bringen meinen, um dann doch relativ willkürlich aus der vorgeblichen Solidarität der Menschen auszubrechen, indem sie sich für das ›grundlose‹ Auserwähltsein Weniger stark machen. Die Poesie entwickelt keinen spekulativen Begriff des Unendlichen, der die Unsterblichen und Himmlischen vollends dem endlichen Menschen entrückte. Das als Spiegelverhältnis des Menschen Poetisierte driftet niemals völlig auseinander, auch wenn es in extremis angesiedelt ist. Dabei bleibt es sich gleich, ob es eher danach aussieht, sie dichte den Unsterblichen sterbliche und den Himmlischen irdische Züge an oder umgekehrt den Endlichen unendliche. Ob nun die Himmlischen lachen und lieben, zürnen und eifern oder ob der Mensch nach ihrem Bilde gestaltet ist – die Anthropomorphie ist selbstverständlich leitend und garantiert Poesie. Schließlich ist es der Mensch, der sich spiegelt. Erhält er im Lichte des ganz Anderen auch selbst ganz andere Züge, dann sind es doch ganz andere menschliche. 114 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Der Mensch im Spiegel seiner poetischen Transzendenz

Bei aller poetisch gegründeten Selbstsicht eigener Unfreiheit und Nichtigkeit mit der praktischen Folge, nach Möglichkeit alles zu unterlassen, was poetisch als Hybris gedeutet wird – die Poesie zerbricht niemals das Selbstbewußtsein des Menschen. Ein schönes Zeugnis dafür ist die Schönheit der Menschenfrauen, die in allen Dichtungen des den Menschen unendlich Übersteigenden als etwas erhalten bleibt, dessentwegen der endliche Mensch Bewunderung und selbst Neid verdient. Den Stolz der Frauen auf sich selbst 101 , auf ihre Kinder 102 und auf ihr Können bestrafen die Unsterblichen, aber sie begehren sie als Frauen: Da aber die Göttersöhne (ἄγγελοι τοῦ θεοῦ) sahen, daß die Töchter der Menschen schön sind, nahmen sie von ihnen zu Frauen, welche sie nur wollten. 103

Himmlische und Menschen spiegeln im unterschieden Eigenheitlichen einander – als Menschen, gleich Menschen. 104 Die Poesie des Endlichen und Unendlichen bleibt in jedem ihrer Teile Poesie: sie bleibt im Bereich des Menschlichen, bleibt Inszenierung des Menschen.

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Jesaja 3, 16–24; 32, 9–14. Ovid, Metamorphosen VI, 151 ff. Genesis 6, 2. Ovid, ebd., VI, 24 ff.

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III. Der Mensch im Spiegel reiner Vernunft

1. Die Vorhaltung philosophischer Vernunft Philosophie hält dem Menschen als Spiegel ›die‹Vernunft vor. In ihr allein könne und solle er sich als Mensch erkennen: im Lichte von Selbsterkenntnis, reiner Theorie, Erleuchtung, Wesensund Gottesschau, Aufklärung, gesellschaftlicher Emanzipation. Die Auffassungen von Vernunft wandeln sich, die Entsprechung von Vernunft und Mensch bleibt: soweit er sich in ihr spiegle, sei er Mensch, menschlicher Mensch, wenn nicht gar ›göttlicher‹, soweit nicht, zum Menschen bestimmter ›Mensch‹, wenn nicht gar – instinktloses – Tier (tierischer ›Mensch‹). Zu keiner Zeit haben sich Menschen im philosophisch vorgehaltenen Spiegel so recht als solche erkennen können. Vernunft, philosophisch präsentiert, läßt den Menschen sich sehen, wie er unterwegs zu sich selbst ist: weg von einem Unmaß an Unvernunft, hin zu einem satten Maß an Vernunft. Welche Namen das ›Tier‹ hat, von dem der Weg wegführt (Dummheit, Egoismus, triebhafter Zwang, …), und welche der ›Gott‹, zu dem er führt (Spiritualität, Frieden, Freiheit, …), bleibt sich in der leitenden Sicht gleich: der ›Mensch‹ ist noch nicht Mensch. Er wird es sein, sobald er vollends vernünftig ist. Der Mensch hat Vernunft und gebraucht sie. Absichten, Hoffnungen, Fragen, Spielzüge, Pinselstriche, Verordnungen, Überlegungen – wie banal, ›durchsichtig‹, unnütz, vergeblich, selbst töricht und schädlich das im einzelnen sein mag: es zeugt von Vernunft. Irrationalität kommt, wo eigentlich Rationalität gefragt ist, kaum rein vor. Nicht mehr bei Trost, bei Sinnen und bei sich sein, vielmehr im Zorn, Rausch und Wahn – das sind Raritäten im Alltag menschlicher Lebensäußerungen, und selbst 116 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Die Vorhaltung philosophischer Vernunft

im Verwünschen, in der schweren Zunge und im Irrwitz geistert noch Vernunft, im Wüten und die Realität Verfehlen. Wie auch der Mensch Leben teilt, es bewältigt, sich lebendig äußert und in etwas vertieft – kein praktisches, poietisches und theoretisches Verhalten kommt ohne Vernunft aus, vieles ist im Gegenteil durch sie geprägt. Waffen, Werkzeuge, Schmuck, Kultgerät, Spielzeug – wir sollten nicht zögern, angesichts der produktiven Leistungen des Menschen, wie sie die Kultur- und Zivilisationsgeschichte zutage fördert, von geglückter Vernunfttätigkeit zu sprechen. Autos und Straßen, Kraftwerke und Computer, Transistorradios und Klimaanlagen, Videospiele und Mikrowellenherde erinnern nicht nur produktive Vernunft, sondern sind allerorten dingfest gewordene instrumentelle Vernunft im Dienste des pursuit of happiness. Und nehmen wir nach Belieben Freundschaft oder Feindschaft ins Visier, Gefolgschaft oder Herrschaft, Verständigung oder Streit, Arbeit oder Vergnügen, dann müssen wir feststellen: wo und wie es auch immer gelingt, auf lebendige Art Mensch unter Menschen zu sein, glückt für ihren Teil Vernunft. Zum Schluß haben wir sogar Institutionen zu nennen, in denen einem geradezu reinen Glück der Vernunft einige Dauer verliehen ist: das Bewußtsein, die Sprache, das Recht, die Verwaltung, der Verkehr, die Industrie, die Wirtschaft, die Wissenschaft, die Technik. 1 Steht es so, dann nimmt es wunder, wieso der Mensch im philosophisch vorgehaltenen Spiegel ein Bild von sich gezeigt bekommt, das mehr durch Unvernunft als Vernunft, durch Nichtmenschsein als Menschsein geprägt ist. Doch ehe noch Jürgen Habermas vertritt im Rückblick auf Max Weber als fundamentales Credo, daß die Inkarnationen und Formen instititutioneller oder kultureller Rationalität einen lebendigen Beweis für Vernunft erbrächten, die keine bloß instrumentelle (Weber: bürokratische) sei. So wieder Dezember 1986 bei einem Gespräch in Turin mit Gianni Vattimo und Gian Enrico Rusconi (La Repubblica berichtete darüber). Die Hoffnung, die sich mit diesem Credo verbindet, erweist sich in nichts als tragfähig.

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Der Mensch im Spiegel reiner Vernunft

wir uns über die Philosophie wundern, hat sie sich schon über uns gewundert. Philosophie, wie sie sich selbst versteht, nimmt ihren Anfang, indem einem vernünftigen Wesen Verwunderliches ins Auge fällt: ratione irritata, incipit philosophia. 2 Zu philosophieren heißt somit, das die Vernunft Irritierende als solches zum Verschwinden zu bringen. Das Verwunderliche kann und darf als scheinbar Irrationales in den Augen der Vernunft nicht bestehen bleiben, weil sonst das Verstehen und Begreifen auf Dauer vor Rätseln stünde, die im Grunde gar keine sind. Das die Vernunft Irritierende hat ohne Rest in eine vernünftige Erklärung aufzugehen. Wer sich über die Vorhaltung wundert, die die Philosophie dem Menschen macht, wird, eingedenk der Lehre von ihrem Anfang, am besten an sie selbst die Frage richten, was sie denn so sehr am Menschen irritiere, wie er leibhaftig in Erscheinung tritt. Ihre Antwort ist einmütig: sie irritiert am geschichtlichen Menschen schlicht dies, daß er ›nicht vollends‹ vernünftig ist. In der Art des Menschen, ›vernünftig‹ zu sein, sieht sie ein – existierendes – Paradoxon, das vor ihr keinen Bestand haben darf und kann, soll sie sich nicht selbst aufgeben: obwohl der Mensch eigentlich (seinem ›Wesen‹ nach) vernünftig sei, sei er es de facto nicht. Philosophie sieht den Menschen als Vernunftwesen und sieht sich dabei getäuscht: das Gespiegelte entspricht nicht dem ihm vorgehaltenen Spiegel. Von dieser Irritation glaubt Philosophie nur dadurch freikommen zu können, daß sie den Menschen auf den Weg der Vernunft bringt – sie ihm beibringt. Zu diesem Zweck verfährt sie appellativ, rhetorisch und ›argumentativ‹. Am liebsten würde sie dem Menschen seinen wenn nicht vollendeten so doch für den gesellschaftlichen Alltag zureichenden Vernunftgebrauch ›einsozialisieren‹ (Jürgen Habermas). Daß Vernunft etwa nicht der richtige Spiegel, der Mensch nicht für Philosophie (und Vernunft), allenfalls sie für ihn da ist, auf diese Bedenken ist noch keiner gekommen, der sich sein traditionell 2

Platon, Theätet 155d; vgl. Aristoteles, Metaphysik, I 2 982b 13.

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Die Vorhaltung philosophischer Vernunft

verbrieftes Recht nimmt, dem Menschen Vernunft als sein Wesen vorzuspiegeln und eben vorzuhalten. Das philosophische ›noch nicht‹ des Menschen übertrifft sein poetisches ›bloß‹ an Ungeheuerlichkeit, auch wenn es im Unterschied zu diesem bislang ohne praktische Folgen blieb. Der Mensch wird als Mensch vertagt – der geschichtliche Mensch könne sich in ›seinem‹ Spiegel gegenwärtig nicht als Menschen sehen, sondern allein voraussehen: utopisch, chiliastisch, als Ideal, dem bestenfalls näherzukommen sei. Zu keiner Zeit auf Erden sei der Mensch vollends er selbst gewesen. Das ist nicht vergleichbar mit den Verdächtigungen, daß Sklaven, Kinder, Frauen, auch Kranke nicht vollends Menschen sind, insofern die sich ja noch im je Anderen als Menschen aushalten zu lassen hätten. Die Verdächtigung wird aus Lebensverhältnissen von Menschen untereinander in das geschichtliche Verhältnis DES Menschen zu sich selbst verlagert. Jetzt taugt die menschlich selbstbewußte Welt der Griechen und Römer nicht mehr, kein Judentum und Christentum, kein altes Florenz und heutiges New York, um bereits das vorzuweisen, was man sich, philosophisch geurteilt, vom Menschen eigentlich und notwendig erwartet. Der geschichtliche Mensch hat sich dadurch nicht irritieren und von seiner Art vernünftig zu sein abbringen lassen. Er lebt genauso an der Philosophie vorbei wie sie an ihm. Die philosophische Spiegelung eines jeweils gegenwärtig unzureichenden, ja falschen, unter Vorspiegelung eines jeweils ausstehenden richtigen Vernunftgebrauchs hat auf die kulturelle und zivilisatorische Entwicklung menschlicher Lebensverhältnisse keinen nennenswerten Einfluß gehabt. So muß es nicht bleiben. Die Möglichkeit zeichnet sich ab, daß die Idee des vollends vernünftigen Menschen, ob Fehleinschätzung und Selbstanmaßung menschlicher Vernunft oder nicht, nicht im Esoterischen verpufft, sondern für den geschichtlichen Menschen praktische Bedeutung erhält. Das ›Raumschiff Erde‹ 3 scheint nun doch end3

Siehe schon H. Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 259 f.

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Der Mensch im Spiegel reiner Vernunft

lich, wenn auch nicht ganz freiwillig, auf die Erdherrschaft der Vernunft zuzusteuern. ›Eine Erde, eine Lebensart, eine Herrschaft‹ ist sinngemäß die Vorstellung, die heutige Philosophen vom endlich und gerade noch guten Ausgang der menschlichen Dinge haben. 4 Den Spiegel gilt es sich genauer anzusehen, mit dem Philosophie den Menschen, wie er in Gemeinschaften und Gesellschaften als geschichtliches Wesen leibt und lebt, Vorhaltungen macht, ihn lockt und zugleich programmiert. Es könnte der falsche und obendrein ein zu schlechter Letzt gefährlicher sein.

2. Die Vorspiegelung von Vernunft als menschlicher Eigenheit und Wesenheit Vernunft, wie Philosophie sie zur Spiegelung des Menschen verwendet, hat drei herausragende Merkmale: Reinheit, Wesenhaftigkeit und Bedeutsamkeit. Sie ist – theoretisch – losgelöst von aller ›menschlichen‹ Vitalität und Affektivität. Damit ist sie

U. a. Hans Lenk, Vittorio Hösle, Jürgen Habermas. Die abstrakte Idee von der Vernunft als dem allein richtigen Standpunkt, der ihr das Recht gibt, als Einer gegen alle aufzutreten und der damit bestens zur Alleinregierung geeignet ist, gehört seit Platon und Kant zum Arsenal jeder reputierten Philosophie. Ernst Tugendhat zitiert in seinem Buch Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung ganz in diesem Sinne zustimmend George Herbert Mead (S. 281): »Ein Mensch muß seine Selbstachtung bewahren, und es kann sein, daß er gegen die gesamte Gemeinschaft angehen muß, um diese Selbstachtung zu bewahren. Aber er tut es von einem Standpunkt, den er als den einer höheren und besseren Gesellschaft ansieht als es die ist, in der er existiert.« Die Erdregierung, die für sich nicht mehr die letzten Unterscheidungen des Moralischen (Gut und Böse) anerkennt, sondern schlechtweg vernünftig und gut ist, hebt mit der Moral zugleich das Politische auf, das auf der Unterscheidung von Freund und Feind basiert. (Siehe C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 26 ff.) Es darf nurmehr Freunde geben, das heißt nur Freunde dürfen existieren und am Leben bleiben.

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rein. 5 Sie ist nicht allein ein Vermögen des Menschen, ein Mittel, über das er verfügt. Nein, Philosophie erkennt in ihr zuvor sein Wesen und eigentliches Selbst. Schließlich ist sie, so gesehen, für den Menschen von einzigartiger praktischer Bedeutung. Sie gibt ihm nicht nur die Mittel vor, um Zwecke zu verfolgen, sondern sie setzt Zwecke und dabei nicht zuletzt sich selbst als Zweck: das vernünftige Leben als Zweck des Lebens und aller lebendigen Entwicklung. 6 Sie enthält damit, wie sie sich selbst versteht, anbietet und vorschreibt, im Prinzip die Lösung aller durch den Menschen selbst gestellten Lebensfragen. So weiß sie etwa vom Überleben der Menschheit zu sagen, wie es zu erreichen und warum es nötig ist. Die Idee der Reinheit, Wesenhaftigkeit und Bedeutsamkeit der Vernunft gehören zusammen: sie fokussieren – theoretisch – in einem Selbstverhältnis des Individuums. In diesem Verhältnis ist das Individuum nach dem Urteil philosophischer Vernunft als Vernunft sich selbst gleich: was es hat, das ist es auch. In seiner Identifikation mit der Vernunft nimmt es sie folgerichtig für sein Eigen und Selbst, um alles andere daraus auszuschließen, was es zwar auch ›hat‹, aber eben nicht ›ist‹. So gesehen ist das Individuum sich rein als Vernunft eigen, als nichts sonst. Es hat dann keine Chance, sich als Mensch zu verstehen, indem es sich im Einander-Spiegeln unterschiedener Eigenheiten als solcher entdeckte. Im Gegenteil. Es befindet sich insofern allein in einem Selbstverhältnis, das für Eigenheit erklärt wird. Für bewährte Eigenheiten wie die des Geschlechts ist dies das reine Ausscheidungsverhältnis. Mensch ist jetzt der Name für alle Wesen, denen Vernunft als Eigenheit zuerkannt wird. Allein das Selbstverhältnis dieser Wesen je für sich, nicht ihre Lebensteilung, begründet die Namengebung. Nicht jede Distanzierung von der Idee reiner Vernunft ist schon auf dem Wege, Vernunft in ihrer ebenso praktisch unlösbaren wie fruchtbaren Bindung an Vitalität und Affektivität zu erkennen, z. B. die der ›kritischen Rationalisten‹ nicht. 6 Siehe R. Marten, Leben und Vernunft. 5

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Bei sich und anderen allein die Vernunft für selbsthaft und eigenheitlich anzusehen, alles andere aber für fremd und wesenlos – das ist die theoretische Menschensicht der Philosophie. Ob sie taugt, stellt allem zuvor die Frage, ob denn Vernunft überhaupt als Eigenheit des Menschen zu begreifen ist. Eigenheiten, in denen Menschen einander als Menschen spiegeln, kommen nie ganz rein vor, stellen jedoch mit ihrer klaren Abgrenzung voneinander kaum je ein Problem dar. Begegnen Mann und Frau einander, dann ist es für gewöhnlich keine Frage, wer die Frau und wer der Mann ist – die Hormone des je anderen Geschlechts mögen im je eigenen noch so stark vertreten sein. Ein Arzt wird selber in mancher Hinsicht krank, sein Patient in vielfacher Hinsicht gesund sein – in ihrem Verhältnis zueinander besteht dennoch kein Zweifel, wem jetzt etwas fehlt, wem nicht. Ein Deutscher wieder kann sich als Europäer und Weltbürger fühlen, sich mit französischer Lebensart, römischem Glauben und jüdischer Intelligenz identifizieren – solange er deutscher Bürger mit deutschem Paß ist, gibt es für keinen Polizisten auf der Welt Probleme, seine staatliche Eigenheit festzustellen, ob das den Identifizierten nun beschämt, erfreut oder kalt läßt. Selbst ein Wechsel der Eigenheit, wie er aus Freiheit, unter Zwang und von Natur geschieht, verunsichert den Wechselnden, von ganz besonderen Fällen abgesehen, nicht im Bewußtsein seiner Eigenheitlichkeit. Wo der Wechsel statthat, gehört es gerade zur Eigenheitlichkeit des Menschen, daß sich ihre unterschiedlichen Phasen besonders deutlich voneinander abgrenzen. Daß ein Deutscher Amerikaner wird, ist für die Eigenheitlichkeit des Menschen im Prinzip gleich mit den Vorgängen, daß ein Kind erwachsen, ein Kranker gesund, ein Freier unfrei, ein Protestant Katholik wird. Selbst die (Um-)Wandlung eines Mannes in eine Frau ist von dieser grundsätzlichen Vergleichbarkeit nicht auszuschließen. Eigenheiten sind jeweils lebensteilig bedeutsame Unterschiede (und Gleichheiten), die eigens im Einander zu erfahren und wechselseitig wie auch je für sich zu be122 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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jahen sind. Sie brauchen ihre Entschiedenheit einfach für das gemeinschaftliche und gesellschaftliche Einander – sowohl im einander Unterscheiden (von Mann und Frau) als auch einander Gleichen (von Mann und Mann). Wer freilich eine Eigenheit bewahren will und die Identifizierung mit ihr nicht aufgeben kann, obwohl ihre Zeit vorüber ist, hat lebenspraktisch nichts Günstiges im Sinn. Zur Unzeit Kind oder Kranker bleiben zu wollen, ist pathologisch. Wenn ein Paulus in eigener Sache vertritt, geschlechtliche Keuschheit und Jungfrauenschaft sei besser (κρεῖττον) als eheliche Gemeinschaft 7 , dann kann das nicht darüber hinwegtäuschen, daß virginitas nicht als bleibende Eigenheit ›gedacht‹ ist. Ein Mädchen, das mit der ganzen Kraft seines Wesens nicht einwilligt, sich beizeiten im Einander der Geschlechter als Frau zu erfahren, das vielmehr für immer ›unerkannt‹ bleiben möchte, muß die bewahrte Eigenheit, wie eine Fabel lehrt, mit dem Wesenswandel bezahlen: Daphne bleibt Jungfrau, aber nicht als Nymphe, sondern als Baum. Gegen Apoll den Wechsel der Eigenheit zu verneinen, bedeutete, das Einander zu verweigern. 8 Beansprucht Vernunft im Namen der Philosophie überraschenderweise für sich, Eigenheit zu sein, und möchte sie mit sich als seiner einzigartigen Eigenheit ein Wesen des Menschen inthronisieren, dann gibt sie sich für seine bleibende und völlig reine Eigenheit aus. Bleibt sie nicht, ist der Mensch nicht mehr Mensch. Ist sie nicht rein, ist der Mensch nicht rein Mensch. Vernunft, wie sie dem Menschen eigenheitlich zugehören (als Wesen) und wie er sie entsprechend gebrauchen soll (als Vermögen), kann in philosophischer Sicht allein die reine Vernunft sein. Ihre Reinheit hat vor allem die Bedeutung, daß ihr keinerlei Affekt beigemischt ist. Platon sieht sie genau in diesem Sinne für einen selbständigen Seelenteil an, der klar getrennt von den

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1. Korintherbrief 7, 7–9; 26–28; 32–34; 37–38; 40; vgl. 9, 27. Ovid, Metamorphosen I, 487 ff.

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anderen zu identifizieren ist. 9 Natürlich ist die so gelungene ›Isolierung‹ der Vernunft, anders als die einer organischen oder anorganischen Substanz, eine rein theoretische. Sie zeigt aber doch als Vorgang, womit Vernunft ›von Natur aus‹ im lebendigen Menschen zusammenhängt und wovon sie allein im Geiste zu trennen ist. Aktive Vernunft (νοῦς ποιητικός, νοῦς πρακτικός und selbst νους θεωρητικός) ist bislang nie losgelöst vom leibhaft-lebendigen Menschen verifiziert worden. Vernunft, wie sie zu Wort und zur Wirkung kommt, führt in keinem ihrer Momente eine für sich isolierte Aktion durch – weder im Einen noch im Anderen und schon gar nicht in ihrem Einander. Sie ist in die Vitalität und Affektivität je des Einzelnen und seiner Eigenheiten eingebunden, ist Teil leibhaft-lebendigen Lebens und teilt notwendig dessen komplexe Interessenlage, baut auf seine Erfahrungen und folgt gegebenenfalls dem aus ihr sprechenden Gewissen. 10 Nun gibt es freilich, von der Philosophie lanciert, die Idee, ein Mensch könne rein aus Vernunft handeln. In diesem Falle würde reine Vernunft nicht im Sinne eines reinen Kalküls ein vorgegebenes Wenn mit einem Dann verbinden, sondern selber auch noch für ein ursprüngliches Wenn aufkommen. Rein aus sich selbst gäbe sie den Handlungsauftrag, kein Interesse leibhaftigen Lebens stünde dahinter. 11 Sokrates, möchte man glauben, hat den Schierlingsbecher aus reiner Vernunft getrunken – ein erster Märtyrer reiner Vernunft. Man wäre damit der AnPlaton, Politeia IV 436a-b. Wer gut kantisch darauf abhebt, daß reine Vernunft nicht zu erkennen sei, muß sich das Bedenken gefallen lassen, daß Unerkennbarkeit noch kein Existenzbeweis ist. 11 Zur Idee eines unparteiischen Standpunktes der Vernunft siehe S. Toulmin, Kritik der kollektiven Vernunft, S. 59 ff.; 560 ff. Wenn Toulmin dabei vertritt, »daß das Problem der Bestimmung eines ›unparteiischen Standpunktes der Vernunft‹ (orig.: ›impartial standpoint of rationality‹) grundsätzlich lösbar ist«, dann sagt er nur, daß die Vernunft für sich selbst schon damit klarkommt, sich für reine Vernunft zu nehmen, für Vernunft also, die wider alle Erfahrung lebenspraktisch in nichts gebunden ist. 9

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sicht, daß er es nicht aus Liebe zu Athen getan habe, nicht um seine Ehre als athenischer Bürger zu wahren, nicht um seine Ankläger und andere Bürger zu beschämen, nicht um mit seiner Lebensart praktisch Recht zu behalten, nicht um zu demonstrieren, wie eigentlich der Wohlfahrt eines Staates am besten gedient sei. Nein, nicht Liebe, Ehrsucht, Rachsucht, Trotz und Rechthaberei darf dann sein Handeln bestimmen, sondern allein die ›Liebe‹ zum Menschen, der reine Vernunft ist. Sehen wir uns jedoch des Sokrates Ende genauer an, wie es Platon überliefert 12 , dann will es gar nicht so rein vernünftig erscheinen. Die ›Vernunft‹ sagt ihm, er solle sein Leben frei enden lassen. Sie appelliert dabei an seine Gottesfurcht 13 und an seine politische Gesinnung. Die Vernunft, die hier das Wort führt, ist also gar nicht rein, sondern kultur- und gesellschaftsgeschichtlich ›getrübt‹. Sie dient im wesentlichen den Lebensinteressen des athenischen Staates. Die ›Vernunftregel‹ nämlich: ›Sind die Gesetze auch nicht ganz gut, so ist es zugunsten des Staates auf jeden Fall besser sie zu halten als zu übertreten‹ spricht schlicht das Interesse des Staates aus, eine Tatsache, die durch kein moralisches Räsonieren aus der Welt zu schaffen ist. 14 Bereits seinen vielgerühmten Kriegsdienst zugunsten Athens hatte Sokrates nicht mit reiner Vernunft ›hinterfragt‹. Wieviel aber auch dafür sprechen mag, ›blind‹ im Interesse des eigenen Staates zu handeln – es ist Staats-, kein Vernunftinteresse. Reine Vernunft, setzen wir sie weiterhin als möglich voraus, ist in diesem Falle wirklich blind. Wenn Sokrates Staatsinteresse über kurzsichtigen Egoismus stellt und athenischen Gesetzen wie auch göttlichen Geboten folgt, dann nimmt er sehr wohl einen allgemeinen Standpunkt,

Platon, Apologie, Kriton, Phaidon. In seiner Arbeit Der Tod des Sokrates weist Romano Guardini insbesondere auf religiöse Motive hin (S. 109 et alibi). 14 Platon, Kriton 50a–51c. I. Kant, Zum ewigen Frieden, »Anhang I«, VIII, 372 ff. 12 13

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aber noch längst nicht den abstrakt-allgemeinen der reinen Vernunft ein. Gib es durch Lebenspraxis internalisiertes Sippeninteresse, dann eben auch ein durch Vernunftgebrauch im Bewußtsein gewecktes Staatsinteresse. Es ist allerdings wahrscheinlich, daß die durch Lebenspraxis erworbene Art, den kurzsichtigen Egoismus in einen allgemeinen (allgemeineren) Standpunkt zu verlagern, tauglicher ist als die, die allein über das Bewußtsein läuft. Der ›rein‹ vernünftige Staat, wie ihn sich ein Philosoph ausdenken mag, ist noch lange nicht dem ›besten‹ vergleichbar, den ein weiser und gesetzgebender Politiker aus Erfahrung bestimmt: in dem ein Verbrecher genauso von allen, denen er nichts getan hat, wie von dem einen, dem er etwas getan hat, angeklagt und bestraft wird. 15

Die Utopie, daß jeder der Bürger für das Gesetz einsteht, entwirft nichts Lebens- und Gesellschaftsfeindliches. Sie hat insofern einen realistischen Zug. Wenn jedoch Sokrates in seiner selbstgewissen Unschuld den durch Verleumder bewirkten Schuldspruch akzeptiert, um den Gesetzen Athens aus Staatsvernunft treu zu bleiben, dann ist er auf bestem Wege, die Vernunft als das zu verlieren, was den Interessen unter anderem des Staates und seiner Bürger dient, um in der Staatsvernunft tendenziell der Vernunft selbst als Selbst- und Endzweck zu huldigen. Die ›Vernunft‹ des ›besser Unrecht erleiden als Unrecht tun‹ gibt sich zwar nicht-individualistisch und staatlich motiviert, lebt aber zu einem guten Stück von rein-vernünftiger Staatsutopie. In dieser ›Reinheit‹ der Motivation utopisch der Realität zu dienen – das übt ungeheure Faszination aus, ist aber doch Zeugnis eines in sich ambivalenten Handelns. Der rechte Sinn für ›reine‹ Utopie hebt den falschen Sinn für lebendige Realität als solchen nicht auf, auch wenn die Faszinierten davon noch so sehr überzeugt sind. Der Schrecken, mit dem die Athenische Arché sich behauptet, besteht nicht zuletzt im Schrecken dro15

Solon, in: B. Snell, Leben und Meinungen der Sieben Weisen, S. 99.

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hender Asebieverdächtigung. 16 Mit der Wahrnehmung des allgemeinen Interesses hat Sokrates auch dem Fortbestand dieses Schreckens gedient. Was an seiner Tat bleibt, ist das Faszinosum moralischer Gesinnung. Vernunft kommt dabei um ihre instrumentelle und dienende Kraft; sie verkehrt sich in schöne Vernunft: in introvertierte Praxis. Aufs abschreckendste hat Kant mit seiner Verstrickung in die rigoristische Devise ›besser Menschen an Leib und Leben zu Schaden kommen lassen wollen als allgemeine Vernunft‹ gezeigt, bis wohin es einen treibt, der utopisch-universalistische Vernunft – um einer vermeintlich moralischen Gesinnung und eines introvertierten Handelns willen – der Realität andient. 17 Könnte eine reine Vernunft es wirklich aus sich mit dem Menschen gut meinen, dann dürfte sich zunächst nur einmal der – theoretisch – rein vernünftige Mensch freuen und sein rein vernünftig-moralisches Glück genießen, nicht aber der lebendige Mensch, weil der ja notwendig mit dieser universellen Wendung der Dinge um seine – ›gewöhnliche‹ – Lebensfreude gebracht würde. Der geschichtliche Mensch ist und handelt nicht rein vernünftig. Politisch-praktische Vernunft, die ihm dienlich sein soll, darf darum auch nicht auf ein reines und das hieße wohl rein menschliches Interesse am Allgemeinen abgestellt sein. Das reine und allgemeine Interesse am Staate, das sich mit keinem eigenheitlichen Interesse deckt oder wenigstens in Verbindung bringen läßt, geht – theoretisch – ins Leere und Unvertretbare des allgemein Menschlichen. In Athen gibt es, infolge der Gesetzgebung Solons, das Staatsinteresse unter anderem als das Interesse der ›FünfhunJ. Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, S. 187. I. Kant, Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen, VIII, 426 f. Hier räsoniert er sogar noch den Schaden für Leib und Seele weg, weil es nur Zufall sei, was der Nichtlügner offenlasse. Daß Kant es freilich auch besser wußte, läßt sich unter anderem seiner Anthropologie in pragmatischer Absicht entnehmen: ohne Falschheit und Verrat könnten die Complotte der Bösen nicht hintertrieben werden (VII, 276).

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dertscheffler‹. Die klugen und beherzten Interessenvertreter unter ihnen sehen ein, daß sie auch einmal zu ihren und des Staates Gunsten, der sie ›scheffeln‹ läßt und für den sie es tun, bluten müssen – im übertragenen und selbst im wörtlichen Sinne. 18 ›Reines‹ Interesse ist ganz allgemein eine höchst suspekte Idee. Die Ideologie der universellen Koinzidenz von Egoismus und Altruismus, die den Menschen kopflastig und ohne jede eigenheitliche Selbstbehauptung agieren läßt – in Selbstbehauptung rein der Vernunft, geht nicht nur an der Lebensart des Menschen, wie sie aus seinem lebendigen Umfeld erwächst, vorbei, sondern begünstigt darüber hinaus Lebensfeindlichkeit von größter Tragweite. Es handelt sich mit ihr nicht um die Konzeption einer neuen Lebensart, sondern um die Infragestellung eigenheitlicher und gemeinschaftlicher Lebensbefähigung. Spiegelten sich Menschen tatsächlich in Sokrates als exemplarischem Menschen, um sich solcherweise als Menschen zu entdecken, dann könnte totalitären Staaten kaum besseres widerfahren. Die Verleugnung aller eigenheitlichen Lebensinteressen ›im Kleinen‹, verbunden mit der Opferbereitschaft für Allgemeines und Übergeordnetes, das, sofern es nicht abstrakt und utopisch, der Hort des allgemeinen Schreckens ist – Günstigeres kann sich ein Staat, auch in demokratischer Verfassung, für den Verfolg seiner – verselbständigten – eigenheitlichen Interessen der Machterhaltung nicht leicht wünschen. Daß es, anders als bei Sokrates und den Fünfhundertschefflern, wirklich einmal schlechthin universell ›vernünftig‹ zugehen sollte: reine Vernunft das alleinige, ja überhaupt ein Regiment hätte, also auch noch die eigenheitlichen Interessen von Staat und Religion aufgehoben wären, steht unter Lebendigen nicht zu befürchten. Als reines Vernunftinteresse läßt sich, wie zu zeigen ist, allein ein einziges verstehen: der Nichtwiderspruch. Um den Trank des Schierlingsbechers als reine ›freie‹ Freilich werden sie bevorzugt vom Kriegsdienst verschont. Siehe Thukydides, Historiae 3, 16.

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Vernunfttat feiern zu können, dürfte sie keinem anderen Interesse dienen als dem, das sich nicht zuletzt allgemein darum sorgt, daß A gleich A bleibt. Das und nur das ist es, was sich als das Eigenheitliche der Vernunft begreifen läßt – besonders deutlich herausgearbeitet bei Kant. 19 Was lebenspraktisch nicht realisierbar ist, hat als bloße Theorie sehr wohl seine Chance. Der Gedanke der Vernunft als allgemeiner menschlicher Eigenheit setzt darauf, ihr als solcher ›im‹ Menschen völlig rein zu begegnen. Seiner Methode nach muß darum dieser Gedanke die entsprechende Reinigung selbst vollbringen. Soll der Mensch als reine Vernunft existieren, was er in seiner selbsthaften Lebendigkeit bekanntermaßen nicht tut und nicht kann, dann muß er von allem ›gereinigt‹ sein, was außer Vernunft noch so alles ›an‹ ihm und ›in‹ ihm ist. Als erstes fällt dabei die Leiblichkeit des Menschen ins Auge. So vernünftig nämlich der Leib für das Leben organisiert sein mag, in den Augen dieser ›Eigenheits‹-theorie repräsentiert er schlechterdings keine Vernunft, weil es die in ihrer wahren Gestalt eben nur rein geben soll, aber nicht materiell gebunden und gar materiell interessiert. Darum ist es für den Menschen, der seiner Eigenheit nach Vernunft sein soll, vordringlich, vom Leibe ›gereinigt‹ zu werden. Die Idee der Vernunft als der einzigartigen Eigenheit des Menschen steht und fällt mit der Möglichkeit, ihn vollends von seinem Leib zu befreien: als Mensch. Platons Dialog, in dem von Sokrates’ Tod tendenziell als reiner Vernunfttat ›berichtet‹ wird, erzählt die philosophische ›Ver-

Um die Idee des kategorischen Imperativs als die des universell-praktischen Nichtwiderspruchs zu belegen, genügen schon Textstellen, die den erforderlichen Nichtwiderspruch des vernünftig Handelnden anzeigen. I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, IV, 422: »eine Natur« würde bei Selbstmord »ihr selbst widersprechen und also nicht als Natur bestehen«. Ganz entsprechend fragt Kant zum Selbstmord (ebd., S. 429), »ob seine Handlung mit der Idee der Menschheit als Zwecks an sich selbst zusammen bestehen könne«.

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abschiedung‹ des Leibes. Sokrates, um im Gefängnis endlich den verdienten Todestrunk zu sich zu nehmen, ist »soeben entfesselt« worden. 20 Der Kontext entdeckt, für was er den Tod hält, den ihm da andere durch das Gift bereiten: er, Sokrates, läßt sich durch Götter befreien – von Leben und Leib. Sokrates, der Philosoph, begrüßt das. Er ist mit dem Leib »entzweit« (διαβίβληνται), das heißt ›sein‹ Leib ist nicht auf seiner, sondern auf der anderen Seite. Er verachtet ihn 21 , schätzt ihn gering 22 ; er ist ihm hinderlich bei der »Jagd nach dem Sein« 23 und das heißt beim Vernunftgebrauch. Nun kann allerdings nicht jeder Philosoph darauf hoffen, in schönster Gesetzestreue zu Tode zu kommen. Er muß also leben und es den Göttern überlassen, wie und wann sie ihn befreien. Doch eines kann er schon zeitlebens tun: so nah wie nur möglich am Gestorbensein leben. 24

Der Leib soll eher abgestorben als lebendig sein (Paulus!). Wenn es in Gleichheit mit allem Lebendigen auch des Menschen Art ist, vor dem akuten Sterben erst einmal leibhaftig zu leben, dann gehört, philosophisch gesehen, die Uneigenheitlichkeit des Leibes methodisch zur Eigenheitlichkeit des Menschen. Die Wertung des Vernunftlebens als Eigenheit erfordert die Abwertung des leibhaften Lebens. Der Mensch, der Vernunft ist, verdankt sich einer Diskriminierung, die er selber an sich selbst vornimmt. Aristoteles definiert, was Eigenheit als solche auszeichnet: Das, was einem jeden durch Natur die Eigenheit ist, ist einem jeden das Stärkste und Lustvollste. 25

Platon, Phaidon 60a. Phaidon 64e. 22 Phaidon 68c. 23 Phaidon 66c. 24 Phaidon 67e. 25 Aristoteles, Nikomachische Ethik, X 7 1178a 5 f.; vgl. ebd., VIII 4 1156b 15 f.; VIII 9 1169b 30–33; C 6 1176b 24–27. 20 21

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Als das Stärkste sei die Eigenheit (τὸ οἰκεῖον) zugleich das Beste und Höchste, als das Lustvollste zugleich das am meisten Erstrebenswerte. Das ist die Grundlage, um alles andere, was ›vorontologisch-naiv‹ für Eigenheiten angesehen wird, zu diskriminieren. Doch anders als die platonische, vollzieht die aristotelische Ontologie die Diskriminierung des Leibes und die Bestimmung der Vernunft als der einzigen Eigenheit des Menschen sine ira et studio: der Leib dient nicht mehr als methodischer Anhalt der Reinigung und Befreiung des Menschen zur Vernunft. Er behält sein eigenes Recht, wird sogar zum Eigner von Eigenheiten erhoben, nur daß er eben, ganz im Sinne Platons, nicht zum wahren menschlichen Selbst gehört. Der Mensch hat Füße, keine Flügel, ist männlich oder weiblich, hat Vernunft. 26 Die Füße sind, wie Aristoteles es sieht, dem Menschen als Lebewesen eigen. Füße zu haben gehört für ihn zur Wesensgestalt der Tiere, wie sie sich leibhaft unterscheiden. Sie sind insofern etwas Eigenheitliches (begriffliches οἰκεῖον). 27 Das Geschlecht aber sei dem Menschen eigen, sofern er Leib ist (stoffliches οἰκεῖον). Wie der Fuß dem Menschen als Lebewesen und nicht als Mensch eigenheitlich eigen sei, so das Geschlecht allein als Leib. Auf plausibelste Art ist damit der Leib aus der Selbstheit und Wesenhaftigkeit des Menschen eliminiert. 28 Der Leib ist Eigner des Geschlechts, selbst aber ist er herrenlos, heimatlos. Er gehört niemandem. Hat ein einzelner Mensch einen Leib, dann hat er ihn ›uneigentlich‹ (uneigenheitlich): er gehört zwar zu dem, was er hat (woraus er sich als individuelle Einheit Aristoteles, Metaphysik, X 9. Eigen, Eigenes ist alles, was mein ist: mein Leben, mein Tod, mein Bewußtsein, mein Gedächtnis. Es ist sinnvoll, davon das Eigenheitliche zu unterscheiden, das einen Menschen in Lebensteilung mit Anderen sich selbst und den Anderen zu erkennen gibt. Darum ist es angezeigt, bereits beim aristotelischen οἰκεῖον nicht von Eigenem, sondern von Eigenheit zu sprechen. 28 Der Leib ist – dem Wesen nach – später als die Wesenheit. Siehe Aristoteles, Metaphysik, VII 10 1035b 20 f.; 11 1037a 29. Vgl. bei Platon das ontologische Apriori der Seele: Timaios, Nomoi XII. 26 27

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ontologisch zusammensetzt), nicht aber zu dem, was er ist. Diese Einheit von Haben und Sein ist einzig der Vernunft vorbehalten. Der Mensch ist, aristotelisch gesehen, als wesenhafter Mensch nicht Eigner von Füßen, auch nicht von Geschlecht, sondern einzig von Vernunft: er hat sie und er ist sie; er ist nichts sonst. Es ist also unverkennbar, daß dieses, die Vernunft, der Mensch ist, wenigstens am meisten. 29

Was am Menschen am meisten Mensch ist, macht nicht das Menschliche, sondern das Göttliche an ihm aus: die Vernunft. 30 Sie ist das Lustvollste und Beste. 31 Er hat, will er das stärkste Leben wagen, nach Götter und nicht nach Menschen Art zu leben, nämlich vernünftig. 32 Was Platon praktisch durch den Tod erreicht sieht, daß der Mensch nurmehr Vernunft und damit er selbst ist, wird von Aristoteles theoretisch für den lebendigen Menschen festgestellt: er ist ein Ganzes (ὅλον, σύστημα) aus Leib und Vernunft (Denkseele), aber der hochgewertete Teil ist das Ganze bzw. ist so gut wie das Ganze. Diese ›Dialektik‹ von Teil und Ganzem wird herrschende Tradition. Noch Kant hält fest, daß der Mensch als Intelligenz sein eigentliches Selbst, als Mensch hingegen nur Erscheinung seiner selbst sei. 33 Die Ausscheidung des Leibes als eines selbsthaften Teiles aus dem Menschen und die Erhebung der Vernunft zum ganzen Menschen ist die Geburtsstunde des universellen Menschen. Lebendig gebundene Vernunft kann nicht praktisch universell sein, insofern sie je Einzelnem und Besonderem dient. Dem Menschen jedoch, der – mit Vernunft – sich nurmehr in der Vernunft als Mensch sieht, widerfährt – theoretisch – die reine So sinngemäß Aristoteles, Nikomachische Ethik, IX 8 1168b 31–1169a 2. F. Dirlmeier übersetzt: »das eigentliche Selbst des Menschen ausmacht«. 30 Nikomachische Ethik, X 7 1178a 5–7. 31 Aristoteles, Metaphysik, XII 7 1072b 24 f. 32 Nikomachische Ethik, X 7 1177b 26–28. 33 I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, IV, 457. 29

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Selbstspiegelung als Ereignis der Universalität. Er ist nicht mehr im Individuellen und Besonderen, sondern schlechtweg im Universellen zu Hause. Er sieht sich exakt auf dieselbe Weise wie jeder beliebig andere, der – ausgedachterweise – entsprechend verfährt. In praktischer Konsequenz vorgestellt, lautet der Hauptsatz dieser Idee reiner Vernunft: A thing that is good from a moral standpoint must be a good for everyone under the same conditions. 34 Eine vom moralischen Standpunkt aus gute Sache muß für jedermann unter den gleichen Voraussetzungen gut sein. 35

Grundlage dieser Behauptung ist die Konzeption des Jedermann (everyone). Es ist der beliebige Mensch (jeder beliebige). 36 Seine Beliebigkeit ist aber nicht etwa die, daß er sein und haben könnte, was er wollte, weil es darauf gar nicht weiter ankäme. Ganz im Gegenteil. Er ist einzig und allein darum ein Beliebiger, weil an ihm selbst, wie er gefragt ist, überhaupt nichts Beliebiges vorzukommen hat: er ist ausschließlich als reine Vernunft gefragt. Er ist beliebig, weil er zu allem anderen, das in diesem Sinne beliebig ist, keinerlei Unterschied aufweist. Seine Unterschiedslosigkeit ist festgemacht an ›denselben Bedingungen‹, die er zum Handeln mitbringt. Gemeint ist eine singulare Handlungssituation, insofern sie unbeschränkt verallgemeinerungsfähig ist, und dies natürlich nicht allein in Anbetracht der Bedingungen, unter denen der Handelnde steht, sondern zugleich G. H. Mead, Mind, Self and Society, S. 382. Ders., Geist, Identität und Gesellschaft, S. 432. 36 Siehe E. Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, S. 245. Vgl. J. Habermas, Gerechtigkeit und Solidarität. Eine Stellungnahme zur Diskussion über »Stufe 6«, S. 293: »Dasselbe Potential von Intentionen, das sich mit dem Übergang zur postkonventionellen Ebene autonomer Moral jedem erschließt.« Das Rigoristische in der Konzeption des vernünftigen Jedermann findet sich gut bei Kant belegt, z. B. in seiner Schrift Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen, VIII, 426: »Wahrhaftigkeit in Aussagen, die man nicht umgehen kann, ist formale Pflicht des Menschen gegen Jeden.« 34 35

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auch in Anbetracht derjenigen, die mit dem zum Handeln Herausfordernden gegeben sind. Es geht demnach um die Fiktion, auf eine identische Herausforderung (auf die in praxi verschiedentlich als dieselbe einzugehen wäre!) identisch zu antworten. 37 Geht es z. B. um die – kasuistische – Frage, ob es der sechzehnjährigen Ella erlaubt oder gar geboten ist, ihre dreimonatige Leibesfrucht abzutreiben, dann setzt die Theorie des praktisch-universell Beliebigen voraus, daß dieses Mädchen sich dann und nur dann gut entscheidet, wenn es sich so entscheidet, wie es jeder vernünftige Mensch an ihrer Stelle täte. Es hat sich dann also in dieser ausgezeichneten Beliebigkeit nicht als Jugendliche zu entscheiden, als Frau, Tochter, Geliebte, Katholikin, Lehrmädchen, Schweizerin, in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts Geborene, an Zucker Leidende, Halbwaise, sondern – als Mensch, freilich nicht als leibhaft-lebendiger, individuierter und sozialisierter, eigenheitlich bestimmter und lebensteilig lebender Mensch, sondern allein als vernünftiger. Die Vernunft wird in ihm als vollständig isoliert vorgestellt. Es darf nicht fragen: ›was täte jemand, der keine Mutter hat wie ich, der Ella heißt wie ich, der einen Freund namens Rudi hat wie ich, der Glück und Unglück im Leben gehabt hat wie ich, der ein Gewissen hat wie ich (es sei denn das kantische als die im Subjekt gegebene Disposition, nichts anderem als dem Anspruch reiner praktischer Vernunft zu willfahren), … ?‹. Nein, es muß sich vielmehr für beliebig nehmen: ›was täte jetzt jeder, der aus sich die völlig isolierte universelle Vernunft hervorholte?‹. Es darf dann also nicht fragen: ›was täte mein Vater, was mein Rudi?‹ – das wäre ja auch unsinnig, weil die zu eigener Leibesfrucht gleich der seinen gar nicht Zur Fiktion von identisch ausgebildeten und identisch handlungsbereiten Ärzten, die in identischen therapeutischen Situationen identisch therapieren – mit identischem Resultat (und so beweisen, daß Psychoanalyse ein wissenschaftlichtherapeutisches Verfahren ist) – versteckt unter dem Begriff des Konsensuellen und Homogenen, siehe H. Thomä u. a., Das Konsensusproblem in der Psychoanalyse, S. 978 ff.

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fähig sind. Nein. Auch sein Vater und sein Rudi dürfen ihm dann allein noch als beliebige Vernunftwesen erscheinen, als Repräsentanten der je im Individuum isolierten Vernunft, die nichts Individuelles und Besonderes an sich selbst herankommen läßt. Sie muß überhaupt mit sich selbst zu Rate gehen, als hätte sie kein Geschlecht, da eben zum Menschen in seinem selbsthaften Sein und Wesen seit Aristoteles nicht das Geschlecht gehört. So kann sie auch weder für Rudi noch für sich selbst und auch nicht für ihre Leibesfrucht Partei ergreifen, auch nicht für die Drei zusammen, sondern allein für die – abstrakte – Vernunft: für die Partei des schlechthin unparteiischen Jedermann. Ist schon die Idee einer an sich identischen Herausforderung eine zwar läßliche aber doch bloße Fiktion, so ist die Idee einer identischen Antwort für praktische Absichten einfach inakzeptabel. Der Antwortende wäre schlechthin handlungsunfähig, brächte er nicht ›sich selbst‹ mit ein: seine Eigenheiten, seine Lebensgeschichte und lebensteiligen Erfahrungen, seine konkrete Vitalität. Die universalistische Ethik ist sicher eine ausgezeichnete Theorie. Die selbstaffirmative Aufzählung derzeitiger Vertreter derselben bei Jürgen Habermas 38 zeigt, welche intellektuelle Bedeutung ihr heute zukommt. Sollen aber nicht Menschen der moralischen Theorie, sondern moralische Theorie dem Menschen dienen, dann muß man erkennen, daß sie auch wirklich nur als bloße Theorie gut ist. Sie ist erfahrungsunabhängig in doppeltem Sinne: weder beruht sie auf praktischer Erfahrung noch wird je praktische Erfahrung aus ihr Nutzen ziehen – nicht einmal einen theoretischen. Wenn es schon zur abendländischen Rationalität keine Alternative geben soll (Habermas hält es mit Max Weber), dann darf doch auf keinen Fall die universalistische Idee ›Was wäre, wenn das jeder – beliebige – wollte und täte?‹ diesem Alternativlosen zugerechnet werden. Sie ist in J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. II, S. 141 Anm. 149.

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ihrer Art von Irrealität schlicht Unvernunft. Das Argument, wenn man nicht auf den universalistischen Ansatz setzte, könnte man seine Hoffnungen auf praktische Bedeutung einer gut ausgedachten Ethik ja gleich begraben, erinnert fatal an ein anderes: ›wenn nach dem Tod weiter nichts wäre, könnte ich mich ja gleich umbringen‹. Wer so argumentiert, vergißt, daß in der Tat für ihn nichts im Wege steht, sich ›gleich‹ umzubringen. Auch dem Einstellen moralphilosophischer Bemühungen mit universalistischem Ansatz steht von der Sache her nichts im Wege – wirklich nichts. Daß es zu einem praktizierten universellen Standpunkt käme – dagegen spricht nicht nur die Natur des Menschen, sondern auch das, was er im gemeinschaftlichgesellschaftlichen Einander als selbstbewußt menschliches und erfülltes Leben zu erhoffen hat. Ich bin prinzipiell der Auffassung, daß sich mit guten Gründen entscheiden lassen muß, welche Moraltheorie den allgemeinen Kern unserer moralischen Intuitionen, d. h. eine universale Geltung beanspruchenden ›moralischen Gesichtspunkt‹ am besten rekonstruieren kann. 39

Die Moral dieser petitio principii, daß es prinzipiell Moral geben muß, auch wenn das in genau diesem universalistischen Sinne weder möglich noch wirklich wünschenswert ist, verrät mit dem Prinzipiellen zugleich das Persönliche: der Autor stellt seine Auffassungen und Interessen unter Prinzipien und erklärt sich damit zu einer dieser ›unnachahmlichen‹ Personen der letzten moralischen Stufe (Kohlbergs ›sechster‹), die an Zahl ebenso gering wie öffentlich bedeutungslos sind, wenn die Öffentlichkeit der Lebenspraxis und nicht die des Überbaus in Betracht gezogen wird. Hauptsächlich interessiert an Kohlbergs Vorschlag, (…) daß man die beiden justice und benevolence genannten Moralprinzipien unter dem Prinzip des ›gleichen Rechts für alle‹ zusammenführt. 40

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J. Habermas, Gerechtigkeit und Solidarität, S. 293. Ebd., S. 295.

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So verführt das Interesse als persönliches und kopflastiges die Erkenntnis: wie es sich prinzipiell auf das Universelle versteift, spiegelt und beantwortet es keinerlei lebenspraktische Bedürfnisse. Es ist nichts als der Überbau der Wenigen, die die vernünftige Selbstinszenierung der vollendeten Moralisten betreiben: der vollkommenen humanen Gesinnung. Nun wäre die abstrakte Vorstellung vernünftiger Universalität nicht weiter von Bedeutung, wenn es dabei bliebe, daß Vernunft rein sich selbst spiegelte. Diese Spiegelung ist eine bloß theoretische Vorstellung, freilich, wie Aristoteles sie deutet, von der herausragenden Art, die des einzigartig reinen theoretischen Aktes zu sein: Sich selbst denkt die Vernunft in Ergreifung des Denkbaren; denn denkbar wird sie selbst, indem sie sich berührt und denkt, so daß Vernunft und Gedachtes dasselbe sind. Sich selbst also denkt die Vernunft, sofern sie ja das Vorzüglichste ist, und es ist das Denken ein Denkens des Denkens. (…) so verhält sich das Denken selbst seiner selbst die ganze Ewigkeit hindurch. 41

Geht man von der theoretischen Engführung dieser Konzeption vernünftigster (und göttlicher) Praxis bei Aristoteles ab, dann läßt sich darüber nachdenken, wie denn nun die rein vernünftigen Selbste einander begegnen. Es gibt nur eine Antwort darauf: sie gleichen einander und nichts sonst. Und lesen wir heute von der Idee einer ›unverzerrten Kommunikation‹ als einem Ideal, dann werden wir uns vorzustellen haben, wie beim Verständigungstreff die Teilnehmer Eigenheiten, lebenspraktische Erfahrung und Gewissen, Affektivität und Vitalität gleichsam an der Garderobe abgeben, um bei der Verständigung selbst alle lebendige Realität (›hedonistische Motive‹, Bedürfnisse) unter den Bedingungen der Möglichkeit moralischer und das heißt univer-

Aristoteles, Metaphysik, XII 7 1072b 19–21; 9 1074b 33–35; 9 1075a 10 (Übersetzung im Anhalt an H. Bonitz).

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salistischer Rationalität zu betrachten. 42 Ziel ist die Erstellung einer Theorie der Rationalität und mit ihr der Vorgriff auf sogenannte vernünftige Verhältnisse. Die grundsätzliche Einstellung dieser Versuche bleibt es, das Leben zur Räson, nicht etwa die Räson zum Leben zu bringen. Einem selbstüberzeugten moraltheoretischen Versuch aus den 60er Jahren (»Ich hoffe, daß dieses Buch nicht nur in Schulen, sondern auch in kirchlichen Institutionen und gesetzgebenden Instanzen gelesen wird«) gelingt die klassische Formulierung des wahren vernunft-utopischen Interesses: Mein Interesse gilt jedoch rationalen Menschen nur, sofern sie rational sind. 43

Dieses »Interesse für die ganze Menschheit« versteht sich als eine Sympathie, die insoweit für alle Menschen bestehe, als man niemandem Schaden zufüge. 44 Eine menschenweite Schadlosigkeit menschlicher Praxis (im notwendigen Sinne einer rein vernunftweiten) ist aber eben einzig und allein als Selbstspiegelung reiner Vernunft vorstellbar. Entsprechend dieser Idee eines gleichen Interesses »an allen« 45 , lautet die utopiewegweisende Forderung: Die Menschen müssen dazu kommen, für alle anderen Menschen ein Interesse zu haben. 46

Der Autor glaubt, den universalistischen Ansatz der Vernunftethik dadurch zu überwinden, daß er für die je »öffentliche Befürwortung« einer vernünftig-moralischen Einstellung plädiert:

Zur entsprechenden Kritik an der ›Konfliktlösungsstrategie‹ der sogenannten Erlanger Schule siehe R. Marten, Die Gegenwart des Fortschritts. 43 B. Gert, Die moralischen Regeln, S. 117. 44 Ebd., S. 18. 45 Ebd., S. 281. 46 Ebd., S. 309. 42

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Ich rede von einer öffentlichen Befürwortung nur dann, wenn jemand alle rationalen Menschen als potentielle Zuhörer betrachtet und annimmt, daß sie alle die befürwortete Einstellung akzeptieren würden. 47

Dies ist ein Beispiel dafür, wie keine Nachbesserung Kants ins Nichtformale einer reinen Vernunftmoral praktische Bedeutung verschafft. Im Wettkampf um die beste öffentlich anerkannte Gesinnung liegt dieser Autor freilich mit den unverblümt universalistisch argumentierenden Ethikern gleichauf, das heißt unschlagbar vorne. Es bedarf keines Vortrunks eines Sokrates mehr. Um als humanes Engagement zu faszinieren, genügt die rein-rationale Moralutopie als solche: reine Selbstspiegelung hat statt. Philosophie hat mit der Vernunftspiegelung des Menschen auf ihre Weise ernst gemacht. Sie ist von der intrahumanen Diskriminierung zur interhumanen übergegangen, von der Diskriminierung des Leibes durch die Vernunft zur Diskriminierung der Vielen durch die Wenigen: durch die Philosophen selbst. 48 An dieser Diskriminierung hat jeder Philosoph, der rein auf Vernunft setzt, teil, wie er auch notwendig die alte Diskriminierung des Leibes teilt, mögen sich die Namen dafür noch so sehr wandeln. Vernunft ist ›von Natur aus‹ nichts, worin sich Menschen als in ihrem Anderen spiegeln könnten. Sie ist weder eine Eigenheit im Unterschied zu einer anderen, noch ist sie eine sittliche oder poetische Äußerung des Menschen. Sie ist allein ein Vermögen (δύναμις), wie z. B. Schnäbel und Krallen von Vögeln Vermögen sind. 49 Werden jedoch die Menschen nach der Art, dies Vermögen zu gebrauchen, klassifiziert, dann ist eine Möglichkeit gegeben, von der abstrakten Selbstspiegelung eines bloßen Vermögens loszukommen. Sich sich selbst entgegenzusetzen: dem vermeinten ganzen Menschen die Vernunft als den allein für 47 48 49

Ebd., S. 131. Platon, Politeia VI 491b ff. et alibi. Platon, Protagoras 320d ff.; 330a; vgl. Politeia V 477c; Theätet 185e.

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wahr angesehenen – das ist das eine. Das andere aber, die interhumane Ergänzung der intrahumanen Auf- und Abwertung – das ist die Art, sich selbst als das aufzubauen, worin allein Menschen sich als Menschen zu spiegeln haben, um sich so dem ›Haufen‹ entgegenzusetzen. Sind es – selbsterklärterweise – die Philosophen, in denen als den wirklichen Menschen sich bei Bedarf Menschen als Menschen spiegeln 50 , dann sind sie der – neue – allgemeine Stand 51 und zugleich der Maßstab interhumaner Diskriminierung. Denn das gehört in der philosophischen Konzeption reiner Vernunft und ihres wahren Gebrauchs unauflöslich zusammen: eigenheitlich, universell und diskriminierend zu sein. Wo deutschstämmige Südtiroler seit siebenhundert Jahren mit Italienern Herrschaft und Glauben teilen und Dorf an Dorf wohnen, haben Abgrenzungsmechanismen bis heute die Erhaltung der ›eigenen Art‹ garantiert. 52 Sie sagen z. B., daß Italiener nicht bauen könnten, nichts vom Wein verstünden, unsittliche Leichenbegängnisse hätten, Schnecken und Vögel äßen. Kann das seinen Zweck erfüllen, dann muß es vielleicht auch beim allgemein begriffenen Menschen nicht gerade Sinnvolles und Wahres sein, um sich ihn – ausgedachterweise – seines Selbstbewußtseins und seiner Selbsterhaltung wegen gegen leibhaftlebendige Menschen absetzen zu lassen. Damit kann aber auch das Lob für humanes Engagement, das utopischer Philosophie reichlich zuteil wird, verständlich werden. Dieses Lob, das gar nicht erst nach Sinn und Wahrheit utopischer Entwürfe fragt, Die philosophische Natur des Menschen, z. B. ihr Entwurf im VI. Buch von Platons Politeia, als reine ungeschiedene Vernunftnatur. Die Reinheit und Selbständigkeit (›Identität‹) der unterschiedenen Seelenteile klärt Platon bereits im IV. Buch (436b). 51 Zu diesem Begriff siehe G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 205. 52 Gemeint ist St. Felix, eine der vier im 13. Jahrhundert von Bayern besiedelten Ortschaften im oberen Val di Non (Deutsch-Nonsberg). Siehe dazu J. W. Cole / E. R. Wolf, The hidden Frontier. 50

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ist wohl nicht mehr als eine emotionale Zustimmung zu Abwehrmechanismen, die bis heute funktionieren. Auf diese Weise ließe sich jedenfalls gut erklären, warum selbst dort nicht an der diskriminierenden Energie der Philosophie Anstoß genommen wird, wo man sich als Nichtphilosoph auf sie einläßt. Die Idee, im Menschen einen Teil für das Ganze auszugeben, führt zur Idee des repräsentativen Menschen. Da es sich um reine Usurpation der Vernunft handelt, kommt im Grunde jede Gruppe für die Repräsentation des Menschen in Frage, solange sie nur mit ›Gründen‹ aufwarten kann, die Vernunft und mit ihr als Eigenheit den ganzen Menschen zu vertreten. Auf diese Weise diskriminiert der Erwachsene das Kind und erklärt sich zum ganzen Menschen, zum Menschen, der auf eine Weise vollends (τέλειον) Mensch ist, daß das Kind eigentlich nicht mehr als Mensch zu begreifen ist. Aristoteles sieht das Kind zurecht für nicht vollkommen entwickelt (ἀτελής) an, da es zwar schon überlegendes und planendes Vermögen (βουλευτικόν) besitze, dies bei ihm jedoch noch unvollkommen sei. 53 Das Kind teilt nach Aristoteles sein sittliches Leben mit Erwachsenen: es hat keine Tugend für sich selbst, sondern bezieht sie auf eine vollends entwickelte Person, die für es Autorität ist. 54 Das ist eine diskutable Auffassung menschlicher Lebensteilung. Kein Jean-Jacques Rousseau, kein Janusz Korczak muß da zitiert werden, um den Anspruch des Kindes zu vertreten, auf eigene Weise vollends Mensch zu sein. Bedenklich aber wird seine ontogenetische Beurteilung des Kindes, wenn Aristoteles die äußerste sittliche Möglichkeit des Menschen deutet. Das Kind sei unmöglich glückselig, weil ihm keine vollendete Tugend und kein vollentwickeltes Leben eigne. 55 Das Kind könne spielen und turnen,

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Aristoteles, Politik, I 5 1260a 13. Ebd., 1260a 31 f. Aristoteles, Nikomachische Ethik, I 10 1100a 1–5.

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zuhören (Geschichten, Reden) und lernen 56 , überlegen und planen, aber eben nicht glückselig sein, weil das erforderte, das intellektuelle Glück der Erwachsenen zu teilen. Genau mit dieser Bestimmung aber wird es vom eigentlichen und wesenhaften Menschsein an und für sich ausgeschlossen. Es wird als Mensch abgewertet. Wie der zum repräsentativen Menschen aufgewertete Vernunft-Erwachsene vom Kind, so denkt auch der Vernunft-Mann von der Frau. Die sei schön, aber, wie Kant es sieht, nicht edel und dem Erhabenen zugewandt. Vernunftfern, wie sie ihrer Natur nach ist, werde sie nicht damit konfrontiert, sich frei dem menscheneigenen vernünftig-moralischen Gesetz zu unterwerfen. Für sie habe der kategorische Imperativ de facto keine Geltung. 57 Allein der Mann ist demnach universell, steht auf dem allgemeinen Standpunkt, praktiziert und repräsentiert das eigentliche Selbst des Menschen. Dem Beherrschten und Verantwortungslosen (›Unverantwortlichen‹) ergeht es in den Augen und Worten des Herrschenden und Verantwortlichen nicht anders, dem Kranken nicht in denen des – selbsterklärten – Gesunden. Wirkungsvoller freilich ist es, wenn nicht eine Gruppe von Menschen, die bei aller abstrusen Selbstaufwertung doch Lebensteilung weiterhin praktiziert, den repräsentativen allgemeinen und diskriminierenden Standpunkt usurpiert, sondern ein ganzes Volk. Cecil Rhodes hält allein die Engländer für Menschen, Adolf Hitler die Deutschen. Die intrasoziale Diskriminierung des Menschen als Menschen wandelt sich zur intersozial-chauvinistischen. Was der Aristoteles, Politik, VII 17 1336a 1 ff. I. Kant, Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, II, 231 f.: »Die Tugend des Frauenzimmers ist eine schöne Tugend. Die des männlichen Geschlechts soll eine edele Tugend sein. Sie werden das Böse vermeiden, nicht weil es ungerecht, sondern weil es häßlich ist, und tugendhafte Handlungen bedeuten bei ihnen solche, die sittlich schön sind. Nichts von Sollen, nichts von Müssen, nichts von Schuldigkeit. (…) Ich glaube schwerlich, daß das schöne Geschlecht der Grundsätze fähig sei (…).« 56 57

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Die Vorspiegelung von Vernunft als menschlicher Eigenheit und Wesenheit

Vernunft der Leib, dem vernünftigen Erwachsenen das Kind, ist jetzt dem ›geistigen‹ Volk das Andersvölkische. Freilich wird hier nicht mit der reinen Vernunft argumentiert, wohl aber mit einer geschichtlichen, die der Entwicklung des überlegenen Geistes und der überlegenen Leibnatur verschrieben ist. Für Hitler ist der Deutsche als höchste Rasse der höchste Kulturträger, als bestes Volkstum das beste Menschentum. 58 Kraft, Blut, Rasse, Volk scheinen biologische Kategorien der Auszeichnung des Deutschen als Menschen zu sein, sind aber in Wahrheit Vernunftkategorien. Was nämlich dem Deutschen da als auszeichnend Eigenes zugedacht wird, ist zugleich das einzig Verallgemeinerungs- und Menschheitsfähige. Eine Rasse, ein Volk repräsentieren als Eigenes dann wahrhaft universell und eigenheitlich den Menschen, wenn das vielfältig Andersvölkische nicht mehr zum Geist, zur Herrschaft, ja überhaupt zum Leben zugelassen wird. Wer von einer Mission des deutschen Volkes auf der Erde redet, muß wissen, daß sie nur in der Bildung eines Staates bestehen kann, der seine höchste Aufgabe in der Erhaltung und Förderung der unverletzt gebliebenen edelsten Bestandteile unseres Volkstums, ja der g a n z e n M e n s c h h e i t (Sperrung R. M.) sieht. 59

Sich als Mensch in einer maßgeblichen Form der Sittlichkeit zu spiegeln: in der Poesie des Endlichen und Unendlichen – diese Art des Menschen, sich aus seinen gemeinschaftlichen und geA. Hitler, Mein Kampf, S. 430–451. Vgl. R. Marten, Leben und Vernunft, S. 24–27. 59 A. Hitler, ebd., S. 439. Dem entspricht Heideggers existenzphilosophischer Chauvinismus, demzufolge der Mensch geschichtlich als Volk existiert, ›jetzt‹ aber allein das deutsche Volk (das deutsche Denken, Sprechen und Wesen) die Chance geschichtlicher Existenz hat, weil es das einzigartig philosophische ist. Ich habe das genauer in dem Vortrag »Martin Heidegger – Das Gewissen: 1927/1933« und in der Besprechung von Victor Farias, Heidegger et le nazisme ausgeführt. Zur Tradition dieses Chauvinismus siehe u. a. F. W. J. Schelling, Über das Wesen deutscher Wissenschaft, in welcher Schrift den Deutschen und nur ihnen das wahre allgemeine geistige Wesen des Menschen nachgesagt wird. 58

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sellschaftlichen Äußerungen als Mensch zu verstehen, wird radikal abgelöst, wo es der Vernunft gelingt, sich als Spiegel des Menschen zu präsentieren. Sich im Erwachsenen zu spiegeln, im Mann, im Herrschenden, im Kompetenten, im Gesunden, ja im Deutschen (oder in welchem selbstauserwählten völkischen Geist es sonst sei): die Usurpation eines menschlichen Vermögens bzw. eines Teils des Menschen bzw. bestimmter Menschen und Menschengruppen als einzigartige Eigenheit hat diese bleibende theoretische Konsequenz der Universalisierung und Diskriminierung – lebenspraktische Folgen nicht ausgeschlossen.

3. Der Mensch im Spiegel seines utopischen Noch-nicht-Seins 3.1 Die Idee des Neuen Menschen Aristoteles bestimmt seine Erste Philosophie, die im 17. Jahrhundert den Namen Ontologie erhält, als Wissenschaft, die das Seiende betrachte, insofern es seiend ist. 60 Das ›Seiende‹ hat in dieser Sicht der Dinge nicht allein affirmative Bestimmungen. Was möglich ›ist‹, ist nicht wirklich, was beiläufig, nicht wesenhaft und eigentlich. Nun ist das, was einer Sache nicht eigentlich als ihr selbst bzw. an ihr selbst zugehört, von dem, was sie als Wesen- und Selbsthaftes ist, für immer ausgeschlossen. Es bleibt insofern außerhalb des möglichen philosophisch-wissenschaftlichen Interesses. Das Möglich-›seiende‹ jedoch, das nicht bloß denkmöglich, sondern, als für sie geeignet und vermögend, zu seiner Realisierung bereitgestellt oder bereits unterwegs ist, verdient die besondere Aufmerksamkeit der Ontologie. Diese zeigt sich insofern genauer als Wissenschaft, die das Seiende betrachtet, insofern es noch nicht seiend ist. Das bedeutet keinen 60

Aristoteles, Metaphysik, IV 1.

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Widerspruch, verlangt keine ›Dialektik‹, weil klar zu verstehen gegeben wird, inwiefern dabei Mögliches als noch nicht Wirkliches und Verwirklichtes anzusehen ist. Diese Sonderstellung des Möglichkeitsbegriffs im Seinsverstehen ist für die philosophisch-idealistische Sicht des Menschen von herausragender Bedeutung: er wird als Seiendes gesehen, das noch nicht seiend ist, namentlich als Mensch, dem es noch nicht gegönnt ist bzw. der es noch nicht fertiggebracht hat, Mensch zu sein. Das Sein von morgen schiebt sich als leuchtende und maßstabsetzende Wirklichkeit vor das ›Sein‹ von heute. Als überzeugter Marxist hat der später mit Berufsverbot belegte Schriftsteller Jewgenij Samjatin einen Aufruf von knapp zwei Seiten mit dem Titel Morgen verfaßt, der von 1919/20 datiert. 61 In Anwendung der dialektischen Methode Hegels sieht er im Heute das Gestern verneint, im Morgen aber die »Verneinung der Verneinung«, die »die Befreiung des Einzelnen im Namen des Menschen« bringt. ›Im Namen des Menschen‹ – damit soll bereits heute »im Namen des Morgen« gesprochen und das Urteil über das Heute gefällt sein. Der Mensch ist vertagt. Sein und Wesen des Menschen hängen am ›großen Morgen‹. Der ›bisherige Mensch‹ ist nicht Mensch. Erst der ›neue Mensch‹ wird Mensch sein, der Mensch von morgen. Soll es nicht bei programmatischen Erklärungen bleiben, dann wird es bei dieser Sicht der Dinge entsprechend darauf ankommen, im heutigen Menschen bereits die Möglichkeit des morgigen zu sehen und zu zeigen – nicht die bloße Denkmöglichkeit, sondern den Menschen als zu seiner Verwirklichung bereitgestellt oder bereits unterwegs. Die Idee des Neuen Menschen als des endlich realisierten und eben Mensch gewordenen Menschen ist eine Vernunftidee. 62 J. Samjatin, Morgen, S. 170 f. Paulus führt die Idee des neuen Menschen (καινὸς ἄνθρωπος) als die des mit Gott versöhnten Menschen ein: er ist als neues Geschöpf (καινὴ κτίσις) in einem neuen Leben (ἐν καινότητι ζωῆς). Der alte Mensch ist – mit Christus – mitgekreuzigt. Sie stellt damit keinen eschatologischen Entwurf

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Der Neue Mensch – das ist die Vorstellung der zur Vernunft gewordenen Gesellschaft und ebenso die der zur Gesellschaft gewordenen Vernunft. Der Mensch, wie er dieser Idee zufolge heute erscheint, ist bereits gesellschaftlich und vernünftig, aber er ist es genau nicht so, daß die Vernunft gesellschaftlich und die Gesellschaft vernünftig wäre. Darum ist der Mensch, so gesehen, noch nicht das, was er realisierterweise einmal ist bzw. sein könnte; aber er ist entschieden mehr als nichts: er ist möglicher Mensch. In dieser Sicht der Möglichkeit des Menschen (sc. des Neuen und menschlichen Menschen) hängt nun alles von der richtigen Entwicklung (dem weg- und zielgerechten Unterwegs) des Menschen ab. Er wird zur Vernunft kommen, ggf. zur Vernunft gebracht werden müssen. Wer die Idee des Neuen Menschen vertritt, sieht das nie allein als Aufgabe an, die auf den Einzelnen als Einzelnen zukäme. Die Entwicklung des Menschen zum Menschen ist ihm, vom Grund und vom Ziel her verstanden, Sache gesellschaftlicher Entwicklung. Die Realisierung des Menschen gilt somit als eine Frage des echten Gangs der Geschichte dieser Entwicklung. Der Mensch ist gegenwärtig noch nicht Mensch und hat darum Geschichte 63 – das ist der ›Grundsatz‹ der idealistischen Anthropogenetik, die den heutigen Menschen in einer Idee des morgigen, den gegenwärtig existierenden, aber noch nicht realisierten, in einer Idee des wahrhaft seienden spiegelt. Die idealistische Anthropogenetik ist als solche durch einen doppelten Pseudorealismus geprägt. Zum einen besteht er in der ›realistischen‹ Beurteilung des im für Noch-nicht-Mensch erkannten möglichen Menschen (›realistische‹ Sicht der Gegenwart), zum dar, sondern deutet den Getauften, den Menschen des Neuen Bundes. Siehe Epheserbrief 2, 15; 4, 24; vgl. 2. Korintherbrief 5, 17; 1. Korintherbrief 5, 7; Römerbrief 6, 4; Galaterbrief 6, 15. 63 E. Bloch, Zur Ontologie des Noch-Nicht-Seins, S. 15 f.: »Der Mensch also wird hier verstanden und angezeigt als etwas, das sich selber noch unmittelbar, grundhaft verdunkelt ist, ja noch gar nicht gegenwärtig ist und eben deshalb Geschichte hat.«

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andern in der ›realistischen‹ Einschätzung des Machbaren (›realistische‹ Sicht der Zukunft). Beide Pseudorealismen haben in der Geschichte der Vernunftidee vom Menschen die unterschiedlichsten Versionen entwickelt, sind sich aber im Prinzip gleichgeblieben: den geschichtlichen Menschen, wie er leibt und lebt, als gültige menschliche Realität zu verneinen. Der Pseudorealismus in der Zukunftsperspektive des Neuen Menschen hat die Versionen: 1) nicht erreichbar, es sei denn in einer ›neuen Welt‹ ; 2) nur annäherungsweise ›erreichbar‹ ; 3) nur schwer und nach langer Zeit erreichbar. Der einzig mögliche und nötige authentische Realismus in dieser Sache hätte jedoch lauten müssen: der als gesellschaftliche Vernunft gedachte Neue Mensch ist prinzipiell und zum Glück nicht realisierbar. Er kann nämlich prinzipiell nicht verwirklicht werden, weil Vernunft keine Eigenheit ist und der Mensch als Mensch kein Wesen hat, und er kann es zum Glück nicht, weil die Idee von Vernunft als Eigenheit die Auslöschung alles Eigenheitlichen des Menschen voraussetzt (was sie zu einer ebenso ahumanen wie inhumanen Idee macht). Der bald nach seinem Morgen-Appell umdenkende Samjatin hat das Schreckliche und Tödliche einer zur Herrschaft gekommenen gesellschaftlichen Vernunft und vernünftigen Gesellschaft, durch reale Gegenwart inspiriert, immerhin poetisch zu veranschaulichen gewußt. 64 Der Mensch soll – idealistisch – »nach dem Reich der reinen Vernunft« trachten 65 , obgleich, realistisch gesehen, die »Welt im Argen« liegt, soweit die Geschichte des Menschen reicht. 66 Die menschliche Vollkommenheit als allgemeine Verträglichkeit und theoretische wie praktische Widerspruchsfreiheit in diesem Leben und auf dieser Erde anzustreben, gilt allein als eine »objektive Nötigung« moralischer Art. Man soll lebenspraktisch diese Vollkommenheit eigentlich nur erreichen wollen, in der 64 65 66

J. Samjatin, Wir. I. Kant, Zum ewigen Frieden, VIII, 378. I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, VI, 19.

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guten Gewißheit, sie niemals wirklich zu erlangen. Die absolute Vollkommenheit in Sachen Mensch übersteigt, wie sie gedacht wird, den lebendigen und geschichtlichen Menschen. Sie ist damit auch eher bzw. allein Sache eines Gottes. 67 Sein ›letztes Ziel‹ erreicht der Mensch nicht in der Gesellschaft. 68 »Alle ihre Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft« einzurichten, sei zwar eindeutig »der Zweck des Erdenlebens der Menschheit« 69 , jedoch leider nicht realisierbar. Der Pseudorealismus idealistischer Anthropogenetik, wie er darin besteht, seine Idee vom Menschen faktisch für nicht realisierbar zu halten und ihre Unmenschlichkeit zu verkennen, hat die verständliche aber nicht ungefährliche Tendenz, soviel menschliche Realität wie nur möglich zugunsten der Idee zu berücksichtigen, um sie schließlich doch noch für realisierbar ansehen zu können. Das Utopische vernarrt sich ins Chiliastische: der Mensch mache Fortschritte zum menschlichen Menschen – der Tag werde kommen, an dem es den Neuen Menschen für immer gibt: so produziert die gewordene Gesellschaft den Menschen in diesem ganzen Reichtum seines Wesens, den reichen all- und tiefsinnigen Menschen als ihre s t e t e (Sperrung: R. M.) Wirklichkeit. 70

Das einmal Realisierte kennt dann keine Zeiten (καιροί) mehr. Es ist als solches am Ziel, hat seinen Zweck erreicht – für immer. Was einmal in einem spekulativ-trinitarischen Geschichtsdenken als »drittes Reich« bestimmt worden war, als Reich des Friedens, nämlich als Reich der Liebe und des Intellekts 71, und dabei

J. G. Fichte, Von den Pflichten des Gelehrten, 2. Vorlesung »Uber die Bestimmung des Menschen in der Gesellschaft«. Siehe schon Aristoteles, Metaphysik, XII 7 1072b 25. 68 J. G. Fichte, ebd. 69 J. G. Fichte, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, 1. Vorlesung. 70 K. Marx, Die Frühschriften, S. 243. 71 Zu diesem Gedanken des Joachim von Fiore (1132 bis 1203), siehe B. Töpfer, Das kommende Reich des Friedens. 67

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als ein nicht allzufernes Ereignis in Aussicht gestellt wurde, erhält jetzt ›wissenschaftliche‹ Begründung. Was bei Martin Heidegger das Vorlaufen in den Tod als Ende des Daseins, ist im marxistischen Denken das Vorgreifen auf den Neuen Menschen als Endgestalt der Geschichte. Heideggers Mensch lebt von seinem Ende her, indem er bewußt auf es hin seine ihm als Menschen aufgegebenen und aufgesparten Lebenschancen ergreift. Der marxistische Mensch lebt vom Ende der Entwicklung (›Befreiung‹) des Menschen her auf es zu, um sein gesellschaftliches Sein in der rechten Bewegung und Erwartung zu halten. Wird dieser Vorgriff als ›kontra-faktisch‹ und eben als Vorgriff auf ein Ideal verstanden, dann soll allein an ein Verhältnis gedacht sein, in dem das Ideal bereits auf die eher unvernünftige Gegenwart regulativ zu wirken beginnt und eine Annäherung an es als ›realistisch‹ erscheint. Damit meldet sich ein ganz neuartiger ›Realismus‹ zu Wort, der die wahre Art des Idealistischen zu verdecken sucht. Die Theorie von der Selbstherstellung des – menschlichen – Menschen und seiner universell praktizierten reinen Vernunft soll jetzt darauf basieren, daß sich der Idealist durchaus der gesellschaftlichen Wirklichkeit stellt, sie als historisch Gewachsenes sogar bejaht, anstatt Geschichte nur aus reiner Vernunft zu konstruieren. Er bringt es dann sogar fertig, die Verneinung des geschichtlichen Menschen, wie er leibt und lebt, als gültige menschliche Realität für einen Moment aufzugeben und z. B. Affektivität ins Kalkül einzubeziehen. Die vernünftig-universalistische Möglichkeit des Menschen, nachgeprüft an universalistischen Strukturen im Ich, soll schließlich als »neue Identität« in komplexen Gesellschaften, ja selbst für die Weltgesellschaft als realisierte Geltung universalistischer Moral möglich sein. 72

J. Habermas, Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden?, S. 65.

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Man ist dabei, Ideal und Utopie des Neuen Menschen – theoretisch – in machbare Realität zu verkehren, diesen rein erdachten Menschen nicht mehr allein fälschlich für das denkbare Glück des Menschen anzusehen, sondern auch noch für seine tatsächliche künftige Gestalt. Die im Namen reiner praktischer Vernunft erdachte Einheit von menschlich Unmöglichem und Unerträglichem hat naturgemäß keinerlei geschichtliche Chance. Sie ist dennoch nicht ungefährlich. Eine Gesinnung, die, so oder so, dem absolut vollkommenen Menschen zugewandt ist, schreckt prinzipiell, läßt man sie extrovertiert-praktisch werden, vor nichts zurück, schon gar nicht vor dem Menschen, um die Herstellung des Absoluten zu versuchen. Die Verfolgung absoluter Ziele fordert zur praktischen Bedingungslosigkeit heraus. Verbreitet jede Herrschaft zur Stabilisierung ihrer Macht Schrecken, dann läßt eine tendenziell absolute Herrschaft reiner Vernunft nur an den tendenziell reinen und absoluten Schrekken denken.

3.2 ›Negative Dialektik‹ Die Pseudorealistik idealistischer Anthropogenetik in Anbetracht menschlicher Zukunft findet Entsprechung in ihrer Beurteilung von Gegenwart. Wer sich im Neuen Menschen spiegelt, sieht sich als gegenwärtiger im reinen Noch-nicht. Philosophen gebrauchen das konstatierende ›ist noch nicht‹ dabei in diffamatorischer, evokativer und promissiver Funktion. Sie stellen mit dem Seinsausstand nicht einfach Material als solches, das heißt Nichtrealisiertes fest, wie man etwa gut aristotelisch von Ziegeln und Balken sagt, sie seien noch nicht Haus, sie seien nämlich mögliches, aber noch nicht wirkliches Haus. Es geht ja nicht um Samen, der noch nicht Mensch ist (Aristoteles: das Kind ist noch nicht Mann, der Same noch nicht Mensch), sondern um leibhaftige geschichtliche Menschen, denen Nichtsein und Unwesen nachgesagt wird. 150 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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Die Konstatierung des Noch-nicht ist vom Gegenwärtigen aus und auf es hin als Diffamierung und Maledizierung (Vermaledeiung) zu verstehen. Sie ist aber auch als praktisch evozierend gemeint, als Aufruf, das Noch-nicht als solches aufzuheben, wobei, je nachdem, das Arbeiten, Kämpfen oder Warten gefragt ist. Zum dritten macht sie eine Zusage, gibt sie ein Versprechen ab: das ›noch‹ im ›noch nicht‹ verspricht zum voraus, daß es nicht so bleibt, sondern anders, besser und wahrer bzw. wesenhafter wird. Als vorrangig gibt sich die diffamatorische Funktion der Konstatierung des Noch-nicht zu erkennen. Sie ist ›negativ dialektisch‹ gemeint. Im ›Negieren‹ des Gegenwärtigen soll die neue, geschichtlich noch nie dagewesene ›Qualität‹ zu verstehen gegeben werden. In der ›Nichtigkeit‹, wie sie zur Zeit herrscht, möchte man die einzigartige Seinsmöglichkeit des eigentlich Vernünftigen, wenn auch niemals geschichtlich Wirklichen oder gar die des künftig zur Macht Kommenden sehen und aufscheinen lassen. Die Diffamierung menschlicher Gegenwart erfolgt in allen Metaphern, die gut dünken, das Gegenteil der reinen Vernunft auszusprechen. So wird der Mensch in seinem je welthaft-gegenwärtigen Leben und Handeln für ›pathologisch‹ erklärt, sofern er durch etwas bestimmt ist, was seinen Willen daran hindert, ein rein guter und vernünftiger zu sein (so durchgängig Kant). Das Nichtvernünftige sei als solches pathologisch, das Vernünftige als solches ›gesund‹ – eine Idee moralischer und gesellschaftlicher Gesundheit. Sodann wird des Menschen heutige lebenspraktische Art (sc. sich in einer Zeit systemimmanenter Unfreiheit und Selbstentfremdung zu verhalten) für ›entstellt‹ und ›verzerrt‹ erkannt (Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas), das Vernünftige offensichtlich entsprechend für wohlgestaltet und gelassen-harmonisch. Vor allem aber hält man die Lebenswirklichkeit des Menschen im Europa der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg für ›falsch‹, ›unwahr‹ und für einen ›Betrug‹ (Adorno). Allein die Vernunft in ihrer gesell-

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schaftlichen Universalität und Totalität wird für wahr angesehen, für praktisch ohne Lug und Trug. Wir hören: die Vernunft ist als solche gesund, schön und wahr, die heutige Realität des Menschen dagegen ist das im wesentlichen und ganzen genau nicht. Die akkurate ›Negation‹ des Heutigen ist Anhalt und Ansatz der ›Negativen Dialektik‹. Sie hält sich, auch wenn sie die Möglichkeiten geschichtlicher Realisierung anders einschätzt, im Prinzip an die ambivalente Deutung der Gegenwart, wie sie Karl Marx am ›Proletariat‹ exemplifiziert hat: es sei das eigentlich Expropriierte und eben dadurch die eigentliche geschichtliche Kraft der »wirklichen Aneignung«. 73 Womit negative Dialektik ihre verhärteten Gegenstände durchdringt, ist die Möglichkeit, um die ihre Wirklichkeit betrogen hat und die doch aus einem jeden blickt. 74

Aus jeder Äußerung menschlicher Selbstentfremdung blickt für Adorno die prinzipielle Möglichkeit totaler gesellschaftlicher Aneignung des Menschen. Im geschichtlichen Jetzt sieht er ex eventu, wie es genau hätte anders kommen können, prinzipiell noch kommen könne, wenn auch de facto nicht werde. Die Wirklichkeit sei Betrug. Sie habe das wahre Versprechen ihrer Möglichkeit nicht gehalten. Die eigentliche Realisierung hätte genau und das heißt in genauer Folge anders ausfallen müssen. Die Wirklichkeit widerlege das Vernunftideal nur historisch, nicht vernünftig (!). Vernünftig gesehen liege es vielmehr in dieser Wirklichkeit, achte man nur hellsichtig genug auf die in ihr nicht realisierte Möglichkeit. Die geschichtliche Erfahrung wird damit als Grund ausgeschaltet, keine Möglichkeit einer universell und rein praktizierten Vernunft zu sehen, von der prinzipiellen Beiseitelassung phylogenetischer und ontogenetischer Erkenntnisse ganz zu schweigen. In Sachen Mensch und 73 74

Zum Wortgebrauch siehe K. Marx, Frühschriften, S. 243. Th. W. Adorno, Negative Dialektik, S. 60.

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Geschichte gibt es nurmehr ›Erfahrung‹ und ›Wissen‹ zwar motivierter, aber erfahrungsunabhängig theoretisierender Vernunft. Um am gegenwärtigen Menschen den Betrug zu sehen und zu erkennen, daß das Entscheidende mit ihm falsch gelaufen ist, braucht und bejaht die ›Negative Dialektik‹ die Utopie. Sie ist ihr »das Bewußtsein der Möglichkeit«. In der häßlichen Wirklichkeit nurmehr die Möglichkeit des Schönen und Unentstellten zu sehen, in der kranken die des Gesunden, in der falschen die des Wahren – das ist die Selbsteinschätzung der ›Negativen Dialektik‹, die darin gipfelt, mit Konkretem einzig und allein Mögliches vor Augen zu haben: die konkrete Möglichkeit von Utopie. 75 Das ›Objektive‹ an dieser Sicht der Dinge entnimmt der pseudorealistische Vernunftglaube einer Lehre rein theoretischer Vernunft: der Widerspruchslehre. Da in vernunftbestimmten Verhältnissen, solange sie rein solche sind, kein Widerspruch besteht und auch keiner eindringen kann, erhält er in den Augen rein Vernunftgläubiger eine geradezu mystische Kraft: er versetzt Berge. Ist es bei Sappho der Abendstern, der alles heimbringt: bringst Schaf, bringst Ziege, bringst zu der Mutter das Kind 76 ,

dann ist es im Lichte reiner Vernunft der Widerspruch. Diese von keiner Erfahrung bestätigte und von keiner Logik nahegelegte Vermengung einer simplen logischen Gebrauchsdefinition wie der von A = A (die für logische Operationen ihre Bedeutung hat, gelegentlich freilich auch eine eher fragwürdige für theologische Spekulationen) mit realem gesellschaftlichen Geschehen regt ›negativ-dialektische‹ Idealisten zu immer neuen sprachlichen Th. W. Adorno, ebd., S. 64; 20. Fragment 104(a), E. Lobel / D. L. Page, Poetarum Lesbiorum Fragmenta. Ἄπυ ist mit »zur«, nicht, wie es sich des öfteren findet, mit »weg von« zu übersetzen.

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Ausmalungen ihrer einfachen Sicht an. Eine besonders konkret gemeinte und farbig geratene lautet: (…) daher müßten (…) Proletariat und Bourgeoisie zusammen in der kapitalistischen Widerspruchskrise zugrunde gehen, wenn nicht der aktive, der revolutionäre »Widerspruch« sich dieser Krise annähme. Macht der Gegenzug in der Welt überall erst aus dem Negativum ein Instrument des Umschlags, des Geschehens, der Geschichte, so ist die revolutionäre Selbstergreifung des Widerspruchs zum erstenmal auch bewußt geschichtsbildend. Und das Ziel, das diesen Gegenzug letzthin hinanzieht, (…) ist das utopische Totum des Was. Sein mögliches Alles hat in jedem Sprengpulver gegen das Morbide seinen Vorausgruß, in jeder Freisetzung des besseren Neuen aus der verrottet, erstickend gewordenen Hülle seine Statthalterschaft. Dialektik bezeichnet so den Ostpunkt im Untergangspunkt oder allemal: die Verschlingung des Todes mit dem Sieg. 77

Da wird also auch noch die Feindschaft zwischen dem Menschen und seinem Tod, wie Paulus sie gestiftet hat 78 , reaktiviert, um dem eigenen – ›dialektischen‹ – Traum, über seinen intellektuellen Schein hinaus, selbst noch von einem versprochenen Jenseits des Lebens her Glanz zu verleihen.

3.3 Der Mensch als Selbstspiegelung der Vernunft Die pseudorealistische Selbsteinschätzung der Vernunft in ihrer doppelten Gestalt gehört notwendig zur idealistischen Konzeption und Konstruktion universell praktizierter Vernunft, sobald Advokaten der Utopie gesellschaftlicher Vernunft selber daran glauben, mehr als nur idealistische Konzepte und Konstrukte zu verfertigen. Sie meinen dann mit ihrem Noch-nicht nicht nur etwas utopisch zu versprechen, sondern auch dialektisch die Realien bereitzustellen, die die Einlösung des Versprechens gaE. Bloch, Zur Ontologie des Noch-Nicht-Seins, S. 62. R. Marten, »Denn der Tod ist der Sünde Sold«, in: Der menschliche Tod, Kap. I, 5.

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rantieren. So ist es mehr als wahrscheinlich, daß diese ihren mangelnden Realitätssinn selber nicht bemerken, wenn sie, um es bündig zu sagen, aus der Idee Wirklichkeit hervorgehen lassen möchten – zwar anders als im ›ontologischen Gottesbeweis‹ 79 , aber mit einer vergleichbar präparierten Logik. Sie wähnen sich auf dem Weg des Konkreten (›konkrete Utopie‹ I), Realen und wissenschaftlich Erfaßbaren. Anders steht es jedoch mit der von ihnen vertretenen Selbstanmaßung der Vernunft als menschlicher Eigenheit. Die ist nicht mehr als ein Selbstmißverständnis des Intellekts zu erklären. Wo Vernunftidealismus sich klar und bestimmt als Wesensphilosophie äußert, kann ihm unmöglich entgehen, was er da tut. Es kommt nämlich dafür gar nicht entscheidend darauf an, wie und als was er das Wesen des Menschen bestimmt, sondern einfach, daß er es tut. Ob Platon oder Aristoteles, Hegel oder Marx, Adorno oder Habermas – nicht die Unterschiede sind das eigentlich Bedenkliche, sondern das Gleiche: die Idee des einen Wesens des Menschen – des Menschen als Menschen und des menschlichen (= wesensidentischen) Menschen, die alle Menschen im Prinzip ›eigenheitlich‹ gleich sein läßt. Der utopische Vernunftidealismus spiegelt dem geschichtlichen Menschen seine lebendige Gegenwart als eine prinzipiell entstellte und verzerrte vor, als falschen Zustand und Betrug, als Elend und Fremde, als Seinsverweigerung und Wesensausstand, um ihm zugleich Möglichkeiten vorzuspiegeln, als Mensch einst (wenn nicht jenseits von Zeit und Geschichte) etwas gänzlich anderes zu realisieren, das revolutionär und absolut neu ist: den Menschen, der mit dem Menschen identisch ist, nämlich mit der Vernunft (sc. mit der Vernunft der Gesellschaft bzw. mit der Gesellschaft der Vernunft). Vernünftige Identität des Menschen ist ein Pleonasmus. Identität meint in diesem Falle bereits für sich: Identität mit der Vernunft bzw. Identität als Vernunft – das heißt Widerspruchslosigkeit. Man 79

Dazu R. Marten, Existieren, Wahrsein und Verstehen, S. 192 ff.

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könnte allenfalls noch im Sinne einer Selbstprädikation auftrumpfen wollen und behaupten, daß ein herrschender Vernunftzustand vernünftig sei. Der nicht-pathologische reine Vernunftwille zur ›Identität‹ (Fichte, Habermas) hat auch die Namen ›Emanzipation‹ (›Freiheit‹) (Fichte, Marx, Habermas) und ›Aneignung‹ (Marx). Der identische Mensch (Mensch = Vernunft) gilt als der befreite. Freiheit von Knechtung ist bei diesem Befreiten nur dem Schein nach bzw. in gutem Glauben real gemeint, in Wahrheit aber rein formal, da an der ›Negativen Dialektik‹ trotz aller gegenteiligen Beteuerungen unmöglich Reales hängt. Der von aller Verweigerung und Entstellung, von aller Entfremdung und Enteignung (›Enteigenheitlichung‹) Befreite ist eine reine Vernunftgestalt, der allein der Idealist ›Leben‹ einhaucht. Alle Enteignungsbegriffe dieser Art haben nämlich nur die eine sachliche Bedeutung: Irrationalität und das heißt Widerspruch. Die korrekt verstandene Vernunft kann mit – vernünftiger – Emanzipation nichts anderes meinen, als daß Menschen ihre ›gesellschaftlichen Widersprüche‹ loswerden. Daß damit mehr als eine Selbstauslegung der Vernunft gemeint sein könnte, nämlich eine Auslegung gesellschaftlicher Realität (sc. als künftiger und bereits heraufziehender), ist schon kein Selbstmißverständnis der Vernunft mehr, sondern ihre bewußte und eben ›selbst‹-bewußte Blindheit: ›dialektisch‹ aus Vernunftformalien und Vernunftgestalten auf reales Geschehen zu schließen. Nicht mit Widersprüchen ›leben‹ zu können, ist allein Eigenart der Vernunft. Darum hat der Widerspruch für den Menschen nur die Bedeutung des Unvernünftigen und Unmenschlichen, falls der Mensch Vernunft ist. Da er aber, wie er sich geschichtlich zeigt und versteht, das nicht ist und seiner lebensteiligen Art nach auch gar nicht sein kann (und will), liegt in dieser Vernunftbeurteilung kein Sinn für Realität, ja eben ihre bewußte Verneinung und Verdrängung. Wie der identische und der emanzipierte, ist auch der angeeignete Mensch eine reine Vernunftgestalt: der Mensch, dem nichts mehr fremd, sondern 156 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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alles, was ihm begegnet, eigen ist, der Mensch, der nurmehr sich selbst begegnet: als gesellschaftliche Vernunft. Für Realitätssinn und Lebensbefähigung käme es jedoch gerade darauf an, im Eigenen offen zu sein für Fremdes, ja eigens Fremdheit zu bewahren: gegenüber den eigenen Anderen, nicht zuletzt gegenüber dem eigenen Leben und dem eigenen Tod. Alles, was die vermeinte Dialektik als Entfremdung bestimmt, gegen die eine restlose Aneignung durchzusetzen sei, entdeckt sich bei genauerem Zusehen ausschließlich als eine Entfremdung der Vernunft, jedoch überhaupt nicht als eine des geschichtlichlebendigen Menschen. Das ist betont zu sagen, um zu erinnern, daß nicht Kränkungen der – universellen – Vernunft das Unmenschliche sind, das den Menschen ins Elend treibt und in ihm festhält (Kränkung der Vernunft als der vermeinten Würde des Menschen), sondern die methodische Unterbindung des endlichen und öffentlichen Einander. Mit der Idee des der Vernunft entfremdeten Menschen, dem man die universell praktizierte Vernunft genommen und somit enteignet hat, die Sache des menschlichen Menschen zu vertreten, ist reine Selbstanmaßung der schönen Vernunft: der schönen introvertierten. Daß es sich bei der Emanzipation des Menschen zum Menschen, der Aneignung des Menschen als Menschen und der Identität des Menschen mit dem Menschen um ein blutleeres reines Vernunftgebilde handelt, wird am deutlichsten daran erkennbar, daß dieser Homunkulus alle Eigenheiten des Menschen aus sich ausgeschieden hat. Er ist der eine Mensch geworden, ein Wesen, ohne Unterschied: der gesellschaftliche und in eins vernünftige Mensch. Vernunft ist seine ›Eigenheit‹, seine einzige. Als Mensch ist er gesellschaftliche Vernunft. Er spiegelt sich grenzenlos in sich selbst. An Halt und Einhalt durch Andere und durch den Tod ist nicht zu denken, nicht zu reden vom Gehaltensein durch den ganz Anderen des Mythos. Jedes Einander ist getilgt. Kinder und Eltern, Mann und Frau, Kranker und Gesunder, Reicher und Armer, Heimischer und Fremder sind das alles nicht mehr. Sie sind nurmehr ›Menschen‹, das heißt in sich 157 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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einige gesellschaftliche Vernunft. Sie sind damit identisch, frei und selbsteigen, eben vernünftig, also ohne jede Andersheit und Entzweiung, jeden Widerspruch, jedes Nein und Off Limits. Der vollends ›angeeignete‹ Mensch »in diesem ganzen Reichtum seines Wesens« ist als das Wesen, das er ist, trotz anderslautender Beteuerungen und andersgerichteter Intentionen, der vollends wesenlose Mensch, wenn das heißt: ohne jede lebendige Kontur, die ihn je den Einen zum Anderen sein ließe – in Gemeinschaft und Gesellschaft. Die Identität des Menschen mit der Vernunft und als Vernunft ist allein als Selbstidentität der Vernunft zu deuten. Die Interessen des Menschen sind damit die Interessen der Selbsterhaltung der Vernunft geworden. Die Spiegelung des gegenwärtigen Menschen im Neuen Menschen, die dafür blind ist, nicht mehr und nicht weniger als reine Vernunftspiegelung zu sein, ist mit dadurch gekennzeichnet, daß in ihr eine eigenartige Verbindung von Sein und Sollen den Anschein von Wirklichkeit erhält. Das Problem der präskriptiven Wesensbestimmung zeigt sich. Dem Menschen wird vorgespiegelt, das zu sein, was er sein soll. Wesensbestimmung als Aufforderung, als eine Art Befehl – nein, das hat nur diesen Anschein. In Wahrheit steckt in der Vernunftspiegelung des Menschen, wie sie reine Selbstspiegelung ist, überhaupt kein Sein, sondern ausschließlich Sollen, das heißt Ausgelegtsein als Zweck. Geradezu klassisch zu nennen ist die Kurzfassung des gespiegelten Sachverhalts in der Formulierung: Ich bin schlechthin, d. h. ich bin schlechthin, weil ich bin; und bin schlechthin, was ich bin. 80

Im »weil« spricht die Vernunft: das Sollen, der Zweck: er ist schlechthin, weil Er seyn soll: sein bloßes Seyn ist der letzte Zweck seines Seyns. 81 80 81

J. G. Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, S. 18. J. G. Fichte, Von den Pflichten des Gelehrten, S. 5.

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Das Sein ist auf diese Weise ganz und gar in den Anspruch der Vernunft aufgehoben: ins Sollen. Kein Hume’scher ›Graben‹ findet sich mehr zwischen beidem. Es hat überhaupt nur eines statt: Vernunft. Sie hat das Wort dann nicht nur im Weil, sondern ebensosehr im Was: der Mensch lebt der Vernunft u n d er lebt als Vernunft. Das Sein bzw. Leben des Menschen, wie es sich in der Vernunft spiegelt, ist die Vernunft in ihrem Selbstverhältnis. Der ›lebendige‹ Mensch ist eine bloße Vernunftgestalt. Fichte unterstreicht das noch dadurch, daß er ›realistisch‹ genug ist, die Sinnlichkeit des Menschen nicht zu vergessen: Insofern also der Mensch etwas ist, ist er sinnliches Wesen. Nun aber ist er (…) zugleich vernünftiges Wesen, und seine Vernunft soll durch seine Sinnlichkeit nicht aufgehoben werden, sondern beide sollen nebeneinander bestehen. 82

Dies Nebeneinander ist aber von besonderer Art: Der Mensch soll seyn, was er ist, schlechthin darum, weil er ist, (…) weil er ein Ich ist. 83

Die Sinnlichkeit hat also ›neben‹ der Vernunft gar keinen Bestand: alles was er ist, soll auf sein reines Ich, auf seine bloße Ichheit bezogen werden. 84

Sich auf – bloße – Ichheit zu beziehen, bedeutet aber für die Sinnlichkeit, sich als Sinnlichkeit aufzugeben: sie wird vernünftig, durch und durch, das heißt sie wird in die Vernunft integriert – ein Moment integraler Vernunft. Der Mensch soll stets einig mit sich selbst seyn; er soll sich nie widersprechen. 85 82 83 84 85

Ebd., S. 6. Ebd., S. 6. Ebd., S. 6. Ebd., S. 6.

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Der Mensch im Spiegel reiner Vernunft

Die Sinnlichkeit, die ›ihre‹ Widersprüche und ›ihr‹ Widersprechen vor der Vernunft aufgibt, gibt sich selbst auf. Der identische und widerspruchsfreie Mensch ist der reine Vernunftmensch. Wie Karl Marx die namentliche Erinnerung von Mann und Frau nicht davor bewahren kann, mit dem angeeigneten Menschen allein eine Vernunftgestalt des Menschen zu produzieren, in der Vernunft sich selbst auslegt, so rettet Fichte die Erinnerung der Sinnlichkeit nicht. Als Vernunft der Vernunft leben – besser läßt sich vermutlich die – theoretische – Ahumanität und Inhumanität nicht auf den Begriff bringen, die in dem Konzept liegt, den Menschen als ein Wesen zu deuten, das ein und nur ein Wesen hat und eigentlich dies Wesen ist: Vernunft (sc. gesellschaftliche). Die Spiegelung des Menschen in reiner praktischer Vernunft ist nur zum Schein eine Spiegelung realen Seins im Sollen, leibhaftiger geschichtlicher Gegenwart in idealer geschichtlicher Zukunft. In Wahrheit sind beide Seiten des Spiegels aus demselben ›Material‹ : aus Vernunft. Daran kann selbst das Sesam-öffne-dich!-Wort »Dialektik« nichts ändern. Vernunft in reiner Selbstspiegelung bekommt das Tor zur menschlichen Realität nicht auf – weder als künftiger noch auch nur als gegenwärtiger. Vernunft hat selbst das Tor dazu zugeschlagen. Als Wesen des Menschen hat sie alles dichtgemacht. Sie ist nurmehr bei sich selbst.

3.4 Der Mensch im Spiegel des Vernunftbedürfnisses Die Grundüberzeugung utopischer Vernunft, daß der Mensch ›heute‹ von seinen wahren Bedürfnissen getrennt lebe, beruht auf dem bedenklichen Vorurteil, daß er als Mensch einzig und allein der Vernunft bedürfe. Das ist genau nicht mehr die alte Geschichte, die Protagoras erzählt, daß der Mensch nicht ohne technische Vernunft (ἔντεχνος σοφία) gegen die Natur und nicht ohne politische Vernunft (τέχνη bzw. ἐπιστήμη πολιτι160 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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κή) mit seinesgleichen bestehen könne. 86 Die utopische Vernunft bestimmt das Vernunftbedürfnis des Menschen nicht von etwas her, daß außerhalb ihrer selbst liegt, sondern aus ihr selbst. In der Absicht, das Selbstverhältnis zu verdecken und den Anschein eines Verhältnisses von Sein und Sollen zu erwecken, wird die Irrationalität in das Vernunftwesen selbst verlegt und damit in die Vernunft: sie wird ambivalent. Der vernünftige Mensch der ›Gegenwart‹ bedürfe der Vernunft (habe Mangel an ihr), weil er als Mensch der ›vernünftigen Vernunft‹ bedürfe. 87 Doch die Formulierung der ›wahren‹ Bedürftigkeit verdeckt das. Sie spricht davon, daß das Bedürfnis des Menschen zum menschlichen Bedürfnis und damit der andere Mensch als Mensch zum Bedürfnis zu werden habe. 88 Der gesellschaftlich zur Vernunft und vernünftig zur Gesellschaft gekommene Mensch ist aber als die Utopie, die er ist, unmöglich ein Bedürfnis von Menschen, das sich auf Menschen richtet. Der vermeinte andere Mensch kann einzig und allein aus dem ›Interindividuellen‹ der Vernunft begegnen, das in seiner reinen Homogenität eine bloße Setzung der Vernunft und kein Lebensverhältnis ist. Mag der Andere zwar in einer Unterschiedenheit wie der des Geschlechts angesprochen werden, er ist dennoch der abstrakt Andere in einer praktisch inexistenten und unmöglichen Welt. In diesem – theoretisch entworfenen – Verhältnis zum ›Anderen‹ gibt es kein einander Brauchen und Fruchtbarmachen. Der ›gegenwärtige‹ Mensch als das noch ungestillte BedürfPlaton, Protagoras 321d ff. K. Marx, Frühschriften, S. 169: »Die Vernunft hat immer existiert, nur nicht immer in der vernünftigen Form.« ›Vernünftige Vernunft‹ ist heute ein in der affirmativen Diskussion der Habermas’schen Idee von kommunikativer Rationalität gern verwandter Begriff. Siehe Ch. Karpenstein, in: Ch. Hackenesch, Die Zukunft der Vernunft, S. 46 f.; 118. 88 K. Marx, Frühschriften, S. 235. 86 87

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nis seiner selbst – das ist ein tautologischer Wesensentwurf ohne mögliche Rücksicht auf die lebensteilige Orientierung menschlicher Bedürftigkeit. Seine Tautologie versteckt sich als vorgeblich geschichtliches, in Wahrheit geschichtsunfähiges, bloß theoretisches Auseinander von unvernünftiger und vernünftiger Vernunft, von Sein und Sollen, von Sein und Werden (künftigem Sein). Wenn Vernunft in Selbst- und Letztbegründung dem Menschen nahezubringen sucht, sein wahres und vernünftiges Bedürfnis, das heißt sein Bedürfnis als Mensch einzig und allein in praktizierter reiner Vernunft zu sehen (es sei vernünftig, auf genau diese Weise vernünftig zu sein), dann spricht sie zwar von der Aneignung dieses noch nie praktizierten Vernunftseins als einer »Rückkehr« 89 , hat aber doch den Neuen Menschen als den völlig anderen und noch nie dagewesenen im Sinn. Freiheits-, Identitäts-, Totalitäts- und Rückkehrbedürfnis je als Vernunftbedürfnis verstehen sich nicht aus der Mitwisserschaft geglückter Lebensteilung, sondern ›rein‹ aus Vernunft. So soll die geplante Rückkehr die Heimkehr in etwas sein, das noch nie war und wo darum auch noch niemals Menschen waren. 90 Mit ihrem utopischen Vorschlag sucht die Vernunft den Menschen in eine Spannung zu versetzen, die ihn von der gemeinschaftlich-gesellschaftlichen Bejahung und Bewährung seines geschichtlichen Seins abbringt, um es auf eine ebenso utopische wie uchronische Zukunft zu fixieren. Er soll sich allgemeine bzw. wesensgemeine Bedürfnisse zueigen machen, die im Prinzip am Einander vorbeigehen. Der unterschiedene und der gleiche Andere sind zu ›jeder beliebige‹ verkommen. Geht man in Absicht des rein allgemeinen Bedürfnisses etwa

K. Marx, Frühschriften, S. 236. E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Bd. III, S. 1628: »Hat er hder Menschi sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.«

89 90

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auf die Aufhebung der »ganzen alten Gesellschaftsform« 91 zu (wobei die Anmaßungen, etwas ›ganz‹ zu begreifen und für ›alt‹ zu erklären, zusammengehören), dann ist schon alles, was man als Gesellschaftsform zitieren möchte, zur bloßen Form der Vernunft bzw. Unvernunft geronnen: zur ausstehenden gesellschaftlichen Vernunft als der vernünftigen Vernunft (sie wäre vernünftig, weil sie vernünftig wäre). ›Herrschaft überhaupt‹, ›Privateigentum‹, ›Arbeitsteilung‹, ›Geldwirtschaft‹ – in der Weise, wie das alles, wird es negiert, die Vernunftutopie determiniert, sind es Vernunftkategorien, Kategorien utopischer Vernunft, die ihre Beziehung zur historischen Realität verloren haben. Menschlichem Realitätssinn stellen sie sich nurmehr als theoretische Monstren vor, in denen sich die schöne introvertierte Vernunft als negierte spiegelt. Was hierbei als ›notwendige Illusion‹ und Ideal gemeint sein mag, kreist in der Vernunft selbst: sie verhält sich zu sich selbst utopisch, illusionistisch, idealistisch. Als sei es eine List ihrer Selbstbegründung, fängt sie zu glauben an: an den Fortschritt der Vernunft. Wie es so mit ihr steht, liegt die Blindheit gegenüber dem geschichtlichen Menschen in seiner gemeinschaftsund gesellschaftskonstituierenden Andersheit und Gleichheit in ihrer eigensten Absicht. Im – wohlverstandenen – pseudorealistischen Vernunftidealismus organisiert Vernunft nicht bestimmte Bedürfnisse des lebendigen Menschen als Interessen, sondern vertritt sie ausschließlich ihre eigenen ›Bedürfnisse‹ und ›Interessen‹. Friedenssehnsüchte, Aussöhnungswünsche, Harmoniebestrebungen, Freiheitswille und Identitätstrieb 92 – wie das vom Vernunftidealismus artikuliert wird, nennt es Bedürfnisse rein der Vernunft, vereint im Bedürfnis der Widerspruchsfreiheit, und nichts sonst. Was Vernunft etwa als ›emanzipatorisches InterK. Marx / F. Engels, Die Deutsche Ideologie, S. 31. J. G. Fichte, Von den Pflichten des Gelehrten, S. 13: »Der höchste Trieb im Menschen ist (…) der Trieb nach Identität.«

91 92

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esse‹ (Interesse an ›Mündigkeit‹, ›Herrschaftsfreiheit‹ usw.) vertritt, ist nichts, was ihr vom geschichtlichen Menschen, wie er leibt und lebt, zu- und aufgetragen würde. Dahinter steht allein sie selbst, denn nur sie glaubt in ihrem Glauben an sich selbst, damit etwas anfangen zu können, unmöglich aber der geschichtliche Mensch. Harmonie, Aussöhnung, Friede – wie das die total gemeinte und aufs Totalitäre herauskommende Vernunft der Gesellschaft bzw. Gesellschaft der Vernunft vertritt, hat es mit Friedenssehnsüchten von Menschen, die von Feindseligkeiten und Unmenschlichkeiten heimgesucht sind, in der Sache nichts gemein.

3.5 Der Mensch im Spiegel vernünftiger Gesinnung Utopisches Denken als einzig zu bejahendes gesellschaftliches Handeln in vernunftloser Zeit ist altes philosophisches Selbstverständnis. Dem Philosophen ist es gleich, ob sein ausgedachter utopischer Staat irgendwo ist oder sein wird, denn dessen Angelegenheit allein wird er doch besorgen wollen (πράξειεν), eines anderen aber gar nicht. 93

Sieht, wie bei Kant, Vernunft ihre praktische Aufgabe darin erfüllt, den Willen als rein vernünftig zu bestimmen, liegt im Prinzip die gleiche Überzeugung vor: es kommt nicht auf gesellschaftliche Wirkung, sondern auf das ›Handeln‹ im Menschen an, in diesem Falle auf die Erweckung und Stabilisierung moralischer Gesinnung. Die eigene Vernunft in ihrer universell vorgestellten Potenz, das praktisch Richtige zu wissen, gebietet da ihrem jeweiligen Eigner vernünftig zu sein, das aber heißt, universell verträglich handeln zu wollen. Er soll in sich so handeln, daß seine vernünftige Handlungsdisposition sich mit der Frage ›Was wäre, wenn das jeder wollte?‹ die universelle Wider93

Platon, Politeia IX 592b.

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spruchsfreiheit des Handelnwollens sichert. (Realistisch gemeinte Umgestaltungen dieser Frage in der Form ›Was wäre, wenn das jeder täte?‹, und selbst ›realistische‹ Einschränkungen des Jedermann heben Kants Ansatz nicht auf, da auch sie allein mit dem formalen Prinzip des Nichtwiderspruchs arbeiten.) Was aber sein soll (›ich will, weil ich soll‹), kann sein. Ab sofort genügt diese Möglichkeit. Denken als introvertierter (und ›schöner‹) Vernunftgebrauch wird zum eigentlichen Handeln, weil es nicht länger um gesellschaftliche Wirklichkeit geht, sondern um im Prinzip reine voluntative Bedingungen der Möglichkeit, gesellschaftlich vernünftig zu wirken. In der gegenwärtigen Gesellschaft ist dies im Prinzip Reine nicht handlungsfähig. Seine ›Zeit‹ bricht, wie Kant zu erkennen gibt, erst mit der Ewigkeit an (in einer ›neuen Welt‹). Platons und Kants Konzeption vernünftigen ›Handelns‹ ist für die Lebenspraxis ohne Unterschied. Ob nämlich ein Philosoph sich eine, prinzipiell mögliche, gute und vernünftige Gesellschaft ausdenkt oder den Einzelnen in sich selbst durch einen ›Gedanken‹ die prinzipielle Möglichkeit zu gutem und vernünftigem Handeln schaffen läßt, bleibt sich für den je gegenwärtig gesellschaftlichen Menschen gleich: gleich unbedeutsam. Prinzipiell möglich heißt ja in beiden Fällen nur das, was zwar dem Menschen und seiner Geschichte, nicht aber der reinen Vernunft widerspricht. Nun hat sich allerdings eine andere Überzeugung der Vernunft dahingehend geäußert, daß es nicht mehr allein und nicht im wesentlichen auf das Denken, sondern vielmehr auf das Handeln ankomme, nicht länger darauf, Wirklichkeit anders zu deuten (vom Wandel der rein theoretischen Begründung der Einstellung zu ihr ganz zu schweigen), sondern wirklich zu verändern. 94 Doch die veränderte Überzeugung darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Sachlage mit ihr praktisch die gleiche bleibt: das Denken geht vom Bezug zur Wirklichkeit als solcher 94

Siehe K. Marx, Frühschriften, S. 341.

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ab, richtet sich auf die – gedachte – Möglichkeit ein, um auch so nicht mehr darum herumzukommen, im Denken seine eigentliche praktische Erfüllung zu sehen und zu finden. Mag es sich dann auch zur Agitation entschließen, versuchen, der gesellschaftlichen Unvernunft mit der Vernunft zu kommen, an Aufklärung als Bewußtseinsveränderung glauben: unvernünftiges Bewußtsein rein durch Vernunft zur Vernunft zu bekehren – es bleibt dabei, daß die Vernunft nicht aus sich selbst herauskommt. Der – im Prinzip – rein Vernünftige ist in seinen Äußerungen unverständlich für Bewußtsein, wie es alltäglich gefordert ist und sich bewährt. Wirkt er auf ›Unvernunft‹ ein, dann handelt es sich entweder um eine willkürliche Deutung seitens des Vernunftidealisten, oder aber er bringt genügend Emotion und Gewalt (Rhetorik) in sein Ansinnen ein, so daß wenigstens dies beides nicht ganz ohne Wirkung bleibt. Der Anschein vernünftiger Auswirkungen werbender utopischer Vernunftäußerungen bleibt nur darum so stark im Vordergrund, weil Philosophen sich gelegentlich schon einmal selbst übersetzen und Handlungsanweisungen aus ihren Prinzipien ›ableiten‹ können. Das Unmögliche wird dem, der sich blenden läßt und die philosophische Realitätsblindheit emotional teilt, als machbar erscheinen. Wer in jeder historischen, prinzipiell für schlecht und unvernünftig ›erkannten‹ Wirklichkeit allein noch die Möglichkeit der guten und vernünftigen zu sehen bekommt, löst sich aus der geschichtlichen und gesellschaftlichen Realität, um sich altbewährt, er hat gar keine andere Wahl, dem Denken zuzuwenden und in seiner Region heimisch zu werden. Der revolutionäre Impetus, von reiner Vernunft vereinnahmt, gerinnt zur transzendentalen Revolutionstheorie und damit zur revolutionären Gesinnung. Die Vernunft nennt ihre Bedingungen, unter denen gesellschaftliche Unvernunft sich im Prinzip in Vernunft wandelt. Die Vernunft muß für sich nicht weiter als bis zu dem systematischen Punkt kommen, der die Veränderung der unvernünftigen Gesellschaft in eine – vollends – vernünftige im Prin166 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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zip für denkbar und das heißt auch schon für machbar erklärt. Das Prinzip genügt; es genügt der Vernunft; in ihm genügt sie sich selbst. Die Wirklichkeit wird davon als solche nicht beeindruckt. Gesinnung hat das auch gar nicht nötig. Ihr genügt es, sich als solche zu solidarisieren. Transzendentalphilosophie ist jeweils möglichkeitsfixiert – bei Immanuel Kant, bei Karl Marx (bis zu Jürgen Habermas), bei Martin Heidegger. So kommt es je nachdem zur moralischen, revolutionären, existentiellen Gesinnung. Marx ist mit seinem Vernunftverständnis und seiner dialektischen Konzeption nicht weniger Idealist und Utopist als Platon, nur daß er sich weit mehr um Recherchen im realen Detail bemüht und in Agitation versucht und damit ein hervorragendes Beispiel für die idealistisch fehlgehende Annahme liefert, daß Utopie, ja auch nur der Geist der Utopie, in Realität umzusetzen sei. Wenn in der Oktoberrevolution in Rußland den Bolschewiki und nicht den Menschewiki die Ergreifung der Macht auf Dauer gelingt, dann ist das kein Beweis dafür, daß geschichtlich gewachsene gesellschaftliche und lebenspraktische Realität an ›ihren Widersprüchen‹ zugrundegegangen sei, ihr Kapitalistisches etwa am ›Widerspruch‹ zwischen einer prinzipiellen Tendenz zu fallenden Zinsen und einer prinzipiellen Tendenz zu erhöhter Kapitalverzinsung. Wer meint, man könne nicht länger an der Philosophie vorbeigehen, weil sie durch Marx politisch-gesellschaftliche Wirklichkeit riesigen Ausmaßes auf unserer Erde geworden sei, redet schlicht an den Tatsachen vorbei. Die Stabilisierung der unter Führung von Wladimir Iljitsch Lenin durch die Bolschewiki gewonnenen Macht gelingt in den 20er und 30er Jahren durch realistische Beendigung der utopischen Hoffnung auf den Neuen Menschen, durch den ›Vaterländischen Krieg‹, durch den Personenkult um Josef Stalin, in nichts aber durch den Pseudorealismus utopischer Vernunft. Wenn es dennoch Geister gibt, die immer wieder einmal die Rechnung aufmachen, auf welcher Stufe bis zur Stunde die staatsgeformte Gesellschaft in ihrer Annäherung an den Neuen 167 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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Menschen gelangt sei, dann ist das entweder läßliches Spiel von Ideologen oder Selbstbetrug der Herrschenden. Die entwickelten Bedürfnisse an Lebensmitteln, Kleidung, Spielgeräten und Fortbewegungsmitteln erweisen sich, sobald man sie entstaatlicht, menschenweit als so gut wie gleich, nicht weniger der opportunistische Umgang mit dem Überangebot von Konsumgütern. Der Mensch, soweit wir ihn geschichtlich sehen, ändert sich nicht: er wird nicht ›menschlicher‹, nicht ›unmenschlicher‹. Nirgendwo zeigt sich ein Mensch – individuell und gesellschaftlich –, der als Mensch neu geprägt wäre. Mit seiner utopisch auf Gesellschaft ausgerichteten Vernunft kann ein Marxist von keiner anderen als der schönen und introvertierten Vernunft wissen. Wie es keine christliche Politik im Geiste der Bergpredigt gibt (die jetzt Weinenden zum ewigen Lachen, die jetzt Lachenden zum ewigen Weinen zu bringen) und damit unmöglich Annäherungen an diese Predigtvorgaben, so auch keine marxistische Politik im Geiste der klassenlosen Gesellschaft. Wer auch immer regiert und wie auch immer regiert wird, jedes Regiment setzt vital gebundene Vernunft ein – zugunsten oder zuungunsten der Regierten. Sobald Marxisten politisch-gesellschaftlich handeln, übersetzen sie, wie alle Vernunftutopisten in vergleichbarer Lage, auf willkürliche und zufällige Weise ›Unmögliches‹ in Realität, das heißt sie geben ihre reine Vernunft auf und verlegen sich praktisch aufs ›Widersprechen‹. Eine gute marxistische Politik im Sinne einer authentisch-marxistischen kann es nicht geben, da sich Politik, ist der Mensch ihr Maßstab, unmöglich nach gesellschaftsinadäquaten Prinzipien, sondern allein nach ihren lebenspraktischen Auswirkungen beurteilen läßt. Totalitätsdenken, Identitätsdenken, der grundsätzliche Versuch der Systematik – wie auch der Vernunftansatz im einzelnen firmiert, er läßt allein Denken als ›eigentliches Handeln‹ zu. Das Gedachte den Realitäten als Rat und Aufruf zur Tat anzudienen – in Syrakus, Berlin, Paris, St. Petersburg, ändert nichts daran. Jede reale Emotion und realistische Strategie, die in diesen Aufrufen steckt, stellt nichts ande168 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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res als eine im Prinzip willkürliche ›Übersetzung‹ von Utopie dar. Wo Prinzipien zu herrschen vorgeben, die der reinen Vernunft entsprungen sein und ihr weiterhin dienen sollen, herrschen in Wahrheit nicht Prinzipien, sondern sind nicht zuletzt Mechanismen der Selbsterhaltung von Macht am Werk. Die Realisierung von Utopie dagegen erforderte utopische Bedingungen, die Herrschaft reiner Vernunft z. B., daß sich kein Widerspruch gegen sie regt. Der utopischen Vernunft kann nicht entgehen, daß ihr eigentliches Problem nicht die gesellschaftliche Realität, sondern die Vernunft selbst ist. Was Platon die Sophisten sind, ist heutigen Vernunftutopisten die ›instrumentelle Vernunft‹ (Max Horkheimer), die ›einseitige Vernunft‹ (Jürgen Habermas) oder wie Vernunft es sonst noch fertig bringt, das, was an ihr gesellschaftlich brauchbar und nicht utopisch ist, zu diskreditieren. So bleibt ihr nur ein kleiner Handlungsspielraum: geschichtlich-gesellschaftliche Realität utopisch zu spiegeln, sie daraufhin für irrational anzusehen und zu diffamieren, zugleich aber sich selbst mit ihrem Auge für die vernünftigen, wenn auch nicht geschichtlichen Möglichkeiten im ›Unvernünftigen‹ zu loben. Und dabei wird ihr – bemerkenswerterweise – auch ihr einziger gesellschaftlicher Erfolg zuteil: man bescheinigt ihr löbliche Gesinnung, was sich eine menschliche Gesellschaft nur leisten kann, weil das im Grunde Unmenschliche dieser Gesinnung eben nichts weiter als Gesinnung ist. So kann der Nimbus des einzigartig Humanen dieser Gesinnung noch lange erhalten bleiben.

3.6 Der Mensch im Spiegel der Kritik des Unmenschlichen Was der Mensch gegebenenfalls an Menschen als solchen zu kritisieren hat, kann in praktischer Absicht nur Unmenschliches sein. Begegnet dem Menschen solches, was lebensteilig eigentlich als Mensch bzw. als menschlich zu erkennen, zu erfahren 169 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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und zu bejahen sein müßte, de facto aber genau diese Antworten nicht verdient und auch nicht möglich macht, dann scheidet er es im eigenen lebenspraktischen Interesse aus dem, was er für Mensch und menschlich ansieht, aus, zeigt es als unmenschlich an und geht zu ihm im Verständnis seines eigenen Seins auf Distanz. Kriterium für das Ausscheiden des Unmenschlichen ist das Einander, in dem Menschen sich gegenseitig brauchen und füreinander fruchtbar werden. Unmenschlichkeit ist ebensowenig eine Utopie wie Menschlichkeit. Die kritische Differenzierung von beidem ist lebenspraktischer Alltag. Jede methodische und systematische Negation von Menschen als Menschen bedeutet Unmenschlichkeit. Sie kündigt die Lebensteilung auf, in der Menschen einander eigentlich zu begegnen und Menschen zu sein hätten. Jede praktisch-selbstbewußte Affirmation von Menschen als Menschen ist dagegen Zeichen von Menschlichkeit. Sie ist Grundzug gelingender Lebensteilung. Die Kritik des Unmenschlichen ist unverzichtbares Instrument jeder lebenspraktisch bedingten Verständigung des Menschen über sich selbst als Mensch. Standpunkt und Ziel der Kritik, wie sie die Protagonisten utopischer Vernunft an Menschen und Menschlichem üben, sind von gänzlich anderer Art. Sie verstehen sich allein auf die ebenso prinzipielle wie universelle Kritik am Bestehenden. Ihre – gedachte – reine Vernunft ist sich für sich völlig sicher, nicht die in ihm herrschende zu sein, da sie von der je gegenwärtigen Gesellschaft nicht widergespiegelt wird. Für sie selbst ist damit die Ausscheidung des Unmenschlichen immer schon vollzogen. Als vernünftige Vernunft sieht sie sich in der Position des menschlichen Menschen. Alles, was signifikant nicht sie selbst ist, kann nur unmenschlich sein. Daß »das Bestehende sein Gegenteil bestätigt«, ist das Credo der transzendentalphilosophischen Revolutionstheorie. 95 95

K. Marx, Frühschriften, S. 269.

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Die Bedingungen dieser Bewegung des Kommunismus als Aufhebung des jetzigen Zustandes ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung. 96

In bester Entsprechung zur emphatischen Ontologie, die ihr in Abhebung zur banalen Realität utopisch Gemeintes nur mit sprachlichem Auftrumpfen, das für sich genommen bedeutungslos ist (allem voran das griechische αὐτό), artikulieren kann, üben sich auch Karl Marx und Friedrich Engels bei der Formulierung ihrer Theorie im Emphatischen: die wirklich bestehende Welt, die wirklichen Voraussetzungen, die wirklichen Individuen, das wirkliche Leben, die wirklichen Menschen, der wirkliche Lebensprozeß, der wirkliche Entwicklungsprozeß, die wirkliche Wissenschaft, das wirkliche Wissen, die wirkliche Geschichte, die wirkliche Darstellung, das wirkliche Bewußtsein, die wirkliche Teilung (der Arbeit), wirklich etwas vorstellen, die wirklichen Einzel- und Gesamtinteressen, die wirklichen Kämpfe (der Klassen), die wirkliche Bewegung (»Wir nennen Kommunismus …«), der wirkliche geistige Reichtum (des Individuums), die wirklichen Beziehungen (des Individuums), der wirkliche Produktionsprozeß, die wirklichen Motive, die wirklichen irdischen Verhältnisse, die wirklichen historischen Ereignisse,

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K. Marx / F. Engels, Die Deutsche Ideologie, S. 33.

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die wirklichen historischen Eingriffe (der Politik in die Geschichte), der wirkliche Kommunist. 97

Das Bestehende, ins Emphatische gesetzt, bestätigt so in der Tat sein Gegenteil. Wer auf die geschichtliche Dialektik des Bestehenden setzt, hat mit der unaufhörlichen Veränderung und Neuerung, die wie von selbst geschieht, nichts im Sinn. Die Sonne ist neu jeden Tag. 98

Die Art des kosmischen Umschwungs der Dinge hat zwar gesellschaftlichen Revolutionen ihren allgemeinen Namen gegeben, bringt aber dabei nicht das Neue zur Sprache, auf das die Revolutionstheorie schwört. Schon die Frage in der Begrüßungsformel ›Was gibts Neues?‹ (τί νεώτερον;) im alten Athen hätte sich nicht mit dem neu erfolgten Sonnenaufgang als Antwort zufriedengegeben. Die transzendental-philosophische Revolutionstheorie hat nun allerdings eine ganz besondere Art, sich nicht mit einem unaufhörlichen Wandlungsprozeß abzufinden, der Gesellschaften wie von selbst entstehen, bestehen, sich tradieren, veralten und sich verjüngen, aufblühen und zugrundegehen läßt. Sie setzt auf das ›ganz andere‹ – auf das ›Gegenteil‹ und den ›Widerspruch‹. Zwar wird mit ihrer Zustimmung immer wieder einmal ein ›Zurück‹ formuliert, z. B. die ›Rehumanisierung der technischen Naturbewältigung‹ oder die ›Renaturalisierung des menschlichen Naturbezugs‹ (ganz nach dem Marx’schen Motto ›Stoffwechsel mit der Natur‹). Da aber eine allseitig praktizierte reine Vernunft nicht nur die Realisierung von Inhumanem, sondern zuvor die von Ahumanem bedeutete, kann das ›Zurück‹ nicht mehr als eine Floskel sein. Was unmöglich zu einer Zeit sein kann, ist niemals gewesen.

Ebd., I. Teil. Die Beispiele sind nach der Reihenfolge ihres jeweils ersten Auftretens im Text angeführt. 98 Heraklit, Fragment B 6. 97

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Die transzendentalphilosophische Revolutionstheorie institutionalisiert sich nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik repräsentativ als ›Kritische Theorie‹. In ihrem Reformulierungsbestreben legt diese Theorie offenbar besonderes Gewicht darauf, sich schon im Ansatz um jede Möglichkeit zu bringen, in gesellschaftlicher Gegenwart und für sie das Unmenschliche – theoretisch – vom Menschlichen zu sondern. Ihr genügt nämlich die einfachste Form von Unvernunft: der Widerspruch – hier in der Form des Gegenteils von Utopie, um den ›Unmenschen‹ auszumachen. Die ›Unmenschen‹, die sie sieht, sind, wie sie dieselben sieht, keine konkreten Gestalten negierten und lädierten menschlichen Einanders, sondern sind einfach darum Typen des Unmenschlichen, weil sie auf der falschen Seite des gesellschaftlichen Widerspruchs stehen. Dieser Widerspruch aber zeigt sich für sie allein dadurch, daß sie den ›gegenwärtigen‹ Menschen in utopischer Vernunft spiegelt. Es versteht sich von selbst, daß bei einer solchen Sicht der Dinge Kritik nicht ›revisionistisch‹ einen konkreten Fall behandeln möchte, sondern jederzeit zu nichts weniger bereit ist, als – theoretisch – aufs Ganze zu gehen. So stellt sich die ›Kritische Theorie‹ als methodischer Standpunkt der Abschaffung aller – brauchbaren – Gesellschaftskritik dar. Das Unmenschliche kann prinzipiell nicht getroffen werden, wenn es sich als Gegenbild einem Menschen verdankt, der noch nie war und auch nie sein wird. Die Sache wird nicht besser, wenn man den Neuen Menschen als eine ›bloß regulative Idee‹ gemeint haben möchte. In dieser Idee ist die praktische Mitwisserschaft glückender Lebensteilung als Kriterium für Menschlich und Unmenschlich negiert. Im Ratiozentrismus der ›Kritischen Theorie‹ bleibt keine Eigenheit bestehen. Ihr Neuer Mensch kann ›regulativ‹ allenfalls bedeuten, den Menschen in Gang setzen zu wollen, seinen zutiefst human gemeinten, in Wahrheit aber ahumanen und inhumanen Entwurf nach Möglichkeit einzuholen. Die ›Kritische Theorie‹ geht, genau besehen, nicht auf 173 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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Distanz zur existierenden gesellschaftlichen Wirklichkeit, sondern zu einer in ihren Augen gesellschaftlich existierenden Form von Vernunft. Auf diese Weise geht in ihr Vernunft allein zu sich selbst auf Distanz: utopische Vernunft zur gesellschaftlich existierenden als der noch nicht vollends entwickelten und fortgeschrittenen, kurz: als der noch nicht vernünftigen Vernunft. Ratiozentristische Transzendentalphilosophie als Vernunftkritik – was sollte sie auch anderes sein, anderes tun! Es ist dann ziemlich gleichgültig, mit welchem Namen sie die vermeintlich noch unvernünftigen Formen der Vernunft belegt. Als ›rekonstruktive Kritik‹ 99 ist sie sich sicher, ausschließlich Vernunft zu thematisieren und allein mit Vernunft zu operieren. So ist es ebenfalls nicht weiter bedeutsam, wie sie ihren Optimismus veranschaulicht, der sie – theoretisch – den Weg der Gesellschaft von der teils unvernünftigen Vernunft zur gänzlich vernünftigen nehmen läßt (das ›Vernünftigwerden der Vernunft‹ als ›kontinuierliche Zuwachsraten der Vernunft‹, als ›aufsteigende Linie‹, als ›Fortschritt‹ und dgl.). 100 ›Kritische Theorie‹ ist und bleibt reine Selbstkritik und Selbstunterscheidung der Vernunft. Die existierende Gesellschaft braucht sie dazu allein als Staffage ihres intellektuell-systematischen Eigeninteresses. Es ist eine utopische Rechthaberei der Vernunft: ein Rechthabenwollen ausschließlich vor dem Richterstuhl reiner Vernunft, nicht aber vor dem der Geschichte. Heißt Kritisieren Sich-Distanzieren, dann scheint es nur drei mögliche Distanzen zur existierenden Gesellschaft zu geben: 1) die Utopie einer vernünftigen Gesellschaft, 2) die Normen der existierenden Gesellschaft und 3) ihre Bedürfnisse. Letzterer Standpunkt wird genauer als der des Lebens und des Leibes, der Natur, eben des Bedürfnisses und des Triebes verstanden. Es liegt auf der Hand, daß die transzendental-philosophische Revolutionstheorie nach gehöriger Reflexion allein den Standpunkt 99 100

W. Bonß, in: Ch. Hackenesch, Die Zukunft der Vernunft, S. 120. Siehe Ch. Karpenstein, in: Ch. Hackenesch, ebd.

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der reinen Vernunftkritik akzeptiert. 101 Eine Gesellschaft ›immanent‹ als ideologisch zu kritisieren, ist für reine Vernunft unbefriedigend. Den Standpunkt des Lebens und des Bedürfnisses wieder kann sie nicht als eine zweite Instanz neben sich dulden. Leben, nämlich gesellschaftliches Leben, kommt für sie allein als eine Vernunftform in Betracht. Nun lenken jedoch altbewährte Titel wie Leben und Bedürfnis davon ab, daß transzendentalphilosophische Revolutionstheorie prinzipiell unfähig ist, geteiltes Leben als Kriterium des Menschlichen und Unmenschlichen in ihr Kalkül einzubeziehen. Leben, Leib – das geht völlig an dem eigenheitlichen Einander vorbei, in dem sich die Mitwisserschaft des Menschlichen bildet. Natur, Bedürfnis, Trieb – das klingt nach erratischen Blöcken, denen Vernunft weiß Gott nicht zubilligen mag und kann, eine kritische Instanz wie sie selbst und gar die kritische Instanz zu sein. Der Appell an den gesellschaftskritisch Eingestellten der intellektuellen Öffentlichkeit: memento adhuc non vere vivere,

wie ihn die ›Kritische Theorie‹ insgeheim ergehen läßt, stellt so ziemlich das Gegenteil dessen dar, was sie an guter Meinung von sich selbst hat. Er bedeutet die Diffamierung der Glieder der gegenwärtigen Gesellschaft in allen ihren Aktivitäten und Produktionen – die Diffamierung der gesellschaftlichen Institutionen eingeschlossen. Das geht so weit, daß selbst Kunst als gesellschaftliche Äußerung und Auseinandersetzung über die Klinge reiner Vernunft springen muß. Wie Vernunft von sich aus um den Menschen bemüht ist, zeigt beispielhaft ihre Absicht, im – utopisch – besten Staat den Menschen auch äußerlich zu uniformieren, weil nur eine Kleidung die beste sein kann, für alle aber selbstverständlich nur das Vernünftig-Beste in Frage kommt. 102 Siehe Ch. Karpenstein, ebd. Klar in diese Richtung argumentieren Thomas Morus (Utopia, III, 7) und Tommaso Campanella (Sonnenstaat, Kap. 12). 101 102

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Diesem vernünftigen Sinn für Kleidermode entspricht Theodor W. Adornos vernünftiger Sinn für Musik. Da verbirgt sich der bürgerliche Aristokrat, der Ästhet und vor allem der Intellektuelle hinter der utopischen Vernunft der transzendentalphilosophischen Revolutionstheorie, um, in Distanzierung von allen gesellschaftlichen Musikhörern der Gegenwart, den ›adäquaten Hörer‹ zu fordern, unausgesprochen, aber konsequent, damit auch die ›adäquate Musik‹. 103 Vernunft will hören, will sich hören. Alles, was nicht für sie und ihr gleich erklingt, ist irrational, ist Äußerung ›unmenschlicher‹ gesellschaftlicher Wirklichkeit. Die mitwisserschaftlich gegründete Kritik am Unmenschlichen kann an der ›Kritischen Theorie‹ nicht kritiklos vorbeigehen. Sie hat sich die Universalisierung und Monopolisierung menschlicher Eigenheit in der utopischen Gestalt reiner gesellschaftlicher Vernunft eigens vorzunehmen. Ob nämlich die reine praktische Vernunft oder der Chauvinist sagt: ›L’humanité c’est moi‹, bleibt sich in praktischer Absicht gleich. Der eine erklärt seine völkische Eigenheit für den Inbegriff menschlichen Wesens, der andere ein zur Eigenheit verklärtes allgemeines menschliches Vermögen. Beides taugt, um, kommt es zum Zuge, als intellektuelle und gesellschaftliche Macht das Andersartige zu diffamieren und zu diskriminieren: als Entartung der Ratio, des Volkstums usw. 104 Th. W. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie, I. Teil: »Typen musikalischen Verhaltens«, Bd. 14, S. 181 f. Der ›adäquate Hörer‹ wird dort unter anderem als der bestimmt, »der zugleich in jedem Augenblick über das Gehörte sich Rechenschaft ablegt«, dessen Horizont »die konkrete musikalische Logik« ist. Nächst ihm rangiert der ›gute Zuhörer‹, so daß nach dieser Notenskala der ›adäquate‹ der ›sehr gute‹ ist. Es ist bemerkenswert, daß Adorno hier einen Uradligen aus Marcel Prousts Recherche als zweitbesten Hörer anführt, keinen Großbürger oder Bildungsbürger. 104 Wie für Adorno der Menschheitsanspruch der reinen Vernunft unwiderlegbar ist, mögen auch noch so viele Untaten vital gebundener Vernunft Geschichte geworden sein, so sprechen etwa für Heidegger die Ge103

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Denn Arme habt ihr allezeit (πάντοτε) bei euch. 105

Bislang hat es allein blanke utopische Vernunft fertiggebracht. Arme aus der menschlichen Gesellschaft zu eskamotieren, freilich nicht aus der existierenden, sondern aus der utopischen. 106 Dem geht voraus, bereits jetzt, ja genau für die jetzige Stunde, den Armen ihre Eigenheitlichkeit abzusprechen. Im Lichte utopischer Vernunft sind Arme allein darum Menschen, weil sie als revolutionäres Potential zu begreifen sind. Dabei steht dem gesellschaftlichen Menschen ein Ende der Armut von Einzelnen, von Gruppen und Gemeinschaften, ja von ganzen Gesellschaften ersichtlicherweise überhaupt nicht ins Haus. Realität aber wegzudenken – mit utopischem, real in nichts begründetem Fortschrittsglauben, entdeckt keinerlei brauchbare Humanität. Im Armen und Elenden dagegen den Menschen sehen, das Eigenheitliche, das ihn sich gesellschaftlich in das Einander von Menschen einbringen läßt – dafür spricht die gesamte geschichtliche Erfahrung, dafür spricht die Mitwisserschaft des Menschlichen. Nicht eine Erhöhung rein und schlecht theoretischer ›Humanität‹ ist gefragt, die ohne zureichende Erfahrung und lebenspraktische Phantasie ganz offensichtlich über das menschlich Abwegige ihrer Konzeption im Unklaren bleibt (einer Konzeption, die zunächst einmal schon mit der – theoretischen – Vertagung des menschlichen Menschen zu begleichen ist), sondern die Kritik des Unmenschlichen auf der Basis bewährter Menschlichkeit im je Gegenwärtigen, die bis in menschliches Elend reicht.

schichte gewordenen Greuel der Deutschen unmöglich gegen den Menschheitsanspruch des wahren Deutschtums. 105 Matthäusevangelium 26, 11. 106 Nicht nur Vernunftutopisten versprechen allerdings das Verschwinden von Armut. Es ist auch üblich, den zivilisatorisch-industriellen Fortschritt als fortschreitende Beseitigung von Armut zu verkaufen, um dabei freilich die ›Schere‹ zu verschweigen, die auf der anderen Seite zunehmende Armut garantiert.

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3.7 Die Vorspiegelung vernünftiger Hoffnung Menschliches Hoffen lebt, wie es scheint, aus der Differenz von χρόνος und καιρός. Die Einen sehen das, was zur Zeit (χρόνος) ist und herrscht, für etwas an, das eigentlich nicht an der Zeit (καιρός) ist und auch besser zur Zeit nicht wäre, die Anderen dagegen für etwas, das sehr wohl an der Zeit ist und zum Glück auch zur Zeit herrscht. So hoffen denn die Einen wie von selbst darauf, daß das, was die gegenwärtige Zeit bestimmt, sich ändert, während die Anderen vermutlich ihre entsprechenden Hoffnungen darauf setzen, daß es so bleibt, wie es ist. Die auf Änderung hoffen, sehen ›die Zeit‹ je nachdem für schlecht, ungerecht und unerträglich an, die auf Bleiben und Andauern dagegen für gut, zuträglich und ›in Ordnung‹. Das Hoffen, wie es die transzendentalphilosophische Revolutionstheorie initiiert, nimmt offensichtlich gezielt eine dieser beiden Möglichkeiten des Hoffens wahr. Sie setzt, insofern religiösen Bewegungen verwandt, ganz auf die gesellschaftlich Entrechteten und Ausgebeuteten, genauer: auf die unter unmenschlicher gesellschaftlicher Unvernunft Leidenden. Ihnen gibt sie die Hoffnung ein, daß nichts bleibt, wie es ist, und alles anders wird: für sie als Vernunft- und Gesellschaftswesen. Ein Hoffen auf Bleiben könnte für sie nur das des Unmenschlichen und Unvernünftigen sein. Der Zweifel legt sich nahe, ob es überhaupt ein unterschiedenes Hoffen gibt, unterschieden durch das Bewußtsein dessen, was an der Zeit ist. Die beati possidentes haben doch, wie sie in der Geschichte begegnen, eher Angst ihr Glück zu verlieren, als daß sie Hoffnung hätten, es zu behalten. Von denen im Unglück dagegen läßt sich denken und auch belegen, wie sie weniger Angst haben, daß es so bleibt, als vielmehr Hoffnung, daß es sich ändert. So scheint es in der Tat überlegenswert zu sein, ob Hoffnung nicht eigentlich, wenn nicht überhaupt, den Unglück-

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lichen gehört. 107 Doch zuvor erhebt sich der andere Zweifel, ob in dieser Sicht schon wirklich das in den Blick kommt, was wir begründet und sinnvoll Hoffnung zu nennen haben. Vermutlich wird man sich darauf einigen können, daß eine ›leere‹ Hoffnung besser nicht Hoffnung genannt wird, sondern allein ›begründete‹ Hoffnungen begründeten Anspruch darauf haben, auch wirklich für Hoffnungen genommen zu werden. Wer in einer Situation, die nicht mehr die geringste Hoffnung zeigt und weckt, ohne auf Bestimmtes zu bauen wider alle Vernunft, Erfahrung und eigenes Gefühl aus purer Verzweiflung ›hofft‹, stellt sich blind für die eigene Hoffnungslosigkeit und setzt in seiner blinden Art auf Unverhofftes. Der Zweifel besteht aber zu Recht, ob Elend und Entrechtung rein als solche schon wirklich hoffen lassen. Jede Hoffnung, die begründet genannt wird und diesen Namen verdient, hat einen realen Grund, etwas, das schon irgendwie da ist und nicht schlechthin aussteht. Wenn Hilfe naht, sich ankündigt und bereits erscheint, wenn der Retter, der Rächer, der Versöhner kommt und mit seinem Werk beginnt, dann besteht Hoffnung. Hoffnung stützt sich auf Gegenwart. Der Kranke, der ›wieder hofft‹, für den ›wieder Hoffnung besteht‹, gibt Zeichen neuer Gesundheit zu erkennen. ›Hoffnungsvoll‹ ist ein Kind, eine junge Liebe, ein anfänglicher Friede. Nun möchte die transzendentalphilosophische Revolutionstheorie durchaus mit begründeten Hoffnungen aufwarten und scheint auch entsprechend bereit, sie an realer Gegenwart festzumachen. Ihre ›wirklichen‹ und ›konkreten‹ Hoffnungen gründet sie in dieser Absicht auf das gesellschaftlich Negative und eben Unvernünftige der Gegenwart, indem sie es für ein ›Instrument des Umschlags‹ ansieht. Das könnte falsch gedeutet werden. Zunächst denkt man an die alltägliche Erfahrung, daß nichts bleibt, sondern alles seine Zeit hat: ›auf Regen folgt Sonnenschein‹, und, wie es der Bauer 107

Siehe R. Marten, Der menschliche Tod, Kap. I, 7.4: »Lebenshoffnung«.

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wußte und dankte (›Erntedank‹): auf Sonnenschein folgt Regen. Das gilt auch praktisch, dann allerdings als Folgeverhältnis von Trost und Schrecken, Schrecken und Trost: es gibt eine Zeit (καιρός) zu klagen, und es gibt eine Zeit zu tanzen. 108 Bei dieser gelassenen und auch fatalistischen Sicht des Wechsels ist es nicht geblieben. Der Mensch hat ihm dramatische Züge abgewonnen, indem er die Zeit des Bedrohlichen zu ihrem eigenen Höhepunkt: zur Krisis kommen sieht. Wie im stärksten Moment der Krankheit der Kranke den Weg der Genesung finden kann, so zeigt sich dem Menschen jetzt im Blick auf Bedrohliches: ›Wenn die Not am größten ist, naht der Erlöser‹, »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch«. 109 Auf diesen Gang der Dinge und Zeiten hat der Mensch immer wieder gebaut, nicht ›dialektisch‹ kalkulierend, sondern aus tradierter Erfahrung und insofern mit begründeter Hoffnung, nicht Erwartung, da eine Erfahrung des Unwahrscheinlichen, allein Unverhofftes in Erhofftes wendet, nicht aber Berechenbares beibringt. Freilich kommt es auf die Perspektive und die Frage ihrer Gültigkeit an. Wer sich in größter Gefahr sieht und entsprechend hofft, kann übersehen und gleichgültig dagegen sein, daß eine noch größere Gefahr in Wahrheit von ihm (sc. für Andere) ausgeht, gegen seine Hoffnung also die der Anderen steht, vielleicht sogar ›die‹ Hoffnung eigentlich gegen ihn steht. Doch die Hoffnungsinitiatoren gesellschaftlichen Endglücks bauen weder auf alltägliche noch auf außerordentliche Erfahrungen, sondern auf Vernunft und die von ihr vertretene DiaPrediger 3, 4. F. Hölderlin, Patmos, V. 2 f. Eine jüngste Variante dieses viel gehandelten Gedankens lautet (R. Bahro, Hinein oder Hinaus, S. 6): »Wer die Tiefenschichten der Selbstausrottungslogik verstünde, wüßte auch besser über den Charakter der einen Rettungsbewegung Bescheid, die kommt.« Gemeint ist die fundamentalistisch-grüne Reformation. Minuten später (S. 7) holt Bahro den deus ex machina hervor, den Gott des Alten Testaments (Hosea), dem allein die Rettung zuzutrauen sei. Er wiederholt damit Heidegger, der das Hölderlinwort gern zitiert und im SPIEGEL-Gespräch bekennt: »Nur noch ein Gott kann uns retten.«

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lektik. Sie behaupten nicht, Wechsel und Wende könnten nicht ewig ausbleiben, weil darin das Zugeständnis läge, daß auch ihre erfüllte Hoffnung eines Tages wieder zuschanden würde – am Tage des erneuten Wechsels. Sie haben eine Geschichte im Sinn, die ihre Hoffnung einholt und damit zur Endgültigkeit wird. Χρόνος und καιρός fallen dann für immer zusammen: was an der Zeit ist, ist nun endlich das, was auch alle Zeit zur Zeit ist – die ›heimgekehrte‹ gesellschaftliche Menschenvernunft wird stetig und ewig. Doch nicht nur dies scheidet sie von denen, die auf den Wechsel der Zeiten setzen, sondern auch der Realitätsbezug. Was ihnen nämlich das Konkrete ist, hat als solches allein den Ausweis, dialektische Realität zu sein, nicht aber etwa lebendiger und tradierter Erfahrung zuzugehören. Wer die von ihnen in die Welt gesetzten Hoffnungen teilen will, muß schon ganz genau der Bewegung ihrer Vernunft folgen. Setzt einer nicht mit auf die Dialektik des Umschlags, hat er auch nichts zu hoffen. Die Hoffnung, soweit ›real‹ und ›begründet‹, ist eine rein intellektuelle. Sie haust im Kopf. Daß sie zum Affekt, zum Glauben werden, den ganzen Menschen ergreifen und zur Tat treiben kann, gehört nicht mehr zu ihrer ›realen Begründung‹. Damit aber fehlt der gesellschaftsutopischen Hoffnung auch alles, was zu einer begründeten Hoffnung gehört. Sie ist nicht mehr und nicht weniger als eine – fehl – kalkulierte tagträumerische Erwartung. Begründetes Hoffen hat seinen Ursprung in menschlicher Lebensteilung und Mitwisserschaft. Hoffnung entstammt allemal, wenn es denn Hoffnung ist, Momenten gelingenden Lebens. Dabei entfällt die anfangs erwogene Unterscheidung des Hoffens auf Veränderung und auf Bleiben. Hoffen hat ein unmittelbares Verhältnis zur Zukunft, weil diese für es keine Zeitdimension ist, die als eine noch leere abgekoppelt vom erfüllten Augenblick wäre. Sie ist vielmehr die Zeitform dieses Augenblicks, sofern sie als Hoffnung besteht. Hoffnung ist jeweils die Verzeitlichung von Augenblicken erfüllten Lebens und glückender Lebenspraxis, die neu zu leben181 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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des Leben ›verspricht‹. Jede Erfüllung und jedes Gelingen im Leben gibt Hoffnung, sofern darin gelebtes und lebendiges Leben über sich hinausweist auf neu zu lebendes Leben. Die Hoffnung ist dann einfach die des Augenblicks (der Jugend, der Genesung, der Liebe, des Friedens, der Rettung, der unverhofften Güte, des Vorscheins der Besserung), insofern er verzeitlicht ist – als praktische Bejahung neu zu lebender Zeit. Ist es der Augenblick neuer Gesundheit, dann versteht sich die Hoffnung in ihrer Verzeitlichung als die auf weitere Veränderung zum Besseren, ist es der Augenblick der Freundschaft, entsprechend als die auf neue und weitere Bewährung. Zur Hoffnung als solcher gehört weder die Idee von Unverändertbleiben noch die von Verändern. Hoffnung ist in sich Ausdruck lebenspraktisch gegründeter Zukunftsfähigkeit. Ein ›hoffnungsvoller‹ Künstler verspricht als solcher keine thematischen Verschiebungen und keinen Stilwandel in seinem Werk, auch kein ›Weitermachen wie bisher‹. Er ist schlicht darum augenblicklich ein ›Bild der Hoffnung‹, weil er und sein Werk Zukunft versprechen. Natürlich kann jede so gegründete Hoffnung zuschanden werden. Kein Augenblick garantiert Zeitlichkeit. Jede Hoffnung hat insofern etwas Gewagtes. Sie hat aber niemals den Wagnischarakter einer prognostizierenden Kalkulation, sondern den des Lebens selbst: sich lebendig und lebensteilig auf Zukunft einzulassen. Die transzendentalphilosophische Revolutionstheorie verbindet die von ihr initiierte und betreute Hoffnung mit einem Sinn: es ist der Sinn für Geschichte und das heißt für gesellschaftlichen Fortschritt, Sinn, wie ihn Vernunft als Zweck rationalisiert. Im Anbrechen der universell praktizierten reinen Vernunft kommt, wie sich das die idealistische Antizipation derselben vorstellt, die Vernunft endlich und für immer zu sich selbst – nach langer Irrfahrt, die den geschichtlichen Menschen prägt, solange er nicht reine gesellschaftliche Vernunft ist. Vernünftige Hoffnung als Hoffnung auf Vernunft hat überhaupt nur eines im Sinn: den Endzweck. Etwas anderes zu hoffen, 182 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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steht ihr nicht frei. Der Mensch als Endzweck – als Endzweck seiner Geschichte und als Endzweck der von ihm gedeuteten Natur. Wie er als Friede und Paradies der vernunftgewordenen Gesellschaft und gesellschaftgewordenen Vernunft idealiter vorgestellt wird, trägt er die Züge irrlichternder Todesphantasie. Nach dem Schlachttag der Geschichte mit all seiner Hetze soll offensichtlich endlich ›wieder‹ Ruhe und nichts als das sein – endgültige Ruhe. Lebenspraktisch gegründete Hoffnung hat keinen vergleichbaren Sinn. Sie vermittelt überhaupt keine Idee von Ende, Vollendung, Ruhe und Ewigkeit. Sie entdeckt einzig und allein den Sinn, der in der Zukunft als solcher liegt: in ihrer Ausrichtung augenblicklich erfüllten Lebens auf neu zu lebendes Leben. Chiliastische Hoffnungen, die den Beigeschmack von Endsieghoffnungen haben (vom Endsieg über den Tod, wie ihn Paulus vertritt, bis zum Endsieg über das Untier im Menschen in Kants Reich der Zwecke und der Gnaden und dem Endsieg über die Klassengesellschaft in Marx’ Imperium des wirklichen Kommunismus), sind den Augenblicken praktischer Mitwisserschaft gelingenden Lebens und ihrer Verzeitlichung fremd. Hoffnung besteht allein begründet, wo und wann immer Menschliches glückt. Nur weil Menschen je in ihrer Gegenwart ›ankommen‹, besteht Hoffnung, daß es für sie auch in Offenes und Neues ›weiter‹-geht. Wer den Menschen vertagt – auf ein Jenseits, eine neue Welt, eine klassenlose Gesellschaft, nimmt ihm für die Gegenwart alle begründete Hoffnung. Hoffen wird prinzipiell verkehrt, hängt man es einem Wesen an, das als Wesen zu einem ausstehenden Wesen unterwegs sein soll. Da hat eine Transplantation der Hoffnung von erfülltem auf ›noch‹ leeres, von selbstbewußtem auf sich entfremdetes, von eigenheitlichem auf enteignetes Leben statt, eine Transplantation von momentanem Glück auf geschichtlich-methodisches Unglück, mit einem Wort: von eigentlich Hoffnungsvollem auf eigentlich Hoffnungsloses. So ist denn auch bei diesen Hoffnungsmachern eine Umdeutung fäl183 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Der Mensch im Spiegel reiner Vernunft

lig: das Hoffnungslose wird von ihnen zum eigentlich Hoffnungsvollen erklärt, das Hoffnungsvolle dagegen zum Hoffnungsindifferenten, wenn nicht zum eigentlich Hoffnungslosen. 110 Die pervertierte Hoffnung kann konsequenterweise wirklich allein die Hoffnung der utopisch Entrückten sein, da sie im lebensteiligen Leben weiß Gott nichts zu finden hat. Einmal im eigenen Hoffen pervertiert, kann einem die menschliche Hoffnung, die Hoffnung des kleinen Glücks, etwa die von einem Menander gedichtete, nurmehr beschämen. Im gesellschaftsutopischen Hoffenmachen, daß unter Menschen endlich vollends Vernunft einkehre, liegt eine bewußte Vertagung erfüllten selbstbewußten Lebens. Sie bedeutet eine Herabwürdigung des Menschen in seiner geschichtlichen Gegenwart, eine Verleumdung menschlicher Erfüllungen, der Augenblicke gelingender Lebensteilung und der Hoffnung, die daraus erwächst. Das ›Prinzip Hoffnung‹, so schön es auch reale Hoffnungsfunde im Gegenwärtigen zu machen meint, ist in seiner theoretischen Strenge ein Prinzip der Diskriminierung und Diffamierung des immer neu menschlich Hoffnungsvollen und keine harmlose Blüte schönvernünftiger und tagträumerischer Geschichtsverlorenheit.

Bei den Makarismen und Dystychismen der ›Bergpredigt‹ geht es vergleichbar zu: Lukasevangelium 6, 20–26; vgl. Matthäusevangelium 5, 3– 12; 11, 10–24.

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IV. Der Mensch im Spiegel dienlicher Vernunft

1. Vernunft im Dienste des Lebens Praktikable Vernunft herrscht nicht, sie dient. Vernunft ist keine ἀρχή, kein ›Erstes von wo aus‹. 1 Von ihr aus fängt zugunsten oder zuungunsten des Menschen und seines Lebens nichts an. Dazu muß sie erst bewegt werden – von einer ἀρχή. Die ist der Mensch. Er ist das Erste, von wo aus Vernunft in Bewegung gerät und sich für etwas brauchen läßt. Die Vernunft beherrscht unmöglich den Menschen, der Mensch aber gegebenenfalls die Vernunft. Auch soll die Vernunft den Menschen nicht ›einst‹ beherrschen, sondern der Mensch zur rechten Zeit die Vernunft, was, wie die Erfahrung zeigt, kein Ideal, sondern alltägliche Praxis ist. Kants Ansicht, daß Vernunft moralisch gesetzgebend sei, hat moralphilosophische Überlegungen für Generationen auf den falschen Weg gebracht. Vernunft, die von sich aus tätig wird, gibt es nur als lebensfremden und lebensfeindlichen theoretischen Entwurf. In ihm wird sie dargestellt, wie sie sich um sich selbst bemüht, ganz so, als sei sie selbst das Leben. Gibt Vernunft vor, sie werde von sich aus tätig, um menschliches Leben auf Erden zu erhalten, dann muß sie auch schon zugeben, daß sie Handlungen, die ihrer Kalkulation zufolge notwendig zum Lebens-aus der Gattung Mensch führen, rein für sich selbst als Vernunft nicht überstehen könnte. Damit aber läßt sie erkennen, daß es ihr im eigenen Interesse nur um sie selbst, nicht um den Menschen geht. Die Interessen der reinen Vernunft Aristoteles, Metaphysik, I 3 983a 30; 984a 27; vgl. ders., Physik, II 1 192b 14. 1

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und des lebendigen Menschen sind verschieden. Die Theorie utopischer Vernunft verdeckt das, indem sie dem Menschen seinem sogenannten Wesen nach mit der Vernunft gleichsetzt. Ein, wie er sich selbst versteht, vernünftiger Mann trägt folgendes Argument vor: Wenn immer es einen atomaren Krieg in Europa geben sollte, es wäre ein Resultat eines unzureichenden Gebrauchs des Verstandes, nicht einer kaputten Moral. Deshalb kommt es darauf an, den Verstand in Ordnung zu halten oder in Ordnung zu bringen. 2

Dieser Mann hält damit Menschen zunächst ins Ungefähre vor, daß sie von ihrer Vernunft (Verstand und Vernunft, das bleibt sich hier gleich) einen unzureichenden Gebrauch machten, sodann, daß ihre Vernunft nicht in Ordnung sei. Er übersieht, daß das gar nicht zusammenpaßt. Der zweite Teil der Vorhaltung enthält denn auch eine empirisch falsche Aussage. Vernunft als menschliches Vermögen ist welt- und menschenweit intakt. Jeder, der Schachspielen lernen kann, ist vernünftig (Paul Lorenzen). Descartes hat die Sache im ersten Satz des Discours genau getroffen: Die lebenspraktische Vernunft ist die bestverteilte Sache der Welt. 3

Mit der Behauptung des unzureichenden Gebrauchs der Vernunft dagegen kann der ›vernünftige‹ Mann durchaus Recht haben, belegt er ihn doch in der Vorhaltung, die er macht, selber. Sehen wir auf unzureichenden Gebrauch der Vernunft, wie er jederzeit möglich ist, dann haben wir ihn nicht etwa der Vernunft, sondern allein dem Menschen zur Last zu legen. Es kann ja nicht gut für vernünftig erklärt werden, vernünftig zu sein und zureichend vernünftig zu handeln. Achten wir darauf, dann ist der Vorwurf eines unzureichenden Vernunftgebrauchs gar nicht mehr so leicht zu erheben. Hinter jeder nicht zureichend Der SPD-Politiker Peter Glotz, in: DIE TAGESZEITUNG vom 14. 5. 1985. R. Descartes, Discours de la Méthode: Le bon sens est la chose du monde la mieux partagée.

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Vernunft im Dienste des Lebens

vernünftig erscheinenden Handlung können Gründe stehen, die den Menschen bestimmen, Vernunft so und nicht anders (nicht ›weiter‹) zu gebrauchen. Der Mensch, der nicht trunken oder sonstwie in Geist, Willen und Gefühl gestört ist, verfügt nämlich je selbst darüber, was ihm in eigener Sache die zureichende Vernunft ist. Freilich ist der Gebrauch eigener Vernunft in eigener Sache bisweilen gestört. Macht ein Schachspieler in einer Phase psychosomatischer Überbelastung Fehler, dann gibt er in der Tat einen unzureichenden Gebrauch der Vernunft zu erkennen. Nicht daß die Vernunft defekt geworden wäre. Affekte sind es, die ihm ›mitspielen‹ ; die Nerven ›spielen ihm einen Streich‹. Typisch ist der Fall eines Menschen, der unter Selbstmorddruck steht und als Selbsteinschätzung seiner Lage vorbringt, bei ihm sei eigentlich alles ›in Ordnung‹, allein die Vernunft sei ›kaputt‹. Ihm fehle nämlich das rechte Argument, um begründet am Leben zu bleiben. Er merkt überhaupt nicht und will es auch nicht merken, daß seine Vernunft bestens in Ordnung, das Affektive allerdings schwer gestört ist. Meint man heute gelegentlich, bestimmte Menschen seien dabei, die Dinge auf einen menschlichen Vernichtungskrieg zutreiben zu lassen, dann wird man auch diesen Menschen unterstellen müssen, daß ihre Vernunft intakt ist, sie aber in ihrem vitalen Interesse und im Spiel ihrer affektiven und voluntativen Kräfte Vernunft so und nicht anders zu gebrauchen gedenken. Man kann ihnen gegebenenfalls Angst und Zorn nachsagen, Rachedurst und Überlegenheitsgefühl, Kriegslust und Sendungsbewußtsein, glaubensstarke Unbekümmertheit, selbst Gerechtigkeitsgefühl und moralische Absichten, um imperialistische Sachzwänge und Todestrieb einmal draußen zu lassen. Wer wieder junge Menschen, die etwas unternehmen wollen, beschwört, doch ja vernünftig zu sein, fordert sie nicht auf, zugunsten ihrer Vernunft zu handeln. Er denkt vielmehr an ihre langfristigen vitalen Interessen und befiehlt sie dem überlegten Handeln an. Nicht anders hält es der Folterer, der dem noch immer schweigsamen Gefolterten nahelegt, doch endlich vernünftig zu sein. 187 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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Die vital gebundene Vernunft ist nicht Herr ihrer selbst. Nicht die Vernunft bestimmt den Vernunftgebrauch, sondern der lebendige Mensch. Lassen wir die Vernunft theoretisch und lebensfremd Herr ihrer selbst sein, dann führt sie uns nur immer neu vor Augen, wie sie aus sich nicht willens und fähig ist, sich um den Menschen und sein Leben zu bemühen. Vernunft, theoretisch rein und für sich genommen, möchte nur sie selbst sein, ohne Verbindung mit affektiven und voluntativen Kräften des Lebens. Lieber noch nimmt sie in dieser ausgedachten, wenngleich affektiv besetzten Gestalt den leibhaftigen Tod des Menschen in Kauf. 4 Von sich aus kann sie sich allein für den Nichtwiderspruch einsetzen, da es nur da um ihr reines und eigenes ›Leben‹ geht. Ein Widerspruch mit sich selbst bedeutete ihr den eigenen ›Tod‹. Wer dagegen den Menschen ein widerspruchsfreies Leben anrät, verwechselt die Interessen reiner Vernunft mit denen des lebendigen Menschen. Das gelingt Kant, wenn er dem, der sich nach eigenem Gutdünken aus dem Leben zu verabschieden gedenkt, einen Selbstwiderspruch nachweist. 5 Kant kann aus seiner Perspektive ein wirklich menschliches Leben nur als Vernunftform begreifen. Geht man anderswo Ideen begründeter menschlicher Selbsterhaltung nach (z. B. Ideen der Erhaltung der Volkskraft oder des Gen), dann wird man bei genauerem Zusehen die überraschende Feststellung treffen können, daß es sich in dem, was da erhalten werden soll, ebenfalls um Vernunftformen menschlichen Lebens handelt, es also nicht der lebendige Mensch, sondern die Vernunft ist, die ein eigenes Interesse vertritt. 6 Wie aber einem Schnabel von Platon, Phaidon 64a ff. Augustinus kann nicht einmal im – konsequenten – Aussterben der Gattung ein Übel sehen. Dazu R. Marten, Der menschliche Tod, S. 61 Anm. 217. 5 I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, IV, 422. Wird Natur, soweit sie dafür sorgt, daß Lebendiges lebt und stirbt, für absurd empfunden, dann zeigt man sich auf demselben Argumentationsgleis, sobald man sein Empfinden rationalisiert. Siehe J.-P. Sartre, L’être et le néant. 6 Siehe R. Marten, Leben und Vernunft. 4

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Vernunft im Dienste des Einen und Anderen

sich aus und für sich nicht am Leben des Vogels liegt, so auch der Vernunft nicht an dem des Menschen. Daß sie, anders als der Schnabel, es überhaupt zu einem eigenen Interesse bringt, liegt an der Besonderheit dieses Vermögens, sich auf sich selbst beziehen zu können. Vernunft ist keine Instanz des Menschen und des Menschlichen, nichts, das von sich aus für den Menschen und seine Lebenspraxis verbindlich wäre. An und für sich ist sie moralisch schlechthin inkompetent. Sie steht dem Menschen in seinem Leben allein zu Diensten – zum Guten oder Schlechten. Das Leben aber, wie es der Mensch lebt und führt, äußert und vollzieht sich eigenheitlich. Die praktikable als die vital gebundene ist genauer die eigenheitlich gebundene Vernunft.

2. Vernunft im Dienste des Einen und Anderen Wie der Eine und Andere, so sind auch umfassendste Solidarund Schicksalsgemeinschaften von einer abstrakten Totalität des Menschen unendlich entfernt. Selbst wenn Gläubige für alle Menschen beten, sich ihrer Angst Bewußte der Ansicht sind, daß eigentlich alle Angst haben müßten und sollten 7 , Philanthropen es mit allen Menschen gut meinen, kommt kein Gedanke abstrakter Totalität auf. Das liegt daran, daß Menschen mit praktikabler Vernunft allein darauf spekulieren können, sich eigenheitlich zu ergänzen. So kann der Katholik für die Falschund Ungläubigen mitbeten, der Angstbewußte an die Unbekümmerten und Allzukühnen appellieren, der Philanthrop sich den Bösewichtern und Misanthropen zuwenden. Menschliche Solidar- und Schicksalsgemeinschaften heben Eigenheiten nicht nur nicht zugunsten eines allgemeinen Menschseins auf, sonZum Beklagen des Fehls ›wirklicher‹, ›angemessener‹ und allgemeiner (›wir‹) Angst siehe G. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, S. 264 ff. Vgl. H. von Ditfurth, So laßt uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen, S. 7 f.

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dern leben von ihnen. Das Verständnis für Huren und Zöllner, Leidende und Entrechtete, wie es in der Nachfolge Christi erstrebt wird, zeigt beispielhaft Menschenliebe, wie sie nicht auf ein abstraktes Totum zielt, sich allerdings auch nicht einem sich hemmungslos ausufernden Gefühl überläßt. Selbst das tendenziell Kosmopolitische, das die Heirats- (z. B. die Diözesan-) und Volksgrenzen sprengt und bisweilen sogar Ideen des Gemeinsam-Menschlichen hervorbringt (wie bei den Freimaurern), ist jeweils eigenheitlich gegründet. So sind zwar Adel, Wissenschaft, Hoher Klerus und Großfinanz überall daheim, aber eben daheim, weil es überall die Ihren gibt und das für sie spezielle Zuhause: Schloß und Park, Universität und Campus, Kirche und Kloster, Bankhaus und Landhaus. Kosmopolitisches kennt keine Gleichmacherei des Menschen, keine Gleichgültigkeit gegenüber dem Wie und Wo des Zuhauseseins. Ein humanes Totum, in dem alle Eigenheiten aufgehoben sind und der Mensch zum austauschbaren Jedermann geworden ist, überstiege schlechthin ihren jeweils praktisch orientierten Horizont. Auf ihren universellen Standpunkt festgelegt, ist reine Vernunft unfähig, das Interesse des Menschen, wie es seinen Eigenheiten zugehört, wahrzunehmen. Sie kann es selbst dann nicht, wenn der Mensch besondere Eigenheiten nutzt, um sich tendenziell mit den signifikant Anderen zum All der Menschen zu ergänzen. Die universalistische Ethik führt zum Standpunkt des praktischen Solipsismus: ›das Interesse bin ich‹ (›ich bin mir mein Interesse‹). Anderes hat ein Mensch, der reine Vernunft darstellen soll, nicht zu vertreten. Ihr theoretisches Resultat ist dabei der universalisierte Egoismus. Der Beliebige des Alls der Vernünftigen will für sich vernünftig sein, ganz gleich, was in der Welt vor sich geht. Kant hat sehr konsequent argumentiert, daß der austauschbare Vernünftige nicht eigentlich vernunftgemäß, sondern um der Vernunft willen handeln soll. 8 So muß er keine Zur Unterscheidung von »pflichtmäßig« und »aus Pflicht« siehe bei Kant unter anderem Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, IV, 398; 406.

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Vernunft im Dienste des Einen und Anderen

Kopfethik des ›do ut des‹ zu seinen Gunsten verrechnen und darauf sehen, daß auch andere seinen universalisierten Egoismus und das heißt seine Gesinnung teilen. Ihm reicht es als Vernunftwesen, für sich vernünftig zu sein. Jedes Interesse an praktischer Solidarisierung mit anderen könnte als menschlich motiviertes nach Kant für pathologisch angesehen werden. Die allgemeine Vernunftwerdung des Menschen als Interesse verlangt, einem höchsten Wesen und einem letzten Zweck verbunden zu sein. Der moderne universell-vernünftige Philosoph, der den Standpunkt Kants so oder so nachgebessert zu haben glaubt, will das freilich nicht wahrhaben. Er redet angesichts planetarisch-gemeinsamer Herausforderungen einer menschheitlichen Verantwortung das Wort, um sich in Wahrheit doch allein mit sich selbst zu unterhalten. 9 Ein bekannter, gern als anstößig und unstimmig zitierter Satz Martin Heideggers über das Verhältnis von Sprache und Mensch lautet: K.-O. Apel, Transformation der Philosophie, Bd. II »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft«, S. 361: »Die wissenschaftlich-technische Zivilisation hat alle Völker, Rassen und Kulturen ohne Rücksicht auf ihre gruppenspezifischen kulturrelativen Moral-Traditionen mit einer gemeinsamen ethischen Problematik konfrontiert. Zum ersten Mal in der menschlichen Gattungsgeschichte sind die Menschen praktisch vor die Aufgabe gestellt, die solidarische Verantwortung für die Auswirkungen ihrer Handlungen im planetarischen Maßstab zu übernehmen.« Krasser läßt sich gar nicht an der Art und Weise eigenheitlicher menschlicher Interessennahmen vorbeireden. Was Apel als praktische Aufgabenstellung aller (ohne alle eigenheitlichen Unterschiede!) sieht, ist allein die Sicht der abstrakt universalisierten Vernunft, in der sie nichts als sich selbst sieht. Es gibt keine Vernunftsolidarität, und es gibt sie zum Glück nicht, weil Vernunft keine Eigenheit ist, Menschen aber, solange sie leibhaft-lebendig sind, eigenheitlich bestimmt sein werden. Nicht auf idealistische Solidarität, sondern auf realistische Kompromißbereitschaft kommt es an. Wenn es mit den Menschen weitergehen sollte, dann allein über die Wahrnehmung je eigener Interessen. Trägt zu ihren Gunsten ein Kompromiß einmal einen universellen bzw. planetarischen Anstrich, dann liegt darin doch keine menschliche Solidarität, keine von der je eigenen Vitalität gelöste und freischwebende konsentistische Vernunft.

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Die Sprache spricht und nicht der Mensch. Der Mensch spricht nur, insofern er der Sprache entspricht. 10

Die universalistische Ethik behauptet in der Sache zum Verhältnis von Vernunft und Mensch: Die Vernunft ist vernünftig und nicht der (lebendige) Mensch. Der Mensch ist nur vernünftig, insofern er der Vernunft entspricht (ihr gleich ist).

Im Interesse der für den Menschen praktikablen Vernunft darf jedoch genau das nicht zugegeben werden: die Vernunft der Vernunft (›Selbstpartizipation‹ der Vernunft). Das nämlich bedeutete, daß jeder Mensch, insofern er vernünftig ist, sich seiner Eigenheiten entledigt hätte. Vernunft, die sich selbst für vernünftig ausgibt, hat unmöglich ein Interesse an Eigenheiten. Das logische Komplement des abstrakt Universellen und Totalen der Vernunft ist das abstrakte Individuum. Die universalistische Ethik vertritt logischerweise einen individualistischen Standpunkt. Da sie sich nicht auf Eigenheiten versteht, hat sie auch einen falschen Begriff des Egoismus entwickelt: wer nicht mit universellen Implikationen seiner Handlungsabsichten rechnet und sie entsprechend auf universelle Verträglichkeit abstimmt, sei ein Egoist. Doch ein Ich, das einen Menschen vertreten könnte, ohne Eigenheiten zu vertreten, gibt es gar nicht. Der nicht ins Universelle nivellierte und enteignete, sondern der praktische Egoist, im strengen Sinne von ego, ist ein höchst seltener und dann pathologischer Fall, der entsprechende praktische Altruist nicht weniger. Kein Ego, das sich nicht eigenheitlich versteht und äußert, sondern nur die Einzelnheit als solche reklamiert, ist fähig, im Interesse des lebendigen Menschen zu agieren. Selbsthafte und eigenheitliche, also nicht rein egoistische Interessen hat jemand als Mann und Frau, Gesunder und M. Heidegger, Die Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, S. 12 ff.; S. 32 f.; vgl. Der Weg zur Sprache, ebd., S. 262. Dazu R. Marten, Martin Heidegger: Den Menschen deuten, Kap. »Tautolektik«.

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Kranker, Künstler und Wissenschaftler, nicht aber als Ella und nicht als Jedermann. Interessen können nicht anders als eigenheitlich und damit lebensteilig sein. Jede Selbstsucht ist nur als Verselbständigung von Eigenheiten denkbar. Der strikte Sinn von egoistisch und altruistisch läßt beides unmöglich als Prädikate menschlicher Interessennahmen zu. Das Individuum, wie es lebenspraktisch der Eine im Verhältnis zu Anderen ist, äußert sich als solches mit ›ich‹, wodurch es seine praktische Position angibt und den Anspruch von Eigenheiten erhebt. Im ›ich‹ liegt nicht unausgesprochen ›ich existiere‹ (Bertrand Russell), sondern: ›ich bin eigenheitlich‹, ›ich inszeniere mich‹. ›Ich‹ zu sagen ist ein erworbenes Vermögen im Zuge von Spracherwerb, Individuation und Sozialisation. Wie es als Positionsangabe im Einander und als Anmeldung von Eigenheitlichkeit funktioniert, unterscheidet es sich vom Eigennamen. Mit diesem wird, was das ›ich‹ aus sich nicht vermag, der individuelle Charakter der prinzipiell offenen Eigenheitlichkeit eines Menschen angesprochen. Der Eigenname ist die individuelle Antwort des Anderen auf das offene ›ich‹ des Einen. Wie jemand sich in den geteilten Besonderheiten eröffnet und wie er in ihnen angenommen (gebraucht) wird, wie jemand lebensteilig Frau, Katholik und Leidender ist und wie er zugleich in der Offenkundigkeit dieses Wie auf die Unerschöpflichkeit und Unergründlichkeit seines eigenheitlichen Was verweist – genau das macht ihn unverwechselbar für das Einander. Der Leib, von Aristoteles zum principium individuationis bestimmt, trifft in dieser Absicht die Unverwechselbarkeit des ›Dinges‹, nicht aber die des lebenspraktischen Partners. Nur dort, wo der Leib in die Inszenierungen von Eigenheiten einbezogen ist, vor allem durch die ›Sprache‹ von Gesicht, Händen und Körper im ganzen, entdeckt er mit den individuellen Charakter eigenheitlichen Seins. Diese handlungstheoretische Perspektive kann, will und muß auf substanzontologische Vorstellungen eines ›persönlichen‹ nucleus (eigentliches Selbst, Denkseele, Geistseele oder sonstwie benannt) verzichten. Das Ich (›ich‹), 193 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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wie es hier gefaßt wird, ist kein theoretisches Konstrukt, sondern von praktischer Evidenz. Kein Ich kann sich als Vernunft äußern, sondern jeweils allein mit Vernunft. Vernunft ist dienlich, eigenheitliche Interessen sich verständlich, durchsichtig und bewußt zu machen, sie gegen andere abzuwägen und sich über ihren Verfolg zu beraten, sie mitteilungs-, verständigungs-, überzeugungs-, durchsetzungs- und kompromißfähig zu machen. Sie kann damit auch zur Entscheidung beitragen, wann Eigenheiten ihre Stunde haben und wann nicht. Kennt jemand unversehens keine Parteien mehr, sondern nurmehr Deutsche (Wilhelm II. bei Kriegsbeginn 1914), dann ist dies Ausdruck vital und eigenheitlich gebundener Vernunft. Wer so spricht, wirkt auf eine gleichgestimmte Öffentlichkeit wohlberaten und überzeugend. Im Sinne des Staats- und Kriegsinteresses ist es jetzt vernünftig, nicht mehr die Stunde der Parteien und der eigenen Parteilichkeit, sondern die des – eigenen – Volkes zu sehen. Die vital gebundene Vernunft der eigenheitlich Unterschiedenen und Anderen urteilt dazu genau anders. Sie inszenieren, durch ihre Vernunft beraten, riesige Aufmärsche (angesichts der drohenden Kriegsgefahr 1914 in Berlin, Paris und anderswo), halten die Stunde der Partei für gekommen: der Parteinahme für die kriegsunwilligen Arbeiter Europas. Keine der beiden mit Vernunft vertretenen Positionen kann, aus der Perspektive des Einander, mit überzeugenden Gründen für sich die größere und bessere Allgemeinheit reklamieren. Die Internationalität des Arbeiterund Friedensinteresses hat der Nationalität des Herrscher- und Kriegsinteresses keine Qualität in der Vertretung von Eigenheitlichem voraus. Die – gebundene – Vernunft ist sich in beiden Lagern ebenbürtig, vermutlich aber nicht die Menschlichkeit (die aktive und passive Bereitschaft, einander im eigenheitlichen Unterscheiden zu ›vergleichen‹), da sich in der Position der Herrschenden zu dieser Stunde deutlich eine härtere Verselbständigung eigenheitlichen Interesses zeigt als bei der Position der Arbeitenden. Ganz entsprechend lassen sich auch die Inter194 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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essen der Männer und der Alten, der Kranken und der Katholiken, der Besiegten und der Künstler nicht über den Leisten der Vernunft als des wahrhaft Allgemeinen schlagen, um ihnen im Konfliktfalle (der so gut wie immer gegeben ist) zustimmend oder ablehnend beizukommen. Eigenheitliche Interessen bleiben genau sie selbst. Allein ihre Stunde und ihre Gewichtung in der Lebenspraxis ist dem Wechsel ausgesetzt. Wie aber kein Volks- und Staatsinteresse an und für sich ein höchstrangierendes und allgemeinstes ist 11 , so läßt sich auch kein Lebensinteresse isolieren, das an und für sich ein erstes und allgemeinstes wäre. Stellen wir bei Kindern ein Erschrekken über den Tod jedes Lebendigen fest, auch eben über den Tod jedes Tiers, und deuten wir das als eine Art eingeborene Solidarität des Lebendigen, dann steht damit noch kein Interesse des Lebens im Blick, nicht Leben, wie der Mensch es führt. Leben, wie wir es beim Menschen als Einheit von Leben und Handeln sehen, ist nur als eigenheitliches zu begreifen, im Extremfall als Eigenheit der Lebenden, die zu leben haben, in ihrem Verhältnis zu den Sterbenden und Toten (sc. Menschen) – insofern auch

Die dem entgegenstehende Ansicht, daß ein – auserwähltes – Volk, ein Staat und ein Reich die geschichtliche Bestimmung haben, für das Allgemeine und Menschheitliche zu stehen, hat stets ihre Protagonisten gefunden. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, bestimmt im § 360 das germanische Reich als die wahrhafte Versöhnung: »welche den Staat zum Bilde und zur Wirklichkeit der Vernunft entfaltet (…).« A. Hitler, Mein Kampf, S. 439: »Wer von einer Mission des deutschen Volkes auf der Erde redet, muß wissen, daß sie nur in der Bildung eines Staates bestehen kann, der seine höchste Aufgabe in der Erhaltung und Förderung der unverletzt gebliebenen edelsten Bestandteile unseres Volkstums, ja der ganzen Menschheit sieht.« M. Heidegger, Das Rektorat 1933/34. Tatsachen und Gedanken, S. 39: »Das Rektorat war ein Versuch, in der zur Macht gelangten ›Bewegung‹ über alle ihre Unzulänglichkeiten und Grobheiten hinweg das Weithinausreichende zu sehen, das vielleicht eine Sammlung auf das abendländisch geschichtliche Wesen des Deutschen eines Tages bringen könnte.« Vgl. meine Überlegungen zu V. Farias, Heidegger et le nazisme. 11

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untereinander als Lebende. Zu leben heißt praktisch: als Kind, als Frau, als Wissenschaftler zu leben. Das lebenspraktische Interesse am Leben sieht nie vom Besonderen ab. Das wird nur leicht verkannt, weil im praktischen Lebensinteresse, wie es sich auch nur an einem einzigen Tag äußert, der darin gegenwärtige Reichtum des Besonderen im einzelnen nicht bewußt zu machen ist. Selbst ein Schwerkranker läßt sich weder für sich selbst noch für Andere rein als schwerkrank und als nichts sonst nehmen. Eigenheitliches Sein zeigt sich in jedem menschlichen Leben, das dies Prädikat verdient, als Verbund verschiedener Eigenheiten. Als eigenheitliches Interesse ist das Lebensinteresse stets auch schon ein lebensteiliges. Bereits die sogenannten natürlichen Bedürfnisse äußern sich nicht als die der reinen Natur eines isolierten psychosomatischen Apparats. Im Bedürfnis sich zu kleiden ist schon das Bedürfnis lebendig, sich für jemanden anzuziehen – in irgendwie freiem oder unfreiem Verhältnis zum comme il faut. Im Schlaf- und Eßbedürfnis wieder ist das Bedürfnis wach, auf diese und jene Weise mit Anderen Tisch und Bett zu teilen oder es genau nicht zu tun. Es gibt, lebenspraktisch geurteilt, nicht DAS Schlafbedürfnis, sondern ein je eigenheitliches: das des Kranken, des Kindes, des Politikers, des Arbeiters, des Liebhabers – von seinen näheren lebensgeschichtlichen und kulturgeschichtlichen Ausprägungen nicht zu reden. Menschliche Bedürfnisse werden nicht durch den Machtspruch universeller Vernunft zu Interessen erhoben oder abgelehnt, sondern werden vom Menschen als eigenheitliche Interessen mittels Vernunft organisiert.

3. Vernunft im Dienste des Dissens Das Grundverhältnis verantwortlichen Handelns ist unmöglich das des Einen zu allen Anderen (sc. zu allen anderen Vernunftwesen). Die Vorstellung der Vernunft als des auditoire universel 196 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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(Chaim Perelman) 12 ist vergleichbar der wissenschaftlich unbrauchbaren, bis heute in der Ontologie geschätzten Vorstellung der Welt als einer Allheit von Koexistierendem. »Jetzt ist es überall« (Eugen Fink) ist ein beispielhaftes Wort universell verführter Anschaulichkeit. Menschliches Handeln hat nicht in DER Welt und in DER Zeit (χρόνος) statt, sondern in der praktizierten Gegenwart eigenheitlichen Einanders und seiner Zeiten (καιροί). Wie das Handeln keine Welt- und Zeitverlorenheit kennt, so auch keine Vernunftverlorenheit. Vernunft, auf das reine praktische Interesse am Nichtwiderspruch reduziert, bedeutet Vernunftverlorenheit – etwa im Verständnis der Lüge jedweder Art als Widerspruch. In universell agierende Vernunft versetzt, wäre der Mensch lebenspraktisch verloren. Er könnte Vernunft nicht mehr für sich, für Andere und mit Anderen gebrauchen, nicht mehr mit ihr arbeiten. In universalistischer Sicht vernichtete die – zugelassene – Lüge das Versprechen als menschliche Verkehrsform. 13 Im lebenspraktischen Einander und seinen Zeiten jedoch brauchen Lüge und Versprechen einander, brauchen beide Verkehrsformen zugleich Vernunft, dienliche Vernunft, nicht utopisch abgründige, die allein den horror vacui reiner abstrakter Moral zuwegebringt. Der rein und gut gemeinten Vernunft ist ihr Unmenschliches nicht gänzlich verborgen geblieben. Sie hat sich darum im Namen ihrer ›realistischen‹ Vertreter zu humanisieren gesucht. 14 Diese fordern für die Vernunft, indem sie ihren universalistischen Anspruch etwas verdeckt halten, menschliche Einstellungen, die sich als Tugenden eines reinen Wissenschaftlers anhören, wie sie nur recht und billig sind: Wahrhaftigkeit, Offenheit, Ernsthaftigkeit, Toleranz, Antidogmatik, kritische Rationalität, Universalitätsbeanspruchung(!), Beleg- und ÜberprüfungswilCh. Perelman, Über die Gerechtigkeit, S. 162. I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, IV, 422. 14 Musterbeispiele dafür liefert Hans Lenk, so bereits in seiner Antrittsvorlesung »Wozu noch Philosophie?« von 1970 (veröffentlicht in: H. Lenk, Philosophie im technologischen Zeitalter, S. 9–36). 12 13

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ligkeit, Respekt vor Anderen, Bescheidenheit, persönliche Desinteressiertheit, emotionale Neutralität (Hans Lenk). Wollte man diesem Homunkulus eigenheitliches Leben einhauchen, dann wäre einzig an das eines – idealen? – Teilnehmers an wissenschaftlichen Kongressen zu denken. Auf Konferenzen dagegen, wo es um die Verhandlung eigenheitlicher Interessen geht, wäre er sicher völlig unbrauchbar. Vermutlich ist er selbst zu lebensfremd konstruiert, um auch nur als Wissenschaftler reüssieren zu können. Das ist eine ernste Angelegenheit: wir entdecken Leute, die zur geistigen (und moralischen?) Elite ihrer Zeit gehören, in flagranti bei praktisch sinnlosen, ja unsinnigen Universalisierungsspielen, die sie selber für einzigartig sinnvoll halten. Die einen universalisieren nur das Wollen, die anderen auch das Handeln und Sein. Auf diese Weise kann man z. B. zu dem Schluß kommen, so man die ›realistische‹ Variante wählt, daß die US-amerikanische Lebensart derzeit menschenweit nicht verallgemeinerungsfähig ist. Sind sechs Prozent der Erdbevölkerung mit dreißig Prozent am Energieverbrauch beteiligt, dann läßt sich ja leicht ausrechnen, was der Fall wäre, wenn alle (jetzt nicht alle Vernunftwesen, sondern, ›realistisch‹, alle im Prinzip dazu fähigen Menschen) den american way of life wählten. Was wäre, wenn jeder, wann und wo er wollte, für hundert Meilen ein Dutzend Gallonen Benzin verbrauchte? Auf Umwegen geriete dabei ganz offensichtlich der Lebensstolz, wie er sich auf dem gelungenen pursuit of happiness gründet, mit sich selbst in Widerspruch. Doch das täte er ja nur im Kopf, zumal im Kopf anderer. Die US-Amerikaner werben für ihre Lebensart, jedoch, so sie sich recht verstehen, allein dafür, daß sie die beste ist, nicht aber dafür, daß sie jeder teilen soll. Die allgemeine Partnerschaft am mit Glück verfolgten Glück wissen sie bereits in ihrem eigenen Land mit Erfolg zurückzuweisen. Daß ihre Lebensart nicht schlechthin verallgemeinerungsfähig ist, interessiert sie überhaupt nicht, interessiert nicht einmal notwendig ihre Freunde und Feinde. Für den – stolzen – Amerikaner gilt als erstes: ›ich 198 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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bin nicht wie jeder, ich bin Amerikaner‹. Das so zu sehen und anzuerkennen ist nicht zynisch-realistisch, sondern menschlich, weil Eigenheiten ernstnehmend. Die universalistisch gebrauchte Vernunft dagegen richtet es sich für sich so ein, mit Amerikanern als solchen nichts anfangen zu können. Genau das aber muß Vernunft, wenn sie in Anbetracht dieses Volkes dem Menschen dienlich sein und ihn nicht in den Abgrund schlechter Utopie stürzen soll. Aus dem All der rein Vernünftigen führt kein Weg zum lebendigen Menschen zurück, auf dem ihm brauchbare praktische Anweisungen zu übermitteln wären oder auch nur Vorbilder und Anregungen. Die universalistisch-moralische Reduktion ist praktisch nicht wieder gutzumachen. Das Ausklammern der Eigenheiten wird ja bei dieser Reduktion durch Usurpation der Vernunft als – einziger – Eigenheit kompensiert. Damit aber werden die Weichen der Überlegung, wie Vernunft dem lebendigen Menschen dienen kann, prinzipiell falsch gestellt. ›Wenn das die Autoproduzenten täten?‹ – das hat sich keine ins Universelle vagabundierende Vernunft zu fragen, sondern unter anderem die Vernunft von Umweltbesorgten und Straßenbauunternehmern. ›Wenn das die Russen täten?‹ – so wird eine europäische und eine US-amerikanische Vernunft fragen. Vernunft macht sich damit nicht schmutzig, wäre nicht besser die reine geblieben. Es ist einfach ihre Art, dem Menschen dienlich zu sein – zum Guten oder Schlechten, zum Guten und Schlechten, je nach der eigenen Perspektive und Erfahrung des Einander. Nun gibt es freilich in diesen Verhältnissen Vertreter von Eigenheiten, die anderen abstreiten, ihrerseits wirklich Eigenheiten zu vertreten. So kennen wir Umweltbesorgte, die sich gegenüber den eher Unbekümmerten nicht als die mit dem bloß allgemeineren Interesse ausgeben, sondern vielmehr für sich in Anspruch nehmen, in ihrer Sache das einzig legitime und wahre Interesse des Menschen zu verwalten. Der fundamentalistisch Umweltbesorgte ist genau der Meinung, daß nicht etwa er die 199 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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eine, Autoproduzenten und Straßenbauunternehmer aber die andere Position hielten, die mit je eigener Vernunft vertreten werden könnte. Seine Utopie geht davon aus, daß erst die eigene Partei, dann aber die Gesellschaft zu polarisieren sei: bis wir die Schlimmsten los sind. 15

Der Fundamentalist sieht es ganz anders kommen: zur Versöhnung mit Mensch und Natur, zur heilen Gesellschaft, um Göttliches geschart, und zwar auf dem Wege des allgemeinen Handelns (Generalstreik, Volkserhebung), und dies mit Naturnotwendigkeit (wie ein Sturm kommt). 16 Seine Position vereint somit vor allem drei Formen von Utopie: 1) die des Neuen Menschen (Abstraktion und Phantasie), 2) die der Mittel (Demagogie) und 3) die des realistischen Verständnisses von Mythos (Selbstverklärung). Der menschliche Geist unserer Zeit wäre in der Tat beschränkt, würde er diese Ziel- und Mittelutopien, diese Entwürfe radikaler fundamentalistischer Gesinnungen und Überzeugungen nicht durchspielen. Wir dürfen dabei allerdings nicht übersehen, wie sich aufs neue das Denken von vital gebundener Vernunft löst und sich als Utopie verselbständigt. Wie bei der transzendentalphilosophischen Revolutionstheorie können wir uns auch hier nicht dabei beruhigen, daß die Utopie keine reale Chance hat. Vielmehr ist an die Absicht zu denken, was bei einem Fundamentalisten nicht abwegig ist, dem Menschen all die Eigenheitslosigkeiten mit staatlicher Gewalt zu verpassen, die nötig erscheinen, um die schlechthin mit sich und der Natur ausgesöhnte Menschengesellschaft durchzusetzen. Ein neuer Samjatin wüßte sicher von drakonischen Strafen zu berichten, die den treffen, der auch nur ein Aspirin einnimmt, das ihm nicht vom ›Wohltäter‹ verordnet ist. Philosophen, die ganz auf Vernunft setzen, geben gezwunge15 16

R. Bahro, Hinein oder Hinaus? Wozu steigen wir auf?, S. 2. Ebd., S. 2 f.; 5–7; 13.

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nermaßen zu, daß Vernunft praktisch unmöglich letztbegründend ist. Dennoch fahren sie fort, den allgemeinen Konsens zu verlangen und zu propagieren. Die Geschichte lehrt, daß Übereinkünfte stets nur solange für die Vertragsseiten verbindlich sind, als sie in ihnen ihre eigenen durchsetzbaren Interessen wahrgenommen sehen – seien es Verträge ›bis in den Tod‹, auf 99 Jahre oder für den Tag. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist das Verhalten der Großmächte, die im Prinzip den Internationalen Gerichtshof in Den Haag anerkennen, selbstverständlich aber seine Entscheidungen nicht mehr gelten lassen und befolgen, sobald diese gegen ihre eigenen Interessen gerichtet sind. Davon unbeeindruckt plädieren Vernunftadvokaten für so etwas wie fair play, das dann bestimmend sein soll, wie im allgemeinen und das heißt auf allen Seiten zu handeln ist – eben auch beim Kriegführen und Einandertöten. Sie unterstellen dabei, es gäbe so etwas wie allgemeine Vernunft, die fair-playÜbereinkünfte nahelegte, weil sie in sich das Vermögen des Konsens sei. So erfordert etwa in ihren Augen das Überleben der Menschheit eigentlich eine planetarische Gleichschaltung der Moralüberzeugungen (Hans Lenk), zumindest aber einen Minimalkonsens über Werte. Einige versprechen sogar, kraft Vernunft allgemein-verbindliche Werte konsensfähig samt Letztbegründung zu liefern (Vittorio Hösle). Das alles sind Bestrebungen, mit denen eine dem Menschen dienliche Vernunft verfehlt und überhaupt aufs Spiel gesetzt wird. Von den Überzeugungen, die es den Vernunftadvokaten verwehren, Vernunftbedarf und Vernunftgebrauch der Menschen richtig einzuschätzen, sind vor allem vier zu nennen: 1) Vernunft tritt nicht einseitig, nicht mehrstimmig, nicht pluralistisch auf, 2) sie tritt mit sich selbst übereinstimmend, nicht mit Gegenstimmen aus dem ›eigenen Lager‹, nicht dissentistisch auf, 3) sie tritt menschenweit ununterschieden auf, 4) sie tritt allzeit verläßlich und ohne geschichtliche Veränderungen auf. 201 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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Diese Überzeugungen wiederholen auf je eigene Weise die Grundüberzeugung, daß Vernunft als Vernunft nicht dem Einzelnen und Besonderen, sondern dem uneingeschränkt Allgemeinen und insofern dem universalistisch enteigneten Individuum zugehört. Die Entgegnung auf die angeführten Vernunftüberzeugungen kann darum in der Behauptung zusammengefaßt werden, daß praktikable Vernunft je die eigene von Menschen ist, die Eigenheitliches im Einander vertreten. Wie Menschen eigene Sichten haben (nicht abstrakt-individualistisch, sondern eigenheitlich eigene mit individuellem Charakter, der gemeinschaftlich-gesellschaftliche und kulturelle Prägungen zeigt), so haben sie auch eigene Vernunft. Das Eigensein der Vernunft ist sogar vergleichbar mit der Art, wie Menschen ihr eigenes Leben und ihren eigenen Tod haben. Die praktikable Vernunft ist eine endliche: sie findet Halt und Einhalt im Verhältnis des eigenen Eigenen zum Eigenen von Anderen, wozu auch der eigene Tod und der der Anderen gehört. Die Anderen gebieten aber nie nur Einhalt für die vital und eigenheitlich gebundene Vernunft, sondern gewähren ihr auch Halt. Es gehört zur lebensdienlichen Art der Vernunft, im Einander endlich zu sein. Gleicherweise gehört es zu ihr, nicht für ein unendliches Leben zu sorgen. Sie dient nur dann menschlichem Leben im Interesse eines lebensteilig gelingenden Lebens, wenn sie das Interesse des eigenen Lebens nicht schlechthin als das des Lebens verselbständigt. Nur mit endlicher Vernunft kann ein Mensch in die Bejahung seines eigenen Sterbens und eigenen Todes Vernunft einbringen – eine lebens- und sterbensbefähigende Bejahung, die auch die des Sterbens und des Todes der Anderen einschließt. Die universalistische Vernunft dagegen weiß vom Tod nicht mehr, als daß er nach Möglichkeit zu verhindern, zumindest sein Eintritt zu verzögern sei. Sind wir realistisch, dann wissen wir, daß sowenig wie die Sichten ebensowenig das Leben und das Sterben schlechtweg geteilt werden. Eher das Gegenteil ist der Fall. Zumeist zwingen Umstände dazu oder verführt der Mensch sich selbst, Eigen202 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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heiten zu verselbständigen, in relativer Isolierung mit ihnen zu verfahren, ihre Gunst der Stunde zu verpassen oder sie gar nicht zu finden, anders gesagt: kein Glück zu haben – nicht mit der eigenen Herkunft, den eigenen Anlagen, der eigenen Lebensgeschichte (oder kein Glück zu bieten, sich etwa Anderen zu verweigern, zu entziehen, gegen sie zu handeln). So gehört es, wenn wir nicht blind urteilen, zu den Sichten, wie auch zum Leben und Sterben, geteilt und nicht geteilt zu werden. Verhält sich das aber so, dann gilt Entsprechendes für Vernunft: sie wird (sc. als praktikable und endliche) geteilt und nicht geteilt. Bringt einer im eigenen eigenheitlichen Interesse nach eigenem Urteil Vernünftiges vor, dann können Andere, seien sie der ins Spiel gebrachten Eigenheit nach gleich oder ungleich, dem vernünftig Vorgebrachten als solchem je nachdem zustimmen oder auch nicht zustimmen. Die – eigene – Vernunft wird keineswegs notwendig zuschanden, wenn sie in der – eigenen – Vernunft Anderer keine Bejahung findet. ›Let’s agree to differ‹ hat nicht, wie die Advokaten universalistischer Vernunft meinen, die Bedeutung von ›I don’t like you Mr. Smith but I don’t know why‹ 17 , sondern die von ›I don’t like you Mr. Smith and I know why‹. Vernunft ist im Alltag praktisch allgegenwärtig und fällt in ihrem Gebrauch gewöhnlich nicht weiter auf. Sie wird als solche aufdringlich, sobald die eigene beim Organisieren eigenheitlicher Interessen auf die eigene Vernunft Anderer stößt, die ihr nicht zustimmt. Das ist notwendig überall dort der Fall, wo sich die Wahrnehmung eigenheitlicher Interessen als je eigener verselbständigt. Der Patient gerät mit seiner Vernunft an die des Arztes oder auch anderer Patienten, der Mann mit der seinen an die der Frau oder anderer Männer. Auf beiden Seiten engagiert sich Vernunft jeweils in einem Dissens: Interesse steht gegen Interesse, Vernunft aber bleibt Vernunft. Der Dissens ist affektiv und begründet. Ein schönes Beispiel für affektives Auseinander ohne Vernunft gibt William Shakespeare in As you like it (1. Akt, 1. Szene): for my soul, yet I know not why, hates nothing more than he.

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Ein argumentativ und emotional geführter Streit über Tempolimit für Autos z. B. oder über Abrüstung, der ein Streit bleibt, stellt in nichts eine Krise der Vernunft dar. Im Gegenteil. Die Menschen wären krank und mit ihnen die ἀρχή der Vernunft, wenn sie diesen Streit nicht lebendig und bei Vernunft aushielten. Porschefahrer und Fußgänger, Russen und Amerikaner praktizieren in ihren repräsentativ geführten Auseinandersetzungen eine je eigene Vernunft 18 , die in ihrer besonderen lebenspraktischen Bindung einander entgegenstehende Interessen vertritt – von dem einen schlechthin allgemeinen Interesse des Menschen in der Tat und zum Glück keine Spur. Argument steht gegen Argument (wie auch gelegentlich Gewissen gegen Gewissen steht). Die Einen setzen, vereinfacht gesagt, das Auto vor den Wald, Amerika vor Rußland, die Anderen Rußland vor Amerika, den Wald vor das Auto. Sie alle denken gar nicht daran, ihre je eigene Vernunft aufzugeben, um einen allgemeinen Standpunkt aufzusuchen. Vernunft gilt den verschiedenen Seiten nicht als geistig und moralisch vermittelnde Mitte, schon gar nicht als umgreifender Geist. Sie dient ihnen vielmehr als Mittel, die von der je anderen Seite bestrittenen eigenheitlichen Interessen öffentlich als solche zu vertreten, um dadurch zu ermessen, inwieweit sie dieselben angesichts der entgegenstehenden Interessen weiter verfolgen kann. Dabei sieht sie ihren Damit ist genau nicht das gemeint, was Werner von Simson im Blick hat, wenn er die je eigene Vernunft politischer Systeme als unterschiedliche Vernunft vorführt. W. von Simson, Der Staat als Erlebnis, S. 46: »Die politischen Systeme, die wir heute auf der Welt antreffen, unterscheiden sich grundsätzlich durch die Vorstellung dessen, was sie Vernunft nennen und als Vernunft anstreben. Die Vernunft der einen Richtung ist die Leugnung der Vernunft, um die es der anderen zu tun ist. (…) Denn für die Demokratien westlichen Verständnisses ist die Vernunft ein Erkenntnisprozeß (…). Für den Kommunismus aller Schattierungen dagegen gibt es eine absolute, inhaltlich bestimmte oder doch bestimmbare gesellschaftliche Wahrheit (…).« Für Abrüstungsverhandlungen wie die in Genf hat diese – problematische – Sicht keine mögliche Bedeutung.

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Gegenhalt nicht in der je anderen Vernunft, sondern in der anderen, durch Vernunft vertretenen, Vitalität. Keinmal löst sich die im Einander des Streits formal verallgemeinert und sozialisiert auftretende Vernunft (angefangen mit der einander verständlichen Sprache) von der vertretenen Sache, um etwa eine formal verselbständigte Übereinstimmung zu finden (Übereinstimmung im Gebrauch von Argumentationsregeln usw.). Selbst noch im Argumentieren gehört Vernunft einer besonderen Position des Einander zu, weil das Argument nicht isoliert als Argument zählt (es dient ja ›nur‹), sondern von einem ersten Wenn abhängt, das die Vernunft unmöglich selbst gesetzt hat. Vernunft, wie der Mensch sie braucht, argumentiert niemals für allgemeine und gleiche Vernunft, es sei denn für die eigene, in relativer Allgemeinheit zur Herrschaft gekommene (so etwa anläßlich von Gottesbeweisen oder Beweisen für den eigenen Staat als besten die Argumentation, mit der Menschen, die der herrschenden Vernunft nicht folgen, für krank oder töricht erklärt werden). Wenn Zwei sich streiten, hat gegebenenfalls auch ein mitbetroffener Dritter sich ›vernünftig‹ zu äußern. Lautet die USamerikanische Position, plakativ vereinfacht, ›lieber tot als rot‹ (›lieber überhaupt nicht leben als nicht gut und frei leben‹), dann steht für die russische entsprechend ›lieber tot als kapitalistisch‹ (›lieber überhaupt nicht leben als nicht gerecht leben‹). Dem Dritten, der nicht die russische oder amerikanische Position zu der seinen zu machen gedenkt, bleibt die mit eigener Vernunft zu vertretende dritte Position: ›lieber rot als tot‹ (›lieber schlecht und gerecht als gar nicht leben‹) 19 und zugleich ›lieber kapitalistisch als tot‹ (›lieber gut und ungerecht leben als gar nicht

Von Ernst Tugendhat als vernunftpazifistische Position herausgearbeitet: E. Tugendhat, »Und wenn die ganze Welt sowjetisch würde?« Die Argumente der Befürworter und der Gegner der Nachrüstung – ein fiktives Gespräch, S. 80–95.

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leben‹). 20 Auf diese Weise zeigt sich ein Dissens im Lebensverständnis, den die je gebundene Vernunft teilt und eigens herauspräpariert. Lebensentwurf steht hier ebenso gegen Lebensentwurf wie Vernunft gegen Vernunft. Die dissentistische Vernunft neigt allerdings dazu, die jeweils eigene Seite zur alleinigen Vernunftagentin zu erklären und der anderen bloße Irrationalität zuzuerkennen. Sie bedient sich dabei des Tricks, das, was da die eigene Seite mit und gerne auch voller Vernunft vertritt, so zu deklarieren, daß sie es als Vernunft vertrete. Dabei weiß die dissentistische Vernunft sehr wohl, daß sie nichts von dem, was sie vertritt, ursprünglich aus Vernunft gewonnen hat. Menschen, die die Vertretung ihrer eigenheitlichen Interessen kraft Vernunft konsolidieren und homologisieren, sind sich bewußt, daß es sich um Interessen eines geschichtlich gewachsenen und lebensgeschichtlich geprägten Lebens handelt. Zugleich aber erkennen sie, daß das, was sie vernünftig vertreten, sich ändern kann. Es ist nicht ausgeschlossen, daß sie, an situativen Entscheidungen gemessen, mit ›derselben‹ Vernunft eines Tages genau das gegenteilige Lebensinteresse zu vertreten haben. Konsens und Dissens sind gleicherweise Aufgaben der Vernunft. Wie aber der Dissens kein Dissens der einen allgemeinen Vernunft, sondern allein ein durch Vernunft herausgearbeiteter ist, so auch der Konsens. Wer in seinen Sichten und Absichten, in seinem Deuten und Verstehen mit Anderen übereinstimmt, teilt lebendige Interessen, nichts rein Formales. Konsens hat nicht statt aus Vernunft, sondern mit Vernunft. Ist einmal erkannt, daß Konsens keine Sache der Vernunft als Vernunft ist, dann müßte es auch möglich sein, den Dissens als für den Menschen unverzichtbare Aufgabe der Vernunft zu begreifen. Alle gemeinschaftlichen, gesellschaftlichen und internationalen Verhältnisse sind auf Vernunft angewiesen, die den Dissens herausArgumentiert Tugendhat auch allein für ›lieber rot als tot‹, so liegt dem doch schon unausgesprochen zugrunde: ›lieber kapitalistisch als tot‹.

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arbeitet, den ›Bürgerkrieg‹ 21 je eigener Interessen, wie er das Leben von Menschen unter Menschen prägt. Die Vernünftigen an der Auto-Wald- und an der Atomwaffenfront haben keine Chance, einander mit Vernunft so zu überzeugen, daß die eine und andere Vernunft die von ihr vertretenen Eigenheiten verläßt, um sich aus sich zu einigen. Die je eigene Vernunft vertritt nicht DIE allgemeine, handelt nicht aus ihr und geht auch nicht in sie über. Sie steht vielmehr bleibend für ›durchwachsenes‹ Leben. Hier muß also vor aller Eigenheiten bewahrenden Einigung (eine ›aussöhnende‹ universelle kommt nicht in Betracht) der klare Dissens die geforderte Leistung der Vernunft sein. Das allerdings setzt das Selbsteingeständnis der Vernünftigen voraus, als solche nicht über lebendige Eintracht und Verträglichkeit zu verfügen, zugleich das Zugeständnis an die Anderen, nicht weniger dienliche Vernunft und durchwachsenes Leben ihr eigen zu nennen als sie selbst. Ein grundlegender Irrtum aller utopisch-universalistischen Konsenstheorie liegt in dem Vorurteil: wer den Anderen als Vernunftwesen anspricht, akzeptiere ihn auch schon als Menschen. ›Wir reden miteinander, also sind wir bereits verallgemeinert und vernünftig‹ lautet ein durchgängiges Selbstverständnis zeitgenössischer Konsenstheorie. 22 Beim Reden ist in der Tat Vernunft in Aktion (Hilfsfunktion), ohne daß das jedoch an und für sich etwas Gutes wäre. Inquisitorische Fragen bei Hexenprozessen zeigen zwar, daß nicht die Ratio des Kreuzverhörs praktiziert wird, verfügen aber voll über sprachliche Vernunft, des weiteren über die der logischen Einsicht, daß der Befragten mit der Alternative ›Zugeben oder Leugnen‹ keine Chance der Rettung gegeben ist. Die Logik und Ratio der ›hochnotpeinlichen‹ Fragen macht die Befragte in jedem Falle zur Hexe. Doch das sei ja eben Platon, Phaidros 263a: στασιωτικῶς ορρ. ὁμονοητικῶς. K.-O. Apel, Transformation der Philosophie, Bd. II »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft«, S. 222 f.: »denn er hder Philosophierendei hat als Argumentierender die Voraussetzung der unbegrenzten kritischen Kommunikationsgemeinschaft immer schon implizit anerkannt«. 21 22

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›verzerrte‹ Kommunikation. Werden nämlich die Vorbedingungen vernünftiger, objektiver und wissenschaftlich geleiteter Verständigung (sc. konsentistischer Verständigung) zwischen menschlichen Individuen, Gruppen und Völkern genannt, dann ersteht wieder das Vernunfttugendmonster vor uns, das dem idealisierten Teilnehmer eines utopischen wissenschaftlichen Kongresses gleicht. Sehen wir einmal davon ab, daß alle Vitalität und Affektivität und damit zugleich alles Eigenheitliche diesen Vorbedingungen gemäß zur Disposition gestellt werden soll, und halten wir uns allein an die Wahrhaftigkeit. Diese Tugend wird als die des wahrhaft vernünftigen Gesprächs und zugleich als menschliche reklamiert. Dabei ist es ja die vertraute Art des Menschen, im Interesse seines Lebens Vernunft so zu gebrauchen, daß er einmal wahrhaftig ist und für wahrhaftig genommen wird, das andere Mal zwar wieder für wahrhaftig genommen wird, es jedoch in Wahrheit nicht ist. Im Interesse lebensteiligen Lebens und nach bestem Gewissen muß letztere Vernunfttat als solche der ersteren keineswegs nachstehen. Nur utopische und rein artifiziell gehandhabte Vernunft gerät bei Unwahrhaftigkeit in Verlegenheit. Sich einen allein durch Vernunfttugenden bestimmten Rahmen für rein vernünftige Verständigung abzustecken, ist bloße Gedankenspielerei. Der dabei vorgestellte blutleere vernunftunterwürfige Apparat hat kein menschliches Aussehen. Anselm von Canterbury ist da bei weitem realistischer. Nachdem er bemerkt, daß er mit seinem ontologischen ›Argument‹ für die Existenz Gottes beim Toren, der nur auf Vernunft, nicht aber auch auf Glauben setzt, nicht durchkommt, wählt er beim zweiten Durchgang der ›Demonstration‹ als Adressaten einen Katholiken, jemanden also, mit dem er zuvor einigen Geistes und Affektes ist. Auf verstecktere Weise tun das auch die heutigen Vertreter der Vernunft als der einzig menschlichen Instanz, wenn sie auf eine humane bzw. humanitäre Gesinnung ihres Hauptpublikums setzen, die ebenso grundsätzlich wie affektgeladen und verklärt ist. 208 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Vernunft im Dienste des Dissens

Im gesellschaftlichen und politischen Alltag gebrauchte Vernunft ist in unseren Breiten noch lange nicht so weit, sich in ihre Dissensaufgabe zu schicken. Es ist wie gesagt üblich, bei gegenteiliger Ansicht und sich einander lädierender Interessenvertretung Vernunft und menschliche Verantwortung nur im eigenen Lager zu wähnen und gelten zu lassen, im anderen aber »absolute Idiotie« und »geistiges Chaos« (Worte zum Tempolimitbegehren aus höchstem Mund im Oktober 1984). Doch diese falsche Auffassung vom Dissens steht der Wahrheit des Lebens noch immer näher als der philosophische Tagtraum, man müsse nur gemeinsam aus universeller Vernunft zur Sache kommen, um durch eine Art letzte alleserfassende Rechnung die Gegensinnigen unabweisbar auf Konsens zu stimmen. In der zeitgenössischen Diskussion unter Philosophen zeichnet sich keine Bereitschaft ab, Vernunft zu der vom Leben gestellten Aufgabe finden zu lassen, den Dissens von Lebensinteressen herauszuarbeiten und so ihren Teil zur Bewahrung menschlicher Lebensbefähigung unter besonderen Umständen beizutragen. Selbst Kritiker der reinen und damit Fürsprecher der empirisch gebundenen Vernunft sind gegen das in die Irre führende philosophische Ideal rein konsentistischer Vernunftmöglichkeiten nicht gefeit, dann nämlich nicht, wenn sie zwar allen möglichen Rat aus der Erfahrung einholen, um doch nur stracks theoretisch auf den Welt- und Universalstaat zuzugehen. Da wird juristischer und technologischer Rat erbeten, psychologischer und soziologischer, Verhaltensforscher werden befragt und Kulturanthropologen, um am Ende allein die schlechte Utopie des allgemeinen Standpunktes zu vertreten (Hans Lenk). Daß zuletzt die politische Welt- und Menschengeschichte auf einen Universalstaat hinausläuft, ist jedoch selbst denen nicht zu wünschen, die der eigenen lebensgebundenen Vernunft theoretisch am fernsten sind, eben nicht einmal jenen, die diesen Staat als unausweichlich und wünschenswert predigen. Welthandel, Weltbevölkerung, Weltgesundheit – alles was es dieser Art an globalen Vorgängen und Problemen gibt, ist notwendig 209 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Der Mensch im Spiegel dienlicher Vernunft

an praktikable und Eigenheiten vertretende Vernunft gebunden und ist so im guten alten (und bleibenden) Sinne international – je nachdem als Dissens oder Konsens eigenheitlicher Interessen. Ein Staat, der seine Außenpolitik nurmehr mit der Natur oder gar mit einem Gott führte – ›Gulag der Vernunft‹ wäre nur erst ein Vorschein der wahren Vorstellung seiner Wirklichkeit. Hegels schöne Idee von der vernünftigen Wirklichkeit weist freilich in ihrer säkularisierten Version auch heute noch jede Möglichkeit ab, einen Dissens für vernünftig anzusehen. Dieser Idee zufolge gibt es einzig und allein eine Wirklichkeit und entsprechend nicht mehr und nicht weniger als eine Vernunft. Auf diese Weise steht es der Vernunft (bzw. dem Menschen in Anbetracht der Vernunft) überhaupt nicht frei zu dissentieren. Ist die Wirklichkeit vernünftig (sc. als solche), dann herrscht mit der ›herrschenden‹ Wirklichkeit auch schon Vernunft. Das Dienende der Vernunft wäre in diesem Falle nicht mehr als eine Ideologie des Lebens, das sich seiner kleinen Tricks und Klugheiten erfreut, der verfügbaren Mittel-Zweck-Relationen im Kleinen und eigentlich Unwirklichen, ohne je den vorgegebenen Rahmen wirklicher vernünftiger Zwänge sprengen zu können. Die Idee der vernünftigen Wirklichkeit findet heute eine hervorragende Bewährung bei der Deutung sogenannter Sachzwänge. Unter ihnen versteht man die unhintergehbare Folgerichtigkeit von Vorgängen und Entwicklungen in der Lebenswelt, eine Folgerichtigkeit, in der herrschende Vernunft zu erkennen sei, der gegenüber es nur ein vernünftiges Verhalten gebe: Sichanpassen und Mitmachen. Doch die so gesehene herrschende Vernunft erweist sich als bloßes Phantom, sobald die Perspektive weit genug genommen wird. Alles, was als Sachzwang auftritt, hat einen vitalen Ursprung. Konsequenzen aus einer von Menschen gesetzten und bewirkten Lebenswirklichkeit, denen der Mensch nicht entgehen kann, hat er sich als lebendiger Mensch zuzuschreiben und nicht seinem verselbständigten Vernunftvermögen. Entkommt der Mensch nicht der ›herrschenden‹ Vernunft, dann entkommt er nicht den logischen 210 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Vernunft im Dienste des Dissens

Folgen des ›ersten Von-wo-aus‹ (ἀρχή) seiner gesellschaftlichlebenspraktischen Wirksamkeit. Alles Wesen wie Erziehungswesen, Bildungswesen, Gesundheitswesen, Verkehrswesen, Gerichtswesen, überhaupt jedes Haus- und Gemeinwesen, das vorgibt, wie Leben zu formen und zu führen ist, verdankt seine geschichtlich gewachsene und lebenspraktisch verbindliche Rationalität keiner Vernunft der Geschichte und der Natur, keiner Lebens- und Weltvernunft, sondern dem geschichtlichen Menschen in seiner Gemeinschaftlichkeit und Gesellschaftlichkeit, dem Menschen im Reichtum seiner lebenspraktischen Aktivitäten und Passivitäten. Der Sachzwang als herrschende Vernunft zeigt sich somit allein in der perspektivischen Engführung der verselbständigten Vernunft. In Wahrheit aber dient auch die in der Lebenswelt vielfältig vorherrschende Rationalität dem, was der lebendige geschichtliche Mensch als solcher zu verantworten hat. Das aber ist der Möglichkeit nach prinzipiell dissentistisch. Gehört es zum wissenschaftlichen Satz als solchem, daß er prinzipiell falsifizierbar ist, dann gehört es entsprechend zum vernünftig vertretenen Standpunkt, daß prinzipiell auch ein entgegengesetzter Standpunkt mit Vernunft zu vertreten ist. Einem sogenannten Sachzwang ist es insofern eigen, prinzipiell nicht bestehen zu müssen. Stellt ein Minister für das Post- und Fernmeldewesen die Notwendigkeiten der Heraufkunft der telematischen Informations- bzw. Kommunikationsgesellschaft und nur sie als vernünftig heraus 23, dann übersieht er bewußt, daß prinzipiell die Möglichkeit besteht, mit guter Vernunft einen anderen Standpunkt zu vertreten und diese Notwendigkeiten zu bestreiten. Die Wahrscheinlichkeit der Heraufkunft eines inflationär telekommunikativen Zeitalters spricht weder für eine Einzigartigkeit seiner Vernunft noch für eine Einmütigkeit seiner Begrüßung als Bedürfnisbefriedigung und Wunscherfüllung. Der Bundesminister für das Post- und Fernmeldewesen (Hrsg.), Chance und Herausforderung der Telekommunikation in den 90er Jahren.

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Der Mensch im Spiegel dienlicher Vernunft

Schreibt heute konkret vorkommende ›künstliche Intelligenz‹ dem Menschen vor, wie er Wirklichkeit und als was er Wirklichkeit zu erfassen hat, dann wird freilich belegt, wie das Prinzipielle nicht auch de facto bestehen muß. Es ist realistisch, von einer Inversion und Perversion der Mittel-Zweck-Relation auszugehen. Wie es durch Christus unter Juden zu der Frage kommt, ob eigentlich der Mensch für die Gesetze und nicht vielmehr die Gesetze für den Menschen da sind, so kann verselbständigte, in der Realität sedimentierte Vernunft – unter anderem in der Form forschungs- und informationsverbindlicher Digitalsysteme – zu einer entsprechenden Fragestellung führen. Sobald der Mensch sein Wirklichkeitsverhältnis einer vernünftigen Vermittlung von Wirklichkeit wie der computergesteuerten anpaßt, ist die Frage, ob eigentlich der Mensch für den Computer (für seine Herstellung, Weiterentwicklung, Bestückung mit Software und Verwendung) da ist oder nicht vielmehr der Computer für den Menschen, nicht mehr unverständlich. Aber auch als Selbstzweck (er wird entwickelt und in Gebrauch genommen, damit er entwickelt und in Gebrauch genommen wird) rechtfertigt der Computer noch nicht seine Dämonisierung. Wenn, dann sind es die Menschen selbst, menschenweit, die es bewußt in Kauf nehmen, daß der Computer eher ihnen das Verhalten vorschreibt als sie ihm.

4. Vernunft im Dienste des Kompromisses Alles Eigenheitliche des Menschen bestimmt sich aus seinem Einander: es verlangt Lebensteilung. Nun ist es allerdings an der Tagesordnung, daß eigenheitliche Interessen, als sei es ihre eigenste Tendenz, sich gegen sich selbst wenden und verselbständigen: der Dissens herrscht. Wie aber der Konsens, so ist auch der Dissens nicht vernunftgemacht, sondern nur vernunftgeformt. Beide entspringen dem öffentlichen Verkehr zwischen Eigenheiten. Glückt Lebensteilung, finden Menschen eigenheit212 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Vernunft im Dienste des Kompromisses

lich zueinander, dann herrscht Konsens: praktischer Konsens, kein freischwebend geistiger von der Art, wie manche ihre Gesinnungen zu teilen meinen. Glückt aber Lebensteilung nicht, weil Menschen durch eigenheitliche Verselbständigungen nicht zu ihrem Einander im uti et frui finden, dann ist mit dem Dissens auch schon eine Gefährdung des Lebens gegeben: des erfüllten und selbstbewußten Lebens, ja der Lebensbefähigung, insofern es vom Un-glück betroffen ist. Hier entdeckt sich für die Vernunft eine bedeutsame, nur ihr gestellte Aufgabe. Nicht daß sie den Dissens in einen alten grundständigen Konsens zurückbeordern und -befördern sollte. Vernunft hat aus sich kein Vermögen, die Verselbständigung eigenheitlicher Interessen rückgängig zu machen oder es auch nur zu wollen. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, den Dissens formal herauszuarbeiten und klarzustellen, inwiefern er die lebensteilig gegründete Lebensbefähigung gefährdet. Im Zuge dieser Klarstellung bewährt sich Vernunft als bestellter Sachwalter des Kompromisses. Ihn im Interesse des Lebens als notwendig zu erkennen und diese Erkenntnis dem Leben zu vermitteln, überzeugend zu ihm zu raten, seinen Beschluß zu formulieren, seine praktische Umsetzung zu planen und zu leiten ist vornehmste Aufgabe gebundener praktischer Vernunft. Leben, insofern es lebensteilig gelingt, kennt keinen Kompromiß. Kompromißloses Leben ist keine Utopie. Gelingendes Leben ist menschenweit bezeugt und läßt sich für beinahe jedes Leben nachweisen. In einem lebenspraktischen Augenblick sind ja unmöglich alle Eigenheiten im Spiel, zumal die eigenheitlichen Möglichkeiten eines Menschen im Prinzip unlimitiert sind. Darum ist auch gar nicht an ein schlechthin gelingendes Leben zu denken. Sowohl Glück als auch Unglück des Lebens als solchen sind vom Insofern betroffener Eigenheiten regiert. So wäre es in der Tat schlecht-utopisch, auf ein Leben ohne irgendwelche verselbständigten eigenheitlichen Interessen zu setzen. Deswegen ist auch Vernunft nicht dafür vorzusehen, in einem Menschenreich, das keinerlei verselbständigte Interessen 213 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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kennt, das Leben selbst zu sein. Vielmehr dient sie dem Menschen in seiner unaufkündbaren Lebendigkeit. Er kann nicht zuletzt Vernunft darum gut gebrauchen, weil er immer neu darauf angewiesen und dazu bereit ist, sein lebensteilig mißlingendes Leben als dennoch zu lebendes durch Kompromisse zu sichern. Der Kompromiß liegt dabei nicht im Interesse eines vernünftigen Lebens und gar einer reinen Vernunft, sondern in dem des eigenheitlichen Lebens selbst, sofern es vor seinem Mißlingen steht. Den Kompromiß schließt und akzeptiert das Leben, nicht die Vernunft. Sie kann einen Kompromiß allein dem Leben als einen erträglichen, günstigen und nötigen vorrechnen. Was lebensteilig in einem Leben mißlingt, ist nicht an sich unvernünftig. Wohl aber kann Leben, das in dieser Hinsicht mißlingt, Vernunft gut gebrauchen, um seine Lage klar zu sehen, um sich zu beraten und zu erkennen, was im Interesse seiner eigenheitlichen Verselbständigung, die es ja nicht aufgeben möchte, zu unternehmen ist. Es beauftragt die Vernunft nicht, einen Weg des moralisch Besten vorzuschreiben (wozu auch Vernunft gar nicht in der Lage wäre), sucht mit ihr nicht einmal nach einem reinen Gelingen von Lebensteilung. Kräfte, die dazu tendieren, bedürfen der Bestellung anderer Sachwalter. Psychoanalyse versteht sich in ihrer theoriegeleiteten Praxis als der Versuch, diesen Kräften und ihrem Sachwalter auf die Spur zu kommen, soweit mißlingendes Leben an einzelnen und familiären Schicksalen festzumachen zu sein scheint (vor allem mit Konzept und Praxis der ›Übertragung‹ und ›Gegenübertragung‹). Für Chauvinismus sind noch keine vergleichbaren Therapieversuche bekannt geworden, aber auch für sie stünde schon von vornherein fest, daß sie keine Aufgabe bloßer Vernunft wären, keine Sache rein des Bewußtseins. Seiner ursprünglich rechtlichen Bedeutung nach überläßt man sich bei einem Kompromiß einer höheren Instanz. Man verspricht sich z. B. gegenseitig, den Richterspruch zu akzeptieren. Die Annahme liegt nahe, daß überall dort, wo ein Streit nicht mit Hilfe des Rechts, sondern der Vernunft allein zu 214 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Vernunft im Dienste des Kompromisses

schlichten gesucht wird, eben die Vernunft voll eine dem Recht vergleichbare Funktion übernimmt. Streiten sich Zwei und kommt kein Dritter als Richter hinzu, dann scheint die Möglichkeit des Kompromisses nur darin liegen zu können, daß sich beide der allgemeinen Vernunft als einem ›Dritten‹ versprechen und unterwerfen. Genau diese vermittelnde Funktion aber, in der Vernunft gegenüber den Streitenden und ihrer je eigenen Vernunft für die Streitenden eine eigene Rolle spielte, ist eine irreführende Vorstellung. Die je eigene Vernunft rät im Interesse des Lebens gegebenenfalls zum Kompromiß. Wenn sich bei seinem Aushandeln und seiner Durchführung beide Parteien Institutionen allgemeiner Vernunft wie Sprache und Recht bedienen, dann sind die von relativer Allgemeinheit und haben in nichts den Geschmack des Universellen, wie ihn eine universalistische Ethik an sich hat. Gesetze stellen für gewöhnlich die verallgemeinerte Form eines bewährten Kompromisses dar. Sie passen sich zumeist dem gelebten Leben an und geben nur selten Möglichkeiten und Verbindlichkeiten neuartig zu lebenden Lebens vor. Aber sie sind dabei nicht von eigenständiger Vernunft. Auch sie sind bestellte Sachwalter des lebendigen Einander und haben keinen Auftrag aus sich selbst, keine Lebensform. Der Rechtsvertreter vertritt zwar jederzeit Allgemeines, niemals aber einen abstrakt universalistischen Standpunkt. In jedem Falle ist er von eigenheitlichen Interessen menschlicher Individuen, Gemeinschaften und Gesellschaften bestellt. Leuchtet die Nichtuniversalität von Institutionen des Allgemeinen wie Sprache, Recht, Kultur, Geburt (›Nation‹) ohne weiteres ein, so widersetzt sich Vernunft einer entsprechenden Deutung bislang mit Erfolg. Sie ist ja über alle Sprach-, Rechts-, Kultur- und Herkunftsgrenzen hinweg bei allen Menschen gleich. Alle Menschen bilden bei normaler Reifung und Entwicklung die Fähigkeit aus, das Schachspiel zu erlernen. Doch mit der menschenweiten Gleichheit (Descartes: gleiche Verteilung) der Vernunft ist eben kein Universum der Vernunft ge215 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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schaffen, auch der Möglichkeit nach nicht. Selbst und gerade dann, wenn Menschen untereinander ohne Grenzen und Ausnahmen von Vernunft Gebrauch machen (nicht von unvernünftiger oder vernünftiger, sondern schlicht von Vernunft), ergibt sich für sie daraus keine besondere Einheit, kein miteinander Vermitteltsein in ein und demselben. Wie das gleich gebaute und gleich funktionierende Auge als solches zu keiner Einigung menschlicher Sichten und Interpretationen des Gesehenen führt, so bringt es auch die gleichartige Hirntätigkeit bzw. der bei allen ungefähr gleich funktionierende Geist (Georges Devereux) von sich aus in nichts zu einer Einigung der Vernunftgebrauchenden über das von ihnen je mit Vernunft Vertretene. Verfügen z. B. alle Menschen über logische Folgerichtigkeit, dann ist das, für sich genommen, nicht besser und nicht schlechter, als wenn sie alle über einen Hammer verfügten. Die verfügbare Folgerichtigkeit ist nur in der Hand der Lebendigen ungleich effizienter als ein verfügbarer Hammer, darum auch um vieles gefährlicher. Im Prinzip aber sind Hammer und Folgerichtigkeit einander gleich: beides sind Ausprägungen instrumenteller Vernunft und das heißt verfügbarer Zweckrationalität. Vernunft, die den Kompromiß als notwendig zu vermitteln weiß, die ihn formuliert und zu seiner Realisierung beiträgt, handelt nicht aus und für sich, sondern im Auftrag des Lebens. Praktisch gut ist aber, was vermittelst der Vorstellungen der Vernunft (…) objektiv (…) den Willen bestimmt. 24

Nein. An eine abstrakte moralische Güte, der reinen Vernunft entsprungen, ist nicht länger zu denken. Was gut ist, weiß, wenn überhaupt, allein das Leben. Nur wenn lebenspraktisch die Güte des Lebens vorbestimmt ist, weiß auch die Vernunft zu erwägen und zu berechnen, was in ihrem Interesse der je eigenen Lebenspraxis zu- und abzuraten ist. Die Möglichkeiten der Vernunft sind stets formaler Natur: logisch Vermitteln, Klären, Verglei24

I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, IV, 413.

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chen, Abwägen, In-Rechnung-Stellen, folgerichtig Vorstellen. Sachlich entscheidet sie nichts. Vernunft ist darum z. B. genau nicht dezisionistisch. Es ist das Leben, was entscheidet und wählt. Die Vernunft kann allein zu einer Entscheidung und Wahl raten, indem sie sich bei ihrer Kalkulation an die Strebungen und Interessen des Lebens hält. Dezisionismus – wie dieser Terminus gebraucht wird, spricht aus ihm die Idee, daß es am besten und liebsten doch die Vernunft wäre, Entscheidungen in letzter Begründung herbeizuführen. Aber mit dieser Liebe und Güte der Vernunft ist es eben von Grund auf nichts. Für die ratgebende Vernunft (z. B. bei dem lebendigen Wunsch ›ich will anerkannt und geliebt sein‹) genügt es, vergleichen und kalkulieren zu können. Sie braucht für sich keinen Grund, hat aus sich nichts zu begründen. Es genügt, daß sie dem Leben zum Kompromiß verhilft, den es um seiner selbst willen braucht und, über seine Möglichkeiten und Notwendigkeiten aufgeklärt, auch will. Nicht jeder – intolerable – Dissens bedarf eines Kompromisses. Vielfach bleiben auch im Insofern des aufgekündigten und aufgelösten Einanders Kräfte der Zuwendung erhalten, von denen eine Wiedergewinnung der Lebensteilung ausgehen kann. Nur dort, wo die Verselbständigung eigenheitlichen Interesses sich radikalisiert und der Eine und Andere sie sich zur je eigenen Sache macht, bleibt der Kompromiß als der für tolerierbar erkannte und anerkannte Dissens für das Leben der einzig gangbare Weg. Wer im Einander die widerstreitenden Interessen überspannt und seine eigene Lebensbefähigung gefährdet, ist kompromißbedürftig. Nun gibt allerdings eigenheitliches Leben, das an die Verselbständigung seiner Interessen gewöhnt ist, kein von ihm besetztes Terrain von sich aus auf: es ist aus sich nicht kompromißbereit und zuvor nicht kompromißfähig. Dazu verhilft ihm allein die Vernunft. Zwar geht der Zwang zum Kompromiß in der Sache vom Leben selbst und seinem Widerstreit aus, aber die Vernunft ist es, die ihm diesen Zwang als solchen vor Augen führt. Soweit die Entfaltung eigener geisti217 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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ger Kräfte nicht erheblich behindert und gestört ist, zeigt sich der geschichtliche Mensch ansprechbar für die eigene Vernunft. Das ist nicht etwa vernünftig von ihm, sondern Zeichen eigener Vitalität, die stark genug ist, Vernunft in den Dienst zu nehmen, die praktisch ohne eigene Initiative, dafür aber in ihrem Urteil unbestechlich ist. Diese Sachlage läßt jede Rede vom objektiv Vernünftigen und objektiv Unvernünftigen suspekt erscheinen. Ein Angstbewußter dieser Zeit verweist auf die ›Asymmetrie der Angst‹, die unter wirklich Verfeindeten keinen Kompromiß zulasse, weil ja keine der beiden Seiten sicher sei, ob die andere nicht plötzlich doch … 25 Er benutzt seine Einsicht dazu, sich für den objektiv vernünftigen Pazifisten stark zu machen. In dieser Absicht erklärt er sinngemäß ›lieber rot oder kapitalistisch als gar nicht leben‹ für objektiv vernünftig, ›lieber gar nicht leben als »unfrei« oder »ungerecht«‹ für objektiv unvernünftig. Er übersieht, daß Vernunft, ob von Lebenshungrigen oder Lebenssatten engagiert, dem Leben und Sterben, nicht aber sich selbst dient. Wird Vernunft nach Maßgabe irgendwelcher Wertsetzungen nicht zum Schlechten, sondern zum Guten gebraucht, dann ist auch dieser Vernunftgebrauch doch niemals vernünftig. Im gegebenen Argumentationszusammenhang kann derjenige, der die Asymmetrie der Angst durchschaut, noch nicht einmal mit einem für authentisch anzusehenden Pazifisten gleichgesetzt werden. Wissen hat selbst hier seine zwei Möglichkeiten. Wer darum weiß, kann die asymmetrisch Ängstlichen auch dazu bringen, ihre gegenseitig nicht teilbare Realangst in einen Schlagabtausch aufzuheben. Ein tagheller menschlicher Kompromiß, von wachem Mißtrauen begleitet, ist lebenspraktisch mehr wert, als – verklärend-spekulativ – gewissen menschlichen Idealgestalten objektive Humanität zuzuerkennen. Die Ansicht, wer objektiv Vernünftiges erkenne, sei auch schon disponiert und motiviert, sich zugunsten desselben zu enH. von Ditfurth, So laßt uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen, S. 198 f.; vgl. ders., in: H. Albertz (Hrsg.), Warum ich Pazifist wurde, et alibi.

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gagieren, steht heute keineswegs isoliert da. Unter Entwicklungspsychologen ist die Vorstellung verbreitet, jeder Mensch entwickle ›moralische Strukturen‹, die im wesentlichen von der Ausbildung ›kognitiver Strukturen‹ und ›allgemeiner Ich-Strukturen‹ abhingen, wenn auch nicht zureichend durch sie erklärt würden (Lawrence Kohlberg). Der ›Optimismus‹ herrscht vor, Wissen mache als solches moralisch und stimme auf Eintracht. Daß jedes Wissen prinzipiell alternative Möglichkeiten eröffnet, in der Sprache der Ethik: die Möglichkeiten zum Guten oder Bösen (zur einen nicht mehr und nicht weniger als zur anderen), möchte man einfach nicht wahrhaben. Die falsche Hoffnung dieser Moralpsychologen ist im Grunde die falsche Abschrift eines Politikphilosophen. Wenn der wahrhaft Wissende bei Platon nicht anders als wahrhaft gut handeln kann, dann läßt dieses idealistische Konzept doch an kein dem Menschen geläufiges Wissen und an keinen alltäglichen oder gar wissenschaftlichen Vernunftgebrauch denken. Unter realen Bedingungen ist und bleibt der Schluß vom Wissen des Guten auf entsprechendes Tun des Guten ein Trugschluß. Wie bessere therapeutische Möglichkeiten nicht die Humanität der Ärzte steigern, sondern allein neue Möglichkeiten humanen, freilich auch inhumanen ärztlichen Handelns eröffnen, so bringen erweiterte Möglichkeiten, sich verträglich zu verhalten, aus sich die Moralität nicht voran. Wissen und Vernunft stellen niemals etwas anderes als Möglichkeiten dar, es praktisch unter Menschen so oder so zu halten. Vernunft und Moral haben kein verbindliches Verhältnis zueinander. Vernünftig zu ›sein‹ und das heißt Vernunft zu gebrauchen hat an sich nichts mit einträchtigem und humanem Verhalten zu tun. Werden Fairneß und Sichhineinversetzen in Andere nicht lebenspraktisch wie von selbst erworben und geübt, sondern treten sie als Kopfethik des do ut des und als Vernunftideen auf, dann sind sie nichts weiter als untaugliche idealistische Vorstellungen und Appelle selbsterklärter Moralisten. Vernunft dient lebendigem Interesse, ›schönem‹ wie ›häß219 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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lichem‹ – das ist ihr gleich. Sie dient dabei niemals zugleich allen Menschen, auch tendenziell nicht, steht unmöglich auf einem universellen Standpunkt. Das Wort von der Vernunftfeindlichkeit geht um. 26 Es ist ein Wort gegenüber der so-denunzierten Postmoderne und ist dennoch nicht ein bloß mißverständliches, sondern ein geradezu unwahres Wort. Man scheint es nicht zu verwinden, nicht mehr mit jeder ausgedachten universellen Versöhnlichkeit und Verträglichkeit sogleich allerorten auf den Hit- und Bestsellerlisten ›moderner‹ Humanität zu erscheinen. Es ist im Grunde ein Wort gegen die dienende Funktion der Vernunft, die zwar jederzeit aktuell, aber eben niemals ›modern‹ ist. Es wendet sich gegen die nötige Sorgfalt, Vernunft dem Menschen als das Vermögen zu entdecken und zu bewahren, das ihn nicht allein auf überlegte Weise seine lebendigen Interessen verfolgen läßt, sondern ihm gerade auch im Falle der Kompromißbedürftigkeit dient. Die traditionellen Fehlorientierungen der Vernunft lassen dem Menschen die brauchbare Vernunft nurmehr als Entfremdungsgestalt ihrer selbst erscheinen. Sie haben im vernünftigen Gott, in der vernünftigen Natur und in der vernünftigen Geschichte ihre Lehre vom universellen Standpunkt spezialisiert. Das als lebensfremd und lebensfeindlich aufzudecken, kann nur dort als Aktion gegen die Vernunft und das menschliche Interesse, sie zu gebrauchen, verstanden werden, wo idealistisch-utopisch Gesonnenen die Bewahrung und Ausgestaltung falscher Hoffnungen auf den versöhnten Neuen Menschen wichtiger ist als sich die Zuversicht zueigenzumachen, daß es der geschichtliche Mensch mit seiner dienenden Vernunft ist, der Zukunft hat. 27 Gebrüder Böhme, Das Andere der Vernunft; A. Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno. 27 Wer unbeirrt, unbelehrt und unbekümmert an der Gleichsetzung von menschlicher Mensch und reiner menschlicher Vernunft festhält, durch die der lebendige Mensch – theoretisch – vollständig enteignet wird, neigt mittlerweile zur Selbstheroisierung und zu Durchhalteappellen. Dank Jürgen Habermas hören wir vom »unvollendeten Projekt der Moderne«, von 26

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5. Vernunft im Dienste des Gewissens Vernunft macht selbst keine Lebenserfahrung. Die Entwicklung des Vernunftvermögens schreibt in der Vernunft nicht glückende und mißglückende Lebensteilung fest, sondern Inhaltsfreies: formale Verfahren, denen aller Inhalt als Spiel- und Lernmaterial äußerlich bleibt. Selbst Kant, wenn er an die notwendige Entwicklung aller Vermögen denkt 28 , und dabei speziell Vernunft im Sinn hat, will ihr damit nicht für sich selbst irgendwelche ›materielle‹ moralische Erfahrung zumuten. Dort, wo er die ›Entwicklung‹ (›Beförderung‹, ›Kultivierung‹) der Vernunft nicht im Dienste eigener logischer 29 oder angedienter pathologischer Interessen 30 , sondern ihres vermeintlich rein eigenen Interesses am Werke sieht, bleibt sie für ihn in ihrer Weise ›praktisch‹ zu sein, nämlich auf den Willen Einfluß zu nehmen 31 , völlig formal. Ihr angeblich unmittelbares und reines Interesse 32 ist eben überhaupt nichts anderes als das des universalistischen Standpunktes (das ist des Nichtwiderspruchs). Da für Kant der moralische Wert einer Handlung nicht in der Wirkung hliegti, die daraus erwartet wird 33 ,

macht für ihn Vernunft allein die Erfahrung der Gesinnung: der Wiederholung der Orientierung an Maximen, die widerspruchsfreies Handelnwollen garantieren. Vernunft als je eigene ist nichts Eigenheitliches, hat nichts Eigenheitliches, ist von keiner besonderen lebenspraktischen der »unvollendeten Vernunft« und Hans Jonas mahnt uns zur Vernunftpflicht: an der Hoffnung auf menschliche Vernunft zu verzweifeln wäre »unverantwortlich und ein Verrat an uns selbst« (Oktober 1987 anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels). 28 I. Kant, Grundlegung, IV, 423. 29 Ebd., IV, 460 Anm.; 422; ders., Metaphysik der Sitten, VI, 445. 30 Ders., Grundlegung, IV, 414 Anm. 31 Ebd., IV, 396. 32 Ebd., IV, 460 Anm. 33 Ebd., IV, 401.

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Qualität. Darum ist es auch irreführend, von einer männlichen und weiblichen Vernunft zu sprechen, ganz so, als wären entsprechend Schnäbel und Krallen, sofern sie Vermögen sind und Funktionen haben, sinnvollerweise nach männlich und weiblich zu unterscheiden, während sie doch allenfalls im Aussehen differieren, als Vermögen und der Funktion nach aber völlig gleich sind. Vernunft ist eigenheitlich gebunden und genutzt: sie dient, je nachdem. Kranken und Gesunden, Autofahrern und Fußgängern, auch eben Männern und Frauen. Die lebenspraktischen Erfahrungen des Eigenheitlichen färben dabei nicht auf die dienstbare Vernunft ab. Wo und wie immer sie der Eine und Andere gebraucht, ist Vernunft sich als Vernunft gleich. Allein die situativen Bedingungen des eigenheitlichen Gebrauchs lassen sie unterschieden erscheinen. Der Kranke, der Abwehrstellungen gegen die Therapie aufbaut, macht einen anderen Gebrauch von Vernunft als der theoriegeleitete Therapeut. Entsprechendes kann sich beim Vernunftgebrauch von Mann und Frau einstellen. Machte die Frau einen anderen Gebrauch von der Vernunft als der Mann, dann läge das an ihr als Frau, nicht aber an ihrer Vernunft. Vernunft hat für sich keinen Anteil an erfülltem und selbstbewußtem Leben. In ihr schlägt sich weder ein Gelingen noch ein Mißlingen des Lebens nieder, bildet sich keine Mitwisserschaft geteilten Lebens aus. Sie mag Fortschritte machen: überlegter, sicherer und schneller in ihren Operationen werden, neue Verfahren entwickeln – ihr formaler Gesamtspielraum bleibt sich gleich. Sie kommt ihrem Auftraggeber unmöglich näher, da sie aus sich nichts davon weiß, welche Ziele sich ein Leben setzt. Für Aristoteles kommt es der Tugend zu, die guten Ziele zu setzen, der ›Klugheit‹ (φρόνησις) aber, sie zu vermitteln. 34 Seine Konzeption der φρόνησις ist jedoch nicht unproblematisch. Er glaubt da nämlich eine besondere praktische Vernunft zu erken34

Aristoteles, Nikomachische Ethik, VI 12 1144a 6–9.

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Vernunft im Dienste des Gewissens

nen, die als Vernunft niemals bereit ist, untugendhafte Ziele zu vermitteln. Wir haben uns damit eine Klugheit vorzustellen, die keinem Mafioso offensteht. In alleinigen Diensten der Sittlichkeit ist sie für etwas anzusehen, das an und für sich sittlich ist. Man muß sich folglich Menschen denken, in denen, haben sie nur die rechten Anlagen und den rechten Umgang, ein geistiges Vermögen heranwächst, das ausschließlich der Tugend folgt. Es wäre einem Sehvermögen vergleichbar, das nurmehr für Schönes Augen hat, das einzig im Dienste von gestaltenden Kräften steht, die es auf Schönes abgesehen haben. Doch wir dürfen uns bei dem Versuch, Aristoteles zu verstehen, kein Spiel mit dem erlauben, was Platon als ᾧ und δι’ οὗ unterscheidet: womit und wodurch gesehen wird. 35 Wer sich eigenheitlich als Künstler so entwickelt, daß er nurmehr Schönes sieht, verdankt das nicht seinen Augen, die eben Sehorgane und insofern dienendes Vermögen (δύναμις) sind. Halten wir an Vernunft als einem Vermögen fest, dann können wir in der φρόνησις, wie sie Aristoteles in der Nikomachischen Ethik konzipiert, nicht eine Deutung von Vernunft, sondern allein die eines eigenheitlich geprägten Menschen sehen, der Vernunft in den Dienst nimmt. Φρόνησις mag dann eine Eigenschaft des für sittlich hochstehend angesehenen Menschen sein, unmöglich aber ein ihm dienstbares Organ, weil das prinzipiell alternative Möglichkeiten hätte: zum Guten oder Schlechten (gegebenenfalls zum Schönen oder Häßlichen). Vernunft ist nicht an und für sich moralisch – sie ist als solche nicht mit dem sogenannten praktisch Guten verbunden, hat nicht einmal eine Neigung zu ihm, von Kompetenz für es ganz zu schweigen. Theoretisch am weitesten entfernt von dieser Tatsache hat sich Kant. Anstatt (in moralischer Absicht) Vernunft in den Dienst des Gewissens zu stellen, stellt er umgekehrt Gewissen in den Dienst der Vernunft. Gewissen gehört für Kant zu ›solchen moralischen Beschaffenheiten‹, die 35

Platon, Theätet 184c.

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als subjective Bedingungen der Empfänglichkeit für den Pflichtbegriff, nicht als objective Bedingungen der Moralität zum Grunde liegen. 36

Es ist ihm also nichts anderes als ein Moment im Subjekt, das dem universellen objektiven Standpunkt korrespondiert: gegenüber der Vernunft hat es selbst nichts zu sagen. Kant billigt ihm allein die Funktion zu, Vernunft mit sich selbst ins Reine zu bringen: es ist die sich selbst richtende moralische Urtheilskraft; (…) hier richtet die Vernunft sich selbst (…). 37

Wer sich – diesseits aller historisch verständlichen Blindheit von Dogmatik und Aufklärung – fragt, wie es denn überhaupt zur Bildung von Gewissen kommt 38 , hat nichts anderes in den Blick zu nehmen als Lebenspraxis. Nicht die Perspektive der Einsozialisierung moralisch-dogmatischer Wertsetzungen oder die der psychoanalytisch gedeuteten Ontogenese des Ich 39 ist hier gefragt, sondern die des lebendigen Einanders und der sich in ihm niederschlagenden Mitwisserschaft eigenheitlicher Lebensteilung. Gewissen, conscientia – das ist ursprünglich (und nicht wegen des anfänglichen Wortgebrauchs im Lateinischen) Mitwisserschaft gemeinsamer Lebenspraxis und ist im letzten praktisches Wissen um das Menschliche und Unmenschliche. Jede gelebte Beziehung schreibt im Handelnden praktisches Wissen um das Menschliche und Unmenschliche ein. Kriterium dafür ist das uti et frui im Einander. Glückt die Beziehung, machen I. Kant, Metaphysik der Sitten, VI, 399. Ders., Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, VI, 186; vgl. Metaphysik der Sitten, VI, 438 f.; Kritik der praktischen Vernunft, V, 98. 38 Dagegen I. Kant, Metaphysik der Sitten, VI, 400: »Eben so ist das Gewissen nicht etwas Erwerbliches (…); sondern jeder Mensch, als sittliches Wesen, hat ein solches ursprünglich in sich.« 39 W. Loch, »Biologische und gesellschaftliche Funktionen der Gewissensbildung«, in: ders., Zur Theorie, Technik und Therapie der Psychoanalyse, S. 24–44. 36 37

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Vernunft im Dienste des Gewissens

die das Leben Teilenden in ihr einen fruchtbaren Gebrauch voneinander, so daß sie sich als Menschen ansehen und bejahen können, dann erfahren sie die Unterscheidung des Menschlichen und Unmenschlichen auf seiten des Menschlichen. Mißglückt die Beziehung dagegen, weil sie aus dem Einander heraus verweigert und zerstört wird und die Einen die Anderen methodisch-systematisch als Menschen mißachten und verneinen, dann erfahren sie die Unterscheidung auf seiten des Unmenschlichen. Das lebenspraktisch gegründete Gewissen läßt keine Typologie menschlichen und unmenschlichen Verhaltens zu. Wer in den Wechselfällen lebensteiligen Lebens immer neu die lebenspraktische Gewißheit gewinnt oder sich vorenthalten sieht, geliebt und gebraucht zu sein, sowie für sich und mit Anderen Zeit (Zukunft und Vergangenheit) zu haben, ist damit fähig zu entscheiden, was er für den Augenblick als menschlich anzusehen hat, was als unmenschlich. Gewissen gehört nicht dem bornierten Ich und auch nicht dem enteigneten Universalwesen; es ist weder der Willkür des Einzelnen noch dem Gesetz des Universellen überantwortet. Gewissen als Sediment der Mitwisserschaft geteilten Lebens ist nicht denkbar, ohne daß Leben, wie es sich im Einander lebt, Vernunft in Gebrauch und Dienst nähme. Geteiltes Leben lebt mit von vernünftigen Verkehrsformen. Auch wenn Gewissen eigens in Aktion tritt, ist Vernunft im Spiel. Doch die dienende Funktion in Ausbildung und Gebrauch von Gewissen bringt es niemals so weit, daß Vernunft die gewissenhafte und menschliche (Gegensatz: unmenschliche) Handlung selbst vorgeben könnte. Gewissen ist nicht an sich vernünftig, Vernunft nicht an sich gewissensfähig. In all ihrem Kombinieren, Folgern, Klären, Vergleichen, Abwägen, In-Rechnung-Stellen zugunsten des Gebrauchs von Gewissen wirkt sie moralisch instrumentell. Vernunft bewährt sich in ihrer dienenden Funktion selbst und gerade dann, wenn Gewissen vom Widerstreit heimgesucht wird, von einem Widerstreit, der von der Vernunft nicht aus der 225 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Der Mensch im Spiegel dienlicher Vernunft

Welt zu schaffen, sondern vielmehr mit ihrer Hilfe auszustehen und auszutragen ist. Dank seiner Genese ist Gewissen niemals rein individuell, zugleich unmöglich universell, aber eben doch in einer Weise geteilt, daß anderes – ebenfalls geteiltes – Gewissen gegen es stehen kann. Ebenso hat es mit einem Widerstreit von Gewissen und Gewissenlosigkeit zu rechnen (von der alltäglichen Art nicht zu reden, daß Gewissenlosigkeit gegen Gewissenlosigkeit steht). Sowohl bei ›Gewissen gegen Gewissen‹ als auch bei ›Gewissen gegen Gewissenlosigkeit‹ ist nicht nur an öffentlich-interhumane, sondern auch an intrahumane Verhältnisse zu denken. So oder so – es widerspricht dem Gewissen als solchem nicht, entzweit zu sein. Nur haben wir dann nicht an einen Widerstreit wie den der Chthonischen und Himmlischen zu denken, der die eigenen Möglichkeiten des Menschen unendlich übersteigt, sondern an den der Erfahrungen des – endlichen – Lebens selbst. Wie auch immer der Widerstreit des Gewissens auftritt – in ihm tragen Menschen die ›Widersprüche‹ des Lebens auf je eigene und selbstverantwortliche Weise aus. Nie steht dabei der Eine ganz für sich allein, nie Einer gegen alle Anderen. In seinem Widerstreit gibt sich das Gewissen nicht als Widersacher der Vernunft, verliert es sich nicht in Irrationalität. Im Gegenteil. Ohne dienliche Vernunft verstünde es sich selbst nicht. Die Unmittelbarkeit mitwisserschaftlicher praktischer Gewißheit des Menschlichen und Unmenschlichen bedarf der distanzschaffenden Vernunft, um für eigenheitliche Lebensteilung handlungswirksam zu werden. Vernunft hat in praktischen Belangen nichts Besseres zu tun.

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V. Der Mensch im Spiegel des gegenwärtigen Zeitalters

Der Mensch, der heute gesellschaftlich mit der größten Wirkung den Anspruch vertritt, an der Zeit zu sein, spiegelt sich als Mensch in konkret existierender instrumenteller Vernunft. Sie prägt das gegenwärtige Zeitalter und verweist andere Spiegelungen des Menschen in den Schatten des Ungleichzeitigen und eigentlich Vergangenen. Überraschenderweise nehmen die Prätendenten des Zeitgemäßen sie in Dienst, indem sie zugleich ihr zu Diensten sind. Instrumentelle Vernunft, wie sie greifbar ist und die Zeit beherrscht, bestimmt den Menschen dazu, mit ihr zu konkurrieren und sich zu diesem Zweck selber zu instrumentalisieren. Um den Menschen klar so sehen zu können, ist fürs erste der Spiegel zu erhellen, der ihn dergestalt zeigt.

1. Das Unmaß des Verfügbaren Die Optimierung der Resultate forschender, erfindender, herstellender und verfügbarmachender Vernunft ist ein in sich ungehemmter und grenzenloser Prozeß. Wissenschaft, Technik, Industrie und Markt (Finanz, Handel, Vermarktung) – in ihrer je eigenen und in ihrer geschichtlich zusammengewachsenen Potenz und Effizienz gesehen – sind aus sich auf Erweiterung und Steigerung programmiert. Hinter diesem Programm stehen keine okkulten Kräfte, nichts Göttliches oder Diabolisches, kein metaphysischer ›Wille zur Macht‹, kein ›Verhängnis‹, kein ›Sein selbst‹, das sua sponte die Geschichte seiner Vergessenheit in Gang brächte, keine Geistwesen wie ›DER Bestand‹ oder ›DAS Gestell‹. Solcherweise ins Grenzenlose unterwegs zu sein, gehört einfach zur Vernunft, die nicht frei für sich Sein und Be227 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Der Mensch im Spiegel des gegenwärtigen Zeitalters

deutung hat, sondern ihre dienlichen Möglichkeiten in Bindung an menschliche Vitalität wahrnimmt. Sie ist es, die in ihrer gesellschaftlich entwickelten ›fortschrittlichen‹ Art ohne festes Ziel auf eine ebenso unausgesetzte wie uneingeschränkte Erweiterung und Steigerung ihrer Möglichkeiten aus ist. Soweit ›Persönlichkeiten‹ als treibende Kraft für den Fortschritt der Zivilisation zu benennen sind, hätten wir nach lebensgeschichtlichen und psychologischen Erklärungen zu fragen, soweit tragende Institutionen des ›Systems‹, nach systemtheoretischen. Doch die ultima ratio der tendenziell ungehemmten Erweiterung und Steigerung konkret verfügbarer instrumenteller Vernunft ist nirgendwo anders als in der Lebendigkeit des Menschen zu suchen. Es ist die Lebendigkeit, wie sie uns geschichtlich in ihrer lebenskräftigen und agonalen Art entgegentritt: ausgerichtet auf Domestizierung des jeweils Anderen und eigene Suprematie. Das eigenheitliche Interesse von Wissenschaftlern, Technikern, Industriellen und Leuten des Markts (Finanziers etc.) zeigt sich im Verein als ein ursprünglich verselbständigtes: es antwortet nicht auf lebensteilige Interessen Anderer. Die wissenschaftlich-technische Beherrschung der elementaren Natur in jeder Form und die industriell-kommerzielle Beherrschung der Bedürfnis- und Freiheitsnatur des Menschen ist ihrer Tendenz nach rücksichtslos progressiv. Es gibt keinen gesellschaftlich verantwortlichen Wissenschaftler, Techniker, Industriellen und Kaufmann, wenn das voraussetzt, sich an dem eigenheitlichen Einander der Glieder einer Gesellschaft zu orientieren. Der Anschein der Verantwortung entsteht entweder dadurch, daß die vereinten Vier sich als die eigentliche Gesellschaft und damit ihre Interessen als die eigentlich gesellschaftlichen vorstellen, oder dadurch, daß sie sich von ihren eigenheitlichen Interessen und das heißt von sich selbst suspendieren. Will nämlich ein Ernest Rutherford eines bedeutsamen Tages nicht mehr weiteres Wissen für seine Wissenschaft gewinnen, dann gibt sich in ihm der Wissenschaftler als solcher auf: in seinem Ver228 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Das Unmaß des Verfügbaren

zicht auf Wissenschaft handelt er unmöglich aus wissenschaftlicher Verantwortung. Die Motive für seinen Schritt mögen in Glaube, Liebe und Hoffnung zugunsten des Menschen liegen, keinenfalls liegen sie in seiner Wissenschaft selbst. 1 Wissenschaftliches Wissen, technisches Können, industrielles Produzieren, kommerzielles Verfügbarmachen – das alles ist, ob es seinem Selbstverständnis nach jeweils für sich agiert oder sich vereint weiß, in jeder geschichtlichen Gegenwart, die es prägt, an sich selbst unbefriedigt. Zugleich entspricht es aus sich nie eigenheitlichen Bedürfnissen Anderer. Zwar hält es sich schon im eigenen Interesse auch an Spuren entwickelter menschlicher Bedürfnisse, jedoch allein, um sie auf dem Wege extremer Luxurierung und Demokratisierung bzw. Verbreitung als Bedürfnisse zu übersteigen. Was sich da gegebenenfalls als Lebens- und Arbeitserleichterung anbietet, als Erweiterung und Steigerung kulturbereicherten und lustbetonten Lebens, hat sich in Wahrheit zuvor schon aus der komplexen Interessenlage gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Einanders verabschiedet. Wenn es überhaupt ein Einander sucht, dann das der EntspreHans Jonas ist in seinem Buch Das Prinzip Verantwortung die Ausarbeitung einer nichtutopischen Ethik der Verantwortung gelungen, die von der »Ur-Verantwortung der elterlichen Fürsorge« ausgeht, wie sie »jeder zuerst an sich selbst erfahren« habe (S. 184). Insofern er aber undifferenziert den Menschen für den Menschen in die Pflicht nimmt (S. 245: »Pflicht zum Menschen«) und einen »zweckverpflichtenden Begriff der Verantwortung« (S. 390) zeichnet, unterscheidet sich sein theoretisches Interesse an Verantwortung von dem, das bei der Spiegelung des Menschen im gegenwärtigen Zeitalter verfolgt wird. Soweit diese Spiegelung am Menschen orientiert ist, wie er sich eigenheitlich inszeniert, kann von Verantwortung allein der Eigenheiten im konkreten Einander die Rede sein. Verantwortung für die Zukunft z. B. gibt es nicht als eine allgemein menschliche, politische usw., sondern allein als die, wie sie für die Zukunft (und Vergangenheit) zu übernehmen ist, die der Eine mit dem Anderen teilt. Wer gleich den Vier keine andere Zukunft im Einander von Eigenheiten teilt als die des Fortschritts, kann unmöglich bereit sein, für etwas anderes als den Fortschritt (als solchen) ›Verantwortung‹ zu übernehmen. Es ihm dennoch zumuten, wäre illusorisch, ja utopisch.

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Der Mensch im Spiegel des gegenwärtigen Zeitalters

chung zur verfügbar gemachten instrumentellen Vernunft. Es sucht dann als sein Anderes die Vernunft, die den Fortschritt der Vier bejaht und zum Mitmachen rät, das heißt zur weitestmöglichen Nutzung bzw. Verwendung des verfügbar Gemachten. So hat nicht eine geschichtliche Entwicklung zur Verselbständigung der vereinten Interessen der Vier geführt, die dann von der ›anderen Seite‹ als Fehlentwicklung gedeutet werden könnte. Die Vier sind schlicht in dem, was sie sind, Verselbständigungen. 2 Die vereinten Interessenten der Redundanz des Verfügbaren verstehen es, sich durch ihren propagierten und praktizierten ›Dienst am Menschen‹ immer neu gesellschaftliche Legitimation für ihre Existenz- und Handlungsweise zu besorgen. Ein jüngstes Beispiel dafür ist die In-vitro-Fertilisation, an der belegt werden soll, wie human das ist, was wissenschaftlich, technisch, industriell und kommerziell aus fortgeschrittener Naturbeherrschung als Fortpflanzungsmöglichkeit auf den Menschen zukommt, die im Prinzip jeden Beischlaf erübrigt. Man argumentiert ausschließlich mit der möglichen Hilfe für bestimmte kinderlose Ehepaare, ohne intellektuelle und moralische Bereitschaft, sich der gesamtgesellschaftlichen Problematik der Sache zu stellen, von einer menschenweit eingestellten Perspektive ganz zu schweigen, die Anlaß gäbe, sich mit Kindersterblichkeit der ›Dritten Welt‹, ihrer zivilisatorischen Verhinderung bzw. Behinderung und mit Überbevölkerung zu beschäftigen. 3 Diese Selbstverklärung der Vier in eigenem Interesse verleiht ihnen Die vereinten Vier repräsentieren keine Industriegesellschaft, die im Begriff steht, von einer Informationsgesellschaft abgelöst zu werden. Digital verfügbare Information ist eine Form von Zweckrationalität, wie sie auf je eigene Weise bei allen Vier an Einfluß gewinnt. Selbst dann, wenn Information als Unterhaltung und ästhetischer Reiz zu konsumieren ist, stellt sie nichts Fünftes neben den Vier dar. 3 Zu den Versuchen, diesem fraglichen Dienst am Menschen wenigstens einen rechtlichen Riegel vorzuschieben, siehe beispielhaft die programmatische Formulierung der diesbezüglichen Aufgaben des Rechts von Albin Eser in seinem Vortrag Der Forscher im Spannungsfeld des Rechts. Rechts2

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Das Unmaß des Verfügbaren

das überraschende Aussehen, als hielten sie sich wirklich bei humanen Aufmerksamkeiten im Kleinen auf und verfolgten derlei Dinge wegen überhaupt ihren Weg. Wie sie sich jedoch um menschliche Lebenssubstanz kümmern, ist ihnen in Wahrheit Menschenvermehrung, Menschenveränderung und Menschenvernichtung im Prinzip gleich, solange nur die Effizienz der Natur- und Marktbeherrschung zunimmt. Es gehört schon ein gutes Maß an Ignoranz oder Bigotterie dazu, sich darüber hinwegzutäuschen, daß es sich so verhält. Darum geht auch die theoretisierende Kapitalismuskritik fehl, wenn sie die Vier als ›bürgerlich‹ denunziert und ihnen ›imperialistische‹ Gelüste nachsagt. Das setzt eigenheitliche Interessen und Zielvorstellungen bei ihnen voraus, die sie unmöglich haben. Zwar können sie chauvinistisch in dieser Weise vereinnahmt werden, gelangen dabei aber an kein eigenes Ziel. Für sich haben sie überhaupt kein Ende im Sinn, sondern allein grenzenlose Erweiterung und Steigerung. Die Verselbständigung des Fortschritts im Verfügbarmachen konsumierbarer instrumenteller Vernunft erweist sich als irreversibel. In der Industrie z. B. wird alles, aber auch wirklich alles zur Steigerung der Produktivität genutzt – angefangen mit dem Wissen um human relations bis hin zur Möglichkeit maschineller Maschinenproduktion. Aus dieser Verselbständigung ergibt sich eine Redundanz des Erforschten, theoretisch Gesicherten, Erfundenen, Konstruierten, Produzierten und Bereitgestellten. Sie mutete völlig irreal an, spiegelte sie nicht die vereinte ›Logik‹ von Forschung, Erfindung, Produktion und Markt. Sie ist quantitativer wie qualitativer Art. Was da mit vereinten Kräften bereitgestellt wird, ist nicht nur alles nach Möglichkeit zuviel, sondern nach bester Absicht auch von extremer Qualität: zu gut oder zu schlecht, entweder über dem Niveau möglicher Nutz-

vergleichende Beobachtungen zur Freiheit und Verantwortung von Wissenschaft und Technologie.

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Der Mensch im Spiegel des gegenwärtigen Zeitalters

barkeit gelegen (kann nicht ›voll ausgefahren‹ werden) oder im Gebrauchswert auf Null tendierend (muß sogleich wieder ersetzt werden, falls es nicht eh überflüssig ist). Lebensteiligen Interessen entspricht es auf diese Weise nicht. Das Übermaß und Unmaß ist allein dem tendenziellen Fortschritt selbst von Nutzen. Die Redundanz des Verfügbaren bestimmt sich als solche aus dem uti et frui, das ist aus dem, was dem eigenheitlichen Menschen bereitzustellen ist, damit er es im lebendigen Einander und für es nutzt und fruchtbar macht. Wovon aber der lebensteilige Mensch sich angesichts redundant verfügbarer instrumenteller Vernunft schier nicht retten kann, sind die Freiheitsangebote und Freiheitsmöglichkeiten und damit an und für sich Unverantwortetes. In dem ›Zuviel‹ liegt niemals nur das Unmaß. Das, was der Mensch nicht zu nutzen und für sich fruchtbar zu machen versteht, ist prinzipiell zugleich das, von dem er nicht weiß, wie er es beherrschen, zum Guten wenden und überhaupt verantworten soll. Die ›Ingebrauchnahme‹ des Überflüssigen verlangt von ihm, die geschichtlich gewachsenen und lebensteilig bewährten Eigenheiten zu überspielen und gewissenlos zu konsumieren. Die Vier zögern nicht, dem Menschen eine Starthilfe zu geben. Im Interesse der Steigerung, die sie selbst repräsentieren, machen sie ihm die entsprechende ›andere Steigerung‹ schmackhaft und so gut wie unausweichlich. So verselbständigt sie nämlich auch sind, haben sie im ›anderen‹ Menschen doch einerseits immer neu Rückendeckung zu suchen – gesellschaftliche, gemeinschaftliche und individuelle –, um ihre Ansprüche öffentlich vertreten zu können, andererseits und wichtiger noch die gleichsam handgreifliche Zustimmung, um sich mit ihren Ansprüchen eben auch wirklich durchzusetzen. Diese insgesamt als Ja zum Fortschritt in die Wege geleitete andere Steigerung ist die der Bedürfnisse. Was da als deren Kultivierung, Zivilisierung, Emanzipierung, Demokratisierung und Luxurierung suggeriert wird, ist nur die Maskierung der ungeschminkten Auf232 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Das Unmaß des Verfügbaren

forderung, sich als Mensch den tendenziell steigenden Lebensstandard und Konsum schuldig zu sein. So wird von seiten der Vier und ihren Mitinteressenten im Programm der Bedürfnissteigerung der Wettlauf mit dem ›Fortschritt‹ des Verfügbaren inszeniert. Auf der Bühne dieses Bedürfnistheaters hat sich in diesem Jahrhundert, insbesondere seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, das gesteigerte und sich steigernde Autobedürfnis als beste Nummer erwiesen. Weit besser selbst noch als Abnutzungskriege hat das Auto es verstanden, das ›uti et frui‹ des Redundanten zu besorgen. Der Vorzug des Autos, wie ihn die Konsumentenseite wahrnimmt, ist vielschichtig und vielseitig. Heraus ragt allerdings der Vorzug, mit ihm das aktuelle Freiheitsbedürfnis befriedigen zu können. Wer ein Auto fährt, fühlt sich frei, ist frei: er kann im Prinzip überall hin, wohin er will, wann immer er will. Es ist bemerkenswert, daß das Ortsveränderungs- samt Zeitunabhängigkeitsbedürfnis: das Bedürfnis, zu jeder beliebigen Stunde zu anderen Orten, Menschen, Dingen und Begebenheiten aufbrechen zu können, vom Einsatz der Mittel her zu urteilen, zum Ersten Bedürfnis werden kann. Das ist überhaupt nur verständlich, wenn die durch das Auto garantierte Zeit- und Bewegungsfreiheit auch zur Ersten Freiheit wird. Seine hervorragende Eignung, das Bedürfnis des Fortschritts zu befriedigen, beweist das Auto zugleich darin, unverhältnismäßig große Kräfte der Bereitstellung zu binden, indem es den Konsumenten am weitesten dazu verführt, über seine Bedürfnisse und Verhältnisse zu leben. Rechnet man zu integralen Bestandteilen des Autowesens nicht nur autoabhängige Produktionskapazitäten wie die der Zementindustrie und deren Zulieferer, sondern vor allem die autoabhängige Art zu siedeln und zu zersiedeln, dann führt das Auto direkt und indirekt zur größten Konsumgüterbereitstellung der Gegenwart. Die Antwort der Konsumenten darauf fällt nicht zuletzt darum so opportunistisch und fortschrittlich aus, weil das Auto im Verein mit dem Freiheits- und Verantwortungslosigkeitsbedürfnis einzigartig das Bedürfnis befriedigt, 233 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Der Mensch im Spiegel des gegenwärtigen Zeitalters

den in Konkurrenz erreichten Lebensstandard zu zeigen – oftmals erheblich auf Kosten der Befriedigung anderer Bedürfnisse. Für Nachteile aber, welche auch immer das Auto bringt, besteht weiter keine Empfänglichkeit. Die größtmögliche Nutzung des Autos, selbst und gerade als Mehrzweckvehikel, beherrscht das Selbstverständnis demokratischer Konsumgesellschaften. Wer wollte in der Tat im Auto Böses sehen! Auch noch der zurückhaltendste Konsument, der die Entwicklung der vereinten Vier seit dem Zweiten Weltkrieg mit Verwunderung verfolgt, wird sich sagen müssen: ›besser Autos auf den Straßen, Plätzen und Bürgersteigen als SS‹. Die Antwort, die Wissenschaft, Technik, Industrie und Markt auf ihr tendenziell grenzenlos zunehmendes Verfügbarmachen konkreter instrumenteller Vernunft fordern, ist hemmungsloser Freiheitsgebrauch, Verantwortungslosigkeit in allem ›uti et frui‹, Verselbständigung des Interesses an Steigerung von Lebensstandard und Konsum. Das von den Vier auf den Weg gebrachte Redundante und Unverantwortete ist allein dem Leben ohne Gewissen anzudienen.

2. Der Umgang mit dem Fortschritt 2.1 Die Möglichkeiten des Rechts Es ist nicht Aufgabe und auch nicht Vermögen von gesetztem Recht, neue Lebenswirklichkeit zu schaffen. Freilich ist es dem Recht – gleich allen Institutionen – nicht abzustreiten, daß es zu Habitualisierungen des Verhaltens führen kann und kein bloßer Zwang wie von außen bleiben muß. Der Gesetzgeber sieht sich vor die Aufgabe gestellt, Leben, wie es gelebt wird, unter Rechtssätze zu stellen. Das Erlaubte, Gebotene und Verbotene kann in einer Gesellschaft nicht beliebig strittig sein. Für gewöhnlich orientiert sich das Recht an dem erreichten kulturellen und gesellschaftlichen Standard des Verhaltens, wenn es das 234 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Der Umgang mit dem Fortschritt

Verbindliche bestimmt. Nur selten unternehmen Rechtssetzer den Versuch, neue Verhaltensmuster selber vorzugeben und sich darum zu sorgen, daß man sich auch entsprechend verhält. In jedem Falle aber spiegelt das ›Grundgesetz‹ einer gesellschaftlichen Gesetzgebung die Gesetzgebungen und Wertauffassungen gesellschaftlicher Eliten und Führungsmächte. Die Durchsetzfähigkeit als Verfassungswirklichkeit ist für die Formulierung des Grundgesetzes dabei nicht maßgeblich. Die praktische Einschränkung gesellschaftlicher Grundrechte verfügt die Führungsmacht recht und schlecht nach den Tagesbedürfnissen. Das Recht ist um des Lebens willen, nicht das Leben um des Rechts willen da. Menschliches Leben braucht Recht, aber kein Recht verlangt von sich aus nach Leben – es sei denn utopisches Recht mit einem utopischen Verlangen. 4 Menschliches Leben braucht schon deswegen Recht, weil es auf Teilung und Sozialität angelegt ist, sich aber in der Verselbständigung von Eigenheiten immer neu entzweit und dissoziiert. Die jeweils gegenwärtige menschliche Praxis im Einander der Glieder und Gruppen einer Gesellschaft und der Gesellschaften untereinander leistet aus sich nicht die Verbindlichkeit, die nötig ist, um die lebenserträgliche Toleranzgrenze der Spannung des Einander zu wahren. Verselbständigte Eigenheiten sind nicht an und für sich gehalten, in jedem ›Einander‹ gegenteiliger Interessen dem Zwang zum lebensdienlichen Kompromiß zu begegnen. Es ist auch kein Verlaß darauf, daß sich im Konfliktfall spontan die eine eigene Vernunft mit der anderen zusammentut, um gemeinsam den Ausgleich der Interessen zum bestmöglichen Lebensvorteil beider auszuhandeln. Hier dient vielmehr das Recht als praktisch-verbindliches Allgemeines: es erfaßt die faktisch Auseinandergeratenen als besonderen Fall, der synchron und diachron prinzipiell wiederholt auftreten kann. Das Z. B. Sokrates’ Wunsch, den dargestellten idealen und damit »in Ruhe« befindlichen Staat nun auch einmal geschichtlich »in Bewegung« zu sehen (Platon, Timaios 19b-c).

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Der Mensch im Spiegel des gegenwärtigen Zeitalters

geltende und sich durchsetzende Recht erfüllt seine dienende Funktion zugunsten des Lebens, wenn es ihm gelingt, Kompromisse als solche verbindlich zu machen und wenn nötig zu erzwingen. In dieser Absicht formuliert die rechtsverbundene und rechtsverbindliche Legislative Gesetze, die Verallgemeinerungen von durch lebenspraktische Erfahrung bewährten Kompromissen darstellen. Bei Leben in Rechtsverhältnissen wird lebendiger Widerstreit rechtlich bedeutsam und die Gesetzgemäßheit von Lebensäußerungen aktuell, wenn die vitale Wahrnehmung verselbständigter eigenheitlicher Interessen zu einem Problem der Lebensbefähigung der je Anderen wird. Soll die Institution des Rechts für die inhaltliche Bestimmung des nötigen Kompromisses tauglich sein, dann ist das ›Dritte‹, worunter es die Aneinander- und Auseinandergeratenen zum ›Kompromiß‹, das heißt zur Anerkennung der Rechtsentscheidung und Schlichtung zu führen gedenkt, nicht DIE Gerechtigkeit, schon gar nicht DIE (reine) praktische Vernunft, sondern gemeinsam und allgemein gemachte Lebenserfahrung, die verspricht, sich bei der besonderen Lage des einzelnen Falles lebenspraktisch zu bewähren. Beide Seiten sollen die Entscheidung, mit mehr oder weniger Zustimmung, als Antwort auf ihre faktisch-einmalige und zugleich rechtlich-besondere und also verallgemeinerte Situation akzeptieren können. Daß Gesetzgebung und Rechtsprechung darum nicht zum reinen Pragmatismus geraten und nurmehr legitimierend dem durchschnittlich Faktischen hinterher sind 5 , liegt daran, daß sie sich an relativ Unkritisierbares und Dauerhaftes In Die Gegenwart des Fortschritts hatte ich angemerkt (S. 33): In der BADISCHEN ZEITUNG vom 19. 10. 1984 ist ein typisches Beispiel dafür zu lesen: »Da Pornografie und Brutalitäten nach geltendem Recht verboten sind, die Realität aber längst neue Gesetze geschaffen hat, besteht auch in Basel in der Sex-Frage eine gewisse Rechtsunsicherheit. (…) Um eine ›einheitliche Praxis‹ herbeizuführen, sei das Basler Polizeidepartement vergangenen Mai beim eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement vorstellig geworden mit der Bitte, die Revision des Strafrechts voranzutreiben.«

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Der Umgang mit dem Fortschritt

halten: im weitesten an das fortgeschrittene kulturelle, zivilisatorische und gesellschaftliche Selbstbewußtsein einer Zeit. Eine neue Gesetzgebung bzw. Rechtskodifizierung im Umbruch der Zeiten (z. B. Drakon: Aufhebung der Institution der Blutrache; Solon: Aufhebung der Institution der persönlichen Schuldhaft; Kleisthenes: neue, nicht durch Verwandtschaft geprägte Phylenordnung) kann darauf vertrauen, daß das gesellschaftlich Neue seine geschichtsprägende Chance hat, zumal sie selbst dazu beiträgt, das Neue lebenspraktisch zu stabilisieren. Jede Gesetzgebung, die dem Leben dient, verliert sich nicht in die der Durchsetzung dienliche Zweckmäßigkeit und die der Geltung dienliche Sicherheit (Unverbrüchlichkeit) des Rechts, sondern repräsentiert auch Gerechtigkeit. Als lebensdienliche (›realistische‹) hält sich Gesetzgebung der Gerechtigkeit wegen allerdings nicht an universelle, rein-vernünftige Rechtssätze (etwa an den Satz von der uneingeschränkten Gleichheit im Sinne von ›du sollst, weil ich soll‹ 6 ), sondern an die erreichte kulturelle, zivilisatorische und gesellschaftliche Entwicklung. Für die Gerechtigkeit des Rechts ist insofern nicht auf ›überpositives Recht‹ von der Art des Vernunftrechts oder auch des Naturrechts zurückzugreifen. 7 Recht, das dem Leben zu Zeiten der vereinten Herrschaft von Wissenschaft, Technik, Industrie und Markt gerecht werden soll, darf nicht zum Ausdruck idealistischer Prinzipienbekenntnisse geraten, sondern muß sich an der Lebenspraxis orientieren, die den Lebensbeeinträchtigungen und Lebensgefährdungen durch die vereinten Vier mit Erfolg widerspricht. Das für menschliches Leben grundlegende Recht artikuliert sich heute national und international als ›Menschenrecht‹, das grundlegende Rechtsgut als ›Menschenwürde‹. Beides beruht Johann Gottfried Seume (1763–1810), zitiert bei G. Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 170. 7 Siehe dagegen G. Radbruch, Fünf Minuten Rechtsphilosophie, in: ders., ebd., S. 328. 6

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Der Mensch im Spiegel des gegenwärtigen Zeitalters

auf der vernunftutopischen Usurpation eines Wesens des Menschen. Die unbestreitbare funktional-praktische Bedeutung dieser Grundlagen im gegenwärtigen Rechtsbetrieb darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie unmöglich dem Menschen gerecht werden, wie er eigenheitlich lebt. Insofern ist von diesem geistesgeschichtlich bedingten Grundverständnis des Rechts, das seiner lebenspraktischen Wahrheit nach ein lebens- und entwicklungsunfähiges Überbleibsel der Aufklärung ist, abzusehen, um allgemein am Recht den konservativen Zug festzustellen, menschliche Eigenheiten, wie sie kultur- und zivilisationsgeschichtlich geformt und überhaupt hervorgekommen sind, zu bewahren. Eigenheitlich aber verhält sich der Mensch im Interesse seines Selbst auf ausgezeichnete Weise zu signifikant Ungleichem: der Mann als Mann zur Frau, entsprechend der Sieger zum Besiegten, der Revolutionär zum Hüter des Bestehenden, der Wallone zum Flamen, der Ankläger zum Angeklagten, der Arbeitgeber zum Arbeitnehmer. Gesetzgebung und Rechtsprechung nehmen hier die Aufgabe wahr, konservierend zu wirken: die signifikanten Unterschiede des eigenheitlich Besonderen einander zu vermitteln und als Rechtsordnung zu festigen, soweit und solange jedenfalls, als sie nicht in ihrer Verselbständigung das Einander in einer Weise aufheben, daß die Toleranzgrenze überschritten und die Lebensbefähigung zumindest der einen Seite in Frage gestellt ist. Ein Gesetz ist in dieser Sicht ein wie von selbst konservierender Kompromiß, wobei es keinen nennenswerten Unterschied macht, ob es zur Zeit seiner Formulierung und Verabschiedung genau den Stand der Dinge (state of affairs) trifft, ihm hinterherhinkt oder vorauseilt, ob es den Beginn kultureller und gesellschaftlicher Umwälzungen mitvollzieht oder im Leben sich bewahrender Tradition nur mit der Zeit geht. Kein Gesetz kann von sich aus beanspruchen, gerechtes Recht zu repräsentieren. Die eigenheitlichen Interessen sind unausgesetzt geschichtlich in Bewegung – die einen mehr, die anderen weniger. Eigenheiten verlieren an Gewicht oder verschwinden 238 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Der Umgang mit dem Fortschritt

sogar, neue treten auf und gewinnen an Bedeutung. Insofern kann ein Gesetz kaum jemals einen für alle gegenwärtig Betroffenen akzeptablen Kompromiß bereithalten. Stets kommt es in der Selbsterfahrung von Einzelnen, Gruppen und Gesellschaften eigenheitlichen Interessen zuwenig bzw. zuweit entgegen. Insofern gibt es begründeten Einspruch dagegen, daß es gerechtes Recht vorstellt. Wo Eigenheiten sich nicht verselbständigen und der Eine sich im Anderen und durch ihn als Selbst findet, wird wohl in Rechtsverhältnissen gelebt, nicht aber Recht als solches eigens in Anspruch genommen. Das Einander wird nicht als Rechtsverhältnis aufdringlich. Rechtsbewußtsein und Rechtshändel setzen verselbständigte Interessen voraus, solches, was zugunsten lebensbefähigenden, zumindest lebenserträglichen Einanders kompromißbedürftig und im Prinzip kompromißfähig ist.

2.2 Die Kompromißlosigkeit des Fortschritts Soll geklärt werden, wie Recht mit Wissenschaft, Technik, Industrie und Markt als vereinter Fortschrittsinitiative umgehen soll, um sie in ihrer verselbständigten Interessennahme in die Verbindlichkeit einer Kompromißformel einzubeziehen, dann verlangt das allem zuvor Antwort auf die Frage, zwischen wem denn Recht da überhaupt zu vermitteln hat. Soviel ist bereits klar: das Recht kann nie zwischen DEM Menschen und den Menschen vermitteln. Recht ist keine universalistisch-moralische Instanz und taugt nicht einmal zum Hilfssheriff dieser Vernunftutopie. So ist der Kompromiß auch nicht zwischen der vereinten Fortschrittsinitiative und DEM Menschen zu suchen, sondern offensichtlich zwischen den Vier und den von ihnen geforderten ›anderen‹ Menschen. Diese halten sich in ihrer betroffenen Eigenheitlichkeit (geistiger und geistlicher bis zu lebensökonomischer Art) weitgehend für kompromißbereit. Nur Fundamentalisten und Dogmatiker unter ihnen bekunden ein 239 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Der Mensch im Spiegel des gegenwärtigen Zeitalters

verselbständigtes Interesse, das jeden Kompromiß ausschließt. Doch diejenigen, die im lebensbefremdlichen, -verändernden und -beeinträchtigenden Fortschritt nichts als Teufel und Tod beschwören 8 (von Invektiven wie Amerikanismus, Kapitalismus, Eurozentrismus einmal abgesehen), vertreten Eigenheiten als Ideologie, nicht aber als etwas, das zur Lebensteilung in Unterschiedenheit und Gleichheit taugt. Insofern kann ihre Kompromißunwilligkeit nicht verallgemeinert werden. Der durch den ›Fortschritt‹ betroffene und zu seiner Bejahung herausgeforderte Mensch ist im Prinzip kompromißbereit. Ganz anders verhält es sich mit den Vier. Sie sind weder kompromißbedürftig noch kompromißfähig (in einem lebenspraktisch bedeutsamen Sinne) und darum auch nicht kompromißbereit. Das zeigt sich selbst dann noch, wenn sie nicht in ihrer Einheit genommen, sondern einzeln für sich betrachtet werden. Wie Wissenschaft und Technik, so sind selbst Industrie und Markt je aus sich und für sich nicht an menschlichen Bedürfnissen orientiert. Kein Handwerk und kein Wochenmarkt idyllischer Landstädtchen reicht mehr zu, die Vier zu verklären, wie sie die Gegenwart beherrschen. ›Kompromisse‹, die Industrie und Markt zwischen sich und den durch sie Betroffenen (nicht Bedienten) aushandeln, zeigen auf ihrer Seite keinerlei Kompromißbereitschaft, das Interesse an quantitativer und qualitativer Steigerung verfügbar gemachter konkreter instrumenteller Vernunft auch nur im geringsten zu vermindern. Was als Kompromiß erscheint, dient ihnen im Gegenteil als läßlicher Umweg, ihr eigenes Interesse unbeirrt zu verfolgen. Ein Kompromiß verlangt für gewöhnlich, etwas von der Substanz des verselbständigten Interesses aufzugeben. Das aber ist selbst für Industrie und Markt in ihrer fortgeschrittenen Art nicht möglich. Der

Martin Heidegger bereits im Sommer 1928: »… Technik, die heute wie eine entfesselte Bestie in die ›Welt‹ hineinwütet« (Metaphysische Anfangsgründe der Logik, S. 279).

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Der Umgang mit dem Fortschritt

›Logik‹ ihres Interesses nach sind sie kompromißunfähig, der ›Logik‹ ihres Verhaltens nach kompromißlos. Wer sich dieser Sachlage nicht entzieht, wird es für sinnlos erkennen müssen, an die vereinten Vier zu appellieren, doch bitte im Interesse der vielfältigen Eigenheitlichkeit des Menschen ein ›Einsehen zu haben‹. Was einen Kompromiß anbelangt, der für die durch sie entsprechend Betroffenen auch nur die Lebenserträglichkeit einbrächte, sind die Vier von sich aus und auf direktes Drängen der ›anderen‹ Seite hin 9 wirklich nicht handlungsfähig. Sie wären darum auch nicht die rechten Adressaten, sollte im Namen eines – nach allgemeiner Beratung und Empfindung – gerechten Rechts zugunsten der Betroffenen der Versuch unternommen werden, sie für ein Verhalten zu gewinnen, das Rechtens ist, und ihnen die Notwendigkeit von Kompromissen zu signalisieren – eine Notwendigkeit, die sich mit Vernunft und als Gewalt ankündigt. In diesem Sinne handlungsfähig für eine Rechtsposition ist allein der Staat. Das Gespräch der Juris-›prudenz‹ mit der vereinten Fortschrittsinitiative selbst kann jeweils nur Aufklärung über den Stand ihrer jeweiligen Möglichkeiten und Absichten bringen. ›Rechtfertigungen‹, wie sie dabei zu Wort kommen mögen, entsprängen nicht eigener Vernunft, die fähig und bereit wäre, zu einem ehrlichen, die eigene Substanz belangenden Kompromiß zu führen.

2.3 Der Rechtsstaat als Kompromiß Ein Kompromiß zwischen den – im einzelnen und im Verein – per se verselbständigten Eigeninteressen der Vier und den nicht per se verselbständigten der von ihnen Betroffenen kann allein Ob es wirklich die andere Seite ist und nicht selbst noch der lebensbeeinträchtigend von ihm Betroffene insgeheim mit dem Fortschritt paktiert, ist eine empirische Frage, die hier nicht zu entscheiden, aber gelegentlich zu erinnern ist.

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vom Staat erzwungen und in seinem Namen geschlossen werden. Dazu ist es erforderlich, daß das Interesse des Staates nicht mit den Interessen der einen oder anderen Seite zusammenfällt, sondern er ein eigenes vertritt, das seine Eigenheit gerade nicht dadurch verliert, daß er die Interessen der im Kompromiß zu Vermittelnden in das eigene aufhebt. Sie haben – divergierende – besondere gesellschaftliche Interessen zu bleiben, während er das seine als das der Gesellschaft im allgemeinen und ganzen eigene vertritt. Um es wahrzunehmen und den zum Kompromiß nötigen Zwang auszuüben, bedient sich der (Rechts-) Staat einer gesamtgesellschaftlich orientierten Gesetzgebung, Rechtsprechung und exekutiven Gewalt, wie wir es in den demokratisch regierten Industrienationen erleben. 10 Sein Monopol des Politischen ist nicht vollkommen. Die vereinten Vier und die durch sie Betroffenen sind je auf ihre Weise politische Größen. 11 Aber der Unterschied von Staat und Gesellschaft wird dadurch nicht verwischt. Der Staat bleibt – bei allen gegebenen Abhängigkeiten und nötigen Rücksichtnahmen – politisch dominant. Was letztlich regiert, ist sein Eigeninteresse, das sich mit keinem der in ihm lebendigen politischen Größen absolut deckt. Der Staat hat jedoch nicht beliebig Macht über die vereinte Fortschrittsinitiative, sobald er sich selbst in einer Weise geschichtlich versteht, daß seine Wirklichkeit von der ihren nicht zu trennen ist. Nur wenn es einer – nicht-demokratischen – Staatsmacht gelingt, atavistische Triebkräfte zu reaktivieren, als fortschrittlich zu tarnen und mit ihnen die Gesellschaft aus der Geschichte herauszuführen, wird sie es auch wirklich fertigbringen, die Vier politisch zu entmachten und gesellschaftlich zum Verschwinden zu bringen. Eine mit Vernunftgründen ver-

Zu »erleben« als wissenschaftlicher Kategorie siehe W. von Simson, Der Staat als Erlebnis. 11 Zum Begriff der politischen Größe siehe C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 38. 10

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tretene Reanimation vorindustriell-subsistenzwirtschaftlichen Lebens und eine mit Glaubensgründen vertretene Restauration theokratisch-altgesetzlicher Gesellschaft sind möglich, weil es Fundamentalisten in einem jeden Staat prinzipiell unbenommen ist, durch populistische Bewegungen an die Macht zu kommen. Wo dies gelingt, ergibt sich freilich die widersprüchliche Situation, daß sich die ungeschichtlichen Machthaber nur halten können, wenn sie mittels der Vier gegenüber den Vier auf der Hut bleiben. Nur modernste Geräte und Waffen bieten die Chance, ein Neu-Arkadien voller Furcht und Schrecken nach innen und außen zu sichern. Der Staat dagegen, der seine Möglichkeiten geschichtlich selbstbewußt dem Fortschritt verdankt, weiß sich ihm verpflichtet und nimmt ›prinzipiell‹ (das heißt in weitestmöglicher geschichtlicher Selbstbejahung) Partei für die Vier. Er tut das aber nicht unbedingt und in jedem Fall. Das Staatsinteresse ist als solches unmöglich identisch mit dem verselbständigten Interesse der Vier, sondern notwendig höher als dieses. Der Staat dient nur insoweit ihrem Interesse, als er es im eigenen Interesse zu vereinnahmen und in es aufzuheben weiß. Die Idee eines ›Staatsmonopolkapitalismus‹ ist rein fiktiv. Vom je einzelnen Staat ist in Bezug auf das, was er an und für sich selbst vermag (wenn auch nicht notwendig tut), nämlich den gesellschaftlichen Kompromiß stets neu herbeizuführen und selbst zu repräsentieren, weder sinnvoll zu sagen, er sei kompromißbereit noch er sei es nicht. Der Staat ist der Maßstab und die Macht des Kompromisses, den er zwischen dem erzwingt, was sich innerhalb der Grenzen seiner Macht und Ordnung an verselbständigtem Einzelnen teils kompromißlos teils kompromißbereit gibt. Insofern kann er nicht mit dem zusammenfallen, was innerhalb seiner Grenzen an durch und durch Kompromißlosem agiert. Selbst der Staat, der so gut wie überhaupt nicht gegen, sondern so gut er nur kann für die Vier eintritt (bis hin zur kriminellen Toleranz und Komplizenschaft), steht niemals wirklich im Dienste derselben. Auch die Vier bleiben stets politische Größen inner243 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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halb des Staates und unterhalb der ihnen förderlichen exekutiven Staatsmacht. Nun sind allerdings die Vier in ihrer geschichtlichen Wirklichkeit nicht darauf beschränkt, in einem einzelnen Staat präsent zu sein. Sie sind es stets zugleich unter den Staaten. Kein Staat, der dem Fortschritt der Vier verpflichtet ist, kann darum allein ein intranationales Verhältnis zu ihnen pflegen, sondern sieht sich zugleich international mit ihnen ›konfrontiert‹. Neigt aber der Staat schon nach innen nicht zu einer restriktiven Gesetzgebung gegenüber dem kompromißlosen zivilisatorischen Fortschritt, mit dem er sich einig weiß, machen Verantwortung und Interesse, wie sie nach außen gerichtet sind, eine solche geradezu unmöglich. Bereits das Konkurrenzargument erschlägt da so gut wie alles: ›wir optimieren den Fortschritt der eigenen Vier (gemessen an eigener Beschäftigungslage und eigenem Steueraufkommen), weil es die anderen so halten‹. Die weltweite Internationalität staatlicher Politik, die dem fortgeschrittenen Stand der je eigenen vereinten Vier gerecht wird, verleitet insbesondere Philosophen zu dem Glauben, daß es für Recht und Moral nurmehr die universal-›nationale‹ Option als sinnvolle Möglichkeit gebe und die Menschheit selbst als Nation bzw. als Quasination begriffen werden müsse. Entsprechend gedeihen Vorstellungen von der einen gleichen Gesetzgebung, Rechtsprechung und exekutiven Gewalt für alle ›Staaten‹ auf Erden, wodurch nicht zuletzt Forschen, Erfinden, Produzieren und Bereitstellen auf allgemeinmenschliches Interesse festgelegt würde. 12 Doch diese Vereinheitlichung und Universalisierung des Politischen als maßgeblicher Instanz von GeWenn Karl-Otto Apel meint, daß die Resultate der Wissenschaft eine moralische Herausforderung für die Menschheit darstellten und die Menschen gefragt seien, »die solidarische Verantwortung für die Auswirkungen ihrer Handlungen im planetarischen Maßstab zu übernehmen« (siehe S. 73, Anm. 9), dann formuliert er klar und genau einen Tagtraum verselbständigter philosophischer Vernunft, der wie kein anderer geeignet ist, Moralisten das Gefühl zu vermitteln, das Nötige gesagt und getan zu haben. In 12

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rechtigkeit und Verantwortung bedeutete nicht nur das Ende aller Politik 13 , sondern auch das Verschwinden eines jeden Interesses. Universal-›nationale‹ Politik setzte ein einiges menschheitliches Interesse voraus (Erhaltung der Vernunft = des Wesens und der Art) – unter Ausblendung eigenheitlicher Interessen. Gerade das aber ist eine leere Vernunftutopie, daß der Mensch sich als Mensch vertreten könne, ohne Chemiker, Bürgermeister, Stahlmanager, Waffenhändler, Katholik, Holländer und Araber zu sein. Vereinbarungen als bilaterale und multilaterale Kompromisse sind gefragt. Die Durchsetzung des einen Rechts jenseits von Politik und Interesse ist nicht mehr als – lebenspraktisch bewährter – vermittelnder Kompromiß, sondern nur noch als unmittelbare Diktatur vorstellbar. Weil es aber eine Diktatur der reinen Vernunft unmöglich gibt, müßte man, soll es dennoch ›vernünftig‹ zugehen, realistisch an die Diktatur einer gleichsam affektiv beflügelten Vernunft denken, etwa an die einer puristisch-moralischen, argwöhnischen, verdächtigenden, hassenden, rasenden Vernunft. 1789 ist ein guter Beleg dafür, wie eine politische Vernunft, die sich als reine und menschheitliche inszeniert, genau das nicht ist, sondern nicht Wahrheit handelt es sich um eine Selbstrechtfertigung ungebundener Vernunft, in der sie ihre gesellschaftliche Unbrauchbarkeit fixiert. 13 Siehe unter anderem G. Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 296: »Der Weltstaat aber trägt dieselbe Individualitätslosigkeit an sich wie das individualitätslose Individuum, auf das er letzten Endes gegründet ist. Wie er ausgeht von der abstrakten Menschheit im Menschen, so mündet er aus in die Menschheit als abstrakte Allgemeinheit (…).« C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 54 f.: »Aus dem Begriffsmerkmal des Politischen folgt der Pluralismus der Staatenwelt. Die politische Einheit setzt die reale Möglichkeit des Feindes und damit eine andere, koexistierende, politische Einheit voraus. Es gibt deshalb auf der Erde, solange es überhaupt einen Staat gibt, immer mehrere Staaten und kann keinen die ganze Erde und ganze Menschheit umfassenden Welt›staat‹ geben. Die politische Welt ist ein Pluriversum, kein Universum. (…) Daß Kriege im Namen der Menschheit geführt werden, (…) hat nur einen besonders intensiven politischen Sinn.«

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mehr als eine zwar verklärte, aber eben doch bürgerliche und nationalstaatliche Machthaberei aufführt. Die Einschränkung des ungehemmten zivilisatorischen Fortschritts zugunsten der durch ihn in ihrer Lebensbefähigung Bedrohten und Geschädigten kann nur im je einzelnen Staat durch Gesetzgebung, Rechtsprechung und exekutive Gewalt beginnen, und dies auch nur dann, wenn sie im Interesse des Staates selbst liegt. Dazu hat er aber nicht allein die Interessen der Vier, soweit er sie sich zueigen machen kann, zu ›teilen‹, sondern entsprechend auch die der ›anderen‹ Menschen. Die fragliche Einschränkung setzt demnach voraus, daß die vom Fortschritt Betroffenen ihre Interessen so vertreten, daß der Staat nicht umhin kann, sie in sein Machtinteresse aufzuheben, weil und sofern sie ihm dienen. Der Staat wird darum der nationalen Gesetzgebung sachlich Vorrang einräumen. Hier ist er der Vater des Kompromisses (sc. zwischen dem Fortschritts- und dem Bekömmlichkeitsinteresse). Erst dadurch, daß er selber bei sich selbst den Kompromiß herbeiführt, ist er gegenüber anderen Staaten selbst kompromißfähig und auch kompromißbereit. Um mit und gegen den erd- und menschenweiten, von sich aus ungehemmten Fortschritt der Zivilisation menschliches Lebensinteresse wahren zu können, bedarf es der Staaten als politischer Einheiten und Ordnungen, die sich jeweils intranational als Maßstab und Förderer von Kompromissen bewähren und im eigenen Interesse zugleich international kompromißbereit sind. Der Welt-›staat‹ stellt allein eine ideologische Krise der Konzeption des Staates dar und belangt nicht seine geschichtliche Wirklichkeit. Die ist deutlich durch die Verselbständigung von Eigeninteressen geprägt, wobei allerdings zwischen der zu unterscheiden ist, die seine politische Funktion stärkt, und der, die sie gefährdet. Ein funktionstüchtiger Staat bekennt sich als solcher voll und ganz zu sich selbst und das heißt zu seiner Eigenheit. Die aber liegt in der Macht. Wie uns der Staat im Zeitalter der vereinten Vier entgegentritt, gibt es das Staatsinteresse, das ein Macht246 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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und Machterhaltungsinteresse ist, allein als verselbständigtes. Diese Verselbständigung macht ihn nicht funktionsuntüchtig. Im Gegenteil. Gerade das ›reine‹ Interesse an Machterhaltung und an der Wiederwahl seiner Machthaber fördert sein Interesse am Kompromiß zwischen politischen Größen, die in ihrem unvermittelten Gegensatz seine Einheit und damit seinen Bestand gefährdeten. Der Staat in seiner Inszenierung als gesellschaftlich realisierter Kompromiß zeigt, daß er stärker ist als alle Kräfte und Mächte in ihm: er hält unter ihnen Ordnung. Den einander widerstreitenden Interessen, kompromißlos wie kompromißbereit vertretenen, widerfährt Gerechtigkeit einzig und allein dadurch, daß sie in das Kalkül der Machterhaltung einbezogen werden. Gerade die Verselbständigung des Machterhaltungsinteresses des Staates ist die Gewähr dafür, daß er nach innen stark genug ist gegenüber den Vier und den extremen Positionen der durch sie Betroffenen, um sich selbst als Kompromiß durchzusetzen, nach außen wieder, um sich für sich selbst vernünftig beraten zu können. Nötigenfalls wird er bestimmte Machtpositionen im Interesse der Erhaltung seiner Machtposition als solcher, national wie international, aufgeben. Das verselbständigte Interesse des Staates an seiner Macht ist jedenfalls die einzige Chance für die durch den Fortschritt Betroffenen, zu ihrem Recht zu kommen. Nun liegt allerdings in der Verselbständigung des Machterhaltungsinteresses die Gefahr der Verselbständigung der Mittel zu diesem Zweck. Wie der Vorrang der Methode vor der Wahrheit geeignet sein kann, die Wahrheit selbst vergessen zu machen, so läßt die vorrangige Ausweitung und Stärkung der Machtstruktur leicht den Kompromiß aus dem Blickfeld verschwinden, auf den allein sich rechtsstaatliche Macht auf Dauer zu stützen weiß. Die Gefahr der Verselbständigung der Mittel staatlicher Machterhaltung wird vor allem in Machtgewinn und Präsenzzunahme von Bürokratie und Polizei gesehen. Es gibt, gemessen an der – feststellbaren – Funktionstüchtigkeit demokratisch regierter Industriestaaten, allerdings guten Grund 247 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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zur Annahme, daß diese Gefahr übertrieben wird. Wir können da nämlich eine Selbstregulierung erkennen: das Interesse an Wiederwahl bedingt, daß die Interessen der Vier nicht zugunsten der Strukturverfestigung geopfert werden (auch nicht einmal gänzlich die der durch sie Betroffenen), die Ausdehnung staatlicher Macht mag noch so rücksichtslos, die Budgetmaximierung noch so progressiv sein und der Staat als Staat sich vollends kompromißlos gebärden. Eindeutig überwiegt das Machterhaltungsinteresse das Machtverwaltungsinteresse und hält es auf einem Maß, das den Staat nicht unfähig macht, sich als Kompromiß zu realisieren. Wie seit Descartes das Gewißheits- und Methodeninteresse den Menschen nicht um alle methodisch zu erfassende Wahrheit gebracht hat, so hat das Verwaltungsinteresse bislang noch keinen demokratischen Staat um seine funktionsgerechte politische Machtausübung gebracht. Allein unter dem Anspruch reiner praktischer Vernunft kann das Staatsinteresse zur Diktatur der Ordnung um der Ordnung willen verkommen und somit der Staat wirklich kompromißlos werden. Das Machtinteresse der im Blick stehenden Machthaber ist dagegen doppelt vital gebunden: an der Vitalität der Machthaber selbst und an der Vitalität derer, denen sie – gegebenenfalls – ihre Wiederwahl zu verdanken haben werden. Eine staatliche Entscheidung für neues arkadisches Leben und den Ausstieg aus dem Fortschritt ist unmöglich zu erwarten, solange der Staat sein eigenstes Interesse, wie es ihm seine geschichtliche Wirklichkeit vorgibt, verfolgt. Ein Neu-Arkadien steht – so oder so – allein als Diktatur fundamentalistischer und atavistischer Kräfte zu befürchten. Wissenschaft und Technik, Industrie und Markt werden, wie sie vereint existieren und agieren, aus sich stets ihren Fortschritt betreiben: die ungehemmte Steigerung zum Konsum bereitgestellter konkreter Zweckrationalität. Allein das Staatsinteresse, das ganz auf die Erhaltung der Staatsmacht zielt, vermag es, ihnen bei Bedarf durch Gesetz und Verordnung Beschränkungen aufzuerlegen. 248 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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Der Staat, der den zivilisatorischen Fortschritt regiert, bekundet mitunter auch sein Interesse an moralischen Wertsetzungen. Es hat dann den Anschein, als wolle er nicht nur für einen Rechtsstaat, sondern auch für einen Moralstaat genommen werden. Dabei hat er selbstverständlich nicht vor, sich irgendwelchen Prinzipien, die seinem Interesse fremd und äußerlich sind, zu unterwerfen. Er erkennt unmöglich ein Gewissen gegen sich selbst an. Besinnt er sich auf moralische Wertsetzungen, dann kann das für ihn nur den Sinn haben, den Kompromiß, in dem er sich selbst will, allgemein akzeptabel zu machen, nicht aber, den Kompromiß, den er repräsentiert, als Vernunftund Rechtsform allererst zu finden. Innerstaatlichen Kräften gibt der Staat keine Chance, daß sie ihn von ihrer eigenen Gewissenhaftigkeit und zugleich von der Gewissenlosigkeit anderer Kräfte überzeugten. Wer etwa als Gewissen praktisches Selbstbewußtsein reklamiert, das auf der Mitwisserschaft gelingenden gemeinschaftlichen Lebens basiert, um dadurch die vereinte Fortschrittsinitiative einer sozusagen angeborenen Gewissenlosigkeit zu überführen, darf nicht hoffen, zum Gewissen des Staates werden zu können. Dieser kann das reklamierte Gewissen allein als Kraft einschätzen, die gegebenenfalls in das Kalkül seiner Machterhaltung einzubeziehen ist. Der Staat hat kein anderes ›Gewissen‹ als sie. Darum ist auch kein Staat, wie immer seine Verfassung lauten mag, mit irgendwelchen Menschenbildern und menschlichen Selbstdeutungen so verbunden, daß er sich nicht wieder von ihnen lösen könnte. Zumeist genügt es schon, daß er sie neu interpretiert, um sich gegen die zu wehren, die ihn wider seine eigenen Interessen ›gewissenhaft‹ beim Wort zu nehmen suchen. Jeder Versuch einer maximalistischen Auslegung staatlicher Verfassungen widerspricht dem Geiste der Staatsmacht und hat Züge geschichts- und lebensfremder Dogmatik.

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2.4 Kompromißfähigkeit und Kompromißbereitschaft der vom Fortschritt Betroffenen Die Fortexistenz des Staates, der geschichtlich auf der Höhe der Zeit ist und – mit Einschränkung – dem tendenziellen Fortschritt der Zivilisation Recht gibt und Förderung angedeihen läßt, stellt die Frage nach Kompromißfähigkeit und Kompromißbereitschaft des vom Fortschritt betroffenen Menschen. Um deutlich zu machen, daß sie sich im gegebenen Zusammenhang nicht an einen Biologen richtet, ist sie am besten als eine Frage des Gewissens zu verstehen: kann der Mensch seine lebens- und kulturgeschichtlich geprägte und als Mitwisserschaft ›menschlichen‹ Lebens sedimentierte lebenspraktische Erfahrung angesichts der sie überholenden und verdrängenden Neuerungen zur Disposition stellen? Pointierter gefragt: kann der Mensch sich mit dem, was er als Gewissenlosigkeit des zivilisatorischen Fortschritts erfährt, auf eine Weise arrangieren, daß er selbstbewußt Mensch und eben auch am Leben bleibt? Der Fortschritt der vereinten Vier, selbst wenn er mit den Interessen des Staates konform geht, scheint dem ›anderen‹ Menschen und Zeitgenossen nichts geringeres abzuverlangen, als daß er sich auf die Kompromißlosigkeit des Fortschritts einläßt und sich dessen Gewissenlosigkeit zu eigen macht. Der von ihm geforderte ›Kompromiß‹ lautet grundsätzlich: auf die Steigerung verfügbarer instrumenteller Vernunft mit der Steigerung von Konsum und Lebensstandard zu antworten. Doch der Kompromißforderung würde vom fortschrittsbetroffenen Menschen als Staatsbürger in der Sache unseriös entsprochen, wenn er dabei sich selbst aufgäbe. Ein Kompromiß setzt notwendig Aufgabe von Positionen, genau aber nicht Selbstaufgabe voraus. Mit ihr würde der Betroffene nicht nur diese und jene eigenheitlichen Interessen, sondern nicht zuletzt auch die des Staatsbürgers und des Staates verraten. Aufgrund geschichtlicher Erfahrungen ist davon auszugehen, daß dem vom Fortschritt Betroffenen auch weiterhin Spielraum 250 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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gegeben ist, eigene Positionen zugunsten eines Kompromisses im eigenen und staatlichen Interesse zur Disposition zu stellen. Dieselbe Erfahrung lehrt aber zugleich, daß in der gegenwärtig für nötig befundenen Kompromißbereitschaft eine ganz besondere Gefahr für den vom Fortschritt Betroffenen liegt: sich seinerseits die Kompromißlosigkeit der Vier anzueignen, indem nunmehr die Steigerung von Konsum und Lebensstandard kompromißlos wird. Auch diese Steigerung nämlich kennt dann in sich keine Hemmung. Wir sind Zeugen, wie Zeitgenossen sich eine Gewissenlosigkeit der Vier nach der anderen durch darauf antwortenden Konsum und Lebensstandard als eine Art von Gewissenhaftigkeit anverwandeln. Aus sich einander entsprechender Kompromiß- und Gewissenlosigkeit wird somit eine Spielart des Gewissens. In seiner Antwort auf verfügbare konkrete instrumentelle Vernunft macht sich der Mensch verfügbar fürs Verfügbare. Die – ›neue‹ – Kompromißlosigkeit des vom Fortschritt der vereinten Vier Betroffenen kann ebenfalls nicht im Interesse des Staates sein. Um seine Macht zu erhalten, verlangt er von dem, der sich zur Maßlosigkeit im Konsum herausgefordert sieht, stets neu den Kompromiß mit dem zivilisatorischen Fortschritt zu suchen, das heißt gewisse eigenheitliche Interessen zu bewahren, die genau nicht die des verselbständigten Konsums und Lebensstandards sind. Unter den Fortschrittsbetroffenen gibt es zwei Sorten, die den Staat hindern könnten, seine eigenen verselbständigten Interessen wahrzunehmen: die fundamentalistischen Protagonisten Neu-Arkadiens und die kompromißlosen Konsumenten, die, von gelingender menschlicher Lebensteilung aus beurteilt, gewissenlos handeln. Die für den Staat und für den Konsumenten als politische Größe nötige Kompromißbereitschaft liegt zwischen beiden. Der Staat hat ein Interesse, daß sich die zwischen extremen Positionen geortete Kompromißfähigkeit und Kompromißbereitschaft auch praktisch bewährt. Als Beispiel einer Konfrontation von Extremen lassen sich die Positionen Wald und Auto 251 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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nehmen: der Wald wäre Arkadien (man stelle sich ein Spanien zur Römerzeit vor, von dem es anschaulich heißt, daß ein Eichhörnchen von den Pyrenäen bis nach Gibraltar nicht den Erdboden aufsuchen mußte), das Auto kompromiß- und gewissenlosen Konsum. Nun sieht es ganz so aus, als habe der lebenspraktisch für die – fortschrittliche – Gegenwart repräsentative Mensch bereits entschieden: Auto geht vor Wald. Waldzerstörung (wie sie vom Autowesen im ganzen einschließlich Zersiedelung und Industrieproduktion vielfältigster Art, nicht bloß von den herumfahrenden Autos kommen mag) stellt für ihn keine Gewissenlosigkeit mehr dar. Er ist zum kompromißlosen Autokonsum entschlossen. Tendenzielle Walderhalter gelten ihm nurmehr als Außenseiter – im besten Falle als romantisierende, im schlimmsten Falle als gefährliche, weil aus Prinzip konsumgefährdende, sie könnten denn vitale Interessen wie die des Holz- und Freizeitmarktes nachweisen. Ein ›Waldmensch‹ hat für ihn aufgehört, eine akzeptable Eigenheit zu sein. Mit Blick auf Spanien und Italien kann er argumentieren, daß es, um Mensch zu sein, ›fröhlicher‹ Mensch zumal, dort überhaupt keiner Wälder bedürfe, wo einmal Wälder standen. Folglich hätte auch niemand notwendig im Wald zu leben oder sonstwie mit ihm sein Wesen zu treiben. So verwendet, dienen diese Argumente allerdings allein der Verschleierung der extremen eigenen Position. Kompromißloses Verhalten politischer Größen kann vom Staat auf keinen Fall geduldet werden. Darum ist er auch unmöglich daran interessiert, daß der vom Fortschritt betroffene Mensch mit einer darauf antwortenden Maßlosigkeit ins Lager der Kompromißlosen wechselt. Für den Kompromiß, den der Staat herbeizuführen und selbst darzustellen hat, ist es von grundlegender Bedeutung, daß nicht nur die vereinten Vier, sondern auch die Konsumenten als die ›Anderen‹ gesellschaftlich existent sind. Insofern ist und bleibt er auf Gewissen angewiesen, das auf der Mitwisserschaft gelingender Lebensteilung basiert. Er wird es eben nur nicht zu dem seinen machen, son252 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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dern im Gegenteil von ihm fordern, ein starkes Gewissen zu sein, das ist ein solches, das sich nicht – skrupulös – aus allem und jedem ein Gewissen macht (wie das von Paulus kritisierte schwache Gewissen) 14 , sondern bereit ist, eigene Positionen aufzugeben und mit der Zeit zu gehen. Damit ist der rechtliche und moralische Entscheidungsrahmen für die politische Frage ›Auto oder Wald?‹ formal abgesteckt. Ob dem Gewissen der Kompromißbedürftigen gegenwärtig mit geschützten Naturparks und funktionstüchtigen Katalysatoren gedient ist, stellt für den Staat allein die Frage dar, ob entsprechende politische Entscheidungen dem für ihn nötigen Kompromiß förderlich sind. Seine Vernunft, die ihn in den nationalen und internationalen Belangen von ›Auto oder Wald?‹ berät, hat auf der einen Seite mit Kräften des kompromißlosen (und gewissenlosen) Fortschritts zu kalkulieren, auf der anderen mit Kräften kompromißunwillig-fundamentalistischer und kompromißbereit-gewissenhafter Fortschrittsbetroffener. Wie sich der Staat im eigenen Interesse – vernünftigerweise – entscheidet, hängt maßgeblich davon ab, wie stark sich die unterschiedlichen Kräfte in sein Kalkül einzubringen vermögen. Stimmt der Betroffene der Steigerung des zivilisatorischen Fortschritts zu, dann kommt nicht notwendig vorexerzierte mit sich anpassender Gewissenlosigkeit überein. Wie es einen Wandel des Rechts gibt, dann nämlich, wenn sich die unter Rechtssätze stellende Lebenspraxis grundlegend geändert hat, so gibt es auch einen Wandel des Gewissens: aus altem wird anderes neues. Die Lebenspraxis und die Beurteilung ihres Gelingens ist geschichtlichen Wandlungen ausgesetzt. Das ist z. B. bedeutsam für die aktuelle Frage der In-vitroFertilisation, insoweit sie als eine staatlich-rechtliche und lebensteilig-moralische verstanden wird. Aus der geschichtlichen Tatsache der leibhaftigen Mutter und des leibhaftigen Vaters, vereint im Zeugungs-Empfängnis-Geschehen und zuständig 14

Kolosserbrief 2, 16; Römerbrief 14, 1–12; 1. Korintherbrief 8, 7.

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für das Austragen und Gebären, ist nicht abzuleiten, daß es ›menschlich‹ für alle Zeit so zugehen muß. Auch moralische Vorstellungen in dieser Sache, die sich – traditionell – auf alte Bücher und Naturrechtslehren berufen mögen, haben hier aus sich unmöglich das wahre und letzte Wort. Dies hat der Staat als der gesellschaftlich realisierte Kompromiß, der freilich mit dem, was er da vermittelnd zusammenführt, höchst bedachtsam umgehen wird. Die geschichtliche Erfahrung lehrt, daß das, was heute als gewissenlos erfahren wird, morgen zur Mitwisserschaft glückender Lebenspraxis gehören kann. Allerdings hat jede geschichtlich-kulturelle Gegenwart ihre moralischen Toleranzgrenzen. Der Staat wird sie im eigensten Interesse nicht bedenkenlos überschreiten. Ein viktorianisches Zeitalter verabschiedet sich nicht an einem Tag. Insofern wird Moral (dogmatisch-aufdringlich oder lebenspraktisch-unaufdringlich) als konservatives Moment dafür sorgen, daß mancher Umschlag von gewissensinadäquat in gewissensadäquat einen zeitlichen Aufschub erhält, der Menschen die Umstellung ohne lebenszerstörerische Brüche möglich macht. Zeigt sich eine Moralvorstellung und sedimentierte Mitwisserschaft gelingenden Lebens einmal vom gesellschaftlichen Verhalten und Bewußtsein als allgemein überholt, dann läßt sie sich auch durch einen eigens veranstalteten öffentlich-rechtlichen Akt ad acta legen – man denke an die Umgestaltung des ›Kuppeleiparagraphen‹ (§ 180 des Strafgesetzbuches) zu einer Schutzbestimmung für Minderjährige. Änderungen von Rechtsnormen stellen für gewöhnlich keine Herausforderung menschlicher Kompromißfähigkeit und Kompromißbereitschaft dar, sondern sind ein Beweis für sie.

3. Der instrumentelle Mensch Im Spiegel redundant verfügbarer konkreter instrumenteller Vernunft zeigt sich der instrumentelle Mensch. In einer weiten 254 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Der instrumentelle Mensch

und vielschichtigen Öffentlichkeit ist er die herrschende Gestalt des heutigen Menschen. In ihm ist, wie jede realitätsbezogene Reflexion nachprüfen kann, keine Person im Sinne Kants um sich selbst als Selbstzweck gebracht und zur bloßen Sache gemacht. 15 Nein, das ist der moderne autonome Mensch, der auf die aufdringlichste Herausforderung der heutigen Zeit antwortet, indem er sich die Interessen, die aus ihr sprechen, auf seine Weise selbst zu eigen macht. Der instrumentelle Mensch läßt sich vom Fortschritt brauchen, indem er ihn braucht. Die Vielfalt seiner Eigenheiten wird überlagert und vereinheitlicht durch ›fortschrittlichen‹ Konsum. Wer darum doch in ihm den zum bloßen Instrument verkommenen Menschen sehen möchte, muß zugleich erkennen, daß es der vollends der Vernunft ausgesetzte Mensch ist. Sie dient ihm allein, sofern er ihr dient, nämlich den Steigerungsinteressen der vereinten Vier. Erst einmal ganz auf – instrumentelle – Vernunft gekommen, kommuniziert der Mensch nurmehr, indem er konsumiert: ein vollkommener Ausdruck der Selbstbefriedigung des vernünftigen Fortschrittsbedürfnisses. Der instrumentelle Mensch – wir können nicht sagen, das sei DER Mensch, wie er heute leibt, fühlt, denkt, will, lebt, handelt und eben Mensch ist. Selbst derjenige, der ›ganz‹ in der Steigerung von Konsum und Lebensstandard aufgeht, ist als Mensch nicht schlechthin instrumentalisiert. Das ist schon einfach darum nicht der Fall, weil es der Mensch nie und in nichts zu einem wirklich absoluten Sein bringt. Ist der instrumentelle Mensch nicht wie von Sinnen, dann ist er auch – bei aller möglichen Verführtheit, ja möglichem Zwang – eine Selbstinszenierung, ein Spiel mit weiteren Optionen. Deshalb sind gar nicht erst ›alternativ‹ lebende Menschen aufzusuchen, um faktisch gegebene Instrumentalität des Menschen als eine reine widerlegt zu sehen. ›Alternativen‹ entdecken sich am kompromißlosen Konsumenten selbst. Auch sein Menschsein bestimmt sich aus 15

Siehe I. Kant, Metaphysik der Sitten, VI, 278.

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Der Mensch im Spiegel des gegenwärtigen Zeitalters

einer Vielfalt eigenheitlicher Handlungszusammenhänge. Die provozierende Überlegung ist erlaubt, ob nicht der Mensch, der sich als instrumenteller spiegelt, allein aufgrund dieser Spiegelung alternative Lebensmöglichkeiten zeigt. Nicht nur die Möglichkeit, noch andere Standorte vor dem Spiegel und überhaupt andere Spiegel zu wählen, sondern eben bereits das Sichspiegeln im Instrumentellen als Selbstsicht, Selbstauslegung, Selbsterkenntnis und Selbstbejahung, womöglich gar Selbstbestimmung, läßt es bedenklich erscheinen, den instrumentellen Menschen, wo er öffentlich auftritt, für etwas Absolutes anzusehen. Die realistische Selbstsicht des instrumentellen Menschen, in der eigene Realität auf herausfordernde Realität antwortet, zeigt kein ›nichts anderes als‹. In dieser Sicht entdeckt sich der Mensch vielmehr (wie entsprechend bei jeder anderen Spiegelung auch) als – eigenheitliches – Insofern: er ist das, was er ist, insofern er sich im Lichte des kompromißlosen Fortschritts sieht, identifiziert und bejaht, insofern er also dessen gesellschaftliche Akzeptanz mitträgt und die Ansicht teilt, der Mensch von Heute habe ein Recht darauf, mit ihm und durch ihn zu leben, zugleich die Pflicht, für ihn zu leben. Mit seiner tendenziellen Steigerung von Konsum und Lebensstandard ist der instrumentelle Mensch voll im Einsatz, die gesellschaftliche Realität mit zu konstituieren. Als angepaßter Mensch, der nicht nur seine Lebenswelt, sondern auch seine Anpassung an sie ohne Skrupel akzeptiert, läßt er eine ganz besondere Vernunft walten. Anstatt auf das Angebot steigend verfügbarer konkreter instrumenteller Vernunft mit utopischer Vernunft zu antworten – argumentierend, daß eigentlich alles ganz anders, vielleicht wie zur eher naturständigen Vorväterzeit, zu sein hätte, nimmt er die Gelegenheit wahr und greift zu. Die schöne utopische Vernunft weicht so der opportunistischen. Mit ihrer Hilfe versteht er sich als Korrespondent der angebotenen instrumentellen Vernunft, wird er ein Moment ihrer selbst. Er baut selbst mit am System, das ihn vereinnahmt. Indem er tendenziell alle Neuerungen aufgreift und in alles 256 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Der instrumentelle Mensch

Zivilisatorisch-Fortschrittliche einwilligt, ja es für unentbehrlich erklärt, fundiert er mit die Redundanz des Verfügbaren. Der instrumentelle Mensch als Insofern macht nicht den Eindruck, als verhalte er sich zu allem anderen Insofern, das im heutigen Menschen zu verifizieren ist, strikt neutral. Es sieht vielmehr danach aus, als nähme er nicht nur seine Zeiten (καιροί) wahr, um für den Augenblick zu dominieren, sondern als ergriffe er, sobald geschichtlich existent, auch schon vom ganzen Menschen Besitz. Der opportunistisch Vernünftige spürt keinerlei Verlangen, nach einer ›Wahrheit des Lebens‹ zu suchen, etwa nach der Wahrheit der Bedürfnisse. Konsum und Lebensstandard, als Werte an sich selbst gesetzt und erlebt, erübrigen jede Selbstbefragung. Opportunistische Vernunft zeichnet sich nicht zuletzt durch ihre entlastende Funktion bei allen Grund-, Folgeund Zielproblematisierungen aus. Hervorragendes Beispiel für die Parteilichkeit opportunistischer Vernunft ist die Freiheit. In ihren Antworten auf verfügbare instrumentelle Vernunft hat sie das Freiheitsbedürfnis des Menschen, wie in einem Akt von Selbstbestätigung, zum reinen Konsumbedürfnis gemacht. Autonomie (im Verständnis liberalistischer, nicht kantischer Tradition) ist ihm z. B. die der Ortsveränderung, und die bedeutet dem opportunistisch Vernünftigen ›alles‹. In der lebenspraktischen Gleichsetzung von angebotener und ergriffener instrumenteller Vernunft wird alle Freiheit zu etwas Konsumierbarem, jeder Konsum zum Freiheitsvollzug. Doch es gibt dann nicht nur die kompromißlos auszulebende Freiheits- und Konsumerfahrung des Autos, sondern auf der ›anderen‹ Seite auch entsprechend die des Wißbaren, des zu Erfindenden, des zu Produzierenden und des zu Vermarktenden und Bereitzustellenden. Das ist keine Metaphorik. Die vorbehaltlos garantierte Freiheit der Wissenschaft 16 hat, wie sie in der Gleichung von angebotener und ergriffener inArtikel 5, 3 der Grundrechte: »Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.«

16

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Der Mensch im Spiegel des gegenwärtigen Zeitalters

strumenteller Vernunft ihre Rolle spielt, durchaus den Charakter des Konsums. Im ungehemmten Ausleben seiner Freiheit verbraucht der Wissenschaftler kompromiß- und rücksichtslos Wißbares auf Wißbares, um es aus dem Verein der Vier als wiederum kompromiß- und rücksichtslos Verbrauchbares hervorgehen zu lassen. Der Glaube eines Wissenschaftlers, ganz der Wahrheit zu dienen (relativ gesicherten einzelnen und allgemeinen Fakten) und das gar noch in gesellschaftlicher Verantwortung (Aufklärung der Unwissenden), mag zwar subjektiv echt sein, stellt aber objektiv doch nur den Selbstbetrug angesichts der vereinten Interessen der Vier dar. Alternative Lebensweisen zum instrumentellen Menschen, die in einem rechtsstaatlich geschlossenen und repräsentierten Kompromiß garantiert wären, wird es nur geben können, solange er sich nicht als Insofern überspielt und praktisch zum ganzen Menschen wird. Bei aller praktizierten und akzeptierten Instrumentalität hat der heutige Mensch in seinem lebensteiligen Sein selber alternative Möglichkeiten zu bewahren und zu entwickeln, wenn sie gesellschaftlich überhaupt noch gegeben sein sollen. Wie die Chancen dafür stehen, ist nicht leicht zu beurteilen. Der instrumentelle Mensch, der als solcher mit der Redundanz verfügbarer instrumenteller Vernunft tendenziell gleichzieht, ist der tendenziell eigenheitslose Mensch. Die Verwandlung und Verselbständigung des Freiheitsgebrauchs und der Bedürftigkeit, wie sie sich in steigendem Konsum und Lebensstandard als Markenzeichen dieser heute öffentlich herrschenden Gestalt des Menschen manifestieren, bedeuten: praktische Lösung von allen Eigenheiten, die in naturgegebener, sowie in kulturell und gesellschaftlich entwickelter Art das Einander des geschichtlichen Menschen auf verschiedenste Weise geprägt haben. Was sonst ein Tagtraum reiner universalistischer Vernunft ist, den Menschen ohne weitere Eigenheiten rein praktisch-vernünftig ›vergesellschaftet‹ zu sehen, begegnet im opportunistisch Vernünftigen als alltägliche Realität. Er lebt zwar weiterhin in Nah258 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Der instrumentelle Mensch

und Intimbereichen, in überschaubaren Öffentlichkeiten, zeigt noch immer Spiel und Ernst des einander Liebens und Brauchens (Hassens und Mißbrauchens), aber, wie seine Spiegelung zum Vorschein bringt, er bezieht daraus kein eigenheitliches Sein mehr, das seinen Namen verdiente. Das lebensteilige Einander hat für den instrumentellen Menschen seine lebens- und identitätstragende Bedeutung verloren. Zwar ist er keineswegs vollends eigenheitslos, zumal er die neue Eigenheit des auf Redundanz antwortenden Konsums und Freiheitsgebrauchs gewonnen hat, die es ihm erlaubt, sich als der immer anspruchsvollere Konsum- und Freiheitsbedürftige zu identifizieren. Es fragt sich jedoch, ob er mit seinem neuen, offensichtlich lebensbefähigenden Selbstbewußtsein nicht das Insofern, das er repräsentiert, so gut wie verabsolutiert hat. Das angepaßte und als solches akzeptierte Funktionieren gibt sich nicht klar als bloße Lebensart zu erkennen, die insofern verfügbar wäre, als noch andere neben ihr freistünden. Die heutige Lebensart, so gesehen, läßt nichts beim Alten. Sie verändert das Einander von Grund auf. Ist es, wie gewohnt und bewährt, intim und öffentlich durch direkte oder vermittelte Gegenwart identifizierter Anderer geprägt – anderer Individuen, Gemeinschaften und Gesellschaften, so sind es jetzt die Vier in ihrer ubiquitären Präsenz und Ungreifbarkeit. Das konkrete Einander mit gegenseitigem Halt und Einhalt ist einem Systemverhältnis gewichen, in dem sich der ›Andere‹ durch Verführung zur Grenzenlosigkeit auszeichnet. Anstatt Halt zu gewähren und Einhalt zu gebieten, wird unlimitierter Konsum und Freiheitsgebrauch offeriert. In der lebenspraktischen Gleichung instrumenteller Vernunft ist der Ausgriff dieser nunmehr einzigen Eigenheit des Menschen tendenziell unendlich. Soweit die verfügbare instrumentelle Vernunft vorgibt, gar nicht selbst der Andere zum Konsumierenden zu sein, sondern allein ein Mittel auf dem Weg zum anderen Menschen darzustellen, versteckt sie nur, daß sie als Mittel in Wahrheit bereits Selbstzweck ist. Ganz im Sinne dieser Wahrheit ist beim heutigen Menschen festzustellen, wie 259 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Der Mensch im Spiegel des gegenwärtigen Zeitalters

die Mittel vor den Zwecken rangieren oder wenigstens in ihrer Bedeutung unverhältnismäßig zunehmen: Tausende von Mark und Dollar für das Vehikel, um Kaffee bei Verwandten zu trinken, Millionen für den Apparat, um einen Menschen, dem nichts als Koma bleibt, am Leben zu erhalten, Hunderte von Millionen für den Apparat im Weltraum, um ein Elfmeterschießen zu übertragen, Hunderte von Milliarden für die Bereitstellung von Overkillpotential, um den letzten menschlichen Knopfdruck zu verhindern. Die Kräfte, mit denen der heutige Mensch die Herausforderung durch den zivilisatorischen Fortschritt bejaht und aufnimmt, sind, ob rationaler, voluntativer oder affektiver Art, als eigene allem zuvor an redundanter Zweckrationalität orientiert und nicht mehr maßgeblich in Umgang und Verkehr mit Anderen eingebracht. Insofern ist der heutige Mensch weder hungrig noch satt, weder Mann noch Frau, weder verantwortlich noch unverantwortlich. Entsprechend bringt er sein Tag- und Nachtwerk ohne eigenes Leben und eigenen Tod hin, ohne eigene Vernunft und Sinnlichkeit, eigenes Bedürfnis und eigenen Willen, eigenen Sieg und eigene Niederlage, eigene Zufriedenheit und Angst, eigene Freude und eigenen Schmerz. Zwar ist er beileibe nicht einem kindischen Greis vergleichbar, der, übertrieben gesagt, ›sans everything‹ ist. 17 Er lebt und stirbt, kennt Hunger und Angst, ist Mann oder Frau. Nichts davon aber ist Eigenes, das den Anderen und sein Eigenes braucht, um es mit ihm fruchtbar zu machen. Was sich sonst lebensteilig bewährt und zur mitwisserschaftlichen Bildung von Gewissen führt, ist durch seine Anpassung und Akzeptanz ›unschädlich‹ gemacht: es kann ihn nicht mehr selbst treffen. Der so gezeichnete instrumentelle Mensch ist selbstverständlich ›ideal‹-typischer Art, damit aber genau keine Utopie, sondern verdichtete und geglättete gesellschaftliche Realität. Bringen wir sein Lebensverständnis auf den Begriff, dann haben wir 17

W. Shakespeare, As You Like It, II, 7 v. 167: sans teeth, sans eyes …

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Was an der Zeit ist

uns nichts auszudenken, sondern können uns auf Erfahrung berufen. Reflektierterweise lautet es je nachdem: Probleme zu lösen, Konflikte zu bewältigen, Realität zu akzeptieren (systemgerecht zu reagieren und Systemvertrauen an den Tag zu legen), Information zu verarbeiten, Freiheit zu konsumieren (tendenzielle Exhaustion des praktisch Möglichen). Es ist die Frage, wer sich heute in diesem Leben und Lebensverständnis als Mensch erkennt und bejaht und wer nicht. Auch ist danach zu sehen, ob sich Gründe finden, die dafür oder dagegen sprechen, den instrumentellen Menschen für die Gestalt des Menschen anzusehen, die an der Zeit ist.

4. Was an der Zeit ist 4.1 Die Geschichtlichkeit des instrumentellen Menschen Für eine philosophische Verständigung über den heutigen Menschen wird es kaum angebracht sein, Selbstsicht und Selbstbejahung des instrumentellen Menschen sogleich auf der Basis eigener Vorentscheidungen zu kommentieren. Wie argumentativ sich nämlich die Kommentatoren des gegenwärtigen Zeitalters auch geben mögen (ganz so, als brächten sie es – gut hegelsch – auf seinen Begriff), so können sie doch nicht ihre lebensgeschichtlichen Prägungen verbergen. Jede Auffassung vom nötigen Gang der Geschichte und vom rechten Geist der Gegenwart, auch die ›vernünftigste‹, hat Gründe bzw. Ursachen (αἰτίαι und συναιτίαι), die in der individuierten und sozialisierten Lebendigkeit des Menschen liegen. Was den Einzelnen, und sei es den einzelnen Philosophen, in Bezug auf den heutigen Menschen optimistisch und pessimistisch stimmt, ihn mit liebund rechthaberischer Zufriedenheit erfüllt oder alle seine Wünsche offen läßt, hat so gut wie keine Verbindlichkeit für menschliche Lebenspraxis und die Verständigung über sie. Es erstaunt, immer neu zur Kenntnis nehmen zu müssen, wie viele Zeitge261 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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nossen zu wissen glauben, was eigentlich für den Menschen und als Mensch an der Zeit ist und was nicht. Der heutige Mensch, insofern er sich als ebenbürtiger Partner anwachsend verfügbarer instrumenteller Vernunft präsentiert, wird, wo überlieferte Maßstäbe ihre Gültigkeit bewahrt haben, als ›reduzierter‹ Mensch eingeschätzt. 18 Er sei von seiner geschichtlichen Herkunft und vom entwickelten Reichtum der eigentlich auch ihn belangenden Kultur abgeschnitten und in seiner lebenspraktischen Selbstdarstellung auf Bedürfnisse und Interessen ›zurückgeführt‹, die der reinen Bewältigung des Heute dienten, ob er darin nun eher Mühe oder Genuß erfahre. Es ist wohl nicht schlechtweg falsch, entgegen Karl Marx im Proletarier den Menschen zu sehen, der erstmals den geschichts- und erbelosen Menschen verkörpert, wie er als Atom- und Massenpunkt ›des Systems‹ funktioniert. 19 Auf heute gemünzt, repräsentierte der ›Proletarier‹ die Seite des Massenkonsums. Der elitär-instrumentellen Vernunft der Vier entspräche die Massenvernunft der kompromißlos Konsumierenden, an der, wie in einem Akt von Selbstteilhabe, die Vier auch selber teilhaben können, nicht müssen. Die Rede vom reduzierten Menschen ist plausibel und dennoch irreführend. Sie läßt an ein methodisches Produkt denken, dem außerhalb der Methode gar keine Wahrheit zukommen soll. Man stellt sich die Geschichte des Menschen gleich einem Gang vor, bei dem er einen Weg eingeschlagen hat, der von seiner Fülle wegführt – einen auf das Ganze und das Ende gesehen nicht richtigen und sobald wie möglich rückgängig zu machenden Weg. Damit aber suggeriert die Rede vom reduzierten Menschen, daß man es ›von vornherein‹, nämlich vom Anfang der Geschichte her besser wisse, was es mit dem geschichtlichen Menschen eigentlich und letztlich auf sich hat. Doch diese Siehe schon H. Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, den Begriff des »sekundären Systems«. 19 H. Freyer, ebd. 18

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Was an der Zeit ist

human besorgte Besserwisserei von einem idealgeschichtlichen Standpunkt aus versieht sich an der geschichtlichen Realität als solcher. Die Vorstellung vom reduzierten Menschen sollte nicht geteilt werden wegen der in ihr steckenden unzumutbaren Auffassung von Geschichte. Es geht nicht darum, den instrumentellen Menschen mit direktem Blick auf ihn als den nicht-reduzierten zu retten. In dieser Absicht könnte man gut darauf verweisen, daß er allein ein Insofern darstellt: wie schon der Proletarier gegebenenfalls auch Katholik und Taubenzüchter gewesen sei, so wäre der heutige Massenkonsument doch gegebenenfalls auch ›Kavalier der Straße‹, freiwilliger Organspender, (Massen-) Besucher von Kunst-, Kult- und Andachtsstätten, Pionier im Erkunden letzter Einsamkeiten und Abenteuer der Natur. Nein, es ist die irreführende Vorstellung, daß die Geschichte mit dem Menschen eigentlich anderes vorgehabt habe. Der vernunft- und seinsphilosophischen Geschichtslogik ex eventu: ›es kam, wie es kommen mußte‹ ist die Vorstellung prinzipiell verwandt: ›es hätte – eigentlich – anders kommen müssen‹. Nun ist aber die Vorstellung, daß die Geschichte etwas mit DEM Menschen vorhabe, nicht weniger abwegig als die, daß der Mensch etwas mit DER Geschichte vorhabe. Einer gelasseneren Geschichtssicht gibt sich jederzeit allein zu erkennen, daß es auch hätte anders kommen können. Das hat zugleich Bedeutung für die Zukunft, die prinzipiell anders kommen kann, als man sich es denkt. Haben wir also ein geschichtstheoretisches Problem, im instrumentellen Menschen den reduzierten zu sehen, dann werden wir uns nicht leichter tun mit der entgegengesetzten Auffassung, die in ihm diejenige geschichtliche Realität erkennt, in der es der Mensch zuwege gebracht hat, seine wahre zeitgerechte Bestimmung zu finden. So sehr auch der fortschreitende Intellektualisierungsprozeß (Max Weber) seit der Antike, wie er mit der Zeit Wissenschaft, Technik, Industrie und Markt vereint, die Entwicklung des Menschen zum instrumentellen ›folgerichtig‹, ja ›notwendig‹ erscheinen läßt, so kann doch kei263 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Der Mensch im Spiegel des gegenwärtigen Zeitalters

ner, der den Gang der Dinge gelassen und aufmerksam studiert, aus der Tatsache dieses Prozesses ableiten, was für den Menschen an der Zeit ist. So weit geht die normative Kraft des Faktischen denn doch nicht. Die Geschichte des Menschen belehrt uns nicht allein über die Möglichkeit der Affirmation des Geschehens und des Stands der Dinge, sondern ebenso über die der Negation, des Aufbegehrens, des Fatalismus, der Resignation und Verzweiflung. Nun gibt es jedoch Intellektuelle, die realistisches Denken usurpieren und sich zu Protagonisten des instrumentellen Menschen aufwerfen. Sie werben für diese – herrschende – Gestalt des heutigen Menschen, weil sie die geschichtlich einzig richtige und eben realistische sei. Nach ihrer Meinung bedarf unser kulturelles Verhältnis zur Industriegesellschaft der Stabilisierung durch Vergegenwärtigung der Gründe, die sie nach ihrer Herkunft zustimmungsfähig, ja zustimmungspflichtig machen. 20

Diese Vergegenwärtigung aber gelinge, wenn man »die kulturelle Durchsetzungskraft der Industriegesellschaft« dadurch begreife, daß man sie mit der überwältigenden Evidenz elementarer Lebensvorzüge in Zusammenhang bringt,

als da sind: Befreiung von Zwängen physisch niederdrückender Arbeit; Steigerung der Produktivität der Arbeit; dadurch Mehrung der Wohlfahrt; über Mehrung der Wohlfahrt Mehrung der sozialen Sicherheit und dadurch schließlich Mehrung des sozialen Friedens.

Und die Autoren fahren fort: Die Zustimmungsfähigkeit, ja Zustimmungspflichtigkeit dieser Dinge macht die Fortschrittsnatur der Industriekultur aus, und ihre Geltung Bericht der Kommission »Zukunftsperspektiven gesellschaftlicher Entwicklung«, Kap. II »Gesellschaftliche Vielfalt: Neue Lebenschancen, erneuerte Institutionen« (einer der Autoren ist Hermann Lübbe), S. 29.

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ist insoweit keineswegs brüchig geworden, vielmehr in hohem Maße gemeinsinnsfähig geblieben. 21

Was sich hier mit der Objektivität einer Wahlrede vorstellt, ist, seinem lebenspraktischen Wahrheitsgehalt nach zu urteilen, nichts anderes als die Kehrseite der Medaille der Vernunftutopisten. Wieder glauben vermeintlich Aufgeklärtere zu wissen, wie es um den Menschen eigentlich bestellt und was geschichtlich für ihn an der Zeit sei. Systemkonform angepaßt oder vollends emanzipiert zu sein – das sind, als lebens- und gesellschaftsgeschichtliche Zielsetzungen, austauschbare Spielmarken ein und derselben theoretischen Gesinnung. Realismus ist hier als Attitüde nicht von Idealismus zu unterscheiden, da beidemale die Vorstellung des Seinsollens (der Pflicht) vorherrscht. Den intellektuellen Protagonisten des instrumentellen Menschen ist sehr daran gelegen, ihm ›in seinem eigensten Interesse‹ die Nichthinterfragbarkeit und Nichtreflektierbarkeit (»Evidenz«!) seiner – nötigen – Angepaßtheit und Akzeptanz nahezubringen. Die Akzeptanzforschung (nicht ohne Bedacht im Kernforschungszentrum in Karlsruhe zuhause), die – staunend – herausbekommen möchte, warum denn um Gottes willen der heutige Mensch nicht ohne weiteres jede Mehrung und Neuerung, die den Vier zu verdanken ist, begrüßt und konsumiert, ist längst nicht mehr Sache der Initiatoren der Mehrungen und Neuerungen allein. Denen, die auf Redundanz und Innovation des Verfügbaren positiv, das heißt mit kompromiß- und bedenkenlosem Konsum antworten, sind Verfechter der Akzeptanz zur Seite getreten, die es als selbstverstandener Vernunftelite nach opportunistischer Massenvernunft verlangt. Was alltägliches Denken, Wollen und Empfinden heute ohnedies auf erhebliche Weise beherrscht, wird durch das Wort der Akzeptisten zur Pflicht gemacht.

21

Ebd., S. 29 f.

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Nicht alle von ihnen verkaufen den Fortschritt der Vier als den von Wohlfahrt, Konsens und Frieden. Ihre gemeinsame, nicht zur Disposition stehende Überzeugung jedoch ist es, daß dieser Fortschritt etwas nicht Anhaltbares und Umkehrbares ist. Wir müssen uns der Einsicht beugen, daß die Probleme von heute nur in der Industriegesellschaft und mit ihren Mitteln (…) zu lösen sind. 22

Eigentlich sei das die Grundeinstellung der meisten von uns. Wir hingen nämlich »mit Inbrunst an unseren Autos« und starrten »gebannt auf die medizinische Wissenschaft«, daß sie, nicht etwa Moral, Aids wieder aus der Welt schaffe. In der Tat: wir sind es, wir Konsumenten, die diese Entwicklung maßgeblich mittragen. Doch das ist ja noch kein zureichender Grund, sie zur Pflichtübung zu erklären. Andere urteilen anders: Weil unsere Schwäche für das bequeme Leben größer ist als unsere Furcht vor künftigem Siechtum, halten wir uns Politiker, die die Gefahren hinter Lügen verbergen. Wir sind süchtig nach solchen Lügen. 23

Doch der Anwalt der Akzeptanz, der auf die Unabwendbarkeit des Fortschritts baut, ist wie in einer Flucht nach vorne bereit, für den Menschen auch noch die eingreifendsten und nachteiligsten Veränderungen zu bejahen, wenn bloß der Fortschritt als solcher gesichert ist. In genau dieser Verantwortung sagt er den Menschen heute, daß die gesellschaftspolitische Hauptaufgabe in der Anpassung an die beiden nicht mehr abschaffbaren Existenzbedingungen der modernen Industriegesellschaft besteht: in der Anpassung der Lebenseinstellung an den zunehmenden Bedeutungsverlust der Individuen, in der Anpassung an die Anonymität als Grundlage der Freiheiten und an die Zunahme der gesellschaftspolitischen Interessenkonflikte. 24

W. Becker, Der Wertwandel der Moderne, S. 8. Horst Mahler in einem offenen Brief an den Philosophen Günther Anders, S. 5. 24 W. Becker, Der Wertwandel der Moderne, S. 19. 22 23

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Doch das realistisch-heroische Gebaren ist nur äußerlich. Gemäß der Grundeinstellung und Grundüberzeugung des Akzeptismus überwiegt auch für diesen Vertreter desselben im Fortschritt der Vier und in der Entwicklung der Industriegesellschaft das Gute: ihre Vorteile bestehen in der Entfesselung der arbeitsteiligen Produktivität auf allen Gebieten von der Wirtschaft bis zur Wissenschaft. 25

Mehr hat nun die Idee der vorbehaltlosen und vertrauensseligen 26 Anpassung auch wirklich nicht zu bieten: es schön und gut zu finden und als unausweichlich anzusehen, daß immer mehr Menschen, koste es was es wolle, immer mehr Güter konsumieren. 27 Wer dergestalt ›rationalen‹ Opportunismus verficht, setzt vor allem darauf, dem heutigen Menschen gerade in seiner Instrumentalität die volle eigene Identität zu sichern. Zu dieser Selbstbeauftragung, Sachwalter des geschichtlich Richtigen und Unausweichlichen zu sein, gehört es, öffentlich die Einsicht niederzuhalten, daß die zum Guten oder Schlechten konkret verfügbare Zweckrationalität in ihrer Redundanz, um es vorsichtig zu sagen, eine irrationale Komponente hat. Was sich da im Lichte bewährter, lebensteilig vermittelter Bedarfsdeckung und MarktEbd., S. 15. Bericht der Kommission »Zukunftsperspektiven …«, S. 27: »Vertrauen in diese Sachkompetenz des jeweils anderen ist als Sozialkitt in der technischen Zivilisation um so nötiger, je mehr die Evidenz unserer Abhängigkeit von zuverlässig erbrachten Leistungen anderer zunimmt. Bis in unsere Alltagswelt hinein leben wir heute aus diesem Vertrauen: Vom frühmorgendlichen Konsum des ärztlich verordneten Medikaments bis zur Flugzeugbenutzung nach Konferenzende am Abend machen wir dutzendfach Erfahrungen von Verläßlichkeiten, durch die uns jenes Vertrauen zur Selbstverständlichkeit wird.« 27 Es ist nicht ohne Interesse zu bemerken, daß der Schreib- und Vortragsstil der Akzeptisten im allgemeinen auffällig affektgeladen ist. Die dabei unisono geübte Ridikülisierung jeder Art von ›Romantik‹ legt es nahe, bei ihnen auf Lebensgeschichtliches zu schließen, das auf diese und jene Weise alles Erdenken und Erleben von ›heiler Welt‹ traumatisiert hat. 25 26

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Der Mensch im Spiegel des gegenwärtigen Zeitalters

sättigung als des Guten zuviel anbietet und, lebenspraktisch geurteilt, nach einer irrationalen Antwort verlangt, soll so nicht gelten. Der heutige Mensch mit dem Selbstbewußtsein, kraft steigenden Konsums und Lebensstandards Teilhaber des fortschreitenden Fortschritts zu sein, wird für ein reines Spiegelbild der Vernunft erklärt, nichts zu sehr (μηδὲν ἄγαν) 28 ,

eine der ältesten lebenspraktischen Weisheiten mit ihrem klaren Sinn für lebensschädliche Unvernunft (Unberatenheit durch eigene Vernunft) methodisch ausgeblendet. In den Augen der Verfechter des instrumentellen Menschen muß sich für dessen nötige Anpassung und Akzeptanz die Angst als besonders unbekömmliche Irrationalität ausnehmen. Sie wird darum auch gern zur Zielscheibe kaum verhohlener Aggressivität der intellektuellen Fürsprecher des Fortschritts. Einer von ihnen bringt es sogar dahin, Angst als voluntative Kraft der ›Konservativ‹-Fortschrittsunwilligen zu deuten. Sie diene ihnen dazu (entgegen aller »Fortschrittskultur« und allem »Kulturfortschritt«), auf das für den Menschen Widrige, Bedrohliche, Schreckliche, Schlimme, Erschwerende, Belastende, Nachteilige zu setzen. Weil das aber dank des Fortschritts verschwunden sei, suchten sie Ersatz für das Verlorengegangene und fänden es ausgerechnet in der Kultur, das heißt in dem, worin einzig all das wirksam sei, was dem Menschen wohltut. (…) je mehr Umweltschonungsmöglichkeiten sie hdie Techniki bereitstellt, um so grimmiger wird sie zur Umweltbelastung ernannt. (…) Kurzum: je erfolgreicher die Kultur die Wirklichkeit entfeindlicht, um so mehr gilt dann die Kultur selber als Feind. 29

Gewollte Angst vor der industriellen Kultur als Ersatz für das fehlende Böse und Ängstigende in der durch den Fortschritt der Vier zum Guten gewordenen Welt – der Meister des Kompen28 29

Solon zugeschrieben. O. Marquard, Angst als Besitzstand?, S. 117.

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sationsgedankens 30 liefert so als Akzeptist sein wahres Gesellenstück nach. Mit seinem Verständnis heute nötiger »Nüchternheit« teilt er die Sicht all derer, die Irrationalität in der Gesellschaft vornehmlich dort ausmachen, wo Menschen dabei sind zu berechnen, mit welchen Gütern bewährter Lebensart die Anpassung an die Welt der Vier und ihre Akzeptanz eigentlich bezahlt werden. Wo man dagegen Menschen durch Wort und Tat auf den Konsum des Redundanten verpflichtet, ist Irrationalität in ihren Augen unmöglich gegeben. Diese Berechnungen schüren nach ihrer Ansicht allein irrationale Ängste, die ›irrationale‹ Angst etwa vor beschleunigt zunehmender und irreversibler Eliminierung bis dato bewährter natur- und technikständiger Lebensqualität, die ›irrationale‹ Angst davor, daß unter dem Etikett notwendiger gesellschaftlicher Risikobereitschaft die Grenzen des für menschliche Lebensbefähigung Erträglichen und Zumutbaren bedenkenlos überschritten werden. Solche abwegigen Ängste brächten den opportunistisch Vernünftigen nur von seinem Realismus ab – wären sozusagen Ängste um der Angst willen, da man ja in Wahrheit nie vor dem Fortschritt, sondern allein um ihn Angst haben könne: um die Steigerung von Konsum und Lebensstandard. Mit dieser Frontstellung gegen reale Ängste wird im Grunde nur das Gewaltmonopol des Staates erläutert. Angst darf in seinem Interesse einzig von ihm selbst ausgehen – entweder unmittelbar oder von dem, was er als Ängstigendes anbefiehlt. Dazu aber zählt alles, was ihm selbst Angst macht, weil es seine Machtstellung bedroht. Der Staat und die Staatsfeinde sind es, die einen Staatsbürger zu ängstigen haben. Angst dagegen als Zeichen des menschlichen Realitätssinnes mit ihrer gesunden Warnfunktion ist im Interesse des Staates weder opportun noch zulässig. Die Staatsmacht hat mit ihrem Gewalt- und Angstmonopol nicht nur zugleich ein Rationalitäts-, sondern auch ein Realitätsmonopol. Was im Selbstverständnis menschlicher 30

Siehe O. Marquard, Kompensation.

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Lebenspraxis real und was irreal ist, muß für den Staat prinzipiell im Interesse seiner Machterhaltung entschieden werden. ›Träume sind gefährlich, und wer Träumer ist, bestimme ich‹ könnte das maßgebende Selbstverständnis lauten. Diese Deutung der Monopolstellung des Staates bedarf einer wichtigen Ergänzung. Der Staat als existierender Kompromiß schließt keineswegs aus, daß er Ängste und Träume, die sich gesellschaftlich artikulieren, unter Umständen den eigenen Interessen dienstbar zu machen versteht. Insofern irren sich Protagonisten opportunistischer Vernunft, wenn sie Ängste (und Träume) von Nichtakzeptanten durchweg für irrational ansehen und ihren vermeintlich rationalen Realitätssinn ausschließlich am kompromißlosen zivilisatorischen Fortschritt orientieren.

4.2 Die Menschlichkeit des instrumentellen Menschen Die Geschichte des Menschen hat noch jede seiner geschichtlichen Selbstdarstellungen als menschlich sanktioniert – menschlich als Gegenbegriff zu ahuman, nicht zu inhuman verstanden. Es gibt kein geschichtliches Verspielen und Gewinnen des ›eigentümlich‹ Menschlichen. Der geschichtliche Mensch pervertiert unmöglich aus dem Humanen ins Ahumane oder umgekehrt. Wer gerne Konrad Lorenz zitiert: Das langgesuchte Zwischenglied zwischen dem Tier und dem wahrhaft humanen Menschen sind wir 31,

übersieht leicht, daß er sich vom Großen Blick des Biologen fortreißen läßt, der für die Perspektive des geschichtlichen Menschen schlechthin bedeutungslos, wenn nicht irreführend ist. Der Mensch, wie er sich im eigenheitlichen Einander als Mensch entdeckt, ist nicht mit dem Seßhaftwerden ›menschlicher‹, mit dem Ingebrauchnehmen des Schießpulvers ›unmenschlicher‹ 31

Ch. Wolf, Störfall. Nachrichten eines Tages, Motto.

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und mit dem Aufkommen der Buchdruckerkunst beides auf einmal geworden. Wer das anders sieht, wird Chinesen einer Zeit für chinesischer anzusehen haben als die einer anderen. Von den Fellachen unter Ramses II. bis zu den Zuckerrohrschneidern unter Fidel Castro, von den Zuschauern der Komödien des Aristophanes im alten Athen bis zu denen der Schauspiele Frank Wedekinds in Wilhelminischer Zeit, von den Patienten des Demokedes bis zu denen Christiaan Barnards, von den Verratenen des Ephialtes bis zu den Betrogenen des Grafen von Galen sind die Menschen gleich Menschen geblieben. Kein Mensch kann mit Sinn und Verstand auf Geschichte setzen, wenn das für ihn meinte, auf Bewegungen von Wesensgewinn und Wesenserfüllung. Entsprechend hat auch niemand mit der Geschichte zu hadern, wenn das für ihn bedeutete, bitter und vorwurfsvoll oder gar nüchtern Wesensentfernung und Wesensverlust zu konstatieren. Jede Idee menschlicher Enteignung (Enteignung des Menschen als Menschen), Entfremdung, Entwurzelung und menschlichen Seinsverlustes ist gleich blind, wenn hinter ihr eine Konzeption von menschlichem Wesen und geschichtlicher Notwendigkeit (was die Geschichte mit dem Menschen bzw. der Mensch mit der Geschichte machen soll) steckt. Die Ideen eines gott-, natur- und seinsgewollten Menschen und die eines ursprünglichen oder zu guter Letzt authentischen und wahren (geschichtsgewollten) Menschen konvergieren in der Fiktion menschlichen Wesens und seiner Geschichte. Es ist und bleibt eine Ungeheuerlichkeit, auf einen Menschen zu zeigen und zu sagen ›dies ist kein Mensch‹, mag der Demonstrant auch zur Begründung seiner diskriminierenden Handlung hinterherschieben, daß es kein ursprünglicher, gottgewollter, wesensvollendeter sei. Nicht weniger ungeheuerlich ist es, auf einen Menschen zu zeigen, um ihn als Menschen der einzigen Art vorzustellen, die den Namen verdient. Selbst wenn dies Urteil allein darauf abheben möchte, daß die Art des Gezeigten und nur sie für zeitgemäß anzusehen sei, hat es sich doch schon mit Wesens- und Geschichtsbestimmungen gemein 271 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Der Mensch im Spiegel des gegenwärtigen Zeitalters

gemacht. Was für zeitgemäß erklärt wird, weil es zur Zeit so zu sein habe, hat zugleich die Bestimmung erfüllt, wesensgetreu und geschichtswahr zu sein. Die Art des instrumentellen Menschen ist eine menschliche (nicht ahumane) einfach darum, weil es ihn geschichtlich gibt. Er stellt unmöglich eine Pervertierung des geschichtlichen Menschen dar, da dieser Begriff allenfalls in einer dogmatischen Beurteilung von Geschichte vorkommt. In ihm ist aber ebensowenig eine veredelte, höherentwickelte, sozusagen menschlichere Version der Spezies Mensch auszumachen, weil Steigerungen des Menschlichen nicht zur möglichen Begrifflichkeit einer Geschichtstheorie gehören. Der ›proletarische‹ Mensch, wie ihn sich die transzendentalphilosophische Revolutionstheorie als den ›enteigneten‹ zum Vorwurf nimmt, erweist sich schnell als fälschlich diskriminiert, sobald man den geschichtlichen Realitäten nachspürt. Bei allen Unmenschlichkeiten (Inhumanitäten), die er zu ertragen hatte, führte er ein menschliches und nicht etwa ahumanes, zugleich aber auch kein schlechthin inhumanes Leben. Das ermißt sich aus dem eigenheitlich einander Brauchen und für das Leben fruchtbar Machen: aus der zureichenden gemeinschaftlichen Gründung und Bewährung von Lebensbefähigung, wobei zu bedenken ist, daß weder jemals ein Mensch über alle Eigenheiten verfügt, die menschenweit im Spiel sind, noch auch nur die seinen vereint auf einmal ins Spiel zu bringen versteht. Ein gutes Beispiel für lebensbefähigende Antwort auf inhumane Verelendung ist der Tango. Musik, Wort und Gebärde dieses Tanzes belegen, wie eine ›Enteignung‹ nicht schon in einer Weise eigenheitslos macht, daß es unmöglich wäre, sich einander als Menschen zu verstehen und zu bejahen. ›Proletarisierte‹ ItaloArgentinier haben eine geschichtlich-gesellschaftliche Stunde in all ihrem Elend genutzt, Liebe und Tod sich als die ihre und den ihren anzueignen – in gesteigerter und selbstinszenierter Lebendigkeit. Wie im Zuwenig verfügbarer instrumenteller Vernunft, so 272 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Was an der Zeit ist

sind auch in ihrem Zuviel Aneignungen eigenheitlicher Lebensmöglichkeiten nicht prinzipiell ausgeschlossen. Das Auto etwa gehört zum erweiterten Leib des opportunistisch Vernünftigen: soweit es reicht, ist auch er selbst verletzlich. Von seiner Frühzeit an werden Auto und Eros, technische und geschlechtliche Schönheit in bildender Kunst, Film und Reklame zusammengebracht. Manche Autos gelten als ausgezeichnet ›gestylt‹ und besonders ›schön‹. Mit ihnen versucht das eine Geschlecht dem anderen zu imponieren und das eigene zu demonstrieren. Auch ist es selbst zur neuen Gelegenheit für das Intimverhältnis der Geschlechter geworden. In anderer Hinsicht wieder zeigt es sich als etwas derart Selbstverständliches, daß seine Benutzung überhaupt nur noch bei auftretenden Mängeln zu einer eigenen Angelegenheit wird. Leben und Kommunikation im Inneren, Aufnahmen des Draußen – die verfügbare instrumentelle Vernunft, die das Auto für sich repräsentiert, zieht sich in ihrer Aufdringlichkeit zurück, so daß ihren Konsumenten gänzlich das Bewußtsein fehlt, was sie mit ihrem Konsum so nebenbei alles anrichten – direkt und indirekt. Anstatt den Menschen um sich selbst zu bringen, wird das Auto als ausgezeichnetes Moment aktueller Humanität erfahren: mühelos unterwegs und schnell bei Schönem und Wichtigem zu sein, leicht das Nötige ins Haus zu bekommen, vor allem aber frei zu sein. Anstatt darum im Auto das Vehikel zu sehen, das den Menschen aus der wahren Nähe zu den Dingen und zu sich selbst entführt, lassen sich Menschen mit ihm dabei überraschen, wie sie sich Menschliches aneignen. Wer gleich einem besonders beauftragten Menschenhirten fragen möchte, wie denn bei diesem Produkt des Fortschritts das Menschliche zu bewahren und zurückzugewinnen sei 32 , übersieht die Antworten, die sich der Mensch auf diese Siehe beispielhaft Hans Freyers Sorge um das Menschliche des Menschen angesichts des »sekundären Systems« in seiner Theorie des gegenwärtigen Zeitalters. Sie wird rein appellativ vorgetragen. Wer dagegen die den Interessen der Vier und ihren bedenkenlosen Akzeptanten zugetane Verkehrspolitik einer Stadt kritisiert, weil die Option für Autoindividual-

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Frage durch seinen Umgang mit dem Auto immer neu selbst gibt. Was will er etwa dazu sagen, wenn heute das erste Auto ganz offensichtlich ein der Konfirmation bzw. Ersten hl. Kommunion vergleichbares Ereignis ist? 33 Der instrumentelle Mensch, ob gegenwärtig als aktuelle Gestalt der Freiheit erfahren und bejaht oder als Zerstörer der Lebenswelt erfahren und verneint, ist, so oder so, eine menschliche Möglichkeit und geschichtliche Wirklichkeit des Menschen. Er stellt keine einem Sinn der Geschichte oder einer Bestimmung des Menschen zu entnehmende Notwendigkeit dar, sondern ist einfach geschichtlich da. Weder für die Geschichte als Geschichte noch für den Menschen als Menschen besteht die Notwendigkeit, daß es ihn weiterhin gibt, er sich weiter entwickelt und ausbreitet, oder daß es ihn im Gegenteil fortan nicht mehr gibt.

4.3 Die Feststellung des ›Ungleichzeitigen‹ Der Mensch unserer Zeit, der nicht mit der Zeit geht, scheint bereits heute der Vergangenheit anzugehören. Es gibt ihn zwar, er lebt, sogar zahlreich, aber er gilt seinem Lebensverhalten nach als ein ›passéiste‹ : er stellt sozusagen Ungleichzeitiges im Gleichzeitigen dar. Nicht mit der Zeit zu gehen und damit nicht an der Zeit zu sein, heißt für die selbsterklärten Wortführer eines authentischen Zeitgeistes der Gegenwart: nicht der tenverkehr die Zielmobilität wider Erwarten und Versprechen einschränkt, leistet einen konkreten Beitrag, die vom Fortschritt Betroffenen als politische Größe zu erinnern. Siehe z. B. die 12 Folgen »Hamburg fährt verkehrt«, DIE TAGESZEITUNG, Ausgabe Hamburg, 29. 4. bis 21. 5. 1988. 33 Familienanzeigen in der BADISCHEN ZEITUNG zum 18. Geburtstag gelten inzwischen zum weitaus größten Teil zugleich, wenn nicht zuerst, dem Führerschein und dem ersten Auto. Einige Proben: »Der Führerschein ist schon bestellt, jetzt steht Dir offen die ganze Welt.« »Dem Führerschein steht nichts entgegen, wir wünschen Glück fürs ganze Leben.« »… grüßt … zum Geburtstag und zum Führerschein. Kein Tag wird so schön wie der, denn der blaue Golf fährt hinter Dir her.«

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denziell redundanten Verfügbarkeit instrumenteller Vernunft zu entsprechen. Der in unsere Zeit hereinstehende ›alte‹ geschichtliche Mensch wird, so jugendlich seine Repräsentanten sein mögen, von intellektuellen Verfechtern des instrumentellen Menschen für museumsreif angesehen – reif fürs Museum seiner Geschichte. Ganze Städte und Landschaften sind bereits Museen geworden. Man glaubt schon zu sehen, wie sich an ihren Grenzen vor Eintrittskassen Schlangen bilden. Lebenszuspruch, der aus der Begegnung mit alter Kultur und restlicher Natur zu gewinnen ist, hat Konjunktur. Doch er spricht die Sprache des Kuriosen. Das Leben in alter Kultur und überholter Zivilisation hat überhaupt nur als ein von außen betrachtetes Anziehungskraft, es sei denn, man wäre völlig phantasielos, sich seine Härten und Unzulänglichkeiten vorstellen zu können. Naturständige Lebensqualität aber, wie sie vielfach nurmehr in Naturreservaten erinnert oder für überhöhte Preise in den Markt technikständiger Lebensqualität eingeschleust wird, hat für Menschen, die darauf zurückgreifen, ohnedies kaum mehr als die Wirkung eines Placebo. Daß man sie nicht überhaupt allein von außen betrachtet, sondern partiell mit ihr das eigene Leben besorgt, liegt daran, daß sie heute in einen sehr entwickelten Zivilisationsstandard eingebracht wird. Ein englisches Sprichwort sagt: it takes a lot of money to stay in poverty. Die Möglichkeit zeichnet sich ab, den ›alten‹ geschichtlichen Menschen einfach den lebenspraktisch aus der Zeit gekommenen Objekten zuzugesellen, die der opportunistisch Vernünftige in seiner Kurzweil ebenso erstaunt wie distanziert betrachtet. Wer heute nicht die lebenspraktische Gleichung mit verfügbarer instrumenteller Vernunft eingeht, hat nach gesellschaftlich herrschendem Urteil Gegenwartsfähigkeit und Gegenwartsberechtigung verloren. Vor kurzem noch konnten verlorene Naturparadiese in verlorenen Kindheitsparadiesen gesehen werden – Marcel Prousts Combray, Johann Peter Hebels Südbaden (Walter Benjamin: »Hier ist noch Demeterland«). 275 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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Wer aber heute, gegen Ende des 20. Jahrhunderts, seine Kindheitserinnerungen erwirbt, verdankt sie schon maßgeblich der Gleichung instrumenteller Vernunft. Die Vermutung liegt nahe, daß sich Paradiesträume grundlegend wandeln – von Träumen reiner Pastoralen in Träume von technisch-industriell geprägter Lebenswelt. Aber es gibt ja eben Kinder der Zeit, die den instrumentellen Menschen verneinen, ihn, so gut es sich machen läßt, nicht selber praktizieren. Unter ihnen sind längst solche, die damit bereits gegen die eigene Kindheit rebellieren. Für sie ist die lebenspraktische Bejahung verfügbarer instrumenteller Vernunft und ihrer tendenziellen Steigerung überholt. Sie gilt ihnen als gefährliches Relikt eines unseligen Fortschrittsglaubens. Wer eigentlich antiquiert ist, erweist sich somit zumindest als umstritten. Menschliches Sein, Leben, Handeln und Wirken, das – unmittelbar oder mittelbar – einer ›gemeinsamen‹ Gegenwart zugehört, für nicht an der Zeit (καιρός) zu erklären, ist niemals völlig unproblematisch. Ungleichzeitiges bzw. Unzeitiges zu ein und derselben Zeit (χρόνος) zu erkennen und so als Zeitliches mit dem Zeitbann zu belegen, versteht sich allein aus einer Idee von Fortschritt. Hat Fortschritt wirklich statt, setzt sich nachweislich das eine gegen das andere durch, so daß dies für menschliche Lebenspraxis an Bedeutung (gegebenenfalls auch jegliche Bedeutung) verliert, dann bewahrheitet sich in der Tat das Diktum vom Zeitgemäßen und Zeitungemäßen (›Unzeitgemäßen‹). Das aber setzt eben voraus, daß ein Fortschritt auch ohne jeden Zweifel gemacht wird und unbestritten zur Geltung kommt. Wie problematisch es sein kann, Fortschritte zu sehen und zu behaupten, beweist vorzüglich die Kunst. Wo man ihr nicht (wie bei Max Weber) jeden Fortschritt versagt, sondern ihr im Geiste der Moderne und Avantgarde pausenlos Fortschritte abverlangt, kommt es unvermeidlich zu Denuntiationen des Zeitungemäßen. Ein Johann Sebastian Bach wird für vergangen erklärt, ein Schönberg für an der Zeit (Theodor W. Adorno). 276 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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Entsprechend verfährt man mit Marcel Proust und Franz Kafka (Martin Walser), mit Pierre Bonnard und Joseph Beuys. Vernunft ist im Spiel – ästhetische, gesellschaftskritische, moralische und dabei selbstverständlich zeitgeistgebundene. Inzwischen hat allerdings diese Moderne ihre Zeit gehabt samt ihren Gründen zu urteilen. Damit hat sich die Sache nicht etwa gewendet. Das ›Vormoderne‹ ist jetzt nicht zum Zeitgemäßen geworden, das ›Moderne‹ nicht zu dem, was passé ist. Nein, die Idee des Fortschritts der Kunst selbst hat ihre Zeit gehabt. Das vormals im Zeiturteil als zeitgemäß und zeitungemäß Geschiedene kann jetzt wieder ›schön‹ in einer Gegenwart zusammenbestehen, um eins wie das andere als Kunst zu begegnen und wahrgenommen zu werden. 34 Anders als in der Kunst läßt sich in Wissenschaft und Technik, Industrie und Markt Fortschritt nachweisen, der solches, was einmal lebenspraktisch bedeutsam war, für immer zur Vergangenheit macht. Ein »fortschreitendes Begreifen am Unbegriffenen« (Fichte) z. B. läßt sich Zoll für Zoll nachweisen. Gibt es dennoch Streit unter Theorien, erklären etwa die einen Albert Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie zu einer Zeit für überholt, in der andere an ihr als zeitgemäß festhalten, dann kann die Wissenschaft den Ausgang dieses Streits getrost der Zeit überlassen. Ihr meßbarer Fortschritt entscheidet mit der Zeit von selbst darüber, was theoretisch weiterhin brauchbar ist, was nicht. Das geozentrische Weltbild ist passé, das realistische Verständnis der Schöpfung in sieben Tagen, der Passagierschiffsverkehr zwischen Europa und Nordamerika, die Goldbindung des US-Dollars. Das alles hat, wie es aussieht, wirklich seine Zeit gehabt. Der zivilisatorische Fortschritt scheint prinzipiell nichts zu zeitigen, das nicht überholt und überflüssig, ja unbrauchbar Ein anderes Problem stellt die Rede von ›alter Musik‹, wie sie z. B. auf die Musik von Heinrich Schütz, nicht aber auf die von Johann Sebastian Bach angewandt wird.

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werden könnte. Selbst die Begriffe, mittels derer der Mensch sich über die Welt verständigt und sich ihrer kognitiv bemächtigt, haben ihre Zeit, vielleicht sogar derart stabile Begriffe wie Zeit und Raum. 35 Aber es gibt da Unwägbarkeiten: steht das Buch wirklich zur Disposition? Kehren die Wassermühlen zurück? Bleibt es beim menschlichen Zeugungs-Empfängnis-Akt? Hat die Dreifelderwirtschaft Zukunft? Sie genügen, um zivilisatorischen Fortschritt als generelles Faktum in Frage zu stellen. Fortschritt versteht sich als solcher aus dem Fortgang der Dinge zum Guten und Besseren. Was die Gesellschaft mit Blick auf ihn als zeitunterschieden wertet, ist jeweils neues Gutes im Unterschied zu vormals Gutem, jetzt aber alt und schlecht (untauglich) Gewordenem. Das muß nicht unwidersprochen bleiben. Es kann dazu kommen, daß man zwar Fortschritte, die faktisch, z. B. im Sinne von Weiterentwicklungen, gemacht werden, erkennt, sie jedoch nicht länger dem gesellschaftlich herrschenden Fortschrittsverständnis gemäß auslegt und akzeptiert. So ist es prinzipiell nicht auszuschließen, daß gemachter und machbarer zivilisatorischer Fortschritt seinerseits zum Ungleichzeitigen gerät. Wenn Intellektuelle heute den Abbruch eines alten Hauses verhindern, um an seine Stelle nicht neuen Beton entstehen zu lassen, dann läßt sich das als ›konservative‹ Avantgarde deuten. Zählt aber neuerdings das Alte lebenspraktisch auch wieder als Fortschritt, dann haben jedenfalls insofern die – ewigen – Neuerer ausgespielt. Die Bestimmung des menschlich Guten, das heißt des lebensteilig Brauchbaren und Fruchtbaren, unterliegt stets neu lebenspraktischer Erfahrung. Es gibt nichts an sich Gutes. Kein Wissen ist an sich gut. Wissen ist verfügbare instrumentelle Vernunft – verfügbar zum Guten oder Schlechten. Wird Wissen ohne Rücksicht darauf eingeschätzt, wie über es verfügt wird, dann gibt es keinen überzeugenden Grund, seinen Bestand und seine Erweiterung für gut zu halten. Die Vorstellung, Wissen sei an 35

Siehe S. Toulmin, The collective use and evolution of concepts, S. 412 ff.

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sich gut, die Zunahme von Wissen nicht minder, ist zwar etwas, das Wissenschaften zu allen Zeiten als zeitgemäß propagieren, aber es ist keineswegs unmöglich, daß diese Vorstellung doch eines Tages ihre Zeit gehabt hat, zeitungemäß wird und ihre gesellschaftlich herrschende Kraft verliert. Dasselbe gilt für die Zunahme technischer, industrieller und kommerzieller Möglichkeiten. Zwar kann der zivilisatorische Fortschritt auf die Wahrnehmung eigener Interessen der vereinten Vier und selbst des Staates zählen, auch auf opportunistische Vernunft, jedoch auf keine geschichtliche Notwendigkeit und kein von Grund auf stimmiges Argument für seine lebenspraktische Bonität. Er steht zur Disposition. Die Inversion des Fortschritts ist möglich. Damit ist nichts über das geschichtlich Wahrscheinliche gesagt, nichts darüber, ob jetzt als Fortschritt zu feiern wäre, daß man einige Waschmittel nolens volens wieder hinter ihre ›Bestform‹ zurückbringt. Das ist nicht Sache der Philosophie. Ihren Möglichkeiten entsprechend geht es hier allein um das Prinzipielle: die Verknüpfung zwischen faktischem und gutzuheißendem Fortschritt (zwischen einer faktisch geglückten Weiterentwicklung und einem Fortschritt zum Guten) aufzulösen. Wird aber die Idee des Fortschritts erst einmal als Ideologie fraglich, das heißt als leeres Versprechen des Guten 36 , dann verliert auch der faktische Fortschritt sein Selbstverständnis. Das Mehr und Zuviel, das er bringt, kann als Übel angesehen und erfahren werden. Das aber heißt für die Lebenspraxis: er ist seiner Tendenz und Ideologie nach zeitungemäß (unzeitgemäß) und ein Rückschritt gegenüber dem Alten. Auch das ist allein prinzipiell festzustellen. Das Ungleichzeitige im Gleichzeitigen – der zivilisatorische Fortschritt hat kein Abonnement darauf, stets auf der Straße des – einzig – Zeitgemäßen zu sein. Was sich in ein und derselben Zeit gemeinschaftlich und gesellschaftlich mit anderem mißt, um sich gegen es als das durchSiehe als Beispiel K. Mannheim, Ideologie und Utopie, S. 84: das Versprechen des ›zinslosen Darlehens‹.

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zusetzen, was allein an der Zeit ist, kann durch lebenspraktischen Entscheid den Kürzeren ziehen. Darauf, daß der Staat den zivilisatorischen Fortschritt unbeirrt gutheißt, ist kein absoluter Verlaß. Was der Staat zum Kompromiß zu zwingen hat, steht nicht in seinem Belieben, sondern ist mit der jeweiligen Zeitgenossenschaft einer geschichtlichen Gegenwart vorgegeben. Im letzten ist es die Lebenspraxis, die bestimmt, was an der Zeit ist und was nicht. Dabei müssen sich nicht die durchsetzen, die bedenkenlos dem Fortschritt leben. Die Bestimmung des Zeitgemäßen auf Grund sich durchsetzender Lebenskraft und Lebenseinstellung verheißt an und für sich keinen Fortschritt zum Guten, sondern einfach den Fortgang der Geschichte, die den Menschen zeigt, wie er sich in je neuen Auseinandersetzungen um eigenheitliches Sein als Mensch inszeniert und tradiert.

4.4 Der Bürgerkrieg der Einstellungen Jeder Zeitgeist trägt in sich einen Krieg aus: den Krieg um das, was an der Zeit ist. Poetisierend ist von einem ewigen Krieg der Götter untereinander zu sprechen 37 , der Götter und Werte. 38 Realiter wird er nicht im Geist geführt, auch nicht vom Katheder, sondern in der Gesellschaft selbst. Der Krieg, der innerhalb einer Zeitgenossenschaft um die Beherrschung des Zeitgeistes statthat, ist ein Bürgerkrieg. Von einem solchen sprechen wir, wenn Menschen einer Art und Herkunft, einer lebenspraktischen Gemeinschaft einander bekriegen. Begriffe wie gut und schlecht, gerecht und ungerecht, in denen sich Konsens und Dissens in der Beurteilung gesellschaftlicher Realität spiegeln, stehen, wie Platon es kennzeichnet, in einem Verhältnis von Gleichgesinntheit oder Bürgerkrieg zu37 38

Platon, Euthyphron 5e–7b; vgl. dagegen Heraklit, Fragment B 102. M. Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 30 ff.

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einander. 39 Menschen einer Lebensgemeinschaft und Gesellschaft, die ihr rechtliches Verhältnis zueinander selber als ein rechtliches auslegen, geraten wie von selbst darüber in einen Bürgerkrieg des Verstehens, da das, was gerecht ist, niemals so frag- und streitlos zu verstehen ist, wie das, was Silber ist (Platons Beispiel). Gibt es zu Zeiten auch klare Siege in diesem Krieg und kommt es etwa zur Institution des gesetzten und allgemein anerkannten Rechts, dann geht er doch unausweichlich weiter. Die Selbstauslegung des gesellschaftlichen Menschen gelangt, solange seine Geschichte währt, an kein Ende. Von dieser Art ist der Krieg um den herrschenden Zeitgeist, wie er im gegenwärtigen Zeitalter die Geister in Sachen Fortschritt scheidet. In ihm geht es freilich mit der Selbstauslegung zugleich um Selbstbestimmung und Selbstdarstellung. Es ist, wie sich zeigt, ein Bürgerkrieg lebenspraktisch gebundener Vernunft. Der Krieg, in dem Menschen sich miteinander messen, um jeweils das, woran die eigene Vernunft gebunden ist, als Zeitgeist zur Herrschaft zu bringen, wird weder rein zwischen der einen und anderen Vernunft noch rein zwischen der einen und anderen Vitalität ausgetragen. Zwar liegt ihm, kulturell-gesellschaftlich geformt, je unterschiedliche Vitalität zugrunde. Doch sie liegt nirgends als natürliche Mitgift, als Gesundheit und Temperament rein vor. Sie hat sich immer schon – mehr oder weniger klar – selber ausgelegt bzw. auslegen lassen: ist Lebensüberzeugung, Lebensglaube, Lebenseinstellung. Insofern sitzt auch – gebundene – Vernunft bei diesem Krieg nicht unmittelbar nackter Lebenskraft auf. Sie agiert für gesellschaftlich zu führendes Leben als Anwalt von ›vitalen‹ Überzeugungen, Glaubensprinzipien und Einstellungen. Im Bürgerkrieg um die rechte Einstellung zum Fortschritt der vereinten Vier streitet die eine Partei im Namen der opportunistischen Vernunft, das ist der ›vernünftigen‹ Einstellung des Lebens, sich keine Konsumgelegenheit entgehen zu lassen. Die39

Phaidros 263a. Vgl. Teil IV, Anm. 21.

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se Partei ist damit auf einen idealtypischen Begriff gebracht. Wo Krieg herrscht, und er herrscht hier in der Tat, haben Versicherungen nicht sonderlich Sinn, die darauf abheben, daß auch in der anderen Partei die eigene Art zu denken und zu handeln anzutreffen sei. So dient die eindeutig verstandene Rede von opportunistischer Vernunft nicht dazu, geschichtliche Realität zu verrechnen, sondern die Auseinandersetzung als solche zu verdeutlichen. Auch ist zu bemerken, daß auf seiten opportunistischer Vernunft in Wirklichkeit längst nicht alle die auftreten, die eigentlich dazugehören, weil es da eine Riesenzahl Verhinderter gibt. Ein gut Teil derer, die aus gesellschaftlichen und lebensgeschichtlichen Gründen an der kompromißlosen Steigerung von Konsum und Lebensstandard genau nicht teilhaben, sind im Grunde von gleicher Lebensart wie die erfolgreich Angepaßten. Für diese Zeitgenossen spiegelt sich im redundant Verfügbaren akkurat die Tatsache, daß es für sie nicht greifbar ist. Zum ›System‹ gehören auch die, denen seine Früchte ›systematisch‹ verweigert sind. Nur darum kann das sogenannte Proletariat mit dem opportunistisch Vernünftigen der Gegenwart in einen geschichtlichen Vergleich gebracht werden. Wer Vernunft, die zu kompromißlosem Konsum rät, aus gesellschaftlichen Gründen nicht gewohnt ist und für sich nicht entwickelt hat, bemerkt als Gast einer Gesellschaft, die ganz durch sie geprägt ist, sogleich ihre Eigenart: Es schien mit zuviel des Guten. Zuviel Taxis, Bananen, Käsesorten. Im Gegensatz zur DDR stehen hier die Dinge Schlange nach Kunden, beiderseits ein Schlangestehen. 40

Doch nicht nur der »Überfluß« fällt diesem Gast auf, er gewinnt nicht nur den Eindruck, als wollte mir jedermann immerzu irgend etwas verkaufen,

sondern er erfährt auch die Strapazierung der eigenen Natur: 40

G. Eckart, Ich kam mir überflüssig vor, S. 58–64.

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Das Auto wurde im Westen mein Feind. Wo ich auch ging, schoben sich Autoschnauzen an mir vorüber. In meinem Zimmer in Köln konnte ich vor lauter Autolärm nicht bei offenem Fenster schlafen. Bekannte nahmen mich im Wagen mit, wir steckten drei Stunden im Stau …

Fazit: ein Übermaß an Zivilisation.

Was aber dem Gast der Überflußopportunisten noch weit stärker als deren Eigenheit zu Bewußtsein kommt, ist die eigene: ideell allein vom Mangel an – realer – Gelegenheit zu leben. Der Gast, eine Schriftstellerin, vermißt den Hunger, nämlich den Hunger, der daher rührt, gegen ein »rotes Tuch« anrennen zu müssen, gegen »Widerstände«: Keiner schnappte mir die Worte von den Lippen weg. Ich kam mir überflüssig vor.

Wer aber sollte auch »Trost und Hoffnung« brauchen, wenn er überreich hat, ja »übersättigt« ist! Das ist die bedeutsame Einsicht eines Menschen, der wach bei Opportunisten zu Besuch ist und ebenso wach diesen Besuch überdenkt. Die Ideale derer, die nichts haben, gründen sich in der Tat auf ihr Nichts. Nimmt man es ihnen, dann entdeckt die unverhüllte Realität ihrer Ideale nichts anderes als den trost- und hoffnungslosen, trost- und hoffnungsunbedürftigen kompromißlosen Konsum. Wie man sich die Einstellung des opportunistisch Vernünftigen zu erklären hat – aus natürlicher Mitgift, Individuation und Sozialisation, aus der kulturellen und gesellschaftlichen Art, dem Fortschritt zu begegnen, und den eigenen Möglichkeiten, ihn zu nutzen –, ist nicht Sache der Philosophie. Hätte diese Einstellung ihre Maximen, dann würden sie am ehesten lauten: ›So aufwendig, unbekümmert, zivilisiert (technikständig) und neuartig leben wie möglich, so sparsam, besorgt, natürlich (naturständig) und altvordern wie nötig‹. Preist Bertrand Russell seinen ›robusten Sinn für Realität‹, dann offensichtlich der opportunistisch Vernünftige seinen robusten Sinn fürs Leben. Er 283 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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versteht es lebenspraktisch ausgezeichnet, Vitalität und Kultur im Verbund zu halten. Vitalität wird selbst zur Kultur, erhält Rechtsform, gilt als Quell von Moral. 41 Dennoch, die ›Robusten‹ sind nicht allein auf seiten der opportunistischen Vernunft. Im Kampf um die Herrschaft der lebenspraktischen Einstellung, die im gegenwärtigen Zeitalter an der Zeit ist, stehen gegen die opportunistisch Vernünftigen Andere, die sich in ihrem Vernunftgebrauch nicht etwa ängstlich verhalten, sondern einfach Interessen vertreten, die lebensteiliger Natur sind und sich auf gemeinsame und mitwisserschaftlich sedimentierte Erfahrung berufen können. Gewitzt durch Lebensbeeinträchtigungen mancherlei Art, ist ihre Haltung zu den Angeboten des Fortschritts eher durch Vorbehalte gekennzeichnet. Ein entsprechendes Temperament mag ihnen diese Haltung nahelegen und erleichtern. Auch kann sie mitgeprägt sein durch die Eigenart ihrer Mitgift und Entwicklung. Wie aber auch ihre Vernunft lebenspraktisch gebunden und lebensgeschichtlich regiert ist, sie ist in der Tat Vernunft. Handelt Vernunft auch nicht in eigenem Interesse, so läßt sie sich doch niemals als Vernunft verleiten. Insofern bleiben die Einstellungen unterschiedener Vernunft und der gegenteilige Interessen vertretende Vernunftgebrauch gleicherweise eine Sache intakter Vernunft. Der Kampf um den herrschenden Zeitgeist ist, wie gesagt, als Bürgerkrieg der Einstellungen ein Bürgerkrieg der – gebundenen – Vernunft. Die Vernunft, die gegen die opportunistische antritt, ist am besten eine konszientistische (mitwisserschaftliche) und reservierte zu nennen. Sie wird damit ebenfalls idealtypisch gezeichnet. Auf ihrer Seite stehen rein der Einstellung nach auch diejenigen, die in den Kampf um das, was an der Zeit ist, noch gar nicht eingegriffen haben. Das bleibt bei diesen Zeitgenossen in Für die Überzeugung, daß Verdrängungskonkurrenz moralisch förderlich sei, steht an vorderster Stelle der Ratgeber für Sozial- und Wirtschaftspolitik der Thatcher-Regierung Friedrich August von Hayek.

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den meisten Fällen darum aus, weil sie noch gar nicht bemerkt haben, daß es um ihre eigenen Interessen geht. Die Einstellung zu einem Angebot, das man möglichst unbekümmert annehmen möchte, lernt sich eher von selbst und ohne eigenes Nachdenken, die zu einem Angebot dagegen, das man überlegterund besorgterweise ablehnen möchte, bedarf mehr der eigenen Zutat. Ein Krieg unterschiedlicher lebenspraktischer Einstellungen und Standpunkte – das klingt nach Willkür und gleichgültigem Ausgang. Doch menschliche Lebensbefähigung läßt nicht beliebig mit sich spielen und sich in den Krieg ziehen. Eine alte Kategorie menschlicher Lebenserfahrung mit moralischem Einschlag ist die des Zuträglichen (σύμφερον). 42 Sie entstammt der praktischen Erfahrung des Alltags, z. B. der mit der alltäglichen Ernährung. Ohne irgendein Menschenbild zu entwerfen, läßt sich für den Menschen feststellen, was ihm zuträglich ist, was abträglich. Entsprechend verhält es sich mit dem Erträglichen. Menschliche Physis setzt, mit geringen Abweichungen, Toleranzgrenzen (z. B. eine Lärmschwelle) fest. Werden sie überschritten, dann führt das zu Unerträglichem. Die Parteigänger konszientistischer Vernunft erklären das, was lebenspraktisch abträglich und unerträglich ist, soweit menschengemacht, für unzumutbar. Was beim zugemuteten kompromißlosen Fortschrittskonsum die durch Empirie abgesteckten Grenzen des Zuträglichen und Erträglichen überschreitet und beides in sein Gegenteil verkehrt, wird damit von ihnen moralisch unter Kuratel gestellt. Sie verstehen dieses Verhalten nicht als bloße Frage der Einstellung. Formulierten sie ihre Maximen, dann widersprächen sie genau denen der opportunistischen Vernunft. Dadurch würde aber nicht allein die Umkehrung des Möglichen und Nötigen angezeigt, sondern zugleich Platon, Politeia I 347d: »(…) daß der in der Tat wahrhafte Herrscher es nicht in seiner Natur hat, das ihm selbst Zuträgliche zu bedenken, sondern das dem Regierten.«

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der Vorwurf laut, daß die opportunistische Vernunft dem Mindestmaß des von ihr zu vertretenden Nötigen, wie sie es selbst verspricht, nicht Rechnung trägt. Wenn schon gelten dürfte und sollte ›soviel Augenblicksgenuß wie möglich und soviel Zukunftsverantwortung wie nötig‹, dann wird nach Wissen und Gewissen konszientistischer Vernunft dieses Nötige längst sträflich mißachtet. Sie bleibt bei diesem Vorwurf nicht im allgemeinen, äußert mit ihm kein bloßes Mißtrauen, sondern macht eine Rechnung auf: der prinzipielle Versuch etwa, sämtliche Probleme, die der Fortschritt lebenspraktisch aufwirft, fortschrittlich und das heißt durch forcierte Anstrengungen der vereinten Vier zu lösen, wird von ihr als methodische Überspielung des Nötigen gedeutet und als Gefährdung eigenheitlichen Lebens konkret nachzuweisen gesucht. Opportunistische Vernunft sieht, erfährt und berechnet das anders. Für sie wäre der Verzicht auf steigenden Konsum und Lebensstandard unzumutbar, weil sie es nicht ertragen könnte und zu ertragen gedächte, die Angebote des Fortschritts ungenutzt stehen und vorübergehen zu lassen. Sie glaubt an kein durch die vereinten Vier verursachtes Problem, das von den Vier nicht selber zu lösen wäre und gelöst werden sollte (durch neue Biotechniken die Schädlichkeit bisher in der Landwirtschaft genutzter Stoffe zu senken, nach Antikörpern zur Dioxinentsorgung zu forschen, anstatt auf Dioxinherstellung zu verzichten usw.). 43 Ihr liegt keine akzeptable Rechnung vor, die ihr die eigene Position prinzipiell fraglich machte. Dem Zwang staatlicher Kompromisse, ist er stark genug, wird sie sich fügen, zumindest formal und der öffentlichen Zurschaustellung nach. Ein weiteres Beispiel: Chlorfluorkohlenwasserstoffe, die Treibstoffe der Sprühdosen und auch Kühlmittel, zerstören die Ozonschicht, so daß es zu schädlicher (hautkrebserzeugender) ultravioletter Strahlung kommt. Dagegen läßt sich nach dem für Umweltfragen hauptverantwortlichen US-Innenminister Donald Hodell (DIE TAGESZEITUNG vom 2. 6. 1987, S. 6) der ›persönliche Schutz‹ technisch durch Sonnenhut, Sonnenbrille und Sonnenschutzöl erreichen.

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Was auf dem Spiel steht

Der Krieg um den herrschenden Zeitgeist als Bürgerkrieg der Einstellungen und der Vernunft entdeckt sich des näheren als ein Bürgerkrieg der Erfahrung des Zuträglichen, Erträglichen und der Proklamation des Zumutbaren, der Begründung des Lebensvertrauens und der Berechnung des praktisch Nötigen. Der Philosoph kann, solange er Philosoph bleibt, in diesem Krieg, wo er wirklich statthat, nicht vermitteln, auch nicht Partei ergreifen. Er kann das nicht, weil er als solcher die Fakten und Rechnungen nicht zu überprüfen weiß, weil er zudem in der Realität keine Partei antrifft, die der von ihm vorgenommenen Typisierung und Polarisierung genau entspricht. Dennoch ist er Partei – von Berufs wegen. Nach seinem Verständnis der lebenspraktischen Bedeutung menschlicher Eigenheiten ist er notwendig Parteigänger konszientistischer Vernunft. So ist es seine Aufgabe, nach Möglichkeit zur Klärung beizutragen, was für den Menschen auf dem Spiel steht, wenn opportunistische Vernunft siegen und auf unabsehbare Dauer zum allein herrschenden menschlichen Verhalten werden sollte.

5. Was auf dem Spiel steht 5.1 Abstand Der Mensch braucht Distanz – zum Anderen und zu sich selbst. Die Grundart lebendiger und praktizierter Abständigkeit ist die Inszenierung von Eigenheiten, das Spiel, in dem es Ernst mit ihnen wird. Der Mensch hat seine Abständigkeit darüber hinaus genutzt, sie selbst zu poetisieren und zu reflektieren. Dadurch hat er sie für die Darstellung und das Verständnis seiner selbst auf besondere Weise fruchtbar gemacht. Sinnliche, geistige und geistliche Poesie, Nachdenklichkeit und Selbstverständigung sind Weisen, wie der Mensch in gesteigerter Form der Unmittelbarkeit des Lebens entgeht. Er wird so seines Lebens eigens gewahr, sieht, wie es sich mit eigenheitlichen Gestalten im Spiel 287 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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und im Spiel des Spiels füllt, wie es Nähe und Ferne, Konturen von Licht und Schatten, Gewissem und Ungewissem erhält, fühlt, wie sich eine Spannung einstellt zwischen Gewohntem und Überraschendem, Vertrautem und Unheimlichem. Die Welt der opportunistischen Vernunft ist die der Unmittelbarkeit und Abstandslosigkeit. Der instrumentelle Mensch, idealtypisch zuende gedacht, inszeniert nicht mehr sich selbst, sondern funktioniert nurmehr: er ist voll integriert. Praktisch aufgeklärt, wie er ist, hat und braucht er keine Bilder und Geschichten, Rätsel und Gedanken, Zweifel und Gewißheiten, Sichten, Entwürfe und Selbsterkenntnisse, auch keine Träume (keine dunklen Ecken im Garten dafür), keine Befürchtungen und Hoffnungen. Sein Freiheitskonsum ist sein Vertrauen, sein Vertrauen sein Freiheitskonsum. Er kennt zwischen sich und dem, was er tut und mit sich geschehen läßt, keinen Unterschied mehr. Das sacrificium intellectus, daß lebenspraktische Aufgeklärtheit und Funktionalität nicht alles ist, kann er nicht bringen, tritt ihm überhaupt nicht als Forderung entgegen. Damit ist selbstverständlich nichts behauptet oder auch nur vermutet, was heutige kompromißlose Bereitsteller und Konsumenten instrumenteller Vernunft gegebenenfalls an Bildern, Mythen und Nachdenklichkeiten konsumieren, vielleicht sogar ›feierabendlich‹ zur Selbstdistanzierung nutzen. Die Beleuchtung der Abstandslosigkeit erläutert nur, was zur verdichteten und geglätteten Gestalt des opportunistisch Vernünftigen aus der Perspektive konszientistischer Vernunft im einzelnen zu bedenken ist.

5.2 Halt und Einhalt Der Mensch braucht Halt. Er gewinnt ihn am Anderen und am eigenen Selbst, das er im lebenspraktischen Verhältnis zum Anderen bildet und bewährt; er gewinnt ihn zugleich am Tod, am eigenen und an dem der Anderen. Mit dem gewonnenen Halt ist 288 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Was auf dem Spiel steht

ihm auch schon Einhalt geboten: er ist nicht jeder, nicht alles; vermag nicht alles; lebt nicht für immer. So bildet er lebensbefähigende Endlichkeit, versteht er es, Zeit zu geben und sich Zeit zu nehmen, mit Anderen Zukunft und Vergangenheit zu teilen. Dem opportunistisch Vernünftigen in Reinform verliert sich der lebensteilig Andere und der Tod aus der Perspektive des Lebens. Gänzlich von seinem Freiheitsgebrauch beherrscht, präsentiert sich ihm das, was er nicht selbst ist, vorzüglich in der Unterscheidung des Konsumierbaren und Nichtkonsumierbaren. Endlichkeit gerät für ihn zum Problem der Konsumkapazität. Sein nötiger Einhalt mag dann sein, sich im Augenblick die bessere Maschine noch nicht leisten zu können, sein nötiger Halt, sie sich nächstens leisten zu können und auch tatsächlich zu leisten. Damit steht bereits die Öffentlichkeit des idealtypisch gezeichneten instrumentellen Menschen im Blick: es ist die der Vermarktung und der Konkurrenz des Fortschritts. Die Solidargemeinschaft der instrumentellen Vernunft ist eine komplexe Konkurrenzgemeinschaft. In ihr zeigt sich der agonale Zug des Lebens, stets besser sein zu wollen als der Andere und ihm überlegen. 44 Drei Ausrichtungen sind für den Agon des Konsums zu erkennen: erstens der Kampf um den besten Zugriff unter den Konsumenten, zweitens der Kampf zwischen dem Angebot und der Nachfrage – wer im Augenblick besser und dem Anderen überlegen bzw. voraus ist, drittens der Kampf um den besten Staat, das meint um den besten Kompromiß und die bestmögliche Sicherung des Fortschritts. Die prinzipielle Halt- und Einhaltslosigkeit konsumierender opportunistischer Vernunft entspricht dem Halt, den sie in ihrer Konkurrenz ohne Grenzen findet.

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Ilias 6, 208. Vgl. Teil II, Anm. 79.

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5.3 Vielfalt Der Mensch braucht die Vielfalt. Er braucht sie für seine Freiheit, diesem und jenem Anderen so oder so zu begegnen und sich überhaupt eigenheitlich zu inszenieren. Der Mensch ist ›sogleich‹ eine Vielheit 45 – nämlich von Eigenheiten, die sich in ihrer lebensgeschichtlichen und lebenspraktischen Entwicklung als unerschöpflich und unergründlich erweist. Der Eine sieht und findet seine mit Anderen lebensteilig praktizierte ›Identität‹ durch eigenheitliche Zugehörigkeit zu Familie, Wohngegend und Heimat, Land, Sprache, Nationalität und Kultur, findet sie im eigenen Geschlecht und Lebensalter, in seinen gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Stellungen, im Wahrnehmen seiner – gefragten – Kompetenzen, in der eigenheitlichen Zugehörigkeit zu Vereinen und Parteien, Arbeits-, Kampf- und Glaubensgemeinschaften, in seiner eigenheitlichen Teilhabe an Gebräuchen und Teilnahme an Riten. Selbst Poetisierungen wie gotteingesetzte Königshäuser haben in aufgeklärtesten Staaten noch nicht ausgedient, Menschen unserer Gegenwart Bindungen eingehen und Loyalitäten üben zu lassen, in denen sie ein Stück ihres bejahten und selbstbewußten Lebens finden. Jeder Mensch, der sich zu inszenieren und im einander Brauchen seinen Part zu spielen versteht, erscheint gleich einer Anthologie eigenheitlicher Insoferne. Dabei steht im Leben schon einmal diese und jene Eigenheit zur Disposition, ist die eine gegen eine andere zu ›tauschen‹, doch die Vielheit als solche steht nicht zur Disposition. Kein Mensch, der lebensfähig ist, taugt zum Einen und Absoluten. Wer nurmehr Mutter ist, ist auch schon, um es provokativ zu formulieren, kein Mensch mehr. Jedenfalls fehlt ihm Entscheidendes: er ist nicht mehr tauglich für lebensbefähigende Lebensteilung. Wer wirklich nurmehr Mutter ist, wird nicht einmal Zu diesem Gebrauch von »sogleich« siehe Aristoteles, Metaphysik, IV 21004e 4 f.; vgl. dazu Teil I, S. 19.

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mehr einem Kind Mutter sein können. Doch man darf auch nicht feilschen, ob es dann vielleicht zwei oder drei lebenspraktisch besetzte Eigenheiten tun, wenn etwa jemand nurmehr Mutter und Katholik ist. Die Eigenheitsmöglichkeiten und die eigenheitliche Praxis des Menschen ist aus sich selbst heraus unlimitiert. Jeder wach gelebte Augenblick ist ein Spiel von Identität und kann sich durch neue Identifizierungen auszeichnen. Das Spiel hat ja nicht autistisch statt, sondern ist abgestimmt auf das von Anderen. Die Vielfalt der Eigenheiten ist eine Manifestation der Freiheit lebensteiliger Existenz, Anderen in ihren Eigenheiten auf unterschiedliche Weise zu antworten. Der jeweilige Grund eigenheitlichen Handelns läßt sich niemals klar und eindeutig feststellen, sondern verliert sich in virtueller und aktueller lebenspraktischer Vielfalt. Der Grund der eigenen Freiheit, sich eigenheitlich auf das Eigene des Anderen zu beziehen, ist in diesem Sinne ein unverfügbarer. Wer sich z. B. als Liebender versteht und aufführt, ist zwar gegebenenfalls ›nichts als‹ Liebender. Aber schon diese Art von ›ganz und gar‹, wenn wir ihr für den Augenblick trauen, ist in sich eine Mannigfaltigkeit von Ganzheiten und damit eine Demonstration des spielerisch offenen Reichtums menschlicher Eigenheitlichkeit. Ganz hinter einer Lebensäußerung zu stehen und sich nurmehr so äußern zu können, ist etwas Grundverschiedenes. Für den ganz und gar Liebenden in seiner eigenheitlichen Mannigfaltigkeit finden sich im Schauspiel beredte Zeugnisse 46 : PHÖBE: Sag, guter Schäfer, diesem jungen Mann, was lieben heißt. SILVIUS: Es heißt aus Seufzern ganz bestehn und Tränen, (…) Es heißt aus Treue ganz bestehn und Eifer, (…) Es heißt aus nichts bestehn als Phantasie, Aus nichts als Leidenschaft, aus nichts als Wünschen,

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W. Shakespeare, As You Like It, V, 2 v. 78–93.

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Ganz Anbetung, Ergebung und Gehorsam, Ganz Demut, ganz Geduld und Ungeduld, Ganz Reinheit, ganz Bewährung, ganz Gehorsam.

Das ist kaum für das bornierte Liebesverständnis eines Schäfers in Elisabethanischer Zeit anzusehen, sicher aber als ein Exempel für den Reichtum menschlicher Freiheit, sich im Spielen selbsthaft zu geben und mit Anderen Leben zu teilen oder signifikant nicht zu teilen. Der opportunistisch Vernünftige, idealtypisch skizziert, ist nurmehr der kompromißlose Konsument. Es ist der Mensch der einen Eigenheit: den Fortschritt zu akzeptieren und mitzutragen. Wäre er auch – überraschenderweise – damit lebensfähig, dann hätte das dennoch folgenreiche Auswirkungen auf menschliches Leben als solches. Die Programmierung des instrumentellen Menschen unter der strikten Herrschaft der vereinten Vier sieht keinen Erhalt bzw. Gebrauch von Eigenheiten vor. Ob Mann oder Frau, Kind oder Erwachsener, Alt oder Jung, Reich oder Arm, Gesund oder Krank, Katholik oder Moslem, Engländer oder Argentinier, Athlet oder Ästhet – alles Eigenheitliche wäre nurmehr als Konsumgröße existent, selbst Asketen, Romantiker und Pazifisten allein noch als problematische Konsumgrößen greifbar. Freiheit ist für opportunistische Vernunft von einer Art und hat einen Grund: kompromißlos zu konsumieren und in der Konkurrenz des Konsums kompromißlos zu bestehen.

5.4 Gewissen Der Mensch hat und braucht Gewissen. Die Mitwisserschaft gelingender und mißlingender Lebensteilung schreibt es ihm unversehens ein. Bei jedem Einzelnen ist die praktische Gewißheit selbsthaft zu leben und zu handeln mitbestimmt durch die Gewißheit, was um der Lebensteilung willen zu tun und zu lassen ist. Nur so ist eigenheitliche Lebensbefähigung im Einander zu 292 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Was auf dem Spiel steht

gewinnen und zu bewähren. Der Mensch braucht Gewissen für gemeinschaftlich zu lebendes Leben; er hat es aus gemeinschaftlich gelebtem. Im Gewissen spiegelt sich der Mensch, wie er sein Leben lebt. In extremer Spiegelung erkennt er in ihm den Unmenschen, der so genannt wird, weil er die tragenden Verhältnisse gelingender Lebensteilung zerstört. Der opportunistisch Vernünftige in Reinform ist die programmierte Gewissenlosigkeit. Er kennt kein lebensteiliges Einander mit seinem Gelingen und Mißlingen, das ihm praktisch zu wissen gäbe, was er zugunsten gemeinschaftlicher Selbstbildung und selbsthaft sich bewährenden Lebens zu tun und zu lassen hat. Sein Lebenswissen ist durch die Erfahrungen der Konkurrenz um steigenden Konsum geprägt. Er hat kein Gewissen und er braucht keines. Nach was er verlangt, sind Garantien für steigende Konsummöglichkeiten und mithaltende, wenn möglich überbietende eigene Konsumfähigkeit. Wer beim Versuch, den eigenen Lebensstandard zu steigern, versagt, bekommt kein schlechtes Gewissen, sondern sinkt einfach in der Schätzung seines Wertes und seiner Vitalität – für sich und die Konkurrenz. Der opportunistisch Vernünftige hat die Perspektive des Menschen verspielt. Für ihn existiert kein Gesicht und keine Eigenheit des Anderen, um sich im Einander als Mensch entdekken zu können. Damit verliert sich aber auch die Perspektive des Unmenschen. Gibt es kein eigenheitliches Einander mit seiner Mitwisserschaft, kein lebenspraktisches Gewissen, dann fehlt auch der Spiegel, der die eigene Inszenierung in der Scheidung von Mensch und Unmensch vor Augen stellte. Die methodische Verweigerung der Wahrheit über den lebenspraktischen Wert tendenziell steigend verfügbarer instrumenteller Vernunft geht ihren Weg, auf dem sich der zivilisatorische Fortschritt einer möglichen Verurteilung durch sich selbst bewußt entzieht.

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5.5 Gesicht Der Mensch braucht das Gesicht – das Gesicht des Anderen und sein eigenes. Ohne Gesicht weiß er nicht, wer er ist. Ohne aber wer zu sein und es zu wissen, weiß er nicht zu leben und zu handeln – in Gegenwart mit Anderen, in gemeinsamer Bildung und Bewährung von Gewissen. Freilich ist es nicht schwer, in allem sich ›selbst‹ zu sehen, aus jeder Sicht die ›eigenen‹ Züge zu konstruieren bzw. zu rekonstruieren. Sieht einer durch die Frontscheibe seines Autos auf die Fahrbahn und ihre Umgebung, auf die Bewegungsvorgänge auf der Fahrbahn und auf die Hinweisschilder über und neben ihr, durch das Seitenfenster auf den Rückspiegel und das in ihm Gespiegelte, im Auto auf das Armaturenbrett, auf die eigenen Hände und Arme und auf den Beifahrer, dann fühlt er sich durch diese Sichten nicht sich selbst entzogen. Überall begegnet er Menschen: den vereinten Vier und sich selbst als einen ihrer Akzeptanten in Gemeinschaft mit anderen. So sieht er sich, so versteht er sich, so bejaht er sich – einmal mehr einmal weniger bewußt. Nicht anders ergeht es ihm, wenn er auf Bildschirme sieht – an der Arbeitsstätte und bei öffentlichen Erledigungen auf den eines Computers, in der Wohnstube auf den eines Fernsehers. Auch hier ist er zuhause – bei den Vier und sich selbst, für sich allein und ›gemeinsam‹ mit anderen. Drachensegeln und Surfen ist für ihn kein Eskapismus, vielmehr eine Ergänzung des alltäglichen Sehens und Erlebens. Auch da versteht er es zuhause zu sein: in der – aufwendigen – Welt leibhafter ›Selbst‹-bewährung, die die Vier ihm durch besondere Formen der Begegnung mit elementarer Natur ermöglichen. Dabei ist der Extremismus, der den Grad des Risikos, das er eingeht, an winkenden Publizitätsprämien bemißt, nur die medial sichtbare Spitze einer Breitenbewegung. Die Suche nach Gelegenheiten, Freiheit in sinnevidente Unabweisbarkeiten zu verwandeln, ist kulturspezifisch geworden. 47

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Was auf dem Spiel steht

Genauer besehen ist allerdings der Mensch, der – idealtypisch gezeichnet – nurmehr in allem die Vier sieht, direkt oder indirekt, gesichtslos geworden. Die individualisierende Art des Sehens, Sichsehens und Sichsehenlassens hat ihre Bedeutung verloren. Die human gemeinte Vorschrift ›alle Menschen sind gleich‹ hat ihn auf unheimliche Weise eingeholt. Wie er auch sieht und sich sehen läßt, hat er nichts mehr zu verbergen – für Andere und sich selbst. Keinerlei Geheimnis steht mehr vor und hinter seinen Augen. Laut sagt er sich vor, daß ›der Primat der zwischenmenschlichen Fernbeziehungen‹ zurecht ›die Anonymisierung der zwischenmenschlichen Beziehungen‹ verlange. 48 Gesichtslos sei er eben auch namenlos. Namenlosigkeit und Gesichtslosigkeit des instrumentellen Menschen komplettieren seine Gewissenlosigkeit. Individualität ist kein Selbstzweck, aber eine conditio sine qua non geteilten Lebens. Zum Einen und Anderen als solchen gehört es, individuell zu sein. Der Andere, der Halt gewährt und Einhalt gebietet oder beides versagt, der dafür steht, ob der Eine geliebt und gebraucht ist oder nicht, mit dem der Eine gemeinsam lebensbefähigende Endlichkeit und Öffentlichkeit bildet und bewährt, Zukunft und Vergangenheit teilt oder genau nicht, hat stets einen Namen, ein Gesicht. Nur Individuen, die aus der Unerschöpflichkeit und Unergründlichkeit ihrer Eigenheiten einander begegnen, verstehen sich zu inszenieren und so sie selbst zu sein. Sie erkennen sich – wechselseitig – an ihren Gesichtern, den Anderen und sich selbst, rufen sich bei ihren Namen, um darauf zu hören, wer der Andere ist und wer sie selbst. Für jeden Menschen, der sich nicht mehr im Gesicht des Anderen selbsthaft und unverwechselbar zu spiegeln weiß, dem sich vielmehr die Gleichung des Menschen in jeder Lebenspraxis als Widerschein universeller

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Bericht der Kommission »Zukunftsperspektiven …«, S. 36. W. Becker, Der Wertwandel der Moderne, S. 14 ff.

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Der Mensch im Spiegel des gegenwärtigen Zeitalters

Gesichtslosigkeit zeigt, ist das Spiel aus, das Spiel, in dem er sich selbst spielt: vor den Anderen und vor sich selbst, das Spiel, durch das er weiß, wer er selbst und wer der Andere ist.

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Nachwort

Philosophisches Denken reinigt besser als jedes in der Natur vorfindliche oder durch Technik hergestellte Reinigungsmittel. Der Philosoph nimmt sich etwas vor, um es zu klären, ein Ding, einen Begriff, denkt von ihm alles Unreine weg, und schon ist das vollkommen Reine da – als Erdachtes. In philosophischer Sicht und Sprache ist es das Wirklichere, ja einzig Wirkliche, dies freilich in einem ganz anderen und ganz neuen Sinn von Wirklichkeit. Schönstes Beispiel dafür, im wahrsten Sinne des Wortes, ist noch immer Platons Idee des Schönen, das Schöne selbst (to kalon auto) genannt. An Schönheit nimmt es mit ihr kein Ephebe auf, selbst Platons Charmides nicht, dessen leibliche Schönheit sich mit der seelischen seines Sokrates mißt, aber auch kein von Sappho in seinem Blühen gedichtetes Mädchen. Diese erdachte Idee hat eben kein Vorne und Hinten, kein mal so, mal so. Sie ist in jeder Hinsicht schön, für immer schön, einzig schön. Ja, philosophische Reinigungen sind »nicht ohne«. In diesem Falle können schönste Epheben und blühende Mädchen an Schönheit mit der Idee der Schönheit nicht nur nicht mithalten, sondern werden durch sie auch diskriminiert. Platons Sokrates geht tatsächlich so weit, sie für eigentlich nicht-schön zu erklären. Die neue Wirklichkeit teilt ihre Lektion aus. Wie es der eine Gott des Monotheismus hält, duldet auch sie nichts zweites Schönes neben sich. Nicht immer freilich macht die Sprache mit. Das Wegdenken des Unreinen will aber auch sprachlich vorgeführt werden. Der Meisterdenker Plotin (um 205–270) hat das in aller Härte erfahren. Er hatte sich das Eine vorgenommen. Ihm alles Unterschiedene und Viele im Geiste wegzunehmen, ging leicht und ohne sprachliche Probleme. Doch das indogermanische »ist« mit seiner Funktion als Kopula 297 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Nachwort

und seinen Bedeutungen »ist gleich« und »existiert« stellte den Eines-Denker vor unüberwindliche Schwierigkeiten. In dem 2017 erschienenen Buch Lob der Zweiheit habe ich dies Reinheitsringen dargestellt und mich von der Redlichkeit seines Bemühens beeindruckt gezeigt. Soll das einzig wirkliche Eine mit dem Sein verbunden werden, weil es doch um Eines zu sein, etwas ist, das ist, dann ist es auch schon kein reines Eines mehr. Als ich mir vor gut dreißig Jahren den menschlichen Menschen zum Thema machte, war ich motiviert durch das philosophische Reinheitsdenken. Mir war klar geworden, daß die große Tradition des Wesens- und Einheitsdenkens nur den reinen Menschen denken wollte und konnte. Vom Menschen alles Unreine wegdenken, und schon war der reine Mensch da. Doch der gefiel mir nicht. Alle menschlichen Züge waren an ihm verschwunden. Der menschliche Mensch war eine Herausforderung der gesamten, die europäische Philosophiegeschichte bestimmenden Tradition. Das erste Opfer des Rein-Denkens war ja schon einmal der Plural des Menschen, die menschliche Diversität, die doppelte Alterität der Anderheit und Andersheit. Das hat eine durchgängige Tradition. Platon hat vom Menschen, auf daß er rein Mensch ist, nicht nur das Tier weggedacht, etwa den Löwen im Tyrannen als einem Prototyp des unreinen Menschen, sondern auch den Leib. Die Seele sei der reine Mensch, und selbst diese philosophische Zumutung wird noch mit der Kautel versehen, daß es die Seele des Menschen ist, der »rein« gelebt hat, was in diesem Falle heißt, »gerecht«. Das Reinigungsdenken wird zu einem Ablösungsdenken (apallagê). Damit setzt etwas ein, das die Philosophie vom Menschen von Grund auf verdirbt und verfälscht. Ihr Ziel ist nicht mehr das Humanum, sondern das Divinum. Die Scheidung vom Tier wird zur Verbundenheit mit Gott. Das Ablösungsdenken wird zum Absolutheitsdenken. Platons Philosophengott ist der eine, der absolut gut und absolut gerecht ist – selbst an ihm selbst. Das vereinte Reinheitsdenken von Mensch und Gott hat dann Ari298 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Nachwort

stoteles in extenso vorgeführt: Das Göttliche im Menschen, die Vernunft, ist der eigentliche Mensch, ja eigentlich der ganze Mensch. Der actus purus, wie Thomas das nennt, ist erfunden, die reine Tätigkeit, das ist die reine Vernunft in der reinen Tätigkeit des Sichselbstdenkens. Im Buch Lambda der Metaphysik läßt Aristoteles tatsächlich den reinen Menschen auf Zeit den einen Gott, eben den actus purus, sein, das rein auf sich selbst bezogene Absolute. Mit Aristoteles bin ich allerdings ausgesöhnt. Sein Buch über Freundschaft in der Nikomachischen Ethik und seine Gedanken zum menschlichen Zusammenleben (syzên) in der Eudemischen Ethik gelten dem menschlichen Menschen. Philosophie kann Dinge, die zusammengehören, je für sich denken. Aristoteles hat das vorbildhaft vorgeführt. Ist ein für sich bestehendes Ding für ihn ein Zusammenganzes (synholon) aus Stoff und Form, dann lassen sich sehr wohl Stoff und Form je für sich denken, auch wenn kein Stoff ohne Form, keine Form ohne Stoff ist. Es ist nur zu beachten, daß das im Geiste (en noô) geschieht, nicht in Wirklichkeit. Wird der Mensch als ein Ganzes aus Seele und Leib gedacht, dann läßt sich ein Buch De corpore und, was Aristoteles bekanntlich getan hat, ein Buch De anima schreiben. Daß aber die Seele »wirklich« für sich bestehen könne, hat nicht einmal Platon mit Bestimmtheit behaupten wollen, geschweige denn Aristoteles. Theologische Philosophen gehen nicht immer so weit, wie es religiöse Theologen tun, etwa wie Paulus, der das in der Genesis dem menschlichen Menschen zugesprochene Ein-Fleisch-Sein von Mann und Frau für Hurerei erklärt, weil er für den reinen, von seinen Sünden gereinigten Menschen allein das Ein-Geist-Sein (hen pneuma) von Mensch und Gott zuläßt. Haben Platon und Aristoteles in ihren Gesamtwerken auch hinreichend Realismus gegenüber uns Menschen bezeugt, so sind sie doch in den Hochzeiten ihres Wesens- und Einheitsdenkens 299 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Nachwort

auf der Spur des reinen Menschen gewesen: des Menschen ohne Menschliches, der rein Seele, rein Göttliches, absolut ohne Tier und Leib ist. Im 20. Jahrhundert sind Hochzeiten des Wesensund Einheitsdenkens nicht anders verlaufen. In ihnen wurde das reinigende Wegdenken der Griechen sogar noch überboten. Heidegger (1889–1976) denkt von dem Menschen nicht nur das Tier weg, was für ihn heißt das Lebewesen-Sein, sondern, alle bisherige Philosophie an Reinigungspotenz überholend, das Etwas-Sein. Der reine Mensch ist für ihn das reine Daß ohne Was. Adorno (1903–1969) nimmt sich Hegels Gedanken von Herr und Knecht vor, denkt von der Herrschaft die Herrschaft weg, und was kommt heraus? Die Freiheit!, der freie Mensch in einer freien Gesellschaft, von jeglichem Beherrscht- und Unfreisein erlöst, ja eben gereinigt. Erst die sich seinem emphatischen Möglichkeitsbegriff und seiner gegen alle historische Vernunft operierenden reinen Vernunft verdankenden reinen, weil befreiten Menschen seien wirklich selbsthaft. Von diesem Rein-Denken ist endgültig Abschied zu nehmen, wenn philosophische Verständigung des Menschen über sich selbst als Mensch uns etwas bedeuten können soll. Dieses Denken hat seinen sicheren Instinkt, sich über sich selbst nicht aufklären lassen zu wollen. Es überzeugt und begeistert ja dadurch, daß es verklärt. Über sich selbst aufgeklärt, hätte es größte Schwierigkeiten, sein Verklärungspotential zu bewahren. Das Nachwort gibt die Gelegenheit, an zwei herausragenden philosophischen Verklärern das Problem darzustellen, das sie mit sich selbst haben. An ihnen zeigt sich, wie nah noch immer befremdlichste Vorgaben sind, die bewußt darauf aus sind, uns gründlich an dem Menschen zu versehen, der als ein menschlicher möglich, weil seit Menschengedenken und menschenweit wirklich ist. Hegel ist ein herausragender Denker und Erdenker, an dem sich beispielhaft die Verführungsmacht der Metaphysik demonstrie300 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Nachwort

ren läßt. Wie für alle Wesensdenker ist auch für ihn der Mensch, den er sich philosophisch vornimmt, kein Ergebnis der ohne Plan verfahrenden biologischen Evolution. Die Genetik, die den Menschen seiner Wesensbestimmung zuführt, ist eine theologisch-philosophische, an der der Philosoph in seinem Erdenken selbst teilhat. Das aber läßt jedes Aufklären des Menschen über den Menschen, das der Wesensdenker veranstaltet, zu einem Verklären geraten. Hegel, der es sich zugute hält, die Aufklärung über sich selbst aufgeklärt zu haben, ist das Musterbeispiel eines Einheitsdenkers, der es reines Denkens und Erdenkens wegen nötig hat, ja nicht über den künstlerischen Charakter seiner theologischen Philosophie aufgeklärt zu sein. Im Wintersemester 1830/31 kündigt er seinen Hörern an, sie in die Philosophie der Weltgeschichte einführen zu wollen. Kurz hält er sich in der ersten Vorlesung dabei auf, sich gegen Unterstellungen zu verwahren, daß Philosophie die Geschichte a priori, also vor aller Kenntnisnahme des wirklich Geschehenen, konstruiere. Doch dann kommt schon der Philosoph selbst zu Wort. Geschickt verbindet er gleich anfangs »Überzeugung« und »Einsicht«, um sein Erdenken der unglaublichsten Dinge vortragen zu können, als wäre es keines. Mit beidem bringt er ganz unscheinbar, wie nebenbei, etwas zusammen, das sich nicht gleich ist, sich auch nicht ergänzt. Der Einsichtige ist nicht überzeugt, daß er das Richtige sagt, sondern er weiß es. Doch, wie sich sogleich zeigt, ist das Hegels spezielle Art des Einheitsdenkens: Es vereint, was um einen Himmel auseinanderliegt. Überzeugt und einsichtig, wie er ist, trägt er seine »spekulative Erkenntnis« vor. Das aber ist in diesem Falle der »einfache Gedanke der Vernunft«, also etwas ganz Selbstverständliches und für alle Welt Einleuchtendes, nämlich dies, »daß die Vernunft die Welt beherrscht«. Was Hegel für Petitessen ausgibt, weil die Vernunft selbstverständlich gar nicht weniger kann, als alles zu beherrschen, hat seinen Ruf als Denker begründet und offensichtlich für alle Zeit gestärkt. Solch ein Gedanke begeistert – spontan und nachhaltig. Nüchtern betrachtet, stellt er 301 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Nachwort

einen Aufstand gegen die Vernunft dar, die uns im Leben begleitet, nicht zuletzt als der zumeist überlegene Ratgeber. Hegel verspricht ja damit seinen Hörern nichts Geringeres, als ihnen mit der »Philosophie der Geschichte« die »Vernunft der Geschichte« vorzuführen. Der erste Grundsatz wissenschaftlicher Geschichtswissenschaft: »Nichts kam, wie es kommen mußte« ist damit noch vor aller »Einführung« außer Kraft gesetzt, oder, anders gesagt, damit ist bereits die Ganzheit all dessen entdeckt, worin er einzuführen verspricht. Sagt der Christ Ranke, Geschichte sei die Darstellung des Willens Gottes in der Zeit, dann spricht er als Gottgläubiger, nicht als Geschichtswissenschaftler. Die Verifikation seiner These ist gänzlich dem Glauben überantwortet. Hegel und auch Schelling gereicht es nicht zur Ehre, wenn sie mit mehr als einem Geschichtsbegriff operieren, um sich daraufhin vorgeblich als Philosophen der Geschichte anzunehmen, obwohl sie sich von keiner Vernunfteinsicht leiten lassen, die auf Vernunft gegründet ist. Beide Tübinger sind als Philosophen nicht von Vernunft, die Vernunft ist, sondern von Vernunft, die religiöser Glaube ist, geleitet. Anstatt vor seinen Hörern als aufklärender Philosoph aufzutreten, hat Hegel sich zu einem verklärenden homo religiosus gemacht, der für seine wirkungsmächtige Vernunft die »Vorsehung« braucht, den »an und für sich seiende[n] Endzweck«, die »wahre[n] Grundsätze der Sittlichkeit«. Als protestantischer und ja nicht katholischer Christ ist Hegel durchdrungen von der »Einheit der göttlichen und menschlichen Natur«, von der Göttlichkeit der Idee des Staates, die im preußischen Polizeistaat und im germanischen Reich Wirklichkeit geworden ist. Das Humanum, wie in Wesensphilosophien üblich, wird zum Divinum. Die Natur des Menschen, sein Divinum, macht es, daß die Erziehung zur Religion das eigentliche Ziel seiner Erziehung ist. Religion ist so für Hegel die Grundlage des Staates als der existierenden Sittlichkeit. Zur Religion erzogen zu werden heißt demnach: Der Mensch wird »zu dem erzogen, was ist, und nicht zu dem, was nicht ist«. Damit sind 302 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Nachwort

auch Kirche und Staat »versöhnt«: »So ist also das Prinzip der Versöhnung von Kirche und Staat aufgetreten, in dem die Geistlichkeit in der Weltlichkeit ihren Begriff und ihre Vernünftigkeit hat und findet«. Nicht zu Unrecht erkennt der hegelbegeisterte Pastor an St. Bartholomäus in Berlin und Herausgeber von Hegels Vernunft in der Geschichte (Berlin 1920) Georg Lasson den »Jungbrunnen […], aus dem ihm [dem Nachwuchs unserer Nation] die Kraft zur Erneuerung des deutschen Wesens zuströmen wird«. Göttliche und menschliche Natur zu vereinigen, ebenso Glauben und Wissen, Vernunft und Wirklichkeit – mehr kann der Wesens- und Einheitsdenker kaum tun, um den Menschen, der sich über sich selbst als Mensch zu verständigen sucht, in die Irre zu führen. Was Hegel an Verblendungskraft aufgebracht hat, ist ungeheuerlich: das Erdenken eines an und für sich bestehenden Endzwecks von allem Geschehen, den die Vernunft in allem Geschehen zielsicher ansteuert. Der Erfolg konnte nicht ausbleiben. Studierende, die sich der Zufälligkeit und Sinnlosigkeit des Lebens ausgesetzt sehen, der eigenen Unsicherheit und Langeweile, lassen sich nur zu gerne von mit hohem Ton vorgetragenen Sinngebungen mitreißen. Diese reißen aber nicht mit, weil sie überzeugen, sondern sie überzeugen, weil sie mitreißen. Der Wille nach Verklärung, nicht nach Aufklärung herrscht. Die Blendung wird zum Licht für Leben und Weltaufenthalt. Fragt man sich, ob das, was Hegel als Erkenntnis und Wissen vorgibt, erhellend aufgeklärt sich aber als einheitliches Werk von Denk- und Glaubenskunst erweist, heute noch zur Verständigung des Menschen beitragen kann, dann kann die Antwort nur Nein lauten. Die einzig durchschlagende Methode bei Hegel ist die der petitio principii (begging the question). Die für Beweisgänge untaugliche, wundervolle Poesie religiösen Glaubens hat immer schon vorentschieden, was zu beweisen gewesen wäre. Hegel hat seinen unverlierbaren Ort in der Philosophie- und Geistesgeschichte gefunden, in einer Geschichte, die 303 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Nachwort

vergangen und, um mit Hegel zu sprechen, »für uns ein Vergangenes« ist. Heidegger gibt sich als Aufklärer, und er hat auch in der Tat Erhellendes zu sagen. Als scharfsinniger, feinsinniger, engagiert anteilnehmender Beobachter seiner Zeit gelingt es ihm, als könnte er wittern, auf Vorgänge und sich abzeichnende Entwicklungen aufmerksam zu machen, die er in seiner Bedeutung für Erde und Mensch oftmals vor anderen wachen Geistern seiner Zeit erkennt. Früh, schon in den 20er Jahren, macht er auf das »Wüten« der Technik aufmerksam. 1949 wählt er für seine Vorträge vor den Honorationen Bremens den Titel »Einblick in das, was ist«, ein reiner Aufklärungstitel. Was er dabei wesentlich zu zeigen vorhat, ist das Unwesen der Technik. Und bereits damit fängt er wieder an, aus seinem Verklärungspotential zu schöpfen. Seine Vorträge, die sich mit dem Wüten der Technik auseinandersetzen, reden kaum von der Technik, etwa von einem Kraftwerk im Rhein. Was er als Seinsdenker einzig im Sinn hat, ist das Wesen der Technik. Damit ist das, was den Menschen des neoliberalen Zeitalters und sein Verhältnis zur Erde gefährdet, auch schon dem mystischen Denken und prophetischen Verkünden ausgeliefert. Wer sich dem anvertraut, hat auf »Künftige« und »Einzigste« vorzublicken, die erdacht sind, dem alles lichtenden und alles heilenden Blitzereignis des »Seyns selber«, diesem jähen Welten der künftigen Welt die Stätte zu bereiten. Und durch was soll das geschehen? Durch nichts Anderes und Weiteres als durch das von Heidegger angestoßene mystische Erdenken eben des Seyns selber als des einzig-einen Sein-Gebenden und Sein-Lassenden. Das ist kein gutes Omen für das Ergebnis der kritischen Nachfrage, wie es denn bei diesem beredt-verschwiegenen Wesens- und Einheitsdenker um den Gedanken des menschlichen Menschen steht. Heidegger in seiner immer neu beeindruckenden Genialität hat klar erkannt, daß philosophische Suchende, die noch nicht durch 304 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

Nachwort

angelernte Philosophie um ihre Offenheit gebracht sind, im Innersten nicht auf Aufklärung eingestimmt sind, sondern vielmehr auf Verklärung. Im sicheren Bewußtsein der Einzigkeit seiner philosophischen Position hat er diese Erkenntnis genutzt, sich auch wirklich als der Einzige durchzusetzen und zu behaupten, der es vermag, dem Menschen als dem Menschen-wesen den einzigen Weg zu weisen, er selbst zu sein. Er sah für sich selbst darin keine Anmaßung. Das Bewußtsein, Einzigartiges zu vermögen, war nahtlos mit der sich immer neu vergewissernden Gewißheit verbunden, auch einzig zur Rettung des Menschenwesens berufen zu sein. Er wußte sich als Seinsdenker von der gesamten ontologischen Tradition dadurch absolut getrennt, daß er als Einziger das reine Daß-Sein denkt, das ohne jedes Was ist, ein »nacktes« Daß, das obendrein noch selbsthaft agiert. Diese Selbsteinschätzung läßt verstehen, was er in den 30er Jahren für sich notiert: »Die Philosophie ist die Verklärung des Seins« (GA Bd. 94, S. 252). Hegel hat sich dem Wissen verschlossen, daß er verklärt. Heidegger wollte verklären. Und er hatte auch einen guten, einmal mehr genial gefundenen Grund dafür: »Nur was verklärt, hat Kraft« (ebd., S. 263). Aufklärung ist ernüchternd; Verklärung ist mitreißend. Das ist das Gefährliche an ihr: Sie macht unverantwortlich, macht Menschen zu Unmenschlichem fähig. Als Königsweg, Heideggers Menschenwesen mit der Frage nach dem Menschlichen zu kommen, entdeckt sich seine, nur dem Wortlaut nach traditionelle, Unterscheidung der Wenigen und der Vielen. Sind die Vielen für Heraklit wie für Platon unedel und schlecht, an der eigenen philosophischen Existenz gemessen, nicht des Menschseins werte Menschen, dann geht Heidegger noch einen ungeheuerlichen, für sein Seinsdenken nur konsequenten Schritt weiter: Sie verdienten keinerlei Mitleid (GA Bd. 97, S. 129), seien unerwünscht in der Gegenwart der Wenigen (GA Bd. 94, S. 23), gehörten eigentlich vernichtet (GA Bd. 65, S. 113). Die Begründung: sie seien Lebewesen, nicht 305 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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Seinswesen, Biomasse, nicht Denkwesen. Das entindividuierte Seins- und Denkwesen gibt es noch nicht. Einmal schreibt der Prophet das Jahr 2327 auf, exakt 400 Jahre nach dem Erscheinen von Sein und Zeit, da man anfängt, seine Schriften verständig zu lesen. Sein Mantra »Es geht nicht um den Menschen, sondern um das Seyn« (GA Bd. 94, S. 230) nimmt schwindelerregende Züge an, wenn er das um Jahrhunderte vertagte Menschenwesen in ein großgeschriebenes »Dort« verlegt, dorthin nämlich, »wo der Mensch sich längst verlassen und in den höchsten Auftrag seines Wesens gefunden hat« (GA Bd. 94, S. 71). Sein Auftrag aber heißt, für das Sein gebraucht zu sein, nicht für den Menschen, sich für das Sein zu opfern und sich nicht um Andere zu kümmern. Die erträumte Welt der Geduld und Güte, die er, weil er zwei »G« in seinem Namen hat, als seine eigenen Tugenden reklamiert (GA Bd. 94, S. 273; GA Bd. 97, S. 221), die Welt des »unversehrten« Seins und der wieder »unversehrten« Erde, ist eine Welt ohne demokratische Menschenmenge und biologische Menschenmasse. Wir alle, das meint für Heidegger das »europäische Menschentum«, seien noch unreif für die künftige Welt, »weil es Ableger von ›Leben‹ (zôê) und ›Lebewesen‹ (zôon) geblieben ist« (GA Bd. 97, S. 220). Solange der Mensch gesellig ist, miteinander redet, auch schwätzt, Tisch und Bett teilt, sich nicht selbstisch auf sich zurücknimmt – auf den eigenen Boden, das eigene Blut, die eigene Heimat, ja auf das Eigenste, das eigene Selbst als ein entindividuiert geistiges –, könne der Mensch »nicht anfangen«, sein Wesen zu sein. Kein Wunder, daß es gezielt das Christentum und Goethe sind, die sich ihm als Widerpart anbieten, als Verhinderer der von ihm ganz anders prophezeiten Humanität, die einzig darin besteht, opferbereit dem »Seyn selber« übereignet zu sein. Allein die »Einzigsten«, diese Phantome der Zukunft, sind, wie es Heidegger heimatlich faßt, dazu berufen, den Acker zu pflügen, in den der »Same des Ereignisses« gesät wird, aus dem das wesende und waltende, ja stoßend-ereignishafte Seinsgeschick den wesenden, nicht lebenden Menschen hervor306 https://doi.org/10.5771/9783495817735 .

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wachsen läßt (GA Bd. 97, S. 220). Dieses Geschick ist, wie Heidegger nach Ende des durch deutsches Tun verursachten und geprägten Zweiten Weltkriegs wiederholt herausstellt, wenn es sich denn »ereignet«, ein deutsches (GA Bd. 97, S. 51) – begleitet vom Vorbeigang des letzten Gottes, der nicht weniger als ein deutscher erdacht ist. Die zerstörerische Kraft dieser philosophischen Verklärung ist evident. Mag sie auch verstörte Nationalisten und nach Mystik Begierige noch heute und morgen mitreißen, so hat sie doch keine Kraft mehr, das Nachdenken über gelingendes Menschsein im gelebten Miteinander im Keime zu ersticken. Diese Philosophie hat sich selbst als unwillig und untauglich erklärt, über den menschlichen Menschen nachzudenken. Daß Heidegger anders gelebt als gedacht hat, ist im Übrigen reichlich bezeugt.

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