Der maskierte Eros: Liebesbriefwechsel im realistischen Zeitalter 9783110272291, 9783110272086

This book contains love correspondences between Otto von Bismarck, Adalbert Stifter, Leopold von Sacher-Masoch, Ernst Ha

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German Pages 361 [364] Year 2012

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Table of contents :
1 Einleitung
1.1 Liebesbriefkultur im realistischen Zeitalter – Revision eines Mythos
1.2 Gefühlsexzesse und Entsagungskonzepte
1.3 Intimität, Imagination, Inszenierung (Erzählen, Beschreiben, Detail)
1.4 Stendhals Konzept der Kristallisation
1.5 Körperferne und Zeichenlust (Dynamisierungsstrategien des Liebens)
1.6 Ein „fremdwichtiges Ding“ – Objektivierungen und Rituale der Wirklichkeitsaneignung
2 Literaturliebe zwischen Affirmation und Sprachkrise – Otto und Johanna von Bismarck
2.1 Romantische Widersprüche
2.2 Suggestion und Missverständnis
2.3 Nur über ihre Leiche
2.4 Der nervöse Liebhaber
2.5 Byron – Literaturliebe als Zitierverfahren
2.6 Idylle und Epopöe im epischen Brief
3 Obsessive Kommunikation – Leopold von Sacher-Masoch
3.1 Masochismus als Literaturliebe
3.2 Sexuelles Brieftheater
3.3 Projektion und Kommunikation
3.4 Projektion als Interaktion – Sacher-Masoch und Mataja
3.5 Masochistische Utopien – Ausgleich als Nebeneinander von Arbeit und Lust
4 Adalbert Stifter oder die Vollendung der Briefliebe
4.1 Adalbert Stifter, ein Autor in Briefen
4.2 Briefidentität als Kreuzungspunkt zwischen „Leben“ und „Werk“
4.3 Literarisierungen und Verkapselungen eines zaghaften Liebhabers
4.4 Entsagung als Rückzug oder Aufbruch
4.5 Die Entdeckung der Zeichen
4.6 Pragmatismus und Zeichenwut – der Briefwechsel mit Amalia Stifter, geb. Mohaupt
4.7 Schreibarbeit am Glück
4.8 Entrückte Intimität und ihre Medien
5 Zellenliebe – Ernst Haeckel und Frida von Uslar-Gleichen
5.1 Naturalistische Literaturliebe
5.2 Der Dualismus Liebe/Wissenschaft und der Weg zu Darwin
5.3 Entsagung als Resignation
5.4 Die Liebe nach Darwin – Frida von Uslar-Gleichen
5.5 Bilder der Resignation
5.6 Spinozistischer Fatalismus
6 Schluss
Bibliographie
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Der maskierte Eros: Liebesbriefwechsel im realistischen Zeitalter
 9783110272291, 9783110272086

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Roman Lach Der maskierte Eros

Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als

Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von

Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer

Herausgegeben von

Ernst Osterkamp und Werner Röcke

74 ( 308 )

De Gruyter

Der maskierte Eros Liebesbriefwechsel im realistischen Zeitalter

von

Roman Lach

De Gruyter

ISBN 978-3-11-027208-6 e-ISBN 978-3-11-027229-1 ISSN 0946-9419 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Il y a certainement de la vanite´ dans l‘amour comme dans toutes nos affections imparfaites, et dans nos projets les plus se´rieux sur la terre. On trouvera toujours de la vanite´ dans les efforts de l‘homme, dans l‘inquie´tude de son esprit, dans les mouvements de son cœur; on sentira ce vide irre´mediable dans les biens que le temps ame`ne, qui ne peuvent subsister, que les de´sirs embellissent, et que la possession dissipe. Se´nancour, De l‘Amour What is imagination? Perhaps it is the shadow of the intangible truth, perhaps it is the soul‘s thought. Rider-Haggard, She (The tombs of Koˆr) Gegensätze mögen anziehen, aber Uebereinstimmung allein hält zusammen. John Stuart Mill (Motto zu Leopold von SacherMasoch: Marzella oder das Märchen vom Glück)

Vorbemerkung Ich danke Renate Stauf, die diese Arbeit im Rahmen des Projekts „Kulturgeschichte des Liebesbriefs“ mit Anregungen und konstruktiver Kritik durchgehend in einer intensiven und immer wieder motivierenden Weise begleitet und unterstützt hat, wie ich sie bis dahin nicht kennengelernt habe. Im Rahmen des von ihr und Cord Berghahn geleiteten Braunschweiger Oberseminars eine Zeitlang an diesem Projekt mitgearbeitet zu haben, die immer lebendigen, bereichernden, oft bis spät in die Nacht gehenden Diskussionen eigener und anderer Arbeiten mitgeführt zu haben, zähle ich zu den Glücksfällen meiner wissenschaftlichen Laufbahn. Da ich nicht allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern einzeln danken kann, danke ich allen und hebe nur meine beiden Freunde Andrea Hübener und Jörg Paulus ein wenig heraus, deren Arbeiten, auf deren Erscheinen im Druck ich schon gespannt warte, thematisch am engsten mit meiner in Verbindung stehen und die mir inhaltlich und moralisch immer wieder auf die Sprünge geholfen haben. Darüber hinaus danke ich auch den Gutachterinnen dieser Habilitationsschrift, Irmela von der Lühe und Linda Simonis, die sich die Mühe der eingehenden Lektüre und genauen und für mich überaus hilfreichen Beurteilung gemacht haben, und auch Annette Simonis, neben Renate Stauf und Jörg Paulus Mitinitiatorin der „Kulturgeschichte des Liebesbriefs“, die mir immer wieder Hilfe geboten und mir die Augen für neue Bereiche, vor allem auch im Feld der Literaturtheorie, geöffnet hat. Ohne sie wäre mir das hier bearbeitete Material zwischen den Fingern zerronnen. Danken möchte ich auch Peter Hempel, der mir Bismarcks Briefe an die Braut und Gattin mit dem Hinweis geschenkt hat, hier gäbe es einen wunderbaren Autor zu entdecken – was sich zu meinem Vergnügen und zum Vorteil meiner Darstellung, die von hier aus argumentativ Kontur gewann, bewahrheitet hat. Ich danke aber auch der Otto-von-Bismarck-Stiftung und hier ganz besonders Andrea Hopp, die mir aus ihrer eigenen Arbeit heraus die Mikrofiches der Briefe Johanna von Bismarcks spontan und

VIII

Vorbemerkung

unkompliziert zur Verfügung gestellt hat, und ich danke der Prager Nationalbibliothek für die Einsicht in das Adalbert-Stifter-Archiv (und hier ganz besonders Herrn Nikolay Balchev für seine freundliche Geduld und Hilfsbereitschaft. Einzelne Briefe von Otto oder Johanna von Bismarck, von Adalbert und Amalia Stifter, die hauptsächlich nach den gängigen, in den Fußnoten angegebenen Ausgaben (die, was die Textüberlieferung betrifft, sich im Abgleich mit den Manuskripten als größtenteils zuverlässig erwiesen haben) zitiert wurden, habe ich nach den von diesen beiden Institutionen freundlich zur Verfügung gestellten Manuskripten korrigiert und in solchen Fällen jeweils in den Fußnoten darauf hingewiesen. Dank geht auch an Peter Stachel, der mich auf die Spur der kalobiotischen Lehren geführt hat, deren Bedeutung für das, was im 19. Jahrhundert die „österreichische Staatsidee“ genannt wurde und aus der Distanz von heute der „habsburgische Mythos“ ist, in ihrem ganzen Umfang darzustellen nur Peter Stachel selbst imstande sein wird. Ganz besonders, und nur auf dem Papier zuletzt, danke ich auch meinem Bruder Benjamin Lach fürs Korrekturlesen und Christian Scholtyssek, der die Arbeit druckfertig gemacht hat.

Hinweis Fremdsprachige Texte werden zur Bequemlichkeit des Lesers in Übersetzung wiedergegeben, sofern diese Texte nicht selbst – wie im Falle der Stendhalschen Episode des Rameau de Salzbourg und einiger Gedichte Byrons – Gegenstand von Interpretationen sind und daher im Original, bzw. mit dem Originaltext in der entsprechenden Fußnote, wiedergegeben werden. In den Fällen, wo keine deutsche Übersetzung verfügbar war, habe ich diese jeweils selbst besorgt. Das Kapitel über den Briefwechsel zwischen Otto und Johanna von Bismarck, geb. Puttkamer stellt eine umfassende Überarbeitung und Erweiterung meines Aufsatzes „Die todeselenden englischen Gedichte“. Romantische Krisen in Otto von Bismarcks und Johanna von Puttkamers Briefwechsel der Brautzeit dar, der in dem Sammelband „Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart“, hg. Renate Stauf, Annette Simonis und Jörg Paulus, Berlin, New York (de Gruyter) 2008 erschienen ist (S. 129–150).

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Liebesbriefkultur im realistischen Zeitalter – Revision eines Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Gefühlsexzesse und Entsagungskonzepte . . . . . . . . . . . . . 1.3 Intimität, Imagination, Inszenierung (Erzählen, Beschreiben, Detail) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Stendhals Konzept der Kristallisation . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Körperferne und Zeichenlust (Dynamisierungsstrategien des Liebens) . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Ein „fremdwichtiges Ding“ – Objektivierungen und Rituale der Wirklichkeitsaneignung . . . . . . . . . . . . . 2 Literaturliebe zwischen Affirmation und Sprachkrise – Otto und Johanna von Bismarck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Romantische Widersprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Suggestion und Missverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Nur über ihre Leiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Der nervöse Liebhaber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Byron – Literaturliebe als Zitierverfahren . . . . . . . . . . . . 2.6 Idylle und Epopöe im epischen Brief . . . . . . . . . . . . . . . .

1 1 32 43 45 57 64 85 85 107 128 132 139 164

3 Obsessive Kommunikation – Leopold von Sacher-Masoch . 3.1 Masochismus als Literaturliebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Sexuelles Brieftheater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Projektion und Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Projektion als Interaktion – Sacher-Masoch und Mataja 3.5 Masochistische Utopien – Ausgleich als Nebeneinander von Arbeit und Lust . . . . . . . . . . . . . . . .

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4 Adalbert Stifter oder die Vollendung der Briefliebe . . . . . . . 4.1 Adalbert Stifter, ein Autor in Briefen . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Briefidentität als Kreuzungspunkt zwischen „Leben“ und „Werk“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Literarisierungen und Verkapselungen eines zaghaften Liebhabers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

4.4 Entsagung als Rückzug oder Aufbruch . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Die Entdeckung der Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Pragmatismus und Zeichenwut – der Briefwechsel mit Amalia Stifter, geb. Mohaupt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7 Schreibarbeit am Glück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8 Entrückte Intimität und ihre Medien . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Zellenliebe – Ernst Haeckel und Frida von Uslar-Gleichen 5.1 Naturalistische Literaturliebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Der Dualismus Liebe/Wissenschaft und der Weg zu Darwin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Entsagung als Resignation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Die Liebe nach Darwin – Frida von Uslar-Gleichen . . . 5.5 Bilder der Resignation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6 Spinozistischer Fatalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1 Einleitung Aber wie sparsam und tropfenweise wird einem in allen diesen Büchern das wenige Reelle zugezählt! Und welche Reisebeschreibung, welche Briefsammlung, welche Selbstgeschichte wäre nicht für den, der sie in einem romantischen Sinne liest, ein besserer Roman als der beste von jenen? Friedrich Schlegel, Brief über den Roman

1.1 Liebesbriefkultur im realistischen Zeitalter – Revision eines Mythos Was hat die durch die poetische Litteratur geübte Suggestion gerade aus dem für die Gattungserhaltung wichtigsten Gefühle, aus der Liebe gemacht! Kein anderer Grundtrieb des Menschen ist so wie sie verkünstelt, aus seiner wahren Richtung gedrängt und ungesund umgezüchtet, keine andere psychische Erscheinung ist so wie sie verfälscht und systematisch verdunkelt worden.1

Max Nordaus Invektive gegen die „Literaturliebe“, geführt im Namen Schopenhauers, des Philosophen des Unbewussten Eduard von Hartmann, und Charles Darwins, stellt die radikale Zuspitzung eines Konflikts dar, der der Beschäftigung mit der „zarten Leidenschaft“ im „bürgerlichen Zeitalter“ (um Peter Gays Etikett für die hier in den Blick zu rückende Epoche zu übernehmen2) eingeschrieben ist und in der naturalistischen Radikalisierung endgültig aufbricht: Es ist der Gegensatz zwischen dem, was das neunzehnte Jahrhundert unter den Begriffen „Idealismus“ und „Realismus“ fasst: Weit mehr als nur philosophische Richtungen, sind das Lebenshaltungen, an die sich Pakete von Traditionen, Dichtungen, ererbten geistigen Gütern, ausgedehntestes Forschen, ja die Suche nach einer Weltformel knüpfen. 1 Max Nordau: Zur Naturgeschichte der Liebe, in: ders.: Paradoxe. Neue Ausgabe. Leipzig (Victor Ottmann) 1891, Zweite Hälfte, S. 261–277, hier 261. 2 Peter Gay: Die zarte Leidenschaft. Liebe im bürgerlichen Zeitalter. München (Beck) 1987.

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1 Einleitung

Man nennt die Zeit nach 1848 in Bezug auf die europäische Literatur das Zeitalter des Realismus und meint damit den komplizierten und schmerzhaften Prozess der Überwindung der Romantik hin zu einem illusionslosen Ins-Auge-Fassen der Wirklichkeit, von der „bataille re´aliste“3 spricht man in Frankreich, in Deutschland zitiert man in diesem Zusammenhang gern Max Webers „Entzauberung der Welt“. Doch der deutsche „poetische Realismus“ bekämpft den Idealismus der Romantik ebenso wie den des Vormärz und die Unsittlichkeit der „neufranzösischen“ Literatur, denen allesamt die Unterminierung des Behagens an der Wirklichkeit vorgeworfen wird, so dass sich das „Programm“ des programmatischen Realismus zwischen den zahlreichen hin und herdiskutierten „Dualismen“ kaum noch einer eindeutigen Richtung zuordnen lässt.4 Der Mythos einer dialektisch-teleologischen Entwicklung in die Offenheit und metaphysische Heimatlosigkeit der Moderne, der Mythos einer nach Phasen strukturierten Entwicklung des neunzehnten Jahrhunderts vom Idealismus zum Naturalismus wurde lange Zeit von der Literaturwissenschaft aufrechterhalten und erst in letzter Zeit in verschiedener Hinsicht und an unterschiedlichen Punkten in Frage gestellt5, allerdings unter vehementer Ablehnung beispielsweise durch die maßgebliche Realismusforschung, die sich 3 E´mile Bouvier: La bataille re´aliste. 1844–1857. Paris (Fontemoing) 1913. Reprint: Genf (Slatkine) 1973. 4 In der Forschungsliteratur zum deutschen Realismus ist die negative Bezugnahme auf die französische Literatur bisher nur ansatzweise erforscht. Auch in neuesten Überblicksdarstellungen wird sie bestenfalls knapp angedeutet (Hugo Aust: Realismus. Lehrbuch Germanistik, Stuttgart, Weimar (Metzler) 2006, S. 78). Größtenteils ist der Blick der deutschen Realismusforschung bisher aber immer noch ein national beschränkter. Claudia Stockinger: Das 19. Jahrhundert. Zeitalter des Realismus, Berlin (Akademie Verlag) 2010 zieht zwar zahlreiche intermediale Vergleiche und ordnet das Konzept des Realismus in einen kulturellen Diskurs ein, der zahlreiche neue Perspektiven eröffnet (vgl. auch die folgende FN), spart aber die gerade im Zeitalter der sich gründenden Nationalismen so wichtigen innereuropäischen Anlehnungs- und Abgrenzungsbewegungen aus. 5 Interessant sind hier neuestens die beiden einander reflektierenden Kapitel Realismus als Antiromantik und Realismus als Vollendung der Romantik in Claudia Stockingers Studienbuch Das 19. Jahrhundert. Zeitalter des Realismus (a. a. O.), S. 37–50, das insgesamt eine Vielzahl neuer Zuordnungen und Perspektiven eröffnet, etwa durch die Einbeziehung der wichtigen Diskussion um die Karikatur, die hier nur erst andeutungsweise gewürdigt werden können. Wichtig sind hier auch z. B. Gerhard Plumpe: Vorbemerkung/Einleitung, in: Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848–1890, hg. v. Edward McInnes und Rolf Grimminger, München (Hanser) 1996, S. 7–83 und Sabina Becker: Bürgerlicher Realismus. Literatur und Kultur im bürgerlichen Zeitalter 1848–1900, Tübingen, Basel (Francke) 2003.

1.1 Liebesbriefkultur im realistischen Zeitalter – Revision eines Mythos

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dem synkretistischen Charakter ihres Gegenstandes, wenn überhaupt, nur zögernd öffnet.6 Dennoch ist es ein Mythos, dem – wie man nicht nur an Nordaus Polemik erkennen kann – das neunzehnte Jahrhundert als Prozess einer „Entzauberung der Welt“7 selbst huldigt. Vom Entwicklungs- und Fortschrittsgedanken losgelöst, erscheint er in der historischen Draufsicht als nur schwer zu überschauendes Geflecht dezentraler Kleinkonflikte in unterschiedlichen Abhängigkeitsverhältnissen, die jeweils zwischen merkwürdig zugespitzten Begriffen von Ideal und Wirklichkeit, Religion und Realismus bzw. deren Ablegern geführt werden. Dabei geht es nicht immer so radikal und ausschließlich wie bei Max Nordau um die völlige Eliminierung einer bestimmten Geisteshaltung, sondern weit häufiger um Art und Mengenverhältnis der „richtigen“ und „gesunden“ Mischform. Der „poetische Realismus“ in der Literatur, in Deutschland sicher das erfolg- und folgenreichste dieser Misch6 Nach wie vor zeigt sich die Realismusforschung in ihren Hauptdarstellern als Bollwerk gegen methodische Auflösungserscheinungen wie dekonstruktivistische Literaturtheorie (die man mittlerweile sicherlich für „besiegt“ halten wird) oder die Hinterfragung des Epochenkonstrukts: „Die verflüssigenden, fraktalisierenden und dezentralisierenden Tendenzen der jüngeren Forschung richten sich ja nicht nur gegen eine überholte Konvention der epochenbildenden Vereinheitlichung und Trennung, sondern betreffen die Leistung von Begriffen überhaupt und müssen auf dieser Ebene ihrerseits kritisch befragt werden. Das alternative Schlagwort von der ,Literaturgeschichte als permanente[r] Umbaulandschaft‘ (Sigrid Thielking: Didaktik der Literaturgeschichte als permanente Umbaulandschaft. Zum Beispiel: ,Poetischer‘ Realismus, in: Der Deutschunterricht, 55,6 (2003), S. 44–53) suggeriert zwar situationsadäquate und dynamische Handlungskompetenz, droht aber auch zum bloßen Leerlauf permanenten Umräumens zu verkommen; schlimmer noch: Es verkennt die in jedem Fall auszuhandelnden Rahmenbedingungen für ,Bauten‘ und deren Umformung. Gerade die sich hier abzeichnende Architektur-Metaphorik erinnert an die Notwendigkeit von ,stabilen‘ Epochen-Bauten und ,bedürfnisorientierten‘ Epochen-Umbauten. Fließ- und Trennungskonzepte erhalten gerade durch den (metaphorischen) Bezug aufs Bauen ihre verlässlichen Grenzen oder freieren Öffnungen.“ (Aust: Realismus. Lehrbuch Germanistik, a. a. O., S. 6) In der Architekturmetapher bildet sich aber auch die ganze Problematik einer „realistischen“ Realismusforschung ab, die ein substanzielles Verständnis ihres Gegenstandes nicht preisgeben will und den synkretistischen Charakter des Realismus, die inneren Widersprüche seines Anspruchs und die in diesem Anspruch selbst liegende Offenheit meiner Ansicht nach immer noch verkennt. Zu den Schwierigkeiten teleologischer Konzepte für das 19. Jahrhundert vgl. auch Cord F. Berghahn, Einleitung zu: Das Wagnis der Autonomie. Studien zu Literatur, Kunst, Kultur und Architektur der Berliner Moderne um 1800 (Karl Philipp Moritz, Wilhelm von Humboldt, Heinrich Gentz, Friedrich Gilly, Ludwig Tieck). [erscheint 2012 im Universitätsverlag Winter, Heidelberg]. 7 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen (Mohr), 5. Auflage 1972, S. 308.

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1 Einleitung

konzepte (das inspiriert ist von Walter Scotts liberaler Romanpoetik eines Ausgleichs der Gegensätze), steht hierfür beispielhaft. Die Ideologeme verkanten sich immer hoffnungsloser ineinander, je weiter das neunzehnte Jahrhundert voranschreitet: die Überzeugung, sich mit seinen Idealen der Notwendigkeit fügen zu müssen, der Kompromiss mit den gesellschaftlichen Zuständen und der gleichzeitige Anspruch auf Selbstverwirklichung und autonome Entwicklung bestehen nebeneinander. Obwohl der „Kampf“ in Deutschland spätestens 1860 mit Heinrich Georg Bronns Übersetzung von Darwins On the Origin of Species8 zu einer die Weltanschauung bestimmenden Kategorie wird, ist der Kompromiss und der Ausgleich zwischen als Gegensatzpaar gedachten Prinzipien die in der Praxis am häufigsten verfolgte Bestrebung. Gerade im Umgang mit der Liebe zeigt sich das. In Liebesbriefwechseln der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wird fast immer nach einer „realistischen“ Liebe gesucht, die die Romantik nicht negiert, aber in ein lebbares Konzept von Ehe, Beruf und Alltag zu überführen und integrieren vermag. Ein Konzept, in dem individuelles Fühlen und gesellschaftliches Gesamtgefüge einander bedingen und ergänzen sollen. Waren das Junge Deutschland und sein politisches Umfeld in ihren Liebesforderungen und -beziehungen noch durchaus romantisch bedingungslos bis zur Selbstzerstörung, aber auch zur rücksichtslosen Missachtung des Partners, und zelebrierten sie ihr Lieben noch als gegengesellschaftlichen, revolutionären Akt9, so werden Konzepte des Ausgleichs nach 1848 immer wichtiger, die das Subjekt und sein Fühlen gesamtgesellschaftlich integrieren wollen. Zahlreiche, schon im späten 18. Jahrhundert aufkommende, aber im 19. Jahrhundert immer weitere Verbreitung findende, meist von Medizinern verfasste, Glückseligkeitslehren, die praktische Maßnahmen hierzu vermitteln wollen, belegen, wie sehr das Problem der „Bewältigung“ der Realität jetzt an die Stelle der Veränderung oder Revolutionierung tritt.10 8 Charles Darwin: Die Entstehung der Arten im Thier- und Pflanzen-Reich durch natürliche Züchtung, oder Erhaltung der vollkommensten Rassen im Kampfe um’s Daseyn. Übers. v. Heinrich Georg Bronn. Stuttgart (E. Schweizerbart’sche Verlagshandlung) 1860. 9 Vgl. hierzu Barbara Potthast: Liebe als Revolutionssurrogat – Zum Briefwechsel zwischen Therese von Bacheracht und Karl Gutzkow 1848/49, in: Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, hg. Renate Stauf, Annette Simonis und Jörg Paulus, Berlin, New York (de Gruyter) 2008, S. 107–128.

1.1 Liebesbriefkultur im realistischen Zeitalter – Revision eines Mythos

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Ferdinand Gregorovius gibt in seiner 1855 erschienen Schrift über Göthe’s Wilhelm Meister in seinen socialistischen Elementen eine die emanzipatorischen und ehereformatorischen Thesen des Jungen Deutschland und der George Sand bereits im Rücken habende Formel für dieses idealistisch-realistische Ehekonzept: [. . . ] wie das wahre sociale Verhältniß auf der Freiheit des Individuums als des in sich selbst fest gewordenen Menschen beruht, so beruht auch das eheliche Verhältniß, das Fundament aller Gesellschaft, auf der Freiheit der Neigung für sich bestimmter, weil mit einander stimmender Individuen. [. .. ] In Wilhelm und Natalien allein ist vermöge ihrer beiderseitigen ästhetischen Natur auch das schöne menschliche Bild der Harmonie von Mann und Weib gegeben, in welcher bei der Vernünftigkeit der Bestimmung für einander auch die selige Mitleidenschaft einer unendlichen Liebe zu einander soll bewahrt bleiben. Diese Gewalt des Sympathischen aber ist es, welche die Stagnation der Ehe in der Prosa der Angewöhnung verhindert und den dauernden Reiz geheimnisvoller Magie in die Alltäglichkeit legt. [Hervorhebung von mir, R. L.] Wäre dem nicht so, dann würde das Ideal der Ehe allerdings schon in der kantischen Definition erreicht sein und Wilhelm Heinse Recht haben, wenn er für das Glück der Ehe von dem Weibe nichts anderes fordert, als körperliche Tauglichkeit zum Kindererzeugen.11

Die Ehe erfüllt also nichts anderes, als das auf ein Paar übertragene Konzept des Bildungsromans, wie es als dialektische Verknüpfung 10 Vgl. Fritz Hartmann: Ethik in der Medizin als Diskurs über nicht restlos lösbare sittliche Spannungslagen, in: Zur Aktualität der Ethik Spinozas. Medizin/Psychiatrie, Ökonomie, Recht, Religion, hg. v. Klaus Hammacher, Irmela Reimers-Tovote, Manfred Walther, Würzburg (Königshausen und Neumann) 2000, S. 115– 151, S. 123f.: „in der zweiten Hälfte des 18. und der ersten des 19. Jh. gibt sie [die Medizin] doch der Versuchung nach, mit ihrem Mittel der medizinischen Volksaufklärung auch das menschliche persönliche Glück und die öffentliche Wohlfahrt unmittelbar zu fördern. [ . . . ] In Christoph Wilhelm Hufelands Makrobiotik oder die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern ist ja auf eine hoch moralische Weise die Verlängerungsmöglichkeit des Lebens als Glück, zumindestens als eine Voraussetzung von Glücklichwerdenkönnen, versprochen. In den auf die Veröffentlichung 1796 folgenden Jahrzehnten tritt dieser Gedanke immer deutlicher zutage. [ . . . ] Dieser [der Seelenheilkunde, R. L.] wendet sich 1838 der Wiener Psychiater Ernst Freiherr von Feuchtersleben mit Zur Diätetik der Seele zu. Es ist sein Bestreben, die Hufelandsche ,Makrobiotik‘ um eine ,Kalobiotik‘ zu vertiefen. [ . . . ] ,Das Grundgesetz der ganzen Seelendiätetik liegt darin, einen Moment durch den anderen zu mäßigen, einen durch den anderen zu erhöhen‘. [ . . . ] Welcher Zeitgeist veranlaßte einen Arzt wie Theodor Pinderit einen Vortrag Die Theorie des Glücks zu halten; und welcher den [von Adalbert Stifter hoch verehrten, hierzu mehr im entsprechenden Kapitel, R. L.] Wiener Internisten Karl Hartmann eine Glückseligkeitslehre für das physische Leben des Menschen zu schreiben?“ 11 Ferdinand Gregorovius: Göthe’s Wilhelm Meister in seinen socialistischen Elementen entwickelt, Schwäbisch Hall (Fischhaber) 1855, Reprint: University of Michigan 2010, S. 76f.

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1 Einleitung

aus subjektiver Freiheit und objektiver Notwendigkeit die literarischen Debatten der fünfziger Jahre weit mehr und weit apodiktischer umtreibt, als es Goethe selbst je beschäftigt hat. Diametral stellt sich diese positive Bewertung der gesellschaftsstabilisierenden Ehe der zynischen Kritik an der Bildungskonzeption entgegen, die noch Hegel in Bezug auf denselben Roman geäußert hatte.12 Individuelle Freiheit und Festigkeit, zugleich aber auch die Stabilität und „geheimnisvolle Magie“ der Paarbeziehung als ideeller Kern einer gesellschaftlichen Ordnung, die nichts Erstarrtes haben soll, sind das Ideal einer Ehe, die aufgeklärte Vernunft und romantische Poesie in ein Wechselverhältnis bringen soll. Diese Ordnung lebt in ihrem Innern von dem „dauernden Reiz“ als einer Art elektrischer Spannung, die sie erhält. Spannung, das wird sich zeigen, ist in der Tat das Prinzip, auf dem die hier in den Blick gerückte Liebesbriefkultur gegründet ist. Man müsste im Grunde beim Versuch einer Beschreibung einer Briefkultur und insbesondere einer Liebesbriefkultur in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zusammenführen, was KarlHeinz Bohrer13, Friedrich Sengle14 und Rainer Baasner15 als jeweilige Spezifika bestimmter Abschnitte des Jahrhunderts unter den Begriffen „romantischer Brief“, „Biedermeierbrief“ und „realistischer Brief“ analysiert haben, so sehr diese Konzepte einander auch gegenseitig ausschließen. 12 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Hg. v. H. G. Hotho. 3 Bde., Berlin 1835–38, B. 2, S. 217: „Denn das Ende solcher Lehrjahre besteht darin, daß sich das Subjekt die Hörner abläuft, mit seinem Wünschen und Meinen sich in die bestehenden Verhältnisse und die Vernünftigkeit derselben hineinbildet, in die Verkettung der Welt eintritt und in ihr sich einen angemessenen Standpunkt erwirbt. Mag einer sich auch noch soviel mit der Welt herumgezankt haben, umhergeschoben sein – zuletzt bekömmt er meistens doch sein Mädchen und irgendeine Stellung, heiratet und wird ein Philister, so gut wie die anderen auch: die Frau steht der Haushaltung vor, Kinder bleiben nicht aus, das angebetete Weib, das erst die Einzige, ein Engel war, nimmt sich ohngefähr ebenso aus wie alle anderen, das Amt gibt Arbeit und Verdrießlichkeiten, die Ehe Hauskreuz, und so ist der ganze Katzenjammer der übrigen da.“ 13 Karl-Heinz Bohrer: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1987. 14 Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815 – 1848. Bd. II: Die Formenwelt. Stuttgart (Metzler) 1972, S. 199–214. 15 Rainer Baasner: Briefkultur im 19. Jahrhundert. Kommunikation, Konvention, Postpraxis, in: Briefkultur im 19. Jahrhundert, hg. v. Rainer Bassner, Tübingen 1999, S. 1–36.

1.1 Liebesbriefkultur im realistischen Zeitalter – Revision eines Mythos

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Friedrich Sengle und Karl-Heinz Bohrer stimmen darin überein, dass der Brief in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts eines der wichtigsten Genres bildet, ja so etwas wie eine Leitform jeweiliger ästhetischer Ansätze sei, an der sich andere Literaturformen insgeheim orientierten. Der romantische Brief als Ort bekenntnishafter Selbstsuche und Subjektfindung ist für Bohrer die Plattform, auf der romantisches Schreiben experimentell gestiftet wird. Sengles Biedermeierbrief, der sich historisch betrachtet zu großen Teilen zeitlich mit dem romantischen Brief überschneidet, wäre die geselligere, mehr am Projekt des Symphilosophierens orientierte Form von Romantik gegenüber Bohrers Begriff der Romantik als radikalster Form des Subjektivismus (was bei Bohrer in eine Teleologie des Scheiterns führt, die zumindest zwei der von ihm in den Mittelpunkt gerückten romantischen Briefschreiber – Heinrich von Kleist und Karoline von Günderode – betrifft). Dieser von Bohrer nicht ohne Pathos gefeierte selbstzerstörerische Aspekt des „romantischen Briefs“ erhebt diesen zu etwas, das in der Tat so sehr das Gegenteil der in den Briefwechseln der vorliegenden Untersuchung zelebrierten Alltagskultur bildet, dass es auf den ersten Blick so aussehen mag, als schlössen sich „romantischer“ und bürgerlicher oder realistischer Brief von vornherein aus. Doch interessanterweise geht das Subjektivitätspathos im Brief des realistischen Zeitalters – man mag ihn auch den bürgerlichen Brief nennen – nicht verloren. Das zeigen die Briefe der Bismarcks oder Ernst Haeckels und seiner Geliebten sehr eindrucksvoll. Und durchaus darf man dieses bürgerliche Fortleben eines romantischen Subjekt-Kults nicht vorschnell als ein nur epigonales abtun (so sehr es sich selbst mitunter als solches verwirft), nur weil es sich mit den Umständen zu arrangieren versucht. Denn – um mit Richard David Precht zu sprechen – „Kaum ein Mensch erfindet von sich aus die Zutaten der Romantik.“16 Im Sinne einer solchen Epigonalitätsthese argumentiert dagegen noch Rainer Baasner, wenn er den nachromantischen Brief des neunzehnten Jahrhunderts als monologisch17, erzählerisch und konventionell charakterisiert. Als Absage an die Vorgängerepoche ver16 Richard David Precht: Liebe. Ein unordentliches Gefühl, München (Goldmann) 2009, S. 322. 17 Vor Baasner hat bereits Gustav Hillard den monologischen Brief als ein Indiz des Verfalls der Briefkultur gewertet (Gustav Hillard: Vom Wandel und Verfall des Briefes, in: Merkur 23 (1969), S. 343–351.)

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weigere er sich romantischem Gefühlsüberschwang bewusst: „Die bildungsbürgerliche Konversation bereits dient der konventionalisierten Bestätigung eines gemeinsamen Weltbildes, ihre Transformation ins Schriftliche ist letztlich um die Bekräftigung derselben Welthaltungen und Umgangsnormen bemüht.“18 Diese Auffassung muss meiner Einschätzung nach relativiert werden. Im Hinblick auf den Aspekt der Konventionalisierung bestätigen Baasners Ausführungen die schon von Nickisch formulierte, die Tendenz der Forschung zu diesem Gegenstand bündelnde These, den Höhepunkt deutscher Briefkultur bilde die Zeit zwischen 1790 und der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, deutsche Briefkultur sei also im weitesten Sinne eine Sache der Weimarer bzw. der Berliner Klassik und vor allem der Romantik. In der mit dem Vormärz konstatierten „Versachlichung“ und „Politisierung“ kann Nickisch demgegenüber nur unterschwellig eine Verfallsform von Briefkultur suggerieren.19 Bei allem „kultur-, literatur-, sprachstil-, sozial- und allgemeingeschichtlichen“ Interesse20 bleibt die Diagnose einer „Irritation der bedeutendsten Köpfe“ durch „drängende soziale Probleme“ und einer Flucht in die Defensive in Gestalt eines „SichZurückziehen[s] auf sich selbst“: In ihren Briefen bekundeten sich sehr unmittelbar ihre Bedrückungen, ihre Vereinsamung, ihre Desorientierung in Zeit und Gesellschaft. Viele ,Große‘ lebten einsam nebeneinander her: Der Briefwechsel mit wenigen Vertrauten oder Gleichempfindenden wurde die gern und viel benutzte Brücke aus der Einsamkeit heraus.21

So wird der Brief zum Medium des Versagens der „Großen“ und Verantwortlichen (Literaten, Wissenschaftler, Künstler und Politiker) an den Herausforderungen der Zeit, wie es dem Bürgertum und den Intellektuellen des neunzehnten Jahrhunderts immer wieder vorgeworfen wird. Er liefere selbst denen, die sich den drängenden politischen Fragen nicht verschließen (Nickisch nennt beispielsweise Büchner) einen Raum des Rückzugs, eine Gegenwelt jenseits des Gesellschaftlichen, den eigentlichen Ort des Biedermeier. In der Tat könnte man, wenn man einige der von Nickisch hier beispielhaft genannten Namen herausgreift, eine Verbindung ziehen zwischen den kreislerisierenden Briefen Georg Büchners an Wil18 19 20 21

Ebd. S. 15. Reinhard M.G. Nikisch: Brief. Stuttgart (Metzler) 1991, S. 57f. Ebd., S. 59. Ebd., S. 58.

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helmine Jaegle, die gewissermaßen den Innenraum eines an den gesellschaftlichen Zuständen verzweifelnden und wahnsinnig werdenden Menschen zeigen, und den trotzig als bewusst unzeitgemäßes Genre gegen den gesellschaftlichen Wandel gehaltenen Briefen eines Alexander von Villers, der sich in den Briefen eines Unbekannten22 kokett zum an der Wirklichkeit Gescheiterten erklärt. Beide ziehen eine scharfe Trennlinie zwischen Ich und Außenwelt und weisen dem Brief die Funktion zu, Abbild des inneren Zustands zu sein. So ist den Büchnerschen Verzweiflungsbriefen das Charakteristikum des Momentanen, Vorübergehenden in jedem Augenblick eingeschrieben. Sie zeigen einen Zustand, der sich aus bestimmten äußeren Konstellationen ergibt, diese Konstellationen aber nicht reflektiert, sondern ausschließlich erleidet. Ihre Funktion besteht darin, Zeugnis zu sein: Zeugnis des Am-falschen-Ort-, Nicht-beider-Geliebten-Seins.23 Sie sollen nicht einmal Kommunikation mit 22 Alexander von Villers: Briefe eines Unbekannten. Aus dessen Nachlaß neu hg. v. Karl Graf Lanckoron´ski und Wilhelm Weigand. 2 Bde. Leipzig (Insel) 1910. 23 Der Begriff des Zeugnisses, des Zeugen ist dabei durchaus in dem starken Sinne zu verstehen, in dem er bei Giorgio Agamben (Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge (Homo Sacer III). Übers. v. Stefan Monhardt. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2003) verwendet wird, als superstes, „der etwas erlebt hat, der ein Ereignis bis zuletzt durchgemacht hat und deswegen Zeugnis davon ablegen kann. [ . . . ] Es gibt einen nicht-juristischen Gehalt der Wahrheit, bei dem die quaestio facti niemals auf die quaestio iuris reduziert werden kann. Genau er ist die Sache des superstes: all das, was eine menschliche Handlung jenseits des Rechts führt, was sie dem Prozeß radikal entzieht.“ (14/15) Und: „Zeuge heißt auf Griechisch ma´rtys, Märtyrer. Die ersten Kirchenväter leiteten davon das Wort Martyrium ab, um den Tod verfolgter Christen zu bezeichnen, die auf diese Weise für ihren Glauben Zeugnis ablegten. [. . . ] Die Lehre vom Martyrium entsteht also, um das Skandalon eines sinnlosen Todes zu rechtfertigen. . . “ (24). Ich zitiere Agamben, der seine Thesen aus der Beschäftigung mit Primo Levis Texten über die nationalsozialistischen Konzentrationslager entwickelt, in diesem Zusammenhang nicht, um eine Vergleichbarkeit mit den in Büchners Briefen beschriebenen psychologischen Grenzzuständen zu behaupten oder überhaupt in irgendeiner Weise Unvergleichbares zu vergleichen (wenn hier der Anschein einer Vergleichbarkeit entsteht, so hat das letztendlich mehr mit Agambens essentialistischem Begriff des Zeugen zu tun, der mir im Übrigen mehr auf Büchners Fieber-Stil – auch Christian Schärf (vgl. FN 25) spricht in Bezug auf die Briefe an Jaegle von einer sich ankündigenden neuen „Prosa aus dem Abgrund der Fatalität, der epigonalen Schizophrenie und des totalen Mitteilungsverlusts“ (S. 26) – als auf Levis reflektierendes, sich auch selbst widersprechendes, suchend-tastendes Schreiben anwendbar zu sein scheint), sondern, weil das Zeugnis sicherlich das eine Extrem der Möglichkeiten einer Briefkultur im 19. Jahrhundert bildet, dessen Gegenstück in der Perspektive Baasners dann der „konventionelle“ oder stabilisierende Briefwechsel bilden würde. Mir geht es jedoch darum, aufzuzeigen, das beide ineinander spielen, zwei Seiten einer Medaille sind.

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der Geliebten sein, sondern nur dieser unmittelbare Abdruck. Büchner ist in diesen Briefen auf der Höhe seiner literarischen Arbeiten. Im rhapsodischen Ausmalen seines Zustands werden Beschreibungen zu Metaphern und Metaphern zu Beschreibungen und schaukeln sich wechselseitig hoch wie in den Natur-Psychoschilderungen des Lenz: Mein Schweigen quält dich wie mich, doch vermochte ich nichts über mich. Liebe, liebe Seele, vergibst du? Eben komme ich von draußen herein. Ein einziger, forthallender Ton aus tausend Lerchenkehlen schlägt durch die brütende Sommerluft, ein schweres Gewölk wandelt über die Erde, der tiefbrausende Wind klingt wie ein melodischer Schritt. Die Frühlingsluft löste mich aus meinem Starrkrampf. Ich erschrak vor mir selbst. Das Gefühl des Gestorbenseins war immer über mir. Alle Menschen machten mir das hippokratische Gesicht, die Augen verglast, die Wangen wie von Wachs, und wenn dann die ganze Maschinerie zu leiern anfing, die Gelenke zuckten, die Stimme herausknarrte und ich das ewige Orgellied herumtrillern hörte und die Wälzchen und Stiftchen im Orgelkasten hüpfen und drehen sah,– ich verfluchte das Conzert, den Kasten, die Melodie und – ach, wir armen schreienden Musikanten, das Stöhnen auf unsrer Folter, wäre es nur da, damit es durch die Wolkenritzen dringend und weiter, weiter klingend, wie ein melodischer Hauch in himmlischen Ohren stirbt? Wären wir das Opfer im glühenden Bauch des Peryllusstiers, dessen Todesschrei wie das Aufjauchzen des in Flammen sich aufzehrenden Gottstiers klingt. Ich lästre nicht. Aber die Menschen lästern. Und doch bin ich gestraft, ich fürchte mich vor meiner Stimme und – vor meinem Spiegel. Ich hätte Herrn Callot-Hoffmann sitzen können, nicht wahr, meine Liebe? Für das Modellieren hätte ich Reisegeld bekommen. Ich spüre, ich fange an, interessant zu werden. -24

Dieser Brief ist für Büchner ein textliches Spiegelbild, das ihm und der Geliebten zugleich die Visage einer Hoffmannschen Karikatur vorführt. Die gegen den Schreiber selbst gerichtete Ironie bricht dabei nichts auf, reflektiert nicht, sondern treibt nur den selbstquälerischen Prozess weiter. Diese Sprache, so Christian Schärf, ist nicht die „eloquente Verzweiflung“ der epigonalen Vormärzdichter, es ist eine Sprache vom „Abgrund der Sprachlosigkeit“, eine Sprache des bewusst riskierten Identitätsverlusts, sie „kommt aus dem Gegenpol der Großschriftstellerei und ihrer Nachahmungsversuche“.25 In diesem Sinne sind auch die Briefe Alexander von Villers‘ 24 Georg Büchner aus Gießen an Wilhelmine Jaegle in Straßburg, 8./9. März 1834. In G. B.: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente, Bd. 2: Schriften, Briefe, Dokumente. Hg. v. Henri Poschmann unter Mitarbeit von Rosemarie Poschmann. Frankfurt am Main (Deutscher Klassiker Verlag) 1999, S. 380f. 25 Christian Schärf: Werkbau und Weltspiel. Die Idee der Kunst in der modernen Prosa, Würzburg (Königshausen und Neumann) 1999, S. 26.

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eine Verweigerung gegenüber der Schriftstellerei. Wenn sich auch weniger eine räumliche als eine zeitliche Verrückung in seinen zwischen 1867 und 1880 verfassten Briefen abbildet, die aus der bewusst eingenommenen Haltung des seiner Zeit entfremdeten Einzelnen geschrieben sind, der zugleich sich selbst als Einzelnen nicht mehr zu fassen vermag und in der diskursiven, dem Schreiber entgleitenden Form des Briefs, in dem nichts gefasst, keine Haltung formuliert und kein Sinn aufgestellt werden muss, die einzige ihm gemäße Form des Ausdrucks findet: Der an sich glaubt, dem wird auch Selbstvertrauen nicht fehlen, das Selbstvertrauen, das andere zu ihm zwingt. Nun, Warsberg [d. i. der österreichische Reiseschriftsteller Alexander Freiherr von Warsberg, Freund und Briefpartner von Villers] glaubt an sich, glaubt nämlich, nicht an das „sich“, das auf langen Beinen einhergeht, sondern an das, was in ihm ist und ihn treibt. Sein Entzücken ist sein eigen, das fühlt sich durch, und glaubt man erst an den Autor, so glaubt man mit ihm zu empfinden. Darin liegts, deshalb haben auch nur die Beruf zur Schriftstellerei, die es dazu drängt. Manche, z. B. Sie und Lytton, meinen, auch ich könnte schreiben. das ist nicht wahr; die Feder, aus der Briefe fließen, kann deshalb nicht auch Bücher schreiben. Im Briefe red ich zu einem, dem ich, wie wir beide nun sind, etwas zu sagen habe. Schrieb ich ein Buch, wer stünde vor mir? Niemand, oder so viele, die mich stumm machen würden. Dazu kommt, daß ich gerade das, was ich allenfalls zu sagen hätte, um jeden Preis verschweigen will. Es ist übrigens wenig. Ich habe wirklich nichts zu sagen. Zum Sagen gehört vor allem Wissen. Ich weiß nichts, denn einiges ist nichts. Man erfährt das am besten, wenn man zu sagen versucht; da fehlts an allen Ecken; ich könnte kein Türschloß beschreiben; mit Schnallen und Schrauben allein ists ja nicht getan. Und wie mit dem Türschloß, so gehts mit allen Dingen. Beobachtung muß lange vorher vorausgegangen sein; Notizen auch, Erinnerung und Nachhilfe schriftlicher Aufzeichnung, auch Lesen und Studium in bestimmter Richtung.26

Beide Brief-Ichs beschreiben sich als instabil, passiv gegenüber der Außenwelt und begeben sich schreibend in einen Prozess, den sie nicht bestimmen oder beherrschen, sondern in dem etwas mit ihnen passiert. Für Büchner wie für von Villers ist der Brief die der Sinngebung vorausgehende Äußerungsform, das, was die Skizze für die Malerei ist, unmittelbarer Abdruck eines Augenblickszustands, Federstrich in Bewegung. Ja, für von Villers geht der Brief in gewissem Sinne sogar der Identitätssetzung voraus, wie oben stehendes Zitat 26 Brief an Rudolf Graf Hoyos vom 10. Januar 1878, in: Briefe eines Unbekannten (a. a. O.), Bd. 1, S. 240f. Vgl. auch Ralph-Rainer Wuthenow: Alexander von Villers’ „Briefe eines Unbekannten“, in: Baasner Briefkultur, S. 239–249.

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nahe legt. Schriftstellertum setzt ein Selbstbewusstsein voraus, das auf einem gesetzten Ziel beruht und auf einer Motivation, es zu erreichen. Das Subjekt des Bildungsromans (im Schillerschen Sinne27) steht hier einem konzeptlosen Ich gegenüber, das auf seinen „langen Beinen“ absichtslos durch die Welt geht und Dinge und Erfahrungen in keinen geordneten Zusammenhang von „Welt“ stellt. Die Bedeutung des Briefs liegt in seiner Vorläufigkeit. Damit ist er zugleich dezidiert Nicht-Werk, das, was Fontane einmal „historisch-romantisches Lüderlichkeitsmaterial“ nennt.28 Aus dieser Unfähigkeit, den Brief in ein bestehendes Konzept von Literatur einzuordnen, entwickelt sich aber wiederum bei einigen Autoren, etwa bei Rahel Varnhagen29 oder bei Adalbert Stifter, ein neuer Werkbegriff, der auf das Konzept des Briefes zurückgeht. Hier entstehen, lässt sich mit Jochen Strobel sagen, „im alltäglichen Vollzug, in einer das Leben mitbestimmenden Schreibpraxis immer wieder Texte, die den Rang des Literarischen beanspruchen können und wollen. Damit aber wird der Privatbrief zu einer ästhetikfähigen Gattung, die sich literarischen Schreibweisen öffnet“.30 Die Öffnung 27 Schiller über den Charakter des Wilhelm Meister am 5. Juli 1796 an Goethe: „Eine gewisse Welt ist ihm nun ganz neu, er wird lebhaft davon frappiert und während daß er beschäftigt ist, sich dieselbe zu assimilieren, führt er auch uns in das innere derselben und zeigt uns, was darin reales für den Menschen enthalten ist. In ihm wohnt ein reines und moralisches Bild der Menschheit, an diesem prüft er jede äußere Erscheinung derselben, und indem von der einen Seite die Erfahrung seine schwankenden Ideen mehr bestimmen hilft, rektifiziert eben diese Idee, diese innere Empfindung gegenseitig wieder die Erfahrung. [. . . ] Sein Gemüt ist zwar ein treuer aber doch kein bloß passiver Spiegel der Welt, und obgleich seine Phantasie auf sein Sehen Einfluß hat, so ist dieses doch nicht nur idealistisch, nicht phantastisch, poetisch aber nicht schwärmerisch; es liegt dabei keine Willkür der spielenden Einbildungskraft sondern eine schöne moralische Freiheit zum Grunde.“ (Goethe: MA 8.1, S. 196f.). 28 Brief an Elise Fontane vom 29. Januar 1873, in: Werke, Schriften und Briefe, IV: Briefe, Bd. 2: 1860–1878, München (Hanser) 1998, S. 425. Vgl. auch Gotthart Erler: Einleitung zu: Theodor Fontane: Der Ehebriefwechsel, Bd. 1. Große Brandenburgische Ausgabe, hg. v. G. Erler. Berlin (Aufbau) 1998, S. XXXII. 29 Vgl. hierzu Renate Stauf: „Wen ich nicht behandeln kann, der ist auch nicht für mich“. Liebe und Selbstverhältnis im Briefwechsel Rahel Varnhagens mit Alexander von der Marwitz, in: Tableau de Berlin 1786–1815. Hg. v. Claudia Sedlarz u. Iwan D‘Aprile. Hannover: Wehrhahn 2005, S. 331–353. 30 Jochen Strobel: Einleitung zu Vom Verkehr mit Dichtern und Gespenstern. Figuren der Autorschaft in der Briefkultur, hg. v. Jochen Strobel, Heidelberg (Winter) 2006, S. 7–32, hier S. 9. Jochen Strobel setzt diese Entwicklung bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts an, wo sich der Privatbrief „am Rande einer ebenfalls zu dieser Zeit neu entstehenden Diskursformation, der Literatur der Moderne“ zu situieren beginnt (ebd., S. 7). Er setzt die Namen Gleim und Kafka an den Anfang

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des Werks in die Wirklichkeit, ein von der Romantik begonnenes Projekt, wird hier mithilfe des Briefwechsels fortgesetzt. „Konventionalisierung“ ist entsprechend auch das Schlüsselwort in Baasners Darstellung: [D]ie Zeiten eines individualisierten epistolaren Sturm und Drang sind spätestens nach 1830 endgültig vorbei. Dieser Bereich mitsamt seinen Regeln und idiosynkratischen Variationen bildet ein eigenständiges kulturelles Feld. Es steht in Verbindung mit anderen Formen der Kommunikation, existiert aber im zeitgenössischen Bewußtsein und im kommunikativen Handeln als selbstständig organisierte und somit eingegrenzte Domäne.“31

Privatheit inszeniert, Baasner zufolge, hier letztendlich nichts mehr als die Gesichtslosigkeit und Ununterscheidbarkeit des modernen Bürgers. Gestiftet und Reglementiert werde diese Konvention durch die in riesigen Auflagen erscheinenden Briefsteller. Deren Vorgaben stellen, Baasners Ausführungen zufolge, letztlich die „Poetik“ des Briefs für das neunzehnte Jahrhundert auf: Vorgeformt durch Konventionen, inhaltlich geprägt durch Grenzen der Konversation und narrative Schau auf das eigene Leben, gewinnen Briefe ihre individuelle Ausdruckskraft vornehmlich über das System anwendbarer Rhetorik. Über die historische Distanz hinweg äußert sich das bei einer heutigen Lektüre darin, daß gelegentlich ausgefallene Ereignisse und Gedanken in der Darstellung herzlich langweilen, während manche Schilderung häuslicher Begebenheiten einen einnehmenden, spannenden Text abgibt.32

und das Ende einer modernen Konzeption von Autorschaft, die aus dem Geist der Intimität und Authentizität hervorgeht. Aber auch für Strobel steht Adalbert Stifter, der Brief und Werk konsequent zusammen denkt, in der Mitte dieser Linie (vgl. ebd., S. 14). Adalbert Stifter repräsentiert, ließe sich zuspitzen, sowohl die Vollendung einer Brief und Werk völlig gleichsetzenden Schreiberschaft, wie er an einem bestimmten Punkt, in der Figur des „Schattenstellvertreters“, die er für die brieflich übermittelte Fotografie seiner Frau prägt (vgl. das Kapitel zur StifterKorrespondenz), auch bereits den Kafkaschen „Verkehr mit Gespenstern“ vorwegnimmt, durch den sich im Brief eine vampirische Doppelgängerfigur konstituiert, die sich zwischen die Korrespondenten stellt (vgl. ebd., S. 23f.). Stifter kann das Projekt einer Briefliteratur allerdings auch nur deshalb fortsetzen, so meine im entsprechenden Kapitel vorgestellte These, weil er das, was „den Rang des Literarischen“ in der konventionellen Vorstellung ausmacht, den „Stil“, in seinen und den Briefen seiner Partnerin außer Acht lässt oder sogar ausdrücklich verwirft. 31 Rainer Baasner: Briefkultur im 19. Jahrhundert. Kommunikation, Konvention, Postpraxis, in: Briefkultur im 19. Jahrhundert. Hg. v. G. Baasner. Tübingen (Niemeyer) 1999, S. 1–36, hier: S. 13. 32 Ebd., S. 25.

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Richtig ist sicherlich, dass Schilderungen des Privaten und Schilderungen überhaupt in den Briefen des neunzehnten Jahrhunderts (parallel zur Zunahme der Beschreibungen in den Romanen des Realismus) einen enormen quantitativen Zuwachs erfahren. Inwiefern aber diese Schilderungen eine Entwertung des kommunikativen oder intimen Charakters des Briefs bedeuten, ob Schilderungen im Widerspruch zu inniger Zwiesprache stehen, Ausflucht sind ins Äußerliche, ins gesellschaftlich Abgesicherte, wäre zu hinterfragen. Vielleicht den Briefschreibern durchaus bewusst, kommt hier auch eine Suche zum Ausdruck, die das Dilemma bürgerlicher Briefkommunikation wie bürgerlichen Schreibens überhaupt überbrücken will, den Widerspruch zwischen dem hohen Anspruch auf Subjektivität und individuelle Selbstbestimmung und der gesellschafts- und ordnungsstiftenden Funktion, die sich durch diesen zugleich erfüllen soll. Der größte Schwung, die ausgelassenste Freiheit der Phantasie auf Grund einer ethisch-psychologischen Einheit, dem entsprechend die möglichste Individualität eines möglichst weiten Typus. Das wäre eine Seite, die andre möglichst kein Verstoß gegen die Gesetze des wirklichen Lebens, d. h. äußerste Wahrscheinlichkeit. Das Wunderbarste völlig wahrscheinlich, das Mannigfaltigste und Wechselvollste völlig einheitlich (ideal). Also das ideale wie das reale Element, beide in möglichster Steigerung ins möglichste Gleichgewicht gebracht.33

Was der avancierteste Theoretiker des poetischen Realismus hier als Programm eines „Volksromans“ formuliert, den er am Vorbild von Charles Dickens entwickelt, kann als Programm des Ausgleichs von Selbstentfaltung und Anpassung über die in dieser Arbeit verhandelten Briefwechsel gesetzt werden: das Projekt ist die Suche nach der Vereinbarung von Liebe und Welt. In einem interessanten Aufsatz über Paul Heyses Briefwechsel schreibt Bernhard Spies: Anders als die Schriftsteller des 18. Jahrhunderts schreiben die Autoren des bürgerlichen Realismus, mit denen Heyse korrespondiert, nicht mehr aus dem Bewußtsein eines ihnen vorausgesetzten sensus communis in den wesentlichen Fragen des sozialen Lebens wie der Kunst; anders als die Schriftsteller des Vormärz berufen sie sich auch nicht mehr auf allgemeine politische Notwendigkeiten, zu deren Durchsetzung sie ihre Stimme erheben. Vielmehr wissen die ,poetischen Realisten‘, zu denen man in dieser Hinsicht wohl auch Fontane zählen darf, die synthetische Leistung 33 Otto Ludwig: Romanstudien, Abschnitt „Volksroman – Volksliteratur“, in: Romane und Romanstudien, hg. v. William J. Lillyman, München (Hanser) 1977, S. 647.

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ihrer Dichtung als Werk ihrer poetischen Subjektivität, die ihre Fähigkeit unter Beweis stellt, ihre politisch-sozialen wie ästhetischen Leitvorstellungen in einem je eigenen sprachlichen Kosmos zu manifestieren.34

Diese „Selbstrelativierung“, diese „Subjektivierung des Geltungsanspruchs“ erklärt Spies zum Spezifikum des Briefes in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. In der Einleitung des Bandes, in dem dieser Aufsatz erschienen ist, kommt Baasner zu einem ähnlichen, allerdings ins Negative gewendeten Befund: Die Erzählperspektive nimmt immer vom Schreibenden ihren Ausgang, äußerst selten geht er auf die Mitteilungen des Briefpartners konkret ein und entwickelt aus dessen Fragen, Berichten, Gedanken den eigenen (Antwort-)Brief. Dialogische Elemente sind rar; es entsteht der Eindruck von Selbstdarstellungen, die die eigene Auffassung in den Vordergrund rücken. Dadurch erwecken viele der privaten Briefe im 19. Jahrhundert den Eindruck, in erster Linie Selbstversicherung zu bieten für die Verfasser. Briefeschreiben wird zur Rekapitulation des Erlebten – so wenig Erlebtes es auch meist zu berichten gibt –, wobei die öffentlich gepflegte Auffassung vom Brief als dem wahren Träger von Informationen für die Privatsphäre, und damit über die ,wahre Persönlichkeit‘, dieser Praxis Vorschub leistet.35

Der Brief würde hier zum Selbstporträt, das der Schreiber von sich anfertigt, ein erzähltes Tagebuch und damit „sentimentale Onanie“, wie der überzeugte Briefschreiber Alexander von Villers das Schreiben von Tagebüchern 1877 nennt36. Baasners These reflektiert zunächst einmal die Form, in der Briefe im neunzehnten und auch größtenteils noch im zwanzigsten Jahrhundert veröffentlicht werden: als halbierte, um die Briefe des Partners gekürzte Äußerungen einzelner, bedeutender Menschen, zumeist Männer, gemäß dem Goethe-Diktum, dass Briefe „unter die 34 Bernhard Spies: Ein bürgerlicher Großschriftsteller: Paul Heyses Briefwechsel, in: Baasner, Briefkultur, S. 207–238, hier: S. 237. 35 Baasner: Briefkultur, S. 25. 36 von Villers: Briefe eines Unbekannten (a. a. O.), Bd. 1, 231. Hierin würde ihm die Psychologin Be´atrice Didier, die vom „masturbatorischen Charakter“ des Tagebuchschreibens spricht, zustimmen (B.D.: Le Journal intime, Paris 1976, zit. nach: Alain Courbin: Kulissen. Das Geheimnis des Individuums, in: Geschichte des privaten Lebens, hg. v. Philippe Arie`s und Georges Duby, Bd. 4: Von der Revolution zum Großen Krieg, hg. v. Michelle Perrot, übers. v. Holger Fliessbach und Gabriele Krüger-Wirrer. Frankfurt am Main (Fischer) 1991, S. 419–636, hier: S. 469. Auch Courbins Charakteristik des Tagebuchschreibers im 19. Jahrhundert kommt der pathologisierenden Einschätzung von Villers nahe: „So erweckt der große Tagebuchschreiber mintunter den Eindruck eines kranken, jedenfalls eines furchtsamen und kraftlosen Menschen, geplagt von homosexuellen Tendenzen, die er nicht ausleben kann.“ (ebd., S. 468).

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wichtigsten Denkmäler [gehören], die der einzelne Mensch hinterlassen kann“37. Gottfried Keller schreibt 1872 hierüber: „[Es] ist ein Mißbrauch, daß die eine Hälfte solcher Korrespondenz immer auf die Seite gebracht wird. Man fährt immer im Nebel herum, da man nicht weiß, was die andere Partei wert ist.“38 Der Brief wird in diesen Editionen nur als eine andere Form von Tagebuch betrachtet. Hölderlins Diktum vom Brief als Form der „Psyche unter Freunden“39, die eben nicht mehr auf das Ich einer einzelnen Person beschränkt sei, der doppelsubjektive Charakter des Briefs, der immer Teil eines Dialogs ist, ist in diesen Editionen kaum erkennbar und unterstreicht den Eindruck des Monologischen. Demgegenüber formuliert auch Alexander von Villers in einem Brief an Rudolf Graf Hoyos das Spezifische der Identität des Briefschreibers in ihrem gedoppelten, die Grenzen des Einzelnen überschreitenden Charakter: Was mich allein erfreut, ist, was der Augenblick erzeugt, deshalb geht mir Gespräch und Brief über alles, weil das, was so entsteht, wär es nicht so geworden, gar nicht wär. Das ist dann auch frei von niedriger Eitelkeit, denn was man gibt, hat man empfangen. Ich habe einen Aberglauben an den Zwischenmenschen. Ich bin es nicht, auch du nicht, aber zwischen uns entsteht einer, der mir du heißt, dem andern ich bin. So hat jeder mit jedem einen andern Zwischenmenschen mit einem gegenseitigen Doppelnamen, und von all den hundert Zwischenmenschen, an denen jeder von uns mit fünfzig Prozent beteiligt ist, gleicht keiner dem andern. Der 37 Johann Wolfgang Goethe: Winckelmann und sein Jahrhundert, in: Münchner Ausgabe, Bd. 6.2, S. 198. 38 Gottfried Keller: Gesammelte Briefe. 4 Bde., hg. v. Carl Helbling, Bern 1950–54, Bd. 2, S. 128. Vgl. auch Monika Monika Ritzer: „Es liegt mein Stil in meinem persönlichen Wesen“. Individualitätsbegriff und Kommunikationstheorie im Briefwechsel des Realismus am Beispiel Gottfried Kellers, in: Briefkultur im 19. Jahrhundert, hg. v. Rainer Baasner, S. 201. Vgl. auch Felix Dahn in einer Rezension zu Wilhelm von Humboldt’s Briefe an F. G. Welcker, hg. v. R. Haym, Berlin 1856: „Daß statt eines Briefwechsels nur Briefe geboten werden können [. . . ], ist allerdings zu beklagen. [ . . . ] es wäre von Interesse gewesen, an manchen Stellen [. . . ] die offenbar sehr gehaltvollen Antworten Welcker’s zu kennen, welche Humboldt dazu trieben, vom einzelnen Fall zur Entwickelung seiner Principien über diese Frage aufzusteigen.“ (Felix Dahn: Zur Erinnerung an Wilhelm von Humboldt, in: Bausteine, Dritte Reihe, Berlin (Janke) 1882, S. 66f. 39 „Schreibe doch nur mir bald. Ich brauche Deine reinen Töne. Die Psyche unter Freunden, das Entstehen eines Gedankens im Gespräch und Brief ist Künstlern nöthig.“ 2. Brief an Böhlendorff 1802, in Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, hg. v. Michael Knaupp, München (Hanser) 1992, S. 922. Vgl. hierzu: Edgar Pankow: Brieflichkeit. Revolutionen eines Sprachbildes. JacquesLouis David, Friedrich Hölderlin, Jean Paul, Edgar Allan Poe. München (Fink) 2002, S. 84–88.

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aber denkt, fühlt und spricht, das ist der Zwischenmensch, und ihm gehören die Gedanken; das macht uns frei. So vernichten sich Stolz und Bescheidenheit, Besitz und Recht, es ist der wahre Kommunismus. Vielleicht ist es, genauer angesehen, mit den sogenannten eigenen Gedanken auch nicht anders und unbewußtes Gespräch mit Abwesenden. Schreibt man das auf, so wird es ein erzählter Traum, und später angesehen, erkennt man etwas Fremdartiges daran. Es ist fast unheimlich.40

Villers’ Briefkonzept, wie alle seine Äußerungen und Überlegungen mit konsequenter Beiläufigkeit unter Plaudereien verborgen, gehört zu den avanciertesten des späten neunzehnten Jahrhunderts, verknüpft den monologisierenden, als notiertes Selbstgespräch konzipierten Brief mit dem Konversationsbrief des achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts und macht daraus doch etwas ganz Neues. Denn indem der Fluss der Gedanken als „unbewußtes Gespräch mit Abwesenden“ deklariert wird, wird das dialogische Prinzip ausgeweitet auch auf das monologisierende Erzählen. Dialogisches und monologisches Schreiben – beide enthalten ein „Fremdes“ und haben Anteil am „Zwischenmenschlichen“. Deshalb darf der Brief auch ruhig Erzählung sein, erzählter Traum. Intimität und Dialogizität fallen hier in eins. Man kann es auch mit den Worten von Peter Gays Fallbeispiel, des bürgerlichen Briefschreibers Walter Bagehot gegenüber seiner Geliebten Eliza Wilson sagen, der sich dafür entschuldigt, dass er so viel über sich selbst schreibt: „Ich weiß nicht, ob Egozentrik in Briefen so schlecht ist, und wenn ich an dich schreibe, muß ich einfach über das schreiben, was ich für Dich empfinde.“41 – Zumindest im Liebesbrief scheint sich das Problem von Monolog und Dialog von alleine zu lösen. Der Liebesbrief und die Liebe zeigen sich hier als ein Genre bzw. eine Empfindungsform, die sich erst in ihrer zeitlichen Realisierung erweist, in den Konflikten, die sie besteht und in den Kompromissen, die sie zu ihrer Selbsterhaltung eingeht (denn die Bewahrung 40 An Rudolf Graf Hoyos am 27. Dezember 1877, in von Villers: Briefe eines Unbekannten, Bd. 1, S. 231f. Aus von Villers „Zwischenmenschen“ werden schließlich Kafkas Briefgespenster, die sich zwischen die Korrespondenten stellen: „Es ist ja ein Verkehr mit Gespenstern und zwar nicht nur mit dem Gespenst des Adressaten, sondern auch mit dem eigenen Gespenst, das sich einem unter der Hand in dem Brief, den man schreibt, entwickelt [. . . ].“ (Kafka an Pollak Ende März 1922, in: Franz Kafka: Briefe an Milena. Erweiterte und neu geordnete Ausgabe, hg. v. Jürgen Born und Michael Müller, Frankfurt am Main (Fischer) 2004, S. 302, zit. nach Strobel: Vom Verkehr mit Dichtern und Gespenstern (a. a. O.), S. 24, vgl. ebd.). 41 Peter Gay: Die zarte Leidenschaft (a. a. O.), S. 38.

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der Liebe und die Fortsetzung des Briefwechsels ist der Zweck jedes einzelnen Briefes42), wenn nicht dieses Absolutum in der Tat als Anspruch noch hinter den pragmatischsten und anscheinend illusionslosesten Korrespondenzen steht: ohne einen gewissen Idealismus ist kein Liebesbriefwechsel möglich. Denn der Brief, gerade auch der Liebesbrief, ist beides: mystisch und profan zugleich, Ort der wechselseitigen Kontamination von Liebe und Welt. Glanz des Augenblicks und Glück der Dauer. Er ist Bekenntnis, Offenbarung, Übertragung des einen entfernten Ich zum anderen Ich: Der Liebesbrief soll die physische Gegenwart des Geliebten herstellen – und ist damit „schlechte“, „stumpfe“ Lyrik im pathetischen Sinne Roland Barthes: Die Sprache, auf die sich das liebende Subjekt (gegen alle feinsinnigen Sprachen der Welt) beruft, ist eine stumpfe Sprache: jedes Urteil ist suspendiert, der Terror des Sinnes ist aufgehoben.“43 [. .. ] „Das soll „schlechte Lyrik“ sein? Aber die „schlechte Lyrik“ erfaßt das liebende Subjekt in dem Sprachregister, das nur ihm zukommt: dem des Ausdrucks.“44

Aber er ist auch „schlechte Prosa“, denn jenseits eines Mediums der Magie ist er auch eines des Vertrags.45 Wo das Hin und Her einzelner atemloser Liebesbeteuerungen sich verfestigt zum stetigen Liebesbriefwechsel werden auch Bedingungen ausgehandelt, die Möglichkeiten eines gemeinsamen Lebens überdacht, Zukunftspläne entworfen oder verworfen. Sobald hier Sicherheit gewonnen ist, hält die Beschreibung Einzug in den Brief. Bismarcks Schilderungen aus Petersburg, auch Adalbert Stifters beklommene Protokolle seines Eingeschneitseins im bayerischen Wald, haben zur Voraussetzung das abgesicherte Verhältnis zur Empfängerin der Briefe. Demgegenüber fordert Frida von Uslar-Gleichen, die Geliebte des Evolutionsbiologen Ernst Haeckel, im späten Stadium der Liebesbeziehung, als kaum noch Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft besteht, vergeblich mehr Beschreibungen in sei42 „Die lust- und angstvolle Beschwörung einer gefährdeten Kontinuität, nämlich der irrationalen Glückserfahrung der physisch-geistigen Anziehung“ (Conrad Wiedemann: Die Liebesbriefe Friedrich Wilhelms II. von Preußen an Wilhelmine Enke, in: Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, hg. Renate Stauf, Annette Simonis und Jörg Paulus. Berlin, New York (de Gruyter) 2008, S. 72.) 43 Roland Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe (a. a. O.), S. 202. 44 Ebd., S. 215. 45 Vgl. Peter von Matt: Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur. München (Hanser) 1989, bes. S. 145–160.

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nen Briefen ein: „Was für Anzüge trägst Du? Welcher Art ist der Blick aus Deinem Fenster? Was ißt Du? Ich lebe in paradiesischer Unwissenheit über alles, was Dein Leben betrifft.“46 Die – angebliche – „Langeweile“ langatmiger Beschreibungen bleibt diesem (dennoch intensiven und umfangreichen) Briefwechsel erspart. Seiner ersten Ehefrau Anna Sethe hatte Haeckel ausführliche Schilderungen von seiner Italienreise geschickt, die durchaus den Charakter von Reiseerzählungen haben. Goethe – in den an Charlotte von Stein gerichteten Tagebuchbriefen der italienischen Reise gewissermaßen der Begründer des „monologischen Briefs“ – erklärt sich gegenüber der Empfängerin: „Meine Selbstgespräche bey den besten Gegenständen sind an dich gerichtet, wenn sie nur gleich auf dem Blatte stünden.“47 Und Johanna von Bismarck liefert in einem 1868 verfassten Brief an ihren Sohn Wilhelm gewissermaßen eine „Poetik“ eines solchen „epischen“ Briefes: Epische Briefe sind viel eindrucksfähiger für mich wie lyrische – Eure Gefühle kenne ich und praetendire garnicht, daß Ihr mir jedesmal neue Liebeserklärungen macht, meine Herzenskinder, freue mich aber unendlich über jedes kleine Ereigniß eures jungen Lebens, welches Ihr mir nett mitteilt.48

Die Beschreibung bedeutet Sicherheit. Die Umständlichkeit der Beschreibung, ein essenzielles Ingrediens des realistischen Romans, stabilisiert auch den Briefwechsel, stellt eine Welt her zwischen den beiden Briefpartnern, obwohl sie doch zugleich geeignet ist, sich als Trennendes zwischen beide zu schieben. In den Briefwechseln, die in dieser Arbeit untersucht werden, zeigt sich aber gerade dieser Trennungs- oder Entrückungsvorgang als Voraussetzung für den Dialog, indem er die Dialogpartner in Position zueinander bringt. 46 Das ungelöste Welträtsel. Frida von Uslar-Gleichen und Ernst Haeckel. Briefe und Tagebücher. Hg. v. Norbert Elsner, 3 Bde. Göttingen (Wallstein) 2000, Bd. II, S. 589. Vgl. auch Eberhard Gothein an Marie Schröter am 10. 6. 1884: „Ueberhaupt, geliebte Mieze, mußt Du mir nächstens einmal alles genau schildern, Deine Stube, das Haus, die Aussicht, Deine Zeiteinteilung, die Lehrgegenstände, die Kinder. Denke nur immer: mich interessirt alles, was Dich interessirt.“ zit. nach Michael Maurer: Eberhard Gothein – Marie Schröter. Briefwechsel aus der Privatdozenten- und Brautzeit (1882–1885), in: Baasner, Briefkultur im 19. Jahrhundert, S. 140–168, hier S. 151. 47 Rom, den 1. Februar 1787, in: Goethes Briefe an Charlotte. v. Stein, hg. v. Jonas Fränkel, 3 Bde. Berlin (Akademie Verlag) 1960, Bd. 1, S. 342. 48 Johanna von Bismarcks Briefe an ihren Sohn Wilhelm und ihre Schwägerin Malwine von Arnim-Kröchlendorff geb. von Bismarck. Hg. v. Wolfgang Windelbrand. Berlin (Stollberg & Co.) 1924, S. 20.

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Vielleicht könnte man das Zunehmen der Selbstdarstellung und die hohe Bedeutung, die der Schilderung, Beschreibung, der literarischen Darstellung insgesamt in wachsendem Maße zukommt, auch so bewerten: statt darin ein Signal für den Verfall der dialogischen Kultur des empfindsamen Briefwechsels zu sehen, könnte man sie auch als Spiegelung einer gleichzeitigen literarischen Entwicklung betrachten, dem Einzug des Genrehaften, des Bildes in die Erzählkunst. So sind Stifters intensive Beschreibungen, etwa in den berühmten Winterbriefen aus den eingeschneiten Lackenhäusern, nicht Zeugnis eines nicht bestehenden Interesses an der Briefpartnerin, seiner Frau Amalia. Dass er in der Tat in diesen Briefen bereits eine spätere Erzählung mit stark dokumentarischem Charakter konzipiert, die dann selbst wieder briefartig aufgebaut sein wird, stellt vielmehr ein Verfahren der Auseinandersetzung mit Wirklichkeit dar, in dem das Verhältnis von Psyche und Außenwelt gerade durch das Liebesverhältnis zur Korrespondenzpartnerin hergestellt wird – und umgekehrt. Ähnlich verhält es sich mit einzelnen Beschreibungen und Schilderungen in den Briefen Bismarcks, für die er berühmt war und gerühmt wurde.49 Sie stellen eine synthetisierende Dynamik zwischen Ich und Du und Welt her, die so überhaupt erst im Brief gestiftet werden kann. In diesem Sinne ist der Brief gerade auch in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, in der das so genannte Wirklichkeitsoder Realismusproblem als besonders akut erfahren und immer wieder diskutiert wird, eine Form der Ich-Auflösung und Ich-Gewinnung zugleich, ein Medium der Weltwerdung, der Selbstverobjektivierung und der Subjektivität. 49 Bereits kurz nach dem Erscheinen von Bismarcks Briefen an die Braut und Gattin im Jahr 1900 erschien 1902 die „sprach-psychologische Skizze“ von Theodor Matthias, in der anhand sorgfältiger Aufstellungen der Bismarckschen Wortbildungen und -verwendungen, seiner Bilder und Metaphern und der daraus sprechenden Weltanschauung unzweifelbar belegt werden sollte, dass „Der Bismarck, der die Briefe an seine Braut und Gattin geschrieben, ein Dichter“ war (Theodor Matthias: Bismarck als Künstler nach den Briefen an seine Braut und Gattin. Eine sprachlichpsychologische Skizze, Leipzig (Brandstetter) 1902, S. 18. Und beispielsweise auch Heinrich Mann äußerte sich begeistert: „Der Brief an den Vater seiner zukünftigen Frau, sein Werbebrief, welch ein Manifest menschlicher Schönheit! Man verneigt sich und ist beglückt. Wer das schrieb- wer überhaupt sein klassisches Deutsch schrieb, kann das unbedingt Schlechte niemals gewollt noch sich erlaubt haben.“ (zit. nach Dirk Reinartz, Christian Graf von Krockow: Bismarck. Vom Verrat der Denkmäler, Göttingen 1991, S. 15.)

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Wenn man Barbara Potthasts auf den historischen Roman im Zeitalter des Realismus gemünzte These von der „Geschlossenheit“ und „Ganzheit“ als dem Telos des Zeitalters des Historismus auf den Liebesbrief und die mit ihm verbundenen Liebeskonzepte im neunzehnten Jahrhundert überträgt („Entscheidend ist, daß die Geschlossenheit der Erzählung zunächst immer behauptet wird, die Geschlossenheit ihrer Form, ihrer politischen und sozialen Antagonismen, ihrer historischen Episode, ihrer Geschichtskonzeption und nicht zuletzt ihrer Liebesgeschichte.“50), dann lässt sich eine ähnliche Problematik auch in den Liebesbriefen dieser Zeit auffinden: Ganzheit, Totalität ist das Ziel, das sich aus einer Summe von Gegensätzen und Widersprüchen ergeben soll. Demgegenüber ist Baasners Darstellung deutlich geprägt von der Auffassung des neunzehnten Jahrhunderts als Zeitalter des Epigonentums. Eine Auffassung, die bereits das neunzehnte Jahrhundert von sich selbst hegte. Schon die von der politischen Situation nach 1848 enttäuschten und gelähmten Zeitgenossen vermochten selten, ihrem literarischen Schaffen einen eigenständigen Wert zuzugestehen. So schreibt Heinrich Laube 1836 in einer Rezension von Immermanns bezeichnenderweise Die Epigonen betiteltem Zeitroman: Epigonen heißt der Roman, weil wir gleich den Nachkommen in Theben eine eingeleitete Geschichte vorfinden und von den Consequenzen und Nothwendigkeiten derselben leben, leiden und sterben. Wir haben unsere Zeit nicht begonnen, wir haben den Kampf gegen geistliche und weltliche Auktorität nicht angefangen, aber wir haben ihn geerbt mit allen Verzweigungen, in seinem Blute sind wir aufgesäugt und können deshalb Temperament, Leidenschaften der Väter nicht verleugnen, Schicksalen nicht entgehn, deren Vorbedingungen von uns angenommen sind. So liegt in dem wohl klingenden an klassisch gewordene Verhältnisse erinnernden Titel das große historische Fatum, welches seinen dunklen Himmel über einen Menschenkreis breitet, der vom Dichter ausgewählt worden ist, Geschick und Bestrebung einer ganzen Zeitepoche zu repräsentiren.51

Der post-naturalistische Literaturhistoriker Samuel Lublinski, der 1900 noch ganz aus dem Geist dieser Epoche eine teleologisch motivierte Literatur- und Sozialgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts, die Ziel und Erfüllung im „Neuen Reich“ findet, verfasst, sieht in eben diesem Paradox das Problem der Generation der Li50 Barbara Potthast: Die Ganzheit der Geschichte. Historische Romane im 19. Jahrhundert. Göttingen (Wallstein) 2007, S. 52. 51 Heinrich Laube: Die Epigonen, in: Mitternachtszeitung für gebildete Stände. 11. Jg. Nr. 137 vom 22. Aug. 1836, S. 545–548.

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teraten des deutschen „silbernen“ Zeitalters, wie er das Jahrzehnt nach 1848 betitelt: Das war nicht mehr der Weltschmerz eines Lord Byron oder Heine, der in Bausch und Bogen der Welt zürnte und sie verfluchte. Sondern es war nur gleichsam individualisierter Weltschmerz, indem die Einzelpersönlichkeit sich durchzusetzen trachtete und ihr dabei klar wurde, daß ein Sieg ohne schwere Kämpfe, Narben und Wunden nicht möglich wäre. [. . . ] Sie empfanden die Dissonanzen im modernen Leben jener Tage, sie hatten nicht mehr jenen Sonnenblick der klassischen Zeit, welche die schrecklichen Seiten des Lebens übersah und alles in ästhetische Schönheit tauchte. Das war in jenem realistischen, politischen und revolutionären Zeitalter nicht möglich, wo nicht nur die politischen Grundlagen der Gesellschaft wankten, sondern auch die Geisteskämpfe immer leidenschaftlicher entbrannten und die Fundamente von Ehe und Familie einer erbitterten Kritik unterworfen wurden. [. . .] So ergab sich ihnen in einer Einheit, was sich sonst zu widersprechen schien: ein tiefer Pessimismus, der fast am Leben verzweifelte, und ein stolzes und gewaltiges Vertrauen auf die große Individualität, eine schier vermessene Freude an der eigenen Kraft und Größe auch noch in der Gebrochenheit.52

Der „Mensch mit seinem Widerspruch“, von dem in den Widmungsversen von Conrad Ferdinand Meyers Huttens letzte Tage (1872) die Rede ist53, gilt als Signum von Individualität und soll, obwohl er ausdrücklich „kein ausgeklügelt Buch“ zu sein beansprucht, ein Ganzes ergeben. Deutlich zu spüren ist das etwa in Bismarcks Briefen, die er in den fünfziger Jahren an die Braut schreibt, bei deren Religiosität er einerseits Sicherheit sucht, wie er sie andererseits durch Bekenntnisse zu Nihilismus und Pessimismus provoziert und attackiert. Über solche direkten psychologischen Konstellationen hinaus ist der innere Widerspruch als Basis einer Ganzheit insgesamt aber überall zu finden, wo das Zufällige und Kontingente eines Erlebens, das Einmalige und Unwiederholbare der womöglich zufälligen Liebesbegegnung ganzheits- und sinnstiftend werden soll, das Empirische transzendental. Dieses Problem ist nichts anderes als der Konflikt zwischen dem Subjekt und seinem „Double“, den Michel Foucault in Die Ordnung der Dinge als das grundlegende Problem des Zeitalters des 52 Samuel Lublinski: Litteratur und Gesellschaft im neunzehnten Jahrhundert, Bd. 4: Blüte, Epigonentum und Wiedergeburt, Berlin (Cronbach) 1900, S. 38–40. 53 Conrad Ferdinand Meyer: Huttens letzte Tage, in: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Mit einem Nachwort von Helmut Koopmann sowie Anmerkungen und Zeittafel von Karl Pörnbacher. Düsseldorf, Zürich (Artemis & Winkler) 31996, Bd. 2, S. 372.

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Subjekts – des neunzehnten Jahrhunderts –, als den Versuch beschrieben hat, „im Menschen das Empirische für das Transzendentale gelten“ zu lassen,54 den „Menschen“ an die Stelle des „Diskurses“ zu setzen. Indem das Subjekt in seinem eigenen Erleben auch den Sinn seines Seins finden muss, muss in diesem Erleben zugleich objektive Wahrheit zu finden sein. Das ist eigentlich nicht denkbar und bedarf eines Tricks: Deshalb hat das moderne Denken [.. . ] nicht vermeiden können, den Ort eines Diskurses zu suchen, der weder zur Reduktion noch zur Verheißung gehört: einen Diskurs, dessen Spannung das Empirische und das Transzendentale in einer Trennung aufrechterhielte und dennoch gestattete, gleichzeitig auf beide zu zielen; einen Diskurs, der erlauben würde, den Menschen als Subjekt, das heißt als Ort empirischer, aber möglichst nahe auf das, was sie möglich macht, zurückgeführter Erkenntnisse und als reine, unmittelbar diesen Inhalten gegenwärtige Form zu analysieren. Einen Diskurs also, der im Verhältnis zur Quasi-Ästhetik und zur Quasi-Dialektik die Rolle einer Analytik spielte, die beide gleichzeitig in einer Theorie des Subjekts begründete und ihnen vielleicht gestatten würde, sich in diesem dritten und vermittelnden Glied zu artikulieren, in dem sich gleichzeitig die Erfahrung des Körpers und die der Kultur verwurzeln. Eine so komplexe, so überdeterminierte und so notwendige Rolle hat im modernen Denken die Analyse des Erlebten eingenommen.55

Wenn man, wie Baasner,56 nicht in der Analyse, sondern in der „Rekapitulation des Erlebten“ ein Hauptkonstituens des Briefs im neunzehnten Jahrhundert ausmacht, so stellt sich natürlich die Frage, welche Rolle dann dem Brief in Bezug auf ein Subjekt des neunzehnten Jahrhunderts zufallen könnte, wie es Foucault beschreibt, und ob der Brief möglicherweise auch der Ort der Analyse des Erlebten sein könnte, ob Rekapitulation und Analyse einhergehen oder ob die Rekapitulation nur eine unterlassene Analyse wäre, eine Episierung als Ersatzhandlung: „Es ist noch kein Sprichwort, aber es konnte eins werden: Was man nicht zu sagen weiß, das erzählt man.“ schreibt Heinrich Laube in der dem Fürsten und Briefschreiber Pückler-Muskau gewidmeten Vorrede seiner Novelle Liebesbriefe.57

54 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, (Les mots et les choses deutsch), übers. v. Ulrich Köppen, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1974, S. 388. 55 Ebd., S. 387. 56 Baasner, Briefkultur, (a. a. O.), S. 25. 57 Heinrich Laube: Liebesbriefe, Mannheim (Hoff) 1836, S. XXVIII.

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Im Laufe dieser Arbeit wird sich zeigen, dass die umständliche Rekapitulation des Erlebten gerade das Verfahren ist, mit dem die tragische Dopplung des Ich aufgehoben werden soll. Im Falle Adalbert Stifters möglicherweise sogar mit Erfolg (denn Stifters Selbstmord, unter nicht auszuhaltenden körperlichen Schmerzen begangen, als Beleg eines Scheiterns zu verstehen, erscheint mir unzulässig). Nicht die Analyse also, sondern die Benennung gemeinsamer Erfahrungen, der Bericht von Erlebnissen, die Übermittlung von Worten und Dingen per Post sollen „ein Band“ (Adalbert Stifter58) stiften, das die Partner miteinander verknüpft, solche Bänder schließlich ein Netz ergeben, das die reale Existenz der Beziehung erweist, abbildet und gewährleistet. Foucault analysiert hier denselben Prozess, den Niklas Luhmann anspricht, wenn er in Liebe als Passion die romantische Aufwertung der Liebe als die Entdeckung der Notwendigkeit beschreibt, die Gültigkeit und den „Sinn“ einer individuellen Liebe in der Liebe selbst zu suchen. Man sucht im Sicheinlassen auf Intimbeziehungen (und dies besonders bei sexuell fundierter Intimität) Gewißheiten, die über den Moment hinausreichen, und man findet sie letztlich in der Art, wie der Partner sich mit sich selbst identisch weiß: in seiner Subjektität. Die Subjektität trägt über den Moment hinaus, weil sie auch jeder Änderung des eigenen Wesens zugrunde liegt. So kann die Person des anderen, und nur sie, in ihrer dynamischen Stabilität der Liebe Dauer verleihen, und dies speziell dann, wenn sie als Subjekt/Welt-Verhältnis begriffen ist, also allen Wandel schon vorweg in sich einschließt. Die Momenthaftigkeit aller erfüllten Intimität war in ihrer Fatalität bewußt – man konnte es bei John Donne oder bei Bussy Rabutin, bei Claude Cre´billon und schließlich bei Stendhal [über letzteren wird hier noch zu schreiben sein, R. L.] nachlesen. Die Subjektformel mit der Unumgänglichkeit eines alle Variationen begleitenden Ichs bietet eine darauf bezogene, dem gewachsene Antwort. Sie schließt freilich den Wandel nicht aus, sondern ein. Auch unzuverlässig Liebende sind, und wer wüßte das besser als die Romantiker, Subjekte. Es kommt also, wie in aller Praxis, die sich am transzendentalphilosophischen Subjekt orientiert, darauf an, das Subjekt herunterzubringen auf die Ebene alltagsfähiger Operationen und es im Gebrauch zu testen. Man muß es im Verhalten beobachten und sehen, was man ihm an stabilen Haltungen zurechnen kann.59

Luhmann, der anders als Foucault in der Erfindung des Subjekts keine Katastrophe in der Geschichte der Diskurse sieht (weil für 58 Adalbert an Amalie Stifter am 8. Juni 1866, BW 5, S. 210 (vgl. S. 259). 59 Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1982, S. 169f.

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Foucault in dieser Kopernikanischen Wende dem Subjekt die Repression gegen sich selbst auferlegt wird, es muss sich selbst die Ordnung geben und das auch noch als seine eigene Freiheit begrüßen), konstatiert dennoch dieselbe Verdopplung des Subjekts an etwa derselben historischen Schnittstelle (im weitesten Sinne als „Romantik“ zu bezeichnen), die mit dem Niedergang der Geselligkeitskultur des ancien re´gime in der Folge der Französischen Revolution einherginge. Luhmann sieht in diesem Prozess jedoch mehr die Möglichkeiten, die er eröffnet, als die Bedrohung. Ganz sicher beschreiben beide Autoren ein Phänomen, dem die in dieser Arbeit verhandelten Liebesbriefwechsel ausgesetzt sind. Die Suche nach einer Legitimation ihrer Liebe bildet den hohen Anspruch der hier dargestellten Briefschreiber. Dabei spielen – ganz wie bei Luhmann formuliert – Projektion und Überprüfung gleichermaßen eine Rolle. Die Anerkennung der Bedeutung der Imagination hierfür ist den Autorinnen und Autoren des neunzehnten Jahrhunderts allgemein. Umso intensiver aber wird nach Beweisen für die „Realität“ der Liebe gesucht, nach einer Verankerung im Wirklichen, nach einer neuen metaphysischen Grundlage der Liebe. Je mehr, wenn vom „Ideal“ die Rede ist, eigentlich nur die Imagination gemeint ist, desto beharrlicher wird auf die transzendentalen Rechte dieser Imagination gepocht, werden Beweise der Allgemeingültigkeit der eigenen Beziehung gesucht und in Liebesbriefen Weltentwürfe konzipiert, in die die gemeinsame Liebe fest eingeflochten ist, wenn sie nicht sowieso zur Grundlage aller Welten erklärt wird.60 Einen Extremfall stellen in dieser Hinsicht bereits die Briefe von Ferdinand Raimund an seine Geliebte Toni Wagner aus den späten zwanziger Jahren dar. Dieser, die er aufgrund unmöglicher Scheidung von seiner ungeliebten Ehefrau nicht heiraten kann, schreibt er 60 Vgl. hierzu auch Se´nancour: De L‘Amour selon les lois primordiales et selon les convenances des socie´te´s modernes, Paris (Mercure de France) 61925, S. 19: „Tout homme entend la voix du plaisir, mais on trouverait des diffe´rences presques infinies dans la manie`re d‘interpre´ter ces inspirations. A force de grace ou de scrupules, on peut faire du plaisir des sens un bonheur de l‘ame, et alors, sans devenir immode´re´e, la possession intime ne connaıˆt presque d‘autres bornes que celles de l‘imagination. Il est beaucoup de femmes, il est des hommes qui peuvent tout vivifier; comme ils savent donner de la valeur au moindre incident, un de´sir leur suffit pour procurer de longues jouissances. On imite ainsi la nature, qui fait de´pendre d‘une seule cause des effets dont la surabondance et la multiplicite´ surprennent toujours.“

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Briefe, deren hoher Ton, deren jambisches Metrum, deren allegorische Bildlichkeit an die Stelle kirchlicher Legitimation treten sollen und in denen großartige Theatertableaus in der Art seiner eigenen Märchenstücke aufgefahren werden. Ach könntest du in diesem Augenblick unsichtbar mich umschweben, meine Toni! und dich überzeugen, welch einen heiligen Glanz der Gedanke an deine Treue in meiner Seele verbreitet, und wie sehr sie bemühet ist, freudige Augenblicke zu erfinden, in denen ich dir lohnend beweisen kann, wie dankbar mich die Tugend deiner Beständigkeit macht. Ich fühle in diesem Augenblick eine so wohltätige Ruhe in meinem Innern, und meine Hoffnung dich ewig zu besitzen, grünet in dieser glücklichen Stunde noch herrlicher als mein lachendes Gärtchen und die üppigen Wiesen des Brühls. Hier sitze ich, ein Held der Einsamkeit, und die Kämpfe meiner Leidenschaften durch mein ganzes Leben reihen sich auf dem Schlachtfelde meiner Phantasie. Doch wie mich die Macht des Traumes ergreift, so fühl ichs geistig in mir zucken, und jenes Heer von marternden Gefühlen stürmt auf mich ein und auf mein Herz, das leichte Truppen führt und sich nur schwach vertheidigt [. . .] Doch wie ich sinkend schon verzweifle und die Rebellen die sich losgerissen haben von den friedlichen Gesetzen, die mein Herz gegeben, triumphierend jauchzen, da wendet plötzlich sich das Bild, und einen Engel sehe ich niederschweben in der höchsten Noth [. .. ]. Und sieh, es schwingen sich die Leidenschaften sanft zu dieses Cherubs Füßen, der einen milden König ihnen giebt, den er vertrauen heißt. Und nicht ehe ist mir das Wunder dieser Phantasie verflogen, bis ich in dem Engel habe dich erkannt, und dir und mir zu meinem Wohle habe gelobt, daß ich nur an deiner Hand, mein geliebter Schutzgeist, will durchs Leben wandeln, und ewig bleiben werde dein Ferdinand61

Dieser Brief, 1828 verfasst, kommt aus einer gänzlich anderen Welt als der zu Beginn dieser Einleitung zitierte, sechs Jahre später verfasste Brief Georg Büchners an seine Braut. Der steife rhetorische Faltenwurf steht im stärksten Kontrast zu Büchners expressiven, grellen Verzweiflungsbildern. Und doch wird ein überaus ähnlicher Zustand beschrieben, und doch drückt sich in beiden Briefen eine Haltung aus, in der die Unmöglichkeit, Halt zu finden in der Welt, umkippt in eine Überproduktion an Sprachbildlichkeit, die vergewissernd und stabilisierend wirken soll. In beiden Briefen wird die Geliebte angesprochen als rettende Gestalt, in beiden ist aber das Schreiben an sie selbst eine Rettung. Während Büchner die Sprache und die Bilder auf den ersten Blick selbst hervorzubringen scheint, 61 Ferdinand Raimunds sa¨mtliche Werke, hg. v. Fritz Brukner und Eduard Castle. Bd. 4: Briefe, Wien (Schroll) 1926, S. 135.

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die seine Angst beschreiben (wobei er zunächst einmal einfach eine größere Mannigfaltigkeit von Zitaten und Assoziationen mit heterogener Herkunft zusammenführt), hat Raimund gegenüber seiner Sprache ein passives Verhältnis, verwendet Formeln, Bilder und ein Metrum, das eine außerhalb von ihm gegebene Objektivität repräsentiert. Er ist der Gegenstand seiner Sprache („Die hohe Sprache ist voll hoher Allegorien, zwischen denen sich sein Geist schüchtern bewegt.“62 schreibt Hofmannsthal, Raimund in ein Tableau Baudelairescher Korrespondenzen setzend) und erhofft von ihr Beruhigung. Beide aber, Büchner und Raimund, füllen den leeren Raum, in den sie sich gestellt sehen, mit Sprache.63 Vielleicht beschreibt dies am genauesten die neue Funktion, die der Liebesbrief des neunzehnten Jahrhunderts gegenüber dem Brief der Empfindsamkeit erhält: Als Literatur, als Medium der Schrift und des Zitats, affiziert er die Imagination und entzündet die Liebe. Und er unterhält sie und sichert ihre Dauer, indem er den Atem der Zeichen, der sie entfachte, in Gang hält. Wenn laut Carl Schmitt Romantik „subjektivierter Okkasionalismus“ ist64, dann sind die Liebesbriefbeziehungen, die in dieser Arbeit untersucht werden, durchaus romantische; sie alle gründen sich 62 Hugo von Hofmannsthal: Ferdinand Raimund, in: Gesammelte Werke, Reden und Aufsätze II, Frankfurt Am Main 1979, S. 120. 63 Vgl. Roman Lach: „Worte die man spricht“ und „Worte die man schreibt“ – Ferdinand Raimunds Briefe an Antonie Wagner, in: Nestroyana, Blätter der Internationalen Nestroy-Gesellschaft 1–2 (30) 2010, S. 51–64. 64 Carl Schmitt: Politische Romantik. Berlin (Duncker & Humblot) 31968, S. 22f.: „Wo das Gelegentliche und das Zufällige zum Prinzip wird, entsteht eine große Überlegenheit über solche Bindungen [Bindungen nämlich, in denen „alles, was dem Leben und dem Geschehen Konsequenz und Ordnung gibt – sei es die mechanische Berechenbarkeit des Ursächlichen, sei es ein zweckhafter oder ein normativer Zusammenhang“, R. L.]. In den metaphysischen Systemen, die man als occasionalistisch bezeichnet, weil sie diese Beziehung des Occasionellen an den entscheidenden Punkt setzen, in der Philosophie des Malebranche zum Beispiel, ist Gott die letzte, absolute Instanz und die ganze Welt und alles, was in ihr vorgeht, bloßer Anlaß seiner alleinigen Wirksamkeit. Das ist ein großartiges Bild der Welt und steigert Gottes Überlegenheit zu einer ungeheuerlichen, phantastischen Größe. Diese charakteristisch occasionelle Haltung kann nun bestehen bleiben, gleichzeitig aber an die Stelle Gottes etwas anderes als höchste Instanz und maßgebender Faktor treten, etwa der Staat, das Volk oder auch das einzelne Subjekt. Das letzte ist in der Romantik der Fall. Ich habe daher die Formel vorgeschlagen: Romantik ist subjektivierter Occasionalismus, d. h. Im Romantischen behandelt das romantische Subjekt die Welt als Anlaß und Gelegenheit seiner romantischen Produktivität.“

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auf eine zunächst oder definitiv quer zur Konvention stehende occasio: Bismarck, der sich mit Johanna von Puttkamer gegen die Bedenken von deren streng religiösen Eltern verlobt, Stifter, der in Amalia Mohaupt eine gesellschaftlich anrüchige Frau ehelicht – ganz zu Schweigen von Leopold von Sacher-Masoch, der in der Ehe einen Inszenierungsraum für die Kostümfeste seiner erotischen Sehnsüchte sieht oder Ernst Haeckels illegitimer Beziehung zu Frida von Uslar-Gleichen. Durch die Korrespondenz aus dieser Unsicherheit eine Affirmation der eigenen Liebe und der beiden sie herstellenden Ichs zu machen, aus Disparatem Übereinstimmung herzustellen, ist die Aufgabe des Liebesbriefverkehrs.

1.2 Gefühlsexzesse und Entsagungskonzepte Peter Gay stellt zu Beginn seiner Darstellung der Liebe im bürgerlichen Zeitalter zwei bürgerliche Liebes- und Eheverhältnisse des neunzehnten Jahrhunderts vor, die er ausdrücklich als einen „Kontrapunkt“ (so der Titel seines einleitenden Kapitels) zum Klischee der „bürgerlichen Ehehölle“ aus Heuchelei und Verklemmtheit setzen will, das sich spätestens seit den bereits erwähnten zynischen Evokationen Hegels in den Vorlesungen über die Ästhetik65 für das neunzehnte Jahrhundert etabliert hat.66 Er will damit zeigen, dass die reale Lebenserfahrung des Bürgers durchaus nicht immer nur dem entsprach, was realistische Romane wie Madame Bovary oder Effi Briest zum Topos machten: die Unterdrückung der Triebe und Sehnsüchte in einer sich gesellschaftlichen Anforderungen unterordnenden Ehe. In den Liebes- und Ehegeschichten von Otto Beneke und Marietta Banks und von Walter Bagehot und Eliza Wilson zeigt Gay zwei bürgerliche Paare in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, denen es gelingt, Liebe und Leben, Passion und Arbeit zu vereinbaren. Eine Achtung und Achtsamkeit für das Kleine und Einzelne, ein gewisses Verantwortungsbewusstsein und eine nach außen durchaus als langweilig erscheinende Gewissenhaftigkeit sind für Gay entscheidende Ingredienzien dieses Gelingens. Die Tugen65 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Vgl. FN 12. 66 Peter Gay: Die zarte Leidenschaft. Liebe im bürgerlichen Zeitalter. München (Beck) 1987, S. 9–47.

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den einer kaufmännisch geprägten bürgerlichen Mittelschicht werden hier verherrlicht und zur Grundlage der guten Ehe erklärt, die einen Beigeschmack von Anton Wohlfahrt hat, der kapitalistischen Idylle verwandt zu sein scheint, die Gustav Freytag in Soll und Haben67 beschwört. In der gleichen Richtung hat Monika Ritzer Gottfried Kellers „realistischen“ Briefstil als bewusste Absage an den romantischen Brief gedeutet. Die Desillusionierung über die Möglichkeit einer epistolarisch hergestellten Seelengemeinschaft führten zur bewussten Beschränkung auf das „Äußere“ in den Gegenständen seiner Briefe, auch hier werde eine „Form der engagiert sachbezogenen Kommunikation“ entwickelt.68 Die für alle realistischen Autoren der Jahrhundertmitte charakteristische Distanz zu Ausdrucksformen „leidenschaftlicher“ Subjektivität bedeutet keine Reduktion der Persönlichkeit. Vielmehr liegt gerade in der emotionalen Disziplinierung ein Akt der Selbstverantwortung [ ...], mit dem sich das Ich als Individuum überhaupt erst konstituiert. Erst auf der Basis so konstituierter Individualität wird aber im realistischen Kommunikationsmodell dann überhaupt Begegnung möglich, die sich ja als Interaktion zwischen eigenständigen Individuen gestaltet.69

Ritzers Darstellung macht klar, dass „realistischer Brief“, „realistische Liebe“ nicht zu begreifen ist, wenn man sie nicht vor dem Hintergrund der romantischen Krisen betrachtet, auf die sie reagieren. Die „Realität“ als darzustellender Gegenstand empfiehlt sich nicht von selbst, sondern wird als Gegenbild zu einer sich in sich selbst verdrehenden Subjektivität, der selbst Freundschaft nichts als eine höhere Form des Subjektivismus ist70, entworfen und aufge67 Gustav Freytag: Soll und Haben, in: Gesammelte Werke. Neue wohlfeile Ausgabe. Leipzig, Berlin (Hirzel und Klemm) 1920, Zweite Serie, Bd. 1 und 2. Vgl. besonders Bd. 2, S. 414–416: „Jetzt halten wir dich, du Schwärmender, in den Blättern des Geheimbuches und in unseren Armen.“ 68 Monika Ritzer: „Es liegt mein Stil in meinem persönlichen Wesen“. Individualitätsbegriff und Kommunikationstheorie im Briefwechsel des Realismus am Beispiel Gottfried Kellers, in: Briefkultur im 19. Jahrhundert, hg. v. Rainer Baasner, S. 183– 206, hier S. 195. 69 Ebd., S. 197. 70 „Freundschaft ist daher im Verständnis der beiden genialischen Briefpartner [Gottfried Keller und seines Jugendfreundes Johann Müller] – wie Keller mit Gespür für den Subjektivismus ihres Weltverhältnisses, doch völlig zustimmend feststellt – ,nichts als Eigenliebe‘; in der Sehnsucht nach Vereinigung wirkt, im höheren Sinn, ,Eigennutz‘. Man erkennt die Reminiszenz romantisch-idealistischer Dialektik, wenn Keller als Modell solcher Freundschaft den ,göttlichen Egoismus‘ des Subjekts zitiert, das sich durch die Spiegelung im Andern – sei es Naturding oder

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sucht. Deshalb gibt es unter den Autoren des neunzehnten Jahrhunderts niemanden, der „Realität“ ohne ihren Widerpart, das „Ideal“ oder „Zauberreich“, denken könnte – selbst der erklärte Monist und strenge Naturwissenschaftler Ernst Haeckel schafft das nicht. So wird das Reden und Schreiben über „Alltägliches“, über äußere Gegenstände und „Dinge“ zu einer Therapie, die sich zahlreiche Briefschreiber – seltener Briefschreiberinnen, Frauen scheinen sich den subjektiven Stil als „schönen weiblichen Zug“ bewahren zu dürfen71 – auferlegen, um den Gefahren des Egoismus und Solipsismus zu entgehen. Das kann so weit gehen wie in den Briefen Fontanes an seine Frau, der über Geldsorgen, Konflikte mit der Berliner Zeitungsredaktion, einen Sturz vom Pferd und eine Erkältung im gleichen Schnodderton hinweggeht, so dass seine Frau ihre Beruhigung über seinen Zustand allein aus dem Umstand, dass er schreibt, ziehen kann und aus der „Sprach und Denkweise“ seines Briefes.72 Theodor Fontane ist nun ein ausgesprochen unzärtlicher Briefschreiber, Emilie Fontane muss sich den Nektar seiner Liebe aus kleinen Bemerkungen saugen und seine Briefe eben wie Liebesbriefe nehmen (dein Brief „that mir so wohl wie ein Liebesbrief“, 20. Mai 1857).73 Den „allmählichen Prozeß einer Ernüchterung“ spiegelt Gotthart Erler zufolge, dem Herausgeber des Fontaneschen Ehebriefwechsels „dieser Familienroman in Briefen“ wider, Mensch – zum allgemeinen ,einen Ich‘ erlöst.“ Ritzer, S. 185. (Vgl. Gottfried Keller: Gesammelte Briefe, hg. v. Carl Helbling, Bd. 1, Bern (Benteli) 1950, S. 154). 71 Wo dieses Erratische, eine in die Literatur getragene Mündlichkeit, fehlt, wird die Autorin sogleich verdächtig, wie Heines – und im Anschluss an diesen Julian Schmidts – Bemerkungen über George Sand belegen: „Sie ist einsilbig vielmehr aus Hochmut, weil sie dich nicht wert hält, ihren Geist an dir zu vergeuden, oder gar aus Selbstsucht, weil sie das Beste deiner Rede in sich aufzunehmen trachtet, um es später in ihren Büchern zu verarbeiten.“ (Heine, Sämtliche Schriften (a. a. O.), Bd. 5, S. 264). „George Sand scheint von diesem Geist der Conversation gar Nichts gehabt zu haben. [ . . . ] auf alle Fälle war ihr der mündliche Ausdruck kein Bedürfniß; sie war von Natur Schriftstellerin, und zwar bestimmter gesagt: Dichterin.“ (Julian Schmidt: George Sand, in ders.: Portraits aus dem neunzehnten Jahrhundert, Berlin (Hertz) 1878, S. 222–260, hier: S. 253) In dieser von den Autoren des 19. Jahrhunderts diffus als bedrohlich wahrgenommenen Verweigerung gegenüber dem Gesprächshaften – das dem 18. Jahrhundert noch als das eigentliche Gebiet weiblichen Ausdrucks galt und im Brief sein ideales Medium fand – liegt das Neuartige und Umwälzende der Schriftstellerin George Sand weit mehr als in ihren skandalösen Maskierungen und sexuellen Eskapaden. 72 Emilie und Theodor Fontane: Der Ehebriefwechsel. Hg. v. Gotthart Erler und Therese Erler. Bd. 1: Dichterfrauen sind immer so. Der Ehebriefwechsel 1844– 1857. Berlin (Aufbau) 1998: Große Brandenburger Ausgabe, S. 340 und 348. 73 Ebd., Bd. 2: Geliebte Ungeduld. Der Ehebriefwechsel 1857–1871. S. 57.

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eines gegenseitigen Arrangements mit den menschlichen Möglichkeiten des anderen. [ . ..] Schon im Herbst 1856 schreibt Emilie einmal an ihren Theo: „Deine Herzlichkeit erquickt mich u. ich fange immer mehr an mit dem Maaß u. der Art Deiner Liebe zufrieden zu sein.“74 In diesem Sinne war, trotz mancher Krise und trotz aller Streitereien, die Fontanesche Ehe sehr stabil.75

Aber auch bei weniger ruppigen Ehemännern – etwa Adalbert Stifter oder auch Otto von Bismarck – und auch bei Ehefrauen wie Amalia Stifter herrscht die Überzeugung vor, dass Gefühle sich am besten verschicken lassen, wenn man sie solide verpackt: in Auslassungen über Portogebühren, ausführlichen Beschreibungen der künftigen Wohnsituation, zusammen mit Würsten und Gebäckstükken, die man mit den Briefen verschickt.76 Dem „realistischen“ Zugang zur Welt, der den Anspruch hat, der Wirklichkeit ohne falsche Illusionen zu begegnen, keine Wunschbilder auf den Anderen zu projizieren, sich nicht in die Falle einer Subjektivität zu begeben, die alle Außenbezüge abbricht77 („Kamin, 74 Ebd., Bd. 1, S. 413. 75 Gotthart Erler: Der Briefwechsel zwischen Theodor und Emilie Fontane, in: Das schwierige neunzehnte Jahrhundert. Germanistische Tagung zum 65. Geburtstag von Eda Sagarra im August 1998. Hg. v. Jürgen Barkhoff, Gilbert Carr und Roger Paulin. Tübingen (Niemeyer) 2000, S. 273f. 76 Daher bezeichnen Bohnenkamp und Wiethölter den Brief mit einigem Recht als „Gesamt(kunst)werk, als das Ensemble konkret faßbarer Elemente [ . . . ], durch das sämtliche Sinne angesprochen werden.“ Der Brief – Ereignis & Objekt. Katalog der Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift Frankfurter Goethe Museum 11. September bis 16. November 2008, hg. v. Anne Bohnenkamp und Waltraud Wiethölter, Frankfurt am Main, Basel (Stroemfeld) 2008, S. XI. Ganz sicher ist der von den Herausgeberinnen dieses Ausstellungskatalogs betonte materielle Charakter des Briefes, der weit über die bloße Textlichkeit hinausweise, ein auch für Briefschreiberinnen und Briefschreiber des 19. Jahrhunderts relevanter Sachverhalt. Die radikalen brief- und medientheoretischen Konsequenzen, die Wiethölter und Bohnenkamp hieraus ziehen, kann ich jedoch nicht in vollem Umfang übernehmen. Diese Problematik werde ich am Ende dieses Einleitungskapitels ausführlicher diskutieren. 77 In Bezug auf den Briefwechsel zwischen Lessing und Eva König hat Irmela von der Lühe bereits einen ähnlichen Prozess dargestellt (vgl. Irmela von der Lühe: „Mein lieber Herr Lessing“ – Eva König und G. E. Lessing, in: Der Liebesbrief (a. a. O.), S. 23–34): „Erzähllust und Schreibvergnügen, Realitätssinn und Sinn für die komischen Seiten der Wirklichkeit bestimmen das Briefgespräch zwischen Eva König und Lessing mindestens ebendo stark wie der Wunsch, im Medium des Briefs eine ideelle und virtuelle Gemeinsamkeit zu gestalten und zu genießen., die es realiter während der sechs Jahre der Korrespondenz lediglich drei bis vier Mal gegeben hat.“ (S. 27) „Die Ökonomie der Emotionen und der praktisch alltägliche Geschäftssinn der Briefpartner koinzidieren und beide sind sich in ihrem Vergnügen am sprachlich-intellektuellen rencontre ebenbürtig; in ihrer intellektuellen Leidenschaft für die prägnant-anekdotische Repräsentation des Alltags und der Alltäglichkeit des Lebensvollzugs.“ (S. 33)

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Thee, Times und Liebe sind gut, aber sie reichen nicht aus“, schreibt Fontane am 14. Mai 185778), ist jedoch die Gefahr, die er abwehrt, immer schon als Voraussetzung mitgegeben: es gibt keinen Realismus ohne Romantik, es gibt keine Ernüchterung ohne Trunkenheit, keine Entsagung ohne den Taumel der Leidenschaft. Deshalb ist die Amour passion, die „Wertherliebe“, immer mitzudenken als Voraussetzung ganz unterschiedlicher Briefwechsel nach 1848, wie sie im Folgenden dargestellt werden sollen. Sie alle suchen nach einer Möglichkeit, Liebe lebbar zu machen, bürgerliche Selbsterhaltung (das, was Bohrer zufolge der romantische Briefschreiber preisgibt, um sich selbst durch den Brief zum Kunstwerk zu machen) zu vereinbaren mit einer Vorstellung von Liebe, die ihren Ausgangspunkt und Anlass im Subjektiven hat und sich ausdrücklich jenseits gesellschaftlich sanktionierter oder tradierter Liebespolitik sieht.79 Denn es wäre zu kurz gegriffen, im Falle der hier zur Darstellung kommenden Ehebriefwechsel nur von „Vernunftbeziehungen“ zu sprechen, in denen der Ton eben entsprechend nüchtern wäre, oder wiederum – im Falle der „unvernünftigen“, weil illegitimen Beziehung zwischen Ernst Haeckel und Frida von Uslar-Gleichen – einen grundlegend anderen, leidenschaftlichen oder gar extatischen Briefstil zu erwarten. Zwar deutet einiges darauf hin, dass auf die Beziehungen der Bismarcks und der Stifters, wie auf die der Fontanes der gerade im neunzehnten Jahrhundert unzählige Male wiederholte Kalauer zutrifft, dass es mit dem Eheschluss vorbei sei mit der Leidenschaft: In einem der wenigen erhaltenen Briefe aus der Verlobungszeit mit Emilie Rouanet-Kummer zeigt sich Fontane noch als weit zärtlicherer und vor allem auch ängstlich-eifersüchtigerer Liebhaber als in den Briefen der Ehe („Jedes Liebeswort machte mich sonst lachen, und jetzt les‘ ich die zärtlichen Stellen Deiner Briefe oft zwanzigfach“80). Ein ruhigerer Ton herrscht auch in den Briefen an Johanna von Puttkamer, nachdem sie Johanna von Bismarck geworden ist – aber hinter diesem Wandel steht jeweils weniger ein Erkalten der Gefühle als ein bewusst eingegangener Prozess der Selbsterziehung und Selbstdomestizierung, der das Ich eben retten soll vor dem Verzehren in Gefühlen und Hoffnungen. Entsagung lautet das Stichwort, mit dem allzu großen Gefühlsansprüchen begegnet werden soll. 78 Fontane: Ehebriefwechsel II (a. a. O.), S. 56. 79 Vgl. Luhmann: Liebe als Passion (a. a. O.), S. 170. 80 Fontane: Ehebriefwechsel I, S. 6f.

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Etwas weniger als ein Jahr vor der Hochzeit schickt Theodor Emilie ein Gedicht, dessen letzte Strophe lautet: Das Glück – kein Reiter wird’s erjagen, Es ist nicht dort, es ist nicht hier; – Lern überwinden, lern entsagen, Und, ungeahnt, erblüht es Dir.81

Waren es im 18. Jahrhundert die Verhaltenslehren und Gesellschaftstheorien, über die das Verhältnis des Individuums zur Welt geklärt werden sollte, so erscheinen im neunzehnten Jahrhundert mehr und mehr Glückseligkeitslehren oder Eudämonologien, als welche beispielsweise auch Schopenhauer Die Welt als Wille und Vorstellung (1851) begreift oder wie ihnen Adalbert Stifter in Philipp Karl Hartmanns Glückseligkeitslehre für das physische Leben des Menschen82 ein begeisterter Leser ist. Diese wollen dem Einzelnen Anleitung geben, die Balance zwischen Glück und Verzicht auszutarieren, die allein ein Leben in Zufriedenheit ermöglicht. „Glück“ ist der Begriff, um den das neunzehnte Jahrhundert sich dreht – oder genauer gesagt: die Resignation vom Glück, die Erkenntnis, dass es bestenfalls in der Abwesenheit von Unglück besteht, wie es bei Schopenhauer heißt – eine Schimäre, der also entsagt wird: „Auf Glück ist und Unglück die Welt nicht gerichtet“ reimt Felix Dahn am Ende seines den Struggle for Survival auf die Geschichte übertragenden Kampf um Rom. Glück ist auch etwas, worauf Ernst Haeckel im Sinne des Naturgesetzes keinen Anspruch zu haben meint83. Doch gibt es zugleich auch bereits in den vierziger Jahren – insbesondere im Zuge eines frühen, von George Sand inspirierten Feminismus84 – laute Stimmen des Protests gegen Entsagung und Verzicht im Dienste eines höheren „Allgemeinen“. Fanny Lewald, die in ihrem Roman Eine Lebensfrage von 1845 eine Debatte um das 81 Ebd. S. 8. 82 Philipp Karl Hartmann Glückseligkeitslehre für das physische Leben des Menschen, oder die Kunst, das Leben zu benutzen und dabey Gesundheit, Schönheit, Körperund Geistesstärke zu erhalten und zu vervollkommnen, Leipzig 1808. Vgl. FN 10 und das Kapitel über Stifter. 83 „Resignation, dies herbste aller Worte – Eröffnet uns allein des Friedens Pforte“ reimt er in seinen Briefen und populärwissenschaftlichen Arbeiten mehrfach. Vgl. hierzu das Kapitel über Ernst Haeckel und Frida von Uslar Gleichen. 84 Vg. hierzu: Kerstin Wiedemann: Zwischen Irritation und Faszination. George Sand und ihre deutsche Leserschaft im 19. Jahrhundert. Tübingen (Narr) 2003, bes. S. 289–296.

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Entsagungsmodell der Goetheschen Wahlverwandtschaften führt, lässt ihren Helden Alfred die von ihm geliebte Therese, die die Vollendung ihrer Liebe zu ihm, dem Geschiedenen, nur im pathetischen Verzicht finden zu können meint, beschwören: Glauben Sie, daß es eine wahre Liebe gibt, die nicht nach gänzlicher Vereinigung strebt? Ich halte das für ihr Kennzeichen. Schelten Sie mich engherzig, eigensüchtig – ich muß es ertragen. Ich hasse alle Entsagungstheorien. Ich will besitzen, was ich liebe, es soll mein sein und müßte ich es der Welt abtrotzen. Ja! ich hasse sie tief, all die blasse verzichtende Entsagung, denn wir sind sicher zum Glück, nicht zum Entbehren auf der Welt.85

Doch derartigen idealistischen Aufschwüngen steht das Gesetz der Sitte entgegen. In seinem Aufsatz über George Sand erklärt Julian Schmidt, der Theoretiker des poetischen Realismus, unumwunden, was die Frau zu erwarten hat, die mit diesem Gesetz bricht: Die sicherste Schutzwehr ist die Sitte. Die Roheit des Stärkern wird verfehmt und zieht Verachtung nach sich; das Weib, das ich im Kreis der Sitte hält, lebt darin sicher und gewinnt sogar einen bestimmenden Einfluß auf die Gesellschaft. Wie Goethe richtig bemerkt: über das, was sich ziemt, wissen edle, d. h. wohlerzogene Frauen am besten zu urtheilen. Die Frau, welche der Sitte untreu wird, verliert auch den Schutz der Sitte.86

Entsprechend erteilt in Lewalds Roman Therese dem idealistischen Glückspostulat des Geliebten auch eine Absage: Der Muth zum Kampfe und die Lust daran mögen in der Natur des Mannes liegen, ich besitze sie Beide nicht, entgegnete Therese. Der bloße Gedanke an große Zerwürfnisse ängstigt mich, ich habe Furcht vor dem Urtheile der Menge; ich wäre untröstlich, müßte ich je einen Schritt thun, der die Augen fremder Leute auf mich zöge; und ich begreife nicht, wie eine Frau es überwindet, mit der Oeffentlichkeit in Berührung zu treten.87

Dass „Realismus“ hier explizit die Unterordnung der Liebe unter das Realitätsprinzip bedeutet, zeigt der Spott, mit dem Karl Gutzkow und Karl Frenzel in den späten fünfziger Jahren gegen dieses Prinzip einer grau in grau gefärbten Alltäglichkeit anschreiben und sich dabei zitierend auch direkt gegen Julian Schmidt richten: 85 Fanny Lewald: Eine Lebensfrage, Neue, von d. Verf. veranstaltete, rev. Ausg., in: Gesammelte Werke. Bd. 10, Berlin (Janke) 1872, S. 87f. 86 Julian Schmidt: George Sand, in ders.: Portraits aus dem neunzehnten Jahrhundert. Berlin (Hertz) 1878, S. 222–260, hier: S. 243f. 87 Lewald: Eine Lebensfrage (a. a. O.), S. 88.

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Man hat daher gesagt: Lassen wir die Ideale, die großen Bestrebungen der Zeit, retten wir uns in die Wirklichkeit, die sich mit unsern leiblichen Augen sehen, mit unsern Händen greifen läßt! Setzen wir den ätherischen Gestalten der Theeromantik unsere Bauernmädchen, den träumerischen Handwerkern der George Sand unsere Commis entgegen! Es waren, weil allmälig sich heranbildend, keine ursprünglichen Poeten, die so dachten, aber sie besaßen ein scharfes Auge für diese Realität und flüchteten sich in ihre kleinsten Kreise, weil sie dieselben am leichtesten übersehen und in eine gewisse malerische Perspective setzen konnten. Sie gefielen sich in der Schilderung der Alltäglichkeit. Die kritischen Vertheidiger dieser Richtung leugnen die Nothwendigkeit einer phantastischen Welt für ein wahres, kunstgemäßes Gedicht; nur „bei seiner Arbeit“ soll der Roman das Volk aufsuchen, nicht bei seinen Ahnungen, Wünschen, Gefühlen. Als ob nicht gerade in dieser Innerlichkeit der beste, arbeitende Theil seines Wesens läge, als ob sie, in seine Thaten hineingearbeitet, nicht diesen erst Werth und Geltung verliehe!88

Sowohl Gutzkows progressiver Idealismus, wie der Schmidtsche poetische Realismus umkreisen aber von unterschiedlichen Seiten das Problem einer Verbindung von Ideal und Wirklichkeit, die letzten Endes immer wieder einen Dualismus bestätigt, der – mit diesem Widerspruch weist man auf nichts neues hin – eine Kunst und Literatur generiert, die den Bereich der Wirklichkeit einerseits und Liebe und Leidenschaft auf der anderen Seite als voneinander abhängige Opponenten immer wieder gegeneinander auf und aufeinander zu führt: „Selbst wenn die Geschichte scheinbar von anderem handelte, zog die Liebe hinter den Kulissen die Fäden.“89 Hier – so prangern Autoren wie Schopenhauer oder Max Nordau an – entzündet sich die Phantasie des Bürgers und lässt ihn und sie die angelesenen Muster auf das eigene Leben übertragen. die Folgen sind fatal, wie nicht erst Emma Bovary zeigt. So wird inmitten eines Umfelds von Entsagung und Mäßigung der Liebe einer Isolde und eines Tristan gehuldigt, dem Inbegriff einer exzessiven, gesellschaftlich unmöglichen und nur als Negation der Wirklichkeit denkbaren Liebe. Bewusst stürzt sich Richard Wagner in der Entstehungszeit des Tristan in ein Verhältnis zur verheirateten Mathilde Wesendonck, wiederum eine Fern- und Brief88 Karl Gutzkow, Karl Frenzel: Die „realistischen“ Erzähler (1857), in: Unterhaltungen am häuslichen Herd. Leipzig. N.F. Bd. 2, Nr. 17, [24. Januar] 1857, S. 270–271, hier S. 270. Zit. nach: Gutzkows Werke und Briefe. Kommentierte digitale Gesamtausgabe, herausgegeben vom Editionsprojekt Karl Gutzkow, 1999ff, http://projects.exeter.ac.uk/gutzkow/Gutzneu/gesamtausgabe/LitKrit/ReaErz.htm (zuletzt aufgerufen am 24. 1. 2011). 89 Gay: Liebe als Passion, S. 140.

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liebe, um im selbstinszenierten Trennungsschmerz ein ideales Kunstwerk schaffen zu können. An seine Schwester Kläre schreibt er hierüber am 20. August 1858: Was mich seit sechs Jahren erhalten, getröstet, und namentlich auch gestärkt hat, an Minna’s [seiner Ehefrau, R. L.] Seite, trotz der enormen Differenzen unseres Karakters und Wesen’s, auszuhalten, ist die Liebe jener jungen Frau, die mir anfangs und lange zagend, zweifelnd, zögernd und schüchtern, dann aber immer bestimmter und sichrer sich näherte. Da zwischen uns nie von einer Vereinigung die Rede sein konnte, gewann unsere tiefe Neigung den traurig wehmüthigen Charakter, der alles Gemeine und Niedre fern hält, und nur in dem Wohlergehen des Andren den Quell der Freude erkennt. Sie hat seit der Zeit unsrer ersten Bekanntschaft die unermüdlichste und feinfühlendste Sorge für mich getragen, und Alles, was mein Leben erleichtern konnte, auf die muthigste Weise ihrem Manne abgewonnen. Dieser konnte der offenen Unumwundenheit seiner Frau gegenüber nicht anders als bald in wachsende Eifersucht verfallen. Ihre Größe bestand nun darin, dass sie stets ihren Mann von Ihrem Herzen unterrichtet hielt, und ihn allmählich bis zur vollsten Resignation auf sie bestimmte. Mit welchen Opfern und Kämpfen diess nur geschehen konnte, lässt sich leicht ermessen: was ihr diesen Erfolg ermöglichte konnte nur die Tiefe und Erhabenheit ihrer, von jeder Selbstsucht fernen, Neigung sein, die ihr die Kraft gab, ihrem Mann sich in solcher Bedeutung zu zeigen, dass dieser, wenn sie endlich mit ihrem Tode drohen konnte, von ihr abstehen und seine unerschütterliche Liebe zu ihr dadurch bewähren musste, dass er sie selbst in ihrer Sorge für mich unterstützte. [. . .] Diesen unerhörten Erfolg hatte diese herrliche Liebe des reinsten, edelsten Weibes; und diese Liebe, die stets unausgesprochen zwischen uns blieb, musste sich endlich auch offen enthüllen, als ich vorm Jahre den Tristan dichtete und ihr gab. Da zum ersten Male wurde sie machtlos und erklärte mir, nun sterben zu müssen! [. .. ] Doch wir erkannten sogleich, daß an eine Vereinigung zwischen uns nie gedacht werden dürfe; somit resignirten wir, jedem selbstsüchtigen Wunsche entsagend, litten, duldeten, aber – liebten uns! -90

Exakt dasselbe könnte erstaunlicherweise Wagners monistischer Antipode Ernst Haeckel von seiner Liebe zu Frida von Uslar-Gleichen sagen. Entsagung braucht etwas, dem entsagt wird. Aus der Spannung zwischen einem sehnsüchtig mit größtem Aufwand kultivierten Ideal und einem rigiden Ethos der Pflicht konstituiert sich das Subjekt des neunzehnten Jahrhunderts. „Mitten in der ungeheuren Bewegung des Kulturlebens“, schreibt Otto Ludwig in seinen Romanstudien, 90 Richard Wagner an Clara Wolfram am 20. August 1858, in: Sämtliche Briefe, Bd. 10: 17. August bis 31. März 1859, hg. v. Andreas Mielke, Wiesbaden, Leipzig, Paris (Breitkopf und Härtel) 2000, S. 27f. Vgl. auch G. Will: Einleitung zu Richard Wagner an Mathilde und an Otto Wesendonk. Berlin (Schreiter) o. J., S. 7.

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strebt der Mensch, das Paradies, in welches er nicht äußerlich zurückkehren kann, in sich aufzubauen [ . .. ] eine grüne Oase, wo er zuweilen von dem Staub und Lärm des Geschäftsweges einkehrt und von da gestärkt und mit neuer Lust oder immer gebrochner und unbefriedigter wiederum in den Staub und Lärmen sich stürzt oder schleicht.91

Bezeichnend, dass es diese zweite Option der wachsenden Unzufriedenheit gibt. Hierin liegt wohl der eigentliche Bruch mit dem Idealismus, den der poetische Realismus vollzieht. Ein Erbteil des Byronismus, des kultivierten Leidens an der Wirklichkeit, das allen eschatologischen Konzepten, aller laut bekundeten Fortschrittsgläubigkeit entgegensteht und sich gerade bei deren Repräsentanten auffällig häufig findet. Nur scheinbar wird die romantische Liebe durch das privatisierte, objektivierte, realistische neunzehnte Jahrhundert überwunden. Womöglich – die in dieser Arbeit behandelten Liebesbriefwechsel werden das zeigen – erfüllt sich gerade in den Briefen der desillusionierten oder entsagenden Generation nach 1848 der Anspruch romantischer Liebe, in der Liebe eine ganze Welt zu stiften, „in der die Liebe sich immer neu informiert, indem sie das, was etwas für den anderen bedeutet, ihrer Reproduktion zu Grunde legt.“92 Man kann das leicht mit Freud erklären: „der Glückliche phantasiert nie.“ Diese Bemerkung aus Der Dichter und das Phantasieren von 190893 liefert gewissermaßen die Formel, nach der ein sich zur Korrektheit und Entsagung, zur Objektivität und zum Funktionieren abrichtendes Bürgertum in gewaltigen Phantasmagorien, in Kunstwerken, deren Dimensionen immer weiter ausufern, Gegenwelten zur Erfüllung seiner verdrängten Wünsche schafft, die in der Tat rein quantitativ alles bisher in der Geschichte da gewesene übersteigen. Für einen Freudianer wie Peter Gay ist die Funktion des Romans für das neunzehnte Jahrhundert und sein Liebesverhalten denn auch hier zu suchen: „er konservierte und formulierte erotische Phantasien von universeller Bedeutung, aber unverwechselbarem Ausdruck.“94 Obwohl er durchaus anerkennt, dass nicht alles in der gigantischen Romanproduktion des bürgerlichen Zeitalters Trivialware ist, ist ihm doch Wunscherfüllung und Behaglichkeit letztes Ziel aller bürgerlichen Lesesucht95. 91 Otto Ludwig: Romanstudien (a. a. O.), S. 641. 92 Luhmann: Liebe als Passion (a. a. O.), S. 178. 93 Sigmund Freud: Der Dichter und das Phantasieren. In S. F. Gesammelte Werke chronologisch geordnet. Hg. v. Anna Freud. Bd. 7: Werke aus den Jahren 1906– 1909. London, Frankfurt am Main (Imago, Fischer) 71993, S. 216. 94 Gay: Die zarte Leidenschaft (a. a. O.), S. 146.

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Zugleich aber – und das macht die Bedeutung des Romans für die Liebesvorstellungen des neunzehnten Jahrhunderts so widersprüchlich und vielschichtig – liefert der Roman auch die Ordnung, scheidet zwischen abschreckenden Beispielen von Liebenden, die sich vernunftlos ihren Gefühlen überlassen, und positiven Gegenbildern freiwilliger Selbstbeschränkung und des Arrangements mit den Verhältnissen. Hierin liegt für Gay offenbar vor allem eine Entsprechung zur Doppelmoral, die das 19. Jahrhundert sich insgesamt leistet: Die Leser zogen aus solcher aufreizenden Literatur doppelten Gewinn. Sie durften sich unerhört kühn vorkommen, wenn sie sich an schauerliche sexuelle Erfahrungen wagten, die ihnen normalerweise unerreichbar fern waren. Und sie durften die Erleichterung genießen, die mit der Enthüllung bewahrter Unschuld einherging.96

Doch es gibt Ausnahmen von dieser für das neunzehnte Jahrhundert scheinbar pauschal geltenden Regel der Ich-Duplizierung, der Trennung von Innen und Außen zum Zwecke der Sublimierung allen Begehrens, der Aufspaltung von zärtlicher und sinnlicher Liebe, wie es bei Freud heißt,97 der Selbstabrichtung und Zweckmäßigmachung. einige der in dieser Arbeit vorgestellten Briefschreiberinnen und Briefschreiber suchen nach Möglichkeiten des Ausgleichs, nach Überwindung des dichotomischen Extremismus – eine Suche, die teilweise von Erfolg gekrönt ist.

95 Worin er sich mit den Romankonzepten des bürgerlichen Realismus trifft. „Das romantische Behagen ist eine Hauptbedingung“ (eines geglückten Romans) schreibt Otto Ludwig (Romanstudien, S. 642) und meint damit ein vollkommenes Equilibrium der Mittel, Kräfte und Wirkungen. 96 Gay: Die zarte Leidenschaft, S. 154f. Hier lässt sich exemplarisch die bekannte Gegenüberstellung von Ernest Feydaus Fanny und Flauberts Madame Bovary anführen. Feydau schildert fast die selben Vorgänge, sein auktorialer Erzähler distanziert sich aber unentwegt von dem, was er dennoch genüßlich beschreibt. Der auktoriale Erzähler ist in dieser Funktion durchaus Repräsentant einer sich hier tatsächlich breitmachenden bürgerlichen Doppelmoral. In gewisser Hinsicht übernehmen die Entrüstung demonstrierenden Randschmierereien (größtenteils offenbar aus der Zeit der Publikation), die ich in dem Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek der Erzählungen von Leopold von Sacher-Masoch vorgefunden habe, dieselbe Funktion! 97 Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, in: StA Bd. V (Sexualleben), Frankfurt am Main (Fischer) 1972, S. 112.

1.3 Intimität, Imagination, Inszenierung (Erzählen, Beschreiben, Detail)

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1.3 Intimität, Imagination, Inszenierung (Erzählen, Beschreiben, Detail) Liebe wird im frühen neunzehnten Jahrhundert zum Kommunikationsmedium98, d. h., der Liebesdiskurs beruht nicht mehr auf festen Kriterien der Wahl des Liebespartners und erwartbaren Eigenschaften eines geliebten Gegenübers, sondern auf der Idee des Zusammentreffens zweier sich als Subjekte konstituierender Individuen, aus deren Verbindung ein Individuelles und Einmaliges hervorgeht. Nicht mehr ist der Augenblick der Liebe also der des heraustretenden „wahren“ Ich, wie das für die Empfindsamkeit weitestgehend (mit allen individuellen Einschränkungen, die es immer gibt) noch Gültigkeit hatte (Silvias „Je vois clair dans mon cœur“ beim frühen Marivaux99, problematischer schon bei Lessing100), sondern Liebe prozessualisiert sich zu einer Hermeneutik des Aufeinanderzugehens, Sich-Annäherns und -Abstoßens, des Missverstehens und Versöhnens, das jetzt mehr und mehr als inhärenter Bestandteil der Liebesbegegnung gedacht wird. So gibt es auf der einen Seite kein verbindliches metaphysisches Modell mehr, das die Zufälligkeit einer einzelnen Liebe in einer höheren – platonisch oder wie auch immer zu denkenden – Wahrheit verankert, auf der anderen Seite ist es den Protagonisten des neunzehnten Jahrhunderts aber nicht möglich, sich mit einem daraus resultierenden Relativismus abzufinden. Das Resultat hieraus sind Privatmythen, in denen die Liebespaare sich, ihre Arbeit, ihre Ideale mit der Welt verknüpfen. Symbol und Analogie treten an die Stelle des idealen Überbaus. So ist es nicht mehr der coup de foudre, ein plötzliches „Erkennen“, in dem sich Liebe bekundet, sondern hier wie in der Literatur tritt ein quasi episches Verfahren an die Stelle des dramatischen Augenblicks bzw. schließt sich an diesen an und wird die eigentliche Aufgabe des Liebenden. Liebe entwickelt sich in der Zeit als ein Geflecht von Bildern, Assoziationen, Erinnerungen in den Imaginationen der Liebenden. Die Liebenden schreiben gemeinsam an 98 Vgl. Luhmann: Liebe als Passion, S. 170. 99 Le jeu de l‘amour et du hasard II,12 – als ihr der als Diener verkleidete Dorante gesteht, wer er wirklich ist – und damit ihre heimliche Liebe zu ihm, die sie bisher für illegitim halten musste, mit einem Schlag für rechtmäßig und natürlich erklärt. 100 Für Minna von Barnhelm droht die Liebe trotz dieser Erkenntnis an den Vorstellungen und Begriffen des Geliebten zu scheitern.

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der Erzählung ihrer Liebe, die sie in ausgedehnten Briefwechseln hinterlassen. Deshalb ist die Dopplung des Subjekts jetzt geradezu Voraussetzung der Liebe im Zeitalter des Erzählens, das an die Stelle der Wahrheit tritt: Das Subjekt muss seiner empirischen Erfahrung selbst den Stoff zum Transzendentalen, dem, was in den Poetiken der Zeit das „Allgemeine“ genannt wird, entnehmen. Das Subjekt stellt sein emotionales Erleben als Objektiv vor sich hin und richtet sich wiederum daran als an einem Maßstab aus, an dem es sich selbst erzieht: ein selbst gestifteter Minnedienst. Man kann sagen, dass im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts das Phänomen der „Liebesbeziehung“ aufkommt, wenn auch noch nicht der Begriff: „Die Sozialität des Liebens wird somit als Steigerung der Chance zur selbstbewußten Selbstbildung begriffen“.101 Deshalb kann das Projekt einer sich vergesellschaftenden Liebe – oder einer sich in die Welt eingliedernden Liebe – kein „geselliges“ im Sinne der Aufklärung und des 18. Jahrhunderts mehr sein. Denn die galante Liebe oder auch die „Simultanliebe“ der Mitglieder des Jean-Paul-Kreises102 setzten doch bei allem Risiko, bei aller Grenzüberschreitung eine zuverlässige Kategorie als Grundlage voraus: die Wahrheit des Herzens. Und wenn sie nicht mehr an diesen Punkt vordrangen, sich verirrten, den Boden unter den Füßen verloren – dann flüchteten sie in die Konvention literarischer Muster. Ähnlich tun das zwar auch Autoren des neunzehnten Jahrhunderts – aber nicht mehr mit dem Gestus des „Nochmal Glück gehabt“, sondern mit einer von vornherein tragischen Grundhaltung als Voraussetzung. Das Gefühl, in einem Zwiespalt zu stecken, das Leben als Tragödie bestehen zu müssen, bestimmt die meisten Autoren der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts: „Zerrissenheit“, der Zentralbegriff des europäischen Byronismus ist das modische Lebensgefühl dieser Zeit. Er meint eine unaufhebbare Unzufriedenheit mit dem Bestehenden (dem „Lärm“ und „Staub“ des „Geschäftsweges“, von dem bei Otto Ludwig die Rede war).

101 Luhmann: Liebe als Passion, S. 172. 102 Vgl. Jörg Paulus: „Simultanliebe“ in „Schäfersekunden“. Liebesbriefkultur im Jean Paul Kreis, in: Der Liebesbrief (a. a. O.), S. 35–59, bes. 37ff.

1.4 Stendhals Konzept der Kristallisation

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1.4 Stendhals Konzept der Kristallisation In den wichtigsten Darstellungen zu Liebeskonzepten des neunzehnten Jahrhunderts herrscht Einigkeit darüber, dass Stendhals zunächst als „Physiologie der Liebe“, dann unter dem Titel De l‘Amour (der sie wegrückt von der spätaufklärerischen Tradition, auf der Stendhal dennoch aufbaut) erschienene Abhandlung eine Art Verfassung des Liebesverständnisses bildet, wie es das bürgerliche Zeitalter beherrscht. Für Peter Gay ist Stendhal der „lohnendste Philosoph der Liebe“, der „jene geistigen Traditionen“ verschmölze, „die den gewöhnlichen Bürger so unbehaglich stimmten“103. Zwischen Stendhal und Freud oszillieren die Liebesverhältnisse des neunzehnten Jahrhunderts für Gay. Kristallisation und Unbehagen in der Kultur sind in der Tat zwei Konzepte, die sich auf merkwürdige Weise bedingen und ergänzen: „Der eindringlichste, wenn auch keineswegs vollständige oder absolut befriedigende Beitrag zu diesem Genre [einer „Wissenschaft der Liebe“ um die sich gerade Denker des neunzehnten Jahrhunderts besonders bemüht hätten, R. L.] kam nach 1900 mit dem Werk Sigmund Freuds. Unter dessen Vorgängern aber ragt Stendhals De l‘Amour einsam hervor.“104 „Stendhals Behandlung der Phantasie in De l‘Amour ist sein bleibendster Beitrag zu den Liebestheorien des 19. Jahrhunderts.“105 Dass Stendhal die Liebe in der Imagination des Liebenden, gewissermaßen unabhängig von ihrem Gegenstand, ja geradezu im Widerspruch zu dessen Realität, entstehen lässt (ein Vorgang, den er „Cristallisation“ nennt), als eine Art zerebrales Privattheater, ist sicherlich die entscheidendste und weitwirkendste These seiner Schrift. Auch wenn er hier vieles von Vorgängern wie Destutt de Tracy übernimmt, stellt Stendhals De l‘Amour aus dem Jahre 1822 so etwas wie die vorweggenommene Summe der Liebeskonzepte des neunzehnten Jahrhunderts dar, die auch für diejenigen Autoren, die eine Realität der Liebe gegen deren Verlagerung in die Imagination des Betrachters behaupten und verteidigen (etwa der zu Beginn zitierte Max Nordau oder Ortega y Gasset, von dem noch die Rede sein wird), den wichtigsten Bezugspunkt bildet.

103 Gay: Die zarte Leidenschaft, S. 64. 104 Ebd. 105 Ebd., S. 69.

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Tatsächlich ist dieser Punkt zentral für Stendhals Auffassung der Liebe: sie ist ein schöner Selbstbetrug, eine hohe Kunst der Einbildungskraft, die nicht jeder beherrscht.106 Sie besteht in komplexen Verknüpfungsleistungen, Symbolisierungen, dem Entdecken und Inbezugsetzen von Zeichen, die auf die Geliebte verweisen („Selbst ihre kleinen Schönheitsfehler, eine Blatternarbe etwa, entzücken unseren Liebenden und versetzen ihn in tiefe Träumereien, wenn er sie an einer fremden Frau entdeckt“107). Indem aber die Liebe so zu einem Prozess erklärt wird, verzeitlicht Stendhal sie und macht sie damit auch endlich. Gegen eine derartige Konzeption der Liebe richtet sich letzten Endes auch Max Nordaus Angriff auf eine durch literarische Fremdbilder hervorgebrachte Liebe von 1885 („Neunundneunzigmal unter hundert Fällen ist in den gebildeten Klassen namentlich der großstädtischen Bevölkerung das, was man selbst für Liebe ausgibt, keine im Organismus entstandene Liebe, sondern Wirkung dichterischer Suggestion.“108) Selbst ihre Gegner aber bestätigen, auch wenn sie diese Phantasie-Liebe als „falsch“ ablehnen, die hohe Bedeutung und weit reichende Wirkung von Stendhals Liebeskonzept – auch, wenn es anfänglich kaum wahrgenommen wurde und die erste deutsche Übersetzung erst 1888 erschien, trifft es ganz offensichtlich einen Nerv, vielleicht auch wunden Punkt des neunzehnten Jahrhunderts. Am eindrücklichsten und zugleich differenziertesten wird der Begriff der „Cristallisation“ bei Stendhal in einem autobiographischen Fragment auseinandergesetzt, das erst 1853 aus dem Nachlass des Autors erschien und in der ursprünglichen Fassung der Abhandlung De l‘Amour von 1822 nicht enthalten war: Le Rameau de Salzbourg. 106 In diese Tradition einer als Werk zu gestaltenden Liebe stellt sich noch Ingeborg Bachmann: „Liebe ist ein Kunstwerk, und ich glaube nicht, daß es viele Menschen können.“ (Ingeborg Bachmann: Gespräche und Interviews. Hg. v. Christine Koschel und Inge von Weidenbaum. München, Zürich 1983, S. 109. Zit. nach Renate Stauf: „Erklär mir, Liebe“. Kunst des Liebens und Liebessprache im Briefwechsel Ingeborg Bachmanns mit Hans Werner Henze, in: Der Liebesbrief (a. a. O.), S. 401–423. 107 Stendhal: Über die Liebe. Deutsch mit einer Einführung von Friedrich von Oppeln-Bronikowski, in: Stendhal (Herni Beyle): Werke. Hg. v. Carsten Peter Thiede, Ernest Abravanel, Bernhard Frank, Ursula Mathis, Kurt Wais. Bd. (o. Z.): Über die Liebe, Armance, Lamiel. Berlin (Propyläen) 1982, S. 76. 108 Max Nordau: Zur Naturgeschichte der Liebe, in: Paradoxe. Neue Ausgabe. Zweite Hälfte. Leipzig (Victor Ottmann) 1891, S. 273.

1.4 Stendhals Konzept der Kristallisation

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Die Wirkung der Liebe auf die Imagination des Liebenden vergleicht Stendhal in dieser Erzählung mit den Kristallen, die sich in den Salzbergwerken von Hallein bei Salzburg nach wenigen Monaten auf Zweigen bilden, die von den Bergleuten in alte Salzminen gelegt werden. Den Mittelpunkt einer Reisegruppe, der Stendhal angehört, bildet die anmutige Madame Gherardi109, von ihren Freunden La Ghita genannt, eine der vielen unglücklichen Lieben Stendhals, deretwegen der spanische Philosoph Ortega y Gasset dem Franzosen von vornherein jede Kompetenz in Fragen der Liebe absprechen wollte. Auch ein junger schöner bayerischer Offizier hat sich auf einen Schlag in sie verliebt: Was mich stutzig machte, war der Einschlag von Narrheit, der in den Reden des Offiziers immer stärker wurde. Immerfort entdeckte er an Frau Gherardi Vorzüge, die meinen Augen immer unsichtbarer wurden. Das Bild, das er von der Frau entwarf, die er zu lieben begann, wurde immerfort unähnlicher. Ich sagte mir: „Die Ghita ist offenbar nur ein Anlaß für die Schwärmerei des armen Deutschen.“ So begann er Frau Gherardis Hand zu preisen, die durch die Blattern, die sie als Kind gehabt hatte, ganz entstellt und zudem von der Sonne gebräunt war. „Wie erkläre ich mir diese Beobachtung?“ fragte ich mich. „Wo finde ich einen Vergleich, der meine Gedanken klarer macht?“ In diesem Augenblick spielte Frau Gherardi mit dem hübschen, mit lokkeren Diamanten bedeckten Zweige, den die Bergleute ihr gegeben hatten. Es war heller Sonnenschein – wir hatten den 3. August –, und die kleinen Salzkristalle funkelten so schön wie die schönsten Diamanten in einem strahlenden Ballsaal. Der bayrische Offizier, der einen noch glänzenderen und eigenartigeren Zweig bekommen hatte, bat Frau Gherardi, mit ihm zu tauschen. Sie tat es. Als er ihren Zweig bekam, drückte er ihn mit einer so komischen Gebärde ans Herz, daß alle Italiener laut auflachten.110

109 Vgl. hierzu auch W. G. Sebald: Beyle oder das merckwürdige Faktum der Liebe, in: Schwindel. Gefühle. Frankfurt am Main (Fischer), 6. Aufl., 2005, S. 26: „Diese Ghita, die am Rand von Beyles späterem Werk noch einige Male in Erscheinung tritt, ist eine mysteriöse, um nicht zu sagen geisterhafte Gestalt. Es gibt Grund für die Vermutung, daß Beyle ihren Namen als Chiffre für verschiedene seiner Liebhaberinnen [ . . .] einsetzte und daß Madame Gherardi, deren Leben, wie Beyle an einer Stelle schreibt, leicht einen ganzen Roman ausmachte, allen dokumentarischen Angaben zum Trotz in Wirklichkeit gar nicht existiert hat und nur eine Art Phantomfigur gewesen ist, der Beyle dann jahrzehntelang die Treue gehalten hat.“ In der Liebe zu dieser chimärischen, aus der Überblendung verschiedener Frauen hervorgegangenen Gestalt, die in Sebalds Erzählung selbst wiederum die Liebe zu einer bloßen Chimäre erklärt, derer der Mensch nicht wirklich bedürfe, würde sich Stendhal in der sebaldschen Perspektive abermals als der Meister der Literaturliebe erweisen, der diese Kunst zur letzten, nicht zu überbietenden Steigerung brächte. 110 Stendhal: Über die Liebe (a. a. O.), S. 357f. Die Stelle lautet im Original: „Ce qui

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Deutlich stellt Stendhal den Widerspruch zwischen der Wahrnehmung des Bayern und einer als quasi objektiv gesetzten Hässlichkeit der Hand der ansonsten schönen Ghita heraus. Die Möglichkeit, dass diese Hand einen Reiz haben könnte, der ihm selbst entgeht, wird nicht erwogen. Daher ist für ihn auch klar, dass der Gegenstand nur Anlass einer Fantasieleistung sein kann, dass sich der beobachtete Vorgang nur negativ beschreiben lässt. Stendhal simuliert nur ein Experiment. Er beobachtet etwas, dessen Bedeutung offen zutage liegt. Die Schwierigkeit besteht nicht darin, sich das Verhalten des Bayern zu erklären, sondern ein Vergleichsbild dafür zu finden! Stendhals Denken kreist um dieses Bild, das er sucht, nicht um die Analyse des beobachteten Verhaltens. Und die Analogie ergibt sich als Epiphanie, als Überblendung der hässlichen Hand, und des eigentlich hässlichen Zweiges, der jetzt in dieser Hand funkelt und sich, aufblitzend, keck selbst aufdrängt. Stendhal will nicht die Situation verstehen, analysieren, sondern ein Bild, ein Zeichen, ein Emblem dafür finden. Dieses Emblem drängt sich aber so bereitwillig auf, weil es in Wahrheit bereits ein Bild gibt, das Stendhal in dem Verhalten des Bayern gegenüber der Hässlichkeit einer Geliebten erkennt, weil es für Stendhal bereits der Inbegriff des Liebenden ist: Der unglücklich Liebende wird ausgelacht, er ist lächerlich, die Schönheit der Geliebten ist eine Illusion – Stendhals vermeintliche Beobachtung geht auf ein bereits existierendes Bild zurück, das des Don Quixote und das des Werther, beides Urbilder des kristallisierenden Liebenden. In seiner Gegenüberstellung Don Juans und Werthers im 63. Kapitel von De l‘Amour, in der er diesen beiden Prototypen von Liebenden Rollen zuweist, die deme frappait, c‘e´tait la nuance de folie qui, sans cesse, augmentait dans les re´flexions de l‘officier; sans cesse il trouvait a` cette femme des perfections plus invisibles a` mes yeux. A chaque moment, ce qu‘il disait peignait d‘une manie`re moins ressemblante la femme qu‘il commenc¸ait a` aimer. Je me disais: „La Ghita n‘est assure´ment que l‘occasion de tous les ravissements de ce pauvre Allemand.“ Par exemple, il se mit a` vanter la main de Mme Gherardi, qu‘elle avait eue frappe´, d‘une manie`re fort e´trange, par la petite ve´role, e´tant enfant, et qui en e´tait reste´e tre`s marque´e et assez brune.,Comment expliquer ce que je vois?‘ me disais-je. ,Ou` trouver une comparaison pour rendre ma pense´e plus claire?,A ce moment Mme Gherardi jouait avec le joli rameau couvert de diamants mobiles, que les mineurs venaient de lui donner. Il faisait un beau soleil: c‘e´tait le 3 aouˆt, et les petits prismes salins jetaient autant d‘e´clat que les beaux diamants dans une salle de bal fort e´claire´e. L‘officier bavarois, a` qui e´tait e´chu un rameau plus singulier et plus brillant, demanda a` Mme Gherardi de changer avec lui. Elle consentit; en recevant ce rameau il le pressa sur son cœur avec un movement si comique, que tous les Italiens se mirent a` rire. (Stendhal: De l‘Amour, hg. v. Arthur Schurig, Leipzig (Insel) 1920, S. 374f.

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nen verblüffend ähnlich sind, die Deleuze de Sade und SacherMasoch zuweist (worauf im Kapitel zu Sacher-Masoch noch eingegangen werden wird), plädiert Stendhal eindeutig für die Wertherliebe, die Wahrnehmung und Persönlichkeit erweitere, „jeder Fels [spricht] von ihr in einer anderen Weise und erzählt ihm etwas Neues“111, doch dem Liebenden auch Momente der Lächerlichkeit verschaffe, die dem erobernden Liebhaber erspart blieben: Ich glaube gern, daß der Herzog [von Richelieu, den Stendhal dem Typus Don Juan zuzählt, R. L.] niemals Augenblicke erlebt hat, wie Rousseau im Park von La Chevrette bei Frau von Houdetot; in Venedig, als er die Musik der Scuole genoß, oder in Turin zu Frau Baziles Füßen. Aber dafür brauchte er auch nie über die Lächerlichkeit zu erröten, mit der Rousseau sich bei Frau von Larnage bedeckte und die ihm zeitlebens eine peinliche Erinnerung blieb.112

Ob die Lächerlichkeit des jungen Rousseau, der Mme de Larnage aus Schüchternheit und Unerfahrenheit die Initiative des ersten Kusses überlässt, tatsächlich so groß ist, ist weniger erheblich als der Fakt, dass Stendhal die Lächerlichkeit zu einer selbstverständlichen Begleiterscheinung der Werther-, der Imaginationsliebe erklärt. In der Betonung der Lächerlichkeit des Liebenden liegt für Stendhal – wie noch für Roland Barthes – das Pathos seines Zustandes. Mit der Lächerlichkeit wird aber auch die Welt, die Gesellschaft wieder mit in den Liebesdiskurs hineingeholt, durch deren Augen Wirklichkeitsverkennung erst zur Lächerlichkeit wird. Der (hier gemeinte) da Ponte/Mozartsche Don Juan setzt sich als Subjekt, indem er sich dem gesellschaftlichen Kontext enthebt. Werther und Don Quixote dagegen sehen sich Objektivierungen ausgesetzt. Deshalb erscheint mir auch nur halb richtig, was Rainer Warning über die Imagination in De l‘Amour sagt: Die Pointe der Metapher vom Reisigzweig in den Salzburger Minen liegt ja nicht etwa darin, daß sich unter kristalliner Vollkommenheit Banales verbirgt – das wäre noch moralistisch-dekuvrierend gedacht –, sondern daß das eine, die imaginäre Kristallisation, das andere, die Realität zum Verschwinden bringt. Nicht auf den Gegensatz zwischen der ,Wahrheit‘ des Reisigzweigleins und der ,Illusion‘ der Kristallisation kommt es an, wie denn ein solcher Gegensatz in Stendhals Romanen nirgends greifbar geschweige denn thematisch würde, sondern auf den zwischen kontingenter Wirklichkeit und einem totalisierenden Weltverhältnis, das nicht wahrheitsfähig, aber auch nicht wahrheitsbedürftig ist, weil das Begehren 111 Ebd., S. 282. 112 Ebd., S. 277.

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in der Immanenz idealisierender Projektion ansetzt und sich in dieser Immanenz erfüllen kann, sofern auch der andere einlöst, was das Ich für beide projiziert.113

Viel zu sehr wird gerade in dieser Episode der Kontrast zur Wahrnehmung der anderen, der Außenwelt hergestellt, wird die Szene durchaus als komische aufgebaut, als dass es Stendhal alleine darum gehen könnte, in der Imagination einen autonomen Raum zu installieren, in dem zwei Projektoren sich ganz autark selbst überlassen wären. Stendhals autofiktionales Verfahren, mit dem er gerade in De l‘Amour unter unterschiedlichen Pseudonymen, wie unter dem eigenen Namen, sich selbst als halb-fiktive Gestalt auftreten lässt, die intertextuelle Verwobenheit seiner Schriften über alle Genreund Realitätsgrenzen zwischen autobiographischem, dokumentarischem und fiktionalem Schreiben hinweg immer präsent hält,114 eröffnet auch in dieser Erzählung eine Spur, die über das Gesagte, das, was vermeintlich argumentativ dargelegt werden soll, hinausführt. Der Leser von Stendhals italienischem Tagebuch und vor allem von Rome, Naples et Florence (und laut Genette muss man Stendhal immer ganz lesen115) weiß, dass Stendhal selbst unglücklich in Mme Gherardi/Ghita verliebt ist. Stendhals Liebe zur Ghita spielt in der Szene jedoch keine Rolle – und lenkt dabei doch die Wahrnehmung, wie sich zeigt, wenn er die Partei des jungen Bayern ergreift: Da ich sie [Übersetzungsfehler: ihn!, R. L.] unter meinen Schutz genommen hatte, suchte ich die Torheit seiner Lobpreisungen zu beschönigen. Ich sagte zur Ghita: „Der Adel Ihres italienischen Gesichts und Ihrer Augen, dergleichen er nie gesehen hat, haben auf ihn dieselbe Wirkung wie die Kristallbildung auf den kleinen Buchenzweig in Ihrer Hand, der Ihnen doch so hübsch vorkommt. Das Salz hat die schwärzlichen Äste des Zweiges mit so vielen und so glitzernden Kristallen bedeckt, daß der wirkliche Zweig nur noch hie und da zum Vorschein kommt.“ 113 Rainer Warning: Gespräch und Aufrichtigkeit: Repräsentierendes und historisches Bewußtsein bei Stendhal, in: ders.: Die Phanatasie der Realisten, Tübingen (Fink) 1999, S. 89–139, hier: S. 105. 114 Vgl. Ge´rard Genette: Stendhal, in: Figures II, Paris (Seuil) 1969, S. 155–193, bes. 158–160. 115 Ebd., S. 176. In Rome, Naples et Florence stellt Mme Gherardi, „die schönste Frau, die Brescia vielleicht jemals hervorgebracht hat“, ein System von vier Arten der Liebe: physische, leidenschaftliche, Geschmacks- und eitle Liebe, auf, und die Kristallisation als Bezeichnung für den „Akt des Wahnsinns, durch den man im geliebten Objekt alle Vollkommenheiten sieht“ wird als gängiger Begriff im Kreis der Mme Gherardi bezeichnet (Stendhal: Rome, Naples et Florence (1826). Hg. v. Pierre Brunel. Paris (Gallimard) 1987, S. 249).

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„Nun, und was wollen Sie daraus schließen?“ fragte Frau Gherardi. „Daß der Zweig das getreue Ebenbild der Ghita ist, so, wie sie der Einbildungskraft des jungen Offiziers erscheint.“ „Das heißt, mein Herr, Sie sehen einen ebenso großen Unterschied zwischen mir, wie ich wirklich bin, und der Art, wie mich der liebenswürdige junge Offizier sieht, wie zwischen einem kleinen, dürren Buchenzweig und der reizenden Diamantagraffe, die mir die Bergleute gegeben haben.“116

Im Verborgenen findet hier eine Eifersuchtsszene statt, Stendhal fügt der von ihm heimlich geliebten eine Verletzung zu, indem er das, was ihr schmeichelt, entwertet, und ihr einen Vergleich liefert, dessen Pointe sie durchaus richtig versteht. Damit ist die Szene eigentlich keine Erörterung oder Erklärung der Kristallisation (die wird sowieso einfach behauptet), sondern selbst ein Fall von Kristallisation, denn die Bedeutung der Eifersucht als Antrieb der Imagination ist für Stendhal von großer Wichtigkeit. Das Konzept der Kristallisation ist ein betont anorganisches, mineralogisches Prinzip. Der tote Zweig wird nicht wiederbelebt (wie etwa der Zweig des Tannhäuser – eine derartige Metapher wäre im Zusammenhang eines galanten Gesprächs über die Liebe eigentlich eher zu erwarten), sondern mehr oder weniger mumifiziert. Der Blick des Liebenden belebt nicht, er kristallisiert, lässt erstarren, tötet – alle mythologischen Konnotationen vom Blick der Gorgone, von Loths Weib sind hier mitzudenken, und auch die Legenden um die schwedischen Bergwerke zu Falun (1811 von Johann Peter Hebel117, 1819 von E.T.A. Hoffmann118 behandelt) mögen Stendhal 116 Über die Liebe (a. a. O.), S. 358. Original: „Comme je l‘avais pris sous ma protection, je cherchais a` justifier la folie de ses louanges. Je disais a` Chita: ,L‘effet que produit sur ce jeune homme la noblesse de vos traits italiens, de ces yeux tels qu‘il n‘en a jamais vus, est pre´cise´ment semblable a` celui que la cristallisation a ope´re´ sur la petite branche de charmille que vous tenez et qui vous semble si jolie. De´pouille´e de ses feuilles par l‘hiver, assure´ment elle n‘e´tait rien moins qu‘e´blouissante. La cristallisation du sel a recouvert les branches noiraˆtres de ce rameau avec des diamants si brillants et si grand nombre, que l‘on ne peut plus voir qu‘a` un petit nombre de places ses branches telles qu‘elles sont.‘,Eh bien, que voulez-vous conclure de la`?‘ dit Mme Gherardi.,Que ce rameau repre´sente fide`lement la Ghita, telle que l‘imagination de ce jeune officier la voit.‘,C‘est-a`-dire, monsieur, que vous apercevez autant de diffe´rence entre ce que je suis en re´alite´ et la manie`re dont me voit cet aimable jeune homme qu‘entre une petite branche de charmille desse´che´e et la jolie aigrette de diamants que ces mineurs m‘ont offerte.‘“ (De l‘Amour, S. 375). 117 Johann Peter Hebel: Unverhoftes Wiedersehen (aus dem Rheinländischen Hausfreund, Calender auf das Jahr 1811), in: Sämtliche Schriften. Hg. v. Adrian Braunbehrens u. a. Bd. 2: Erzählungen und Aufsätze 1. Teil. Karlsruhe (Müller) 1990,

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vom Hörensagen bekannt gewesen sein. Auch bei Hoffmann ist der durch einen Mineralisierungsprozess konservierte Geliebte, mit dem die mittlerweile alt und hinfällig gewordene Liebende konfrontiert wird, zu einem Symbol geworden, in dessen Künstlichkeit sich Vergänglichkeit und Zeit reflektieren, während die Liebende selbst wie ein ruheloser Ahasver durch die Welt streift. „In der Liebe ist alles Zeichen.“119 – nicht allein die Blatternarben der Geliebten, „Erinnerungen, die eine Blume weckt oder ein Stück Seide, eine ferne Landschaft oder ein Duett von Rossini – sie können die Kristallbildung [Kristallisation] stärker fördern als die Gegenwart der Geliebten.“120 Zugleich wird der Liebende, dem alles zum Zeichen erstarrt, selbst zu einer Art Scheintotem, für den die Zeit stillsteht, der aber aus dem Kreis der Zeichen auch nicht mehr herauszutreten vermag. Die Liebe ist bei Stendhal unter anderem ein System und ein Austausch von Zeichen. Die Chiffre ist hier nicht nur ein Hilfsmittel der Leidenschaft, das Gefühl tendiert, sozusagen von Natur aus, gleichsam aus einem tiefen Aberglauben heraus, zur Kryptographie. Die Liebeskommunikation vollzieht sich also mit Vorliebe, oft begünstigt durch den Freiheitsentzug durch Konvent, Gefängnis, familiären Arrest, über telegraphische Codes, deren Erfindungsreichtum den des Begehrens angemessen stimuliert.121 Die indirekte Kommunikation ist eines von Stendhals bevorzugten Themen. Man kennt Rousseaus Verdammung der vermittelnden Funktion der Sprache und, für ihn doppelt vermittelnd, der Schrift. Im Gegenteil scheint Stendhal die transparente Beziehung, wo „die Seele direkt zur Seele spricht“ abzulehnen oder zumindest zurückzuhalten. Die entscheidenden Momente der Kommunikation (Geständnisse, Brüche, Kriegserklärungen) werden bei ihm im Allgemeinen der Schrift anvertraut.122

S. 281–284. 118 E.T.A. Hoffmann: Die Bergwerke zu Falun, in: Die Serapionsbrüder. Hg. v. Wulf Segebrecht und Ursula Segebrecht (Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 4). Frankfurt am Main (Deutscher Klassiker Verlag) 2001, S. 208–240. Zur Symbolik des Kristalls in der deutschen Romantik: Paola Giacomoni: Der Kristall: Tod und Perfektion in der romantischen Kultur, in: Paradoxien der Romantik: Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft in Wien im frühen 19. Jahrhundert. Hg. v. Christian Anspalter u. a. Wien (Faculats) 2006. S. 450–463. Vgl. auch Stephan Höppner: Romantische Hohlwelten. Das Bergwerk bei Novalis, Schubert und Hoffmann, in: Hohlwelten, Les Terres Creuses, Hollow Earth. Beiträge zur Ausstellung „Hohlwelten“ vom 21. September bis 19. November 2006 im Heimatmuseum Northeim, hg. v. Hartmut Fischer und Gerd Schubert, Berlin (Lehmann) 2009, S. 98–137. 119 Stendhal: Über die Liebe (a. a. O.), S. 165. 120 Gay: Die zarte Leidenschaft (a. a. O.), S. 71. 121 Ge´rard Genette: Stendhal (a. a. O.), S. 165 (Übers. von mir) 122 Ebd., S. 163.

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Deshalb ist es auch in der entscheidenden Szene der SalzzweigErzählung so wichtig, das richtige Zeichen zu finden: Es eröffnet das Gespräch über die Liebe zwischen den drei Beteiligten. Stendhal, solidarisch mit den Kristallisierenden, entdeckt die Liebe des Don Quixote als das Prinzip der Liebe im neunzehnten Jahrhundert. Es scheint fast, als sei es eben deshalb vornehmlich ein komödiantisches Verständnis von Liebe: der Liebende ist der sich lächerlich machende und der, der da, wo andere nur den toten Zweig sehen, Fülle und Schönheit entdeckt. Auch William Hazlitt, seinen Zeitgenossen als fool of love bekannt, der 1823 seinen imaginären Briefwechsel mit der von ihm geliebten, ihn jedoch verschmähenden Hausangestellten Sarah Walker als Liber Amoris: Or, The New Pygmalion123 veröffentlichte, hätte ein Beispiel für Stendhal liefern können, und noch Thomas Manns Gustav Aschenbach gehört in diese Reihe, die wieder einmal die Länge des „langen 19. Jahrhunderts“ deutlich vor Augen führt. Die Kristallisation entspräche dem, was feministische Kritik als männliche Projektionen in der Bild- und Gefühlssprache des neunzehnten Jahrhunderts entdeckt hat.124 Es tun sich jedoch auch Parallelen zu jenem Syndrom auf, das der französische Psychologe Gaetan de Cle´rambault (in den letzten Jahren bekannter geworden durch die Darstellung seiner Thesen in Ian McEwans Liebeswahn125) 1942 als pathologisches Phänomen und Wahnsinns-Syndrom, als „e´rotomanie pure“ beschrieben126 hat. Das nach ihm als Cle´rambault-Syndrom bezeichnete Phänomen besteht in einer wahnhaften Liebe, Cle´rambault spricht selbst von „cristallisation“127, die in allen Phänomenen der Wirklichkeit geheime Zeichen des eingebildeten Geliebten sehen will: eine von Cle´rambaults Patientinnen war in König Georg V. von England verliebt und glaubte sich von ihm wiedergeliebt, ohne ihm je begegnet zu sein:

123 William Hazlitt: Liber Amoris or the New Pygmalion. With additional matter now printed for the first time from the original manuscripts. With an introduction by Richard Le Galienne. o. O. (Privatdruck) 1894. 124 Vgl. hierzu: Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2003, bes. S. 24–43. 125 Ian McEwan: Enduring Love. London (Cape) 1997. 126 Geatan de Cle´rambault: Les psychoses passionelles, in: Oeuvre psychiatrique, hg. v. Jean Fretet. Bd. 1, Paris 1942, S. 323–451. 127 Ebd., S. 321.

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Regelmäßig im Sinne ihrer optimistischen Überzeugungen vorteilhafte Interpretationen. Die heimlichen Annäherungen setzen sich fort. Eines Abends, als sie vor dem Buckingham Palast vorbeigeht, hat sich ein Vorhang bewegt, der König beobachtete sie also.128

Ein solcher Liebes-Wahnsinniger liest die Welt als großen Liebesbrief: „Leur proce´de´ presque exclusif est le Symbolisme“.129 Man könnte sagen, dass Cle´rambault eine Aporie des Liebesbriefs formuliert, in der der Anspruch der Stendhal-Liebe, Welt zum Zeichen, zum großen Brief zu machen, in dem alles auf den Geliebten verweist, pervertiert wird in Wahnsinn. Der Fall von Cle´rambaults Patientin hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der erotischen Begegnung, die Leopold von Sacher-Masoch mit dem bayerischen König Ludwig II. gehabt zu haben behauptet. Deutlicher und bewusster als bei jener, ist das interpretative Verhalten dabei bei Sacher-Masoch auf das von ihm selbst gestiftete Anbahnungsverfahren aus Literatur und epistolarem Werben aufgebaut, das in ähnlicher Weise sowohl in seinen literarischen Erfindungen wie in überlieferten biographischen Anekdoten immer wieder durchgeführt wird: Ein mit dem Pseudonym „Anatol“ unterschriebener Brief erreicht Sacher-Masoch, in dem auf seine Erzählung Die Liebe des Plato130 angespielt wird, deren Intrige einen 128 Ebd., S. 325. 129 Ebd., S. 321. 130 Leopold von Sacher-Masoch: Die Liebe des Plato. Hg. v. Michael Gratzke. Hamburg (Männerschwarm) 2001. Urprünglich ist diese Erzählung die fünfte und damit vorletzte im ersten Teil „Die Liebe“ des von Sacher-Masoch als das ganze Menschendasein umfassenden Novellenzyklus geplanten Projekts Das Vermächtnis Kains. Als Darstellung der „geistigen Liebe“ geht sie also unmittelbar der die „Lösung“ bietenden Schlusserzählung Marzella oder das Märchen vom Glück voraus (Prospekt des gesamten Projekts in: Leopold von Sacher-Masoch: Don Juan von Kolomea. Galizische Geschichten. Hg. v. Michael Farin. Bonn (Bouvier) 1985, S. 179f.). Auf letztgenannte Abschlussnovelle, in der geistige und sinnliche Liebe klassenübergreifend durch gemeinsame Arbeit zusammengeführt werden sollen, gehe ich im Kapitel über Sacher-Masoch noch genauer ein. Dass Die Liebe des Plato in oben zitierter Ausgabe aus dem Zusammenhang des Zyklus herausgelöst in einem auf schwule Literatur spezialisierten Verlag erscheint, ist nicht abwegig. Der Herausgeber Michael Gratzke im Nachwort: „Was hat dies nun mit schwuler Literatur zu tun? Weder „Venus im Pelz“ noch „Die Liebe des Plato“ sind schwule Literatur im eigentlichen Sinn. Es geht in diesen Novellen nicht darum, eine positive schwule Identitätsbildung voranzutreiben. [. . . ] In „Die Liebe des Plato“ lesen wir davon, wie ein Mann schwul wird, indem er keinen Sex hat. Man könnte sagen, dass Sacher-Masoch in seinem Plato einige Grenzen des männlichen Begehrens erkundet und um Verständnis für sie wirbt. [. . . ] Als die nachträgliche Ehe des Helden mit Nadeschda, der Moskowiterin, gescheitert ist, gönnt ihm der Autor sein entsexualisiertes schwules Idyll mit dem ruhigen, klugen deutschen Offizier

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deutlich homoerotischen Charakter hat. Ein Briefwechsel ergibt sich, es kommt zu einer maskierten Begegnung im abgedunkelten Hotelzimmer. Eine romanhafte Abschiedsszene und ein übersandtes Novellenmanuskript beenden die Geschichte. Als Sacher-Masoch und seine Frau durch einen Arzt von dem seltsamen Verhältnis des Bayernkönigs zu Richard Wagner erfahren, von beider Briefwechsel, ist er sofort überzeugt, dass sein Anatol der maskierte Bayernkönig gewesen sein muss.131 Ganz ähnlich also hier die Neigung, in der abwegigsten Konstruktion vollkommene Wahrheit zu sehen, wenn es nur dem eigenen Leben eine möglichst glanzvolle phantastische Färbung verleiht („Anonyme Korrespondenzen hatten [ .. .] für Sacher großen Reiz“132). Das Zeichenverfahren, mit dem die Cle´rambaultschen Erotomanen sich selbst manipulieren, ist eines, das Sacher-Masoch, letzten Endes aber alle Liebenden der von mir untersuchten Korrespondenzen, als Mittel zur Steigerung ihrer Liebe anwenden. Die Signifizierung der Welt, die alles zum Code der Liebe macht und die Intensivierung des Empfindens durch eine distanzierte Beobachterposition greifen dabei funktional ineinander. Schuster. Das Bild der zwei einfachen Häuser, die nebeneinander stehen, ist anrührend. Hier kann ein Diogenes in seiner Tonne leben und doch einen Geliebten bei sich haben. Was in dieser Novelle vorgeführt wird, ist eine Variation auf die Liebe des Werther. Anstatt sich von der aussichtslosen Beziehung zu Lotte in den Selbstmord treiben zu lassen, entscheidet sich dieser Werther für den klugen Albert.“ (Die Liebe des Plato, S. 107f.). Der Werther ist in der Tat das Lieblingsbuch des Protagonisten und Gratzke vermag überzeugend aufzuzeigen, dass Die Liebe des Plato als eine Kontrafaktur von Goethes Briefroman gelesen werden kann. Sacher-Masochs Weg über die geistige Liebe, über „Entsagung“ zum Glück ist trotz seiner theatralischen Überspitzung der Weg, den nicht wenige Liebespaare des 19. Jahrhunderts zu gehen versuchen. Es ist der Weg der Literaturliebe, der auch z. B. bei Adalbert Stifter in die immer wieder aufscheinende Utopie eines gelassenen Nebeneinander der Liebenden im Zusammenhang einer Gemeinschaft der Sonderlinge führt. 131 Vgl.: Wanda von Sacher-Masoch: Meine Lebensbeichte. Memoiren (1906), in: dies.: Lebensbeichte, hg. v. Lisbeth Exner und Michael Farin. München (Belleville) 2003, s. 127–141. Carl Felix von Schlichtegroll, Sachers Biograph und teilweise aggressiver Verteidiger gegenüber den Anschuldigungen, die Wanda von Sacher-Masoch in ihrer Lebensbeichte erhebt, schreibt die Vermutung, es habe sich bei diesem anonymen Liebhaber um den Märchenkönig gehandelt, den Phantasien einer „sensationslüsternen Frau“ zu, ohne letzten Endes die Möglichkeit ganz auszuschließen: „Das Geheimnis ist ungelöst und dürfte es wohl immer bleiben.“ Gegner wie Freunde arbeiten an der Mythisierung der Sacher-Masochschen Biographie. (Vgl. Carl Felix von Schlichtegroll: Wanda ohne Maske und Pelz. Eine Antwort, in: ders.: Sacher-Masoch, hg. v. Lisbeth Exner und Michael Farin, München (Belleville) 2003, S. 305–312. 132 Ebd., S. 305.

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1 Einleitung

Der/die Liebende hat ein sozusagen panoramahaftes Verhältnis zu seiner Liebe, er/sie ist Zuschauer seines/ihres Liebens. Damit diese Konstellation erfüllt sein kann von einer bildenden Dynamik, damit sie als Prozess gedacht werden kann, darf es auch hier (wie in Schlegels romantischer Ironie) nie zu einer vollkommenen Synthese kommen, muss immer wieder ein Moment des Trennens, der Ferne eingeschoben werden. In all dem setzt sich eine neuartige, typisch romantische Paradoxie durch: die Erfahrung der Steigerung des Sehens, Erlebens, Genießens durch Distanz. Der Abstand ermöglicht jene Einheit von Selbstreflexion und Engagement, die im unmittelbaren Genuß verlorengehen würde. So wird der Akzent von der Erfüllung in die Hoffnung, in die Sehnsucht, in die Ferne verlagert, und man muß den Fortschritt im Prozeß des Liebens dann ebenso suchen wie fürchten.133

1.5 Körperferne und Zeichenlust (Dynamisierungsstrategien des Liebens) Als ein wahrer Stratege der von Luhman aufgewiesenen romantischen Paradoxie der Erzeugung von Liebe durch Entfernung erweist sich auch Adalbert Stifter, wenn er aus dem Kur- und Rückzugsort Kirchschlag am 20. November 1865 an seine Frau in Passau schreibt: Wie der Mensch überhaupt jedes Gut erst recht achten lernt, wenn er es verloren hat, so erkennen wir unsern gegenseitigen Werth erst recht gründlich, da wir uns nicht mehr täglich sehen, und da wir uns durch die Trennung nicht verloren haben, so werden wir das künftige Beisammensein inniger wärmer sorgsamer und dankbarer genießen als bisher. Das ist das Heil, das aus der Trennung wächst. Ich rede gar nicht einmal von den lieben theuren Worten, die wir einander senden, und die wir nie so beglükt kennen gelernt hätten, wenn wir immer beisammen gewesen wären.134

Wie Stendhals Liebende oder seine zahlreichen Pseudonyme konstituiert sich Stifters Brief-Ich aus seiner Imagination, die sein Verhältnis zur Außenwelt und zu Andern bestimmt, ermöglicht und zugleich problematisiert: denn das „Bild“ stellt sich zwischen Ich und Du. Die Dopplung des Subjekts wird nutzbar, indem die Ent133 Luhmann: Liebe als Passion (a. a. O.), S. 172. 134 Adalbert Stifter: Sämmtliche Werke, hg. v. Gustav Wilhelm, Reichenberg 1928, Bd. 21: Briefwechsel V, S. 79.

1.5 Körperferne und Zeichenlust (Dynamisierungsstrategien des Liebens)

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fernung, die zum Briefschreiben zwingt, eine Signifizierung ermöglicht, die Sinn stiftet – was im Beisammensein nicht möglich wäre. So stellt Richard Wagner die unmögliche und gerade durch konsequente Entsagung und Entfernung erst manifest werdende Liebe zu Mathilde Wesendonck als Voraussetzung dar, die Nähe seiner ungeliebten Ehefrau überhaupt ertragen zu können, wodurch die Antagonisten Liebe und Ehe zu gegenseitigen Lieferanten von Sinn werden. Ähnlich ist der Fall der Liebe zwischen Frida von UslarGleichen und Ernst Haeckel in Bezug auf dessen Ehefrau Agnes Haeckel, auch sie stiftet – ohne es auch nur zu ahnen – die Voraussetzung der Entfernung des Liebespaares und damit zugleich den Anlass einer von beiden vorgenommenen Ausweitung dieser Liebe zum Medium einer kosmologischen Sinnstiftung, die der von Dantes Beatrice im Paradiso in nichts nachsteht. Stendhals Konzept geht auf frühere, sensualistische Konzepte zurück, etwa das, welches der Verfasser des präromantischen, in der Tradition des Werther stehenden Briefromans Oberman, Se´nancour, schon 1806 über das sentiment de l‘amour entwirft. Die Liebe verdankt einen Großteil ihrer Macht der Vergänglichkeit des Begehrens sowie einer gewissen Wachsamkeit, die sie benötigt, um Zweifel und Ablehnung fern zu halten. Diese Unsicherheit, die die Liebe anreizt und sie in der ersten Zeit erhält, produziert das Zartgefühl, ohne das sie nicht von Dauer sein könnte. Es liegt eine eigentümliche Kraft im langsamen und verschämten Gang der Liebe; indem sie ungleiche Gaben miteinander verknüpft, reißt sie mit, wenn sie nicht alles gewährt, was man von ihr verlangt. Man ist glücklich durch die Aktivität des Denkens, durch den Fortgang der Illusion, durch den Enthusiasmus: dies sind Freuden, die jeden Tag auf’s Neue geboren werden, zahlreiche Freuden, die zum außerordentlichen Vergnügen beitragen, dessen Erwartung sich in die Länge zieht. Dieses Vergnügen, das im Übrigen von kurzer Dauer ist, wäre zu positiv und zu einfach, um uns für den Rest unserer Jahre der Liebe zu widmen. Die festesten Bindungen werden gemeinhin durch das erreicht, was, anstatt Befriedigung zu geben, diese verspricht oder in Erinnerung ruft. Freuden zweiter Ordnung, sozusagen, erneuern die Hoffnung, wogegen die Erfüllung sie hemmen oder gar vernichten würde. Die Liebe nährt sich von Zweifeln, von Furcht und Aufregung und erhält neue Kräfte vor allem durch alles, was bereits lustvoll ist ohne die Lust selbst zu sein.135

135 Se´nancour: De L‘Amour (a. a. O.), S. 23f. (Übers. R. L.): L‘amour doit une grande partie de son pouvoir a` la mobilite´ meˆme des de´sirs, et peut-eˆtre a` une sorte d‘attention ne´cessaire pour e´viter des sujets de crainte, ou des occasions de re´pugnance. Cette incertitude qui excite l‘amour et qui l‘entretient dans les premiers temps, produit la de´licatesse sans laquelle il ne pourrait eˆtre durable. L‘amour a

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1 Einleitung

Liebe ist das Nicht-Gegenwärtige, eine Leerstelle zwischen Erwartung und Erinnerung – dieses Konzept einer dynamischen Liebe, die durch die Prozesse des Denkens und der Phantasie entsteht und am Leben gehalten wird, verlangt geradezu nach einer medialen Zwischenschaltung, nach dem Brief als künstlicher Gegenwart, die sich nicht als Unmittelbarkeit erfüllt, sondern aus der Spannung von Erinnerung und Projektion konstruiert. Der Brief bedarf der Entfernung, um Nähe herzustellen (oder zu simulieren). Der Brief hat für die Liebe daher die paradoxe Doppelfunktion, einerseits der Flüchtigkeit der Liebe entgegenzuarbeiten, als Archiv von Erinnerungen und Versprechen, als Ort der Verhandlung der Realisierbarkeit der Liebe, Urkunde und Vertrag zu sein, andererseits aber, weil die Liebe nur durch das Bewusstsein ihrer Vergänglichkeit angeregt wird und daher für ihren Bestand also das benötigt, was sie zugleich gefährdet, nämlich Bewegung, Reize, Angst, muss der Brief auch das Gegenteil von Urkunde und Vertrag sein, nämlich Gespräch, Bericht, Erzählung – Literatur.136 Stendhal greift in De l‘Amour Se´nancours Konzept einer Liebe auf, die ihre Existenz ihrer Zeitlichkeit und Vergänglichkeit verdankt. Dieses Konzept wird weitergereicht bis zu Deleuze, der das une force particulie`re dans sa marche lente et embarasse´e; il entraıˆne au moyen de l‘enchaıˆnement ine´gal des dons qu‘il fait lorsqu‘il n‘accorde pas tout ce qu‘on lui demande. On est heureux par l‘activite´ de la pense´e, par les progre`s de l‘illusion, par l‘enthousiasme: ce sont des plaisirs chaque jour renaissans, des plaisirs nombreux qui se rapportent au plaisir extreˆme dont l‘attente se prolonge. Cette jouissance, passage`re d‘ailleurs, serait trop positive, et trop simple, pour soumettre a` l‘amour la suite de nos anne´es. Ce qui doit commune´ment attacher le plus, c‘est ce qui, au lieu de donner la satisfaction, la promet ou la rappelle. Des plaisirs d‘un second ordre, pour ainsi dire, reproduisent l‘espoir, tandis que la possession l‘arreˆterait, ou meˆme le detruirait. L‘amour se nourrit de doutes, de craintes, d‘agitation, et surtout il rec¸ oit de nouvelles forces de tout ce qui est de´ja` voluptueux, sans eˆtre encore la volupte´. 136 Im Wiederlesen eröffnet sich für Bernd Kiefer dieser zeitliche Doppelcharakter des Liebesbriefs: „Im Liebesbrief herrscht ständige Oszillation, ständige Metamorphose. Mit jedem Lesen verändern sich die erogenen Zonen des Textes. Was der Geliebte in Lust über-liest, weil er sich dem shifting des Textes hingibt, das vor allem wird dem nicht mehr Geliebten beim wiederlesen, beim Wiederholen oft noch nach Jahren zum Gegenstand einer eigenartigen erotischen Hermeneutik. Sie zwingt ihn zu den Qualen der Auslegung allein des Wörtchens ,gerne‘ im Brief der Frau, die ihn schon lange nicht mehr liebt: ,Ich muß mich erinnern: Wann, warum und mit welcher Bedeutung sagte sie je ,gerne‘? Hieß es nicht immer schon ,vielleicht‘? Hieß es nicht schon immer das, was es jetzt heißt: ,Nie‘, ,nie mehr‘?“ (Bernd Kiefer: Wiederlesen – Wiederholen – Wieder holen. Fragmente über Liebsbriefe, in: Die Wiederholung. hg. v. Jürgen Felix und Bernd Kiefer. Marburg (Schüren) 2001, S. 214–226, hier S. 225.)

1.5 Körperferne und Zeichenlust (Dynamisierungsstrategien des Liebens)

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Prinzip des Aufschubs in den Schriften Sacher-Masochs entdeckt und den Sacher-Masochismus zur Kulminationsform romantischer Liebe erklärt. Die Form des Masochismus ist das Warten. Der Masochist erlebt das Warten im Reinzustand. Das reine Warten teilt sich in zwei gleichzeitige Ströme: der eine stellt dar, worauf man wartet, was aber wesentlich auf sich warten läßt, immer verzögert, immer aufgeschoben ist; der andere das, was man erwartet, das, was allein die Ankunft dessen, worauf gewartet wird, beschleunigen könnte. Daß ein solcher Rhythmus, eine solche Zeitform gerade durch eine bestimmte Schmerz-Lust-Kombination erfüllt wird, liegt auf der Hand. Der Schmerz verwirklicht dann das Erwartete, während die Lust die Erfüllung des Wartens ist. Der Masochist wartet auf die Lust wie auf etwas wesentlich Verzögertes, Aufgeschobenes, und erwartet den Schmerz als die Bedingung, durch welche sich die Lust (als physische und moralische) überhaupt erst einstellen kann.137

Auch der vom jungen Adalbert Stifter verehrte Mediziner, Diätetiker und Lebensphilosoph Karl Philipp Hartmann stimmt in seiner Glückseligkeitslehre in diesem Punkt mit Se´nancour überein, wenn er erklärt, um die Liebe aufrechtzuerhalten, müsse sie auch in der Ehe nie vollkommen erfüllt werden: „Hierin liegt das große Geheimniß, die Liebe immer zu verjüngen; denn Liebe ist und bleibt doch immer eine Sehnsucht, die verschwinden muß, so bald sie übersättigt wird“,138 obwohl Hartmann nicht mit der Einbildungskraft argumentiert, sondern vielmehr medizinisch, mit der sich durch Übersättigung verflüchtigenden Zeugungskraft. Aufschub, Unsicherheit, Sehnsucht liefern die Dynamik der Liebe, durch die sie die Imagination in Gang setzt. Das, was Robert Musil „Fernliebe“ nennt („ich war tausend Kilometer von der Geliebten fort geflohen, und als ich mich sicher jeder Möglichkeit ihrer wirklichen Umarmung fühlte, heulte ich sie an wie der Hund den Mond“139), wird hier in unterschiedlicher Weise praktiziert.140 137 Gilles Deleuze: Sacher-Masoch und der Masochismus, in: Leopold von SacherMasoch: Venus im Pelz. Mit einer Studie über den Masochismus von Gilles Deleuze. Frankfurt am Main (Insel) 1968, 230–231. 138 Philipp Karl Hartmann: Glückseligkeitslehre (a. a. O.), S. 210. 139 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Hg. v. Adolf Frise´. 2 Bde. Reinbek bei Hamburg 1978, Bd. 1, S. 764. 140 Vgl. hierzu auch Se´nancour De l‘Amour (a. a. O.), S. 19: „Tout homme entend la voix du plaisir, mais on trouverait des diffe´rences presques infinies dans la manie`re d‘interpre´ter ces inspirations. A force de grace ou de scrupules, on peut faire du plaisir des sens un bonheur de l‘ame, et alors, sans devenir immode´re´e, la possession intime ne connaıˆt presque d‘autres bornes que celles de l‘imagination. Il est beaucoup de femmes, il est des hommes qui peuvent tout vivifier; comme ils savent

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1 Einleitung

Noch 1941 kann Stendhals Theorie der „Kristallisation“ den spanischen Philosophen Jose´ Ortega y Gasset, der die Realität der Liebe gegen Stendhals vermeintlich pessimistisches Liebeskonzept verteidigt, in helle Wut versetzen: Man braucht diese Theorie nur von außen zu sehen, um sie räumlich und zeitlich einordnen zu können. Sie ist ein typisches Erzeugnis des europäischen 19. Jahrhunderts. Sie trägt seine beiden Stigmata: Idealismus und Pessimismus. Die Lehre von der „Kristallisation“ ist idealistisch, denn sie macht aus dem äußeren Objekt, auf das wir bezogen sind, eine bloße Abscheidung des Subjekts. Seit der Renaissance neigt der Europäer dazu, sich die Welt als Ausfluß des Geistes zu erklären. Bis zum 19. Jahrhundert ist dieser Idealismus verhältnismäßig heiter. Die Welt, die das Subjekt um sich herumstellt, ist auf ihre Weise wirklich, echt und sinnvoll. Aber die Kristallisationstheorie ist pessimistisch. Sie möchte beweisen, daß das, was wir für normale Funktionen des Geistes halten, nur Sonderfälle von Anomalien sind. [. .. ] Und das ist typisch für die Denkart des vergangenen Jahrhunderts. Man erklärt das Normale durch das Anomale. das Höhere durch das Niedere. Es herrscht ein sonderbarer Eifer, das Universum als ein vollkommenes quid pro quo, etwas wesenhaft Verfälschtes darzutun.141

Das Quidproquo ist in der Tat das Prinzip, nach dem die Imaginationsliebe – oder Literaturliebe, wie Max Nordau sie nennt – verfährt. Zu Recht, wie mir scheint, erklärt Ortega y Gasset Stendhal zum pessimistischen Idealisten und nicht zum Romantiker. Denn in der Tat wird Stendhal nicht müde, zu betonen, dass die durch Liebe in Gang gesetzte Tätigkeit der Imagination in einem Ex-NegativoVerhältnis zur Wirklichkeit steht. Dies betrifft zum einen den Gegenstand der Liebe: Da die Liebe immer eine Wirkung der produktiven Einbildungskraft ist, ist Schönheit für Stendhal keine notwendige oder auch nur verstärkende Voraussetzung der Liebe, eher im Gegenteil: „Außergewöhnlich schöne Frauen erregen schon am zweiten Tag weniger Bewunderung. Das ist ein großer Nachteil: die Kristallisation wird entmutigt. Weil die Vorzüge solcher Frauen jedermann sichtbare Schaustücke sind, haben sie auf der Liste ihrer Anbeter so viele Dummköpfe, Fürsten, Millionäre und andere.“142 Im Punkt der Schönheit zeigt donner de la valeur au moindre incident, un de´sir leur suffit pour procurer de longues jouissances. On imite ainsi la nature, qui fait de´pendre d‘une seule cause des effets dont la surabondance et la multiplicite´ surprennent toujours.“ 141 Jose´ Ortega y Gasset: Betrachtungen über die Liebe (Estudios sobre el amor, 1941), in: Triumph des Augenblicks – Glanz der Dauer. Auswahl aus dem Werk. hg. v. Karl August Horst. Stuttgart (DVA) 1960, S. 144–221, hier: S. 153f.

1.5 Körperferne und Zeichenlust (Dynamisierungsstrategien des Liebens)

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sich vielleicht am frappierendsten, inwiefern Stendhals Liebeskonzept einen Bruch mit klassischen, in neoplatonischer Tradition stehenden Auffassungen der Liebe darstellt. Denn deren Angelpunkt ist in der Tat die Schönheit. Die Schönheit des Geliebten ist Offenbarung göttlicher Wahrheit und liefert damit das transzendentale Fundament der Liebe, beweist ihre Gültigkeit und Welthaltigkeit143. Indem er ihr so den Wahrheitscharakter abspricht, ihr die transzendentale Legitimation nimmt, profaniert Stendhal die Liebe bewusst und ausdrücklich gegenüber allen bisherigen platonischen oder christlichen Liebeskonzepten, die in der Liebe den Zugang zur Wahrheit entdeckten.144 Indem Stendhal die Schönheit der Geliebten aber ganz in die Imagination des Liebenden verlegt, gegen die bessere Einsicht der Welt, individualisiert und heroisiert er die Liebe zu einer subjektivistischen Rebellion, zu einem Aufbegehren gegen die göttliche Ordnung, dem das Scheitern immer schon eingeschrieben ist. Denn auch in Bezug auf die glückliche Erfüllung und Erfüllbarkeit der Liebe ist Stendhals Konzept ein negatives: sie wächst und nährt sich vielmehr aus der permanenten Beschäftigung, in die sie den Geist durch den ständigen Wechsel zwischen Angst und Hoffnung versetzt, die sie dadurch, dass sie im Gegensatz zur Wirklichkeit steht, geradezu erzwingt. Für Ortega y Gasset ist klar: Stendhal denkt die Liebe von ihrer Vergänglichkeit her und spricht deshalb in Wahrheit nur von falscher Liebe, wenn er von Liebe spricht: „Die Liebe stirbt, weil ihre Geburt ein Irrtum war.“145 Für Stendhal und Se´nancour jedoch ist ihre Vergänglichkeit Voraussetzung der Liebe. Es gäbe keine Liebe, wenn sie nicht vergänglich wäre. Liebe ist als Zustand hier nicht denkbar, nur als Prozess. Des142 Stendhal: Über die Liebe. Aus dem Französischen und mit einer Einführung von Walter Hoyer. Frankfurt am Main (Insel) 1975, S. 81. 143 Marsilio Ficino: Über die Liebe oder Platons Gastmahl. Lateinisch-deutsch. Übers.v. Karl Paul Hasse. Hg. v. Paul Richard Blum. Hamburg (Meiner) 2004, S. 39: „Ein und derselbe Kreislauf also, nämlich von Gott zur Welt und von der Welt zu Gott hin, wird auf dreifache Weise benannt. Insofern er in Gott entspringt und zu ihm hinzieht, heißt er Schönheit, insofern er auf die Welt sich erstreckt und sie an sich reißt, wird er Liebe genannt; insofern er, zum Urheber zurückkehrend, diesen mit seiner Schöpfung verbindet, heißt er Genuß. Die Liebe entspringt also aus der Schönheit und endet bei dem Genuß.“ 144 Vgl. hierzu Edith Düsing: Geist, Eros und Agape – eine historisch-systematische Problemskizze, in: Geist, Eros und Agape. Untersuchungen zu Liebesdarstellungen in Philosophie, Religion und Kunst. Hg. v. Edith Düsing und Hans-Dieter Klein. Würzburg (Königshausen und Neumann) 2008, S. 7–24. 145 Gasset: Betrachtungen über die Liebe (a. a. O.), S. 156.

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halb erfordert die Liebe das Gespräch über die Liebe – den Briefwechsel. Stendhal hat selbst in der Kartause von Parma einen Mythos des Liebesbriefs und der Briefliebe begründet, der eine einzige Huldigung an die Macht der Fantasie und den Zauber der „Fernliebe“ ist. Fabrice del Dongo in seinem Turmgefängnis, der Clelia durch das Loch in der Sichtblende beobachtet, in einen epistolaren Dialog mithilfe selbst gemalter Buchstabentafeln mit ihr tritt und schließlich nichts mehr wünscht, als immer in diesem Gefängnis bleiben und die Korrespondenz fortführen zu können, ist wie der junge bayerische Offizier des Rameau de Salzbourg ein Opfer und zugleich ein Held der Einbildungskraft. In der merkwürdig gespannten, genau auf eine Distanz eingestellten Position zur Geliebten, in der direkte Kommunikation oder gar Berührung nicht mehr möglich und mediale Vermittlung daher nötig ist, in dieser DistanzNähe also, durch die die Liebenden einander zu Objekten werden, zu Zeichenlieferanten, festgeschraubt am Übergangspunkt von Ferne und Nähe, in dieser Position findet sich exemplarisch das Muster der Aufstellung, die die Paare des neunzehnten Jahrhunderts, deren Liebesbriefkommunikation hier untersucht werden soll, gegeneinander einnehmen. Sei es freiwillig, wie im Falle Adalbert Stifters, der sich seine Karthause in Kirchschlag in der Nähe von Linz einrichtet, in welcher Stadt seine Frau Amalia unterdessen wohnt, der er täglich – und auch mehrmals täglich – Briefe schreibt, deren Schlafzimmerfenster er durch das Fernglas beobachtet und der in dieser Distanz auf Sichtweite und Nichtberührbarkeit die vollkommene Position der Liebe gefunden zu haben erklärt. Sei es unfreiwillig, wie im Falle Ernst Haeckels und Frida von Uslar-Gleichens, die wie die zwei Königskinder im Lied zueinander nicht kommen können, sich ihr Begehren versagen und es doch in ihre Briefe übertragen und es durch das Schreiben am Glühen halten. Ein masochistisches Spiel, ganz so wie Deleuze es auffasst, als große romantische Inszenierung eines in der Spannung gehaltenen Begehrens. Eine Liebeskunst des Sich-Versagens und Entsagens, die denjenigen abstoßen wird, der davon ausgeht, dass es in der Liebe etwas einzulösen und mitzunehmen gibt.

1.6 Ein „fremdwichtiges Ding“

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1.6 Ein „fremdwichtiges Ding“ – Objektivierungen und Rituale der Wirklichkeitsaneignung Bevor im Kapitel über den Liebesbriefwechsel zwischen Amalia und Adalbert Stifter der Briefschreiber Objekt der Interpretation wird, soll Stifter im Zusammenhang dieser Einleitung selbst als Lieferant einer Theorie der Literaturliebe verhandelt werden. Einerseits als Gegenfigur zu Stendhal – in mancher Hinsicht aber auch dessen Doppelgänger – kann Adalbert Stifter angesehen werden. Stifters Schreiben ist insgesamt in seinen Verfahren der permanenten Selbstkorrektur, der sukzessiven Erarbeitung eines objektiven Stils, der diätetischen Selbstdisziplinierung, ein permanenter Kampf gegen die Isolation in der eigenen Subjektivität. In Mathildes Ausruf im Nachsommer: „Äußeres, Inneres, das ist alles eins, und alles ist die Liebe!“146 findet sich gewissermaßen die Trinitätsformel, die hinter diesem Konzept steht. So müsste man in Stifter womöglich den Antipoden Stendhals suchen. Eine Stifter-Liebe, die sich einschreibt in die Welt, die mit den Dingen im Bunde ist und nach objektiver Gültigkeit strebt. Auf den ersten Blick ist Stifter das auch. Auf den zweiten Blick stehen Stendhal und Stifter auf einer Seite. Gerhard Neumann hat die Liebeskonzepte beider Autoren unter dem Vorzeichen des „coup de foudre“, der „Liebe auf den ersten Blick“ aneinander geführt, die „immer schon auf einem Ereignis von Nachträglichkeit beruht“, einem unvermuteten Aufscheinen (Impre´vu), das immer bereits ein Erinnern (De´ja`-vu) enthalte: Damit De´ja`-vu und Impre´vu zusammentreten können, ist ein Drittes vonnöten: ein vermittelndes Objekt, ein Medium – sei dies nun ein Mensch; ein Ding, wie hier [in dem Film American Beauty, R. L.] die schwebende Plastiktüte; eine Prothese der Kommunikation wie die Videokamera; oder aber ein Kunstwerk, wie zum Beispiel die Statue der Nausikaa in Stifters Roman Der Nachsommer.147

In ihrer Objektbezogenheit besteht auch für Neumann die Verwandtschaft der Nachsommerliebe mit der Stendhalschen Cristallisation: „ein komplexes Spiel von unvermitteltem Blick und Nach146 Stifter, Adalbert: Der Nachsommer, in: Werke und Briefe, historisch-kritische Gesamtausgabe (im Folgenden HKG), hg. v. Alfred Doppler u. Helmut Laufhütte. Bd. 4.3, hg. v. Johannes John. Stuttgart, Berlin (Kohlhammer) 2000, S. 207. 147 Gerhard Neumann: Archäologie der Passion. Zum Liebeskonzept in Stifters „Nachsommer“, in: Jahrbuch des Adalbert-Stifter-Institutes des Landes Oberösterreich, 11/2004, S. 69–80, hier: S. 70.

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träglichkeit der Imagination. ,Die Liebe‘, sagt Stendhal mit Blick auf dieses Muster von Original und Replik, ,ist die einzige Leidenschaft, die sich mit selbstgeprägter Münze entlohnt.‘“148 Durch ihre mediale Funktion erhalten die Objekte innerhalb des Liebesdialogs eine Aufwertung, die sie wie die von Neumann genannte NausikaaSkulptur, aber auch wie die Rosen in der Liebesgeschichte zwischen Gustav und Mathilde zu Symbolen überhöht und beinahe sakralisiert. Dieser Sakralisierung entgegen läuft Stifters Konzept einer Arbeit, eines unermüdlichen Fleißes in der Auseinandersetzung mit dem Objekt, in der Restaurierung, Pflege der Dinge, an denen der subjektive Aneignungsprozess, den eine solche Symbolisierung immer darstellen würde, aufgehoben und zurückversetzt wird in den Kreis der Dinge, an dem sich die Stifterliebe also immer wieder profaniert und verobjektiviert. Nichts anderes ist gemeint, wenn er am 13. Mai 1854 an seinen Verleger und Freund Heckenast schreibt: Durch das Heu den Häkerling die Schuhnägel die Glasscherben das Sohlenleder die Korkstöpsel und Besenstiele, die in meinem Kopfe sind, arbeitet sich oft ein leuchtender Strahl durch, der all das Wüste wegdrängen und einen klaren Tempel machen will, in welchem ruhige große Götter stehen; aber wenn ich dann in meine Amtsstube trete, stehen wieder Körbe voll von jenen Dingen für mich bereitet, die ich mir in das Haupt laden muß. Dies ist das Elend, nicht die wirkliche Zeit, die mir das Amt nimmt. Könnte ich diese Zeit verschlafen oder die Amtsdinge ohne Theilnahme des Herzens abthun, zu welch schönem Grad der Ruhe es viele Beamte bringen, so hätte meine Dichtkunst nichts verloren; aber das ists, wenn eine Kirche zur Scheune gemacht wird [. ..].149

Gerade aber in der schmerzvollen Teilnahme an den Dingen, Amtsdingen, Weltdingen und heiligen Dingen, besteht der Zwang zur Öffnung, der Stifters Modell der Entsagung – denn so nennt er dieses Verfahren – in seiner Widersprüchlichkeit ausmacht: es ist Mittel der Verklärung und zugleich Zwang zur Wirklichkeit über die Wahrnehmung der Details, des Einzelnen. Ich glaube, daß sich die Dinge an mir versündigen. Sie wissen, daß ich nicht eitel auf meine Arbeiten bin, Sie wissen am besten zu sagen, wie wenig ich mir genug thun kann, wie ich immer ausbessere (Sie leiden ja sogar darunter), und wie unzufrieden ich am Ende doch wieder bin; aber manchmal ist mir – Sie werden es nicht mißdeuten und als Stolz auslegen, 148 Ebd., S. 71. Vgl.: „L‘amour est la seule passion qui se paye d‘une monnaie qu‘elle fabrique elle-meˆme“ (Stendhal: De l‘amour. Chronologie et pre´face par Michel Crouzot. Paris 1965, S. 293.) 149 Stifter: BW 2, S. 223f. Hier korrigiert nach Welzigs kritischer Version in Stifter: Die kleinen Dinge schreien drein (a. a. O.), S. 88.

1.6 Ein „fremdwichtiges Ding“

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Ihnen kann ich es sagen – manchmal ist mir, ich könnte Meisterhaftes machen, was für alle Zeiten dauert und neben dem Größten bestehen kann, es ist ein tiefer heiliger Drang in mir, dazu zu gehn – – aber da ist äußerlich nicht die Ruhe, die kleinen Dinge schreien drein, ihnen muß von Amtswegen und auf Befehl der Menschen, die sie für wichtig halten, obgewartet werden, und das Große ist dahin. Glücklich die Menschen, die diesen Schmerz nicht kennen! und doch auch unglücklich, sie kennen das Höchste des Lebens nicht. Ich gebe den Schmerz nicht her, weil ich sonst auch das Göttliche hergeben müßte.150

Hier geht es um die unerträgliche Diskrepanz zwischen den Ansprüchen des Alltags, dem was die Menschen für wichtig halten, und dem Bereich des Geistes, der Kunst. In idealistischer Tradition sieht auch Stifter einen Widerspruch in diesen Bereichen und von allen Klagen über diese Duplizität, die das neunzehnte Jahrhundert hervorgebracht hat (sie werden bei allen Briefschreibern dieser Untersuchung zu finden sein), sind seine womöglich die larmoyantesten. Aber Stifters Bekenntnis zum Schmerz ist eben kein Bekenntnis zum „Großen“ und „Heiligen“, keine Anrufung des Ideals, sondern eine Bejahung eben jener Diskrepanz zwischen den großen und den kleinen Dingen. Das Göttliche ist nicht Erlösung aus den Anmaßungen der Umwelt, sondern liegt im Aushalten der Kluft, des Widerspruchs. Dieser Schmerz ist deshalb letztendlich nicht tragisch, weil er angenommen wird, weil er eine Wechselbeziehung denkt zwischen Innen und Außen. „Ich gebe den Schmerz nicht her“ heißt, dies auszuhalten. Der Diskurs um das Verhältnis von Innen und Außen ist Grundlage von Stifters Liebeskonzept, das am eindrücklichsten und umfassendsten im Nachsommer verhandelt wird. Geradezu paradigmatisch ist die Liebe Mathildes zu Gustav, dem jungen Risach, die in diesem Roman erst so spät als gelüftetes Geheimnis des Rosenhauses erzählt wird, eine Liebe, die von Anfang an mit den Dingen 150 Stifter BW 2, S. 224, hier nach Welzig (a. a. O.), S. 88f. Vgl. auch Bismarck, der sich selbst immer wieder als ähnlichen Konflikten ausgesetzt darstellt, der diese im Gegensatz zu Stifter jedoch, durch konsequent durchgehaltene „doppelte Buchführung“ zwischen „Kopf“ und „Herz“, mit organisierender Geste immer wieder zur Grundlage stabilisierender Setzungen macht: „Kein Sammetrock, kein Jean Paul, nur Gesetz, Politik, Partheienwuth füllen meinen Kopf, und der ganze Alpenstamm mit seinen Seen wird mir keinen Blick entlocken, wenn die Preußische Allgemeine daneben liegt. So staubig, tintig und papieren sieht es in meinem Kopfe aus, daß ich das Chaos noch garnicht durchschaue. Doch das ist im Kopfe, jetzt soll das Herz wieder walten, und Du in ihm, und ich will keine Götter haben neben Dir; verzeih die Blasphemie, ich spreche bildlich; muß ich Dir Pommerin das sagen?“ (Bismarck: Briefe an die Braut und Gattin (a. a. O.), S. 105f.).

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der Außenwelt verwoben ist, in gemeinsame Wege eingeschrieben, mit Perspektiven und Topographien verknüpft wird: Ich ging wieder durch die Büsche, ich ging durch den Weinlaubengang in den Obstgarten, der Weinlaubengang war mir jezt ein fremdartiges [fremdwichtiges151] Ding, wie ein Pallast aus dem fernsten Morgenlande. 151 In der auf den Erstdruck von 1857 zurückgehenden Winkler-Ausgabe: Adalbert Stifter: Der Nachsommer. Hg. v. Uwe Japp. Düsseldorf und Zürich (Patmos, Artemis & Winkler) 2005, S. 651. Die Historisch-Kritische Edition, nach der hier zitiert wird, greift dagegen erstmals auf Handschriften aus dem Nachlass Salman Schockens zurück (vgl. Alfred Doppler/Wolfgang Wiesmüller: Adalbert Stifter: Die neue Historisch-Kritische Ausgabe, in: Von der ersten zur letzten Hand. Theorie und Praxis der literarischen Edition. Hg. von Bernhard Fetz und Klaus Kastberger. Wien, Bozen: Folio 2000, S. 43–49) und gibt der dort vorgefundenen Variante den Vorzug. Der Herausgeber dieser Edition, Walter Hettche, schreibt hierzu: „Im 4. Kapitel des 3. Bandes erzählt Risach, wie ihm nach dem Zerwürfnis mit Mathilde [hier irrt Hettche, das Wort fällt im Zusammenhang von Bewusstwerdung und stummer Erklärung der Liebe. R. L.] der ,Weinlaubengang‘, durch den sie wenige Stunden zuvor noch glücklich gegangen waren, ,ein fremdwichtiges Ding‘ geworden sei, ,wie ein Pallast aus dem fernsten Morgenlande.‘ In der Handschrift ist es jedoch ,ein fremdartiges Ding‘. An beiden Stellen [Hettche verhandelt die Korrektur in Zusammenhang mit einer anderen] muß der Editor sorgfältig prüfen, ob er korrigierend eingreifen und die handschriftliche Lesart übernehmen soll oder nicht. Denn immerhin wäre denkbar, daß Stifter [. . . ] der Neologismus ,fremdwichtig‘ als passendes Attribut für den in Risachs Wahrnehmung so grundlegend veränderten Weinlaubengang erschienen ist. Wahrscheinlicher ist jedoch, daß Stifter die beiden Setzerversehen gar nicht aufgefallen sind, und so haben wir in der Historisch-Kritischen Ausgabe in beiden Fällen die Varianten aus der Handschrift in den edierten Text eingesetzt. (Walter Hettche: „Dichten“ oder „Machen“? Adalbert Stifters Arbeit an seinem Roman „Der Nachsommer“, in: Stifter-Studien, FS für Wolfgang Frühwald, hg. v. Walter Hettche, Johannes John u. Sibylle von Steinsdorff, Tübingen (Niemeyer) 2000, S. 75–86, hier: S. 85.) Das erscheint auf den ersten Blick so plausibel, wie es auf den zweiten durchaus diskussionswürdig ist. Denn mit derselben Wahrscheinlichkeit könnte der überaus wortbewusste Adalbert Stifter diese Änderung, mag sie auch auf einen Druckfehler zurückgehen, gutgeheißen haben. Selbst wenn sie nicht einer „ursprünglichen“ Intention entspricht, ist sie darüber hinaus die Variante, die sämtliche Leser des Romans seit seinem Erscheinen wahrgenommen haben. Denkbar wäre durchaus auch eine Lösung gewesen, wie sie Hartmut Steinecke für die Edition der Werke E.T.A. Hoffmanns wählte, welche Varianten des Manuskripts gegenüber tradierten Versionen in den Kommentarteil verlegt, aus der Erwägung, dass Hoffmann vom Drucker vorgenommene Veränderungen mitunter durchaus bei späteren Überarbeitungen übernahm, weshalb „die Grenze zwischen Druckfehlern und ungewöhnlichen, aber möglichen – oder denkbaren – Schreibungen oft nicht klar zu ziehen ist.“ (Zu Textgestalt und Kommentaranlage, in: E.T.A. Hoffmann: Nachtstücke, Klein Zaches, Prinzessin Brambilla. Werke 1816–1820, hg. v. H. Steinecke unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen (Sämtliche Werke Bd. 3), Frankfurt am Main (Deutscher Klassiker Verlag) 1985, S. 941). Hettche gesteht selbst ein, dass die Berechtigung der seltsam-interessanten Adjektivverbindung „fremdwichtig“ (derartige Wortbildungen sind durchaus nicht untypisch für Stifter) durchaus gleichberechtigt neben der Variante der Handschrift steht. Der Handschrift grö-

1.6 Ein „fremdwichtiges Ding“

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Ich ging durch das Haselnußgebüsch zu dem Rosenhause, es war als blühten und glühten alle Rosen um das Haus, obwohl nur die grünen Blätter und die Ranken um dasselbe waren. Ich ging wieder zu unserem Wohnhause zurück, und ging auf den Plaz, von dem ich Mathildens Fenster sehen mußte. Sie beugte sich aus einem heraus und suchte mit den Augen. Als sie mich erblickt hatte, fuhr sie zurück. Auch mir war es gewesen, da ich die holde Gestalt sah, als hätte mich ein Wetterstrahl getroffen. ich ging wieder in die Büsche. Es waren Flieder in jener Gegend, die eine Strecke Rasen säumten, und in ihrer Mitte eine Bank hatten, um im Schatten ruhen zu können. Zu dieser Bank ging ich immer wieder zurück. Dann ging ich wieder auf ein Fleckchen Rasen, und sah gegen die Fenster. Sie beugte sich wieder heraus. Dies thaten wir ungezählte Male, bis der Flieder in dem Roth der Abendröthe schwamm, und die Fenster wie Rubinen glänzten. Es war zauberhaft, ein süsses Geheimnis mit einander zu haben, sich seiner bewußt zu sein, und es als Glut im Herzen zu hegen. Ich trug es entzückt in meine Wohnung.152

Die morgenländische Unterlegung der Szene dient nicht nur der Atmosphäre, sondern verweist auf einen Topos, eine literarische Tradition, unter deren Vorzeichen sie steht. Wo es um einen durch die Liebe verzauberten oder gesteigerten Blick geht, wird in der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts (aber auch z. B. bereits im Feenmärchen des 18. Jahrhunderts) bis hinauf zu Hofmannsthal fast immer ein Verweis auf dieses orientalische Muster zu finden sein.153 Der „Weinlaubengang“, der mit der seltsamen Umschreibung „ein fremdwichtiges Ding“ mit dem „Palast aus dem fernsten Morgenlande“ verglichen wird, soll daher weniger eine Assoziation mit maurischer, persischer oder irgendwie orientalischer Architektur erregen, sondern direkt auf die geheimnisvollen Schlösser verweißere Autorität gegenüber dem Erstdruck zuzusprechen, liegt zwar sowohl in der Philosophie der historisch-kritischen Vorgehensweise, wie es der Intention der meisten Leserinnen und Leser entsprechen würde. Da mir die „Fremdwichtigkeit“ ungleich schöner und tiefsinniger erscheint (während Hettche sich in seinen Ausführungen bei der Zuordnung der Stelle irrt und sie in einen Zusammenhang verlegt, wo „fremdartig“ womöglich tatsächlich besser gepasst hätte), und weil sich an diesem Begriff eine ganze Stiftersche Poetik der Nahferne ablesen lässt, selbst wenn er nicht von Stifter stammen sollte, behalte ich die Variante des Erstdrucks bei. 152 Adalbert Stifter: Der Nachsommer. (HKG, Bd. 4.3, a. a. O.), S. 189. 153 Vgl. Robert Irwin: Sexuelle Fiktionen, in: Die Welt von Tausendundeiner Nacht. Übers. und ergänzt v. Wiebke Walther. Frankfurt am Main (Insel) 2004, S. 198– 220, hier S. 218. Nicht umsonst führt auch Stendhal die Erfindung der Liebe als Kristallisation über die provenzalischen Troubadours zurück auf die arabische Kultur: „Unter dem schwarzen Zeltdach der arabischen Beduinen muß man das Urbild und die Heimat der wahren Liebe suchen.“ Stendhal: Über die Liebe (a. a. O.), S. 235.

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sen, in denen so viele Helden der Erzählungen der Scheherazade ihre verzauberten Geliebten zum ersten Mal erblicken. Man mag auch an die Zauberpaläste der Raimundschen Märchenstücke denken. Der Weinlaubengang wird so ein magischer Ort – in Stifters Sprache auch dies ein „Ding“ – für die Liebe, die sich am Bild entzündet. Der Blick des jungen Gustav Risach ist ein Fetisch-Blick, derselbe Blick – wenn auch in züchtigerem Zusammenhang – wie der, den der Protagonist von Sacher-Masochs geschiedener Frau auf die schöne Baronin wirft, wenn diese sich ihm für einen Augenblick inmitten üppiger Draperie nackt zeigt.154 An dem Kult, den Stifter um das Foto seiner Frau betreibt, zeigt sich dasselbe Phänomen.155 Gustav und Mathilde stellen, wie Fabrizio und Clelia in der Chartreuse de Parme, eine heimliche Kommunikation miteinander dadurch her, dass sie sich selbst und die Dinge in ihrer Umgebung zu Zeichen machen. Dabei ist die Wiederholung bestimmter Vorgänge von eminenter Bedeutung, denn durch sie werden Handlungen zu Symbolen. Das bloße Sichzeigen über Distanz wird zu einer Form des Schriftverkehrs, in der der eine dem anderen lesbar wird. (In beiden Romanen wird aus der Perspektive eines männlichen Erzählers geschildert, so dass der Leser in erster Linie an einer Entzifferung des weiblichen Körpers teilnimmt. Die Gegenbewegung ist aber in beiden Romanen impliziert.) Während aber im Falle Fabrizios und Clelias dieser Schriftverkehr zur eigentlichen Form und zum Inbegriff der Liebe wird, weil über ihn hinaus eine Begegnung oder Verbindung undenkbar und unmöglich erscheint, das Halten der Situation, so unbefriedigend sie sein mag, also zur einzigen, ängstlich verfolgten Bestrebung beider Partner wird, wird in der Liebesgeschichte des Nachsommer über die bloße Zeichenhaftigkeit hinaus gezielt. Risach liebt Dinge, nicht nur deren Zeichen: 154 Leopold von Sacher-Masoch: Die geschiedene Frau. Passionsgeschichte eines Idealisten. Hg. v. Michael Farin. Nördlingen (Greno) 1989, S. 119–121. Vgl. das Kapitel zu Leopold von Sacher-Masoch. 155 Vgl. das Kapitel zu Adalbert Stifter. Zum Fetischismus in Briefen, vgl. auch Dörte Bischoff: „Unsinnig, diese Lust an Briefen“: Anmerkungen zum Verhältnis von Brief und Fetisch, in: Kulturelle Transformationen der Dinge, hg. v. Gisela Ecker und Susanne Scholz, Königstein/Ts.: Ulrike Helmer-Verlag 2000, S. 235–258, vgl. auch Böhme, Hartmut: Fetischismus im neunzehnten Jahrhundert. Wissenschaftshistorische Analysen zur Karriere eines Konzepts, in: Das schwierige neunzehnte Jahrhundert. Germanistische Tagung zum 65. Geburtstag von Eda Sagarra im August 1998. Hg. v. Jürgen Barkhoff, Gilbert Carr und Roger Paulin. Tübingen (Niemeyer) 2000, S. 445–465.

1.6 Ein „fremdwichtiges Ding“

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Von Kindheit an hatte ich einen Trieb zur Hervorbringung von Dingen, die sinnlich wahrnehmbar sind. Bloße Beziehungen und Verhältnisse sowie die Abziehung von Begriffen hatten für mich wenig Werth, ich konnte sie in die Versammlung der Wesen meines Hauptes nicht einreihen [vgl. den soeben zitierten Brief an Heckenast!, R. L.]. Da ich noch klein war, legte ich allerlei Dinge an einander, und gab dem so Entstandenen den Namen einer Ortschaft, den ich etwa zufällig öfter gehört hatte, oder ich bog eine Gerte einen Blumenstengel und dergleichen zu einer Gestalt und gab ihr einen Namen, oder ich machte aus einem Fleckchen Tuch den Vetter die Muhme; ja sogar jenen abgezogenen Begriffen und Verhältnissen, von denen ich sprach, gab ich Gestalten, und konnte sie mir merken.“156

Eine Stiftersche Schlüsselszene, wiederholt in dem autobiographischen Bekenntnisbrief, den er im letzten Jahr seines Lebens beim Besuch seines Geburtshauses verfasst (und es ist bezeichnend für Stifters Verfahren, dass die Fiktionalisierung dem als Zeugnis epiphanischer Erinnerung verfassten autobiographischen Dokument vorausgeht). Dinge zu den Namen und Begriffen erfinden und Gestalten bilden, die andere Gestalten vertreten, wird als Vorgang beschrieben, mit dem gegen die Leere und Zufälligkeit der Zeichen und Begriffe angearbeitet wird. Eine Urszene künstlerischen Schaffens, die aus einem Dilemma, einer Unfähigkeit entsteht, abstrakte Begriffe zu denken. Im geschaffenen Ding, das für ein anderes Ding, einen Menschen oder einen Begriff einsteht, wird der Symbolcharakter der Zeichen überhöht zu einem Repräsentationscharakter. Das Zeichen wird zum Ding und damit seiner Relativität enthoben. Es ist dieser Stiftersche Symbolismus, der ihn in die Nähe einer europäischen Moderne rückt, die sich mit dem Namen Charles Baudelaires verknüpft (eine Nähe, die Wolfgang Matz unter anderen Vorzeichen in 1857 ebenfalls aufzeigt157). Das Zeichen ist nun selbst Ding, ist Welt und unterwirft den Einzelnen damit demselben ethischen Gesetz, dem Stifters Kosmos insgesamt untersteht. So geraten Stifters Menschen auch in einen Bann der Zeichen, der sie paralysiert und determiniert: da jedes Zeichen Ding und Tatsache ist, ist jedes falsche Wort ein Verrat am Ganzen. Und zerstört dieses Ganze unauslöschlich: Mathilde wird Gustav, als sie sein Einlenken gegenüber ihren Eltern als Verrat an der Liebe verurteilt, gegenüber den Dingen, die in ihrer übertragenden Kommunikation zu Zeichen geworden sind, zur Verantwortung ziehen: 156 Stifter: Der Nachsommer (a. a. O.) S. 142f. 157 Wolfgang Matz: 1857. Flaubert, Baudelaire, Stifter. Frankfurt am Main (Fischer) 2007.

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Hört es, ihr tausend Blumen, die herabschauten, als er diese Lippen küßte, höre es du, Weinlaub, das den flüsternden Schwur der ewigen Treue vernommen hat, ich habe ihn geliebt, wie es mit keiner Zunge in keiner Sprache ausgesprochen werden kann.158

Die Heiligkeit des Schwurs wird durch seine Vorsprachlichkeit belegt. Als Gustav ihr erklären will, es gehe nur um ein Aussetzen des gemeinsamen Bundes auf einige Zeit, antwortet Mathilde: ,Kannst du eine Zeit nicht mehr du sein?‘ [.. . ] ,kannst du eine Zeit dein Herz nicht schlagen lassen? Äußeres, Inneres, das ist alles eins, und alles ist die Liebe. Du hast nie geliebt, weil du es nicht weißt.‘159

So weit, so stifterisch. Doch der Nachsommer handelt auch von dem Versuch, dem Bann der Zeichen zu entkommen. Als sich beide nach vielen Jahren wieder sehen und konstatieren, dass aus diesem apodiktischen Beharren auf der Gültigkeit des gegebenen Wortes für beide ein verfehltes Leben resultierte, erklärt Gustav: ,O theure Mathilde, ich habe dir nichts zu verzeihen, oder du hast es mir auch‘, antwortete ich. ,Die Erklärung liegt darin, daß du nicht zu sehen vermochtest, was zu sehen war, und daß ich dann nicht näher zu treten vermochte, als ich hätte näher treten sollen. In der Liebe liegt alles. Dein schmerzhaftes Zürnen war die Liebe, und mein schmerzhaftes Zurückhalten war auch die Liebe. In ihr liegt unser Fehler, und in ihr liegt unser Lohn.‘ ,Ja, in der Liebe‘, erwiederte sie, ,die wir nicht ausrotten konnten. Gustav, ich bin dir doch troz allem treu geblieben, und habe nur dich allein geliebt. [ . .. ] Und du liebst mich auch, das sagen die tausend Rosen vor den Mauern deines Hauses.‘160

Zürnen und Zurückhalten sind gleichermaßen „die Liebe“ – so, wie die Dinge und der durch sie beglaubigte Kuss. Was Mathildes und Gustavs verhängnisvoller Fehler war, war die Unfähigkeit, auch da zu lesen, wo keine Zeichen sind, bzw. zu verstehen, wo die Zeichen ihr Gegenteil bedeuten – und die Unfähigkeit, das Ding als Zeichen zu erkennen, ohne das Zeichen mit dem Ding zu verwechseln: ein Interpretationsfehler, eine Unfähigkeit zur Übersetzung. Erst die Übertragung erfüllt das Konzept einer totalen Liebessyntax, ein Über-die-Sprache-Hinausgehen, ein „Nähertreten“! So wie bei Stendhal Eigenschaften der Geliebten erst zum Zeichen werden, wenn sie an fremden Frauen entdeckt und als Verweis auf die Geliebte gelesen werden161, so ist auch Risachs Rosenhaus 158 Stifter: Der Nachsommer (a. a. O.), S. 206. 159 Ebd., S. 207. 160 Ebd., S. 219.

1.6 Ein „fremdwichtiges Ding“

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nicht das ursprüngliche, das Haus von Mathildes Eltern – nur so können die Rosen zum Zeichen werden.162 Diese Rosen wiederholen das rosenbewachsene Elternhaus Mathildes, in dem Gustav und sie einander kennen gelernt hatten. Die Rekonstruktion, die Wiederholung hält den Bann und dehnt ihn aus – und zugleich befreit sie vom Bann, denn sie entrückt – oder entstellt, um es benjaminisch auszudrücken, das Ding von sich selbst. Risachs Haus ist ein verräumlichtes Symbol seiner Liebe. Es ist auch Abbild seiner Liebe und sein Liebesbrief. Mathilde hat Gustav wieder gefunden, weil die Rosen an seinem Haus stehen. Über den Roman hinaus beschäftigt sich Stifter auch weiter mit der Rosensymbolik und entwickelt im Witiko am Bild der Waldrose eine ganze Symboltheorie, in der das Verhältnis von „Ding“, „Zeichen“, Liebe und Politik sehr komplex diskutiert wird. In Witikos Wappenrose, die er durch Zufall im Kopfschmuck seiner späteren Frau wieder findet und die als Zeichen des italienischen Geschlechts, von dem er abstammt, in unterschiedlicher Materialität als Ding und Zeichen im Roman vorgeführt wird (als steinerne Rose über dem Eingang seiner Burg163, als seidene Rose, die ihm von Jungfrauen überreicht wird164 und schließlich als in einem gläsernen Schrein gezüchtete165 (nichts anderem als einem Gewächshaus, ein Anachronismus, der die über die Grenze der historischen Fiktion hinausweisende Tragweite dieses Symbols erst richtig veranschaulicht), die seine nun zu seiner Frau gewordene Geliebten erneut im Kopfschmuck trägt. Wie kein anderer Autor repräsentiert Stifter Dilemma und Hoffnung des neunzehnten Jahrhunderts: das Private soll allgemein, das 161 „Nur fährt er stets zusammen, wenn er einen Akazienstrauch sieht. das war in der Tat die einzige deutliche Erinnerung, die er an den glücklichsten Moment seines Lebens bewahrt hatte.“ (Über die Liebe (a. a. O.), S. 132); „. . . während uns schon auf der Straße, beim Anblick eines Hutes, der dem ihren ähnlich ist, das Herz stillsteht.“ (Ebd., S. 141); „Wir haben immer wieder betont, daß ein wahrhaft Verliebter alle Gebilde seiner Phantasie genießt und fürchtet und daß ihn auch in der Natur alles an die Geliebte gemahnt.“ (Ebd., S. 162); „In der Liebe ist alles ein Zeichen.“ (Ebd., S. 165). 162 Über den Roman hinaus beschäftigt sich Stifter auch weiter mit der Rosensymbolik und entwickelt im Witiko am Bild der Waldrose eine ganze Symboltheorie, in der das Verhältnis von „Ding“, „Zeichen“, Liebe und Politik sehr komplex diskutiert wird. 163 Adalbert Stifter: Witiko. München (dtv) 1986, S. 662. 164 Ebd., S. 734. 165 Ebd., S. 821.

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Privatgefühl objektiv werden. So totalisiert er die Zeichen, weitet private Symbole aus zu Allegorien und steht diesen, die er selbst gesetzt hat, dann wehrlos gegenüber wie Ferdinand Raimund den Formeln der Tradition. Eine gewisse Kaltschnäuzigkeit, die Stifter im Umgang mit den Zeichen Erleichterung verschaffen könnte, die ihm aber fehlt, besitzt ein anderer bedeutender Briefschreiber dafür umso mehr: Bismarck. Als Otto von Bismarck sich am 30. September 1862 durch die bedingungslose Parteinahme für seinen König in dessen Auseinandersetzung mit dem Parlament mehr oder minder über Nacht zum mächtigsten Mann in Preußen gemacht hat und vor der Kommission des Abgeordnetenhauses, die über die Budgetierung des Militärs entscheiden soll, die Bedeutung des Militärs für Preußen mit der berühmten antiparlamentarischen Formel bekräftigt, „nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden [. ..] sondern durch Eisen und Blut“166 (eine der vermeintlichen Unvorsichtigkeiten Bismarcks, für die er auch von der eigenen Partei und vor allem vom König kritisiert werden wird, die aber geradezu die Taktik dieses Politikers auszumachen scheinen, der weiß, dass symbolische Handlungen, symbolische Verkürzungen in der Politik wichtiger sind als rationale Strategie und Wahrung der Parteidisziplin), zieht er anschließend gegenüber einem Abgeordneten einen Zweig aus seinem Zigarrenetui mit den Worten hervor: „Diesen in Avignon gepflückten Olivenzweig habe ich mitgebracht, um ihn der Volkspartei als Friedenspfand anzubieten; aber ich sehe, daß die Zeit dazu noch nicht gekommen ist!“167 Diesen Olivenzweig aber hat er in Avignon am 14. September aus der Hand von Katharina Orloff empfangen, der russischen Gräfin, die für einige glückliche Monate seine „Sommerliebe“ in Biarritz war. Die volle Bedeutung dieses Symbols kann der Abgeordnete also gar nicht erfassen: Für Bismarck, längst verheiratet, bedeutet der Abschied von Katharina Orloff eine Rückkehr von der „Neigung“ zur „Pflicht“. Wie kein zweiter Politiker des neunzehnten Jahrhunderts hat Bismarck diesen aus dem Absolutismus kommenden tragischen 166 Otto von Bismarck: Werke in Auswahl. Jahrhundertausgabe zum 23. September 1862. Hg. v. Gustav Adolf Rein, Wilhelm Schüßler, Eberhard Scheler, Alfred Milatz, Rudolf Buchner. Darmstadt (WBG) 2001, Bd. 3, S. 3 167 Nikolai Orloff: Bismarck und Katharina Orloff. Ein Idyll in der hohen Politik. Mit unveröffentlichten Briefen Bismarcks und der Fürstin Orloff. München (Beck) 1944, S. 69.

1.6 Ein „fremdwichtiges Ding“

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Dualismus zelebriert. Wo es zu Napoleons Selbstbild gehört, immer als „ganzer Mensch“ zu handeln, ist das Leiden an der Unmöglichkeit der Erfüllung individueller Glücksansprüche in Anbetracht der Erfordernisse der Politik bei Bismarck ein Grundmotiv zahlloser Äußerungen. Wie in der Mythologie von Versailles ist die Figur des Verzichts auf persönliches Glück (Apoll, der sich widerwillig den Armen der Thetis entreißt, um seinen göttlichen Pflichten nachzugehen etc.) beinahe eine Art allegorische Pose, die Bismarck als tableau vivant vor sich selbst immer wieder einnimmt. Es ist nun bezeichnend für Bismarck, ausgerechnet ein hoch intimes und privates Symbol wie den Olivenzweig der Katharina Orloff zu einem politischen Symbol umzudeuten und Privatmythologie (zunächst ausschließlich für ihn selbst zu entschlüsseln) auf diese Weise in den diplomatischen Bereich hinüber wachsen zu lassen. Eine an sich irrationale Handlung, weil es für dieses Zeichen niemanden gibt, der es entziffern könnte (nur die Nachwelt in Gestalt eines Nachfahren von Katharina Orloff konnte hier Rückschlüsse ziehen). Doch in dieser Irrationalität liegt allein die Möglichkeit zum transzendentalen Rosssprung zwischen individuellem Erleben und objektivallgemeiner Gültigkeit. Der öffentliche und der private Mensch verknüpfen sich für einen Augenblick, zwinkern gewissermaßen einander heimlich zu in der Verwendung eines Liebespfands als politisches Symbol – ganz wie die Waldrose im letzten Roman des erklärten Bismarckverächters Adalbert Stifter. Für einen Moment zumindest scheint in solchen Fällen der „Mensch in seinem Widerspruch“ sich tatsächlich in einem Symbol mit sich selbst in Übereinstimmung zu bringen. Gerade im Hinblick auf derartige Signifizierungen ist es selbstverständlich richtig, wie Anne Bohnenkamp und Waltraut Wiethölter dies in der Vorrede zu dem wunderbaren Ausstellungskatalog Der Brief – Ereignis & Objekt168 tun, an die Materialität, den Objektcharakter des Briefes zu erinnern, der immer mehr ist als nur Text und der in seiner bloßen Textlichkeit immer nur unvollständig erfasst wäre:

168 Der Brief – Ereignis & Objekt. Katalog der Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift Frankfurter Goethe Museum 11. September bis 16. November 2008, hg. v. Anne Bohnenkamp und Waltraud Wiethölter, Frankfurt am Main, Basel (Stroemfeld) 2008, S. IX–XI.

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Die Eigenart des Briefes, wie er einstens durch den Boten, den reitenden Kurier, dann mit der Postkutsche, der Eisenbahn, mit Schiff und Flugzeug befördert worden ist, besteht nämlich darin, daß er in der Rolle eines sprachlichen Informationsvermittlers nicht aufgeht, vielmehr an eine Reihe von Materialitäten gebunden ist, die seine mediale Funktion in wesentlichen Belangen (mit-)bestimmen. Oder anders gesagt: Briefe sind keine Texte, sie sind darauf nicht zu reduzieren, auch wenn die zwischen zwei Buchdeckeln offerierten Briefsammlungen unserer gängigen Klassikerausgaben so tun, als sei dies möglich. Und das heißt im Umkehrschluß: Sobald Briefe Texte sind, sind Briefe keine Briefe mehr. Denn die Verwandlung eines Briefes in einen Text ist eine Prozedur, die ganz unmittelbar die epistolare Botschaft betrifft, indem sie diese in geradezu elementarer Weise beschneidet. Und dem ist so, weil die Botschaft des Briefes nicht allein auf den sichtbar hinterlegten Zeichen schriftlicher oder ikonischer Herkunft beruht; die Mitteilung beginnt bereits mit der Wahl des Papiers, seines Formats und seiner Farbe, artikuliert sich im Gebrauch unterschiedlicher Schreibgeräte und -flüssigkeiten, setzt sich fort in den Gesten des Schreibens und dem Einsatz mannigfaltigst ausdifferenzierter Schriften, im Management von Schreibraum und Schreibfläche, und sie endet – wenn überhaupt – in dem Moment, in dem das Papier gefaltet, versiegelt oder mit diversen Anlagen in einen Umschlag gesteckt, dieser adressiert, frankiert und schließlich der Post übergeben wird. [. . .] Deshalb gilt selbst noch für den Serienbrief, daß er in einem strikten Sinne als Unikat betrachtet werden muß und daß Versand wie Empfang eines Briefes Ereignisse von singulärem Charakter sind: Sie lassen sich nicht wiederholen.169

Diese Ausführungen, die Betonung des performativen Aspekts des Briefs, der einmalig ist, wie eine Theateraufführung, sind ernsthaft zu bedenken und zugleich in den allzu konsequenten Schlussfolgerungen, die Bohnenkamp/Wiethölter hier ziehen, zu relativieren. Denn ganz sicher hat der Brief alle hier aufgezählten Eigenschaften, jeder Aspekt seiner Materialität kann zum Zeichen werden und damit ist er nicht auf einen einzelnen derselben zu reduzieren, sondern muss in dem medialen und performativen Zusammenhang betrachtet werden, dessen Horizont in den Beiträgen des Ausstellungskatalogs von Schreibgerät und Papier über das Schriftbild und Bilder und Zeichnungen, die in den Text eingefügt werden bis zu den Beigaben und mitgeschickten Geschenken und den reflektierten Schreib- und Leseszenen, die das Verfassen eines Briefes impliziert, eröffnet wird. So gesehen würde sich eine Beschäftigung mit Liebesbriefen jenseits ihrer Materialität – gar, wenn sie sich bloß auf Texteditionen stützte – von vornherein verbieten. Und dennoch 169 Ebd., S. IX/X.

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wird in der vorliegenden Untersuchung der Brief nicht in seiner Materialität sondern als Text im Mittelpunkt stehen. In der Tat gibt es bereits im neunzehnten Jahrhundert Schreibverfahren, bei denen es nicht mehr allein um inhaltliche, textliche Aspekte, sondern um Repräsentation geht. Und gerade Stendhal, den ich hier als Kronzeugen der Briefliebe angeführt habe, ist ein Autor, in dessen Schreiben Hierarchien auf dieser Ebene – zwischen Nebenbemerkungen, Chiffren, Skizzen und Zeichnungen – aufgehoben scheinen.170 Ähnliches lässt sich auch hier wieder von Stifter sagen, während im Falle der anderen in dieser Darstellung behandelten Autoren doch eine deutliche Hierarchie zwischen dem eigentlichen Text als Inhalt und Beigaben, Zeichnungen oder Materialität des Briefs gewahrt bleibt. Hier sind Zeichnungen, wie die Täubchen und Häschen, mit denen Ernst Haeckel seine Briefe dekoriert, eindeutig Beiwerk. Wurstduft etc. verstärkt die Textaussage, könnte aber niemals an deren Stelle treten. Ein Bild oder ein Ding, indem es Brief wird, wird zum Zeichen. Zum exemplifizierenden zwar, also zum Zeichen, das – im Sinne Nelson Goodmans – das, was es bezeichnet, zugleich repräsentiert, und sei es metaphorisch.171 In dem Moment, wo ein einzelner Aspekt des Briefes zeichenhaft wird (die Schrift, das Papier etc.) wird er auch zum Text – und allein unter diesem Gesichtspunkt kann er in einer Arbeit wie der vorliegenden Relevanz haben. Diese Arbeit beansprucht weder Kulturanthropologie noch ein Baustein zu einer solchen zu sein. Sie ist schlicht im oben genannten Sinne Textinterpretation. Ihren Gegenstand bildet das, was Max Nordau abfällig „Literaturliebe“ genannt hat und was in dieser Ein170 Genette: „ .. . was man Stendhals ,Werk‘ nennt, ist ein fragmentierter, zerstückelter, lückenhafter, sich wiederholender und außerdem unendlicher oder zumindest unbestimmter Text, von dem aber kein Teil aus dem Zusammenhang gelöst werden kann. Wer einen einzigen Faden herauszieht, muss das ganze Tischtuch mitnehmen, mit seinen Löchern und bis zu den abwesenden Rändern. Stendhal lesen heißt den ganzen Stendhal lesen, aber den ganzen Stendhal zu lesen ist unmöglich, aus unter anderem nämlich dem Grund, dass der ganze Stendhal noch gar nicht publiziert ist, noch entziffert, noch entdeckt, noch überhaupt geschrieben: ich meine, wohlgemerkt, der ganze Stendhalsche Text, denn die Lücke, die Unterbrechung des Textes, ist keine simple Abwesenheit, ein reiner Nicht-Text: sie ist ein als Fehlen aktives und fühlbares Fehlen, als Unschrift, als ungeschriebener Text. Gegen alle Erwartung tötet diese Aporie den Stendhalismus nicht, der im Gegenteil nur durch sie lebt, wie alle Leidenschaft sich aus ihren Unmöglichkeiten nährt.“ (Genette, a. a. O. S. 176) 171 Nelson Goodman: Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols. London (Oxford University Press) 1969, S. 52–57.

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leitung als eine Praxis beschrieben wurde, vermittelst der zwei Briefpartner ihre Liebe mit literarischen Schreibverfahren zu begründen und zu erhalten suchen. Durch schriftlich geführtes Gespräch, durch Erzählung und Beschreibung eine Verbindung zum Gegenüber aufzubauen, in der die Flüchtigkeit des Begehrens einerseits kristallisiert und dauerhaft gemacht werden soll, andererseits – paradoxes Unterfangen – in der Beweglichkeit und Offenheit literarischen Schreibens immer wieder neu erregt, genährt, motiviert werden soll, um sie vor dem Erstarren zu bewahren. Ein Prozess der Kristallisation, der unausgesetzt unterhalten werden muss, um den „Fall ins Kristall“ zu verhindern – ein literarisches Verfahren, ein Verfahren der Übertragung und Signifizierung, bei dem Literatur selbst wiederum, aber ebenso naturwissenschaftliche Texte, wie Texte im weitesten Sinne, als textualisierte Wahrnehmung zum Einsatz kommen können. Im Rahmen einer erweiterten Konzeption von Literatur als „Lebensform“, wie sie Toni Tholen im Anschluss an Otmar Ette vorgeschlagen hat, als „eine reflektierende kulturelle Praxis“, wäre diese von Nordau konstatierte Gefahr, die von der Literaturliebe ausgeht, umzudeuten zum literarischen Verfahren, das die Möglichkeit böte, „das Leben selbst zu formen, und zwar so, dass es unverkürzt, in seiner ganzen geistig-leiblichen Potenzialität und Intensität zum Ausdruck kommen kann.“172 Unter dem Aspekt der Lebens-Form werden literarische Texte nicht länger nur als ästhetisch-autonome Gebilde bzw. Werke rekonstruiert und interpretiert, sondern sie werden daraufhin befragt, welche Narrationen und Potenziale von Leben-Können bzw. von Nicht-Leben-Können sie für den aktuellen Leser entfalten.173

Dies bedeute aber auch, dass Literatur nicht mehr allein unter ästhetischen Kategorien zu betrachten sei und in Hinblick auf den Kulminationszustand im „Werk“, sondern „in ihrem existentiellen Ausdrucksgehalt, der immer um die Frage des Leben-Könnens und um die Möglichkeit des Glücksempfindens kreist, führt zu einer Öffnung und Erweiterung des philologischen Text-Corpus.“174 Und an dieser Stelle wird auch für Tholen unter anderen literarischen 172 Toni Tholen: Philologie im Zeichen des Lebens, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 59/2009, H. 1, S. 51–63, hier: S. 54. Vgl. auch Ottmar Ette: ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie. Berlin (Kadmos) 2004, bes. S. 9–22. 173 Ebd. 174 Ebd., S. 55.

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Grenz- oder Kleinformen wie dem Tagebuch, Notaten und Aufzeichnungen der Brief relevant als Objekt einer Philologie, die sich ein prozessuales Verständnis von Literatur zugrunde legt, Texte im Sinne von „augenblicksverhafteten Lebensgebärden“ versteht. Ein derartiges Verständnis von Literatur erweitere deren Corpus „auch und in entscheidender Weise um die Texte von Frauen“, die von der traditionellen Literaturwissenschaft ausgegrenzt würden, „weil sie sich den Kriterien des ästhetischen Gelingens, wie sie entlang der kanonisierten Werke männlicher Autoren formuliert wurden und werden, entziehen.“175 Die Tholensche Formel der Literatur als Lebensgebärde würde es auch möglich machen, die von Robert Vellusig – einem Kritiker des Konzepts einer Liebe nach und in Texten, wie es das Projekt einer Kulturgeschichte des Liebesbriefs formuliert, in dessen Zusammenhang auch die vorliegende Arbeit entstanden ist176 – vorgeschlagene Kategorie des „Erlebnisses“177 beiseite zu lassen, die den Fokus der Fragestellung letzten Endes vom Brief weg zu der Frage nach dem, wovon er handelt, nach dem ihm zugrunde liegenden Gefühl und wie es sich ausdrückt, lenken würde. Mag es in Bezug auf das 18. Jahrhundert auch zutreffen, dass Schreibstrategien ganz darauf orientiert sind, „unserer primären, d. i. sinnen- und erlebnishaften Weltwahrnehmung [zu] folgen“178, mit dem Einbringen eines „personale[n] Aspekt[s]“179 nichtschriftliche Kommunikationsformen in die Sprache des Briefes einzuführen und diesen damit – nach der Formel Gellerts – zu einem schriftlichen Gespräch zu machen, so bleiben diese stilistischen Akzidentien in den Briefwechseln des 19. Jahrhunderts zwar allesamt erhalten, werden zum Teil noch weiterentwickelt und als mitunter tollkühne „Illusionsbrüche“ inszeniert, Leitidee des Briefverkehrs und gerade auch des Liebesbriefverkehrs ist aber nicht mehr das Gespräch. An seine Stelle tritt die Erzählung, die breit angelegte Narration. We175 Ebd., S. 55. 176 Vgl. Robert Vellusig: Tho whom it may concern. Facetten einer Geschichte des Liebesbriefs. http://www.iaslonline.de/index.php?mode=context&keyword= Liebesbrief (zuletzt abgerufen am 17. 1. 2011). 177 Vgl. Robert Vellusig: Das Erlebnis und die Dichtung. Eine literaturtheoretische Skizze in weiterführender Absicht, in: Literatur und Kognition. Bestandsaufnahmen und Perspektiven eines Arbeitsfeldes. Hg. v. Martin Huber und Simone Winko. Paderborn (Mentis) 2009, S. 115–133. 178 Robert Vellusig: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert. Wien, Köln, Weimar (Böhlau) 2000, S. 99. 179 Ebd., S. 22.

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niger geht es vornehmlich darum, den „schriftlichen Ausdruck am spontanen Formulieren zu orientieren“180 – wenn dieses auch, ganz wie in der realistischen Erzählung, ein mitunter eingesetztes Stilmittel sein kann – als darum, eine gemeinsame Geschichte zu erschreiben. Alle vier im Folgenden verhandelten Liebesbriefdialoge repräsentieren in der einen oder anderen Weise in diesem Sinne ein Konzept von „Literaturliebe“, das aus dem Vermittelten und Uneigentlichen des Briefverkehrs ästhetischen und emotionalen Gewinn schlägt. Sie repräsentieren also allesamt Formen der Literaturliebe, die sich brieflich realisiert und des Briefes bedarf, um Gestalt und Modus ihrer aktuellen Form zu erhalten. Alle vier Briefwechsel sind darüber hinaus in jeweils unterschiedlicher Perspektive insofern exemplarisch für die Liebe im realistischen Zeitalter, als sie an sich selbst den Anspruch stellen, das Hauptprinzip des Realismus bzw. des wissenschaftlichen Positivismus zu realisieren, nämlich im Individuellen immer zugleich auch exemplarisch zu sein, im privaten Briefdialog immer auch ein zu realisierendes „Ganzes“ zu suchen, das in einem höheren Sinne vollkommenes und „richtiges“ Leben zu verwirklichen vermag. Otto von Bismarck und seine Braut Johanna von Puttkamer realisieren „Literaturliebe“ sicherlich am ehesten in der Weise, wie sie Max Nordau versteht. Hier liefern literarische Zitate – in erster Linie Gedichte Byrons und des Byronisten Thomas Moore – die Sprache des Herzens, Motive und Tropen einer Paarsprache und den Duktus des Gesprächs, das beide miteinander in ihren Briefen führen. Sogleich aber werden diese Zitate im Rahmen des Liebesbriefdialogs wieder Literatur, provozieren Interpretation und Verknüpfung in alle Richtungen, literarisieren das Gespräch und untergraben dadurch Selbstbilder und Rollenmuster, auf die man sich gerne zurückziehen würde. Interessanterweise scheint aber diese prekäre Verunsicherung Voraussetzung eines wechselseitigen Einverständnisses zu sein, das diese Beziehung gleichzeitig stabilisiert. Der ehemalige Privatsekretär des österreichischen „Skandalautors“ Leopold von Sacher-Masoch, Carl Felix von Schlichtegroll, nennt in einer Abhandlung über den Masochismus, die Teil einer Initiative zur Verteidigung des von ihm verehrten Autors ist, Otto von Bismarck als einen „klassischen Beleg“ dafür, dass auch in der 180 Ebd., S. 94.

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„Korrespondenz zwischen Liebesleuten“ gerne „masochistische Bilder“ verwendet würden, „um das Verhältnis des Liebhabers zu der Geliebten zu schildern.“181 Die Nennung Bismarcks ist dabei nur kleiner Teil einer sich durch Schlichtegrolls Sacher-Masoch-Biographie ziehenden Darstellung der Geschichte des Masochismus in Sage, Geschichte, Literatur und Kunst, durch die einerseits natürlich Sacher-Masoch „normalisiert“ werden soll, indem die weite Verbreitung und klassische Dignität der Schmerzlust von der Sage von Attis und Cybele182 über Byrons Sardanapal183 bis zu Kleists Penthesilea184 aufgezeigt wird. Aber indem Schlichtegroll masochistische Denkfiguren in der gesamten Weltliteratur und insbesondere dann in der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts aufzuzeigen bestrebt ist, zeigt er vor allem, wie sehr der Masochismus die letzte Konsequenz und Engführung des Konzepts der amour passion bildet, wie sie in dieser Einleitung u. a. an den Beispielen von Stendhal und Stifter dargestellt wurden. Die Wertherliebe ist masochistische Liebe185, ist Imaginationsliebe und das masochistische Liebeskon181 „Als klassischen Beleg hierfür, sei es vergönnt anzuführen, daß sogar in Bismarcks Briefen an seine Braut, Johanna von Puttkamer, derartiges zu finden ist. So schreibt er einmal, 17. Februar 1847: ,Bei Pferden fällt mir gleich ein, reiten mußt du, und wenn ich mich gleich selbst in ein Pferd verwandeln sollte, dich zu tragen.‘ [Hervorhebung durch Schlichtegroll] oder er gebraucht am 21. Februar des nämlichen Jahres noch unverkennbarere derartige Ausdrücke, wenn er sich, wie folgt, ausläßt: ,Meine liebe Johanna muß ich dir nochmals sagen, daß ich Dich liebe sans phrase, daß wir Freude und Leid miteinander teilen sollen, ich Dein Leid, Du das meine, daß wir nicht vereinigt sind, um einander nur zu zeigen und mitzuteilen, was dem andern Freude macht, sondern daß Du Dein Herz zu jeder Zeit bei mir ausschütten darfst, und ich bei Dir, es mag enthalten, was es wolle, daß ich Deinen Kummer, Deine Fehler, Deine Unarten, wenn du welche hast, tragen muß und will, und dich liebe, wie Du bist, nicht wie Du sein solltest und könntest? Benutze mich, brauche mich, wozu Du willst, mißhandle mich äußerlich wie innerlich, wenn Du Lust hast, ich bin dazu da für Dich [Hervorhebung durch Schlichtegroll], aber ,genire‘ Dich nie und in keiner Art vor mir, vertraue mir rückhaltlos, in der Überzeugung, daß ich alles, was von Dir kommt, mit inniger Liebe, mit freudiger oder geduldiger aufnehme.‘ Selbst das Bild des Sklaven wird nicht verschmäht, was aus der Stelle erhellt, an der er sagt: ,Das ist der Fall, wo sich der Sklave gegen seine Herrin [Hervorhebungen durch Schlichtegroll] auflehnt.‘ Aber wie gesagt, das alles sind Bilder und nichts sonst, da gerade Bismarck eher alles andere gewesen sein dürfte, als eine ,Severin-Natur‘.“ (Carl Felix von Schlichtegroll: Sacher-Masoch enthaltend: Sacher-Masoch und der Masochismus sowie „Wanda“ ohne Maske und Pelz nebst einem Dossier. Hg. v. Lisbeth Exner und Michael Farin. München (Belleville) 2003, S. 198f. 182 Ebd., S. 59f. 183 Ebd., S. 135. 184 Ebd., S. 138–140. 185 „In Schmerzen zu schwelgen ist auch Werther eine Wonne; und nicht nur in see-

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zept stellt keine Reaktion auf dieses Liebesmodell dar, sondern führt dessen Verlagerung des Ideals in die Einbildungskraft der Liebenden (auf diese Formel ließe sich „Literaturliebe“ auch bringen) konsequent weiter. Entsprechend stellen auch Sacher-Masochs Briefe (soweit sie erhalten sind) keine zwanghaften Wiederholungsrituale von Begehrensmustern dar, sondern sind Beispiele, ja Höhepunkte, brieflicher Literaturliebe (als „Brief“ fungieren aber auch die Novellen, die von den Teilnehmern des masochistischen Diskurses tatsächlich als solche, als kaum verschlüsselte Bekenntnisse und Suchannoncen gelesen werden). Dass das Kapitel über Leopold von Sacher-Masoch, in dem es sowohl um den grundsätzlich epistologischen Charakter des Masochismus wie auch um konkrete Beispiele seiner Liebeskorrespondenz geht, direkt auf dasjenige über die beiden Bismarcks folgt (obwohl chronologisch hier eher Adalbert Stifter am Platz wäre), hat also weniger äußere Gründe als vielmehr den, dass die Rolle des Briefs im Masochismus Merkmale einer avancierten Form der Literaturliebe aufweist, die für die in den nachfolgenden Kapiteln in Augenschein genommenen Korrespondenzen erhellend sein kann. Auch zwischen Adalbert Stifter und Leopold von Sacher-Masoch gäbe es wiederum eine äußere Verbindung. Beide treten 1867 in Korrespondenz als Stifter mehrere Texte für die von Sacher-Masoch geleitete Gartenlaube für Österreich verfasst (eine nicht sehr erfreuliche Korrespondenz, Stifter muss mehrfach wegen Zahlung seiner Honorare mahnen). Doch auch hier geht es, wenn ich das Kapitel über die Briefe Stifters an Fanny Greipl und vor allem den Briefwechsel zwischen Adalbert und Amalia Stifter an dieser Stelle einordne, nicht um eine biographische Nähe. Von allen in dieser Arbeit verhandelten Briefen sind diejenigen Stifters an seine Frau und die lischen, nein grade in körperlichen, denn er empfindet die höchste Befriedigung in dem Moment, als Lotte ihn schlägt. Es ist bei Gelegenheit eines Gesellschaftsspieles, das in des Amtmanns Hause veranstaltet wird. Die anwesenden sitzen im Kreise herum, um ,Zählens‘ zu spielen. Lotte geht zählend von einem zum andern [es folgt das Zitat der entsprechenden Stelle aus den Leiden des jungen Werthers, vgl. Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens (Münchner Ausgabe), München (Hanser) 1987, Bd. 2, hg. v. Gerhard Sauder, S. 215] Die ganze Gesellschaft ist so erfüllt von dem Reiz dieses masochistischen Vergnügens, daß sie darüber Gewitter und alles um sie her vergißt. Als Werther sich bereits mit Selbstmordgedanken trägt, schildern seine letzten Aufzeichnungen die Wonne des Bewußtseins, daß die Pistolen, die der Knabe ihm bringt, diesem von Lotte übergeben seien. Sein sich Wegstehlen aus der Welt ist ein Wollustopfer der Geliebten zum Preise.“ (Schlichtegroll, a. a. O., S. 128f.

1.6 Ein „fremdwichtiges Ding“

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wenigen Briefe von dieser an ihn sicher am wenigsten Briefe einer „Literaturliebe“ in dem polemischen Sinne Max Nordaus. Literaturzitate, die den Bezugs- und Vermittlungspunkt der drei anderen Korrespondenzen bilden, kommen hier so gut wie gar nicht vor. Das hängt jedoch mit einem ungleich weiter gefassten Begriff von Literatur zusammen, den Adalbert Stifter praktiziert. Wenn er de facto keinen Unterschied macht zwischen dem Schreiben von Briefen an seine Frau und dem Schreiben eines Romans, wenn er einen Brief Amalia Stifters über die Werke der größten Dichter stellt, dann äußert sich darin eine Literaturauffassung, die den Brief bereits zum ästhetischen Paradigma erhoben hat. Stifters Liebeskorrespondenz, Teil seines großartigen epistolaren Korrespondenzwerks, bildet sicher den ästhetischen Höhepunkt dieser Arbeit. Aber sie ist es auch als ethisches Projekt, in dem die problematische Spannung zwischen den Individuen, zwischen Subjekt und Welt, zwischen Einzelnem und Ganzem in schreibender und lesender Selbstverobjektivierung aufgehoben werden soll. Adalbert Stifter ist unter den zahlreichen „Monisten“ des neunzehnten Jahrhunderts vielleicht der einzige, der diesen Titel als gewissenhafter Text-Arbeiter wirklich verdient, ohne dass er sich selbst als solcher bezeichnet hätte. Stifter zeigt eine Möglichkeit auf, etwas, womit er weit über sein Jahrhundert hinausweist: Ein Konzept, in dem Liebe, Brief und Wirklichkeit zusammengehören. Auch wenn es gern so dargestellt wird, ich halte Stifters Selbstmord nicht für die notwendige Konsequenz aus diesem Entsagungsprojekt und daher auch nicht für tragisch. Tragisch verläuft jedoch die letzte Liebesgeschichte dieser Darstellung. In der außerehelichen Briefbeziehung zwischen Frida von UslarGleichen und Ernst Haeckel laufen noch einmal alle Fäden und Motive der Literatur- und Briefliebe zusammen. Sie stellt in dieser Hinsicht zugleich Summe und Ende der Literaturliebe dar (was nicht heißt, dass dieses Modell im zwanzigsten Jahrhundert keine Gültigkeit mehr hätte, im Gegenteil). Haeckel, der als Propagandist eines materialistischen Monismus ein weltanschauliches Konzept der Ganzheitlichkeit (der Begriff wird so von Haeckel verwendet) auch in seinem Leben zu realisieren trachtet, und seine Geliebte, die ihm hierin nacheifert, sind einerseits das Paar unter den hier behandelten, das am konsequentesten den Brief nutzt, um eine Liebe, die beide für unrealisierbar halten, zu begründen und zu befestigen und dazu in umfangreicher Weise Literatur und Naturwissenschaft ein-

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zubeziehen. Andererseits kommen beide nicht aus den Widersprüchen des von ihnen – von Haeckel mehr als von Uslar-Gleichen – abgelehnten Idealismus heraus. Sie denken und argumentieren in absoluten Begriffen und Ideen, von denen sie sich determiniert glauben. Ganzheitlichkeit wird hier zum Weltgesetz, dem alles individuelle Glücksstreben unterliegt. Das Projekt einer „ganzheitlichen“ Liebe misslingt, weil beide „Persönlichkeit“ und Welt, Imagination und Realität, trotz allem behaupteten Monismus, nur als unvereinbare Gegensätze zu denken vermögen. Was triumphiert, ist der Brief, in dem beide Schreiber auf eindrucksvolle Weise brillieren.

2 Literaturliebe zwischen Affirmation und Sprachkrise – Otto und Johanna von Bismarck Bismarck, das ist der Mensch in seinem Widerspruch; und jene, die meinen, diesen Widerspruch zur Einheit auflösen zu können, werden sich immer über ihn streiten. Golo Mann Eine Art Rohheit, die sich in seinen Handlungen kund gibt, kann ich nicht entschuldigen; denn der Mensch hat außer seinen ersten Erziehern dann auch noch einen weiteren, nehmlich sich. Adalbert über Bismarck an Amalia Stifter am 23. 3. 1866

2.1 Romantische Widersprüche Die Faszination der Gestalt des Reichsgründers Otto von Bismarck geht von seiner Widersprüchlichkeit und Ungreifbarkeit aus. So bemühen sich seine Biographen, das Zweifelhafte dieser uneindeutigen Figur zu befestigen, die konstante Größe hinter allen Wandlungen auszumachen, die dieser Mensch im Laufe seines Lebens vollzogen hat. Für Lothar Gall ist dies noch vor dem Preußentum sein unter inneren Kämpfen errungenes Christentum: Zugleich trat hier ein grenzenloser Subjektivismus zutage, dem Sieg und Niederlage, Sichbehaupten und Nachgebenmüssen stets an die Wurzeln der eigenen Existenz gingen, der eben „indem er in das öffentliche die Unabhängigkeit des Privatlebens“1 hinübernahm, sich selbst in der Politik immer wieder aufs Spiel gesetzt sah. Allerdings nicht so hemmungslos, wie sich politische Leidenschaft und persönliches Geltungsbedürfnis in Desperadonaturen des 20. Jahrhun1 Zitat aus einem Brief Bismarcks an seinen Vater vom 29. 9. 1838, einem Brief an Johanna von Puttkamer vom 13. 2. 1847 beigelegt, in dem er dessen Aufforderung, die Beamtenlaufbahn aufzunehmen, ausschlägt. Vgl. Fürst Bismarcks Briefe an seine Braut und Gattin. Hg. v. Fürsten Herbert Bismarck. Stuttgart (DVA) 1900, S. 27.

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derts verbanden. Ein Element kam hinzu, ein Element, dessen subjektives Gewicht unleugbar bedeutend gewesen ist, wie immer man es unter anderen Aspekten einschätzen mag. Es war für Bismarck der archimedische Punkt, die Sinngebung eigenen Handelns vor allem auch im politischen Bereich, die er in diesem Handeln selber seiner ganzen illusionslosen Natur nach nur selten zu entdecken vermochte. Das Bedürfnis nach einem solchen Halt, das Verlangen nach einem Glauben an eine überweltliche Macht, die das individuelle wie das Leben der Gemeinschaften lenkt, hat sich bei ihm wohl schon früh geregt.2

Die Religion als Bremse des Egoismus wäre demnach, was verhindert hätte, dass Bismarcks politischer Subjektivismus sich zum blanken Machtwahn entwickeln konnte. Für diese Lesart bildet der berühmte Werbebrief an den Vater seiner zukünftigen Ehefrau Johanna von Puttkamer ein zentrales Dokument, da in diesem bekenntnishaften Schreiben ein Bekehrungsweg aufgezeigt wird, an dessen Ende der Durchbruch zum wieder gewonnenen Christentum steht. Nicht überall in der Forschung wird dieses Bekenntnis beim Wort genommen. Einige Autoren sehen gerade hier ein erstes Zeugnis diplomatischen Geschicks und gekonnter Anpassung an das Gegenüber und den zu erreichenden Zweck. „Mit der hohen Kunst des gebornen Diplomaten ist dieser Brief ins fromme Gemüt des Empfängers hineingeschrieben“3 erklärt Emil Ludwig, für den Bismarck in erster Linie der Virtuose seiner selbst ist, ein Schauspieler in der Art des Roquairol, der „alle Zustände des Herzens“ [ .. .] „spielend in sich und andern“ erschafft4 (nicht umsonst würde Johanna von Puttkamer dann – in der Phase, in der Bismarck ihrer Frömmigkeit sein Konzept von erhabener, ja satanischer Zerrissenheit entgegenhält – gerade diese Stelle des Titan Bismarcks besonderer Aufmerksamkeit empfehlen5). 2 Lothar Gall: Bismarck, der weiße Revolutionär, Frankfurt am Main, Berlin, Wien (Ullstein Propyläen) 1980, S. 45. 3 Emil Ludwig: Bismarck. Neu-Ausgabe (erstmals 1926). München (Herbig) 1975, S. 70. 4 Jean Paul: Titan, in: Sämtliche Werke. Hg. v. Norbert Miller. München, Wien (Hanser) 61999, Abt. 1, Bd. 3, S. 261. 5 „Den 53. [Zykel] – ganz kurzen . . . u. d. 54sten. – möchte ich Dir so gern vorlesen, Otto, – ich kann mir nicht denken daß wirklich so grundschlechte Menschen existieren – wie jener Carl [Roquairol], von dem in beiden besonders die Rede ist – und von dem ich Dir schon erzählte. – So schrecklich viele Sünden und Abscheulichkeiten in einem Menschen – mag ich mir nicht vorstellen, – der noch dazu keine Kraft hat, einer einzigen zu widerstehen, wenn er’s auch oft will!! – Ich bin vielleicht ein Kind in der Weltkenntniß. – aber ich glaube solche Scheußlichkeiten nicht, – und muß mich nächstens von Dir aufklären lassen. –“ (Johanna von Putt-

2.1 Romantische Widersprüche

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Es geht im Folgenden nicht darum, nach dem archimedischen Punkt, weder in Bismarcks noch in Puttkamers Charakter, zu suchen. Es geht nicht darum, seine Täuschungen aufzudecken oder die Echtheit seiner oder ihrer Empfindungen zu überprüfen. Viel interessanter ist es, das Bild, das Bismarck von sich für sich und andere schuf, als zeittypisches Phänomen zu fassen, als Ausdruck einer neuen, nicht mehr als substanziell zu denkenden Identität zu lesen, der hierdurch ganz neue Handlungsmöglichkeiten gegeben sind, die aber zugleich auch ganz neue persönliche Krisen zu bewältigen und Widersprüche auszuhalten hat. Bismarcks vielzitierter Ausspruch aus einem Brief an Johanna von Puttkamer vom 14. März „An Grundsätzen hält man nur fest, solange sie nicht auf die Probe gestellt werden; geschieht das, so wirft man sie fort wie der Bauer die Pantoffeln und läuft, wie einem die Beine von Natur gewachsen sind“, ist sicherlich in etwas unfairer Weise zur programmatischen Devise seiner Realpolitik erhoben worden.6 Denn bei dieser Äußerung bezieht er sich eigentlich nur auf seine gewandelte Einstellung zur Krankheit seiner Braut, die er zuvor, getreu seinem Grundsatz „an etwas Schlimmes nie zu glauben“, verharmlost habe.7 Vielleicht ist diese Äußerung aber, gerade in diesen, ihren ursprünglichen Zusammenhang gestellt, noch viel aussagekräftiger in Hinblick auf die „Modernität“ Bismarcks und des hier zu untersuchenden Briefwechsels. Denn die Preisgabe der Prinzipien erfolgt hier zweifellos nicht aus politischem Kalkül, ist nicht Resultat eines strategischen Egoismus, den der Politiker Bismarck durchaus auch pflegen wird, sondern Ausdruck einer psychologischen Verunsicherung, ja nervöser Panik: Qu‘est-ce que cela veut dire? Seit 8 Tagen habe ich keine Sylbe von Dir gehört, und heute ergriff ich mit wahrer Ungeduld den Wust von Briefen, [. . . ] aber nicht die Spur von Zuckers [der Sitz der Puttkamers, R. L.] und Hochwohlgeboren; ich traute meinen Augen nicht und mußte sie zweimal durchsehn, setzte darauf meinen Hut ganz auf das rechte Ohr und kamer an Otto von Bismarck Ende April [wahrscheinlich 25., R. L.] 1847, in: Die Brautbriefe der Fürstin Johanna von Bismarck. Mit Briefen und Aufzeichnungen von und über den Altreichskanzler herausgegeben von Fürstin Herbert von Bismarck. Stuttgart Berlin 1931, S. 115f.) 6 Unter anderem von Golo Mann (Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main (Büchergilde) 1958, S 324), dessen wenige Seiten zu einem Porträt Bismarcks ich dennoch zum Differenziertesten und Klügsten zähle, was über Bismarck geschrieben wurde. 7 Briefe an seine Braut und Gattin, S. 74f.

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ging ohne Zigarre zwei Stunden im Regen auf der Chaussee spatziren, von den verschiedenartigsten Gefühlen bestürmt, en proie a` des e´motions violentes, wie wir im Roman zu sagen pflegen!8

Dieses Kabinettstück Bismarckscher Briefvirtuosität ist ein Vorgeschmack auf das, was in diesem Kapitel dargestellt werden soll. Bismarck schildert sich (ganz im Sinne der zitierten Formel aus zeitgenössischer französischer Unterhaltungsliteratur) als Gegenstand, nicht als Protagonist seiner Emotionen. Der plötzliche Gesinnungswandel, der aus der hier geschilderten Situation resultiert, ist also kein Willensakt, sondern im Gegenteil Resultat einer Verunsicherung, einer Angstsituation. Leere Bewegung, überstürzter Aufbruch und mechanisches Spazierengehen unter Missachtung aller unbequemen Umstände sind hier ironischerweise zwar durchaus mögliche Belege eines „Verachten[s] der theoretischen Konstruktion, der Doktrinen“, wie es Golo Mann in Bezug auf das im zitierten Brief gleich folgende, von mir bereits zitierte Diktum über die Grundsätze konstatiert, aber ganz gewiss nicht eines „Hantieren[s] mit den Gewichten wirklicher Macht, die letztlich immer die Macht war zu töten“,9 sondern im Gegenteil das Resultat blanker Angst! Golo Mann analysiert den Machtpolitiker Bismarck meines Erachtens subtil und zutreffend. Doch in der hier verhandelten privaten Äußerung kommt zum Kalkül des abwägenden Politikers das Zeugnis einer zu leerer Aktivität weit mehr als zur „Tat“ treibenden Irritierbarkeit hinzu, eines Ausgeliefertseins gegenüber einer übermächtigen, unberechenbaren Realität, die mir zumindest bei der Erörterung des Liebesbriefschreibers Bismarck mitzubedenken zu sein scheint und von der ich nicht weiß, ob sie nicht auch den Politiker weit mehr bestimmt, als man gemeinhin vermuten würde. Eine Verbindung von Fatalismus und Aktivismus, wie sie für das späte neunzehnte Jahrhundert, seine Glorifizierung der „Tat“ und des „Willens“ bei gleichzeitigem Pessimismus paradigmatisch erscheint. Eine gewisse Getriebenheit zeichnet auch viele seiner politischen Entscheidungen aus, deren Erfolg oft gerade in ihrer Spontaneität und dem sich daraus ergebenden Überraschungseffekt gelegen haben mag. Umso wichtiger erscheint für einen derartigen Charakter die Begegnung mit dem Kreis der pommerschen Pietisten, zu dem seine 8 Ebd., S. 74. 9 Golo Mann: Deutsche Geschichte (a. a. O.), S. 324.

2.1 Romantische Widersprüche

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spätere Frau Johanna von Puttkamer gehört, und äußerst folgenreich ist sie nicht nur für seine biographie sentimentale, sondern ebenso für seine politische Entwicklung und Karriere. Im pietistischen Kreis um Adolf von Thadden-Triegleff, LudwigFriedrich Leopold und Ernst Ludwig von Gerlach (alle drei führende Mitglieder der konservativen Partei aus dem engsten Kreis um König Wilhelm IV.) und vor allem seines Schulfreundes Moritz von Blanckenburg und von Thadden-Triegleffs Tochter Marie fand Bismarck eine politische Richtung, einen neuen Begriff von Religiosität, literarische Auseinandersetzung, Poesie, eine unerfüllte Liebe und eine Frau. In diesem Kreis durchlebt er zwischen 1845 und 1847 eine Krise des Glaubens und des Herzens, wird von den Freunden mit freundlich gemeinten Bekehrungsversuchen bedrängt – denn zum Teil scheint er diese tatsächlich als Bedrängung zu empfinden –, aber auch gehalten und gestützt und verfällt, wie sich aus vielen Andeutungen und Spuren herauslesen lässt, in eine unglückliche Liebe zu Marie von Thadden, der Verlobten und dann Frau seines Freundes Moritz, die ihre Sorge um seine Seele bald auch nicht mehr von der um sein Herz unterscheiden zu können scheint. Mit vereinter Anstrengung von Moritz und Marie wird Bismarck schließlich mit deren Freundin Johanna von Puttkamer verkuppelt. Die Kommunikation über Religion, das Bekehrungs- und Erweckungswesen, sind in diesem pietistischen Kreis eng verknüpft mit romantischen Vorstellungen. Dass Novalis als Verfasser der poetischen Rede Die Christenheit oder Europa als Prophet einer Wiederherstellung der Einheit von Kirche und Staat dabei eine ausgestellte Rolle spielt, erscheint plausibel. Doch auch Ludwig Tieck und Jean Paul gehören zu den Idolen dieses Kreises und sogar der Heine des Buchs der Lieder. Pietistische und romantische Innerlichkeit, diese aus jener hervorgegangen, finden hier wieder zueinander: Das geistliche Leben, das sich dort eigentümlich auswuchs, hatte seine Wurzeln in den Umgebungen der Freiheitskriege. Der 1796 geborene Adolf von Thadden trug, da er 1813 ausrückte, neben dem Neuen Testamente den Faust und den Wallenstein in seinem Tornister. Die geistigen Kreise, die vor und nach dem Kriege in Berlin die Blüte der begabten vornehmen Jugend in sich schlossen, waren stets politischer und literarischer Anregung voll; seit 1816 aber drang in dem einen von ihnen der religiöse Klang ganz durch und übertönte den literarischen. Die Romantik blieb, aber sie beugte sich ganz dem in den Stürmen dieser Jahre neuerweckten Christentume: einem lutherischen Christentume, das sich jedoch mit starken persönlichen Erregungen, einem starken religiösen Subjektivismus erfüllte und durchglühte. Pietistische Überlieferungen und die heiße Empfindung des jungen Geschlechts wirkten ineinander.10

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Diese romantischen Konservativen sind politisch längst nicht so harmlos, wie es scheinen mag.11 Sie stellen vielmehr aufgrund ihrer Nähe zum König den erfolgversprechendsten Zugang zur Macht dar, den Bismarck überhaupt wählen konnte – und sie vertreten dabei zugleich ein Politikverständnis, das dem der späteren Bismarckschen Realpolitik so entgegengesetzt ist, wie nur denkbar. Sie verkörpern das, was Carl Schmitt als „politische Romantik“, als weltfremdes und Wirklichkeit verkennendes Konzept ästhetisierter Politik verworfen hat. Obwohl nämlich Carl Schmitt in Politische Romantik betont, dass er dieses Problem nicht auf den speziellen historischen Fall der pommerschen Pietisten beschränkt sehen will, ist doch deutlich, dass das von ihm angegriffene idealistische Politikverständnis sich hier paradigmatisch konstituiert: Es ist nicht möglich, aus einer umfassenden europäischen Strömung des 19. Jahrhunderts, die man vernünftigerweise, wie das immer üblich war, als Ganzes Romantik nennt, erst etwas speziell Deutsches und dann noch gar einen ostelbischen Vorgang zu machen, der mit dem märkischen Pie10 Erich Marcks: Bismarck. Eine Biographie 1815–1851. Einundzwanzigste, um den nachgelassenen Band Bismarck und die deutsche Revolution 1848–1851 erweiterte Auflage. Stuttgart (DVA) 1951 (in dieser Form erstmals 1939), S. 214f. Für den nationalistischen (und später auch nationalsozialistischen) Historiker Erich Marcks (1861–1938), der in seiner Person das Paradox eines sich als „Neurankeaner“ verstehenden Treitschke-Anhängers verkörpert, ist Bismarck die Vollendung und Apotheose deutscher Geschichte, der gegenüber alle Gegenbewegungen und Widersprüche nur marginal sein können, so dass auch der ultrakonservative Kreis der pietistischen Hofkamarilla um Friedrich Wilhelm IV., der Bismarck als Sprungbrett in die Politik dient, in eher humoristisch gefärbter Weise Aufnahme in Marcks‘ Darstellung erhält. Dadurch verundeutlicht Marcks m. E. die enorme Bedeutung, die Bismarcks an diesen Kreis gerichteter Hilferuf in religiöser Not für seine weitere politische Karriere hat und wie notwendig und unumgänglich – sie mag aufrichtig empfunden sein oder nicht – die religiöse Erweckung für seinen weiteren politischen Werdegang war. Sehr interessant zu Marcks „ästhetischem“ Geschichtsbild aus dem Geiste des poetischen Realismus, dessen Autoren er sich zum Teil eng verbunden fühlt: Jens Nordalm: Historismus und moderne Welt. Erich Marcks (1861–1938) in der deutschen Geschichtswissenschaft, Berlin (Duncker und Humblot) 2003, bes. S. 76–95. Nordalms Darstellung legt eine gewisse Folgerichtigkeit zwischen Marcks‘ historiographischer Poetik und seinen geschichtsteleologischen Vorstellungen nahe, die ihn schließlich auch dazu verführten, seine preußischen Hoffnungen auf einen durch Hindenburg gemilderten Hitler zu setzen. 11 In meinem Aufsatz über Bismarck/Puttkamers Brautbriefwechsel („Die todeselenden englischen Gedichte“. Romantische Krisen in Otto von Bismarcks und Johanna von Puttkamers Briefwechsel der Brautzeit, in: Der Liebesbrief (a. a. O.), S. 129– 150), auf dem dieses Kapitel beruht und dessen Überarbeitung es darstellt, habe ich dies möglicherweise nicht deutlich genug gemacht.

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tismus, schlesischer Mystik und ostpreußischer Spekulation gleichzusetzen wäre. Allerdings gingen in der großen Strömung neben mystischen, religiösen und irrationalen Tendenzen aller Art auch solche spezifisch romantischen Elemente mit, deren Eigenart aus dem Berliner oder dem ostelbischen Milieu zu erklären ist.12

Wenn für Carl Schmitt auch unbestreitbar das europäische liberale Bürgertum, nicht eine religiös-verzückte reaktionäre Aristokratie, der eigentliche Träger politischer Romantik ist,13 weil seine Schrift eben in erster Linie eine Kritik am liberalen Bürgertum und seiner politischen Schwäche sein soll, so deutet sich hier für die heutige Perspektive an, dass romantische Weltanschauung zwar sicherlich eng mit dem Aufstieg des Bürgertums verknüpft, als Ideologie jedoch keinesfalls an eine bestimmte Klasse gebunden ist. Im Sinne Carl Schmitts sind auch die aristokratischen Reaktionäre, denen Bismarck seinen Einstieg in die Politik verdankt, bürgerlich. Romantik ist die ideologische Verbürgerlichung der Politik und der Weltanschauung insgesamt und damit Medium der bürgerlichen Unterwanderung auch der ehemaligen Eliten mit den Prinzipien, auf denen bürgerliches Selbstverständnis beruht: (Selbst-)Kritik, Problembewusstsein, ästhetisches Denken, Abstraktion: alles Geistige, Religion, Kirche, Nation und Staat, fließt in den Strom, der von dem neuen Zentrum, dem Ästhetischen, ausgeht. Sofort aber vollzieht sich eine überaus typische Verwandlung. Die Kunst wird verabsolutiert, aber gleichzeitig problematisiert. Sie wird absolut genommen, aber durchaus ohne die Verpflichtung zu einer großen und strengen Form oder Sichtbarkeit. Das alles wird vielmehr gerade aus Kunst abgelehnt, ähnlich wie sich Schillers Epigramm zu keiner Religion bekennt, und zwar gerade aus Religion. Die neue Kunst ist eine Kunst ohne Werke, wenigstens ohne Werke großen Stils, eine Kunst ohne Publizität und ohne Repräsentation. Dadurch wird es ihr möglich, sich in tumultuarischer Buntheit aller Formen einfühlend zu bemächtigen und sie doch nur als ein belangloses Schema zu behandeln, und in einer von Tag zu Tag den Standpunkt wechselnden Kunstkritik und Kunstdiskussion immer von neuem nach dem Wahren, Echten und Natürlichen zu schreien.14

Zu diesem Punkt gelangt, erkennt man in Schmitts essentialistischer Kritik am Relativismus bürgerlicher Kultur die Verwandtschaft und Entsprechung zu Max Nordaus Verdammung der Literaturliebe. Die neue „Kunst ohne Werke“ hat nämlich einen einzigen Zweck: die Stiftung ästhetischer Subjektivität. Und genau hierin diagnosti12 Carl Schmitt: Politische Romantik (a. a. O.), S. 15f. 13 Vgl. ebd., S. 16–19. 14 Ebd., S. 20.

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ziert Schmitt einen Umstand, der einerseits für die pommerschen Pietisten, vor allem aber auch für Bismarck und dessen Frau entscheidend ist, wie ich im Weiteren dieses Kapitels noch ausführen werde. Die Fatalität von Schmitts Kritik besteht dabei darin, dass sie selbst wiederum auch nichts anderes ist als ein Geschrei nach Natürlichem, dass sie also dem, was sie kritisiert, nicht zu entkommen vermag. Ganz ähnlich verhält es sich mit der Gestalt und Persönlichkeit Bismarcks. Über die weltfremde Schwärmerei seiner reaktionären Verbündeten wird er sich bald schon lustig machen, ihre politischen Programme als unrealistisch verwerfen. In der Ablehnung dieser romantisch-reaktionären Konzepte, aber auch, wenn er parlamentarische Debatten und Beschlüsse mit den „Mondscheinbetrachtungen eines sentimentalen Jünglings“15 vergleicht, produziert er sich als Repräsentant eines Realitätsprinzips – und täuscht sich und die Öffentlichkeit darüber hinweg, dass er dabei selbst wieder nur eine romantische Projektion vornimmt. So gesehen ist es nicht im Geringsten ein Zufall, dass Bismarck, der Realpolitiker, als Politiker wie als great lover in history aus einem Kreis literarischer Schwärmer hervorgeht. Die romantisch-subjektivistische Haltung prägt die Verhältnisse im Kreis um die Gerlachs, Blanckenburgs und Thaddens und trägt auch mit zu den emotionalen Krisen bei, die hier zu bewältigen sind. Hinzu kommt ein sentimentalischer Patriarchalismus, der die Ständegesellschaft als poetisch-familiäre Feudalgemeinschaft wiederbeleben will, als historischen Traum a` la Walter Scott, der prägend für die Politik unter Friedrich Wilhelm IV. ist. Panajotis Kondylis zufolge ist hier das letzte Beispiel echten Konservativismus‘ in Deutschland zu finden.16 Es ist diese Gruppe, zu der auch Johanna von Puttkamers Onkel, der Gründer der „Kreuzzeitung“, Hans Hugo von Kleist-Retzow gehört, mit dem Bismarck 1849–51 eine Wohnung in der Berliner Jägerstraße in friedfertiger „Ehe“17 teilen wird, die Bismarcks erste 15 Bismarck an seine Frau am 28. August 1849, in: Briefe an seine Braut und Gattin (a. a. O.), S. 145. 16 Panajotis Kondylis: Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang. Stuttgart (Klett) 1986, S. 401–417, bes. S. 416. Mit Carl Schmitt mag man sich allerdings fragen, inwiefern eben nicht auch hier schon eine Ästhetisierung von Politik zu konstatieren ist, die Teil des von ihr bekämpften modernen Relativismus ist, ob die pommerschen Junker nicht schon Kunstfiguren sind wie die späteren Anhänger der „konservativen Revolution“. Ja, es fragt sich, ob Konservativismus nicht immer eine Form von Ästhetizismus ist. 17 Bismarck: Briefe an seine Braut und Gattin (a. a. O.), S.147.

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Schritte in die Politik befördert und inspiriert. Spätestens nach 1871, als Bismarck den Kulturkampf aufnimmt und sich den Liberalen annähert, wird es zum Bruch mit diesem Kreis und mit dem Schulfreund Moritz kommen. Die religiöse und emotionale Krise dieser Jahre ist also zugleich Bismarcks Initiation in die Politik. Persönliches und politisches Leben sind von hier ab bei ihm kaum noch zu trennen. Dies prägt auch die Beziehung zwischen Otto und Johanna. Romantischer Gefühlskult, die Vermischung von Leben und Literatur, das Bewusstsein zugleich der Krisenhaftigkeit und dämonischen Gefährlichkeit dieses romantischen Kultes, Leben als Traum und Lebensbewältigung: diese Paradoxe liefern die Dynamik der Liebe zwischen beiden Partnern. Bismarcks bereits erwähnter Brautwerbebrief vom 4. Februar 1847 gilt – sei er genialer diplomatischer Coup oder aufrichtiges Bekenntnisschreiben – wohl zu Recht als schriftstellerisches Meisterwerk.18 Womöglich lässt sich gerade an diesem Werbe- und Bekenntnisschreiben, das passagenweise in Ton und Struktur ganz dem Duktus pietistischer Erweckungsliteratur folgt, aufzeigen, wie obsolet ein negativ verstandener Begriff von „Inszenierung“ nicht nur in Bezug auf die Gestalt Bismarcks, sondern überhaupt im Zusammenhang mit der Identitätsstiftung und Selbstdarstellung in Briefen des 19. Jahrhunderts ist. Denn die Theatermetapher, in Bezug auf menschliches Handeln traditionell eine negative, falschen Schein, Verstellung implizierend, verliert unter Voraussetzung von Imaginationskonzepten wie der in der Einleitung vorgestellten Liebestheorie Stendhals, in denen sich Identität als Akkumulation von Zeichen konstituiert, die wiederum auf andere Zeichen verweisen, ihre Negativität. Inszenierung bedeutet in Bezug auf Bismarck, aber auch auf Sacher-Masoch (oder dessen Briefpartnerinnen Rümelin oder Mataja) Stifter, Haeckel und Uslar-Gleichen, nicht Ver-Stellung, sondern Stellung, Perspektivierung auf ein Gegenüber. Der Tod Marie von Blanckenburgs (seit dem 4. Oktober 1844 ist von Thadden mit Moritz von Blanckenburg verheiratet) am 10. November 1846 erschüttert den Freundeskreis zutiefst. Bei Bis18 Vgl. z. B. Heinrich Mann: „Der Brief an den Vater seiner zukünftigen Frau, sein Werbebrief, welch ein Manifest menschlicher Schönheit! Man verneigt sich und ist beglückt. Wer das schrieb – wer überhaupt sein klassisches Deutsch schrieb, kann das unbedingt Schlechte niemals gewollt noch sich erlaubt haben.“ zit. nach: Dirk Reinartz, Christian Graf von Krockow: Bismarck. Vom Verrat der Denkmäler. Göttingen (Steidl) 1991, S. 15.

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marck führt er „zu innerer Einkehr und Besinnung“19. Programmatisch war die Ehe zwischen Otto und Johanna von Marie von Thadden eingeleitet worden, und ihr Tod ist damit der Anlass, konkrete Schritte in dieser Richtung vorzunehmen, wobei Moritz zunächst ein geschickter Vermittler ist und zugleich gegenüber Johanna der Übermittler der Fortschritte, die Bismarcks religiöse Bekehrung macht.20 So bringt er es schließlich dazu, dass beide einander ihre Liebe erklären und dass Otto von Bismarck am 21. Dezember 1846 (nach Verlauf einer schicklichen Zeitspanne, aber doch relativ rasch) noch auf der Rückfahrt von Zimmerhausen in Pommern, wo er „die Sache mit Johanna berichtigt“21 hat, aus dem Hoˆtel de Prusse in Stettin den berühmten Werbebrief an Heinrich von Puttkamer schreibt. Verehrtester Herr von Puttkammer Ich beginne dieses Schreiben damit, daß ich Ihnen von vorn herein seinen Inhalt bezeichne; es ist eine Bitte um das Höchste, was Sie auf dieser Welt zu vergeben haben, um die Hand Ihrer Fräulein Tochter. [ . .. ] Ich weiß aber, daß ich, auch abgesehn von allen Hindernissen in Raum und Zeit, welche Ihnen die Bildung eines Urtheils über mich erschweren können, durch mich selbst niemals im Stande sein kann, Ihnen solche Bürgschaften für die Zukunft zu geben, daß sie den Einsatz eines so theuren Pfandes von Ihrer Seite rechtfertigen würden, wenn Sie nicht durch Vertrauen auf Gott das ergänzen, was das Vertrauen auf Menschen nicht leisten kann. Was ich selbst dazu thun kann, beschränkt sich darauf, daß ich Ihnen mit rückhaltloser Offenheit über mich selbst Auskunft gebe, soweit ich mir selber klar geworden bin.22

Selbst da, wo er mit einiger Umständlichkeit ausführt, tragen Bismarcks Äußerungen oft den Anschein einer gewissen Eile, eines Auf-den-Punkt-kommen-Wollens. So auch hier. Die bedingungslose Offenheit, mit der der Brief eröffnet wird, trägt deutlich den Charakter einer Zielstrebigkeit, die selbst durch den langen Satz 19 Volker Ullrich: Otto von Bismarck. Rowohlt-Monographie. Reinbek bei Hamburg (Rowohlt) 1998, S. 30. 20 Vgl. Marcks: Bismarck, S. 289–294. 21 Ebd., S. 294. 22 Fürst Bismarcks Briefe an seine Braut und Gattin. Hg. v. Fürsten Herbert Bismarck. Stuttgart (DVA) 1900, S. 1. Vgl. auch Otto von Bismarck: Werke in Auswahl. Jahrhundertausgabe zum 23. September 1862. Hg. v. Gustav Adolf Rein, Wilhelm Schüßler, Alfred Milatz, Rudolf Buchner. 8 Bde. Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 2001 (im Folgenden als Werke in Auswahl – im Zweifelsfall folge ich in der Ortographie, soweit eine Überprüfung am Manuskript nicht möglich war – dieser Ausgabe, so etwa hier in der fehlerhaften Schreibung des Namens des Adressaten), Bd. 1, S. 63.

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nicht ausgebremst wird, der mit der Ankündigung der Darlegung der eigenen Erweckungsgeschichte endet. Die von Golo Mann konstatierte „Schärfe“ der Formulierungen Bismarcks, besteht auch hier und gibt der Beichte, die nun folgen soll, von vornherein einen Vertragscharakter, sie wird zum Tausch angeboten, als Pfand gegen ein anderes Pfand eingesetzt. So liefert diese Einleitung den rationalen Rahmen für die Offenlegung von Innerlichkeit, die sich in der eigentlich eher rationalistischen Figur des „Sich-klar-Werdens“ ankündigt. Und nun schildert Bismarck sein Leben tatsächlich in der Form eines abbreviierten Bildungsromans, wie eine religiöse Biographie, die auf den Wendepunkt eines Erweckungserlebnisses zuläuft, an dem eine „Umkehr“ stattfindet. Ich bin meinem elterlichen Hause in frühester Kindheit fremd, und nie wieder völlig darin heimisch geworden, und meine Erziehung wurde von Hause her aus dem Gesichtspunkt geleitet, daß alles der Ausbildung des Verstandes und dem frühzeitigen Erwerb positiver Kenntnisse untergeordnet blieb. Nach einem unregelmäßig besuchten und unverstandenen Religionsunterricht, hatte ich bei meiner Einsegnung durch Schleiermacher [durch seinen Versuch, Rationalität und Religion zu vereinbaren und die Forderung nach Trennung von Kirche und Staat natürlich ein Stachel im Fleisch eines Pietisten, R. L.], an meinem 16. Geburtstage, keinen andern Glauben, als einen nackten Deismus, der nicht lange ohne pantheistische Beimischungen blieb. Es war ungefähr um diese Zeit, daß ich, nicht aus Gleichgültigkeit, sondern in Folge reiflicher Überlegung aufhörte, jeden Abend, wie ich von Kindheit her gewohnt gewesen war, zu beten, weil mir das Gebet mit meiner Ansicht von dem Wesen Gottes in Widerspruch zu stehn schien, indem ich mir sagte, daß entweder Gott selbst, nach seiner Allgegenwart, Alles, also auch jeden meiner Gedanken und Willen, hervorbringe, und so gewissermaßen durch mich zu Sich Selbst bete, oder daß, wenn mein Wille ein von dem Gottes unabhängiger sei, es eine Vermessenheit enthalte, und einen Zweifel an der Unwandelbarkeit, also auch an der Vollkommenheit, des göttlichen Rathschlusses, wenn man glaube, durch menschliche Bitten darauf Einfluß zu üben.23

Man meint förmlich, den frommen Leser aufseufzen zu hören bei jedem Komma, das die Perioden dieser Erklärung unterbricht. Und in der Gewundenheit des Satzes scheint der Brief selbst schon das schulfuchserisch Klügelnde, die deistischen Sophismen (dem Denken wird in diesem Brief ja die Schuld an allem gegeben) zu entlarven, mit denen die von der Glaubenseinfalt abgekommene Seele sich herausredet. Sehr leicht lässt sich dieser Brief in dieser Weise „mo23 Ebd., S. 1f.; Werke in Auswahl, Bd. 1, S. 64.

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lie`risch“ lesen, d. h. als karikaturhaft übertriebene Kopie einer Sprachmarotte, mit der der Intrigant den in seiner Denkwelt befangenen komischen Charakter überlistet. Vieles, vor allem die Effizienz und zugleich die Überinstrumentalisierung dieser Erzählung, mit der der Erwartung des Lesers „Futter gegeben“ wird, legen eine solche Lesart nahe. Die eingestandene Ablehnung des Gebets als überflüssiges Übertragungsmedium erscheint aber durchaus konsistent in Bezug auf zahlreiche andere Äußerungen Bismarcks, die sich gegen Instanzen und Medien der Übertragung richten (Parlament und Brief etwa), und auch das problematische Verhältnis zu Elternhaus und Mutter wird von Bismarck bereits an anderer Stelle thematisiert. Die geschilderten Entwicklungsstadien mögen also durchaus ihre Grundlage in der Erfahrung des Schreibers haben. Der kalkulierte Einsatz der Form, der Sprache und Bilder, machen ihn aber zugleich zu „Literatur“. Konsequent schildert Bismarck seinen Weg zum Glauben sodann im Sinne und mit dem Vokabular pietistischer Erweckungsliteratur als inneren Umsturz, als irrationales Damaskuserlebnis. Während „Ueberredung und Disputation“ des nach langer Zeit wieder gefundenen Schulfreundes Moritz von Blanckenburg das Ziel der Bekehrung nicht ergreifen, bringt das Bekanntwerden mit dem „kindlichen Glauben“ der Mitglieder des pietistischen Kreises, in den Moritz ihn einführt, erste Zweifel am bisherigen intellektuellen Hochmut. Nun folgt in Bismarcks Darstellung der eigentliche Bekehrungsprozess und für diesen bedient er sich ausgiebig im Vorrat pietistischer Erweckungsmetaphorik: – Ich wurde inzwischen von Ereignissen berührt, [. . .] die [ ... ] erschütternd auf mich wirkten. Ihr factisches Resultat war, daß das Bewußtsein der Flachheit und des Unwerthes meiner Lebensrichtung in mir lebendiger wurde als je, die gute Meinung Andrer von mir mich drückte und beschämte, und ich bittre Reue über mein bisheriges Dasein empfand. Durch Rath Andrer wie durch eigenen Trieb wurde ich darauf hingeführt, consequenter und mit entschiedner Gefangenhaltung einstweilen des eignen Urtheils, in der Schrift zu lesen. Was in mir sich regte, gewann Leben, als sich bei der Nachricht von dem tödlichen Erkranken unsrer verstorbenen Freundin in Cardemin das erste inbrünstige Gebet, ohne Grübeln über die Vernünftigkeit desselben, von meinem Herzen losriß [ . . . ]. Welchen Werth Sie dieser erst zwei Monat alten Regung meines Herzens beilegen werden, weiß ich nicht; nur hoffe ich, soll sie, was auch über mich beschlossen sein mag, unverloren bleiben; eine Hoffnung, die ich Ihnen nicht anders habe bekräftigen können, als durch unumwundene

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Offenheit und Treue in dem was ich Ihnen, und sonst noch niemandem, hier vorgetragen habe, mit der Überzeugung, daß Gott es den Aufrichtigen gelingen lasse [„dem Aufrichtigen lässt es der Herr gelingen“ [Spr. 2,7, Hervorhebungen von mir, R. L.].24

Die zentrale und implizite Botschaft dieses Briefes bündelt sich in dem Begriff des „Triebs“: „Typisch berichten die pietistischen Selbstzeugnisse von dem erfahrenen göttlichen Trieb, der sich nicht nur auf das religiöse Leben, sondern auch auf die Einzelheiten der irdischen Lebensführung erstreckt: nichts ist Zufall, alles Fügung.“25 Bismarck stellt seinen Werdegang als teleologischen Prozess, als gottgeleitete Suche dar und bedient sich des entsprechend verfügbaren Vokabulars, das bestätigt auch Lothar Gall: Auffällig allerdings ist, daß Bismarck hier und nur hier pietistische Formeln gebraucht, deren Grundton seinem ganzen Wesen zutiefst widersprach und die auch in den ganzen Kontext einer bei aller Offenheit sehr nüchternen und selbstanalytischen Darstellung seines bisherigen „inneren Lebens“ nicht recht hineinpassen.26

In der Darstellung des biographischen Verlaufs ist alles, was Bismarck hier schreibt, richtig. Nur, dass er ihn so vollkommen den Erwartungen seines Lesers anzupassen weiß, dass er diesem eine erbauliche Bekehrungsgeschichte liefert, wie er sie sich bis in jedes Detail musterhafter nicht vorstellen kann, gibt den Tartuffe-haften Zug, den schon viele Leser dieses Briefes schmunzelnd zur Kenntnis genommen haben. Nicht ohne Bewunderung für die geschickte Mimikry des Verfassers tut dies vor allem Emil Ludwig: Nie in seinem Leben hat Bismarck Gottes Namen so oft angerufen, wie in diesem und in seinem zweiten Brief an Herrn von Puttkamer; die Stilisierung geht so weit, daß er anstatt des männlichen „damit“ wiederholt das pastorale, ihm sonst zeitlebens zuwidere „auf daß“ anwendet. Er weiß, er muß seine Fehler und seinen früheren Unglauben offen aufdekken, damit man ihm jetzt seinen Glauben glaubt, und obwohl alles echt sein mag, was er vorträgt, ist doch zugleich alles so klug gesetzt, daß es zum Erfolge führt: ganz wie die Anklage gegen den letzten Deichhauptmann [durch die er sich dessen Posten zu verschaffen gewusst hat, R. L.]. Solange er von Gott spricht, ist sein Ton demütig [ . .. ]. Sobald er auf sich selber kommt, reckt er sich wieder auf.27 24 Ebd., S. 3f.; Werke in Auswahl, Bd. 1, S.66. Zu den kursiv gesetzten Begriffen vgl. August Langen: Der Wortschatz des deutschen Pietismus. Tübingen(Niemeyer) 2 1968, S. 38 (berühren), 464, (erschüttern – beides zur pietistischen Wortgruppe der Einwirkung Gottes auf die Seele zählend), 186 (richten – auf Gott, Wortgruppe des Wegs der Seele zu Gott), 27 (Trieb), 37, 377 (regen, Regung), 337 (Inbrunst), 49 (losreißen). 25 Langen: Der Wortschatz, S. 27. 26 Gall: Bismarck (a. a. O.), S. 51f.

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Letzten Endes sagt auch Erich Marcks nichts anderes, auch wenn es ihm darum zu tun ist, den Verdacht der Heuchelei von Bismarck abzuwenden: Soweit wir irgend nachprüfen können, ist alles richtig und alles aufrichtig [. . . ]. Man hat diesen Brief diplomatisch nennen wollen; er ist es insofern, als er zu dem alten Christen in Reinfeld in einer Sprache redet, die dieser verstand. Aber eine Anpassung, die Bismarck aus seiner eigenen Natur, wie sie damals war, auch nur um eines Zolles Breite herausgeführt hätte, liegt nicht darin. Er schrieb in anderer Tonart an seinen Bruder: es fragt sich nur, ob nicht der Ton des Werbebriefes der eigentlich echte war.28

Der antirationalistische Impetus von Bismarcks Bekehrungsgeschichte trifft sich durchaus mit Überzeugungen, die er auch in anderen Zusammenhängen äußert. In politischen wie in privaten Zusammenhängen erklärt er sich häufig im Sinne eines aktivistischen Prinzips des Handelns gegenüber dem Debattieren und Reden, das in diesem Punkt durchaus mit pietistischen Vorstellungen kompatibel ist. Auch das inbrünstige Gebet beim Tod Marie von Thaddens wird Bismarck nicht zu erfinden gebraucht haben. Er stellt diese Erweckung darüber hinaus ja durchaus nicht als abgeschlossenen Prozess dar, sondern als einen Wendepunkt in einer Entwicklung, die noch nicht zu Ende ist. Insofern muss von Inszenierung im Sinne einer „Verstellung“ hier nicht die Rede sein. Das Problem liegt eher in einer Auffassung des Subjekts, die hier nicht greift. Erich Marcks wie auch noch Lothar Gall sprechen von Bismarcks „eigener Natur“ bzw. seinem „Wesen“, zu dem die in diesem Brief gewählte Sprache im Widerspruch zu stehen scheint. Diesen Widerspruch dann als lässliche Sünde kleinreden oder die Frage nach Bismarcks eigentlich „echtem“ Ton aufbringen zu müssen, ist das Dilemma, das sich für beide Autoren aus dieser Konstruktion ergibt. Nicht anders verhält es sich für Emil Ludwig, der Bismarcks Charakter bei gleicher substanzieller Auffassung nur anders bewertet. Womöglich lässt sich dieses Problem aus dem Zusammenhang der in der Einleitung diskutierten Frage der Dialogizität des Briefs nicht lösen, sondern als Scheinproblem übergehen. Was in der Komödie Merkmal des Intriganten und Heuchlers ist, dass er seine Sprache dem jeweiligen Gegenüber anzupassen und möglichst bequem zu machen vermag, bildet ein konstituierendes 27 Emil Ludwig: Bismarck (a. a. O.), S. 70. 28 Erich Marcks: Bismarck (a. a. O.), S. 295f.

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Merkmal für das Zwiegespräch des Briefwechsels. Am Beispiel von Alexander von Villers’ Konzept des epistolaren „Zwischenmenschen“ ist es in der Einleitung verhandelt worden. Dass Briefschreiber sich je nach Korrespondenzpartner ganz unterschiedlicher Sprachhaltungen bedienen, ist immer wieder festzustellen, selbst in Bezug auf einen vermeintlich stilistisch so konsistenten Autor wie Adalbert Stifter. Karl-Heinz Bohrers Ausführungen zur ästhetischen Subjektivität im Gegensatz zum subjektiven Authentizitätsprinzip, die er im Zusammenhang mit Kafkas „Tagebuch-Ich“ macht, sollte man durchaus probeweise auch einmal – so abwegig das erscheinen mag – auf Bismarck anwenden: Es handelt sich nicht um das Pathos biographisch-psychologischer Aufrichtigkeit. Dieser Befund ist entscheidend. Er [Kafka] erläutert die schon erwähnte Differenz zum Authentizitätsprinzip genauer: Während dieses sich am Kriterium expressiver Subjekt-Identität und seiner „Wahrheit“ orientiert, deren semantische Form gar nicht problematisiert wird, ist die fiktionale bzw. ästhetische Subjektivität nicht über ein individuelles Wahrheitskriterium, sondern nur über die semantische Form zu verstehen.29

Das Konzept einer ästhetischen Subjektivität böte somit die Möglichkeit, jenseits der Frage nach der Authentizität der Bismarckschen Briefäußerung deren Form als die Sache selbst zu begreifen, als Entsprechung eines Ich, das sich durch die Form seiner unterschiedlichen und unter Umständen auch widersprüchlichen Äußerungen sukzessiv konstituiert. Ästhetische Subjektivität wäre also nicht auf das „Wesen“ eines Charakters gegründet, das sich in seinen Äußerungen „ausdrückt“, sondern als ein Nebeneinander dieser Äußerungen, mögen diese auch untereinander inkompatibel sein, oder, um es an einem die Ich-Debatten des 19. Jahrhunderts prägenden literarischen Beispiel festzumachen: weniger das konstitutive Ich des Bildungsromans, das Schiller in Goethes Wilhelm Meister gerne fände30, als das Nebeneinander von „mannigfachen Beispielen“, das Friedrich Schlegel in diesem Roman entdeckt31. Dass Bismarck selbst eine derartige anti-essentialistische Auffassung des Ich strikt von sich weisen würde, ja, dass das unauflösbare Nebenein29 Bohrer: Der romantische Brief (a. a. O.), S. 17f. 30 Vgl. Schillers Brief vom 5. Juli 1796, in: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794–1805, in: Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens (MA), Bd. 8.1, S. 196f. 31 Friedrich Schlegel: Über Goethes Meister, in: Schriften zur Literatur, hg. v. Wolfdietrich Rasch, München (dtv) 1972, S. 260–278, hier: S. 276.

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ander widersprüchlicher Äußerungen, die Bismarcks Brief-Ich bilden, begleitet ist vom Pathos expressiver Subjekt-Identität, von der Suche nach und Setzung von Identität, spielt dabei keine Rolle. Diese Setzungen, das wird dieses Kapitel zeigen, die sich in den Briefen an Johanna von Puttkamer in Formeln wie „Now never any more“32 als Absage an die frühere sinnentleerte Identität manifestieren, heben den Anspruch auf Integration dieser früheren Ich-Stufen in das Gesamtbild seiner Identität für Bismarck nicht auf, wie sich beispielsweise am Erinnerungs-Kult um Marie von Thadden, der in den Briefen mittels des Mediums der Literatur betrieben wird, eindrücklich zeigt. Literatur, in einem ganz bildungsbürgerlichen Verständnis als aus dem Zusammenhang gerissenes Zitat zur Stiftung eigener Identität von Otto wie auch von der späteren Johanna von Bismarck in den Briefwechsel verfrachtet, entfaltet dabei eine Eigendynamik, die das Prekäre einer ästhetischen Subjektivität voll zu Tage treten lässt. Die Krisen die dieser Briefwechsel durchgeht, machen ihn zu einem hochinteressanten Ausgangsbeispiel der Literaturliebe als Briefliebe. Die Beziehung der Bismarcks geht hervor aus einem Leben, aus einer Gemeinschaft, die durchtränkt ist von Literatur, und allein schon deswegen wäre die Liebe zwischen beiden „Literaturliebe“ im buchstäblichen Sinne, in eben demjenigen, auf den nämlich Nordaus Polemik zielt, als Liebe nach Texten,33 als Versuch, durch den Bezug auf Literatur, durch das inflationär eingesetzte Zitat, der eigenen Liebe Sinn und Glanz zu verleihen. Im Sinne romantischer Universalpoesie werden Dichtung und Leben als eins betrachtet, Erlebnisse in Bezug zu geliebten Autoren, Liedern, Gedichtstellen gesetzt. Und dennoch ist diese Liebe keine romantische. Und dennoch ist es die Absicht all derer, die zum Stattfinden dieser Beziehung beitragen, romantische Liebe zu bewältigen und zu überwinden. Dass Bismarck bei der Werbung um Johanna von Puttkamer der Bekenntnisbrief nicht Selbstzweck ist, verrät sein rasches Reagieren auf Heinrich von Puttkamers zunächst ausweichende Antwort. Seinem Bruder Bernhard schildert er sein weiteres Vorgehen in einem Brief vom 31. Januar: 32 Bismarck: Briefe an seine Braut und Gattin (a. a. O.), S. 11; Werke in Auswahl (a. a. O.), Bd. 1, S. 73. 33 Vgl. Ernst Leisi: Paar und Sprache. Linguistische Aspekte der Zweierbeziehung. Heidelberg (Quelle & Meyer) 1978, S. 74–109.

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Indessen erhielt ich bei meiner Ankunft hier ein Schreiben von ihm [Heinrich von Puttkamer, R. L.], worin eigentlich nichts stand, als einige Bibelstellen, die ihn in seiner Niedergeschlagenheit getröstet hatten, und schließlich eine zweifelhaft gestellte Einladung nach Reinfeld zu kommen. Von dieser machte ich Gebrauch, ohne noch zu wissen, mit welchem Gesicht man mich empfangen werde. Ich fand dort keine ungünstige Stimmung, aber Neigung zu weit aussehenden Verhandlungen, und wer weiß, welchen Weg diese genommen hätten, wenn ich nicht durch eine entschlossene accolade meiner Braut, gleich beim ersten Anblick ihrer, die Sache zum sprachlosen Staunen der Eltern in ein anderes stadium gerückt hätte, in welchem binnen fünf Minuten alles in Richtigkeit geriet“.34

Zum Ausgang des Abenteuers steht am Anfang also doch die Tat, die kühne Überrumpelung der Puttkamers. Bismarcks Interesse am brieflichen Dialog ist auf ein Ziel gerichtet, und wird es auch in den Briefen an Johanna von Puttkamer sein. Am Ende geht es um die Herstellung einer Tatsache, eines Faktums, die Sprache ist zunächst einmal ein Mittel zu dessen Erreichung. Nicht umsonst wird Friedrich Spielhagen (allerdings ein Bismarckverächter35), wenn er 1873 den realistischen Romanautor mit dem Politiker vergleicht, den „kraftvollen Menschen“ als einen beschreiben, der einerseits von den Tatsachen und Verhältnissen determiniert ist, gerade dadurch aber zu ihrem Repräsentanten wird, der die in diesen Konstituenten der Realität liegende Logik offenbart, dadurch also gewissermaßen in sich selbst, in seinem Handeln (sei es künstlerisch oder politisch) das Realitätsprinzip vertritt und veranschaulicht: die Fundamentalbedingung im Leben und in der Kunst [ist] die Kraft [. . . ], überhaupt einen Standpunkt einzunehmen, sich auf einem Standpunkt festhalten zu können. Wer die Welt kennt, weiß, wie selten diese Kraft gefunden wird, die man von jedem fordern zu dürfen glaubt. Wo aber immer sie gefunden wird, da darf man sicher sein, daß der betreffende kraftvolle Mensch, der kraftvolle Künstler vom Leben selbst, von seiner Kunst selbst getragen und höher gehoben wird. Denn wie wir im handelnden Leben von einer Logik der Thatsachen und Verhältnisse reden, welche den geborenen Politiker, den echten Staatsmann oft in eine Position und Rolle drängen und zwingen, von deren Höhe und Bedeutung sich seine Bescheidenheit in früheren Jahren nichts träumen ließ, so 34 Bismarck in einem Brief an seinen Bruder Bernhard vom 31. 1. 1847, in: Werke in Auswahl. (a. a. O.), Bd. 1, S. 70. 35 Zu Spielhagens Haltung gegenüber Bismarck und politischer Einstellung vgl. Volker Neuhaus: Friedrich Spielhagen – Critic of Bismarck’s Empire, in: 1870/71– 1889/90. German unifications and the change of literary discourse, hg. v. Walter Pape, Berlin, New York: de Gruyter 1993, S. 135–143.

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dürfen und müssen wir etwas ähnliches von der Kunst behaupten. Auch in ihr ist eine wunderbare Konsequenz, eine Nötigung zum immer umfassenderen, sichereren Gebrauch ihrer Mittel, welchem sich der Mann, der den Stoff zum rechten Künstler in sich trägt, gar nicht verschließen kann.36

Eine merkwürdige Haltung kraftvoller Passivität formuliert Spielhagen hier, und Bismarck scheint in der Tat auf die Diplomatie zu übertragen, was die Theorie des poetischen Realismus vom Autor erwartet: vollkommene Offenheit gegenüber der Wirklichkeit und genügend Objektivität, um das in ihr liegende allgemeine Gesetz aufzudecken. In dieser Weise passiv und wirksam zugleich inszenieren sich in der Tat sowohl Otto von Bismarck als auch Johanna von Puttkamer, die schon bald Johanna von Bismarck heißen wird. Schon aus diesem Grunde stellen sie die idealen Repräsentanten einer realistischen Spielart der Literaturliebe dar. Die beginnende Verlobungszeit ist eine Zeit langer Trennung und weniger Begegnungen. Johanna wie Otto fallen in trübe und depressive Stimmungen, verstärkt durch den sich in die Länge ziehenden kalten Winter. Zweifel, Eifersucht und Trübsal bestimmen die Briefe, melancholische Gedichte werden hin- und hergeschickt, Neckereien über die Religion erscheinen nur oberflächlich betrachtet als Scherz und zeigen auf, wie sehr doch in diesen Fragen zwischen beiden eine Kluft besteht. Fast ausschließlich wird diese Phase der Brautzeit in der Forschung – auch da, wo die Beschäftigung mit Johanna erklärtermaßen im Vordergrund stehen soll – aus der Perspektive der Bismarckschen Briefe an Johanna von Puttkamer beurteilt. Das hängt auch damit zusammen, dass ihre Brautbriefe erst 30 Jahre nach seinen publiziert wurden, die bereits um 1900 in einer weite Verbreitung findenden Ausgabe vorlagen. Allerdings ist Erich Marcks in seiner Biographie der Entwicklung Bismarcks bis 1848 relativ eingehend auch auf Johannas Briefe eingegangen. Er ist einer der wenigen Autoren, die ihren Briefstil dem Bismarcks ebenbürtig zur Seite stellen. Marcks geht dabei konsequent eben von einem Briefwechsel aus, zu dem ihre Briefe ebenso gehören wie seine. Baasners These vom monologischen Charakter des Briefs im 19. Jahrhundert würde auf diese Korrespondenz damit nicht zutreffen. Seine Briefe 36 Friedrich Spielhagen: Das Gebiet des Romans (1873), in: Beiträge zur Theorie und Technik des Romans. Faks. nach der 1. Aufl. von 1883. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 1967, S. 35–63, hier: S. 61f.

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sind bekannt und unvergeßbar. Wer zu lesen verstand, hat auch ihre Empfängerin daraus sofort verstanden und liebgewonnen; aber nicht jedem ist das zu teil geworden, und mancher behielt aus dem Monologe, den allein er vernahm, nur den Eindruck gewisser Mühen des Bräutigams, die Braut zu beeinflussen und zu ändern, einen Eindruck fast von Vorwürfen und ein halbes und kaum halb richtiges Bild.37

Damit steht Marcks relativ allein. Für alle Biographen Johannas, von Eduard Heyck, dem ersten Verfasser eines Buches über Johanna von Bismarck, das fast ausschließlich von Otto von Bismarck handelt38, über Joachim von Kürenberg, der sie 1935 in ihrem „Lebensschicksal einer deutschen Frau“ aus der Perspektive eines deutschnational bis nationalsozialistisch gefärbten Eheideals betrachtet39 bis zu Ingelore M. Winter, die 1988 die „historische Leistung“ von Johanna darin sieht, dem „zornigen Bismarck“ die „Qualen und Schmerzen seines Lebens zu lindern“, damit er zu „Großem“ fähig sein konnte, steht sie im Schatten ihres Mannes. Diese Briefe sind Briefe einer großen Liebe. Bismarck hat in seinen Briefen an sie fast immer die politische Situation beschrieben, ihr seine Gedanken über Ereignisse und Personen anvertraut – weil er sonst fast allen Menschen mißtraute und die ehrliche Mitteilung brauchte – und sein Herz ausgeschüttet. Johanna hat ihm darauf geantwortet in ihrer natürlichen und direkten Art. In ihrer Herzlichkeit und Aufrichtigkeit, den oft recht spontanen Äußerungen sind auch Johannas Briefe wie die Bismarcks von literarischem Wert und Ausdruck einer Briefkultur, die das 19. Jahrhundert in gebildeten Kreisen pflegte.40

Auch Waltraut Engelberg, die zwei Monographien zum Eheleben der Bismarcks verfasst hat, betont in ihrer Charakterisierung dieses Briefwechsels die Erfülltheit und Geglücktheit einer Beziehung, die aus ihm spricht. Die Ehe, gerade von den Autoren des 19. Jahrhunderts denunziert und malträtiert, scheint hier ja einmal in einem Exemplar zu funktionieren, sich in all ihren Glücksversprechungen, die sie dem sich freiwillig beschränkenden verheißt, zu erfüllen. Und so wurden Otto und später dann auch Johanna von Bismarcks – zumindest frühen – Briefe gelesen, als Dokumente der Einlösung des gründerzeitlichen Traums vom gesellschaftlichen und privaten 37 Marcks, S. 301f. 38 Eduard Heyck: Johanna von Bismarck. Bielefeld, Leipzig (Velhagen und Klasing) 1907. 39 Joachim von Kürenberg [d. i. Joachim von Reichel]: Johanna von Bismarck. Lebensschicksal einer deutschen Frau. Berlin (Keil) 1935. 40 Ingelore M. Winter: Mein geliebter Bismarck. Der Reichskanzler und die Fürstin Johanna – Ein Lebensbild. Mit unveröffentlichten Briefen. Düsseldorf 1988, S. 24.

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Ausgleich, ein Bild „der schlichten Innigkeit, womit der eine Welt leitende Willensmensch sich als zärtlicher Gatte und sorgender Vater an die eng gesunden Formen deutscher Häuslichkeit band“, wie der Sprachwissenschaftler Theodor Matthias 1902 schrieb.41 Liebe als Belebung und Entfaltung aller Kräfte, Eröffnung der Seele im Wärmestrahl der Zuneigung, dabei froher Drang und Blick ins Weltweite, kein ,selig, wer sich vor der Welt ohne Haß verschließt‘, nein, selig, wer sich nach langem Alleinsein in einer wahren Briefflut endlich ergießt. (. . . ) Liebesbriefe also? Ja, und zugleich mehr, denn ein ganz zentrales, geradezu leitmotivisch wiederkehrendes Thema sind Erörterungen über Religion. Bismarck bemüht sich mit subtiler Diplomatie, auf diesem Gebiet einen ,Passauer Vertrag‘ mit Johanna zustande zu bringen, das heißt eine beiderseitige konzessionsbereite Übereinkunft42,

fasst Engelberg die im Februar 1847, also gleich im ersten Monat der Verlobungszeit unter Zuhilfenahme einer Flut von Bibelzitaten geführte religiöse Debatte um „Glauben und Werke“ (auf die ich noch eingehen werde) zusammen und evoziert mit der Anspielung auf den dem Augsburger Religionsfrieden vorangehenden Passauer Vertrag die Situation eines stabilisierten Nebeneinanders des Gegensätzlichen, das eben gerade keine Synthese des Unvereinbaren ist. Und Johannas in einem Brief besorgt gestellte Frage: „Les extremes se touchent – mais – ils se brisent, las ich neulich irgend wo. – Otto was meinst Du zu diesem Nachsatz, – ich hoffe, Du wendest ihn nicht auf uns an. – “43 drückt aus, wie gefährdet dieses Gleichgewicht der Gegensätze mitunter ist. Für Waltraut Engelberg sind die Rollen bei diesem Paar klar verteilt im Sinne des 19. Jahrhunderts: Warum alle diese Erörterungen, Erwägungen, Ermahnungen, mitunter sogar Beschwörungen? Es geht schließlich um Eigenschaften wie passive Gottergebenheit, Sektenhochmut und Intoleranz, die die künftige Lebensgestaltung beeinflussen könnten, sie bergen Konfliktmöglichkeiten, 41 Matthias: Bismarck als Künstler (a. a. O.), S. 1. 42 Waltraut Engelberg: Otto und Johanna von Bismarck. Berlin (Siedler) 1990, S. 30f. 43 Brief vom 28. Feb. 47, in: Die Brautbriefe der Fürstin Johanna von Bismarck. (a. a. O.), S. 66 (abgeglichen mit Otto-von-Bismarck-Stiftung, Nachlass Johanna von Bismarck, C1, fiche 1, fol. 38f. Soweit möglich, habe ich die Briefe Johanna von Puttkamers/Bismarcks an den Microfichereproduktionen der Otto-von-Bismarck-Stiftung überprüft und gegebenenfalls korrigiert, in die mir dort freundlicherweise Einsicht gewährt wurde. Die Edition von Marguerite („Fürstin Herbert“) von Bismarck, aus der hier hauptsächlich zitiert wird, hat sich dabei allerdings als in der Wiedergabe ausgesprochen zuverlässig erwiesen, und ich bin nur auf wenige Abweichungen in der Schreibweise und einige zusätzliche Unterstreichungen gestoßen.)

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die Bismarck ausräumen will, noch ehe sie zur Wirkung gelangen. So ringt, kämpft, schreibt er um der künftigen Harmonie in seinem Heim willen, an der ihm über alles gelegen ist.44

Auch in dieser Beziehung träte demzufolge Bismarck von Anfang an als Politiker auf, als Planer und Gestalter. Das Ziel: die Austreibung der religiösen Schwärmerei aus dem Kopf seiner Frau, der Schwärmerei auch ganz allgemein, auch der romantische Hang zu Jean Paul habe ausgetilgt werden müssen, wo eine funktionstüchtige Ehe in Angriff genommen werden sollte: Aus der Themenvielfalt der Brautbriefe und der Briefe an seine junge Frau tritt noch ein anderer Bereich heraus, den Bismarck immer wieder erörtert: die künftige Lebensweise. Sie soll ganz bewußt von konservativer Prägung sein, ähnlich der Johannas, und dennoch mit besonderen Akzenten. Zunächst tut Otto v. Bismarck die sentimental romantisierende Jean-Paul-Schwärmerei, der sich Johanna und ihre Freundinnen gefühlsselig hingeben, recht herzhaft ab. Gewiß, er verspricht ihr, den ,Titan‘ zu lesen, Kleidungsvorschläge in dieser Richtung lehnt er jedoch ab. [. . . ] Damit begegnet er auch dieser Jungmädchenlaune wie mancher anderen freundlich, aber resolut.45

„Bismarck als Erzieher“46 also, der sich als ein neuer Pygmalion eine Frau nach seinem Bedarf formt, um Rückhalt und Ruhe für seine zukünftigen Taten zu haben. In dieser Weise wird der Briefwechsel größtenteils in der bisherigen Forschung eingeschätzt. Es passt zum Bild des Tatmenschen Bismarck, zu dem, was man sich seit Jacob Burckhardt unter „historischer Größe“ vorstellt.47 Im ersten Jahr des Briefwechsels ließe sich so gesehen ein zweiter ehe-diplomatischer Coup nach dem ersten des Brautwerbebriefs nachvollziehen: der des Gefügigmachens einer überspannt schwärmerischen Ehefrau. Bismarck, der an seiner Braut zu einem Baron von Instetten würde. 44 Engelberg: Otto und Johanna von Bismarck (a. a. O.), S. 34. 45 Ebd., S. 35. 46 Als eine Replik auf Langbehns antimodern-völkischen Rembrandt als Erzieher von 1890 erschien ein Jahr darauf Der Anti-Rembrandt. Bismarck als Erzieher, hg. v. Otto H. Jaeger. Gotha (Schwalbe) 1891. In einem derart volkspädagogischen Sinne ist auch die Publikation der Bismarck-Briefe zu verstehen. Angefangen mit Nietzsches Schopenhauer als Erzieher (1874), der Langbehns Titel inspirierte, ist die Zahl der „Erzieher“-Bücher bis zum Nationalsozialismus Legion. Der Erzieher ist die „ideologisch maßgebende[ . . . ] Instanz“ des deutschen Nationalismus (Klaus Dede in einem Blog vom 25. Juni 2007: http://www.klausdede.de/index.php?content=tagebuch&jahr=2007&monat=6&tag=25–zuletztabgerufenam 23. 9. 2010). 47 Jacob Burckhardt: Das Individuum und das Allgemeine. (Die historische Größe), in: Weltgeschichtliche Betrachtungen. Hg. v. Rudolf Marx. Leipzig 1935, S. 207– 248.

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Auch wenn Marcks ebenfalls Bismarck die „Führung in ihrem Zwiegespräch“ zuspricht, sieht er die wechselseitige Beeinflussung der beiden doch differenzierter: Wer beider Briefe überblickt, wird den Eindruck der Weisheit und der Notwendigkeit seines Verfahrens haben, aber freilich auch den, daß sein unablässiger Kampf gegen die Seelenkrankheit der Braut diese in seinen Briefen kränker erscheinen läßt, als die ihrigen sind: es ist schon angeführt worden, wie viel hellsprudelnde Natürlichkeit in ihnen ist. [...] Und auch das muß man hinzufügen: es fehlt dabei auch auf seiner Seite – natürlich! – nicht an Stimmungen und an Schärfen. In den Zeiten, wo der Kampf gegen die Elbe, die Anstrengung vielartiger Geschäfte, die Länge der Trennung ihn unruhiger und müder machten (etwa 25. Februar bis 7. März), waren auch seine Briefe nervöser und ungeduldiger, und dann war sie es, die, ganz ohne Vorwurf und Verstimmung, mit tröstender und manchmal schalkhafter Liebe, nachgab, ausglich und die Falten leise glättete. [...] auf die Dauer hat sein starker Lebensmut zu beider Heile [...] gesiegt. Dazwischen drang freilich auch seine eigne Schwermut manchmal durch und sein Beispiel widersprach seinen Mahnungen – ein liebenswerter Selbstwiderspruch, der seinen Briefen erst den Reiz des allseitigen und echten Lebens gibt.48

In diesem Briefwechsel bewegen sich zwei krisenhafte Individuen aufeinander zu. Es ist ein problematischer Briefwechsel, voll von Missverständnissen, Reibungen, grundsätzlichen Gegensätzen, an denen beide mitunter durchaus zu zerbrechen fürchten. Halt und Sicherheit suchen beide dabei vor allem in Religion und Literatur. Sowohl das literarische wie das Bibelzitat werden eingesetzt, um Standpunkte festzumachen, Klarheit zu schaffen, Souveränität herzustellen. Alle diese Zitate verfallen aber im Zusammenhang des brieflichen Wechselgesprächs dem Gesetz der Textlichkeit, dem Zwang zur Interpretation, der Möglichkeit des Missverständnisses. Hier zeigt sich das von Luhmann aufgezeigte Dilemma einer Liebe, die ihr Fundament in sich selbst finden und sich unausgesetzt neu begründen und bewähren muss. Was Ferdinand Raimund in den in der Einleitung erwähnten Briefen an Toni Wagner zu erreichen sucht, im Brief eine parareligiöse Grundlage seiner Liebe zu stiften (ein Unterfangen, dessen Unmöglichkeit auch ihn schon zu unausgesetzten Widerholungen dieses Stiftungsaktes trieb), wird in dem Moment, wo beide Partner sich über diese Grundlage nicht einig sind, erst recht zur Auseinandersetzung um die Deutungshoheit über die gemeinsame Liebe und im Falle Otto von Bismarcks und Johanna von Puttkamers zum regelrechten Interpretationswettbewerb. 48 Marcks, S. 306f.

2.2 Suggestion und Missverständnis

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2.2 Suggestion und Missverständnis Wenn es oberflächlich so aussieht, als würden Missverständnisse zwischen Melancholikern diesen Liebesbriefwechsel bestimmen, dann lässt ein genauerer Blick erkennen, dass die Kontroverse die von beiden Partnern gesuchte Kommunikationsform bildet. Die erotische Spannung scheint gerade erst aus dem Widerspruch zu entstehen, den der eine dem andern entgegensetzt. Der Wunsch, den anderen nach eigenen Vorstellungen umzuformen und die Weigerung, diesem Wunsch nachzukommen, stiften Wiederholungsketten von Motiven, die die Briefe durchziehen. Romantische Literatur spielt darin eine ausgezeichnete Rolle: Gedichte von Byron und Thomas Moore werden ausgetauscht, es ist viel von Jean Paul, von Lenau die Rede. Auch der Hang beider Briefpartner zu melancholischen Einbrüchen, zu durch kleinste Anlässe motivierten Stimmungsschwankungen, das Bewusstsein des Prekären der eigenen Existenz, die mutwilligen und abrupten Wechsel von Stimmung und Tonlage, sind Erbe der Romantik und zeugen zugleich von der Zeitgenossenschaft beider Briefschreiber. Denn zumindest Bismarck könnte man auch, wie es „ein geistreicher Franzose“ von Heine getan hat, einen romantique defroque´49 nennen, einen entlaufenen Romantiker, der den Zirkel der romantischen Ironie zu durchbrechen versucht. Das zeigt sich bereits im ersten Brief aus Jerichow an der Elbe an Johanna von Puttkamer nach Reinfeld bei Zuckers in Hinterpommern am 29. 1. 1847: Sobald das Wasser (was übrigens noch garnicht gekommen ist) verlaufen sein wird, fliege ich wieder nach Norden, die Blume der Wildniß, wie mein Vetter sagt, aufzusuchen. Sobald ich in Schönhausen zur Ruhe bin, schreibe ich Dir ausführlicher, für jetzt nur dies Lebens- und Liebeszeichen, die Rosse stampfen wiehern und bäumen sich vor der Thür und ich habe heute noch viel vor. Die herzlichsten Grüße an Deine oder j‘ose dire unsre Eltern. Sans phrase der Deinige von Kopf bis zur Zehe. Küsse lassen sich nicht schreiben. Leb wohl. Bismarck.50

49 Heinrich Heine: Geständnisse. Geschrieben im Winter 1854, in: Historisch-Kritische Gesamtausgabe der Werke. Hg. v. Manfred Windfuhr. Bd. 15: Geständnisse, Memoiren und kleinere Autobiographische Schriften. Bearb. v. Gerd Heinemann. Düsseldorf (Hoffmann & Campe) 1982, S. 10–57, hier: S. 13. 50 Bismarck: Briefe an die Braut und Gattin (a. a. O.), S. 7.

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Dieser Bismarck der frühen Winterbriefe begeisterte den Publizisten Felix Poppenberg, der aus solchen Zeilen den „Percy Heißsporn“ heraushörte, „das Vorbild eines Liliencronschen Junkers“: Jäger mit Stiefel und Sporen hinter den Hunden, von starken Erregungen trunken, voll Gewitter- und Sturmstimmung, immer im Rhythmus: „es schlug mein Herz geschwind zu Pferde“; [.. .] und dann wieder am knatternden Kaminfeuer, Byronverse exzerpierend und Walter Scott lesend, zur Seite der Hund, im Knäuel zusammengerollt.51

In der Tat evoziert der galoppierende Duktus, der Geschwindigkeit und Gehetztheit des Reisens wie des Verfassens dieses Briefes mimetisch abbildet, solche Bilder. Doch bemerkte bereits Theodor Matthias – gegen das Bild Bismarcks als Autor eines modernen (journalistischen und „undeutschen“) „Kleinsätzchen“-Stils gewendet: Auch Bismarck hat kleine Sätze, selbst bloße Aneinanderreihungen von Haupt-, Eigenschafts- und Mittelwörtern ohne finites Verb, aber nur gelegentlich in Ärger oder Eile, in Briefen, die ihm ,Zettel‘, ,Wische‘, keine Briefe heißen; im stimmungsvollen Ergusse, den er so nannte, herrscht auch bei ihm die kunstvolle Periode oder doch das gemächlich fortgesponnene Satzgefüge vor, das in einer Besprechung meiner Schrift ,Sprachleben und Sprachschäden‘ nur ein moderner Journalist für überwunden erklären konnte.52

Doch weder sturm-und-drängerischer Affekt- noch auktorialer Periodenstil allein bestimmen den Duktus dieses Billets in seiner rabulistischen Verdrehtheit. Das Tempo wird gebrochen und zugleich gesteigert durch Einschübe, die das Situative dieses Schreibens transzendieren. „Sobald das Wasser verlaufen sein wird,“ [... ] „fliege ich wieder nach Norden“ – aber das Wasser ist noch nicht einmal erst gekommen, d. h., der aufgrund der Antizipation gleich zu Beginn des Satzes vermeintlich in ganz naher Zukunft liegende Moment, wo Bismarck der Deichaufsicht enthoben sein wird, weil die Flutgefahr vorüber ist, liegt noch in ungewisser Zukunft (es wird noch bis zum März dauern, bis es zu diesem Wiedersehen kommt)! Der humoristisch-bizarre Einschub hebt also die mimetische Abbildfunktion dieses ersten Satzes sogleich wieder auf. Er macht den Wunsch zum Vater des Gedankens, bringt einen Moment von Irrealität und Absurdität in diese doch so plastisch-intensive Auf51 Felix Poppenberg: Bismarck intime, in ders.: Maskenzüge, Berlin (Erich Reiss Verlag) 1912, S. 130–147, hier: S. 132. 52 Matthias: Bismarck als Künstler (a. a. O.), S. III/IV.

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bruchsszene. Gleich wird aus dieser fernen Zukunftsvision aber wieder die Schilderung einer realen und baldigen Zukunft durch die Benennung des nächsten Zielortes und der mit diesem verbundenen Schreibabsicht. Und dann geht der Schreiber hinein in die unmittelbare Situation, und die wird wieder stark rhythmisiert, durch Dopplungs- und Aufzählungsfiguren. Das Stampfen, Wiehern und Bäumen der Pferde vor der Tür, das vor dem Hintergrund einer „müßigen halben Stunde in einem sehr schlechten Wirtshaus“53, von der zuvor die Rede war, ein Fast-Zuviel an Schlachtgetümmel und Abenteuer bedeutet, gibt dem abschließenden Gruß wieder höchste Geschwindigkeit. Wieder einmal erschreibt sich Bismarck eine Situation, in der er einem Ansturm von Wirklichkeit ausgesetzt ist, in der er sich zur Aktion gedrängt sieht und in der dieses Drängen der Pferde doch zugleich einen Aufruhr im Inneren des Schreibers mitversinnbildlicht, ganz wie es in den Stürmen und Gewittern der Byronschen Gedichte geschieht. Und der so entstehende Überdruck und Schwung setzt sich fort bis in die nächsten Sätze und gibt den als Verzögerungen eingesetzten französischen Einschüben „j‘ose dire“, „sans phrase“ einen Zauber von Augenblickseinfall, von Spontaneität, den das ganze Schreiben ohne dieses Drängen, ohne den Rhythmus und ohne das Tempo nicht hätte. Und weil eben der letzte Satz so wie im Aufspringen und Fortlaufen noch hingeschrieben ist, erscheint er so wirklich und lebendig: „Küsse lassen sich nicht schreiben“54 – und durch die Form wird diese Aussage negiert, glückt die Hypotypose, gelingt hier der Sprache die Suggestion sinnlicher Realität. Dabei haben diese Formel und dieser Brief – zumindest in seinen aktivistischen Passagen – möglicherweise ein Vorbild in Napoleons Briefen an Josephine, die 1833 in deutscher Übersetzung erschienen waren.55 Die eindrucksvolle Verbindung von veloziferischen Bildern, gehetztem Duktus und inniger, sinnlicher Evokation der Geliebten, so dass Schlachtgetümmel und Sehnsucht als ein einziger Ausdruck drängender Kräfte erscheinen, sind in erhabener Großform bei Napoleon vorgeprägt: „Mitten in den 53 Ebd. 54 „Geschriebene Küsse kommen nicht an ihren Ort, sondern werden von den Gespenstern auf dem Wege ausgetrunken.“ schreibt Kafka an Milena Pollak. . . (vgl. Strobel: Vom Verkehr mit Dichtern und Gespenstern (a. a. O.), S. 24 sowie FN 40 in der Einleitung des folgenden Buches. 55 Briefe Napoleons an Josephine, während des ersten Feldzuges in Italien, des Consulats und des Kaiserreichs u. Briefe Josephines an Napoleon u. an ihre Tochter, übers. v. L. G. Förster, Quedlinburg, Leipzig (Basse) 1833.

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Geschäften, während ich die Lager besichtige, ist meine angebetete Josephine allein in meinem Herzen, beschäftigt meinen Geist und beansprucht mein Denken. Wenn ich mich mit der Geschwindigkeit des Rhoˆnestroms von Dir entferne, so geschieht es, um dich desto schneller wiederzusehen.“56 „Halte den Boten nicht länger als sechs Stunden auf, er soll sogleich zurückkehren, um mir den teuren Brief meiner Königin zu überbringen.“57 „Tausend Küsse, so heiß, wie Du kalt bist.“58 „Seit zwei Tagen bin ich ohne Nachricht von Dir. Schon dreißigmal habe ich mir heute dasselbe gesagt. [... ] Gestern haben wir einen Sturm auf Mantua unternommen. Wir haben es mit glühenden Bomben und mit Mörsern beschossen.“59 „Tausend Liebesküsse überallhin, überallhin.“60 „Gestern haben wir ein sehr blutiges Gefecht gehabt. Der Feind hat viele Leute verloren und ist vollständig geschlagen worden. Wir haben ihm die Vorstadt von Mantua entrissen. Leb wohl, anbetungswürdige Josphine! In einer dieser Nächte werden sich die Türen krachend öffnen, und wie ein Eifersüchtiger werde ich in Deinen Armen liegen! Tausend liebevolle Küsse. Bonaparte“61, „Ich öffne meinen Brief wieder, um Dir einen Kuß zu geben. .. Ach, Josephine .. . Josephine!“62 Bei aller stilistischen und bildsprachlichen Ähnlichkeit zeigt sich aber auch die Kluft, die zwischen dem allumstürzenden Enthusiasmus Napoleons und den viel sprachbewussteren und verdrehteren Bildern Bismarcks liegt, die in ihren Grenzüberschreitungen und Durchbrüchen doch immer wieder von den Grenzen des Schriftlichen eingeholt werden. „Küsse lassen sich nicht schreiben“ – vom Dynamismus und Rhythmus der Schreibart durchaus in der oben beschriebenen Weise über die Grenzen des Briefs hinausgetragen, bringt dieser Satz dennoch eine Nachdenklichkeit in die napoleonische Formel – der ein Werther noch vertrauensvoll anhängt, wenn er Lottes Brief an seine Lippen führt –, in der sich durchaus Zweifel am Charakter des Briefs als einer „Berührungsreliquie“ äußern, den Bohnenkamp und Wiethölter vielleicht etwas zu einseitig feiern in der Einleitung ihrer Briefmaterialitätsschrift.63 Enthusiasmus und 56 57 58 59 60 61 62 63

30. März 1796, S. 12. 15. Juni 1796, S. 28. 18. Juli 1796, S. 32. 19. Juli 1796, S. 33. 21. Juli 1796, S. 35. 17. September 1796, S. 41. 28. November 1796, S. 33. Bohenkamp/Wiethölter: Der Brief. Ereignis & Objekt (a. a. O.), S. XI.

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Zweifel in dichtem Wechsel kennzeichnen den Briefwechsel zwischen Bismarck und seiner späteren Gemahlin. Das Schreiben wird hier nicht gesucht als Möglichkeit eines engeren und innigeren Austauschs, wie etwa in den empfindsamen Briefwechseln des Jean Paul-Kreises, wo man sich auch schreibt, wenn man sich ebenso gut treffen könnte. Otto von Bismarck und Johanna von Puttkamer schreiben einander nur in den Phasen langer Trennungen – die allerdings im Laufe dieser Beziehung recht zahlreich sein werden. Es herrscht hier also nicht schon apriorisch ein Bedürfnis nach Schriftlichkeit, kein Glaube, dass Seele und Empfindung sich erst und vielleicht nur im Brief ganz auszusprechen vermögen.64 Und doch – und das zeigt auch der eben gegebene kurze Ausschnitt aus einem nicht viel längeren Brief – gewinnt diese Liebe in der Brieflichkeit ein Ausdrucksmittel hinzu, mit dessen Hilfe Intimität gerade in der Vermittlung durch Sprache hergestellt wird. Das ästhetische Subjekt ist ein Subjekt medialer Kommunikation. Seine Unmittelbarkeit vermittelt sich paradoxerweise durch Worte und Bilder, es „schreit“ (um den pejorativen Begriff von Carl Schmitt zu verwenden) unausgesetzt nach neuen. Am vorangegangenen Abend hat auch sie einen kurzen Brief an ihn geschrieben – obwohl er ihr offenbar streng verboten hat, abends zu schreiben, er hält das für der Gesundheit ihrer Augen abträglich. Schilt nicht, daß ich Dein Gebot schon überschreite, es soll gewiß nicht wieder geschehen, lieber Freund! Unzählige Briefschulden lasten auf meinem Haupt, die ich sämmtlich bei hellem oder trübem Sonnenschein abzutragen gedenke, nie des Abends – nur dies eine Mal laß‘ mich ungehorsam sein, – später sollst Du doch noch einsehen, daß ich nicht so widersetzlich bin, wie Du u alle glauben! Übrigens bescheint die Lampe dies grüne Blatt, und ich wollte Dir ja nur für das kleine französische Lebenszeichen danken; – ich wollte auch gern wieder die Spirituslampe 64 Vgl. hierzu Michael Maurer: Eberhard Gothein – Marie Schröter. Briefwechsel aus der Privatdozenten- und Brautzeit (1882–1885), in: Baasner, S. 141–168, hier S. 150f.: Was Maurer hier über den von den beiden Briefpartnern als defizitär empfundenen Charakter der Briefkommunikation sagt, entspricht in den Hauptzügen dem, was noch über Funktion und Form des Briefwechsels der Bismarcks zu sagen sein wird. In erster Linie geht es auch hier um „die Aufrechterhaltung der Beziehung“ (Mauerer S. 151) in Zeiten der Trennung. Der Vergleich mit dem Briefwechsel des fast 40 Jahre nach den Bismarcks korrespondierenden Kulturhistorikers und Nationalökonomen mit seiner zukünftigen Frau, einer Anglistin und Gartentheoretikerin, zeigt, wie sehr die Briefe Ottos und Johannas beispielhaft auch für einen bürgerlichen Briefstil sind, der sich bis in den ersten Weltkrieg hinein erhalten konnte.

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sein, die das lauwarme Wasser einen Augenblick auf den Siedepunkt brächte, und dann gleich verschwinden, – mit der Schnelligkeit aller schwarzen Katzen! – Otto, hast Du jetzt kalte Hände?? – Nun bist Du in Berlin, und morgen früh in Schönhausen – ach, Du armes zerrissenes Fähnlein, mußt Du nun jede Nacht an der Elbe umherflattern? – und ich kann immer schlafen, so süß – und von Dir träumen! – Es thaut hier großartig und ich denke viel an Dich. -65

Fast durchgängig wird hier uneigentlich, metaphorisch gesprochen. Zumindest eine der Metaphern wird in diesem Briefwechsel zu einem Leitmotiv werden: die schwarze Katze, die Johanna selbst ist. Wohl von ihm erfunden, wird diese Metapher von ihr sogleich angenommen und anverwandelt. Er tut es ebenso mit dem Bild der Lampe, die ihr Brief für ihn ist. Auf die Einheit des Bildes wird keinerlei Rücksicht genommen: die Spirituslampe verschwindet mit der Schnelligkeit einer schwarzen Katze. Diese „Disziplinlosigkeit“ in der bildhaften Rede funktioniert nur unter der Voraussetzung, dass es eben um die Bilder nicht geht, sondern um die Kette der Assoziationen und die Bezugnahme auf den andern, der diese Bilder kennt, auch schon verwendet oder sogar hervorgebracht hat. Sie stellen damit eine Intimität her, die auch für den außen stehenden Leser noch nachempfindbar ist, wenn auch nicht immer bis ins Einzelne nachvollziehbar, was aber womöglich gerade den Reiz für den heutigen Leser ausmacht.66 Den weiten Assoziationsraum, der damit eröffnet wird, die Sprünge von einem Gegenstand auf den nächsten, die eben auch Leerstellen frei lassen, haben ihre Briefe mit den seinen gemeinsam. So wird die Situation des Getrenntseins zur Voraussetzung eines komplexen Spiels mit den Grenzen des Schreibens, Versuchen, Raum und Zeit in Sprache, in Symbolen und Zeichen zu überbrükken.67 Begleitumstände des Schreibens spielen ebenso immer wieder eine Rolle wie Düfte und Gerüche, die der Brief ausströmt – in 65 Brautbriefe der Fürstin Johanna von Bismarck (a. a. O.), S. 22f. (Nachlass Johanna von Bismarck, fiche 1, fol. 6f.). Brief vom „Donnerstag Abend“, also vom 28. 1. 1847 (die Datierung der Herausgeberin auf den 29. Januar 1847 muss entsprechend falsch sein, der 29. war ein Freitag. Wenn J. v. Puttkamners Brief am 28. geschrieben wurde, ist auch nachvollziehbar, dass Bismarck schon am 1. Februar schreibt, dieser Brief hätte ihn „von Rechtswegen vorgestern“, also am 30. Januar, erreichen müssen (Briefe an seine Braut und Gattin, S. 8). 66 Vgl. hierzu Ernst Leisi: Paar und Sprache. (a. a. O.) 67 Zur „,sprechenden‘ Materialität brieflicher Kommunikation“ vgl. Der Brief. Ereignis und Objekt (a. a. O.), S. XI und insbes. Renate Moehring: Briefbeigaben, S. 191–195.

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gutem Sinne, wenn er noch den Geruch der mitgeschickten Wurst an sich trägt, wie im schlechten, wenn der „Moschus-Geruch“ seines Briefes Johanna – vorgeblich – auf eine Krankheit Ottos schließen lässt. Wenn ich nur begriffe, warum Dein Brief heute so sehr nach Moschus riecht? – Einzig Geliebter – du bist gewiß krank und so unbarmherzig, unverantwortlich grausam, mir nichts zu sagen, bedenkst aber dabei garnicht, daß ich mich nun erst recht ängstige und daß ich Ungewißheit mehr hasse, als alles auf der Welt! – Aber so sehr elend kannst Du doch nicht sein, da Du ja die Elbe up and down reitest – so diensteifrig, daß die armen Pferde unter Deiner theuren Last erliegen, – Du hast Dich ganz sicher neulich erkältet, (als Du gütigst zu träge warst, die Treppe noch einmal zu ersteigen, um dir eine wärmere Hülle zu holen) – und wirst nun wieder so sehr husten and nobody cares for thee! – Welch‘ dummer Doktor giebt aber dann gleich Moschus?! Otto, ich bin vielleicht recht kindisch, aber ich ängstige mich wirklich, – und dann scheint mir Dein Brief auch in einer eigenen Stimmung geschrieben zu sein.68

Die Antwort offenbart, was möglicherweise ihre eigentliche Befürchtung gewesen sein könnte, und warum in ihrer zur Schau gestellten Besorgnis dennoch soviel Ironie mitschwingt: Ich bin nun zwar etwas kreuzlahm und broken down, aber doch, wie Du aus vorstehendem abnehmen kannst, sehr gesund, was ich Dir, sowie ich das letzte Wort Deines Schreibens gelesen, hiermit, foi de gentilhomme, versichre auf die Gefahr hin, daß dieser Brief ebensosehr nach Pferd riechen wird, wie der vorige nach Moschus. Der Moschus kam übrigens aus Mecklenburg, und mit einiger Kenntniß in Spezerei-Sachen würdest Du ausfindig gemacht haben, daß es kein Medizin-Moschus-Geruch, sondern patchouli war, der abscheulichste aller parfums, nach dem alle Briefe meines Freundes Dewitz riechen, und von einem solchen habe ich vermuthlich ein Blatt als enveloppe für meinen Brief abgerissen. Wer Moschus einnimmt, wer so weit ist, der schreibt nicht mehr.69

Denn auch ihre Eifersucht fließt immer wieder ein in ihre Briefe, und die wird durch die lange Trennung empfindlicher und wachsamer, zumindest im ersten Jahr. Die schroff gefügte Mischung aus Sturm und Drang-Dynamik, ironischer Verdrehtheit, poetischen Aufschwüngen und plastischer Wirklichkeitsmalerei hält in Bismarcks Briefen das schreibende Subjekt immer präsent. Dieses aktivistische Schreiben, das in jedem Augenblick ins Leben durchstoßen will, ist aber nur die eine Seite 68 Brief vom [4.] März 1847, in: Brautbriefe (a. a. O.), S. 71f. (NL Johanna von Bismarck, C1, fiche 1, fol. 41). 69 Brief vom 7. 3. 1847, in: Briefe an seine Braut und Gattin, S. 66; Werke in Auswahl, Bd. 1, S. 115.

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der Medaille. Es kann unvermittelt umkippen in düsterstes Grübeln, Sinnieren über Tod, Vergänglich- und Vergeblichkeit des Lebens, in melancholischste Stimmungen. Die Dimension dieser romantischen Symbolsprache deutet sich aber erst an bei den Stellen, an denen selbst zwischen den beiden Briefpartnern keine einhellige Klarheit über die gesendeten und empfangenen Zeichen mehr herrscht. Der romantische Dialog basiert in diesem Briefwechsel nämlich nicht ausschließlich, wie bei den hin- und hergeschickten Kosenamen und Liebeszeichen, auf einem von beiden Partnern verstandenen Code, sondern generiert auch zahlreiche Missverständnisse. Gesagtes zurücknehmen, relativieren oder erklären, es nicht so gemeint haben, wie der andere es verstanden hat, sind wiederkehrende Äußerungsfiguren in beider Briefen. Nun muß ich noch auf das feierlichste dagegen protestiren, daß Du, mein Liebchen, mir mit irgend etwas wehgethan hättest. Wenn in meinem vorigen Brief etwas der Art gelegen hat, so denke immer daran, daß ich mit Dir plaudre, wie mir grade zu Muthe ist, und sehr wohl kann es sein, daß an jenem Tage eine Wolke auf meinem Innern gelegen hat, die selbst der Gedanke an Dich nicht ganz verscheuchen konnte, sei es nun, daß es Geschäftsärger gewesen sei, oder jener räthselhafte Trübsinn der oft sans rime et sans raison in uns aufsteigt, und den irgend ein hübsches Gedicht, vielleicht von Lenau, darstellt als die unbewußte Reue über Sünden aus einem Leben vor diesem. Es ist ein trauriger Nothbehelf das Schreiben, und der kalte schwarze Tintenfaden ist soviel Mißverständnissen und Deutungen ausgesetzt, ruft unnütze Angst und Sorge hervor, namentlich bei meiner lieben Johanna „die mit so rabbulistischer Sorgfalt die Zeilen prüft, ob sie nicht Nahrung für ihren Schmerzenshunger darin findet.“70

70 Ebd., S. 66f.; Werke in Auswahl: Ebd. Vgl. hierzu auch Wolfgang Wittkowski: Goethe. Homo homini lupus / Homo homini deus. Über deutsche Dichtungen 2, Frankfurt am Main (Peter Lang) 2004, S. 165: „Keineswegs unkongenial verwandelt Bismarck Pindars Wagenlenker über Schillers Reiterlied in einen junkerlichen Herrenreiter und überspielt damit eine Melancholie, die er bei sich und seiner Braut bekämpft und die er hätte registrieren können auch bei Egmont und Goethe.“ Wittkowskis Beschreibung des bismarckschen Übertragungsverfahrens (die in nuce die hier vorgelegte breite Ausführung bereits vorwegnimmt, muss zugegeben werden) bezieht sich auf den in Bismarcks oben anzitiertem Brief nun folgenden Abschnitt: „Das vorausgeschickt sage ich Dir, daß dieß Gedicht Oh do not look so bright and bless‘d ein recht hübsches Gedicht ist; aber meines Erachtens wie fast alle Poesie nicht geeignet es aufs eigne Leben zu übertragen und seine own little perversities damit zu bedecken. Es ist ein feiges Gedicht, dem ich den Vers des Reiterliedes gegenüberstelle ,und setzet Ihr nicht das Leben ein, so kann Euch das Leben gewonnen nicht sein‘, was ich mir so erläutre in meiner Art: In ergebnem Gottvertrauen setz die Sporen ein und laß das wilde Roß des Lebens mit dir fliegen über Stock und Block, gefaßt darauf den Hals zu brechen, aber furchtlos, da Du doch einmal scheiden mußt von allem was Dir auf Erden theuer ist, und

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Hier wie an vielen anderen Stellen äußert Bismarck einen Zweifel am Brief und seinen Möglichkeiten, der in einem auffälligen Missverhältnis zur Quantität seiner schriftlichen Produktion steht. Sich hier nur auf das bekannte Paradox von der Sprachgewalt und Schreibfreude vieler Sprachkritiker zurückzuziehen, würde meines Erachtens zu kurz greifen. Missverständnis und Angst sind eben zugleich Motive für das umfangreiche Schreiben beider Partner, wie auch der Grund für den hochgradig interpretativen Umgang, den beide als Leser mit den Briefen des anderen pflegen. Ganz offensichtlich schwelt vor allem in der Kommunikation über die düsternihilistischen Byrongedichte in seinen ersten Briefen etwas wie unausgesprochener Konflikt, uneingestandene Melancholie, der Wunsch, etwas mitzuteilen, ohne es zu sagen. Den ersten ausführlichen Brief, schreibt er ihr am 1. Februar 1847 – wie im Wirtshausbrief aus Jerichow versprochen – aus Schönhausen. Zunächst wird auf ihr schönes Bild von der wärmenden Spirituslampe Bezug genommen, die ihr grüner Brief (sie schreibt auf grünem Papier, was Anlass zu verschiedenen Blatt- und Pflanzenmetaphern gibt) für ihn ist, und an dieser wie an vielen anderen Stellen ist das Verfahren hier ganz dialogisch, wird immer wieder auf ihren Brief Bezug genommen, wird der Brief ganz wie ein zeitverzögertes Gespräch behandelt. Ich hatte nur auf Licht gewartet, um Dir, mein theures Herz, zu schreiben, und mit dem Licht kam auch Deine kleine grüne Spirituslampe, um mein lauwarmes Wasser zum Sieden zu bringen, fand es aber diesmal schon dicht am Überkochen. Dein Mitleid mit meinen unruhigen Nächten ist für jetzt noch vorzeitig; ich werde es Dir aber doch anrechnen. Die Elbe liegt noch trüb und mürrisch in ihren Eisbanden; des Frühlings Ruf, doch nicht auf ewig. Wenn grief near ist, nun so let him come on, aber bis er da ist, look nicht bloß bright and blessed, sondern sei es auch, und wenn er da ist trag ihn mit Würde, d. h. mit Ergebung und Hoffnung. Vorher aber will ich mit Mr. Grief nichts zu thun haben, nichts weiter als was mit dem Ergebensein in Gottes Willen gesagt ist. Wenn fairest things soonest flat and die, so ist das ein Grund mehr die Zeit ihrer Anwesenheit nicht durch Selbstquälerei über die Möglichkeit ihres Scheidens zu verderben, sondern dankbar und empfänglich für sie zu sein. Übrigens ist es auch nicht wahr, und daß fair things uns so flüchtig erscheinen hat bloß seinen Grund in unsrer Ungenügsamkeit, die anstatt Gott zu danken für das Gute was wir gehabt haben, nur daran denkt zu lamentiren, daß wir es nicht mehr haben, während Andre es nie besaßen.“ Im übrigen eine Passage, in der neuerlich die Macht der Dichtung durch „Weginterpretieren“, durch Profanierung bekämpft wird (wozu es bei Bismarck immer wieder auch die Gegenbewegung gibt). Hier, indem sie als groteskes „Denglish“ übergangslos in die deutschen Sätze eingebunden wird.

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sie zu sprengen, ist ihr noch nicht laut genug. Ich sage zu dem Wetter „ach daß du kalt oder warm wärst, aber du stehst fortwährend auf 0“, und so kann sich die Sache in die Länge ziehn; meine Thätigkeit beschränkt sich für jetzt darauf, von dem warmen Platze am Schreibtisch her allerhand Beschwörungsformeln in die Welt zu schicken, durch deren Zauber sich Massen von Faschinen, Brettern, Handkarren und manure aus dem Innern des Landes gegen die Elbe hin bewegen, um sich dort vorkommenden Falls als prosaischer Damm dem poetischen Schäumen der Fluth entgegenzustellen. Nachdem ich den Vormittag mit diesen mehr nützlichen als angenehmen Correspondenzen zugebracht habe, war mein Entschluß den Abend mit Dir, beloved one, behaglich zu verplaudern, als ob wir Arm in Arm im Sopha des rothen Saales säßen, und in sympathischer Aufmerksamkeit hat die Post mir Deinen Brief, den ich von Rechtswegen vorgestern hätte erhalten müssen, grade zu dieser Plauderstunde aufgehoben.71

Bei aller Wärme ist auch in diesem ersten Brief der Ton schon spöttisch, und eine ironische Parodie auf die Bibel in Gestalt der Offenbarung 3.15 („Ach, daß du kalt oder warm wärest!“) bleibt nicht aus. Vor allem aber dreht sich sein – wohlwollender – Spott um poetische und prosaische Weltauffassung, wenn er die Verhältnisse verdreht und seine Amtstätigkeit als die eines Zauberers beschreibt, der prosaische Mittel gegen die poetische Flut beschwört. Wo er nicht als Zauberer agieren kann, schildert sich Bismarck aber wieder als den der Tücke der Objekte und der Mitmenschen ausgelieferten passiven Erleider der Wirklichkeit, der von Husaren, unverschämten Juden und einem misslaunigen Bruder gepiesackt wird und der sein Schreiben all diesen Umständen und Umständlichkeiten abringen muss. Das Ungemach, das aus seines Bruders Mund buchstäblich über ihn ausgeschüttet wird, steht geradezu sinnbildlich für diese Haltung, wie sich in folgender Passage zeigt, in der sich mehrere solcher an Charles Dickens erinnernden karikaturhaften Synekdochen finden: Du weißt, wenn Du meinen unverantwortlich geschmierten Zettel aus Schlawe hast lesen können, wie ich dort auf einen etwas angetrunknen Schwarm von Husarenoffizieren stieß, der mich im Schreiben störte. In der Post hatte ich nach meinem gewöhnlichen Unstern eine Dame vis-a`vis und zwei der breitesten Passagiere in viel Pelz neben mir, von denen der nächste obenein Abrahams directer Nachkomme war und mich durch unbehagliche Beweglichkeit seines linken Ellenbogens in eine bittre Stimmung gegen alle seine Stammverwandte brachte. Meinen Bruder fand ich im Schlafrock, und seiner Gewohnheit nach benutzte er die 5 Minuten 71 Bismarck: Briefe an seine Braut und Gattin, S. 8; Werke in Auswahl, Bd. 1, S. 70f.

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unsrer entrevue sehr vollständig, um einen Wollsack voll verdrießlicher Nachrichten aus Kniephof vor mir auszuleeren; liederliche Inspectoren, Massen crepierter Schaafe, täglich trunkne Brenner, verunglückte Vollblutfohlen (natürlich das schönste) und faule Kartoffeln stürzten in rollendem Strudel aus seinem bereitwillig geöffneten Munde auf mein etwas postmüdes Selbst. Ich muß mir für meinen Bruder ausdrücklich einige Ausrufungen des Schreckens und der Klage zulegen; denn mein gleichmüthiges Äußere bei Unglücksposten verdrießt ihn, und so lange ich mich nicht wundre hat er immer neue und immer schlimmere Nachrichten in Vorrath. Dießmal erreichte er seinen Zweck wenigsten innerlich, und ich setzte mich recht mißgelaunt neben den jüdischen Ellenbogen im grünen Pelz; namentlich das Fohlen schmerzte mich, ein bildschönes Thier von 3 Jahren. Erst im Freien ward ich mir der Undankbarkeit meines Herzens wieder bewußt, und gewann der Gedanke an das unverdiente Glück was mir erst vor 14 Tagen geworden, wieder die Herrschaft in mir. In Stettin fand ich trinkende spielende Freunde. Wilhelm Ramin sagte auf eine gelegentlich Äußerung über Bibellesen: „Na, in Reinfeld würde ich an Deiner Stelle auch so sprechen, aber daß Du glaubst Deinen ältesten Bekannten etwas aufbinden zu können, das ist lächerlich.“ Meine Schwester fand ich wohl, und voller Freude über Dich und mich; sie hat Dir glaub ich geschrieben, ehe sie Deinen Brief erhalten hatte. Arnim ist voller Sorge, ich möchte „fromm“ werden; sein Blick ruhte ernst und nachdenklich auf mir, wie auf einem lieben Freunde, den man gern retten möchte, und doch fast für verloren hält; ich habe ihn selten so weich gesehn. Es giebt doch wunderliche Weltanschauungen bei sehr klugen Leuten. Am Abend im Hoˆtel de Rome (hoffentlich hast du so spät nicht geschrieben) habe ich mit einem halben Dutzend schlesischer Grafen, Schaffgotsch etc. Deine Gesundheit in dem brausenden Saft der Traube von Sillery getrunken, und am Freytag Morgen mich überzeugt, daß das Elbeis mein Pferd noch trug, und daß ich wegen des Hochwassers heut noch an Deiner blauen oder schwarzen Seite sein könnte, wenn nicht andre laufende Dienstgeschäfte mich ebenfalls gerufen hätten.72

Das karikaturhafte Reduzieren von Personen auf Körperteile, das Gleichsetzen von Worten und Dingen, die verfremdende Darstellung motivierter Handlungen als mechanisches Agieren sind Techniken des komischen Erzählens, die sicherlich eine lange Tradition haben, sich bereits bei Sterne oder E.T.A. Hoffmann finden, in der gewissermaßen „gewalttätigen“ Form, in der sie hier angewandt sind, in der sie zu einer Art Sperrfeuer der Umstände gegen das Subjekt werden, erst im vorgerückten neunzehnten Jahrhundert denkbar sind. Charles Dickens hat diese extreme Steigerung der komischen und rührenden Effekte, die dem Erzählen zur Verfügung stehen, vorgeprägt und auch in Deutschland längst populär ge72 Bismarck: Briefe an seine Braut und Gattin, S. 8f.; Werke in Auswahl, Bd. 1, S. 71f.

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macht. Die grotesk-selbstmitleidige Haltung, die das Ich dabei gegenüber den Anschlägen der Dinge einnimmt, kennt man aus der in der Einleitung zitierten Stifterschen Briefpassage an Heckenast73, sie findet sich auch in der skurrilen Titelfigur von Friedrich Theodor Vischers Roman Auch Einer74, die die Verschwörung der Dinge gegen das Individuum für das eigentlich weltbestimmende Prinzip hält. Es ist die groteske Kehrseite des Realismus, die Weltauffassung des „neurasthenischen neunzehnten Jahrhundert“, wie Wilhelm Raabe sein Zeitalter 1898 in Hastenbeck nennt,75 die sich hier ausspricht, die in den Gegenschlag umkippende Hinwendung zu den Dingen. So humoristisch die Schilderungen sind, das Gefühl des Ausgeliefertseins an faule Kartoffeln und jüdische Ellenbogen (die antisemitische Spitze überrascht kaum, mehr überrascht, dass derartiges bei Bismarck eher selten ist), an Korkstöpsel und Besenstiele76 geht mit der Doktrin der Objektivität einher, ist Begleitumstand des wissenschaftlichen, des realistischen Zeitalters. Mit den erwähnten Äußerungen des Freundes bricht Bismarck eine Debatte über den Glauben vom Zaun, die sich über mehrere Briefe hinziehen wird. Trotz der distanzierenden Wendung über die „wunderlichen Anschauungen“ reagiert sie im Antwortbrief besorgt: Ach geliebter theurer Freund, laß Dich doch nur nicht irre machen durch mitleidige Blicke, und bittende Reden, „nicht fromm zu werden,“ denke an den 34sten Psalm: Suche Frieden und jage ihm nach! und laße alle Hagelkörner nur deinen Mantel berühren, wie du mich gelehrt hast. –77

Nach verschiedenen anderen Punkten, Punkten der Uneinigkeit, die den Briefwechsel der ersten Monate bestimmen (von denen noch die Rede sein wird), berührt er in seiner Antwort auch die Frage der Frömmigkeit. Bei der Suche nach Bibelstellen, die ihrer ängstlich 73 Brief vom 13. 5. 1854, in: Stifter BW 2, S. 223f. Vgl. Einleitung, S. 60. 74 Friedrich Theodor Vischer: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. 2 Bde., Stuttgart, Leipzig (Hallberger) 1879. Vgl. in oben angeführtem Zusammenhang auch: Thomas Althaus: Sich verzetteln. Friedrich Theodor Fischer: Auch Einer, in: ders.: Strategien enger Lebensführung. das endliche Subjekt und seine Möglichkeiten im Roman des 19. Jahrhunderts. Hildesheim (Olms) 2003, S. 439–498. 75 Wilhelm Raabe: Hastenbeck. Eine Erzählung, in: Sämtliche Werke („Braunschweiger Ausgabe“), hg. v. Karl Hoppe, Göttingen 1968, Bd. 20, S. 138. 76 Vgl. Stifter BW 2, S. 223 und Einleitung S. 60. 77 Johanna von Puttkamer am 5. Februar 1847, in: Die Brautbriefe (a. a. O.), S. 26 (NL Johanna von Bismarck, C1, fiche 1, fol. 9).

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defensiven Haltung entgegengesetzt sind, derzufolge man Versuchungen und Infragestellungen des Glaubens möglichst nicht an sich heranlassen sollte, gerät er in einen regelrechten Furor des Zitierens, in dessen Lauf er anschließend auch gleich noch eine Verteidigung des Handelns gegenüber einem bloß passiven Glauben durch schlichte Aneinanderreihung von Belegstellen absolviert. Bereits der hyperbolischen Reihung der Kapitelkürzel und Ziffern, durch die seine Argumentation für die Leserin zu einer Art Suchund Ratespiel wird, wohnt dabei ein Moment von Skepsis gegenüber solchen „Stellen“ inne. Die die Passage beschließende Schlusserörterung ist dann nichts anderes als ein – wenn auch ziemlich knappes – Plädoyer eines interpretatorischen Relativismus: „Auf die Auslegung kommt zuletzt alles an.“ Ist denn Finette [die Hündin] wiedergefunden? Erinnerst Du Dich unsrer Gespräche, als wir mit ihr ausgingen, an der Koppel, wo Du kleiner Bösewicht sagtest, Du hättest mich korbbeladen abziehn lassen, wenn sich Gott nicht meiner erbarmt, und mich, wenigstens durch das Schlüsselloch seiner Gnadenthür hätte sehen lassen? Das fiel mir ein als ich gestern 1. Corinth. 7. 13 und 14 las.78 Ein Erklärer sagt dazu, der Christ soll in allen Lebensverhältnissen das Reich Gottes als das mächtigere, sieghafte, zuletzt jeden Widerstand überwältigende, das der Finsterniß als das ohnmächtige, immer mehr zusammenstürzende ansehn. Wie habt Ihr doch meist so wenig Vertrauen in Euern Glauben, und wickelt ihn sorgfältig in die Baumwolle der Abgeschlossenheit, damit kein Luftzug der Welt ihn erkälte, Andre aber sich an Euch ärgern, und Euch für Leute ausschrein, die sich zu heilig dünken um von Zöllnern etc. berührt zu werden. Wenn jeder so dächte, der das Wahre gefunden zu haben glaubt, und viele ernste, aufrichtige, demüthige Sucher glauben es doch wo anders oder in andrer Gestalt zu finden, zu welchem pensilvanischen Zellengefängniß würde Gottes Erde werden, in 1000 und aber 1000 exclusive Coterien durch unübersteigliche Scheidewände eingetheilt. Vergleiche noch Röm. 14. 2279 und 15. 2,80 besonders auch 1 Cor. 4. 581 ; 8. 282 ; 9. 78 „Und wenn eine Frau einen ungläubigen Mann hat und es gefällt ihm, bei ihr zu wohnen, so soll sie sich nicht von ihm scheiden. Denn der ungläubige Mann ist geheiligt durch die Frau, und die ungläubige Frau ist geheiligt durch den gläubigen Mann. Sonst wären eure Kinder unrein; nun aber sind sie heilig.“ 79 „Den Glauben, den du hast, behalte bei dir selbst vor Gott. Selig ist, der sich selbst nicht zu verurteilen braucht, wenn er sich prüft.“ 80 „Jeder von uns lebe so, daß er seinem Nächsten gefalle zum Guten und zur Erbauung.“ 81 „Darum richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt, der auch ans Licht bringen wird, was im Finstern verborgen ist, und wird das Trachten der Herzen offenbar machen. Dann wird einem jeden von Gott sein Lob zuteil werden.“ 82 „Wenn jemand meint, er habe etwas erkannt, der hat noch nicht erkannt, wie man erkennen soll.“

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2083 und auch Cap. 12. V. 4 und folgende84, ferner 13. 2.85, alles im 1. an die Corinth., was mir in das Thema zu gehören scheint. Wir sprachen auf jenem Spatzirgange oder einem andern auch viel von der „Werkheiligkeit“86 ; ich will Dich in dieser Beziehung nicht mit Schriftstellen überschwemmen, Dir nur sagen wie herrlich ich die Epistel Jacobi87 finde. (Matth. 25 V. 34 und folgende88, Röm 2.6.89, 2 Cor. 5. 10.90, Röm. 2. 13.91 83 „Den Juden bin ich wie ein Jude geworden, damit ich die Juden gewinne. Denen, die unter dem Gesetz sind, bin ich wie einer unter dem Gesetz geworden – obwohl ich selbst nicht unter dem Gesetz bin –, damit ich die, die unter dem Gesetz sind, gewinne.“ 84 „Es sind verschiedene Gaben; aber es ist ein Geist. Und es sind verschiedene Ämter; aber es ist ein Herr. Und es sind verschiedene Kräfte; aber es ist ein Gott, der da wirkt alles in allen. In einem jeden offenbart sich der Geist zum Nutzen aller; dem einen wird durch den Geist gegeben, von der Weisheit zu reden; dem andern wird gegeben, von der Erkenntnis zu reden, nach demselben Geist; einem andern Glaube, in demselben Geist; einem andern die Gabe, gesund zu machen, in dem einen Geist; einem andern die Kraft, Wunder zu tun; einem andern prophetische Rede; einem andern die Gabe, die Geister zu unterscheiden; einem andern mancherlei Zungenrede; einem andern die Gabe, sie auszulegen. Dies alles aber wirkt derselbe eine Geist und teilt einem jeden das Seine zu, wie er will.“ (1 Cor. 4–11) 85 „Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüßte alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, so daß ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts.“ 86 „Die Werkheiligkeit, plur. car. eine Frömmigkeit, welche bloß in äußern guten Handlungen bestehet; die Fertigkeit, gute Handlungen um des Scheines der Heiligkeit Willen zu verrichten.“ (Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. Bd. 4 (Seb-Z). Leipzig (Breitkopf & Härtel) 21801, S. 1504. 87 Der von Luther wegen der Herausstellung der Bedeutung guter Werke gegenüber bloßem Glauben abgelehnte und fast an das Ende des Neuen Testaments verbannte Jakobusbrief. 88 „Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben, oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen, oder nackt und haben dich gekleidet? Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ 89 „der einem jeden geben wird nach seinen Werken“ 90 „Denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, damit jeder seinen Lohn empfange für das, was er getan hat bei Lebzeiten, es sei gut oder böse.“

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I Ep. Joh. 3. V. 7.92, unzählige andre). Es ist zwar unfruchtbar, mit abgerissenen Sätzen der Schrift außer dem Zusammenhang zu rechten; aber es giebt viele, die aufrichtig streben und dabei auf Stellen wie Jacobi 2. V. 1493 mehr Gewicht legen wie auf Ev. Marc. 16. 16.94 und für letztre Stelle Auslegungen geben und für richtig halten, die mit der Deinigen, buchstäblichen, nicht stimmen werden. Welcher Auslegung ist nicht das Wort Glauben in sich selbst und in Bezug auf das, was die Schrift zu glauben befiehlt, in jedem einzelnen Falle, wo sie das Wort gebraucht, fähig. Ich gerathe wider Willen in geistliche Discussion und Streitfragen. Bei den Katholiken wird die Bibel von Laien garnicht oder mit großer Vorsicht gelesen, ausgelegt nur von Geistlichen, die sich lebenslänglich mit dem Studium der Quellen beschäftigt haben. Auf die Auslegung kommt zuletzt alles an.95

Zunächst liegt in dieser Briefstelle eine Erklärung gegen die Selbstgerechtigkeit des Gläubigen vor, die unversehens zum Credo des Handelns, schließlich zum Credo gegen die Schrift wird, das von einem Misstrauen gegenüber der interpretatorischen Offenheit der Worte zeugt, das den späteren Kulturkämpfer Bismarck hier sogar zum Parteigänger der Katholiken macht. Recht fadenscheinig erscheint der Versuch, diese grundsätzlichen Fragen beiläufig einzuleiten, indem man die Rede auf den Hund bringt, der bei dem veranlassenden Gespräch dabei gewesen ist. Wenn hier zunächst vielleicht nur eine ironische Replik auf Johannas Glaubensfestigkeit geplant war, so wächst sich das Ganze rasch aus und verliert jede Art von ironischer Leichtigkeit, die der lustige Hundename Finette anzukündigen scheint. Ich zitiere die Stelle auch in ihrer ganzen Länge, um zu zeigen, wie schnell hier ein eigentlich humoristisches, ironisches Verfahren gerade in seinen Briefen in eine gewisse manische Beharrlichkeit und Ausführlichkeit umkippen kann, in der das Überreden zum Niederreden wird, zu einer Art rhetorischer Mauer gegenüber dem Anderen. Johanna von Puttkamers Reaktion mag auf den ersten Blick defensiv einlenkend erscheinen, wenn sie sich im Antwortbrief klein macht und für ihren Hochmut ent91 „Denn vor Gott sind nicht gerecht, die das Gesetz hören, sondern die das Gesetz tun, werden gerecht sein.“ 92 „Kinder, laßt euch von niemandem verführen! Wer recht tut, der ist gerecht, wie auch jener gerecht ist.“ 93 „Was hilft’s, liebe Brüder, wenn jemand sagt, er habe Glauben, und hat doch keine Werke? Kann denn der Glaube ihn selig machen?“ 94 „Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden; wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden.“ 95 Brief vom 7. Februar 1847, in: Briefe an seine Braut und Gattin, S. 18f.; Werke in Auswahl, Bd. 1, S. 78f.

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schuldigt. Leicht übersieht man dabei jedoch, dass sie ihren Standpunkt nicht im Mindesten aufgibt. Ach Du hast mich doch falsch verstanden auf jenem Spaziergange; – (wo Finette verschwand, die noch nicht wieder ans Tageslicht gekommen) und alles für geistlichen Hochmuth ausgelegt, was im Grunde nur Liebe war. – Otto, ich wollte mich ja nicht über Dich erheben, wollte nicht mein bischen Erkenntnis des göttlichen Wortes in Baumwolle wickeln, wie Du meinst, um es Niemand sehen zu laßen. – Ach nein, ich hatte ganz andere Bedenklichkeiten, die unsere geliebte selige Marie nachträglich noch sehr vergrößerte, weil sie vollkommen einstimmte. – Siehst Dus, Otto – aus mehreren Gesprächen schien es mir, als hieltest Du mich für weit geförderter, weit klarer, als ich bin, und Du hättest damals wohl blind nach einem Faden gegriffen, der Dir so stark erschien, u der doch dünner ist, wie ein Haar, – Du hättest Dich daran halten wollten und zu spät gemerkt, wie unsicher er war, und – Otto – wir wären am Ende beide gesunken, tiefer und tiefer, ohne Begehren nach des Heilands Hand, die uns doch aus dem tiefsten Abgrund retten kann, wenn wir nur unsere Arme nach ihr ausstrecken. – Es ist heute nun wieder so eilig, hätte ich mehr Zeit, wir würden uns wohl verständigen, du mein theuerster Herzensfreund, ich habe den letzten Theil Deines Briefes wohl 4mal gelesen, und mich recht innig daran erfreut, zu vielem sage ich Ja und Amen, – zu manchem nicht, aber ich kann auch Unrecht haben, und will später gern mit Dir streiten, oder wir wollen uns offen aussprechen, – uns freuen, wenn wir einig sind, und das andere dem Herrn überlaßen; – aber Mark. 16–16 dringt mir doch mehr ins Herz als Jakobi 2–14. – Du hast mich in einigen Sprüchen recht ernst angeredet, aber das ist mir lieb, – ich muß immer eine Weckstimme haben, – sonst schlafe ich so bald ein.96

Wenn in Bezug auf diesen Briefwechsel von diplomatischem Geschick die Rede sein kann, dann ist es eher in Bezug auf die Briefschreiberin Johanna von Puttkamer als auf Otto von Bismarck, das gilt nicht allein für obenstehenden Brief. Durch die Berufung auf die verstorbene Marie von Thadden (die, darauf werde ich noch eingehen, einen Bezugspunkt für beide Briefpartner liefert, auf den man sich beruft, um Recht zu behalten, der aber auch Sigle für Ängste und unausgesprochenen Schmerz ist. „Nur über ihre Leiche“97 läuft in der Tat hier die Kommunikation) holt sich Johanna von Puttkamer Unterstützung bei einer Instanz, die auch von Bismarck nicht hinterfragt werden kann, und indem sie sich klein macht und – im 96 Brief vom 12. Februar 1847, in: Brautbriefe (a. a. O.), S. 31f. (korrigiert nach NL Johanna von Bismarck, C1, fiche 1, fol. 13f.). 97 Elisabeth Bronfen: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik. Übers. v. Thomas Lidquist. München (dtv) 1996 (vgl. das folgende Unterkapitel).

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Sinne christlicher Humilitas – ihre Fehlbarkeit eingesteht, macht sie sich ebenfalls unangreifbar. In dieser Weise verfährt sie häufig christlich-dialektisch: aus dem Eingeständnis ihrer Unwürdigkeit gewinnt sie eine Sicherheit, auf deren Grundlage sie dem Partner, der hier als Anfechter ihres Glaubens auftritt, alles zugeben kann, ohne auch nur einen Zoll von ihrer Überzeugung abzurücken. Knapp eine Woche später, am 18. Februar schreibt sie: Wie wundervoll ist die Epistel Jakobi, aber fast noch schöner finde ich die Ep. an die Ebräer – namentlich das 12te Kapitel98, und das 9te99, – ach, alle! – Ja – es ist ein köstlich Ding, daß das Herz fest werde, welches geschiehet durch Gnade; – dazu helfe uns der Herr! [Hier folgt ein * und am Rand der zugehörige Einschub: „Auch die erste Ep. Johanni100 – die ich jetzt erst recht kennen gelernt habe“, R. L.] – Wollte ich jetzt mit Dir streiten, so würde ich auf Jakobi 2–14, nur antworten mit Röm. 3–28101 ; und manchen anderen Sprüchen, [gestrichen: worauf] wobei Dir dann auch wieder neue einfallen würden. Aber ich weiß nicht, wie man das so zertrennen kann; – ohne Glauben sind die Worte todt, und ohne Worte der Glaube, eins kommt ja aus dem andern, – u wie auf die Ebräer, gleich die Ep. Jak. folgt, so muß es doch wohl immer sein; meiner Ansicht nach, muß beides innig zu sammen hängen.102

Zwar ging es in dem Streit zunächst um Glauben und Werke, doch mit den Worten benennt von Puttkamer das Problemfeld, das hinter dieser wie hinter den anderen Auseinandersetzungen dieses Briefwechsels liegt, die alle um die Frage der Gültigkeit und der Wirksamkeit der Sprache kreisen. Bismarck begreift sich als Mann des Handelns, der von den Worten immer schnell zur Tat kommen will, den Zeichen misstraut, dabei aber überall auf die Kraft der vermittelnden Zeichen setzt. Dass beide dieses Gefecht mit Bibelzitaten führen und zugleich dessen Absurdität konstatieren – auch sie weiß ja, dass zu jeder ihrer Belegstellen ihm „dann auch wieder neue 98 „Der Glaubensweg des Christen“ als Kampf gegen die Versuchung des Unglaubens: „Darum auch wir: Weil wir eine solche Wolke von Zeugen um uns haben, laßt uns ablegen alles, was uns beschwert, und die Sünde, die uns ständig umstrickt, und laßt uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist,“ etc. 99 „Das einmalige Opfer Christi“, das das wiederholte Blutopfer des alten Bundes ablöst. 100 Über den wahren Glauben und ein Leben in Liebe. z. B. 1 Johannes 1.9–10: „Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns. Wenn wir aber unsre Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit.“ 101 „Denn nicht der ist ein Jude, der es äußerlich ist, auch ist nicht das die Beschneidung, die äußerlich am Fleisch geschieht“ 102 Brautbriefe, S. 41f., (korrigiert nach NL Johanna von Bismarck, C1, fiche 1, fol. 21).

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einfallen würden“ –, zeigt eine bei beiden bestehende Sprachskepsis, das Wissen um die Ausweglosigkeit eines zwischen zwei antipodischen Standpunkten ausgeführten Wortgefechts. Dabei wird, die eben zitierten Stellen werden das hinreichend bewiesen haben, ein enormer Aufwand in diese Auseinandersetzungen gelegt. Redeschwalle von vielen Briefseiten werden gegeneinander aufgefahren, die nur von den Seufzern der Erschöpfung unterbrochen werden, mit denen beide regelmäßig nach einem solchen Kraftakt in sich zusammensinken. Neben derartigen Konflikten, die mit einer Hartnäckigkeit ausgetragen werden, der sich durchaus eine gewisse Selbstironie der Kontrahenten beigesellt, finden sich dann wieder erzählende Passagen von großer atmosphärischer Dichte, in denen der Bericht unversehens übergeht ins Bekenntnis, in introspektive Erinnerungs- und Vorstellungsbilder, durch die die Darstellung des Äußeren eigentlich erst ihren Wert und ihre Bedeutung erhält und an denen sich zeigt, dass auch hier (wie in Stifters Nachsommer) Inneres und Äußeres zusammengehören. So etwa in dem ersten langen Brief vom 1. Februar (der mit seiner Erwähnung des Arnimschen Spotts gegen die Religion den Auslöser der Bibelzitatendebatte geliefert hatte), den Bismarck wie folgt fortsetzt: Heut fiel den ganzen Tag der Schnee sehr emsig, und das Land ist wieder weiß, ohne Frost. Als ich eintraf, war diesseit Brandenburg alles frei von Schnee, die Luft warm, und die Leute pflügten; es war, als wenn ich vom Winter in den Frühlingsanfang gereist wäre, und in mir war doch der kurze Frühling Winter geworden; je näher ich Schönhausen kam, desto drückender war mir der Gedanke, auf wer weiß wie lange wieder in die alte Einsamkeit zu treten. Die Bilder wüster Vergangenheit stiegen in mir auf, als wollten Sie mich von Dir fortdrängen. Mir war fast weinerlich, wie wenn ich nach den Schulferien die Thürme von Berlin aus dem Postwagen erblickte. Der Vergleich meiner Lage mit der, in der ich am 10ten auf demselben Wege in umgekehrter Richtung reiste, die Überzeugung daß meine Einsamkeit genau genommen eine freiwillige sei, der ich mit einem freilich etwas dienstwidrigen Entschluß und 40 Reisestunden stets ein Ende machen kann, brachten mich wiederum zu der Erkenntniß daß mein Herz ein undankbares sei, verzagt und trotzig, denn bald sagte ich mir „mit des Bräutigams Behagen“ daß ich auch hier nicht mehr einsam sei, und war glücklich in dem Bewußtsein, von Dir mein Engel geliebt zu sein, und Dir wiederum zu gehören, leibeigen nicht nur, sondern bis ins innerste Herz.103

103 Bismarck: Briefe an seine Braut und Gattin, S. 9f.; Werke in Auswahl 1, S. 72.

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Wieder besteht eine intensive Wechselbeziehung zwischen der beschriebenen Außenwelt und den inneren Zuständen, die diese reflektieren oder zur Geliebten in Bezug gesetzt werden. Denn in diesem Beispiel herrscht weniger eine direkte Korrespondenz von Innen und Außen, als ein kontrastives Verhältnis zwischen der im Frühling stehenden Landschaft und der inneren Leere des Erzählers. Der äußeren Bewegung parallel läuft hier eine Reise in die Vergangenheit, eine Rückwärtsbewegung in die Erinnerung, hinter der das Bild der Gegenwart verschwindet. Die Bedrohung durch die Vergangenheit bildet einen regelmäßig von Bismarck evozierten Konflikt zwischen dem gegenwärtigen und dem früheren Ich, der den Briefwechsel durchzieht und an verschiedenen Motiven, insbesondere der Spiegelung des „früheren Ich“ in den Gedichten Byrons, festgemacht wird. Er, wie – was noch zu zeigen sein wird – sie stellen sich dabei als gegenüber ihren Vorstellungsbildern vollständig passiv dar. Sie widerfahren ihnen. Johanna wird dabei von ihm immer als Teil eines kompletten Inventars gedacht, das „Heimat“ ist. Überall da, wo ihre Ruhe und Stabilität stiftende Kraft beschworen wird, sind auch Bilder einer patriarchalischen, befriedeten dörflichen Welt nicht weit, die den Dramen der Weltgeschichte als Idyll entgegengesetzt wird: Beim Einfahren in das Dorf fühlte ich, wohl nie so deutlich, wie schön es ist, eine Heimath zu haben, eine Heimath, mit der man durch Geburt, Erinnerung und Liebe verwachsen ist. Die Sonne schien hell auf die stattlichen Bauerhöfe, und ihre wohlhäbigen Bewohner mit den langen Rökken und die bunten Weiber mit den kurzen grüßten mich noch viel freundlicher als gewöhnlich; auf jedem Gesicht schien ein Glückwunsch zu liegen, der in mir stets zu einem Dank gegen Dich wurde. Bellins dicker Graukopf lächelte rund herum, und der alten ehrlichen Seele liefen die Thränen herunter wie er mir väterlich auf die Schulter klopfte und seine Zufriedenheit ausdrückte, seine Frau weinte natürlich aufs Heftigste; selbst Odin war ausgelassener wie sonst, und seine Pfote auf meinem Rockkragen bewies unwiderleglich daß Thauwetter sei. Eine halbe Stunde später galoppirte Miß Breeze mit mir an die Elbe, offenbar stolz, Deinen Verlobten zu tragen, denn niemals früher schlug sie so verachtend mit dem Huf auf den Boden.104

Eine kathartische Entwicklung wurde durchgangen. Der Bann der Vergangenheit, der innere Winter wurde durch den Gedanken an die Braut, den „lieben Engel“ überwunden, Natur, Menschen und Tiere sind beseelt durch die bloße Existenz der Braut. 104 Ebd., S. 10; Werke in Auswahl 1, S. 72f.

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Sodann folgt eine Probe seiner humoristischen Schreibart, ein neuerliches Beispiel einer beinahe Heineschen Ironie, wie er sie in diesem ersten Jahr noch häufiger geben wird. Und wenn er dann beschreibt, wie seine frühere Melancholie, seit er Johanna gefunden hat, von ihm gewichen ist, wie die Welt für ihn eine andere geworden ist und die Äußerungen des Gefühls untermischt werden mit ironischen Nebenbemerkungen und witzigen Zwischenstücken, dann ist hier gleich zu Beginn einer der Höhepunkte dieser Liebeskorrespondenz erreicht: Du kannst glücklicher Weise nicht beurtheilen, mein Herz, mit welcher trostlosen Stumpfheit ich früher nach einer Reise mein Haus betrat, welche Niedergeschlagenheit sich meiner bemächtigte, wenn mich die Thür meines Zimmers angähnte und das stumme Geräth in den lautlosen Räumen mir, gelangweilt wie ich selbst, gegenüberstand. Nie wurde mir die Öde meines Daseins deutlicher als in solchen Augenblicken, bis ich dann ein Buch ergriff, von denen mir keines trüb genug war, oder mechanisch an irgendein Tagwerk ging. Am liebsten kam ich des Nachts zu Haus, um gleich zu schlafen [und an dieser Stelle fügt er eine Fußnote ein, die auf zwei beigelegte Byron-Gedichte Bezug nimmt, über die noch zu sprechen sein wird: „Vergleiche die Beilage, in der ich früher oft meinen innersten Ausdruck fand. Now never any more.“]. Ach Gott und nun? Wie betrachte ich alles mit andern Augen; nicht bloß, was Dich und weil es Dich mitbetrifft oder mitbetreffen wird, (obschon ich mich seit 2 Tagen damit quäle, wo Dein Schreibtisch stehn wird), sondern meine ganze Lebensanschauung ist eine neue, und selbst Deich- und Polizei-Geschäfte betreibe ich mit Heiterkeit und Theilnahme. Diese Änderung, dieses neue Leben danke ich nächst Gott Dir, ma tre`s-che`re, mon adore´e Jeanneton, die Du nicht als Spiritusflamme an mir gelegentlich kochst, sondern als erwärmendes Feuer in meinem Herzen wirkst. – Man klopft. – Besuch des Herrn Conrectors, Klage über schlechte Zahler des Schulgeldes. Der Mann fragte mich, ob meine Braut groß sei. – O ja, ziemlich. – Nun ein Bekannter von mir hat Sie im Sommer auf dem Harz mit mehreren Damen gesehn, wo Sie sich mit der größten, vorzugsweise unterhielten, das war gewiß ihre Fräulein Braut. – Die größte von Euch war glaub ich Frau von Mittelstädt. Der Harz der Harz!105

Auch hier wieder abrupte Sprünge von der Melancholie in die Aufgekratztheit, plötzliche Unterbrechungen des Gedankenflusses durch die Inszenierung äußerer Störungen, die wiehernden Pferde im ersten Brief, hier der an die Tür klopfende Schulinspektor just in dem Moment, wo Johannas liebliche Spiritusflamme zum herzwärmenden Feuer hinaufpathetisiert wird. Pathos zieht hier unweiger105 Bismarck: Briefe an seine Braut und Gattin (a. a. O.), S. 10f.; Werke in Auswahl 1, S. 73.

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lich die Neutralisierung durch sein Gegenteil, die Störung durchs Banale, nach sich. Ein altes humoristisches Verfahren, das sich bereits bei Sterne findet, hier aber in seiner nervöseren Spielart erscheint. Das schreibende Subjekt führt sich als Gegenstand, ja als Schlachtfeld seiner Assoziationsketten vor. In fast allen Schilderungen der Schreibsituation, die in Bismarcks Briefen recht häufig sind, ist dabei die Wirklichkeit etwas, das sich aufdrängt, das stört, das den Briefdialog unterbricht oder abbricht. Seien es die ungeduldigen Pferde, sei es der störende Besuch oder sei es eine Parlamentsdebatte, der mit halber Aufmerksamkeit gefolgt werden muss, die Dynamik des Briefs geht von dem Spannungsverhältnis aus, in dem er zur Außenwelt steht. Hier liegt nun eine besonders humorvolle Variante dieses Situationstypus‘ vor, die besonders komisch wird durch die Wiedergabe des nun folgenden Gesprächs, die unmerklich vom Bericht in den Dialog hinübergleitet. In dieser Skizze erweist sich Bismarck als echter Humorist. Knapp, trocken und scheinbar pointenlos wird das Gespräch wiedergegeben, das Gegenüber der Szene charakterisiert sich allein aus der Banalität seiner Bemerkungen und Fragen und dem Kontrast, den dies zum hohen Schwung des vorangegangenen Gefühlsausbruchs bildet. Fast ist dieser ungelegene Schulinspektor der Famulus Wagner, der in die Studierstube des Faust hereinplatzt. Die völlig absurde Frage, ob die Braut groß sei, erklärt sich zwar durch das Nachfolgende, wird dadurch aber nicht bedeutender oder geistreicher. Der abschließende Witz liegt dann in der hingeworfenen Bemerkung Bismarcks, die größte sei Frau Mittelstädt gewesen, also die Mutter der Elisabeth Mittelstädt, einer weiteren Freundin Marie von Thaddens. Wie diese Szene einfach so dasteht und zum Zweck nur den plötzlichen Wechsel in der stilistischen Höhenlage des Briefs zu haben scheint, ist das meisterhaft. Und dann der nächste Sprung: „Der Harz, der Harz!“ (und danach wird erneut das Thema gewechselt und es geht um Organisatorisches und Bauliches) – ohne es zu wissen, hat der Schulinspektor mit der Erinnerung an die Harzreise eine Stimmung evoziert, die den Brief unversehens von quirliger Aufgekratztheit in melancholisches Erinnern umkippen lässt, wie es in der versonnenen Wiederholung zum Ausdruck kommt. Gedankenketten werden in diesem Brief vorgeführt, Assoziationsräume eröffnet. Es wird nicht räsoniert, die Verbindungen stiftet das Unausgesprochene. In dem doppelten Ausruf „Der Harz“ aber verrät sich der heikle Charakter, den diese heitere Harzreise für

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einige der Beteiligten hatte. Sie wird in Johannas und Ottos Briefen noch eine ganze Weile eine Rolle spielen, Codewort für ein Glück und seinen schwierigen und schmerzvollen Ursprung sein.

2.3 Nur über ihre Leiche Marie von Blanckenburg hatte die Harzreise im August 1846 angeregt und vieles lässt darauf schließen, dass eine ihrer Absichten dabei auch war, Bismarck und Johanna einander näher zu bringen, weshalb sie ihre „liebenswürdige Freundin Johanna von Puttkamer aus Hinter-Hinterpommern“106 einlud, mit von der Partie zu sein. Eine programmatisch romantische Reise unternehmen die Freunde hier. Von der Wahl des Ziels, über die „Gespräche a la Katzenberger“107 und die unausgesetzt im Chor und einzeln gesungenen Mendelssohnschen Lieder, etwa das auf Heines „Entflieh mit mir“, die gemeinsamen Mondscheinbetrachtungen und die langen Unterhaltungen bis tief in die Nacht hinein, ist die Verschmelzung von Empfindung, Kunst und Natur, die Aufhebung der Trennung zwischen Ich und Anderem das Ziel, das hier verfolgt wird. „Es ist wahrlich viel ,Romantik‘ in allen diesen Bildern; man hört die Mendelssohnschen Weisen und sieht die Wanderer, zwanglos und fröhlich, und doch auch mit bewegten und erwärmten Herzen durch die Berge und Täler ziehn.“108 Selten ist man allein, man vereinzelt sich nicht, nur „Mariechen war öfter mit Bismarck“.109 Wie der Ton gewesen sein mag, der im Umfeld von Marie von Thadden herrschte, zeigt ein witziges Briefgedicht, das Bismarck ihr am 11. April 1846 in einem Päckchen mit „viel Bücher und wenig Apfel“110 zugeschickt hat. Am letzten Dienstag sagten Sie, Es fehlte mir an Poesie. Damit Sie nun doch klar ersehn, Wie sehr Sie mich da mißverstehn,

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Nach Marcks: Bismarck (a. a. O.), S. 272. E. Mittelstädt nach Marcks, S. 277. Marcks, S. 278. Mittelstädt nach Marcks, S. 278. Bismarck: Werke in Auswahl (a. a. O.), Bd. 1, S. 60.

2.3 Nur über ihre Leiche

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So schreib ich Ihnen Frau Marie, In Versen, gleich des Morgens früh. Ich würde zwar poet’scher sein Am Abend bei des Mondes Schein, Und wenn statt Kaffee neben mir Champagner ständ und bayrisch Bier; Doch als ich heute früh erwachte, Und aller meiner Sünden dachte, So fielen mir die Äpfel ein, Und schlug es gleich erst eben neun, So will ich doch am frühen Morgen, Was Sie befehlen, gleich besorgen.111

Derart aufgekratzt findet man Bismarck auch in den frühen Briefen an Johanna von Puttkamer und zwar insbesondere immer da, wo die Auseinandersetzung um Religion geht. Auch in diesem Brief an Marie von Thadden kann er es nicht unterlassen, im Zusammenhang mit der von der Empfängerin bestellten Apfelsendung gleich auf seine Sünden zu sprechen zu kommen. Und ein „sündiges“ Paket scheint es insgesamt gewesen zu sein, denn nebst Äpfeln enthält es eine (von ausgezeichnetem Geschmack zeugende) pikante Auswahl von Lesestoff: „Ich schicke ferner Louis Blanc, / Ein Heft von Madame Dudevant, / Von Lessing mehrere Gedichte / Und Cinq-Mars traurige Geschichte.“112 Die Geschichte der ersten zehn Regierungsjahre des Louis Philippe Histoire de dix ans 1830–40113, die den utopischen Sozialisten Louis Blanc als großartigen Charakterzeichner und Darsteller berühmt machte, den auch Karl Marx mit Begeisterung liest, wird wegen ihrer Kritik der Politik Louis Philipps und der sozialen Verhältnisse unter der Regierung des „Bürgerkönigs“ auch den Geschmack eines preußischen Reaktionärs getroffen haben (der ja später durchaus Sympathie für dessen diktatorischen Nachfolger Napoleon III. haben wird). Die Romane der AmandineAurore-Lucile Dudevant jedoch, die sich nach der Scheidung von ihrem Ehemann George Sand nannte, ein Name an den sich „die schrecklichen Worte: Emancipation der Frauen, Republikanismus oder gar Communismus“ knüpfen, „bei denen sich natürlich jeder ächte Deutsche nur die Auflösung aller menschlichen Bande und die 111 Ebd. 112 Ebd., S. 61. 113 Louis Blanc: Histoire de dix ans 1830–1840. 5 Bde., Paris (Pagnerre) 1841–1844.

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2 Otto und Johanna von Bismarck

Wiederherstellung des nackten Paradieses denkt“, wie Theodor Mundt 1844 schreibt,114 sind wie die ebenfalls aufgeführten Gedichte des satirischen und religionskritischen Friedrich von Sallet, mögen sie auch – wie vielleicht auch Vignys Roman mit seiner antikirchlichen Tendenz – als kleine Provokation beigegeben worden sein, eine erstaunliche Auswahl. Vielleicht, weil man sich in der Literatur derartige „französische Zustände“ gefallen lassen darf, vielleicht, weil man sich unter Aristokraten ruhig etwas libertinär geben darf: Das aufrührerische Empörertum stand Bismarck zumindest in seinem literarischen Geschmack in den vierziger Jahren eindeutig näher als die religiöse Demut, und die Suche „Nach Herrn Satorius’ frommem Buche“ wird nicht ohne Grund erfolglos verlaufen sein.115 Wenn Ludwig Gerlach in Erinnerung an die Religionsgespräche zwischen Bismarck und dem pietistischen Zirkel auch meint, „daß er immer gegen den christlichen Glauben sprach, aber wie einer, der die eigenen Gedanken los werden will und sich freuen würde, widerlegt zu werden“,116 dann hat dieser ohne sein eigenes Wissen Gläubige seinen Missionaren diese Widerlegung zumindest nicht leicht gemacht und seinen Widerspruch auch nach der Bekehrung, wie oben vorgeführt, nicht eingestellt. Aus dem Brief an Marie von Thadden lässt sich aber auch ersehen, wie dieser Widerspruch, das kokette Beharren auf der eigenen „Sünde“, zugleich auch erotisches Reizmittel ist. Und das Betonen der Gegensätzlichkeit, der Unterschiedlichkeit der Standpunkte und Überzeugungen und der von beiden Briefpartnern im Jahr der Verlobung mit Hartnäckigkeit verfolgte Versuch, jeweils den anderen nach den eigenen Vorstellungen umzuformen, ist auch im Briefwechsel zwischen Johanna von Puttkamer und Otto von Bismarck die Voraussetzung und der Reiz des Schreibens.117 114 Theodor Mundt: Vorrede zu George Sand: Briefe eines Reisenden. Deutsch von L. Meyer, in: George Sand: Sämmtliche Werke, Bd. 45–48, Leipzig (Otto Wigand) 1844, S. I–XVIII, zit. nach: Kerstin Wiedemann: Zwischen Irritation und Faszination (a. a. O.), S. 412. 115 „Wenn ich bis jetzt vergebens suche / Nach Herrn Sartorius’ frommem Buche, / So muß Sie solches nicht erschrecken; / Ich werde wohl es noch entdecken.“ (Bismarck: Werke in Auswahl (a. a. O.), Bd. 1, S. 61). Gemeint ist wahrscheinlich Ernst Sartorius: Die Lehre von Christi Person und Werk in populairen Vorlesungen. Hamburg (Perthes) 1834. 116 Zit. nach Bismarck: Werke in Auswahl (a. a. O.), Bd. 1, S. 53. 117 In heiter-spielerischer Form zeigt sich das in der im Februar 1847 geführten „Debatte“ um den „schwarzen Samtrock“, in dem Johanna von Puttkamer Bismarck gerne bei ihr erscheinen sähe und gegen den er sich hartnäckig sträubt. Am 12.

2.3 Nur über ihre Leiche

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Nicht ganz unbegründet scheint die Vermutung, dass mit der Harzreise auch ein drohender Konflikt und Kollaps des alle verbindenden Freundschaftsbundes verhindert werden soll. Denn recht deutlich ist, dass Maries Bemühungen um Ottos Seele nicht nur geistiger Natur waren, dass beide füreinander offenbar eine Neigung spürten, die sie mit der Verpflichtung gegenüber dem Gatten bzw. Freund Moritz nicht vereinbaren konnten. Februar erinnert sie ihn an eine Verabredung: „Otto – vergiß nicht den Sammetrock und den Titan. Im Mai ist solch schöne Zeit zu all den Dingen, und eher kommst Du ja doch nicht.“ (Brautbriefe, S.34) Offenbar hat er sich dazu überreden lassen, bei der nächsten Begegnung mit ihr zusammen den Titan zu lesen (sie werden damit im März auch anfangen, anfreunden wird er sich mit Jean Paul nie). Ihrer Vorstellung nach passt zu einem solchen Vorhaben ein Auftritt in romantisch-melancholischer Bekleidung. Am 17. Februar erteilt er ihr in diesem Punkt eine entschiedene Absage: „Der Titan ist, wie ich mich mit Bedauern überzeugt habe nicht hier; Malvine muß ihn mit fortgenommen haben, denn er war hier. Ich muß sehn wie ich ihn bekomme, denn haben muß ich ihn ja wohl. Und einen Sammetrock soll ich tragen, angela mia? Ich habe oft gehört, daß Ritter die Farben ihrer Damen trugen; daß diese aber so weit gingen den Stoff der Kleidung vorzuschreiben, davon habe ich in Romanen nie etwas gelesen.“ (Briefe an seine Braut und Gattin, S. 38) Am 21. Februar antwortet sie: „Sammetröcke liebe ich zärtlich, – je schwärzer je besser, – wenn Du Dich aber so sehr dagegen sträubst will ich Dich auch nicht länger quälen, es ist am Ende eine kindische Tyrannei, der Du Dich ja nicht unterwerfen darfst. Um den Titan beunruhige Dich auch nicht weiter, den kann ich alle Tage von Annchen bekommen.“ (Brautbriefe, S. 55) Doch am 26. Februar steht am Ende ihres Briefs mit Bleistift der Nachsatz geschrieben: „Otto – ein Sammetrock ist doch wunderhübsch!! – Grüße ohne Zahl von allen Seiten.“ (Brautbriefe, S. 62). Am 28. Februar schließt die Auseinandersetzung mit offenem Ende, wenn er schreibt: „Eigensinniger bin ich auch wohl geworden, wie meine Schrift, da hast Du Recht, man wird es überhaupt mit dem Alter mehr; indessen Frauen gegenüber wird es mir leichter diesen Fehler zu bekämpfen, und Du wirst schwerlich in den Fall kommen, zu biegen wo Du nicht Lust hast. Wie wird es aber mit mir werden? Ich bin wirklich neugierig, ob Du mich noch in eine schwarz sammetne Hülle bringen wirst oder nicht.“ (Briefe an seine Braut und Gattin, S. 55) – Demgegenüber jeanpaulisiert Bismarck selbst wiederum durchaus gern in seinen Publikationen, wenn er z. B. in dem von subtiler Ironie unterminierten Bericht über die Rede des konservativen Abgeordneten Joseph von Radowitz die Tränenabsonderungsvorgänge bei den verschiedenen Abgeordneten karikaturistisch beschreibt und damit auf die Testamentseröffnungsszene aus den Flegeljahren anspielt: „und namentlich unter den weich geschaffenen Seelen des Centrums waren wenige Augen trocken. Einem hohen Beamten der Finanz rollte ein Budget von Thränen über die geröthete Wange; bei einem der centralsten Pfeiler preußischer Gerechtigkeit brachte das Bestreben, die sichtbaren Zeichen der Rührung zu unterdrücken, so ungewöhnliche Convulsionen der Gesichtszüge hervor . . . etc.“ (Kreuzzeitung vom 31. 8. 1849, nach Bismarck: Werke in Auswahl (a. a. O.), Bd. 1, S. 229. Vgl. auch: Jörg Paulus: Jean Paul: „Flegeljahre“, in: Renate Stauf und Cord-Friedrich Berghahn (Hg.): Weltliteratur. Eine Braunschweiger Vorlesung (II). Bielefeld (Verlag für Regionalgeschichte) 2005, S. 217f.

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2 Otto und Johanna von Bismarck

Wenn zum Abschluss der Reise alle in Berlin sich wieder finden, um einem Klavierkonzert Robert von Keudells zuzuhören, Bismarck beim letzten Satz der Appassionata Tränen in die Augen treten,118 dann findet mit dieser Katharsis eine Entwicklung ihren Abschluss, aus der das Paar Otto und Johanna hervorgeht, an deren Ende Bismarck sein bisheriges Ich für überwunden und vergangen erklärt und die möglicherweise eine „Entsagung“ besiegelt, durch die die Klippe einer unmöglichen Liebe umschifft worden ist.

2.4 Der nervöse Liebhaber Und was da überwunden wurde, ist nichts, was einem Zeitgenossen Bismarcks unbekannt gewesen wäre: „Trostlose Stumpfheit“, „Niedergeschlagenheit“119, Bismarcks Charakterisierung seines Zustandes vor der Verlobung hat frappierende Ähnlichkeit mit dem Spleen, dem französischen ennui als Überdruss, Weltverdruss, der Krankheit des 19. Jahrhunderts, der nachnapoleonischen Generation in Frankreich, wie sie Alfred de Musset in der Confession d‘un enfant du sie`cle (1836) geschildert hat, der Leiden auch der Büchnerschen Helden wie Danton und Leonce und von Byrons Childe Harold. Letzterer, der „Napoleon der Poesie“, ist Muster und Idol aller anderen Zerrissenen. In einem Brief vom 9. Januar 1845 hatte Bismarck dem Göttinger Studienfreund Scharlach den Zustand geschildert, in den er nach zwei gescheiterten Verlobungen und unbefriedigenden beruflichen Erfahrungen verfallen war: 118 „Nach einleitenden Stücken spielte ich auf Verlangen von Fräulein von Puttkamer etwas von Beethoven. Bismarck erwähnte, daß er als Student lange mit einem Kurländer, Grafen Alexander Keyserling, zusammengewohnt und von diesem oft Beethovensche Musik gehört habe, welche ihm besonders zusage. Darauf spielte ich eine lange Sonate (F moll) und sah bei deren leidenschaftlich erregtem letztem Stück eine Thräne in Birmarcks Auge glänzen. Eine besondere Erinnerung mochte ihn bewegen; denn niemals habe ich später wahrgenommen, daß Musik so stark auf ihn wirkte. Als Minister hat er einmal nach demselben Stücke gesagt: ,Das ist wie das Ringen und Schluchzen eines ganzen Menschenlebens‘; damals aber sagte er nichts.“ (Robert von Keudell: Fürst und Fürstin Bismarck. Erinnerungen aus den Jahren 1846 bis 1872. Berlin & Stuttgart (Spemann) 1901, S. 2.) 119 Vgl. den oben besprochenen Brief vom 1. Februar 1847 (vgl. Bismarck: Briefe an seine Braut und Gattin, S. 10f.).

2.4 Der nervöse Liebhaber

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im Frühjahr, machte ich einen sechswöchentlichen Versuch, eine andere Krankheit, eine an Lebensüberdruß grenzende Gelangweiltheit durch alles, was mich umgiebt, zu heilen, indem ich mich durch besondere Vergünstigung eines unserer Minister als Volontär wieder im Staatsdienst beschäftigen ließ, und die angestrengte Arbeit in der insipiden und leeres Stroh dreschenden Schreiberei unserer Verwaltung, als eine Art von geistigem Holzhauen betrachtete, um meinem theilnahmslos erschlafften Geist wieder etwas von dem gesunden Zustande zu geben, den einförmige und regelmäßige Arbeit für den Körper herbeizuführen pflegt. Aber theils war mir die krähwinklige Anmaßung oder lächerliche Herablassung der Vorgesetzten nach langer Entwöhnung noch fataler als sonst, theils nöthigten mich häusliche Vorfälle [ .. . ] die Verwaltung meiner Güter wieder selbst zu übernehmen. Seitdem sitze ich hier, unverheirathet, sehr einsam, 29 Jahre alt, körperlich wieder gesund, aber geistig ziemlich unempfänglich, treibe meine Geschäfte mit Pünktlichkeit, aber ohne besondere Theilnahme, suche meinen Untergebenen das Leben in ihrer Art behaglich zu machen und sehe ohne Ärger an, wie sie mich dafür betrügen. Des Vormittags bin ich verdrieslich, nach Tische allen milden Gefühlen zugänglich. Mein Umgang besteht in Hunden, Pferden und Landjunkern, und bei Letzteren erfreue ich mich einigen Ansehens, weil ich Geschriebenes mit Leichtigkeit lesen kann, mich zu jeder Zeit wie ein Mensch kleide, und dabei ein Stück Wild mit der Accuratesse eines Metzgers zerwirke, ruhig und dreist reite, ganz schwere Zigarren rauche und meine Gäste mit freundlicher Kaltblütigkeit unter den Tisch trinke. Denn leider Gottes kann ich nicht mehr betrunken werden, obschon ich mich dieses Zustandes als eines sehr glücklichen erinnere. So vegetiere ich fast wie ein Uhrwerk, ohne besondere Wünsche oder Befürchtungen zu haben; ein sehr harmonischer und sehr langweiliger Zustand.120

Die Langeweile, die hier gemeint ist, ist nicht nur die einer unbefriedigend genutzten Zeit, es ist eine kosmische Langeweile, mit der geschlagen ist, wer den leeren Mechanismus des Lebens und alle Maskeraden des Sinns durchschaut hat. Es ist das „so lebte er hin“ von Büchners Lenz und die Langeweile seines Leonce (der neun Jahre vor diesem Brief verfasst worden ist): Was die Leute nicht Alles aus Langeweile treiben! Sie studiren aus Langeweile, sie beten aus Langeweile, sie verlieben, verheirathen und vermehren sich aus Langeweile und sterben endlich an der Langeweile und – und das ist der Humor davon – Alles mit den wichtigsten Gesichtern, ohne zu merken warum, und meinen Gott weiß was dabei. Alle diese Helden, diese Genies, diese Dummköpfe, diese Heiligen, diese Sünder, diese Familienväter sind im Grunde nichts als raffinirte Müßiggänger. – Warum muß ich es grade wissen? Warum kann ich mir nicht wichtig werden und der armen Puppe einen Frack anziehen und einen Regen-

120 Bismarck: Werke in Auswahl, Bd. 1, S. 48.

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2 Otto und Johanna von Bismarck

schirm in die Hand geben, daß sie sehr rechtlich und sehr nützlich und sehr moralisch würde?121

Joachim Radkau hat in seiner Studie Das Zeitalter der Nervosität122, in der er das Anbrechen der Moderne, Industrialisierung, Beschleunigung des Lebens und das Aufkommen des psychosomatischen Phänomens der „Neurasthenie“ als eng miteinander verknüpfte Entwicklungen des späten 19. Jahrhunderts nachzeichnet, neben den „Erfinder“ dieses dann vor allem in Deutschland populären Krankheitsbildes, den schillernden amerikanischen Nervenarzt George M. Beard, den nicht minder schillernden Otto von Bismarck als ersten deutschen Typus eines Neurasthenikers gestellt, der mit seiner „Nervosität“ ein neues Muster des aktiven öffentlichen Charakters popularisiert, eine regelrechte Mode ausgelöst habe: schon um 1900 waren Bismarcks „nervöse“ Züge keineswegs unbekannt, zumal er selbst in seinen Memoiren deutliche Hinweise gegeben hatte. Für Friedjung war Bismarck „der stolzeste und reizbarste“ aller Männer“123 ; ein englischer Bismarck-Verehrer erwähnt 1912 die „nervöse Reizbarkeit“ des Kanzlers wie eine bekannte Tatsache. Der altdeutsche Bismarckianer Paul Liman zitierte 1914124, was Bismarck einst über seinen Kampf mit seinen Gegnern am Hof ausgerufen hatte: „Dieser Kampf kostete mir meine Nerven, meine Lebenskraft.“125 Aber, kein Zweifel: Bismarck war kein Neurastheniker in der Art Wilhelms II., sondern verkörperte einen anderen Typus des Nervösen, der seine Unruhe nicht permanent auslebte und motorisch abreagierte, sondern gezielt und geballt einsetzte, und dessen Naturell sich gegen die Überforderung von Zeit zu Zeit mit psychosomatischen Zusammenbrüchen wehrte. Und am Ende schien es ihm zu gelingen, durch einen monatelangen Rückzug auf sein pommersches Gut Varzin oder in den Sachsenwald seiner Nervosität Herr zu werden. Der alte Bismarck, dessen zur Ikone erstarrtes Bild in die wilhelminische Ära fortwirkte, bot seinen Verehrern ein Monument der durch Kampf erworbenen, kampfesfreudigen und immer wieder überwundenen Nervosität. So war er eine ideale Identifikationsfigur für ein „nervöses Zeitalter“; aber dieses Leitbild enthielt einen Vorwurf, der die unbeherrschte und unentschlossene Unruhe der nach ihm Kommenden um so krankhafter erscheinen ließ.126 121 Georg Büchner: Leonce und Lena, in: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente, hg. v. Henri Poschmann 2 Bde. Frankfurt am Main (Deutscher Klassiker Verlag) 1992, Bd. 2: Dichtungen, S. 96. 122 Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. München (Hanser) 1998. 123 Heinrich Friedjung: Der Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland 1859 bis 1866, 2 Bde. Stuttgart 1907/1908, Bd. 1, S. 7. 124 Paul Liman: Der Kronprinz. Gedanken über Deutschlands Zukunft. Minden 1914, S. 26. 125 Friedjung: Der Kampf (a. a. O.), Bd. 2, S. 347.

2.4 Der nervöse Liebhaber

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Bereits Golo Mann stellte in Bezug auf Bismarck ähnliches fest: Ein Barbar – es war einer in ihm, dem großen Schriftsteller, dem feinen Produkt deutsch-europäischer Zivilisation. Ein nervöser Barbar, den Körpermaße und Wagemut nicht vor zuckenden Weinkrämpfen schützten. Venenentzündungen, Schlaflosigkeit, nervöse Gesichtsschmerzen – an solchen Gebrechen litt er während der längsten Zeit seiner politischen Tätigkeit und machte eine Menge Aufhebens davon. Stieß er auf Widerstand, so bekam er Gallenfieber, Gelbsucht und Krämpfe. In späteren Jahren war er etwa imstande, über den Besuch eines führenden Politikers zu berichten: „Ich geriet in eine Nervenaufregung, daß ich ihm endlich sagen mußte: Herr . .. schonen Sie mich, ich bin krank. Bis 7 Uhr morgens schlief ich dann aus Ärger nicht und hätte mit einer Flinte nach dem Mann geschossen, wenn er noch einmal über meine Schwelle gekommen wäre. .. “127

Bismarck ist kein Überbleibsel einer im Versinken begriffenen Junkerwelt, keine romantische Gestalt wie die Clanführer in den Romanen Walter Scotts, in denen dort die Poesie einer patriarchalischen Zeit ein letztes Mal aufscheint. Er ist durch und durch zeitgenössisch, auch seine Sehnsucht nach dem Gutsherrentum, nach der Scholle, dem gemeinsamen Mahl mit dem Gesinde am Tisch, nach dem vertrauten Umgang mit alten Dienern und Knechten, nach der selbstverständlich weitergegebenen Tradition ist eine sentimentalische, ist womöglich bereits den Literarisierungen dieser Lebensform geschuldet. Wie Golo Mann treffend formuliert „markierte er gern das Wesen des schlichten Landedelmannes, dem Pferde und Bäume lieber sind als aller erkünstelte Reichtum der Städte; wobei er nur wieder durch die Schärfe seiner Formulierungen das nicht ganz Stimmige seines Charakters zu erkennen gab.“128 Diese Schärfe der Formulierungen, auch die Neigung zur Satire („der Reiz seiner Briefe liegt nicht zuletzt in der witzigen, aber tief ungerechten Bosheit, mit der er sich über die Menschen äußerte“129), zu Ironie und Selbstironie rückt ihn näher an die Autoren des Vormärz heran, als seine politische Ausrichtung vermuten ließe.

126 Radkau: Das Zeitalter der Nervosität (a. a. O.), S. 66. Vgl. hierzu auch das Unterkapitel Zeitkrankheit Nervosität in Peter Gays Die zarte Leidenschaft. Liebe im bürgerlichen Zeitalter (a. a. O.), S. 331–354. 127 Golo Mann: Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main (Büchergilde) 1958, S. 321. Golo Manns Bismarck-Portrait (S. 317–331) ist insgesamt äußerst einfühlsam und scharfsichtig und lohnt insgesamt der Lektüre! 128 Ebd., S. 318. 129 Ebd., S. 322.

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So wird man diesen Briefwechsel im Sinne des zeitgenössischen Sprachgebrauchs durchaus als einen „nervösen“ bezeichnen dürfen. Er nimmt hierin vorweg, was Angelika Ebrecht für viele Briefwechsel der Jahrhundertwende feststellt: Mit dem wachsenden ,Unbehagen in der Kultur‘ verschärften sich auch die psychischen Konfliktspannungen und die Probleme in den persönlichen Beziehungen. Man versuchte in Briefen eine Identitätskrise des bürgerlichen Subjekts zu artikulieren und zu überwinden. Sie wurden eingesetzt zur Bewältigung der Schwierigkeiten, die die Einzelnen mit sich selbst und anderen hatten.130

Wenn ich im Folgenden diese Nervosität weniger aus zeitgeschichtlichen Umständen, gesellschaftlichen und lebenspraktischen Umwälzungen herleiten, sondern auf literarische Muster zurückführen will, wie sie sich im Liebesbriefwechsel der jungen Braut- und Eheleute zahlreich finden, so dass diese Liebe zumindest in ihren Anfängen neben den religiösen und den Alltag betreffenden Fragen ganz unter dem Zeichen romantischer Literatur steht, so soll das keine Widerlegung oder auch nur Relativierung von Radkaus These sein, sondern es soll nach dem gesucht werden, was Radkau am Schluss der zitierten Passage konstatiert, nämlich der Vorbildfunktion, der Möglichkeit der Ikonisierung und Heroisierung, die der Bismarckschen Nervosität innewohnt, und sie eben nicht zur „dunklen Seite“ seines Charakters macht, sondern geradezu zur Voraussetzung seines öffentlichen Bildes. Dass der Name Bismarck für bezwungene Nervosität steht, ist möglich, weil es Resultat einer früh einsetzenden Selbststilisierung ist, die sich im Briefwechsel mit Johanna nicht nur an beiden Partnern manifestiert, sondern ausbildet und formiert. Dass Bismarcks Briefe an seine Braut und Gattin gerade um 1900 erscheinen, wo das Bild des nervösen Bismarck sich auch in der breiten Öffentlichkeit festigt, ist bezeichnend. Und gerade dieses sollen diese Briefe, so wie sie in dieser prächtigen Ausgabe erscheinen, ja auch vorführen: die Lebensbewältigung einer modernen Psyche, die sich selbst Trotz bietet. Diesen heroischen Trotz, den auch der erst spät zum Bismarck-Verehrer werdende Felix Dahn feiert, könnte man auch als einen Selbstrettungsversuch des Konservativismus an der Wende zum 20. Jahrhundert bezeichnen.

130 Angelika Ebrecht: Brieftheoretische Perspektiven von 1859 bis ins 20. Jahrhundert, in: Brieftheorie des 18. Jahrhunderts. Texte, Kommentare, Essays, etc. S. 243.

2.4 Der nervöse Liebhaber

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Bismarcks Porträt von Franz Lenbach, von dem der Porträtierte 1892 selbst sagte, es zeige ihn „wie ich der Nachwelt erhalten bleiben möchte“131, stellt eben – völlig aus dem Rahmen der preußischheroischen Lackbilder eines Anton von Werner fallend – den Neurastheniker Bismarck dar, ganz wie ihn sein Arzt Schweninger bei der ersten Begegnung 1882 beschreibt, „aufgeregt und doch apathisch müde [ .. .] von Gesichtsschmerz und Migräne geplagt, schlafund appetitlos, fahl von Gesichtsfarbe, von stürmischen Magenerscheinungen und Verdauungsstörungen [... ] heimgesucht.“132 Lenbach hat Bismarck achtzigmal porträtiert und mit diesen Bildnissen, die in hohen Auflagen als Drucke und Postkarten Verbreitung fanden, erheblich zum Bismarck-Mythos der Jahrhundertwende beigetragen. Das Leidende ist essenzieller Bestandteil seiner „realistischen“ Auffassung des von ihm bevorzugten Gegenstandes. Bismarcks Gesicht wird ihm zur programmatischen Ikone seines Konzepts des realistischen Porträts. Ganz und gar als physischer Abdruck eines psychischen Verwitterungsprozesses, mit tiefen, kraterartigen Furchen, grünlichen, furunkelhaften Hautfärbungen, beinahe karikaturhaft akzentuierten Warzen und Gesichtsunebenheiten, gleichen manche der Portraits fast dem eines algenüberwucherten Flussgottes, ist es ein Gesicht mit Geschichte, das Gesicht der Geschichte. Der wache und doch tränenverhangene Blick fasst alle Widersprüche einer extremen Existenz.133 Der Widerspruch von Aktivismus und Resignation, der sich in diesen Porträts ausdrückt, ist der des Zeitalters. Ernst Haeckel repräsentiert ihn nicht weniger 131 Bismarck anlässlich eines Besuchs bei Lenbach in München am 25. 6. 1892, zit. nach: Theo Schwarzmüller: Otto von Bismarck. München (dtv) 2001, S. 6. 132 Zit. nach Radkau (a. a. O.), S. 65. 133 Vgl. Winfried Ranke zum Portrait Bismarcks in der Uniform der Halberstädter Kürrasiere von 1890 (also im Jahre der Entlassung gemalt): „Die aufrechte Haltung wirkt angestrengt und müde, der Mund ist herabgezogen und fest verschlossen, der aus großen Augen in eine unbestimmte Ferne gerichtete Blick wirkt gedankenverloren und resigniert, doch zugleich scheint die Resignation von tiefer Sorge um das Vaterland durchtränkt. Aus einer ihn offenbar tiefbewegenden Situation heraus, gelang Lenbach hier ein Bildnis, das über alle Typisierung von genialischer Größe und übermenschlicher Tatkraft hinaus den persönlichen Reflex einer historischen Entscheidung mitteilt. Das Lob der Zeitgenossen, Lenbach habe in seinen Porträts berühmter Männer und Frauen deutsche und europäische Geschichte dargestellt, läßt sich vor diesem Bild heute noch nachvollziehen.“ (Katalog der Lenbach-Ausstellung München 1987, zit. nach Sonja von Baranow: Bismarck im kollektiven Gedächtnis der Nation – Verdienst des Malers Franz von Lenbach, in: Franz von Lenbach und die Kunst heute. Katalog Leverkusen. Köln (Dumont) 2003, S. 92–99.

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2 Otto und Johanna von Bismarck

als Bismarck. Es ist die paradoxe Verbindung, die die Gründerzeit prägt. Sie unterscheidet sich von den österreichischen Konzepten des „Ausgleichs“, wie sie von Stifter und Sacher-Masoch repräsentiert werden, durch die scharfe Betonung des Gegensätzlichen und eine tragische Auffassung von der Unmöglichkeit ihrer Versöhnung. Sicherlich muss bei der Einschätzung von Bismarcks Parteinahme für Lenbachs Porträts in Rechnung gestellt werden, dass sie nach seiner Entlassung durch Wilhelm II. erfolgt und geprägt ist von der Enttäuschung und Verbitterung hierüber. Aber die Zerrissenheit und psychologische Angegriffenheit, die aus diesen Porträts spricht, ist auch zuvor schon Ingredienz seiner Inszenierung als öffentliche Person. Ein Großteil seines politischen Erfolgs beruht auf seiner Fähigkeit, in politischen Debatten, in seinen Forderungen, Entrüstungen, in Streitigkeiten und Bündnissen ein höchstes Maß an Emotion zu vermitteln, überhaupt Leidenschaften zu entwickeln und zu zeigen, ja vorzuführen, wie bei den Weinkrämpfen während der Verhandlungen um den Nikolsburger Vorfrieden im Jahre 1866134 oder den Briefen, die er im Herbst 1872 an den Kriegsminister Roon, den Kaiser oder auch an ausländische Gesandte schickt, in denen er unverhohlen von seiner Überarbeitung und Nervenzerrüttung spricht: „Meine Federn sind durch Überspannung erlahmt, der König als Reiter im Sattel weiß wohl kaum, daß und wie er in mir ein braves Pferd zuschanden geritten hat; die Faulen halten länger aus, aber ultra posse nemo obligatur.“135 Zerrissenheit als Weltgefühl im Jahrhundert der Umwälzungen und Revolutionen ist eben auch Ausdruck einer Welt, in der Altes und Neues schroff aufeinander treffen und noch nichts entschieden ist. 134 Vgl. Lothar Gall: Bismarck (a. a. O.), S. 373. 135 An Roon im Spätsommer 1872, zit. nach: Paul Liman: Bismarck in Geschichte, Karikatur und Anekdote. Ein großes Leben in bunten Bildern. Stuttgart (Strecker) 1915, S. 170). Bereits im Mai 1872 berichtet Bismarcks amerikanischer Freund Motley, der zu Besuch in Varzin ist, seiner Frau: „He looks like a Colossus, but his health is somewhat shattered. He can never sleep until four or five in the morning.“ (Motley: Correspondence (a. a. O.), Bd. 2, S. 342). Am 1. August 1872 schreibt Bismarck an Wilhelm I.: „die freundlichen Worte der Anerkennung, welche das allerhöchste Schreiben enthält, sind für kranke Nerven wohlthuender als alle ärztliche Hülfe.“ (Bismarck: Werke in Auswahl (a. a. O.), Bd. 5, S. 217), an Staatsminister Graf zu Eulenburg am 27. Oktober 1872: „. . . daß sie an den Schädel eines kranken Mannes schlagen, um zu sehen, ob er einen Funken phosphoresziert“ (ebd., S. 231), an Fürst Gortschakoff am 20. November 1872: „Les affaires inte´rieures sont celles qui usent mes forces parce qu‘elles m‘imposent une responsabilite´ sans autre autorite´ que celle de la prie`re et de la persuasion.“ (ebd., S. 240).

2.5 Byron – Literaturliebe als Zitierverfahren

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Diesen Konflikt seines Jahrhunderts hat etwa Walter Scott in historischen Projektionen zu domestizieren und zu objektivieren getrachtet. Ausgekämpft in schmerzhafter Reibung an der Wirklichkeit, der Gesellschaft und der Welt hat ihn Byron, der damit weit mehr geprägt hat als nur die Dichtung des 19. Jahrhunderts. Charles Nodier hat ihn beschrieben als eine Gestalt, in der sich alle Tendenzen des Zeitalters der Umbrüche bündelten und übermittelten: Das Erscheinen Lord Byrons in der europäischen Literatur ist eines jener Ereignisse, deren Einfluss von allen Völkern und allen Generationen verspürt wird. Nicht, weil Lord Byron, wie einige unbedachte Kritiker vorgebracht haben, der Schöpfer eines neuen poetischen Genres gewesen wäre, denn es obliegt dem Menschen nicht, etwas zu schaffen und weniger noch die Sprache der Poesie, d. h. des Geschmacks und des Genies, als die Sprache des täglichen Bedürfnisses. Als Zeuge der Erneuerung einer Zivilisation war Lord Byron der am gewaltigsten inspirierte Überträger aller Empfindungen, aller Leidenschaften, sagen wir es rundheraus: aller Frenesien, die sich in dem stürmischen Intervall erheben, in dem sich die ersten Schritte einer neugeborenen Gesellschaft und die Konvulsionen einer untergehenden vermischen. Ich wiederhole es: Er hat weder diese Poesie noch diese Lage der Dinge erfunden: er hat sie offenbart.136

2.5 Byron – Literaturliebe als Zitierverfahren Nach der Aufhebung der Napoleonischen Blockade und der fehlgeschlagenen Befreiung Europas vom Joch der alten Systeme (siehe Wiener Kongreß 1815) verkörperte der im selbstgewählten Exil lebende, legendäre englische Dichter sehr bald den Wunschtraum vieler unterdrückter Völker auf individuelle und politische Freiheit. Sein Werk wurde zum Ausdruck der Zeitprobleme und gleichzeitig [ ... ] ein Versuch der Flucht vor ihr[. . . ] Ein dichtender Lord, der die etablierte Gesellschaft in Wort und Tat rebellisch herausforderte, war ein Widerspruch an sich und faszinierte die Zeitgenossen. [. . .] Hinzu kam seine Neigung zum Selbstbekenntnis, sein Stil, [. ..] seine Motivwelt von Liebe, Tod und Teufel.137

Von all diesem, auch von Tod und Teufel, finden wir in Bismarcks Briefen an Johanna. Nicht viel schiene den „aristocratic rebel“ mit dem konservativen preußischen Junker zu verbinden, wenn es nicht gerade das Modell des nach außen getragenen Widerspruchs wäre. 136 Charles Nodier: Notice pre´liminaire zu: Oeuvres de Lord Byron. Entier`ement Revue et corrige´es par Ame´de´e Pichot. Paris, 4. Aufl., 1822–25. Bd. 1, S. I–VIII, hier: S. I [Übers. von mir, RL]. Vgl. auch Gerhart Hoffmeister: Byron und der europäische Byronismus. Darmstadt (WBG) 1983, S. IX. 137 Hoffmeister: Byron (a. a. O.), S. IX/X.

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Es ist kein ungewöhnliches Modell in den 40er Jahren, wie sich z. B. daran zeigt, dass es bereits 1844 für Nestroys populäre Komödie Der Zerrissene herhalten konnte. Der „Mensch mit seinem Widerspruch“ (C. F. Meyer, Huttens letzte Tage), das „Von der Parteien Gunst und Haß“ (Schiller, Wallenstein) verwirrte, schwankende Charakterbild gehören zu den Identitätsmustern, die gerade das 19. Jahrhundert immer wieder für zahlreiche seiner Protagonisten in Anspruch nimmt. Widersprüchlichkeit gilt als Signum von Individualität. Wenn Bismarck bereits seinem ersten langen Brief an seine Braut ein Byron-Gedicht beilegt, das Zeugnis eines nun vergangenen Zustands sein soll, die Haut einer vormaligen Existenz, ihr geopfert und ihr im Brief dargebracht, dann täuscht er damit vielleicht sogar sich selbst, aber abgelegt ist diese Existenz ganz und gar nicht. Immer wieder wird ihr Symbol, Byron, mit dessen Dichtung er in den frühen dreißiger Jahren durch seinen Göttinger Studienfreund, den Amerikaner John Lothrop Motley138, bekannt wurde, in diesem ersten Jahr der Korrespondenz in Erscheinung treten, gegen ihre Ein138 Ein Liberaler, der sich seine Sympathie für Bismarck, allen politischen Wendungen zum Trotz, sein Leben lang bewahrte und den seltsamer aber bedenkenswerter Weise seine Freundschaft mit Bismarck auf die prinzipielle Demokratiefähigkeit Deutschlands vertrauen ließ. (Vgl. The correspondance of John Lothrop Motley, hg. v. G. W. Curtis, 2 Bde., New York (Harper and Brothers) 1989, bes. Bd. 2, Brief an seine Frau aus Varzin vom 25. 6. 1872, S. 340–343, sowie Brief an Dr. O. W. Holmes vom 17. August 1872, S. 350–352.) Motley hat in seinem Roman Morton’s Hope, or the Memoirs of a Provincial (2 Bde. New York (Harper) 1839, Bd. 1, S. 125–127) in Gestalt des Otto von Rabenmark ein phantastisch überzogenes, zwischen Murgerschem Bohe`mien und Cooperschem Squatter changierendes Portrait des Jugendfreundes gegeben. Umgekehrt spricht auch Bismarck den Freund in seinen Briefen als eine Fusion aus Natty Bumppo und Chingachgook an: „zur Genugthuung für deine heimliche Flucht über See solltest du uns die Freude machen, alle Tinte, Häusemiethen und Engländer auf einige Zeit aus deinem Sinne zu verbannen, und dein Wigwam in die pommerschen Wälder verlegen.“ (aus Varzin am 7. August 1869, The correspondance of John Lothrop Motley, Bd. 2 (a. a. O.), S. 309. Emil Ludwigs – wie immer von einer virilistisch-vitalistischen Ideologie geprägtes – Urteil über Motley: „das ist im Getümmel böser oder beschränkter Menschen ein Mann, auf den man bauen kann: das ist Bismarcks Freund. [. . . ] Hier ist die einzige Hingabe seines Herzens. Denn auch Frau und Kinder liebt er mit der Eifersucht des Besitzers; diesen Amerikaner liebt Bismarck ohne Zweck und Gründe, und da er ihn mit 17 Jahren ausgesucht und unter so vielen beinah allein über zwei Menschenalter hinweg sich erhalten hat, so muß seine Gestalt ihm etwas Ersehntes bedeuten oder doch ersetzen, – wie Zelter für Goethe – das, was er unter Frauen nur in seiner Schwester sah: den harmonischen Menschen, der doch nicht simpel, den heiteren, der doch erfahren ist und ernst. Nicht zufällig findet dieser deutsche Charakter den Freund in einer jüngeren Welt.“ (Ludwig: Bismarck (a. a. O.), S. 360–362.)

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wände verteidigt werden. Und nicht als Gespenst aus der Vergangenheit, sondern auch als trotzig Johannas religiösem Quietismus entgegengehaltene Maske des Aufruhrs, als Verteidigung eines anderen Ich, als ein Bewahrenwollen eines anderen Teils seiner selbst, der in diese Ehe und ihre Beruhigung trotz allem offenbar hinübergerettet werden soll. Es ist das in den Anfang von Childe Harolds Pilgrimage eingestellte Lied To Inez, das Bismarck seinem Brief vom 1. Februar beilegt (hier in der Schreibweise Bismarcks wiedergegeben). To Inez: 1. Nay, smile not at my sullen brow allas! I cannot smile again yet Heaven avert that ever thou Shouldst weep and haply weep in vain. – and doest thou ask what secret woe I bear, corroding joy and youth? and wilt thou vainly seek to know a pang even thou must fail to soothe? – it is not love it is not hate, nor low ambitions honours lost, that bids me loathe my present state, And fly from all I prized the most: – it is that weariness which springs from all I meet or hear or see: to me no pleasure beauty brings thine eyes have scarce a charm for me – it is that settled ceaseless gloom the fabled Hebrew wanderer bore that will not look beyond the tombe, but cannot hope for rest before. – what exile from himself can flee? to zones though more and more remote, still, still pursues, where‘er I be, the blight of life – the demon Thought. yet others rapt in pleasures seem and taste of all that I forsake;

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oh, may they still of transport dream, and ne‘er at least like me, awake! through many a clime ,tis mine to go, with many a retrospection curst; and all my solace is to know whate‘er betides, I‘ve known the worst. what is that worst? nay do not ask, in pity from the search forbear: smile on – nor venture to unmask man’s heart, and view the hell that’s there.139

In diesem Gedicht versammelt sich alles, was um die Jahrhundertmitte zur byronschen Seelenverfassung gehört. Die weariness, der Überdruss, Weltekel stellt das Grundgefühl der von dem englischen Romantiker entzündeten Weltschmerzdichtung dar, der sich in Deutschland wie in Frankreich eine ganze Generation von Literaten hingibt. Childe Harolds Abschiedslied an die Geliebte, das ein Abschied von der Liebe überhaupt ist, vom Glauben an die sinnstiftende Kraft der Liebe, ist ein reichlich merkwürdiges Brautgeschenk. Selbst wenn man, wie Waltraut Engelberg, die hochpathetische Geste des „Now never any more“140 beim Wort nimmt, mit der den Byronschen Stimmungen entsagt und der frühere Bismarck auf dem Altar der neuen Verbindung zum Opfer gebracht werden soll. Engelberg hält am Bild des heiter-optimistisch ins Leben blickenden Bismarck fest. Nur so scheint er ihr vereinbar mit dem politischen Akteur, dem Tatmenschen. Daraus ergibt sich für sie dann der logische Schluss, dass die Rollenverteilung in dieser Beziehung entsprechend den beiden Temperamenten die eines Menschenerziehers zu seinem schwärmerischen, melancholischen und überfrommen Patienten ist. Aber warum schickt er ihr dann immer wieder solche Gedichte? Warum geht er das Risiko ein, ihr die äußerst missverständliche Zeile „Deine Augen haben kaum noch einen Zauber für mich“ zu schicken? Und warum fordert er in einem späteren Brief ausdrücklich das Recht auf derartige weltverwerfende Stimmungen ein? Offenbar stellt dieses Byron-Gedicht im ersten 139 Bismarck: Briefe an seine Braut und Gattin, S. 12, korrigiert nach: Otto-vonBismarck-Stiftung, NL Otto von Bismarck A1, fiche 1, fol. 37. Vgl. George Gordon Noe¨l Byron: Childe Harold’s Pilgrimage, Canto I, zwischen 84. und 85. Stanze, in: Lord Byron: The Complete Poetical Works. Hg. v. Jerome J. McGann. 6 Bde. Oxford (Clarendon) 1980–1991. Bd. 2, S. 39f. 140 Bismarck: Briefe an seine Braut und Gattin (a. a. O.), S. 11, Werke in Auswahl (a. a. O.), Bd. 1, S. 73.

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langen Brief doch – auch wenn es halb geleugnet wird – ein Bekenntnis dar. Das „Nie sollst du mich befragen.. .“ am Schluss des Gedichts ist dabei zugleich eben auch nachdrücklicher Hinweis auf den unausgesprochenen Schmerz, die unaussprechliche Hölle, die im Innern getragen wird. Ein undiplomatischer Drang zur Offenbarung, der zugleich immer nur Verweis, raunende Andeutung bleibt, zeigt sich hier, der Literatur als Möglichkeit der Spiegelung des eigenen Ich zugleich völlig ernst nimmt und als Spiel begreift. „Bedenke doch, dass nicht ich, sondern Byron [diese Gedichte] gemacht hat“141, schreibt er ihr später – um dann im folgenden Absatz dessen Haltung wieder auch für sich selbst in Anspruch zu nehmen. Der abschließende rappel a` l‘ordre „Smile on“ umfasst die gesamte Spanne des Widerspruchs von Herzenshölle und lächelnder Maske der hier von Byron als lebensbestimmender Dualismus programmatisch zum Credo gesetzt wird. Peter Gay hat in seiner kulturgeschichtlichen Untersuchung zur Liebe im bürgerlichen Zeitalter142, das Motiv der „Verdrängung“ zum Drehpunkt derselben erklärt und damit deutlich gemacht, wie der Dualismus von unaussprechlichem, dämonischem „Innern“ und gefasstem, entsagendem „Äußeren“, wie er am eindrücklichsten vielleicht in der zum Paradigma gewordenen Gestalt von Stevensons Doctor Jekyll zum Ausdruck kommt, zum fast trivial-selbstverständlichen Ausgangspunkt des Liebesdiskurses wurde und inwiefern Kunst und Literatur als Möglichkeiten des kokettierenden Umgangs mit den zu verdrängenden Dämonen eine heute unvorstellbar große Bedeutung gewannen. Emil Ludwig, selbst ein von „Genie und Charakter“143 Byrons nicht unbeeindruckter Autor, der Bismarck in seiner Biographie von 1924 als diktatorischen Kraftmenschen schildert, das Stürmerund-Dränger-hafte seines Charakters akzentuiert und im Amoralismus, dem antibürgerlichen bohe`mehaften Aristokratismus und bedingungslosen Egoismus durchaus bewundernd die Antriebskräfte dieses jenseits von Gut und Böse operierenden „großen Mannes“ sieht, wundert sich – rhetorisch – warum dieser innerlich so völlig frei erscheinende Bismarck unter derartigen Voraussetzungen zugleich bei seinem ersten Antreten im Parlament zum Vertreter der 141 Am 25. Februar 1847 in: Briefe an seine Braut und Gattin (a. a. O.), S. 53. 142 Peter Gay: Die zarte Leidenschaft (a. a. O.), S. 330–393. 143 Vgl. Emil Ludwig: Genie und Charakter: zwanzig männliche Bildnisse. Berlin (Rowohlt) 1924.

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reaktionärsten Ansichten werden konnte, der sich, in Parteitreue zu den pommerschen Pietisten sogar gegen seinen König stellen konnte, etwa gegen die Emanzipation der Juden sprach und sich dabei sogar auf die niedrigsten Vorurteile berufen konnte144 (wogegen Ludwig, der jüdischer Herkunft war, sich besonders allergisch zeigen musste). Die Fähigkeit, Widersprüche auszuhalten und zu produzieren, sich in Briefen an Johanna über den Pietismus lustig zu machen und vor dem Parlament die Positionen seiner pietistischen Parteifreunde zu vertreten, ist es laut Ludwig gerade, die Bismarck zum Politiker mache: „denn nachdem er noch ein Jahr vorher gegen den Präsidenten von Gerlach die Trennung von Staat und Kirche verteidigt hatte, gefiel es ihm jetzt, dieser Pietistengruppe zu gefallen. Das alles trug sich keineswegs jesuitisch zu, nur halb bewußt vollzog er die Annäherung seiner Überzeugungen und Zwecke, bis sie sich, gleich Liebenden, die nacheinander suchen, ganz unbefangen trafen. Darum war Bismarck ein Staatsmann.“145 Ludwig nennt das Realismus. Realpolitik ist der Begriff, der sich an die historische Gestalt Bismarcks geknüpft hat. Zeitalter des Realismus wird seine Epoche genannt.146 Die Abgründe unter der spiegelglatten Oberfläche dieses „Realismus“ werden erahnbar aus den Briefen an Johanna und aus Bismarcks Ausführungen zu Byron. Johanna zeigt sich in der Antwort auf den oben zitierten Brief reichlich irritiert, verängstigt: Vielen Dank für die englischen Lieder, ach Otto, das eine ist ja aber todes elend, – solche Melancholie zum Sterben erschüttert mich zu sehr, ich kann’s garnicht vergessen. – „thine eyes have scarce a charm for me!“ Bitte, bitte vergifte Dich doch nicht an solchen furchtbar traurigen Bil144 Ludwig: Bismarck (a. a. O.), S. 93f. 145 Ludwig: Bismarck (a. a. O.), S. 94. 146 Zu den in einem sich ergänzenden Gegensatzverhältnis stehenden Begriffen der „Realpolitik“ und des literarischem Realismus vgl. Gerhard Plumpe: Einleitung, in: Theorie des bürgerlichen Realismus. Eine Textsammlung, hg. v. Gerhard Plumpe, Stuttgart (Reclam) 1985, S. 9–40, hier: S. 15f.: „Überspitzt formuliert: Der literarische Realismus war die Kompensation des politischen Realismus; denn der Literatur wurde zugemutet, gerade angesichts einer als ,undurchsichtig‘, ,abstrakt‘ oder ,diffus‘erfahrenen Lebenswirklichkeit die Möglichkeit einer harmonischen und in der Realität wiedererkennbaren Ordnung zu vergegenwärtigen.“ – Nichts anderes formuliert Bismarck, vor allem nach der Eheschließung, in seinen Briefen an Johanna, wenn er das Schreiben an Johanna explizit gegen die Sphäre der Politik setzt, wie sich im Verfolg dieser Darstellung noch zeigen wird.

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dern –, ach denke Dir wie abscheulich von mir, daß mich dies Lied eben in seiner Verzweiflung [Einschub: so] anzieht, – daß ich’s wohl bald auswendig wißen werde. – Aber ich will nicht und Du sollst es auch nicht mehr lesen, – lieber theurer Freund! -147

Puttkamer ist sich der dämonischen Kraft des Gedichts bewusst und wehrt es daher ab. Bismarck hingegen tut so, als könne das Zitieren ihm nichts anhaben, als sei ein derartiges Zitat eine bloße Dokumentation: Die todeselenden englischen Gedichte fechten mich jetzt nicht mehr an, das war sonst, als ich kalt und starr ins Nichts blickte, Schneegestöber im Herzen. Jetzt spielt eine schwarze Katze im Sonnenschein damit, wie mit einem rollenden Knäuel, und ich sehe sein Rollen gern; am Schluß will ich Dir noch einige Verse aus jener Zeit geben, von denen sich noch fragmentarische Abschriften wie ich sehe in meiner Schreibmappe erhalten haben. Du kannst mir immer gestatten sie zu lesen, sie schaden mir nicht mehr. Thine eyes have still (and will always have) a charm for me.148

In ihrem Antwortbrief, den eine melancholische Winterstimmung durchzieht („Weißt Du, Otto, was ich glaube? Es wird wohl immer so beibleiben, Schnee und Frost – [.. .] bis zum 11. April, wo der majestätische König Euch alle zum vereinigten Landtag berufen will, – in Schönhausen thaut es dafür unablässig und ich spiele [korrigiert aus: singe]: ,s‘ist nicht der Schnee u Sturm u Graus, doch immer kommen Thränen mir in’s Aug‘, denk‘ ich an ihn, der weit hinaus! –“)149, bekennt sie sich ausführlicher, beinahe erschrocken, ebenfalls zu der Faszination, die die weltschmerzvollen Lieder eines Byron oder Moore auf sie haben: die englischen Verse sind wieder recht schlimm, aber lies sie nur, ich habe keine Angst mehr, – wenn ich nur begriffe, warum [Einschub: sie] mir gefallen. Wenn mein Herz heiter u gesund ist, wie kann ich dann Geschmack an solchen Zerrissenheiten finden? – Früher verstand u liebte ich nichts der Art, ich las es ohne den geringsten Eindruck, und ergötzte mich nur an solchen recht heiteren unschuldigen Frühlingsliedern, wie die Lerche singt, und Annchen; – jetzt laßen mich die gewöhnlich ganz kalt, und ich greife nur noch nach den anderen, die mich durch und durch traurig machen und [Einschub: worin ich] vollkommen Einklang finde. -150 147 Brief vom 4. oder 5. Februar 1847, in Die Brautbriefe der Fürstin Johanna von Bismarck (a. a. O.), S. 27 (korrigiert nach NL Johanna von Bismarck, C1, fiche 1, fol. 10). 148 Brief vom 7. Februar 1847, in: Briefe an seine Braut und Gattin (a. a. O.), S. 17. Es sind Verse aus Thomas Moores Lalla Rookh und die berühmten nihilistischen Verse aus Macbeth V/5, die er dem Brief beilegt. 149 Brief vom 12. Februar 1847, in: Brautbriefe, S. 30 (NL Johanna von Bismarck, C1, fiche 1, fol. 12f.). Das Zitat stammt aus Mendelssohn-Bartholdys Lied: Wie kann ich froh und lustig sein (Text von Johann Philipp Kaufmann).

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Es folgen Verse aus All that’s bright must fade von Thomas Moore: All that’s sweet was made – but to be lost – when sweetest – All that’s bright must fade The brightest still the fleetest. – – Elisabeth Mittelstädt schrieb mir vorigen Sonntag; ein köstlicher Brief, recht für mich – sie erging sich in D moll und F moll – und schickt Dir einen herzhaften Händedruck. – Aber was schwatze ich hier ohne Ende – ich glaube, ich bin krank, Otto, wenigstens in einer unausstehlichen Stimmung – ich bedarf nur eines ganz kleinen Stoßes, um reichlich Thränen zu vergießen; und so magst Du mich doch garnicht; ach vergieb mir, Du Einziger, – Du hättest wohl einen beßeren Brief verdient für Deinen geliebten, – aber ich konnte heute nicht anders, es läßt sich auch alles nicht sagen, was mich schmerzlich bewegt. Habe nur Geduld mit mir und warte auf den Frühling u Deine Pflege – ich hoffe Dich doch noch mit einigen grünen u rothen Blättern zu erfreuen.-151

In der Antwort auf diesen Brief, in der er sie zunächst wegen ihres geäußerten Misstrauens in seine Treue rügt, liefert Bismarck dann eine regelrechte Poetik des Verzweiflungsvollen, bei der er ganz und gar in Byronschen Kategorien argumentiert: Wenn Du jetzt traurige Dichtungen, Lenau etc., liebst, so sehe ich darin nicht sowohl eine Umwandlung Deiner ehemals heitern Stimmung, noch weniger einen Widerspruch mit der Gesundheit Deines Herzens, sondern einen Fortschritt in der Empfänglichkeit für, und im Verständnis der Poesie. Unschuldige Frühlingslieder sind die Dichtung der Kindheit und der Zwölfjährigkeit, Lerchen und Lämmer. Tief in der menschlichen Natur, ich möchte sagen in der unbewußten Erkenntniß des irdischen Elends und Jammers, und der unklaren aber mächtigen Sehnsucht nach bessern edlern Zuständen, liegt es wohl, daß, bei nicht ganz leichtfertigen oberflächlichen Menschen das Hervorheben der Zerrissenheit, der Nichtigkeit, des Schmerzes, die unser hiesiges Leben beherrschen, mehr Anklang findet, als eine Berührung der minder mächtigen Elemente, welche die leicht welkende Blume ungetrübter Heiterkeit, deren heimischer Boden nur die Kindheit ist, in uns vorübergehend hervortreiben. Jeder an Verstand und Herz gebildete Mensch wird von allem was Trauerspiel in Bühne und Wirklichkeit ist, auf eine Weise ergriffen und bewegt, die das idyllen- und lustspielartige, in der vollkommensten Form, nie erreichen kann. Auf dem Boden der Heiterkeit (im höhern Sinne) und Zufriedenheit erhaben zu sein, giebt den Begriff der Majestät, des Göttlichen, das der Mensch nur in seltnen bevorzugten Zeiten und Gestalten schwach widerstrahlt. Das irdisch Imponierende und Ergreifende, was mit menschlichen Mitteln für gewöhnlich dargestellt werden kann, steht im150 Ebd., S. 33 (NL Johanna con Bismarck, C1, fiche 1, fol. 15). 151 Ebd., S. 33f. (NL Johanna von Bismarck, C1, fiche 1, fol. 15f.).

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mer in Verwandtschaft mit dem gefallnen Engel, der schön ist, aber ohne Frieden, groß in seinen Plänen und Anstrengungen, aber ohne Gelingen, stolz und traurig. Darum kann das, was es außerhalb des Gebietes der Religion für uns Ergreifendes giebt, nicht heiter und zufrieden sein, sondern uns stets nur als Wegweiser dahin dienen, wo wir Frieden finden. Wenn Dein Sinn für die Poesie des Herbstes, des Reifs in der Maiennacht, und alles dessen, was im Menschen dahin gehört, empfänglicher geworden ist, so beweist das nur daß Du nicht mehr zwölfjährig bist. Ueber die Kinder, äußre und innre, wie über die kleinen Bäume im Walde, geht der Sturm hinweg, der in den Kronen der alten braust und sie beugt und bricht; wenn sie größer werden, wachsen sie in die Sturmschichte hinein, und ihre Wurzeln müssen kräftiger werden, wenn sie nicht untergehn wollen. [. . . ] Wenn Bäume im Sturme Risse erleiden, so quillt das Harz wie lindernde Thränen aus ihnen, und heilt; wenn sie aber gegen derlei Risse nicht Schutz in eigener Festigkeit, sondern immer wieder das Heilmittel der Harzthräne (welcher zufällige Doppelsinn) suchen, so erschöpfen sie den Quell und trocknen aus. Worte, Worte, Worte wirst Du sagen.152

Spätestens hier zeigt sich, dass es mit Byrons negativer Haltung längst nicht vorbei ist für ihn. Ganz im Sinne von dessen Cain werden die Unzufriedenheit und das Aufbegehren, die Sehnsucht nach dem verweigerten Paradies über das unhinterfragte Annehmen des göttlichen Willens durch Abel gestellt, die Selbstzufriedenheit in Gott. Diese von vornherein zum Scheitern verurteilte Haltung wird als Herausforderung der Religion neben diese gestellt. Ihren Glauben und vor allem ihren pietistischen „Quietismus“153, wie er das nennt, attackiert er auch später immer wieder, in diesen Tagen aber besonders heftig. Und insbesondere in dem Brief vom 17. Februar, aus dem ich soeben zitiert habe. Er steckt voller ironischer und blasphemischer Sticheleien: „A propos von dem d[evil], ich kann in der Bibel keine Stelle finden, wo es verboten wäre den Namen des Teufels zu mißbrauchen; weißt Du eine, so sage sie mir.“154 Er erklärt ihr, dass er es in Anbetracht der ihn umgebenden Armut für unsittlich hielte, viel Geld für eine kurze Reise zu ihr auszugeben155, zitiert ein atheistisches Gedicht von Be´ranger, hängt zum Ausgleich zwar ein hoffnungsvolles von Chatterton an, nicht ohne jedoch anzumerken, dass dieser Dichter mit 18 Jahren in Kummer und Elend 152 Bismarck am 17. Februar 1847, in: Briefe an seine Braut und Gattin, S. 34–36, vgl. Werke in Auswahl 1, S. 86. 153 Bismarck am 28. Februar 1847. Ebd., S. 56. 154 Ebd., S. 36. 155 Ebd., S. 37–38.

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wahrscheinlich an Gift starb.156 Zum Schluss folgt noch – und das ist vielleicht die größte Blasphemie – ganz unvermittelt das Vaterunser auf Italienisch mit dem Nachsatz: „Was heißt das? Sehr melodisch.“157 Das ist keine Erziehung und Belehrung mehr, das ist reine Selbstbehauptung, Angriff als die beste Verteidigung. Merkwürdigerweise verteidigt er ihr gegenüber gerade das, wovon er durch sie geheilt zu werden hofft: seine Schwermut, seine religiöse Orientierungslosigkeit, seinen Fatalismus. Wenn man bedenkt, dass eineinhalb Monate zuvor der Brautwerbebrief an den Vater Johannas geschrieben wurde, in dem Otto sich als reuigen verlorenen Sohn darstellte, dann müsste dieser Brief als Rückschritt erscheinen. Die Widersprüchlichkeit seines Handelns und Verhaltens in dieser und in vielen anderen Fragen ist es aber gerade, die er mit seinen Ausführungen und Attacken in diesem Brief verteidigt. Worum es über die Frage der Selbstbehauptung hinaus noch geht, verrät die merkwürdige Anspielung auf die Harzträne: hinter der Auseinandersetzung um tragisch-heroische und weinerliche Haltung steht immer noch die Trauer um die tote Marie von Blanckenburg. Denn in Johannas Neigung, sich der Schwermut hinzugeben, schwingt einiger Schmerz um Marie mit. Sowohl er als auch sie haben in Marie eine geliebte Person verloren: „Früher [gestrichen: hatte] wusste ich ein Herz zu finden, welches jeden Pulsschlag des meinigen mitfühlte, und jede schmerzvolle u heitere Regung kannte, zu dem flüchtete ich zu jeder Zeit, und wurde nie abgewiesen.“ Schreibt sie am 18. Februar 1847158 und wirft ihm dabei indirekt vor, sie eben nicht zu verstehen. Und wie er nimmt sie alles im nächsten Brief zurück und erklärt, dass hinter seinen Vorwürfen der Tränenseligkeit und Schmerzlust Eifersucht auf Marie liege: Das merke Dir nur, und sei nie eifersüchtig auf Marie, – nie! Es ist gewiß unrecht von Dir, – laß‘ mir meinen Schmerz um sie, er schadet Dir nicht; und wenn ich bei Dir bin, vermisse ich sie nicht. – Wenn ich neulich von ihr schrieb, wie sie mich immer angenommen in allen Thorheiten und Unarten, immer mit derselben Liebe, so war ich in diesem Punkt noch nicht ganz klar über Dich – Otto, das heißt, [Einschub: ich war] nicht mißtrauisch, aber ich glaubte, Dir wäre die Molltonart in mir unlieb, weil Du mir ja immer die Augen mit Deiner lieben Hand bedeckst, wenn sie 156 Ebd., S. 39–40. 157 Ebd., S. 41. 158 Brautbriefe, S. 37, (NL Johanna von Bismarck, C1, fiche 1, fol. 18).

2.5 Byron – Literaturliebe als Zitierverfahren

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weinen wollten, – oder ich dachte, Du könntest mich mißverstehen, weil ich Dir in manchen Dingen noch fremd bin u Du mich [Einschub: noch] mehr kennen lernen mußt, um Dich an die vielen Verkehrtheiten zu gewöhnen!159

Missverstanden zu werden ist also die Angst auf beiden Seiten. Und beiden ist die Berufung auf Marie zugleich Verbindendes und Trennendes. In der immer wieder geäußerten Angst, Johanna durch den Tod zu verlieren, schwingt bei ihm auch der Schmerz über den Verlust Maries mit. In der Möglichkeit des Todes findet eine Überblendung der beiden Frauen statt, die durchaus makabre Züge hat. Besonders eindrucksvoll zeigt sich das am letzten Byron-Gedicht, das Bismarck in einem seiner Briefe mitschickt, an den Stanzas to Augusta, die er – mit einigen beredten Auslassungen – einem Brief vom 14. März 47 beilegt160, einem Brief, der insgesamt erfüllt ist von der Sorge um Johanna, die ihm seit einigen Tagen nicht geschrieben hat. Johanna, wenn Du jetzt krank werden wolltest, es wäre schrecklich über alle Beschreibung; bei dem Gedanken fühle ich recht wie innig ich Dich liebe, und wie innig verwachsen mir das Band ist welches uns zusammenhält. Ich verstehe, was Du zu sehr lieben nennst. Wenn ich an die Möglichkeit einer Trennung denke, und möglich bleibt sie doch, so einsam wäre ich noch nie gewesen, in meinem ganzen wüsten einsamen Leben. Was wäre Moritzens Lage dagegen, der ein Kind, einen Vater, eine Schwester, liebe nahe stehende Freunde in der Nähe hat. [. .. ] Es ist das erste Mal, daß ich ernsthaft der Möglichkeit ins Auge sehe, daß Du mir genommen werden könntest, daß ich verutheilt sein könnte diese öden Räume zu bewohnen ohne Aussicht, daß Du sie mit mir theilen würdest, mit keiner Seele im weitesten Umkreise, die mir nicht so gleichgültig wäre als hätte ich sie nie gesehen. Ich würde zwar in mir nicht so leer an Trost sein wie in alten Zeiten; aber ich würde auch etwas verloren haben, was ich früher nicht hatte, ein liebendes und geliebtes Herz, und nebenher von allem getrennt sein, was mir früher in Pommern durch Gewohnheit und Freundschaft das Leben leicht machte. Eine recht egoistische Gedankenreihe und Betrachtungsweise, die da zum Vorschein kommt, wirst Du sagen; allerdings, aber Schmerz und Furcht sind Egoisten, und in Fällen wie der angedeutete finde ich nie die Gestorbnen, sondern nur die Ueberlebenden zu bedauern. Aber wer spricht vom Sterben? Das Alles weil Du 8 Tage lang nicht geschrieben, und dann habe ich noch die Dreistigkeit Dir Vorhaltungen wegen trüber Ahnungen etc. zu machen!161

159 Brief vom 26. Februar 1847, Brautbriefe, S. 59f., (NL Johanna von Bismarck, C1, fiche 1, fol. 34). 160 Bismarck: Briefe an seine Braut und Gattin, S. 77f. 161 Ebd., S. 76.

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„L‘amour se nourrit de doutes, de craintes, d‘agitation“162, hatte es bei Se´nancour geheißen. Bismarck steigert an dieser Stelle erstmalig (er wird es noch häufiger tun) sein Lieben durch Verlustangst zu neuen Graden der Intensität. Obwohl diese Initiierung einer Gedankenkette der Furcht als Medium der Liebessteigerung ganz bestimmt nicht kalkuliert eingesetzt wird, ist dieses Verfahren ein in den Briefwechseln des späten 19. Jahrhunderts auffällig häufiges. Hier feiert sich die Briefliebe als Imaginationskunst und man kann diese Praxis im Sinne Deleuzes (vielleicht nicht im Sinne der Psychoanalyse) durchaus eine masochistische nennen. Wollüstig überlässt sich der Schreiber dem Fluss der schrecklichen Bilder, der „egoistischen Gedankenreihe“, die die Vorstellung des Todes der Geliebten auslöst. Diese Vorstellung findet sich hier wie selbstverständlich sofort auch mit der Erinnerung an den Tod von Marie von Blankenburg überblendet, indem der Vergleich zu deren Witwer Moritz aufgerufen wird, den man in der Fantasie jetzt im Leid gewissermaßen übertrumpft. So stellt diese larmoyante Briefpassage einen adäquaten Beleg für das dar, was Elisabeth Bronfen als Ausdruck einer für das neunzehnte Jahrhundert typischen Sakralisierung des Weiblichen und weiblicher Schönheit durch den Tod beschrieben hat. Im Zusammenhang mit Poes Philosophy of Composition heißt es bei ihr hierzu: So ist es nur logisch, daß Schönheit für Poe ihren erhabenen Ausdruck in der melancholischen Stimmung findet und daß „ein Liebender, der seine verstorbene Geliebte beklagt“, am besten geeignet ist, dieses „poetischste aller Themen“ auszusprechen.163 Denn Melancholie ist, Freud zufolge, mißlungene Trauer; die Unfähigkeit, den Tod eines begehrten Objekts zu akzeptieren. Melancholie ist gekennzeichnet durch eine Verneinung des Verlusts, die auf die anfängliche Anerkennung dieses Verlusts folgt und dessen unaufhörliche Artikulation hervorruft. Sarah Kofman wiederum behauptet, daß alle wirksame Kunst das Werk von Melancholie sei, gerade weil sie eine so doppeldeutige Stellung gegenüber dem Verlust einnimmt.164 [Hier ist auch wichtig Bronfens Fußnote: Einer der wichtigsten Aspekte neueren Denkens ist, daß es sich theoretisch, und nicht nur thematisch, mit der Frage der Darstellung oder Figuration des Todes befaßt, 162 Se´nancour: De L‘Amour (a. a. O.) S. 24. 163 Edgar Allen Poe: The Philosophy of Composition, in: Essays and Reviews. New York: Library of America 1984, S. 19. 164 Sarah Kofman: Melancholie de l‘art. Paris (Galile´e) 1985 (deutsch als Melancholie der Kunst. Wien 1986). Bronfen verweist in ihrem Nachweis auch auf Mieke Bals Besprechung dieses Buches: Force and Meaning. the interdisciplinary struggle of psychoanalyses, semiotics, and aesthetics, in: Semiotica 63 (1987), S. 317–344.

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und dabei den zwingenden Zusammenhang zwischen Schrift und Verlust hervorhebt. Ein typischer Vertreter dieses theoretischen Standpunkts, M. de Certeau, 1975165, ist der Auffassung, daß am Anfang der Schrift ein Verlust steht, und daß die Schrift diesen Mangel mit jedem ihrer Grapheme wiederholt. Sie beschwört eine Abwesenheit, die ihre Voraussetzung und ihr Ziel ist.] Die Erschaffung von Schönheit erlaubt, sich der Vergänglichkeit dieser materiellen Welt zu entziehen, Zuflucht zu nehmen bei einer Illusion von Ewigkeit (Leugnung des Verlusts), auch wenn sie die Erkenntnis aufzwingt, daß Schönheit selbst vergänglich, unfaßbar und flüchtig ist. Weil Kunst aufgrund eben dieser Vergänglichkeit geschaffen wird, die sie zu tilgen trachtet, tut sie eigentlich nichts anderes, als Schönheit zu betrauern und dabei sich selbst zu betrauern. Der selbstreflexive Aspekt, der die Wirkung von Kunst bedingt, wird noch verstärkt durch die Tatsache, daß Kunst in ihrer Abhängigkeit vom Verlust ein Mehr an Bedeutung darstellt. Da sie ein abwesendes Objekt ersetzt oder verdoppelt, repräsentiert sie etwas, das ist und nicht ist, während zugleich die schöne Gestalt ewig und nicht ewig ist.166

In diesem Zitat aus Bronfens für die ästhetischen Strategien des neunzehnten Jahrhunderts aufschlussreichem Buch zeigt sich Todes-Schönheits-Kult als Konsequenz aus der Profanierung der Liebe und der Schönheit, die in der Einleitung als Kernpunkt der Stendhalschen Liebeskonzeption dargestellt wurde. Die Umdeutung der Liebe von einer transzendenten Instanz zu einer imaginationsgenerierten Reaktion löst Affekte der Re-Sakralisierung aus, motiviert zur Wiederverklärung. Wie dargestellt wurde, liegt es nach Stendhal bei der ständig zu reizenden Imagination, die Liebe dauerhaft zu machen. Die Trauer um den Tod der Geliebten (aber auch die Klage um vergebliche und unerfüllte Liebe) erscheint als Modus einer solchen Imaginationsarbeit. Wie der – im nächsten Kapitel zu verhandelnde – Masochismus bildet der TodesSchönheitskult gewissermaßen den Bilderüberfluss einer von dieser weltkonstituierenden Aufgabe zu dauernder Aktivität genötigten Imagination ab. Noch einmal zeigt sich auch der enge Zusammenhang, der zwischen dem Kult der Melancholie, den Schönheitskonzepten, der überhöhenden Entfernung der Gegenstände und Bilder besteht, und den in der Einleitung beschriebenen Verfahren der Imaginations- und Fernliebe sowie der Bedeutung, die dem Brief in diesem Ganzen dabei zukommt. Während sich darüber hinaus in 165 Michel de Certeau: Das Schreiben der Geschichte (L‘E´criture de l‘Histoire dt.) Frankfurt am Main (Campus) 1991. 166 Elisabeth Bronfen: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik. Übers. v. Thomas Lidquist. München (dtv) 1996, S. 97.

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Bronfens Zitierung Freuds in diesem Zusammenhang auch andeutet, wie sehr dessen Psychoanalyse ein Versuch der Überwindung dieser ganz auf unauflösbaren Dualismen aufgebauten Ästhetik des neunzehnten Jahrhunderts ist, für die gerade der Brief eben auch einen Raum bildet, sich als Medium in seiner Funktion gänzlich deckt mit dem, was hier über Kunst allgemein gesagt wird, wird Bismarcks Dilemma der beständigen Beschwörung und Abwehr des Vergangenen, die als dunkler Hintergrund der Feier des Gegenwärtigen immer mit dieser Gegenwart mitläuft, als paradigmatische und typische Briefsituation lesbar. Die Bilder der Leere und der öden Räume, die Bismarck in Zusammenhang mit Schilderungen des Gefühls des Verlassenseins in seinen Briefen häufiger aufruft, treffen sich auffällig mit den Bildern des Byronschen Gedichts, teilweise solchen, die Bismarck in seiner Abschrift auslässt. So stellen die Stanzas mehr dar als nur eine poetisch überhöhte Illustration des bereits Gesagten, sondern Brieftext und beigelegtes Gedicht ergänzen sich wechselseitig und gehören zusammen! Es ist nur folgerichtig, dass den Stanzas ein – ebenfalls von Byron stammendes – Epitaph angeschlossen wird, das mit den Worten beginnt: „I heard thy fate without a tear“. Nach allen Auseinandersetzungen um „scarce a charm“ wäre dies als Gruß an eine Kranke doch wieder reichlich ungeschickt, würde man nicht die Überblendung mit Marie von Thadden in Rechnung stellen, durch die die Klage um die Tote und die Angst um die Lebende ineinander übergehen. So kann in einer Art Translatio die Funktion der Halt- und Ratgeberin, die durch ihren Tod gewissermaßen zum unveränderlichen Idol, zum „ever fixed mark“167 (auch bei Byron scheint das 167 Let me not to the marriage of true minds Admit impediments. Love is not love Which alters when it alteration finds, Or bends with the remover to remove: O no! it is an ever-fixed mark That looks on tempests and is never shaken; It is the star to every wandering bark, Whose worth’s unknown, although his height be taken. Love’s not Time’s fool, though rosy lips and cheeks Within his bending sickle’s compass come: Love alters not with his brief hours and weeks, But bears it out even to the edge of doom. If this be error and upon me proved, I never writ, nor no man ever loved. (Shakespeare, Sonnet 116).

2.5 Byron – Literaturliebe als Zitierverfahren

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Bild bereits aus Petrarca, Dante und Shakespeares 116. Sonett zusammengesetzt) wird, von Marie auf Johanna übertragen werden. (Im Folgenden werden die von Bismarck nicht übernommenen Passagen in eckigen Klammern wiedergegeben. Abschreibefehler Bismarcks werden nicht korrigiert. Hinzuweisen wäre evtl. auf Vers 6, in dem aus Byrons „internal strife“ ein „infernal strife“ wird, was einigermaßen aufschlussreich über Bismarcks spektakuläre Vorstellung von Byron sein könnte.) When all around grew drear and dark And reason half withheld her ray And hope but shed a dying spark, Which more misled my lonely way; In that deep midnight of the mind, And that inf[t]ernal strife of heart – [When dreading to be deem‘d too kind, The weak despair – the cold depart;] When fortune changed – and love fled far, And hatreds shafts flew thick and fast Thou wert the solitary star Which rose and set not to the last. Oh blest be thine unbroken light That watched me as a seraphs eye, And stood between me and the night For ever shining sweetly nigh. [And when the cloud upon us came, Which strove to blacken o‘er thy ray – Then purer spread its gentle flame, And dash‘d the darkness all away.] Still may thy spirit dwell on mine, And teach it what to brave or brook, There’s more in one soft word of thine Than in the worlds defied rebuke. Thou stoodst, as stands a lovely tree That still unbroke, though gently bent, Still waves with fond fidelity Its boughs above a monument. The winds may rend, the skies might pour, But there thou wert, and still wouldst be Devoted in the stormiest hour To shed thy weeping leaves o‘er me. [But thou and thine shall know no blight, Whatever fate on me may fall; For heaven in sunshine will requite

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The kind – and thee the most of all. Then let the ties of baffled love Be broken – thine will never break; Thy heart can feel – but will not move; Thy soul, though soft, will never shake. And these, when all was lost beside, Were found and still are fix‘d in thee; – And bearing still a breast so tried, Earth is no desert – ev‘n to me.]168 ––––––––– I heard thy fate without a tear, Thy loss with scarce a sigh And yet thou wert surpassing dear – Too loved of all to die. I know not what has seared mine eye: The tears refuse to start; But every drop its lids deny Falls dreary on my heart. Yes, deep and heavy, one by one They sink and turn to care As cavern‘d waters wear the stone (Bielshöhle! Yet, dropping, harden there. They cannot petrify more fast Than feelings sunk remain, Which, coldly, fix‘d, regard the past, But never melt again.169 All nonense!170

Bismarcks Kürzungen an den Stanzas verraten, dass er bemüht ist, das Gedicht deutlicher als das Zeugnis eines in Bezug auf ihn vergangenen Zustands erscheinen zu lassen. Diejenigen Passagen, die den Fixpunkt und Halt zum Thema haben, den die Geliebte dem Liebenden bietet, stehen in Bismarcks Strichfassung allein da. Weggelassen wird alles, was in Byrons Gedicht auf eine Verunsicherung dieser Liebe verweist, wo der Liebende fürchtet, für zu liebenswürdig gehalten zu werden, wo von Hoffnungslosigkeit und einem „kalten Abschied“ die Rede ist oder von Wolken, die über diese Liebe hinweggegangen seien, aus deren Dunkelheit die Liebe zwar 168 Byron: To [Augusta], in: The Complete Poetical Works. Hg. v. Jerome J. McGann. 6 Bde. Oxford (Clarendon) 1980–1991, Bd. 3 (1981), S. 386–388. 169 Byron: Stanzas [On the Death of the Duke of Dorset]. Ebd., S. 286. 170 Bismarck: Brief vom 14. März 1847, in: Briefe an seine Braut und Gattin, S. 77f.; Werke in Auswahl 1, S. 124f. (korrigiert nach NL Otto von Bismarck, A1, fiche 2, fol. 81).

2.5 Byron – Literaturliebe als Zitierverfahren

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strahlender hervorging, die nichtsdestoweniger aber eine Bewährprobe darstellten. Gestrichen werden aber auch die drei Schlussstrophen (Bismarck übernimmt die Einteilung der Vorlage in vierzeilige Strophen nicht), wo das Gedicht sich aufschwingt zu einer Hymne auf die Constantia der Geliebten und Himmel und Erde zu einem petrarkistischen Bild zusammengeführt werden, einer großen überzeitlichen Sinnstiftung durch die Liebe. Vielleicht, weil dieser abstrakte und in gewisser Weise traditionelle Schluss Bismarck, der an Byron vor allem die wildbewegten Naturbilder schätzt, nicht zusagt. Vor allem aber wahrscheinlich, um als einen effektvollen Schluss das Bild der Geliebten als Baum zu setzen, dessen Blätter im Sturm abgerissen und über dem Geliebten ausgestreut werden. Denn Metaphern von Baum und Blatt sind bereits Teil der Paarsprache, die in diesem Briefwechsel gestiftet wurde.171 So überblendet hier die Sprache des Gedichts, die Sprache Byrons die Sprache des korrespondierenden Paares und verleiht dieser, indem sie eine private Metapher bestätigt, eine höhere Gültigkeit. Anders als in Byrons Gedicht aber, wo diese Gültigkeit und Dauer eine durch Krisen errungene ist, beschränkt sich das Krisenhafte in Bismarcks Fassung auf den Zustand des Geliebten, wie er zu Beginn dargestellt wird. Durch die Streichung der beiden letzten Zeilen der zweiten Strophe (Vers 7 und 8) wird dieser Zustand dabei auf eine Zeit, die vor der Begegnung mit der Geliebten lag, reduziert. Wo Byrons Gedicht eine durch die Beständigkeit der Geliebten überwundene Krise thematisiert, die sich auch als Krise im Verhältnis zur Geliebten lesen lässt, kappt Bismarck diese Deutungsmöglichkeit durch 171 Vgl. z. B. „aber wie kann man mich ,frisch‘ nennen, ich denke, ich bin solch altes welkes Herbstblatt, von dem alles Grün gewichen ist, ich war vielleicht einmal eine Gluth-Amaranthe [die Amaranthe, die unvergängliche Blume Tausendschön, wird besonders in barocker Liebesdichtung häufiger aufgerufen; die typisch romantische Begriffsverbindung „Glut-Amaranthe“ (vgl. „Wald-Einsamkeit“) stammt aus Brentanos Version des Aerndtelieds„Es ist ein Schnitter, der heißt Tod“ im Tagebuch der Ahnfrau (Gesammelte Schriften, Frankfurt am Main (Sauerländer) 1852, Bd. 4, S. 156:„Ihr Blutes-Verwandten / Ihr Glut-Amaranthen, ], die nun aber so blaß ist . . . “ (4. oder 5. 2. 1847, Brautbriefe, S. 26, NL Johanna von Bismarck, C1, fiche 1, fol. 9), „ich hoffe Dich doch mit einigen grünen u rothen Blättern zu erfreuen!–“ (12. 2. 1847, ebd., S. 34, C1, fiche 1, fol. 15) oder „Otto, nanntest Du mich nicht einmal Deine Blutsverwandte Gluth-Amaranthe? – oder ist’s zu anmaßend? – dann lösche es aus und denke an die kleine, unscheinbare, einsame Waldrose mit wenig Blättern und viel Dornen, vor denen Du Dich ja nicht scheuen willst,–“ (12. oder 19. 3. 1847, ebd., S. 93, C1, fiche 2, fol. 60f.). Die Baummetapher vor allem in seinem Brief vom 17. 2. 1847 (Briefe an seine Braut und Gattin, S. 35; Werke in Auswahl, Bd. 1, S. 87).

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seine Streichung ab. So wird in seiner Abschrift eine klare Trennung zwischen dem leidenden Zustand des Liebenden und der erlösenden Macht der Geliebten gezogen. Die seelische Mitternacht, die den Liebenden zu Beginn umfängt, wird als Geistesverfassung aus der Beziehung zur Geliebten hinausgeschoben. Das Verhältnis beider wird gewissermaßen petrifiziert zu einem stabilen Gegenüber. So merkwürdig es sein mag, dass im Anschluss an diese Hymne auf die Heil- und Lehrkraft der Geliebten das Trauergedicht auf den Duke of Dorset zitiert wird – in der Petrifizierung, die Bismarck in Bezug auf die Stanzas selbst vornimmt, indem er alle Akzente auf das Statische der Konstellation legt, und der versteinerten, ungeweinten Tränen als Hauptmotiv des zweiten Gedichts werden beide einander angenähert. Dem Blätter tröstend über den Geliebten herabweinenden Baum, der die Geliebte ist, folgt eine tränenlose Trauer um eine geliebte Person, die so, wie hier beide Gedichte zusammengestellt sind, durchaus dieselbe Geliebte sein könnte. Was hier genau vorgeht, wird wohl kein Dritter je ganz nachvollziehen können. Aber es scheint, als diene die Evokation und qualvolle Vergegenwärtigung des Todes Johannas auch der Bannung der anderen – wirklichen – Toten, der Bannung Maries. Das Bild der versteinerten Tränen wird durch den Verweis auf die Bielshöhle im Harz zu einem geheimen Schlüssel, einem Codewort, das nur Johanna ganz verstehen kann. Gleichzeitig wird durch die Tränen, von denen im Gedicht die Rede ist, erneut auf die „Harzthränen“ angespielt. Hatte er an Johanna kritisiert, dass sie den Schmerz über Maries Tod nicht überwinden könne, so liefern die versteinerten Tränen nun ein Gegenbild zu den ihren. Durch die Angst um Johanna kann sich das Gedicht jetzt gleichermaßen auf sie wie auf Marie beziehen, auf die Gegenwart wie auf die Vergangenheit. Es kann zugleich vom versteinerten und damit nicht mehr wirksamen Schmerz der Trauer um Marie handeln, Siegel der überwundenen früheren Liebe sein („But never melt again“.. .), wie auch Befestigung der auf der Harzreise gestifteten neuen Liebe, eine von Byron gestiftete, durch Verlustangst vermittelte Liebes-Translatio. Hier zeigt sich in schrecklicher und doch großartiger Weise, was Literaturliebe sein, was es bedeuten kann, im neunzehnten Jahrhundert mit Literatur zu leben: Eine Praxis selbstverständlicher Identifikation, die sich Gedichte aneignet und sich ihnen einschreibt. Eine Praxis, die höchst respektlos mit dem Gedicht verfährt und deshalb hoch lebendig ist. Gedichte bilden eine motivische Grun-

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dierung, einen „Soundtrack“ zum Leben der Briefschreiber und erhalten umgekehrt etwas von diesem Leben. Ein Verfahren des Transformierens, des Übertragens, das Metamorphose ist, wie es der Schriftsteller und Übersetzer Alberto Manguel als Ansatz zu einer Übersetzungstheorie der nomadischen Texte beschrieben hat: Dann verwandelt sich jeder Text, den man aus einer Seite fischt, in eine Vielzahl von anderen, die sich im Wortschatz des jeweiligen Lesers verändern, sich in anderen Kontexten, anderen Erfahrungswelten, anderen Gedächtnissen neu definieren, in anderen Bücherregalen neu anordnen. Dem fixierten Text auf der Seite stellt der Übersetzerleser einen Nomadentext gegenüber, der niemals Wurzeln schlägt. Dies ist das bewegende Paradox der Übersetzungskunst: Durch die ständigen Migrationen, durch die endlosen Erkundungen wird ein literarisches Werk etwas weniger flüchtig, weniger gefährdet, als es seiner Natur nach sein müsste, und erlangt auf wundersame Weise eine Art immanenter Unsterblichkeit.172

Literaturliebe ist hier keine Überkleisterung dürftiger Individualität mit Dichtung, sondern ein intensiver Austausch zwischen Brief und Literatur, in dem sich beide aneinander steigern bis eins vom andern nicht mehr zu unterscheiden ist. In den Februartagen des Jahres 1847 ist Bismarck von einer regelrechten Bekenntniswut erfüllt. Er schickt seiner Braut einen Brief an seinen Vater, mit dem er diesem im September 1838 erklärt hatte, warum eine geregelte berufliche Laufbahn in den engen Grenzen, die das preußische Beamtenwesen seiner Individualität setzen würde, für ihn nicht in Frage komme.173 In denselben Brief schließt er 172 Alberto Manguel: Übersetzen. Von der Antike in die Pampa. Übers. v. Susanne Lange, in: Le Monde diplomatique Nr. 8955 vom 7.8.2009, S. 3. Abrufbar auch im Internetunterhttp://www.monde-diplomatique.de/pm/2009/08/07/a0199.text.name,askuQix9r.n,1 (zuletzt am 1. 9. 2009). 173 Briefe an seine Braut und Gattin, S. 23–32. Bes. S. 27: „Der preußische Beamte gleicht dem Einzelnen im Orchester; mag er die erste Violine oder den Triangel spielen, ohne Uebersicht und Einfluß auf das Ganze, muß er sein Bruchstück abspielen, wie es ihm gesetzt ist, er mag es für gut oder schlecht halten. Ich will aber Musik machen, wie ich sie für gut erkenne, oder gar keine. In einem Staate mit freier Verfassung kann ein jeder, der sich den Staatsangelegenheiten widmet, offen seine ganze Kraft an die Vertheidigung und Durchführung derjenigen Maßregeln und Systeme setzen, von deren Gerechtigkeit und Nutzen er die Ueberzeugung hat, und er braucht diese letztre einzig und allein als Richtschnur seiner Handlungen anzuerkennen, indem er in das öffentliche die Unabhängigkeit des Privatlebens hinübernimmt. Dort kann man in der That das Bewußtsein erwerben, für das Wohl seines Landes gethan zu haben, was in seinen Kräften stand; man mag reüssieren oder nicht, das Streben bleibt gleich verdienstlich. Bei uns aber muß man, um an den öffentlichen Angelegenheiten Theil nehmen zu können, besoldeter und abhängiger Staatsdiener sein; man muß vollständig der Beamtenkaste angehören, ihre falschen und richtigen Ansichten theilen, und jeder Individualität in Meinung und Handlung entsagen.“

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auch noch einen Liebesbrief ein, den er einer früheren Geliebten, Ottilie von Puttkamer (eine entfernte Verwandte Johannas), einer seiner gescheiterten Verlobungen, 1842 geschickt hatte. Offenbar soll hiermit das Porträt des „früheren Ich“ vervollständigt werden, Johanna antwortet, sie habe diesen Brief mit schwesterlicher Zuneigung zu ihm gelesen. [D]ie anderen Briefe – – ach dearest – wie danke ich Dir für das Vertrauen, womit Du sie mir gezeigt hast; und ich möchte Dir so viel, so viel dabei sagen, wenn ich nur nicht fürchtete, mißverstanden zu werden, da ich mich oft so sehr unklar ausdrücke, besonders schriftlich. [ .. .] – Mich versetzte das alles so in Deine Vergangenheit, daß [gestrichen: ich in] eine ganz eigene Stimmung über mich kam; ich hatte alles Gegenwärtige spurlos vergessen – und bildete mir ein, Deine Freundin zu sein, Otto, die sich warm für Dich interessierte, der Dein Schicksal unaussprechlich leid that, und die Dir so gern, so gern helfen wollte. Ich hätte Dir die Hand reichen mögen, und Dir in die lieben Augen sehn, mir ging alles so nah‘, – ich hätte Dich trösten mögen wie eine Schwester, die Deinen Kummer reichlich mitempfindet, aber doch unangefochten bleibt. – Und die englischen Gedichte! – In thee I fondly hoped to clasp, a friend, whom death alone could sever.. . 174 – Otto, wenn darin nicht die 174 Byron: To D[elawarr]: In thee, I fondly hop‘d to clasp A friend, whom death alone could sever, Till envy, with malignant grasp, Detach‘d thee from my breast for ever. True, she has forc‘d thee from my breast, Yet, in my heart, thou keep’st thy seat; There, there, thine image still must rest, Until that heart shall cease to beat. And, when the grave restores her dead, When life again to dust is given, On thy dear breast I‘ll lay my head, Without thee! where would be my Heaven? (Byron: Complete Poetical Works (a. a. O.), Bd. 1, S. 126.) Dies ist eines von Byrons homoerotischen Gedichten. In ihm wird die durch dessen Heirat herbeigeführte Trennung von dem Jugendfreund George, dem Earl of Delawarre, beklagt. In ziemlich boshafter Ironie wird aber eine zukünftige Wiedervereinigung der Freunde nach dem Tod der Ehefrau in Aussicht gestellt. Diese Konstellation konnte Bismarck wunderbar auf sein Verhältnis zu Ottilie von Puttkamer übertragen, deren Mutter sich zwischen das Paar gestellt hatte. (Vgl. Marcks: Bismarck, S. 161–163.) Bereits hier, 1842, ist Bismarck also in der Auswahl seiner poetischen Briefbeilagen auf deren Anwendbarkeit auf die ihn und die Briefempfängerin verbindende Lebenssituation bedacht. In diesem Fall erfährt das Gedicht sogar eine komplette Umcodierung, insofern es sich widerspruchslos auf

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tiefste, heißeste Liebe liegt, dann kenne ich sie [Einschub: noch] viel weniger wie Fr. v. P. oder Ottilie – und ich kann’s mir doch gar nicht denken, daß ein Herz, was einmal so gesprochen, einer zweiten Regung in demselben Maaße fähig ist; – ich kann’s nicht glauben – oder seid Ihr wirklich so schrecklich veränderlich und leichtsinnig? Ach – wie unbegreiflich bleibt Ihr mir doch ewig – in diesem Punkt! Wofür hältst Du den Gefühls- und Schmerzensausbruch denn eigentlich – wenn nicht für Liebe? – O, Ihr sonderbaren Menschen! Entweder täuscht Ihr Euch doch 6 – 10 – 20 mal, ehe Ihr das Wirkliche erreicht, – oder ihr seid zuerst ganz Feuer, ganz Thränen, ganz entschieden mit Blut und Leben, und kühlt nachher so ab, daß der Mund [Einschub: oft] unerhörte Dinge spricht, wovon das Herz nichts empfindet, ja, kaum eine Idee hat! – Mein geliebter, einziger Otto, ich kann’s Dir nicht beschreiben, wie eigenthümlich mir doch zu Muthe war;– daß Du auch so weit von mir sein mußt[gestrichen: est], und nichts hören kannst, sondern alles nur lesen, – was doch geschrieben so anders klingt u oft in so völlig anderm Sinn aufgefaßt [gestrichen: ist] wird, wie es gedacht ist. – Ich saß da – lange, lange, ganz allein, hätte so gern gesprochen, – aber zu wem? – In meinem Herzen gingen hohe Wellen, u unruhige Sturmvögel stiegen auf u nieder, – ich sah hinaus durch’s große Fenster, wie der Sturm draußen tobte, wie der Regen strömte, der Schnee und Eis wegspülte – (was mir jetzt gleichgültig sein kann, da es den Geliebten ja doch nicht frei macht) – wie die Wolken eilig zogen, immer dunkler und dunkler, und alles so recht tief melancholisch war, in mir und in der Welt, – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft flogen an mir vorüber, – ich dachte an alle „in silence and tears“, und an Dich, meinen liebsten Freund, den ich erst wiedersehen soll, wenn der lange Winter vorbei ist, – wenn der Frühling „seine Honigkelche öffnet und seinen reinen Himmel und die hundert Pforten seines Paradieses“175, – was mir jetzt so fern liegt und so unerreichbar! – Schicke mir jetzt keine kranken Lieder, Otto, ich muß mich erst etwas erholen von den vielen, und von der traurigen Lektüre, die ich gehabt-176

Es ist faszinierend, wie diese beiden Briefschreiber in der niederdrückenden Stimmung eines stürmischen Februars in ihrem Schreiben im byronistischen Verfahren der Anverwandlung von Außenwelt als Innenwelt, im Aufgreifen und Weiterdichten der Metaphern, die vom Partner aufgebracht werden, in der Intensität der Stimmungsbilder und deren Steigerung durch unausgesetztes Zitieren von Literatur (in diesem Briefwechsel niemals bloße Bildungspraxis) zu einer gemeinsamen Form finden, die diesem Briefwechsel eine ästhetische Geschlossenheit verleihen, ein „Ganzes“ die Konstellation Bismarck, Ottilie von Puttkamer und deren Mutter (der die Rolle der störenden Ehefrau zu fällt) übertragen lässt. Literatur wird hier auf besonders radikale Weise in die Korrespondenz integriert. 175 Jean Paul: Titan (47. Zykel), in: Sämtliche Werke (a. a. O.) S. 231. 176 Brautbriefe (a. a. O.), S. 47–50, NL Johanna von Bismarck, C1, fiche 1, fol. 25–27.

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aus ihm machen, wie es ganz im Sinne der Poetiken des neunzehnten Jahrhunderts ist. Man mag einer derartigen Selbstüberhöhung so skeptisch gegenüberstehen, wie man will, als praktizierte Lust am Text wird sie im Augenblick des Lesens immer begeistern. Der lange, der „epische Brief“ wie Johanna von Bismarck ihn ihrem Sohn gegenüber später nennen wird,177 fordert den Leser im Gegensatz zum das Gespräch simulierenden dialogischen Brief auf, die Rolle, in der er dem Briefschreiber gegenüber sitzt, aufzugeben, indem er Wirklichkeiten entwirft, in denen die angestammte Paarkonstellation in Frage gestellt wird. Wie der Roman des Realismus tritt die Wirklichkeit eines solchen Briefes in Konkurrenz zu der den Leser umgebenden Wirklichkeit. Eine Möglichkeit, nicht mit Eifersucht auf Bismarcks Brief an eine andere Frau zu reagieren, besteht für Johanna von Puttkamer darin, wie beim Lesen eines Romans, das frühere Ich ihres jetzigen Verlobten und die ihn beschäftigenden Konflikte als Fiktion an- und als solche so ernst zu nehmen, wie nur möglich. So kann sie sich als gute Freundin und als Schwester – das unstete der Rollen und ihr Ineinanderübergehen sind bezeichnend – warm für sein „Schicksal“ interessieren. Die Kategorie des Schicksals trennt den Bismarck des Briefs von 1842 von demjenigen, an den Puttkamer ihren eigenen Brief richtet, durch sie wird die Episode Ottilie von Puttkamer Teil einer geschlossenen fiktionalen Welt. Als Leserin – sie ist es hier im Sinne einer literarischen Praxis, nicht nur als Entziffernde eines Briefes – kann sie so gewissermaßen gegen sich selbst, gegen die aus jener gelesenen Vergangenheit resultierende Gegenwart, Anteil am früheren Liebesleid ihres jetzigen Bräutigams nehmen. Dass Johanna von Puttkamer diese Rezeptionsleistung so ausführlich reflektiert, zeugt von einer außerordentlichen philologischen Bewusstheit in ihrem Umgang mit Texten. Die Haltung wird jedoch in dem Moment Paradox, wo sie als (Roman-)Leserin wiederum zur gegenwärtigen Partnerin des Autors wird, denn in diesem Moment erscheint ihr die Gleichförmigkeit der Formulierungen – und vor allem das auch hier bereits mitgeschickte Byron-Gedicht – als Austauschbarkeit der Protagonistinnen in einem immer wiederholbaren Spiel. Man kann auch sagen: weil sie die Gefühlsäußerungen ihres Partners als Literatur gelesen hat, erscheinen ihr in diesem Moment alle seine Äußerungen als „bloße Literatur“. Ein Blick in einen Abgrund tut sich 177 Johanna von Bismarcks Briefe an ihren Sohn (a. a. O.), S. 20, vgl. S. 19.

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auf, aus dem – wie in einem Byron-Gedicht – nur ein starkes, stürmisches Naturbild retten kann. Die unternommene Zeitreise löst einen Sturm der Gezeiten und Zeiten aus „Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft flogen an mir vorüber“ – weniger ein Überdruss an Literatur scheint die Aufforderung „Schicke mir jetzt keine kranken Lieder“ zu provozieren, als die Angst vor der Faszination und Sogkraft, die literarisiertes Unglück, verschriftliche Schwermut für sie haben, wenn sie kurz darauf schreibt: ich weiß nicht, wie es zugeht, daß ich jetzt grade immer solche unglücklichen Geschichten finde, die aber in recht französischer Weise stets so interessant u spannend geschrieben sind, daß ich nicht davon lassen kann, – wenn ich auch ganz elend werde.178

Wie im Rausch überlässt sie sich melancholischen Erinnerungen, Selbstvorwürfen, Gewissenszergliederungen – und bauscht eine Wolke von Bildern und Metaphern um sich auf, die dieses Hinabstürzen in eine düstere Stimmung zugleich zu einem Triumph der betörenden Kraft der Sprache machen, ein spätes Exempel eines romantischen Schreibens, in dem ein Brief-Ich sich als Geschöpf seiner eigenen Sprache neu erfindet: Wie wünschte ich doch, daß ich noch einmal wieder 14 oder 15 Jahre würde, so recht durch und durch nämlich – daß ich nicht nur rosa Kleider tragen könnte, sondern ein recht rosiges Herz hätte, und wieder „die vergnügte Johanna“ hieße, wie in der Zeit immer!– Als ich einmal in Kieckow die Eltern u Großeltern von „Sorgen und Trübsinn“ sprechen hörte, wie erstaunt sah ich sie an, u sagte, ich könnte es mir nicht [Einschub: recht] vorstellen, was diese Worte eigentlich bedeuteten, weil ich noch nie ein solch Gefühl gekannt und wohl auch nie lernen würde, worauf mich der Großpapa freundlich umarmte und lächelnd: Du liebes Engelkalb! nannte. Ach geliebtester, theuerster Otto, wie viel wünsche ich mir Deinetwegen, was ich jetzt nicht habe, und so schwer – oft sogar garnicht erlangen kann!– Bitte, schilt mich doch nur einmal recht ordentlich, ich verdiene es wirklich reichlich, – nachher kannst Du mich dann wieder eien, – aber Du glaubst garnicht, wie leichtsinnig ich bin, und wie diese Schwermuthsflügel, in denen ich so sehr gefangen liege – ein rechter Beweis sind von dem verzagten, trotzigen Herzen. Es ist soviel Schein in Worten und Werken, bei mir, womit ich Alle irre leite, die mich oft für so viel besser halten, wie nöthig ist, und [Einschub: es] mir leider so häufig sagen, damit ich doch nur ja recht stolz auf meine vorzüglichen Eigenschaften werde, – und gänzlich vergesse um die wahre Demuth u Herzenseinfalt zu bitten, bis die ewige Liebe sich dann [Einschub: wieder] meiner erbarmt, mir den vergänglichen Schleier der Selbstgefälligkeit ab178 Johanna von Bismarck am 22. Februar 1847, in: Brautbriefe, S. 50, NL Johanna von Bismarck, C1, fiche 1, fol. 27.

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zieht, daß ich ganz entsetzt stehenbleibe, und in den Staub sinke, völlig zerknirscht um Gnade flehend! – Ach, Otto, geliebter Freund, – Lauheit und Trägheit ist doch so schrecklich!! und doch fällt man immer so leicht grade in diese Sünden!!179

Das Pathos pietistischer Gewissensergründung kann kaum darüber hinwegtäuschen, dass diese zur Schau gestellte Zerknirschung zugleich der Versuch einer Selbstbefreiung durch Sprache ist, sowohl im rhapsodischen Duktus und der Wahl der Bilder, mit denen sie einmal mehr ein empfindsames Jean-Paulisieren gegen Bismarcks Ton setzt, als auch konkret im Bekenntnis zur Scheinhaftigkeit und Undurchschaubarkeit ihrer Person, das als Beichte daher kommt und doch zugleich ein Sich-Entziehen ist. In diesem Punkt lässt sich von ihr sagen, was auch für eine romantische Briefautorin wie Rahel Varnhagen gilt, sie bricht mit den Arsenalen pietistischer, spätempfindsamer und romantischer Bildsprache, aus denen sie schöpft und „besteht in ihren Briefen fast obsessiv auf Authentizität, Wahrheit, Eigentlichkeit. Trotzdem ist ihr Schreiben über sich selbst ebenso sehr schonungsloses Enthüllen wie gewollte, unzugängliche Verhüllung.“180 Auch bei Johanna von Puttkamer gibt es ein Bewusstsein, nicht das zu sein, wofür man sie hält, der Welt eine Maske vorzuhalten, hinter der nichts ist. Sie fürchte, schreibt sie ihm bereits in einem früheren Brief, er habe nach einem Halt gesucht und in ihr nach einem Faden gegriffen, der ihm stark erschien und der doch dünner sei als ein Haar.181 So negativ sie das Performative ihrer Persönlichkeit auch einschätzt – es ist die Voraussetzung ihres Schreibverfahrens. Zugleich sehen beide Partner in diesem romantischen, selbstvergessenen und selbsterschaffenden Schreiben eine Gefahr und Bedrohung, die sie immer wieder zu Äußerungen der Skepsis gegenüber dem Schreiben, zur Titulierung des Briefes als „Nothbehelf“182, bewegen. Insbesondere in Reaktion auf den soeben behandelten Brief wird Bismarck eine Absage an das geschriebene Wort formulieren, die weniger einen Rückgang des quantitativen Umfangs, als 179 Ebd., S. 50f., NL Johanna von Bismarck, C1, fiche 1, fol. 27f. 180 Renate Stauf: „Wen ich nicht behandeln kann, der ist auch nicht für mich“. Liebe und Selbstverhältnis im Briefwechsel Rahel Varnhagens mit Alexander von der Marwitz, in: Tableau de Berlin 1786–1815. Hg. v. Claudia Sedlarz u. Iwan D‘Aprile. Hannover: Wehrhahn 2005, S. 335. 181 Brief vom 12. Februar 1847, in: Brautbriefe, S. 31. 182 Vgl. Bismarcks Brief vom 7. 3. 1847, in: Briefe an seine Braut und Gattin, S. 66 (zitiert auf Seite 108).

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eine deutliche Änderung im Charakter des Briefwechsels nach sich ziehen wird. Du mußt meine Briefe überhaupt leichter aufnehmen als Du zu thun scheinst; das geschriebne Wort sieht so schwerfällig und unzerstörbar aus, und der erklärende Ton fehlt; aber, mein Herz, ich schreibe Dir plaudernd als wenn wir zusammensäßen, und manches Wort für das ich nicht mehr verantwortlich sein will, als wenn es in traulichem ungenirten Gespräch gesagt und vom Winde verweht würde. Ich habe schon Furcht, daß Dir meine letzten, noch laufenden Schreiben auch einen schwerfälligern Eindruck machen als sie sollen, sie waren glaub ich ganz erstaunt altklug; ich möchte Dir das Alles so viel lieber sagen wenn ich Dich im Arme habe und Dir ins Auge sehe; ich hätte dann die Gewißheit Dir nicht weh zu thun, mein Herz, und könnte gleich an Deinen Zügen sehn, wenn ich ungeschickt gewesen wäre, wie der Bär der die Fliege auf dem Kopf seines Herrn mit dem Stein todtwirft. Bei den englischen Gedichten bedenke doch, Du Engel, daß ich sie nicht gemacht habe, sondern Byron. Wäre ich der Dichter und hätte Wahrheit darin gesagt, so hätte ich allerdings da ein für alle Mal geliebt. – Schreibe mir doch gleich, wie es Dir geht mit Deiner Gesundheit. Ich hatte einen so häßlichen Traum, Moritz hatte Dir gesagt, das ginge nicht mit uns, wir wären zusammen verloren, weil mein Glaube nicht recht und fest sei, und Du stießest mich von der Planke, die ich im Schiffbruch gefaßt hatte, in die rollende See, aus Furcht sie möchte uns beide nicht tragen, und wandtest Dich ab, und ich war wieder wie sonst, nur um eine Hoffnung, und einen Freund ärmer. Als ich aufwachte, lächelte ich mit des Bräutigams Behagen [Goethe: Ritter Kunos Brautfahrt, R.L.]; the english call that a night-mare, die Deutschen den Alp.183

Bismarcks Brief formuliert eine Skepsis gegenüber dem geschriebenen Wort, die in einem auffälligen Widerspruch zu seinen bisherigen schriftlichen Bekenntnissen steht. In der sinnlichen Vergewisserung, im Einander-im-Arm-Halten und In-die-Augen-Schauen soll Intimität, im Gegensatz zum Brief, immer noch möglich sein. Das Wort soll nur noch für den Augenblick und die Sekunde gelten, in der es gesagt wird. Die Unzerstörbarkeit und Schwerfälligkeit des geschriebenen Wortes wird mit einem Mal als Hindernis einer echten Verständigung aufgefasst. Das Stilideal des achtzehnten Jahrhunderts, für das der Brief die Leichtigkeit eines Gesprächs haben sollte, das auf dem Papier stattfindet, die Sätze den Charakter von Augenblickseinfällen, wird hier noch einmal von Bismarck herbeibemüht, bricht sich aber am Ende der zitierten Passage schroff an der allegorischen Schwere und Bedeutsamkeit der eingefügten 183 Bismarck am 25. Februar 1847, in: Briefe an seine Braut und Gattin, S. 53f., vgl. Werke in Auswahl 1, S. 103f., NL Otto von Bismarck A1, fiche 2, fol. 61.

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2 Otto und Johanna von Bismarck

Traumerzählung (die er dann, wie immer, wegscherzt, was sie nicht ungültig macht, sondern die darin liegende Anklage nur momentan abmildert). In der Überdeutlichkeit seiner Aussage ist dieser Traum geradezu eine Warnung, den religiösen Zweifel aus dem Paargespräch zu verbannen. Und nach der Eheschließung verschwinden in der Tat die Debatten über Religion wie die Gedichte Byrons aus den Briefen.

2.6 Idylle und Epopöe im epischen Brief Von nun an wird die Beziehung zur Partnerin wie ein Bündnis gegen die Außenwelt behandelt. Bismarck macht seine Frau zu seiner Vertrauten in politischen Fragen, holt in häuslichen Angelegenheiten ihre Meinung ein und vermeidet jetzt grelle Dissonanzen, Ironie, literarische Erschütterungen. Von der Bühne widersprüchlicher Gefühle, Erinnerungen und Stimmungen, vom Ort, an dem Zweifel und Missstimmungen ausgetragen werden, wird der Brief zur Grenzmarke zwischen Welt und Intimität, über die eine kontrollierte Kommunikation zwischen beiden Bereichen hergestellt wird, ohne dass die Trennung dazwischen aufgehoben würde. Häuslichkeit und Ehe sind ein „stiller Hafen“, in den die „Stürme des Weltmeers“ nur als sanfter Windstoß dringen: Am Abend wollte ich Dir schreiben, aber es war so himmlische Luft, daß ich wohl 2 Stunden auf der Bank vor der Gartenstube saß, rauchte und die Fledermäuse fliegen sah, ganz wie vor 2 Jahren mit Dir mein Liebling, ehe wir unsre Reise antraten. Die Bäume standen so still und hoch neben mir, die Luft voll Lindenblüthe, im Garten schlug eine Wachtel und lockten Rebhühner, und hinten über Arneburg lag der letzte blaßrothe Saum des Sonnenuntergangs. Ich war recht von Dank gegen Gott erfüllt, und vor meine Seele trat das ruhige Glück einer von Liebe erfüllten Häuslichkeit, ein stiller Hafen, in den von den Stürmen des Weltmeers wohl ein Windstoß dringt, der die Oberfläche kräuselt, aber dessen warme Tiefen klar und ruhig bleiben, so lange das Kreuz des Herrn sich in ihnen spiegelt; mag auch das Spiegelbild oft matt und entstellt zurückstrahlen, Gott kennt sein Zeichen doch. Danke auch Du ihm, mein Engel, gedenke des vielen Guten, was er an uns gethan, des vielen Übels vor dem er uns bewahrt, und halte das mit festem Vertrauen auf Seine starke Hand den bösen Geistern entgegen, wenn sie Deine kranke Phantasie mit allerhand Gebilden der Angst zu schrecken suchen.184

184 Brief vom 18. 7. 1849, in: Briefe an die Braut und Gattin, S. 133; Werke in Auswahl

2.6 Idylle und Epopöe im epischen Brief

159

Auffällig ist in Bismarcks Briefen das immer mehr zur Grundhaltung werdende Gegen-die-Umstände-Schreiben, das sich von der humoristischen Manier der frühen Briefe (man erinnere sich an die ungeduldigen Postpferde, den störenden Schulinspektor der ersten Briefe) zu einem prinzipiellen, statischen Gegensatz wandelt, durch den der Briefwechsel und die ihm zugrunde liegende Beziehung in einen Bereich außerhalb dieser Umstände verschoben wird, einen Bereich der Idylle: Mein Lieb, so eben erhalte ich Deinen Brief mit vieler Freude, und habe ihn gelesen in einer sehr langweiligen Commissionssitzung über die Bestrafung der Leute welche das Militär verführen wollen; die haarspaltenden Juristen und die eiteln Schönredner treten die einfache Sache so breit, daß ich mit meinen Gedanken nicht dabei bleiben kann, sondern ihnen freien Lauf zu Dir, mein Engel, lasse, wohin mich Dein liebes Briefchen weist.185

Kein Austragen mehr von Gegensätzen, sondern eine bis in die letzten Schreiben sich ziehende Manifestation von Intimität sind diese Briefe nun, die als Bereich eines „Eigenen“ Stabilität gegenüber dem Fremden, der Außenwelt stiften. In Johanna von Bismarcks Briefen kann sich diese Sorge für den Erhalt des Eigenen, des Mannes oder des Sohnes, in Zeiten der Krise, wie dem Krieg von 1870/71, auswachsen zu Tiraden der Völkermordlust: Ach bitte, bitte, bitte – nur keine Mäßigung, keine Milde, keinen Großmuth gegen dieses Sündenvolk. Bitte Strenge bis zum Äußersten gegen Alles Gesindel, was gallisch schwabelt – es ist furchtbar, was sie unseren prächtigen Truppen und ohne Aufhören zugefügt und noch zufügen werden. Darum Tod und Verderben Allen, Allen, Jung und Alt – nur die Wiegenkinder ausgenommen. Die Würmer können ja nichts dafür, daß sie so scheußliche Eltern haben.186

Noch in einem der letzten Briefe, die Bismarck an seine Frau schreibt, heißt es am 16. Juli 1888: Bd. 1, S. 223f., NL Otto von Bismarck A1, fiche 4, fol. 172. Vgl. auch Poppenberg: Bismarck intime (a. a. O.), S. 139, der zur athmosphärischen Anmutung dieser Stelle bemerkt, da „atmet man den Frieden [Ludwig] Thomascher Feierabendbilder“, der in Bismarcks Beschreibungskunst, im „liebevollen Blick für alles Kleinleben“ auf dem Lande und in den pointierten Beobachtungen städtischer Szenerien in ihrer behaglichen Weltäufigkeit aber vor allem „Fontanische Stimmen“ und Fontane-Augen“ (ebd.) ausmacht. 185 Brief mit Poststempel vom 3. 9. 1849, in: Briefe an seine Braut und Gattin, S. 148; Werke in Auswahl Bd. 1, S. 233, NL Otto von Bismarck A1, fiche 4, fol. 194. 186 Brief vom 10. 10. 1870, zit. nach: Ingelore M. Winter: Mein geliebter Bismarck (a. a. O.), S. 211.

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2 Otto und Johanna von Bismarck

Warum können wir nicht bei einander sein? Das Reisen ist Vielen das größte Vergnügen, uns ein Kummer. Wir haben bisher täglich allein zu zwei gegessen, nicht einmal Lange dazu; ich mag fremde Menschen nicht sehn, so sehr ich die Meinigen vermisse, wenn sie nicht bei mir sind.187

Mit der Entlassung im Jahr 1890 endet dieser Briefwechsel konsequent im Sinne seines Selbstverständnisses als „Nothbehelf“. Dass er offensichtlich für beide Korrespondenten weit mehr war, erschließt sich erst aus der zeitlichen Distanz und dem Überblick. Denn wenn nach der Eheschließung und Hochzeitsreise politische Auslassungen, Berichte von Erlebnissen und ausgedehnte Beschreibungen der bereisten Länder an die Stelle von Bekenntnissen wie weltanschaulichen Auseinandersetzungen treten, dann ist darin zwar durchaus ein Ausweichen vor unlösbaren Fragen und Widersprüchen zu sehen, dieses geht jedoch einher mit einer Intensivierung der Intimitätsaffirmation, die jetzt gerade durch die Schilderungen von Außenwelt transportiert wird, wie sich beispielsweise in einem Brief aus Ofen (Buda) vom 23. Juni 1852 zeigt: Der Blick ist reizend. Die Burg liegt hoch, unter mir zuerst die Donau, von der Kettenbrücke überspannt, dahinter Pesth, welches Dich an Danzig erinnern würde, und weiterhin die endlose Ebene über Pesth hinaus, im blaurothen Abendduft verschwimmend. Neben Pesth links sehe ich die Donau aufwärts, weit sehr weit; links, von mir d. h. auf dem rechten Ufer, ist sie zuerst von der Stadt Ofen besäumt, dahinter Berge wie die Berici bei Vicenza, blau und blauer, dann braunroth im Abendhimmel, der dahinter glüht. In der Mitte beider Städte liegt der breite Wasserspiegel wie bei Linz, von der Kettenbrücke und einer waldigen Insel unterbrochen. – Es ist auf meiner Oehre ausgeßeuchnet; nur Du mein Engel, fehlst mir, um diese Aussicht mit Dir genießen zu können, dann wäre sie ganz schön. Auch der Weg hierher, wenigstens von Gran bis Pesth würde Dich gefreut haben. Denke dir Odenwald und Taunus nahe aneinandergerückt, und den Zwischenraum mit Donauwasser angefüllt, und mitunter, besonders bei Wisserad, etwas Dürrenstein-Agstein. [.. . ] Wärst Du doch einen Augenblick hier, und könntest jetzt auf die mattsilberne Donau, die dunkeln Berge auf blaßrothem Grund, und auf die Lichter sehn, die unten aus Pesth heraufscheinen; Wien würde sehr bei Dir im Preise sinken gegen Buda-Pescht, wie der Ungar sagt. Du siehst, ich nicht nur ein verliebter, sondern auch Naturschwärmer. Jetzt werde ich mein erregtes mit einer Tasse Thee sänftigen, nachdem Hildebrand wirklich eingetroffen ist, und dann bald zu Bett gehn, und von Dir träumen, mein Lieb.188

187 Briefe an seine Braut und Gattin, S. 596f. 188 Ebd., S. 342f.; Werke in Auswahl Bd. 1, S. 479f., NL Otto von Bismarck A2, fiche 1, fol. 33.

2.6 Idylle und Epopöe im epischen Brief

161

Die Beschreibung der fremden Landschaft ist hier eine unausgesetzte Bezugnahme auf die Empfängerin, ein Verfahren, das er in der Folge häufiger variieren wird.189 Aus Erinnerungen an gemeinsam unternommene Reisen wird der Blick aus dem Fenster der Burg wie ein Puzzle zusammengesetzt, dessen einzelne Teile damit immer schon eine beide Korrespondenten verbindende emotionale Temperatur haben. Durch diese Aufladung der einzelnen Elemente mit gemeinsamer Erinnerung wird das beschriebene Panorama mit Bedeutung ausgestattet, zum „fremdwichtigen Ding“ im Sinne des in der Einleitung beschriebenen Stifterschen Verfahrens. Die Fernsetzung ermöglicht die symbolische Aufladung der Beobachtung und damit die Signifizierung der Landschaft. Dabei bleibt die Beschreibung an den Augenblick gebunden. Weiterhin, wie schon in den frühen Briefen, wird durch die Benennung und Betonung von Situativem eine Gleichzeitigkeit von Schreib- und Lesevorgang simuliert, werden gesprächshafte Gesten, Evokationen gesprochener Sprache, wie die Parodie auf Johanna von Puttkamers pommerschen Dialekt („augeßeuchnet“), eingesetzt, um den Eindruck von Spontaneität zu erhalten, der Bismarcks Briefe fast immer auszeichnet. So ist hier einerseits wie in einem Landschaftsbild von Caspar David Friedrich alles in seiner Konkretheit zugleich über sich hinaus bedeutsam, Verweis auf ein Analoges, Zeichen für die Leserin – es ist diese Bedeutsamkeit aber andererseits in ihrem Zusammenhang auf eine einzige Person, nämlich Johanna von Puttkamer, ausgerichtet, für die allein das „Fremde“ hier „wichtig“ gemacht wird, indem es auf Erlebnisse und Erfahrungen bezogen wird, die sie mit dem Schreiber teilt. Ein derartiges Verfahren, das hier ganz pragmatisch allein der Stabilisierung einer bestehenden Beziehung dient, findet sich in den Briefwechseln, die im Folgenden behandelt werden, ausgebaut zum System, innerhalb dessen die Paarbeziehung aus dem „Parallelgesell189 „Auch Landschaftsbilder verdeutlicht Bismarck gern durch eine heimische, der Gattin bekannte Gegend.“ bemerkt Theodor Matthias (Bismarck als Künstler, a. a. O., S. 52f.) und zitiert noch Bismarcks Beschreibung der Aussicht von der Pesther Zitadelle auf der Folie von Prag im Brief vom 27. Juni 1852 (Briefe an die Braut und Gattin, S. 350), der Stadt Amsterdam auf der von Venedig im Brief vom 24. August 1853 (ebd, S. 357), der Stadt Paris als Frankfurt im Brief vom 2. September 1855: „Denke Frankfurt 10mal an einandergesetzt [ . .. ] und dann noch 10 stillere Frankfürter rund herum angesetzt.“ (ebd., S. 368) und schließlich der Landschaft des südwestlichen Frankreich mit Pommern und Russland am 1. August 1862 (ebd., S. 492).

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2 Otto und Johanna von Bismarck

schaftlichen“ jeweils hinausgehoben werden soll auf eine Ebene universeller Bedeutsamkeit. Derartige Bemühungen kulminieren schließlich in dem ganzheitlichen naturwissenschaftlich-idealistischen Liebeskonzept von Ernst Haeckel und Frida von Uslar-Gleichen, von dessen hohem Anspruch zumindest einer der beiden Partner geradezu erdrückt wird.

3 Obsessive Kommunikation – Leopold von Sacher-Masoch Verstellung, steh mir bei! (Raimund: Der Alpenkönig und der Menschenfeind)

3.1 Masochismus als Literaturliebe Zu den meistzitierten Texten über Leopold von Sacher-Masoch gehören der Essay von Gilles Deleuze1 und das Buch von Albrecht Koschorke2. Stimmen beide Autoren in grundsätzlichen Fragen auch scheinbar überein (z. B. in der Auffassung des literarisch-theatralischen Charakters des Masochismus), so könnte es doch keinen größeren Gegensatz geben, als zwischen Deleuzes fast schon utopischer Feier des Masochismus als (im Gegensatz zum Sadismus) Praxis der Befreiung von autoritären, paternalistischen Bildern und Strukturen und Koschorkes Behauptung, dass auch im Masochismus solche Strukturen eben nur bestätigt und gefestigt würden. Im Nachwort zum Briefwechsel zwischen Sacher-Masoch und Emilie Mataja nimmt Koschorke die These seiner Monographie bereits pointiert vorweg: [H]inter den Kulissen des epigonalen Kunstverständnisses und in seinem Schutz [richtet sich] eine neue Ästhetik der Künstlichkeit, der Lüge, des theatralisierten Lebens ein. Theatralisierung hat dabei den Doppelsinn, ein vorhandenes Wissen zugleich zu manifestieren und ins Unernste wegzubiegen. Was Sacher-Masoch als regulatives Zentrum des Geschlechterverhältnisses erkannt hat: Entfremdung und Gewalt, soll ebenso ostentativ herausgestellt wie ins Einzugsgebiet einer sozusagen hinterlistig gewordenen Liebe zurückgeholt werden. Wenn die Prätentionen von Harmonie nicht mehr zu halten sind, soll wenigstens die Disharmonie genußvoll ausgestaltet sein. Theatralisierung und zwanghafte Per1 Gilles Deleuze: Sacher-Masoch und der Masochismus, in: Leopold von SacherMasoch: Venus im Pelz. Frankfurt am Main (Insel) 1968, S. 157–291. 2 Albrecht Koschorke: Leopold von Sacher-Masoch. Die Inszenierung einer Perversion. München, Zürich (Piper) 1988.

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3 Obsessive Kommunikation – Leopold von Sacher-Masoch

sonifikation der Gewaltverhältnisse zwischen den Menschen sind überhaupt, bis hin zu Richard Wagner, ein Hauptthema der Gründerzeit. Alle Umschweife Sacher-Masochs laufen darauf hinaus, ein unverhülltes Bewußtsein der Omnipräsenz von Gewalt so in das Gehäuse seiner vorgeprägten Lieblingsideen zu zwingen, daß ein Schwebezustand zwischen der Langeweile des geordneten Lebens auf der einen und realem Schrekken auf der anderen Seite entsteht. Von solcher Scheinübertretung des Gegebenen her, die an nichts wirklich rühren, sondern alles nur komödiantisch umdeuten will, erklärt sich der starre Charakter seiner Phantasien, die ihrem Gegenstand gegenüber nicht schöpferisch werden. In einem Ensemble von fixen Ideen setzt sich eine Neuorganisation des erotischen Bedürfnisses durch, die nach einem Jahrhundert vergeblichen literarischen Schmachtens endlich die Lustversagung selbst zum Aphrodisiakum erklärt. Es liegt eine entschiedene Keuschheit in Sacher-Masochs Perversion; wie denn überhaupt der Masochismus nicht bloß eine private Obsession, sondern die optimal angepaßte Einrichtungsform von Leidenschaft unter den Bedingungen des viktorianischen Zeitalters ist. Zelebrieren doch auch die Briefe selbst eine große Anstrengung an Worten, um zu keinem Ziel zu kommen. Sacher-Masoch ist Experimentator in dem Sinn, wie er vorführt, daß ein fortgeschrittenes bürgerliches Ordnungsdenken es sich leisten kann, die erotischen Wünsche der Individuen freizugeben, wenn es nur gelingt, Exzeß und Fiktion unauflöslich genug zu verschmelzen.3

Letzten Endes ist auch Koschorkes Charakteristik in ihrer Verachtung für Exzess und Fiktion eine weitere Variation des Vorwurfs der „Literaturliebe“, wie er von Max Nordau erhoben worden war. Bei aller Verwerfung liefert dieser Absatz jedoch auch eine knappe und zugleich umfassende Beschreibung des Sacher-Masochschen Verfahrens und fährt zugleich in der Ablehnung des Theatralischen und dessen Ineinssetzung mit bürgerlicher Angepasstheit Kriterien einer Theorie sexueller Befreiung auf, die an Sacher-Masoch scheitern müssen. Der Vorwurf wäre, um mit Foucault zu sprechen, dass hier sexuelle Entscheidungen getroffen werden, ohne Konsequenzen für das ganze Leben zu ziehen4, dass ein Bereich von Kunst und Fiktion für diese eröffnet wird, wo sie mit gesellschaftlichen Normen nicht in Konflikt geraten (in der Tat fordert Sacher-Masoch seine junge Briefpartnerin Emilie Mataja immer wieder auf, in ihren eigenen schriftstellerischen Versuchen nicht gegen gesellschaftliche Konventionen zu verstoßen, als junge Autorin könne sie sich das in 3 A. Koschorke, Nachwort zu: Leopold von Sacher-Masoch: Seiner Herrin Diener, Briefe an Emilie Mataja, München (Belleville) 1987, S. 150–51. 4 Vgl. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I. Übers. v. Ulrich Raulff und Walter Seitter. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1977, S. 109.

3.1 Masochismus als Literaturliebe

165

Deutschland nicht leisten5). Für Koschorke ist Sacher-Masoch eben kein sexueller Revolutionär sondern Repräsentant eines bürgerlich-affirmativen Umgangs mit Sexualität, eines schwülen ExoErotismus, der sich künstliche Paradiese im Boudoir erschafft. Sacher-Masoch als ein seine eigene Perversion geschickt zur Ware machender Verkaufs-Künstler: Koschorke wirft ihm Mangel an Authentizität und, daraus für ihn fast zwangsläufig folgend, mangelndes literarisches Talent vor. Aller Ablehnung zum Trotz liefert Koschorke damit interessante Begriffe und Figuren zur Auseinandersetzung mit Sacher-Masoch und dem Sacher-Masochschen Brief, der durch Koschorke in seiner Protoypenhaftigkeit für das 19. Jahrhundert erkennbar gemacht wird. Sacher-Masoch wird zum Muster von Liebe und Erotik im 19. Jahrhundert, in dem Zeitalter, das Koschorke Gründerzeit, Ringstraßenära und Viktorianismus nennt – das II. Empire könnte man hinzufügen – denn auch Napoleon III. und sein Zeitalter repräsentieren eine theatralisch hochdekorierte Bürgerlichkeit, träumen den Traum der ihnen verhassten Emma Bovary. Solchen Vorwürfen gegenüber mag man Deleuzes verklärten Blick auf Sacher-Masoch fast für naiv halten. Diskussionswürdig sind seine Thesen auf jeden Fall. Vor allem in der Hauptthese des literarischen, imaginativen, erzählerischen und letztlich romantischen Charakters des Masochismus gegenüber dem logisch-analytischen Sadismus: Platon zeigte, daß Sokrates, welcher der Liebende zu sein schien, sich letzten Endes als der Geliebte erwies. Ähnlich scheint es, als werde der masochistische Held von der autoritären Frau erzogen und geformt, in Wahrheit aber ist sie es, die von ihm geformt und travestiert wird, und er ist es, der ihr die harten Worte eingibt, die sie an ihn richtet. Das Opfer spricht durch seinen Henker, ohne sich zu schonen.[.. . ] Da ist kein Henker mehr, der sich seines Opfers bemächtigt und an ihm umso mehr seine Lust hat, je weniger es einwilligt und überzeugt ist. Stattdessen ist da ein 5 „Ich werde alles thun um Ihren Talmors bald an Mann zu bringen und Ihnen Geld zu verschaffen, ich will auch Alles Andere was Sie geschrieben haben placiren, aber verprechen Sie mir sich durch keinen noch so schönen Erfolg verleiten zu laßen, der Welt als Verfaßerin dieser Sachen gegenüberzutreten. Ihr Roman hat einen Charakter den man einem Manne hingehen läßt, einer Frau verzeiht wenn man vorurtheilsfrei ist, einem Mädchen aber entschieden übel nimmt. Nicht alle Menschen sind wie ich. Man würde Ihr Talent anerkennen, aber Sie selbst verurtheilen, und das würde mich schmerzen. Es könnte für Ihre ganze Zukunft als Weib verhängnisvoll werden wenn nur Ihre nächsten Bekannten davon wüßten daß Sie ein solches Buch geschrieben haben.“(26. 1. 1875, in: Ebd., S. 37f.)

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3 Obsessive Kommunikation – Leopold von Sacher-Masoch

Opfer, das seinen Henker sucht, das ihn zu diesem Zweck erst bilden und überzeugen muß, um einen Bund für das allersonderbarste Unterfangen mit ihm eingehen zu können. Daher gehören die kleinen Annoncen [gemeint sind Kleinanzeigen, über die Sacher-Masoch u. a. mit seinen „Herrinnen“ kommuniziert, R. L.] zur masochistischen Sprache, während sie im echten Sadismus ausgeschlossen sind. Deshalb auch schließt der Masochist Verträge, während der Sadist jeden Vertrag verabscheut und zerreißt.6

Der Masochist praktiziert also die Liebe der Zeichen wie sie Stendhal vorgeführt hat. Sacher-Masoch schreibt Stendhals Konzept konsequent fort. Der Sadist hält sich nicht an Regeln, nicht einmal an die von ihm selbst aufgestellten. Sein Abscheu vor Verträgen ist ein Abscheu gegenüber jeder Abmachung, jeder Einbindung in eine Struktur, ein System. Demgegenüber ist die Begeisterung, mit der Sacher-Masoch sich auf derartige Abmachungen einlässt, ausgesprochen auffällig. Wie er Sklavenverträge mit seinen Herrinnen abschließt, sie über Kleinanzeigen sucht und sich mit all diesem und der Bereitwilligkeit, mit der er sich auf offenherzige Briefwechsel mit ihm unbekannten Frauen einlässt, in ein System von Abhängigkeit begibt, das ihm jederzeit die Möglichkeit zu freien Entscheidungen nehmen kann, ist erstaunlich. Daher ist die Sprache SacherMasochs, während die des Marquis de Sade imperativisch und deskriptiv,7 demonstrativ und setzend8 ist, dialektisch, mythisch und persuasiv.9 D. h., sie muss überzeugen, bezaubern, berauschen und stellt daher Atmosphären, Interieurs und Landschaften auf, schafft Bilder, sie stellt Identifikation her, reflektiert und wechselt Rollen. Für Deleuze ist der Sadismus so etwas wie der Kulminationspunkt des Rationalismus des achtzehnten Jahrhunderts, der Masochismus aber – und nicht nur hierin trifft er mit Koschorke überein – ist nur denkbar im neunzehnten Jahrhundert, ist die Perversion der überbordenden Interieurs, der exotistischen Tableaus eines Delacroix, der ausufernden Romane mit ihren ausufernden Beschreibungen, der Besessenheit vom Detail. Sacher-Masoch baut für das Spiel zwischen Knecht und Herrin Kulissen auf, ist Arrangeur und Regisseur dieses Spiels. Die Vorbereitung, Einleitung, Ankündigung dieses Spiels ist bereits Teil der masochistischen Praxis. Bei Masoch müssen die Liebesaffären – in seinem Leben wie in seinem Werk – durch 6 7 8 9

Deleuze (a. a. O.), S. 183. Ebd., S. 180. Ebd., S. 184. Ebd.

3.1 Masochismus als Literaturliebe

167

anonyme oder pseudonyme Briefe, auch durch Zeitungsannoncen, eingeleitet sein; sie müssen durch Verträge geregelt sein, die ihre Form festlegen, sie im Wort fixieren; alles muß vor der Ausführung ausgesprochen, versprochen, angekündigt und sorgfältig beschrieben sein.10 Und so ist auch der Brief ein entscheidendes Medium des Masochismus. Und das Erzählen, Beschreiben und Erzeugen von „Suspense“11 ist wiederum, was den masochistischen Brief bestimmt. Leben und Werk, Brief und Novelle – in diesen Funktionen, im Mittel des Suspense, überschneiden sie sich laut Deleuze für SacherMasoch. Zunächst einmal bestehe Suspense für Sacher-Masoch im Zustand beständiger „Suspension“, einem Schwebezustand zwischen Wirklichkeit und Ideal oder imaginierter Identität, der sich aus der Theatralität, dem Inszenierungscharakter des masochistischen Spiels ergibt. Hier erhält der Fetisch als Requisit und Verkleidung seine entscheidende Funktion: „ein Teil der Person weiß um die Wirklichkeit, suspendiert dieses Wissen aber (läßt es in der Schwebe), während der andere Teil im Ideal suspendiert ist.“12 Erneut eine Dopplung der Person, wie sie in der Einleitung bereits als typisch für das Verhältnis von Individuum und Welt im neunzehnten Jahrhundert dargestellt wurde. Diese Gespanntheit zwischen zwei Absoluta ist nun Ursache jenes „Stillstands der Bewegung“, eben Suspense, in dem Deleuze ein originär masochistisches Verfahren sieht, das Sacher-Masoch der Technik des Romans hinzugefügt habe. Unter anderem besteht dieses Verfahren in einer Kunst der Wiederholung, die sich dezidiert von der Monotonie der „mechanisch akkumulierenden Wiederholung Sades“13 unterscheide: Ebenso werden bei Sacher-Masoch in einer Art erstarrter Kaskade die gleichen Szenen auf verschiedenen Ebenen immer wieder durchgespielt: so in der Venus, wo die große Szene des weiblichen Henkers geträumt, gespielt, wirklich in Handlung gesetzt und auf verschiedene Personen verteilt und übertragen wird. [. . .] Die Wiederholung tritt infolgedessen im Sadismus bzw. Masochismus in zwei völlig verschiedenen Formen auf, je nachdem ob ihr Sinn sadistische Beschleunigung und Verdichtung, oder masochistische „Erstarrung“ und Suspension ist.14

10 11 12 13 14

Ebd., Ebd., Ebd. Ebd., Ebd.,

S. 178. S. 193. S. 194. S. 193f.

168

3 Obsessive Kommunikation – Leopold von Sacher-Masoch

Im Gegensatz zu de Sades Massenvergewaltigungen und mechanischen Reihungen bestätigen und befestigen Sacher-Masochs Wiederholungen immer nur den o. e. Schwebezustand. Es ist die Wiederholung im Sinne der Scheherazade. In ihrem Spiel mit Erwartung aus der Perspektive des Opfers stimmen diese Bilder des masochistischen Suspense überraschend überein mit dem Konzept des Suspense, das Alfred Hitchcock in seinen Filmen realisiert hat. Der Unterschied zwischen Suspense und Überraschung ist sehr einfach . .. dennoch werden diese Begriffe oft verwechselt. Wir reden miteinander, vielleicht ist eine Bombe unterm Tisch, und wir haben eine ganz gewöhnliche Unterhaltung, nichts besonderes passiert, und plötzlich, bumm, eine Explosion. Das Publikum ist überrascht .. . Schauen wir uns jetzt den Suspense an. Die Bombe ist unterm Tisch, und das Publikum weiß es. Nehmen wir an, weil es gesehen hat, wie der Anarchist sie da hingelegt hat. Das Publikum weiß, daß die Bombe um ein Uhr explodieren wird, und jetzt ist es 12 Uhr 55 – man sieht die Uhr –. Dieselbe unverfängliche Unterhaltung wird plötzlich interessant, weil das Publikum an der Szene teilnimmt. Es möchte den Leuten auf der Leinwand zurufen: Reden Sie nicht über so banale Dinge, unter Ihrem Tisch ist eine Bombe, und gleich wird sie explodieren! Im ersten Fall hat das Publikum 15 Sekunden Überraschung beim Explodieren der Bombe. Im zweiten Fall bieten wir ihm 5 Minuten Suspense.15

Im Unterschied zu Hitchcocks Beispiel ist für den masochistischen Suspense dabei der Inhalt des Gespräches durchaus von Bedeutung, denn es handelt ja von dem, was erwartet wird, es nährt und steigert also die Erwartung auf das, was kommt, indem es dieses Kommende zugleich antizipiert und hinauszögert. Gemeinsam haben beide Varianten des Suspense den zur Identifikation zwingenden Impetus, den Zeit durch Passivität dehnenden und erfahrbar machenden Charakter und die extreme Erzeugung von Atmosphäre. In Hitchcocks Beispiel, wie dem, das Deleuze von den Ankündigungen und geschürten Erwartungen bei Sacher-Masoch gibt, findet eine Übertragung der Passivität des „Opfers“ auf den Rezipienten, sei es der Leser oder der Zuschauer im Kino, statt, die sich in einer bis zum Unerträglichen gespannten Erwartung äußert. Im Beispiel bezieht sich Hitchcock nur auf Suspense in einer einzelnen Szene, aber auf den gesamten Zusammenhang eines Films übertragen, findet sich bei ihm ebenso das Prinzip der spiegelnden Widerholung, durch das Suspense in der Einzelszene überhaupt erst möglich wird: Wir ha15 Francois Truffaut: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? München 1973, S. 64.

3.2 Sexuelles Brieftheater

169

ben in Psycho schon einen Mord miterlebt, so dass uns die Wiederholung der Ereignisse im zweiten Teil des Films nicht monoton erscheint, sondern die Spiegelung am bereits Geschehenen uns mit angstvoller Erwartung erfüllt. Einen erheblichen Anteil hierbei hat der metaphorische, uneigentliche Charakter dieser inszenierten Bilder: „alle Beschreibungen sind gleichsam verschoben, sei es vom Gegenstand auf den Fetisch, von einem Aspekt des Gegenstandes auf einen anderen, von einer Seite der Person auf eine andere.“16 Jede Evokation masochistischer Szenen verweist auf weitere, vorhergehende oder folgende, Evokationen: die mit allen Details ausgemalte Erwartung verweist auf die Erfüllung, die Herrin im Pelz auf die Tiziansche Venus, die die Erwartung schürte, die Peitsche in ihrer Hand auf die Folterung. Diesem uneigentlichen Charakter masochistischer Evokationen kommt nun die Uneigentlichkeit des Briefes mehr als entgegen. In ihm äußert das Opfer sein Begehren und die Herrin schürt es, indem sie wiederum ihr Opfer zitiert. Der Brief stellt die imaginäre Bühne zur Verfügung, auf der Täter und Opfer ihre Rollen und Positionen einnehmen können als Verweis auf und Schürung von Erwartung.

3.2 Sexuelles Brieftheater Einer der folgenreichsten Briefwechsel, die Leopold von SacherMasoch führt, seine erfolgreichste Verführerin (eigentlich muss von zwei Verführerinnen gesprochen werden), ist es vor allem deshalb geworden, weil die Briefschreiberin um diese Bedeutung des Suspense wusste und es perfekt beherrschte, sich der Fantasie eines Menschen durch die Sprache zu bemächtigen (und dabei, wie so viele Frauen ihrer Zeit, nicht einmal die Orthographie richtig beherrschte). Es ist Angelika Aurora Rümelin, die sich später als Ehefrau Sacher-Masochs nach der Venus im Pelz Wanda nannte. Vorweg muss gesagt werden, dass das Wenige, was vom SacherMasochschen Briefwechsel erhalten ist, nur in der Überlieferung zweier nicht immer vertrauenswürdiger, da parteiischer Quellen existiert.

16 Deleuze (a. a. O.), S. 194.

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3 Obsessive Kommunikation – Leopold von Sacher-Masoch

Wanda Sacher-Masoch hat, nachdem ihre Ehe mit Leopold in unversöhnlichem Streit zerbrochen war, ihre Lebensbeichte, ein selbst von ihren Feinden für ihre Erzählkunst bewundertes Rechtfertigungsbuch, geschrieben, in dem sie die Anbahnung ihrer Ehe, deren Verlauf und Ende sehr zu ihren eigenen Gunsten gefärbt schilderte. Einerseits, um sich damit gegen den Vorwurf zu rechtfertigen, Sacher-Masoch in seiner Perversion bestärkt und ausgenutzt zu haben, andererseits, um ihren Ehebruch mit dem späteren Herausgeber des Figaro, R. Armand (eigtl. Armand Rosenthal, in Paris nennt er sich Jacques St-Ce`re – auffällig viele Personen in dieser Lebensgeschichte tragen Pseudonyme und falsche Namen) als Ausbruch aus einer Ehehölle zu legitimieren. Sacher-Masochs früherer Sekretär, Carl Felix von Schlichtegroll, wiederum hat in zwei Gegendarstellungen Wanda als skrupellose, geld- und geltungssüchtige Verführerin dargestellt und hierzu auch eine ganze Reihe von ihren und Leopolds Briefen zitiert (wie auch Wanda in ihrer Darstellung und deren Nachtrag dies tut). Da nun sämtliche Originalbriefe verschollen sind, ist Authentizität der Briefzitate kaum zu gewährleisten. Verfälschungen sind dabei jedoch weniger zu befürchten (schließlich werden die Briefe in den Polemiken der Kontrahenten als Beweismittel zitiert) als Auslassungen und evtl. Unterschlagungen von Briefen, weshalb hier kein Briefwechsel in einem größeren Zusammenhang Gegenstand sein kann. In ihrem Verlauf kann die Geschichte der Begegnung aber als relativ gesichert gelten, da die gegensätzlichen Darstellungen mehr in der moralischen Wertung auseinander gehen. Ein von Michael Farin, dem bedeutendsten Kenner der Lebenszeugnisse SacherMasochs, seit langem angekündigter Band mit Briefen und Dokumenten ist bisher nicht erschienen. Es beginnt als reine Komödie (wie der Masochismus immer eine Schlagseite zur Komödie hat17), mit der Intrige zweier (allerdings unverheirateter und finanziell aus dem hohlen Zahn lebender) lustiger Weiber von Windsor, die in Leopold von Sacher-Masoch ihren Ritter Falstaff gefunden haben. Die 1845 (9 Jahre nach Leopold) geborene und in Graz in ärmlichsten Verhältnissen aufgewachsene Angelika Aurora Rümelin lernt 1871 die von ihrem Ehemann getrennt lebende Frau Frischauer 17 Vgl. Michael T. O‘Pecko: Comedy and Didactic in Leopold von Sacher-Masoch’s Venus im Pelz, in: Modern Austrian Literature 25 (2) 1992, S. 1–13.

3.2 Sexuelles Brieftheater

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kennen (der Vorname dieser „Tochter eines sehr bekannten Rabbiners“18 ist unbekannt), die das junge Mädchen in Kontakt mit Gegenwartsliteratur und Zeitungen bringt: Mit ihr kam gleichsam ein Strom frischen aktuellen Lebens in die Abgeschiedenheit meiner Stube, denn sie hatte alles gelesen, alles gesehen, alles gehört, kannte alles und alle und sprach über alles und alle in ihrer spöttischen, aber immer amüsanten Weise.19

Frau Frischauer bringt Rümelin mit Sacher-Masochs überaus erfolgreicher Novellensammlung Das Vermächtnis Kains in Berührung und erzählt ihr viel über diesen Autor, „besonders über sein Privatleben“, worin sich „gleichsam der Schlüssel“ zu vielem fände, „was mir in seinen Novellen manchmal unverständlich oder abstoßend war.“20 In Rümelins Bericht wird nun die immer zu Intrigen und Verkleidungsspielen aufgelegte Frau Frischauer zum eigentlichen Motor der nun folgenden Entwicklungen erklärt, was man nicht ganz übernehmen muss. Offenbar, um Frau Frischauer bei dem Verstellungsspiel, das beide in Angriff nehmen, als eigentliche Anführerin erscheinen zu lassen, wird sie als Streichmacherin eingeführt, die nicht einmal davor zurückschreckt, als Jüdin spaßeshalber zur Beichte zu gehn und mit ihren Offenbarungen den Priester aus der Fassung zu bringen. Doch egal, welche der beiden Frauen die Idee zu diesem shakespearesken Spiel gehabt hat, beide wenden sich mit Briefen unter falschem Namen an zwei bekannte Schriftsteller ihrer Zeit: Angelika Aurora Rümelin schreibt an Peter Rosegger und bittet um Antwort unter der Chiffre „Angelica, poste restante“21 und Frau Frischauer unter dem Namen „Emilie“ an Leopold von Sacher-Masoch. Beide stellen sich in ihren Briefen als geheimnisvolle Schönheiten auf der Suche nach Liebe dar. Doch bei allem Spaß, den die beiden veranstalten, geht es zugleich um’s blanke Überleben. Was Hunger ist, wissen beide sehr gut. Angelika ist nicht erfolgreich: Rosegger weigert sich, die Korrespondenz aufzunehmen, solange die anonyme Briefschreiberin nicht 18 Meine Lebensbeichte, in: Wanda von Sacher-Masoch: Lebensbeichte. Memoiren (1906) sowie Masochismus und Masochisten. Nachtrag zur Lebensbeichte (1908). Mit einem Dossier hg. v. Lisbeth Exner und Michael Farin. München (Belleville) 2003, S. 7–313, hier S. 25. 19 Ebd. 20 Ebd., S. 26. 21 Schlichtegroll: Sacher-Masoch (a. a. O.) S. 109.

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3 Obsessive Kommunikation – Leopold von Sacher-Masoch

ihre Identität bekannt gebe. „Emilie“ jedoch trifft bei Sacher-Masoch den richtigen Nerv. Ihr erster Brief ist nicht erhalten, doch die Antwort lässt auf ihn schließen: Ich erhalte, beinahe täglich, Briefe aus aller Herren Länder, meist von Damen, welche, an meine Schriften anknüpfend, mit mir in Beziehung zu treten suchen. Bei meinem ernsten Berufe und meiner großen Beschäftigung ist es mir meist gar nicht möglich, dieselben nur zu beantworten. Wenn ich bei Ihnen eine Ausnahme mache22, so geschieht dies nur, weil mir der kühne emanzipierte Ton ihrer Zeilen, welcher an meine „Venus im Pelz“ erinnert, Interesse einflößt. Ich liebe zwar meine Verlobte so sehr, daß ich es nicht für möglich halte, daß selbst das schönste, sinneberauschendste Weib mich derselben untreu machen könnte, aber eben deshalb möchte ich Sie kennen lernen, um mich selbst auf die Probe zu stellen. Wagen Sie den Kampf? Energisch protestiere ich dagegen, daß Sie mich für indiskret halten. Ich war nur gegen eine einzige Frau rücksichtslos, welche selbst mir gegenüber jede Rücksicht beiseite gesetzt hat. Alle anderen Damen, welche mit mir in Beziehung standen, haben mich als einen durchaus chevaleresken und noblen Charakter kennen gelernt und sprechen – wie ich von Zeit zu Zeit auf Umwegen erfahre – heute noch mit Achtung und Sympathie von mir. Sie können also immerhin der Verschwiegenheit eines Mannes vertrauen, welcher häufig genug bewiesen hat, daß er den Säbel ebensogut zu führen versteht wie die Feder, und der mehr ritterlichen Sinn besitzt, als die meisten jener sogenannten Männer, welche beim Bierglas mit ihrer Tugend renommieren. Graz, Jahngasse 5. Dr. Leopold von Sacher-Masoch.23

Tatsächlich Falstaff-haft in seiner Prahlerei und seiner scheinbaren Blindheit für die Verstellung der Briefschreiberin zeigt sich SacherMasoch. Wie durchsichtig zugleich die behauptete Treue gegenüber der Verlobten, die man auf die „Probe“ stellen zu wollen behauptet. Die implizite Nähe des Masochismus zur Komödie, von der auch Deleuze spricht, bestätigt sich mit allen ihren Attributen. Ein Intrigenmuster der Komödie: man legt den Monomanen, den Geizhals, Wichtigtuer, Scheingelehrten etc., dadurch herein, dass man seine Sprachmarotten, seine Symbole und Zeichen übernimmt, mit denen er sich den Blick auf die Wirklichkeit verstellt, und gewinnt 22 Vgl. die ganz ähnliche Bemerkung in Ernst Haeckels Brief an Frida von UslarGleichen vom 19. September 1899. Diese stereotype Figur der Ausnahme im jeweils besonderen Falle, ist notwendig, um den wunderbaren Charakter der Begegnung herauszustellen, einen magischen Coup de foudre vorauszusetzen, durch den sich das Gegenüber als „die eine unter Millionen“ erweist. 23 Zit. nach Schlichtegroll: Sacher-Masoch, S. 228

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so Einlass in seine Welt, um ihn auszunutzen, zu überführen oder auch zu bekehren. Der Monomane der Komödie ist durchschaubar und verletzlich, weil er sich, für alle – nur für sich selbst nicht – sichtbar, mit einer stereotypen Kulisse umgibt, die ihn vor der Konfrontation mit der Außenwelt schützt. Die monoton wiederkehrenden Elemente des Sacher-Masochschen Erzählens, die despotische Frau mit ihren Requisiten, der Peitsche und dem Pelz, sind überdeutlich gesetzte und allgemein verfügbare Signale, deren sich jeder bedienen kann. Offenbar hat die Briefschreiberin sich in ihrem Anschreiben ebenfalls als herrische, der „Venus im Pelz“, Wanda von Dunajew, wesensverwandte Natur dargestellt, die sich in Masochs Schriften mit ihren ihr bisher nur halb bewussten Neigungen wieder erkannt habe, denn in diesem Tone wird das Gespräch in ihrem nächsten Brief, der überliefert worden ist, fortgesetzt. Auch im Eröffnungsbrief wurden mit Sicherheit die richtigen Signalwörter genannt, die richtigen Zeichen gesetzt. Doch es scheint nur, als würde Sacher-Masoch auf einen plump ausgelegten Köder hereinfallen. Dass sich hier zwei einander vollkommen unbekannte Menschen mit einer Schnelligkeit einig werden, die kaum zu glauben ist, liegt daran, dass beide das Stück kennen, das hier gespielt werden soll. Es ist in Sachers Romanen, der geschiedenen Frau und der Venus im Pelz vorgegeben. In den Auseinandersetzungen um Wandas oder Leopolds „Schuld“ am Zustandekommen der fatalen Beziehung, die beide miteinander eingehen, wurde auf Seiten von Wandas Gegnern (etwa Schlichtegroll oder Theodor Lessing) immer wieder diese initiierende Verstellung, dieses Komödienmotiv, als Hauptindiz der Anklage eingesetzt. Wanda selbst versuchte, die Verantwortung hierfür auf Frau Frischauer abzuschieben. Dabei ist ja Verstellung das Prinzip, auf dem das Sacher-Masochsche Beziehungstheater beruht, sie ist geradezu das Erkennungszeichen, durch das sich die Briefschreiberin als zugangsberechtigt zu diesem Theater erweist. Für SacherMasoch kann der inszenierte Charakter dieser Annäherung nicht eine Sekunde lang in Frage gestanden haben. Zu offensichtlich sind die Parallelen zu seinen bisherigen Werken und zu deutlich zitiert er diese selbst in seinem Antwortschreiben. Dieser Briefwechsel hat einen entschieden rituellen Charakter. Die Idee, eine Begegnung mit der unbekannten Briefschreiberin zu riskieren, um die Unverbrüchlichkeit der Liebe zur Verlobten auf die Probe zu stellen, ist ein direktes Zitat aus Sacher-Masochs 1870

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erschienener geschiedener Frau. Offenbar erkennt Sacher-Masoch diese Korrespondenz als das, was sie ist: ein Spiel. In diesem Sinne setzt „Emilie“ die Korrespondenz in ihrem Antwortschreiben auch fort: Geehrter Herr Doctor. Soll ich Ihnen danken, daß Sie mir antworteten? – Nein! Wußte ich doch, daß Sie es werden. Sie haben recht, wenn Sie eine Seelenverwantschaft Ihrer „Venus im Pelz“ bei mir finden, und es ist eben diese, die mich zu Ihnen zieht und wieder abstößt. Doctor! Ich will Sie besitzen, und wäre es in der Natur möglich, daß ich Sie besitzen könnte, ohne daß Sie mich besitzen, ich gebe viele Jahre meines Lebens darum. Was Sie mit der Untreue gegen Ihre Braut meinen, verstehe ich nicht, hat Ihnen ja mein Brief deutlich genug gesagt, daß ich nur Ihre Sinne berauschen will aber auf Ihr Herz nicht reflectire. Den Kampf haben Sie ja angenommen, nachdem Sie geantwortet, also kommt Ihre Kriegserklärung zu späth. Was Ihre Diskretion betrifft, so wollen wir dermahlen darüber schweigen. Nachdem Sie mein Ultimatum, welches noch späther nachfolgt, erhalten und es auch annehmen, verspreche ich mir einige angenehme Stunden. Schlüßlich will ich doch nicht ligen, Ihre Antwort hat mich gefreut. Antwort: bekannte Chiffr.24

Ebenfalls in der geschiedenen Frau wird bereits eine ganz ähnliche Verstellung inszeniert. Die Heldin begehrt einen jungen Autor, der ihr eine von ihm verfasste Novelle überreicht, die ihr verrät, welches Ideal einer Frau ihm vorschwebt: Ich las, staunte, las weiter, und mein Herz wollte vor Glück zerspringen. Sollte diese Dichtung für ihn das Wort führen? Deutlich genug sprach sie und erklärte mir seinen Zustand ohne Rückhalt. Die Novelle hatte den Titel: Wanda. Es war die glühend gefärbte Geschichte einer Frau, die, von ihrem Manne und ihrem Anbeter verrathen, sich ihrem Vaterlande weiht, eine politische Rolle spielt, und in einer Lage, welche ihr Leben in Gefahr bringt, von einem jungen Manne gerettet wird. Dieser hieß Anatol, aber ich hatte ihn sofort erkannt, es war Julian [Hervorhebung von mir, R. L.]; und wie rührend war seine Liebe zu Wanda geschildert, wie erschütterte mich sein ehrliches, treues Gefühl für seine Braut, der folternde Seelenkampf, welcher ihn aufzureiben drohte, der Widerstreit von Pflicht und Leidenschaft [R. L.]. Noch war die Novelle nicht beendet, der Ausgang ungewiß, aber ich sah, daß Julian kämpfte, schwer und redlich, und ich jauchzte, ich jubelte wie eine Lerche gegen Himmel. Auf dem letzten Bogen war eine Scene ange24 Zit. nach Schlichtegroll: Sacher-Masoch, S. 228f.

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fangen, in welcher Wanda ihn mit dämonischer Gewalt an sich zu reißen sucht. Sie sprach zu ihm mit wilder Ueberzeugungskraft, er kämpfte, er schwankte, aber er lag endlich zu ihren Füßen. – Hier brach die Novelle ab. Er schwankte noch, aber er lag zu ihren Füßen – „Auch Du wirst bald zu meinen Füßen liegen!“ rief ich aus, zusammenschreckend, als die Worte laut durch das Zimmer klangen. Ich war Wanda, aber ich erschrak über mein Bild, es hatte Nichts von mir als Gestalt und Züge, meine dunklen Augen und Locken. In allem Uebrigen war sein Ideal, eine Amazone, in kaltem, hartem Erz, vom Scheitel bis zur Sohle, Modell gestanden. Dennoch war ich meines Sieges gewiß. Ich war nicht fähig Wanda zu sein, aber er hatte mir durch seine Novelle verrathen, was ich thun mußte, um Wanda zu scheinen. [!] Ich beschloß zu Pferde zu steigen – so sehr ich mich auch vor diesen launenhaften, leicht erregten Thieren fürchtete; Pistolen zu schießen – wenn mich auch das Knallen verdroß; fechten zu lernen, zu politisieren und zu rauchen, vor Allem aber eine Pelzjacke zu tragen und zwar genau so, wie Wanda, veilchenblau, mit grauem Vehpelz besetzt.25

Im buchstäblichen Sinne tritt Literatur hier ins Leben ein. Der laute Ausruf der Leserin markiert den Übergang. Doch im gleichen Moment wird auch wieder die Grenze zwischen Literatur und Wirklichkeit, zwischen Schein und Sein aufgezeigt: Durch die Lektüre entdeckt Frau von Kossow einen Zug in ihrer eigenen Natur, der ihr zuvor fremd war, bzw. sie entdeckt ein Bild von sich, das ihr gar nicht entspricht, beschließt jedoch, sich zum Schein nach diesem Bild zu formen. Es bedarf des Gegensatzes von Fiktion und Wirklichkeit, damit diese in jene eintreten kann. Das masochistische Spiel setzt nicht nur auf Inszenierungen, sondern Sacher-Masoch betont sogar den theatralen Charakter dieser angenommenen Eigenschaften. Frau von Kossow fühlt sich ausdrücklich aufgefordert, sich entgegen dem, was ihr ihr eigentliches Wesen zu sein scheint, zu einem „herrischen Weib“ auszubilden, Fähigkeiten zu erwerben, die Attribute eines solchen sein könnten, eine Maske anzunehmen. Die Maskerade gehört schon deshalb zur emanzipierten Frau, weil Emanzipation im 19. Jahrhundert auch eine Angelegenheit der Maskerade ist. George Sand, deren europaweit berühmte und insbesondere in Deutschland verrufene Le´lia offensichtlich eines der Vorbilder für Sacher-Masochs grausame Frauen darstellt, wurde zur Ikone und skandalös auch durch ihr viel diskutiertes Auftreten in männlicher Kleidung, mit der sie provozierte, weil diese beileibe 25 Sacher-Masoch: Die geschiedene Frau (a. a. O.), S. 72.

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keine Camouflage darstellte, sondern als unverfrorene Aneignung männlicher Machtsymbole verstanden wurde – und auch so gemeint war. Ihr unverhohlen geäußertes Vergnügen an ihren Männerstiefeln („Auf diesen eisenbeschlagenen Absätzen stand ich fest auf dem Trottoir, ich lief von einem Ende der Stadt zum andern; ich hätte allenfalls die ganze Welt umkreist.“26) irritiert einen entschiedenen Gegner der Frauenemanzipation wie Julian Schmidt noch 1878 ungemein. George Sands Le´lia (1833), weniger Femme fatale als ein weiblicher byronscher oder chateaubriandscher Held zwischen Ennui, sexuellem Begehren und emotionaler Gleichgültigkeit, die sich über ihre Gefühle im unklaren ist und deshalb den sie begehrenden Le´lio grausam quält, muss als eines der wichtigsten Vorbilder für Sacher-Masochs grausame Frauen betrachtet werden. Und Le´lias Schwanken findet sich wieder in der schwankende Ungewissheit der Frau von Kossow, was nun ihre wahren Gefühle gegenüber Julian sind, ob sie ihre Liebe nur spielt, und was ihr wahrer Charakter ist. Diese Ungewissheit wird zwar letztlich die Katastrophe des Scheiterns dieser Liebe verursachen, aber gerade dadurch ist sie, ist der Widerspruch von Schein und Sein und die Unerfüllbarkeit seiner Aufhebung die Essenz des Sacher-Masochschen Erzählens und der sacher-masochistischen Liebe (wie ich das in diesem Kapitel zu verhandelnde Liebeskonzept in Abgrenzungen zu allen psychologischen Konzepten des Masochismus nennen will). Die Differenz von Schein und Sein, bzw. das Changieren zwischen beiden Bereichen, ist der sacher-masochistischen Anordnung von vornherein eingeschrieben, ist ihr heimliches Thema. Stets spielt er diese als Kontrast, als Duplizität der Welten aus, die nebeneinander bestehen und zwischen denen zu wechseln möglich ist, wie bei E.T.A. Hoffmann. Der Sacher-Masochismus imitiert nicht einfach Literatur, sondern hat das Überschreiten der Schwelle zwischen Literatur und Leben – in beiden Richtungen – zum Gegenstand. Er ist zutiefst dualistisch. Die Vermischung, Vertauschung und Verwechslung von Literatur und Leben war als grundlegendes Prinzip bereits in der Korrespondenz Bismarcks zu beobachten gewesen. Hier, bei Sacher-Masoch, wird sie nun mit geradezu exzessivem Totalitätsanspruch betrieben. Damit ist Sacher-Masoch weniger eine Ausnahmeerscheinung, als Repräsentant eines eigentlich bürgerlichen Verkleidungsspiels, das die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts bestimmt.27 26 Zit. nach Julian Schmidt: George Sand, in: Portraits aus dem 19. Jahrhundert, Berlin (Duncker und Humblodt) 1878, S. 222–260, hier: S. 231.

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Das Ideal, das als letztlich unerfüllbare Sehnsucht hinter diesem Erzählen, und untrennbar mit dem Erzählen verbunden hinter diesem Konzept von Liebe, steht, enthüllt sich – buchstäblich – am schwülstig-pathetischen Höhepunkt des Romans (deutlich inspiriert von Karl Gutzkows Wally die Zweiflerin) wo Frau von Kossow Julian auf sein drängendes Bitten gewährt, sie in einer mit der allerüppigsten Fin-de-Sie`cle-Staffage ausgestatteten Inszenierung eines Tableau vivant nackt, nur von einem prächtigen Hermelinmantel umrahmt, zu erschauen. In Julians Tagebuch, das Frau von Kossow dem Erzähler zur Einsicht gibt, stellt sich diese Szene wie folgt dar: Eine Viertelstunde verfloß, während der im Nebenzimmer von Zeit zu Zeit weibliche Gewänder knisterten. Jetzt tiefe Stille. Das Feuer sang leise. Und jetzt. „Julian!“ Sie lag auf der Ottomane und tauchte im Hermelinpelz eingehüllt, aus dem Scharlach wie aus einer ungeheuren Flamme. „Komm mir nicht zu nahe.“ Ich erwartete auf den Simms des Kamins gestützt die Auflösung des verlockenden Räthsels – „Ich liebe Dich Julian“, sprach sie mit einem ruhigen Enthusiasmus, der mich befremdete. „Das hoffe ich aus ganzer Seele“, gab ich zur Antwort. „Und weißt Du auch, wie sehr, wie übermenschlich ich Dich liebe?“ flüsterte sie. „Sieh mich an, ich will es Dir beweisen.“ Den Kopf schamhaft abgewendet, ließ sie den königlichen Purpur, den Hermelin langsam herabgleiten – Ich stieß einen Schrei aus, und stand gebannt, verloren in den Anblick, der mich durchschauerte. Ein stummes Marmorbild ruhte das ideale Weib mit geschlossenen Augen, in kalter sorgloser Majestät, nachlässig in ihren Pelz versenkt, so daß sich die ganze Herrlichkeit des vom Blute gleichsam durchglühten, im vollen Sonnenschein der Jugend prangenden Leibes, der weichen Linie, welche in reiner Vollendung von der Schulter bis zur Zehe lief, zeigen konnte. 27 Vgl. Thomas Markwart: Die theatralische Moderne. Peter Altenberg, Franz Blei und Robert Musil in Wien. Hamburg 2005, S. 14–22: „Die Krise befördernd, bildet das Theater den problematisch gewordenen Sinn, verhandelt zugleich mögliche Lösungen und verkehrt zuletzt die Not in eine Weltanschauung, die auf der Bühne die Gegensätze schicksalhaft vorführt, aber nicht auflöst, die Theater als Instrument von Macht und Erkenntnis benutzt.“ (S. 16), vgl. auch auch in dieser Hinsicht die Bedeutung, die das Theater in den Romanen Theodor Fontanes hat (Beatrix Müller-Kampel: Theater und Schauspiel in der Erzählprosa Theodor Fontanes. Frankfurt am Main (Athenäum) 1989).

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[...] Und jetzt heftete sie ihre weichen, schillernden Pfauenaugen, von den Lidern halb geschlossen auf mich, und betrachtete mich mit heiterem Behagen, dann aber sprühten zündende Funken unter ihren langen düsteren Wimpern hervor und in ihrem Blicke lag auf einmal etwas Magisches, Überwältigendes. „Schließe die Augen“, stammelte ich, „ich beschwöre Dich!“ Ich mußte, um mich wieder ganz zu sammeln, meine Hand vor die Augen legen, und als ich meine selige staunende Ruhe wieder gewonnen hatte, konnte ich mich, wie bei dem heiligen Genusse eines Meisterwerkes erst jetzt, nachdem ich das Bild des Ganzen entzückt in meine Seele aufgenommen hatte, an den einzelnen Theilen erfreuen. [...] Am meisten bewunderte ich jedoch die Bildung der Füße. Immer wieder glitt mein Blick über die leichten Schatten, welche die feinen Kniee zeichneten, zu ihnen herab. Wie werden sie von unseren abscheulichen Schuhen entstellt, und wie vollkommen sind sie aus der Hand der Schöpfung hervorgegangen, jeder einzelne rosige Finger meiner Göttin bietet mir ein unbeschreibliches Vergnügen. Sie sieht es und auf ihrem Antlitz lagert sich eine süße Trunkenheit, eine unschuldige Schalkhaftigkeit, eine vollkommene Glückseligkeit. Und welcher wunderbare Zustand meiner Sinne, meines ganzen Wesens, das ganz vom Anschauen gesättigt, im feierlichen Staunen, in ruhiger Betrachtung keinen Wunsch mehr, keinerlei Verlangen zu empfinden schien und angesichts dieser Allmacht der Natur eine Befreiung von allen irdischen Begierden, eine Andacht fühlte, wie sie niemals von der ehrwürdigen alten Kuppel eines geweihten Domes auf mich herabgesunken war. Es war als ströme Licht von ihr über mich, und Duft – ein süßer Blumenduft – reiner und heiliger als Weihrauch. In meiner Seele war nichts wollüstig, kein Schatten, keine Dunkelheit. Als sie von holder Gnade strahlend die Hand nach mir ausstreckte, sank ich in stummer Ehrfurcht auf die Kniee und meine Lippen berührten ihren Fuß. Sie verstand mich. Mit keuscher Majestät zog sie den Hermelinpelz herauf und winkte mir zu gehen.“28

Dass der Masochismus viele Konzepte des europäischen Ästhetizismus vorwegnimmt, wurde schon häufiger aufgezeigt. Ebenso der pseudoreligiöse Charakter masochistischer Inszenierungen. Wie in den Gestalten Salammboˆs, Salome´s, der She that must be obeyed, wie in den grausam-strahlenden Frauenfiguren in den Bildern Moreaus, geht die Erotisierung der Frau von Kossow einher mit ihrer Überhöhung zur grausamen Priesterin oder Göttin, zur Belle Dame sans Merci, kurz: zur unberührbaren Frau. Was Mario Praz und Peter Gay über den Typus der Femme fatale in der Spätromantik 28 Sacher-Masoch: Die geschiedene Frau (a. a. O.), S. 119–121.

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sagen, dass in ihm ein exotistischer Ästhetizismus aufkäme, der im Grunde eine Form von Mystik sei,29), bzw. eine Form der zaghaften bürgerlichen Annäherung an Verdrängtes30 wird von Sacher-Masoch also zunächst offenbar ebenfalls erfüllt – auf den deutschsprachigen Raum und die Konventionen des „poetischen Realismus“ bezogen, denen sich auch Sacher-Masoch verpflichtet fühlt, in durchaus tabubrechender Weise31 : ein erotischer Diskurs ist nur möglich, indem Weiblichkeit entweder exotisiert und dämonisiert wird oder in einen Traditionszusammenhang künstlerischer und mythologischer Darstellung gestellt wird. Entsprechend ist auch hier offenbar die Wahrnehmung und vor allem Darstellung der Frau von Kossow als Objekt erotischen Begehrens nur möglich durch die Inszenierung als Götzenbild, die impliziten Verweise auf Rubens und Tizian, die in jeder von Sacher-Masochs Erzählungen ihren festen Platz haben. Einerseits legitimiert er dadurch sein Erzählen, andererseits bündelt und erweitert er diese Bilder zu einer neuen Mythologie des Masochismus, die bis heute ihre Gültigkeit nicht verloren hat. In dem Umstand, dass weibliche Sexualität, ja weibliche Unabhängigkeit und Individualität nur in der Dämonisierung und mythischen Überhöhung darstellbar ist, kann ein Hauptvorwurf feministischer Kritik an Sacher-Masoch bestätigt werden.32 Sobald man aber in Rechnung stellt, dass der Prozess der Inszenierung dieses Bildes, der kommunikative Prozess, der sich an diese Inszenierung knüpft, im obigen Zitat wie auch sonst im Werk dieses Autors ebenso wie im Briefverkehr einen entscheidenden Anteil hat am sacher-masochistischen Spiel, ergeben sich möglicherweise neue Perspektiven (mit denen nicht neuerlich Deleuzes’ verklärte Sicht einer emanzipatorischen Funktion des Masochismus das Wort geredet werden, sondern vielmehr die für diesen entscheidende Interaktion von Eros und Inszenierung, Eros und Fiktion genauer in den Blick genommen werden soll). 29 Mario Praz: Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik. Übers. v. Lisa Rüdiger. München (dtv) 31988, S. 178f. 30 Gay: Die zarte Leidenschaft (a. a. O.), S. 421. 31 Dass Sacher-Masochs Werke zu dessen Lebzeiten einen für einen deutschsprachigen Autor ungewöhnlich großen Erfolg in Frankreich haben konnten, liegt vor allem daran, dass sein Erotismus sich durchaus mit den Konventionen französischer Pikanterie trifft ohne jemals obszön zu werden und diese nur durch einen neuen Akzent slawischer Atmosphäre bereichert, die der damaligen französischen Begeisterung für russische Autoren wie Turgenjew entgegenkam. 32 Vgl. Rita Felski: The Gender of Modernity. Cambridge (Harvard UP) 1995, bes. S. 108–111.

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Die Szene wird eröffnet mit einem Liebesgeständnis. Der extreme Kontrast zwischen ihrer majestätischen Erscheinung und dem Bekenntnis, das in Frau von Kossows Meinung etwas Demütigendes für sie hat, spiegelt sich im Paradox ihres „ruhigen Enthusiasmus“ wider. Dass sie dabei auch den Namen Julians ausspricht und damit ihre Rolle als Tiziansche Venus gleich zu Anfang bricht, macht dieses Tableau gefährlicher als die lebenden Bilder einer Emma Hamilton oder Gutzkows Illumination von Sigune vor Tschiunatulander in Wally die Zweiflerin. Und an Wallys Hochzeitstage zeichneten die Unsichtbaren ein reizendes Gemälde, ein Gemälde in altem Stil, zart, lieblich wie die saubern Farbengruppen, welche sich auf dem sammetweichen Pergamente goldener Gebetbücher des Mittelalters finden. Rings, wie Rahmen und noch hineinrankend in die Szene, Epheu und Weinlaub. Auf den Ästen sitzen Paradiesvögel in wunderbarem Farbenspiel, auf den breiten Blättern der Arabesken schlummern Schmetterlinge, in den Kelchen der Blumen saugen Bienen. Oben schwebt der Vogel Phönix, der fußlose Erzeuger seiner selbst; unten blicken die spitzschnäbligen Greifen und hüten das Gold der Fabel. Bezaubernd und märchenhaft ist die Verschlingung aller dieser Figuren. Es ist wie ein Traum in den tausend Nächten und der einen. Zur Rechten des Bilds aber im Schatten steht Tschionatulander im goldenen, an der Sonne funkelnden Harnisch, Helm, Schild und Bogen ruhen auf der Erde. Der Mantel gleitet von des jungen Helden Schulter, seine Locken wallen üppig, wie von einem Westhauche gehoben. Das Auge staunt; ein Entzücken lähmt die Zunge. Zur Linken aber schwillt aus den Sonnennebeln heraus ein Bild von bezaubernder Schönheit: Sigune, die schamhafter ihren nackten Leib enthüllt, als ihn die Venus der Medicis zu bedecken sucht. Sie steht da, hülflos, geblendet von der Torheit der Liebe, die sie um dies Geschenk bat, nicht mehr Willen, sondern zerflossen in Scham, Unschuld und Hingebung. Sie steht ganz nackt, die hehre Gestalt mit jungfräulich schwellenden Hüften, mit allen zarten Beugungen und Linien, welche von der Brust bis zur Zehe hinuntergleiten. Und zum Zeichen, daß eine fromme Weihe die ganze Üppigkeit dieser Situation heilige, blühen nirgends Rosen, sondern eine hohe Lilie sproßt dicht an dem Leibe Sigunens hervor und deckt symbolisch, als Blume der Keuschheit, an ihr die noch verschlossene Knospe ihrer Weiblichkeit. Alles ist ein Hauch an dem Auge, ein stummer Moment, selbst in dem klugen Auge des Hundes, der die Bewegungen verfolgt, welche der Blick seines Herrn macht. Das Ganze ist ein Frevel; aber ein Frevel der Unschuld. So stand Sigune einen zitternden Augenblick; da umschlang sie rücklings der sardinische Gesandte, der seine junge Frau suchte. Es war ein Tropfen, der in den Dampf einer Phantasmagorie fällt und sie in Nichts auflöst. Die Vorhänge fielen zurück, und Tschionatulander wankte nach Hause. Der Gesandte ahnte nichts. Tiefes Geheimnis.33

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Der Vergleich mit Gutzkows Vorbild zeigt die Komplexität und Durchlässigkeit des Sacher-Masochschen Bildverfahrens. Bei Gutzkow erstarrt die ganze Szene tatsächlich zum Bild, zur illuminierten mittelalterlichen Buchseite, was in weit höherem Maße als bei Sacher-Masoch zunächst einfach auch der Bemäntelung des Anstößigen dient. In dem Moment, wo die das Fenster des Hotelzimmers umgebenden Ranken benannt sind, durch das Cäsar, der Held der Erzählung, Wally beobachtet, verwandeln und versteinern sich diese zur Arabeske und alles, selbst den Betrachter, mit ihr. Sein Schauen ist bereits Teil eines Bildes, sein Name wie der Wallys gehen in diesem verloren, beide sind jetzt Sigune und Tschionatulander und treten dadurch nicht in ein spielerisches Verhältnis, in dem Identitäten einander beweglich durchdringen, sind nicht Teil einer theatralen Inszenierung, sondern eines Bildes, dessen Anzüglichkeit nur noch im Auge des Betrachters, des Lesers liegt, der jetzt als Dritter, als eigentlicher Betrachter, eine frivole Deutung des Geschehens selbst zu verantworten hätte. Unterstützt wird er hierbei zunächst nur durch die Evokation der Geschichten von Tausendundeiner Nacht, die hier – wieder einmal – zur Markierung einer erotischen Epiphanie herangezogen werden, wie das auch schon in der in der Einleitung zitierten Szene aus Stifters Nachsommer der Fall war. Hier wird die Überdeterminiertheit der Keuschheitsbehauptungen, die Überladung mit christlichen Symbolen der Reinheit und Unberührtheit erst durch den (kalkuliert angesprochenen) Zynismus des Betrachters in ihr Gegenteil umkehrbar, als blasphemische Evokation des Sexuellen durch seine überdeutliche Verleugnung. Dagegen wird in Sacher-Masochs Szene das Verhältnis der Agierenden zu den Rollen, die sie spielen, permanent reflektiert. Anders als die Femmes fatales der Kunst- und Literaturgeschichte ist Frau von Kossow nicht wirklich unnahbar, gibt sich preis und wehrt doch zugleich ab. Ihr unentschlossenes Schwanken zeigt sich auch in dieser Situation und unterminiert das Bild, das sie inszeniert. Dennoch kann sie unvermittelt in die Rolle der Gebieterin überwechseln und in dieser so überzeugend sein, dass sie den Betrachter geradezu blendet. Einen ähnlichen Bruch in der Erhabenheit der Komposition bildet die Faszination, die ihre Füße für den Betrachter haben, der „unwürdigste“ Körperteil, der mit der erotischen 33 Karl Gutzkow: Wally, die Zweiflerin, hg. v. Günter Heintz, Stuttgart (Reclam) 1983, S. 56f.

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Faszination, die er ausübt, zugleich Gegenstand einer vom Standpunkt der „Natürlichkeit“ aus formulierten Kulturkritik wird, wie sie in Sacher-Masochs Denken immer wieder begegnet. Sie ist eng mit dem Typus der Venus im Pelz verknüpft, denn sie zieht den Unterschied zwischen klassisch-antiker und moderner Sinnlichkeit in einer Gegenüberstellung der Venus von Milo und Rubens’ Helene Formann oder Tizians Venus im Pelz. „Venus, die im abstrakten Norden, in der eisigen christlichen Welt in einen großen schweren Pelz schlüpfen muß, um sich nicht zu erkälten“34, ist in SacherMasochs Welt immer nur als vom Christentum dämonisierte Göttin präsent, kann den Verlust einer Sinnlichkeit, die edle Einfalt und stille Größe war, nicht rückgängig machen, sondern ist ein Fremder, eine Ahasver-Gestalt, die sich wütend für diese Demütigung rächt. So wird gerade die Pelz tragende Venus, Repräsentantin einer pervertierten modernen Sexualität, zur Zeugin einer versunkenen Einheit von Natur, Sinnlichkeit und Kunst. Die hier zitierte Szene schildert aber nicht eine umgekehrte Pygmalion-Szene, in der die angebetete Frau, indem sie zum Kunstwerk ästhetisiert und petrifiziert wird, gebannt und beherrschbar gemacht wird. Denn jenseits der Inszenierung findet eine Kommunikation zwischen beiden Darstellern statt, die über die sakrale und imperiale Symbolik des Spiels hinausweist. Damit zeigt sich Sacher-Masochs Erfindung weniger dem gewissermaßen utopischen Verfahren Gutzkows verwandt, als jenem Vorbild, von dem eine „Kopie“ zu sein Gutzkows Roman von zeitgenössischen Kritikern nachgesagt wurde35 : George Sands Le´lia. Seine Arme fielen herunter, die Harfe verklang und der junge Mann warf sich vor Le´lia hin und bat sie um ein Zeichen der Liebe und des Mitleids, um ein Zeichen des Lebens oder der Zärtlichkeit. Le´lia nahm seine Hand und zog sie an ihre Augen; sie weinte. – Oh, schrie er bewegt, du weinst ja! Du lebst also endlich? Le´lia fuhr mit den Fingern in Stenios parfümiertes Haar, zog seinen Kopf an ihre Brust und küßte ihn. Eine zärtliche Geste von Le´lia war so selten wie eine Blume im Winter, die aufgeblüht auf dem Schnee liegt. Umso mehr überraschte ihn die heftige Zuneigung der Frau, von deren kalten Lippen er seinen ersten Kuß bekommen hatte. Er wurde ganz blaß, sein 34 Sacher-Masoch: Venus im Pelz (a. a. O.), S. 11. 35 Julian Schmidt: Geschichte der deutschen Litteratur von Leibnitz bis auf unsere Zeit, 5 Bde., Berlin (Hertz) 1886–96, Bd. 5 (1814–1866), S. 250, zit. nach: Kerstin Wiedemann: Zwischen Irritation und Faszination (a. a. O.), S. 86 (vgl. hier auch die Ausführungen zur Abhängigkeit Gutzkows vom Vorbild des Sandschen Romans).

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Herz hörte auf zu schlagen, er glaubte, sterben zu müssen und stieß Le´lia zurück, weil er den Tod nie so fürchtete wie in diesem Moment, als er das Leben gespürt hatte. Er mußte etwas reden, um aus dieser erschreckenden Umarmung auszubrechen, diesem glücklichen Exzeß, der ihm weh tat wie Fieber. – O sage mir, daß du mich endlich liebst! – Habe ich es dir nicht schon gesagt? antwortete sie ihm mit einem Lächeln, wie Murillo es der himmelfahrenden Jungfrau gemalt hatte. – Nein, du hast es mir nicht gesagt, antwortete er, du hast nur, als hättest du sterben sollen, versprochen, daß du lieben wolltest. Das heißt nur, daß du bereut hast, es bis dahin nicht getan zu haben. – Und das glaubst du, Stenio? fragte sie spöttisch kokett. – Ich glaube nichts, aber ich versuche zu erraten, was du meinst, Le´lia! Alles was du mir versprochen hast, ist, daß du versuchen wolltest zu lieben. – Natürlich, sagte Le´lia, ich habe nicht versprochen, daß mir das gelingt. – Hoffst du wenigstens, mich lieben zu können? fragte er so traurig, daß Le´lia gerührt war. Sie umarmte ihn und drückte ihn mit übermenschlicher Kraft an sich. Stenio gab seinen Widerstand auf. Sein Blut kochte wie Lava und verflüchtigte sich genauso. Ihm wurde kalt und warm, wohl und wehe. War das die Freude oder war das die Angst? Er wußte es nicht. [. . . ] und er gab sich seiner heftigen und reißenden Begierde hin, er umarmte seinerseits die Frau, hielt sie fest, drückte seine Lippen auf ihren weißen süßen Mund und die Berührung verrückte ihn noch mehr ... Aber Le´lia stieß ihn zurück und sagte trocken: – Laß mich, ich liebe dich nicht mehr!36

In der Konstellation der byronesken, vielfach enttäuschten und immer wieder suchenden Le´lia, die Kälte zur Schau trägt und zugleich innerlich glüht und dem jüngeren, schönen Romantiker Stenio, deren „Anziehungs- und Abstoßungsmechanismen“ sich hier zu einer Szene verdichten, die, laut Nike Wagner „kaum ihresgleichen haben [dürfte] in der langen Tradition der Liebesliteratur“37, findet sich nicht allein das hierarchische Verhältnis der Masochschen Erfindungen vorgeprägt, sondern auch, und viel wichtiger, die sich aus Paradoxen und Widersprüchen heraus steigernde wechselseitige Fantasieentfachung, die gewissermaßen aus angehaltenem Atem, aus eingefrorener Spannung zum Bild wird, so dass „alles Geschehen im Stillstand der Bewegung“ kulminiert.38 Dieser besteht gerade nicht 36 George Sand: Le´lia. Übers. v. Anna Wheill. Frankfurt am Main (Insel) 1984, S. 67– 69. 37 Nike Wagner: Mutter, Männer, Maskeraden. George Sands „Le´lia“, in: Ebd., S. 236–289, hier: S. 248. 38 Deleuze (a. a. O.), S. 193.

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in der starren Opposition von Herrin und Diener, sondern in der tiefen Verunsicherung, die das einander zum Objekt werden (bei George Sand expliziter in seiner Wechselseitigkeit herausgearbeitet) für beide Akteure bedeutet, die hier wie dort ihr Agieren zugleich reflektieren. So löst auch Frau von Kossows Liebeserklärung, die sich in ihrer Demonstration anschließend in absoluter, überwältigender Form erweist, die Szene aus einer starren Repräsentation weiblicher Hoheit und Unberührbarkeit in einen melancholischen Ausdruck der Unmöglichkeit von Nähe auf, der Unerträglichkeit der Liebe, die sich ausgerechnet in einem Akt der Kommunikation erweist: „Sie verstand mich [ .. .] und winkte mir zu gehen“.

3.3 Projektion und Kommunikation Larissa N. Polubojarinova hat in einem richtungweisenden Aufsatz am Beispiel der Venus im Pelz klargemacht, dass im Umgang mit der Bildlichkeit in den Erzählungen Sacher-Masochs eine Dynamisierung des Verhältnisses von Bildgegenstand, Bildproduzent und Bildbetrachter einsetze, bei der diese traditionell klar getrennten Bereiche in Beziehungen treten, die der Funktionsweise der Fotografie verwandt seien, wie sie etwa Roland Barthes beschreibe. Der im Gemälde zu erzielende, im schwebenden Spiel von Blicken Wandas, Severins und des Betrachters angelegte, in Worte kaum zu überführende (vgl. „es ist nicht zu beschreiben“ V, 116) „schauerliche Reiz“ (V, 116) der masochistischen Szene entspricht ziemlich genau dem Barthesschen Begriff des „punctums“ als eines imaginären Stützpunktes der Rezeption. [. .. ] Die im Phänomen „punctum“ angelegten Momente der Verletzung (also des Schmerzes) und einer „Umkehrung“ der Relation Betrachter/Bild scheinen ausgerechnet das zu sein, was der masochistische Held in seinem „Schauen und Beschautwerden“ sucht.39

Über die Parallele der Schmerzmetapher hinaus liegt die eigentliche Verwandtschaft zwischen Fotografie und Masochismus nämlich vor allem in der Reziprozität des Betrachtungsvorgangs. Masochismus ist „eine Perversion, deren Streben das Schauen und Beschautwerden ist“ heißt es bei Freud.40 Die Fotografie stellt eine dialogische 39 Larissa N. Polubojarinova: Venus auf dem Weg zur Fotografie. Zur Spezifik der Bildlichkeit bei Leopold von Sacher-Masoch, in: Arcadia 42 (2007), H. 2, S. 227– 239, hier: S. 237–239.

3.3 Projektion und Kommunikation

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Form von Bildwerdung dar, bei der das inkommensurable Detail, das nicht geplante, das scheinbar Nebensächliche sprechend wird und dem Betrachter „ins Auge springt“, als „Punctum“, als Stich, als zugefügter Schmerz auch von Barthes bereits beschrieben wird als das zufällige Element, das dazu führt, dass eine Fotografie den kulturellen Rahmen sprengt, in den sie zunächst gestellt ist: Das erste Element ist offensichtlich ein Bereich, ein ausgedehntes Feld, das ich im Zusammenhang mit meinem Wissen meiner Kultur recht ungezwungen wahrnehme [. . .]. Tausende von Photographien gehören in dieses Feld, und gewiß können diese Photographien eine Art von allgemeinem Interesse in mir wecken, mitunter Ergriffenheit, doch diese Gemütsbewegung wird durch das vernunftbegabte Relais einer moralischen und politischen Kultur gefiltert. [ .. . ] Aus studium interessiere ich mich für viele Photographien, sei es, indem ich sie als Zeugnisse politischen Geschehens aufnehme, sei es, indem ich sie als anschauliche Historienbilder schätze: denn als Angehöriger einer Kultur (diese Konnotation ist im Wort studium enthalten) habe ich teil an den Figuren, an den Mienen, an den Gesten, an den äußeren Formen, an den Handlungen. Das zweite Element durchbricht (oder skandiert) das studium. Diesmal bin nicht ich es, der es aufsucht (wohingegen ich das Feld des studium mit meinem souveränen Bewußtsein ausstatte), sondern das Element selbst schießt wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren. [. .. ] Dieses zweite Element, welches das studium aus dem Gleichgewicht bringt, möchte ich daher punctum nennen; denn punctum, das meint auch: Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt – und: Wurf der Würfel. Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft).41

Nicht ohne Grund erinnert Barthes im Zusammenhang mit dem Konzept des studium an das Historiengemälde, denn die klassische Malerei, die in ihren unterschiedlichen Genres und deren Komposititionsregeln eine Ordnung der Dinge herstellt, die das Dargestellte in einen bestehenden kulturellen Rahmen eingliedert, ist die Folie, von der Barthes die Photographie und ihre ästhetische Wirkungsweise emanzipieren möchte. Denn in der Photographie hat der Zufall, das Inkommensurable, einen Platz, ein Moment des „Lebendigen“, das sich dem künstlerischen Kalkül entzieht und gerade dadurch den Betrachter frappiert. 40 Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, in: Studienausgabe Bd. 5, Frankfurt am Main (Fischer) 1989, S. 137–146, hier: S. 67. 41 Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Übers. v. Dietrich Leube. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1989, S. 33–36.

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3 Obsessive Kommunikation – Leopold von Sacher-Masoch

Das Zusammenspiel von studium und punctum lässt sich auch auf die oben zitierte Szene übertragen, indem der mit inszenatorischem Kalkül hergestellte Rahmen das studium bildet, das von Frau von Kossow mit ihrer Anrede Julians, wie vom Blick ihrer Augen durchbrochen wird. Frau von Kossows Blick aus ihren „Pfauenaugen“ ist als Metapher nur scheinbar unglücklich gewählt, denn in ihnen liegt beides, der stiere, gorgonenhafte Blick der Sehorgane dieser Vögel und die „Augen“ in ihrem zum Rad gespannten Federkleid, dessen Pracht lockt und zugleich ängstigt, sind beide gleichermaßen assoziiert in diesem Bild, das Julian einen ganz physisch zu verstehenden Schmerz zufügt. Ähnlich wie die geschiedene Frau wird Wanda Sacher-Masoch in ihrer Lebensbeichte behaupten, sie habe sich zu ihrer Rolle als herrische Peitschenträgerin zwingen müssen. Der erste Brief, den sie selbst jedoch (anstelle von Frau Frischauer, von der sie die Rolle übernimmt und die jetzt nur noch die Reinschrift anfertigt) an Sacher-Masoch verfasst, zeugt von ihrer ungleich höheren Begabung zu diesem Spiel, was Fantasie und sprachliche Ausschmückung angeht. Dieser erste Brief, von dem Schlichtegroll ein Entwurf vorlag, den er als eindeutig von Auroras Hand identifizierte, – offenbar der Brief, zu dessen Autorschaft sie sich später dann auch bekennen wird – lautet: Ich habe heute wieder in ihrer „geschiedenen Frau“ gelesen. Ich könnte Sie hassen um des Glückes willen, daß Sie mit ihr genossen! – Sagen Sie mir, war diese Frau denn wirklich so schön? Ja sie muß schön gewesen sein! Aber ich muß ich will schöner sein und ich bin es. Ich will Ihnen ein Glück bereiten gegenüber welchem Ihnen daß mit F. v. K. in ein Nichts zerrinnen wird. – Doktor! ein Dämon raßt in mir! Ich weiß nicht ist es Liebe oder Haß was mich zwingt Sie zu meinen Füßen zu sehen, vergehend in Lust und Weh! – Sterben möchte ich Sie sehen vor Verlangen, o, während ich dies schreibe, bebt mein Herz in der Erwartung – Sie sollen sehen, was ein Weib kann wenn sie berücken will! – Ich bin fünf Jahre verheiratet, mein Mann liebt mich noch wie an unserm Hochzeitstage, aber seit ich Sie – liebe? – nein! seit ich Sie besitzen will darf er mich nicht berühren – unberührt will ich bleiben bis zu dem Augenblick in welchem Sie mir erliegen und verlangend wie eine Braut will ich den Augenblick erwarten der Sie zu meinen Füßen liegen sieht, wohl weint er Thränen der Wut, mag er sie weinen! Mein Verlangen ist nicht bei ihm. Aber schenken sie mir nicht Ihr Herz hühten Sie sich! ich würde es zertretten, denn ich lege keinen Werth auf ihre Liebe. – Sie lieben Pelze, ja sie sollen einen finden glänzend schön u flaumenweich, Sie sollen Reize finden, die Sie auf den Knien anbethen und nicht zu berühren wagen werden.

3.3 Projektion und Kommunikation

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Noch etwas Doctor, liebten Sie die K. so wie ich in ihrer „geschiedenen Frau“ lese, wahr, treu, innig, aufopfernd? geben Sie mir eine ehrliche Antwort, und wie lieben Sie ihre Verlobte? was fesselt Sie an Fräulein F.? wie konnten Sie sich verloben? Sie dürfen nicht einer Frau angehören oder erwarten Sie Glück in der Ehe mit F.? Fräulein F.? haben Sie in ihr das ideale Weib gefunden daß Sie suchten? Antworten sie mir aber offen und ehrlich. – Wenn Sie diese Zeilen gelesen verbrennen Sie dieselben Sie dürfen sie nur einmal lesen, denn ich habe all diese wahnsinnigen Gedanken hingeschrieben die mich erfassen, wenn ich an Sie denke -42

Trotz seiner Floskelhaftigkeit, trotz einer Reihe von Stilblüten und einer etwas sprunghaften Gedankenassoziation zeigt dieser Brief in seinem das Begehren entfachenden Drängen, seinem Einfallsreichtum an Szenen und Vorstellungen, seiner Dramatik eine begabte Autorin, die ihre Fantasie und hohe Imaginationskraft geschickt einzusetzen vermag, um eine fremde Fantasie zu entzünden. Hierin ist sie der nur auf die Anspielung auf Sacher-Masochs Werke setzenden Frau Frischauer weit überlegen und zeigt zugleich, dass sie zumindest genügend schauspielerisches Talent besitzt, um sich selbst im Schreiben in ihre Rolle hineinzusteigern. Charakteristisch für den ganzen Brief ist die Herausstellung des Situativen, die dem Leser die Autorin im Moment ihres erregten Schreibens möglichst deutlich vor das innere Auge bringen soll. Ausrufe, Wiederholungen, Fragen suggerieren deren physische Präsenz. Dieser Effekt wird sogar unterstützt durch die Sprunghaftigkeit, mit der die Ideen aneinander gereiht werden. Die Idee des (vollkommen erfundenen) zurückgewiesenen Ehemanns, dessen unerfülltes sexuelles Begehren ihm Tränen der Wut auspresst, fügt dem Bild der Briefschreiberin einen Hintergrund, eine Geschichte hinzu, die es nicht nur belebt, sondern die Atmosphäre unterdrückten Verlangens, die den Brief sowieso schon bestimmt, wird dadurch zusätzlich aufgeheizt und geradezu physisch auf den Leser übertragen, der sich zudem geschmeichelt fühlen darf, dass er es ist, der die brünstige Wut dieses Ehemannes verursacht. Die ziemlich kolportagehafte Idee des Verbrennens des Briefes nach einmaligem Lesen trägt einerseits atmosphärisch den Assoziationsbereich von Hitze und Begehren weiter, andererseits betont sie den Augenblickscharakter dieses Schreibens, indem sie den Brief, wie das gesprochene Wort, zu einer vergänglichen, nach einmaliger Aufnahme verschwindenden Sache macht. 42 Zit. nach Schlichtegroll (a. a. O.), S. 232.

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3 Obsessive Kommunikation – Leopold von Sacher-Masoch

Dabei setzt dieser Brief, der eine schamlose Fiktion ist, auf die Wahrheit der Fiktion, wenn ganz selbstverständlich vom autobiographischen Charakter der geschiedenen Frau ausgegangen wird. Diesen hatte nun Sacher-Masoch – unter anderem in dem oben zitierten Brief an Emilie – ja auch rundheraus zugegeben. Und es ist dieser Bereich der Ununterscheidbarkeit von Erfindung und Wirklichkeit, der den Spielraum dieses Briefwechsels bildet. Nun könnte man die Funktion der Literatur in diesem Spiel vor allem in der des Köders von Gleichgesinnten sehen. Bis zu einem gewissen Teil ist sie das sicher auch. Sie erfüllt damit die Funktion einer Flaschenpost, einer in die Welt geschickten Suchannonce, und verschiedene Leserinnen und Leser haben Sacher-Masochs Erzählungen so gelesen. Diese Art der Lektüre ist nichts Seltenes und scheint auch im 19. Jahrhundert häufig die Motivation gewesen zu sein, sich brieflich an verehrte Autoren zu wenden. Louise von Eichendorff etwa, die als Leserin Stifters über dessen ganze Lebenszeit hinweg eine freundschaftliche Korrespondenz mit ihm führte, nimmt in ihrem ersten Brief an ihr Idol Bezug auf dessen Studien, die ihr ein „Gebethbuch in der Einsamkeit“43 seien und Anlass genug sind, den Autor als einen Seelenverwandten sogleich in ihr Haus einzuladen, das, mitsamt dem Garten, sie sich „ermuthigt“ durch dessen Schriften „unter persönlicher Leitung und Anordnung“44 eingerichtet habe. Überaus erfreut, eine Geistesschwester gefunden zu haben, aber jede Möglichkeit zu einer Erhitzung des Tons in Richtung Liebesbriefwechsel abkappend, erklärt Stifter im Antwortbrief sogleich, eine „an Herzen wenn auch nicht an Wissen der Angela in den Feldblumen“45 gleiche Ehefrau zu haben. Aber in solchen Fällen bildet die autobiographische Lesart eines literarischen Werks doch nur einen Anlass und ersten Anknüpfungspunkt. Im vorliegenden Fall zeigt sich jedoch, dass „Emilie“ genau das richtige tut, wenn sie in ihrem Brief Motive aus SacherMasochs Erzählungen zusammenmontiert. Diese stellen Brücken her, Übergänge, durch die der Raum der Literatur zur betretbaren Bühne wird, auf der die weitere Kommunikation stattfinden soll. 43 Louise Freifrau von Eichendorff an Adalbert Stifter am 17. 3. 1852, in: Adalbert Stifter: Briefwechsel, in: Sämmtliche Werke. Bd. 17–24:. Hg. v. Gustav Wilhelm. 8 Bde. Prag (Bd. 1–4) und Reichenberg (5–8) 1919–1939 (im Folgenden „BW“), Bd. XXIII (Briefwechsel, 7. Bd.), S. 81. 44 Ebd. 45 Stifter am 23. 3. 1852, in: BW 2, S. 111.

3.4 Projektion als Interaktion – Sacher-Masoch und Mataja

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Es ist dabei Sacher-Masoch, der vorgibt, welches Spiel gespielt wird und wie. Da wird man sich keinen Illusionen hingeben können. Die Ehe mit Wanda wird nicht allein am materiellen Elend zugrunde gehen, laut Wanda vor allem verschuldet durch Leopolds finanziellen Leichtsinn, sondern auch, weil Sacher-Masoch mit den Jahren immer nachdrücklicher auf den letzten Akt des zu spielenden Stückes dringt, in dem sich der Schluss der Venus im Pelz erfüllen soll: Wanda soll sich einen Geliebten nehmen, mit dem sie Leopold betrügen, schließlich auslachen, demütigen und auspeitschen soll. Dieser Glückliche darf dann die Rolle des schönen und muskulösen „Griechen“ spielen, der den Erzähler in besagtem Roman am Ende voller Verachtung, gespeist aus dem Vollgefühl seiner apollinischen Überlegenheit, mit aller Brutalität auspeitscht. Dass Leopold gegen Ende der Beziehung auch noch den letzten zahnlosen Nachbarn für diese Rolle in Erwägung zieht, zeigt, dass dieser Höhepunkt unverzichtbarer Bestandteil des Stückes ist, der seine Phantasien immer manischer beherrschte. Hier zeigen sich die Grenzen der mythisch-ästhetischen Überhöhung einer mechanischen fixen Idee, wie sie das sacher-masochistische Begehren ist: Das Moment der Erlösung bleibt ausgespart, es gibt nur die Wiederholung des Musters. Immer wieder spielt Sacher-Masoch dieselbe Geschichte durch. Die Wendepunkte, seien es auch tragische Katastrophen, die in seinem literarischen Werk am Ende aller Geschichten stehen und diesen, ist er auch keine Erlösung, doch einen Abschluss geben (die Szene mit dem Griechen etwa ist der Moment, in dem Severin in der Venus im Pelz von seiner Leidenschaft für Wanda geheilt wird und ihr und der Liebe abschwört), werden für seine Nachinszenierungen zu bloßen Variationen des Immergleichen. So wird der durchaus bestehende utopische Impetus von Sacher-Masochs Erzählungen auf das Leben übertragen zur pornographischen Wiederholungspraxis.

3.4 Projektion als Interaktion – Sacher-Masoch und Mataja Wenige Jahre nach seiner Eheschließung mit Rümelin nimmt Sacher-Masoch Briefverkehr mit der angehenden Schriftstellerin Emilie Mataja auf, für die er nicht nur zum schriftstellerischen Lehrer, sondern auch zum Mentor ihrer Emanzipation gegenüber dem wenig

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3 Obsessive Kommunikation – Leopold von Sacher-Masoch

kunstsinnigen Vater wird. Koschorke beurteilt dieses Verhältnis und die Rollen der beiden Briefpartner dabei zu negativ, wenn er darin nur das Verhältnis zweier sich für ihre unterschiedlichen Bedürfnisse jeweils ausnutzender, ganz und gar „marktorientierter“ Schriftsteller sieht. Unterhalb der Mobilisierung aller Wortreserven eines spürbar überlebten poetischen Enthusiasmus – Wortmünzen wie Genialität, Streben nach dem Ideal, Künstlertum, Außergewöhnlichkeit, die deutlich vom gedämpften Sprachgebrauch des Realismus fortstreben und eine Mittelzone zwischen romantischem Epigonentum und literarischer Dekadenz besetzen – treten im Fortgang des Verkehrs immer deutlicher die beiden Einsätze im Spiel zutage: schriftstellerisches Debut auf der einen, erotische Fiktion auf der anderen Seite. Eine fachkundige Anleitung zur Textmanufaktur wird gegen den schriftlichen Unterhalt dieser Fiktion angeboten. Und je mehr Sacher-Masoch auf einen Termin drängt, den er selbst doch fortwährend hinausschiebt, desto unumwundener nennt Mataja ihren Spieleinsatz beim Namen. Es stellt sich heraus, dass sie Siegerin bleibt. Ohne je in nähere Beziehungen zu ihrem Mentor zu treten, hat sie ihm den Einstieg in ihre Karriere als Gesellschaftsschriftstellerin zu verdanken.46

Koschorke, der insgesamt meiner Meinung nach mit Sacher-Masoch zu ungerecht verfährt, verkennt hier den Sinn des masochistischen Spiels, das nicht nach dem Schema des begehrenden alten Lüstlings und des sich so lang wie möglich verweigernden karrieristischen „jungen Mädels“ abläuft. Selbstverständlich instrumentalisiert Sacher-Masoch Mataja für seine sexuelle Obsession, baut sie sofort in seine sexuelle Mythologie ein. Ihre Bitte annehmend, von ihm literarischen Unterricht zu erhalten, gestaltet er bereits in seinem ersten Brief das Lehrer-Schülerinnen-Verhältnis zu einem quasi-erotischen aus, ist sogleich dabei, wieder einmal einen Vertrag zu schließen (bezeichnenderweise ist sie in dieser Phase noch nicht als Herrin imaginiert, sondern als Schülerin, die sich ihm ganz zu verschreiben hat, der zukünftige Sklave erzieht sich eine Herrin). Aber obwohl er selbst mit den Phrasen, die er für den von ihr beschriebenen Zustand der Unzufriedenheit und des Schreibenwollens findet, bereits eine Sexualisierung ihres Bildes vornimmt („Ich glaube mich daher kaum zu irren wenn ich annehme daß es der Drang zu schaffen, der poetische Genius ist, der sich in ihnen regt und ihre Seele vulkanisch erschüttert“47), zeigt sich schon bald, dass seine dichterischen Rat46 Albrecht Koschorke: Nachwort zu Sacher-Masoch: Seiner Herrin Diener. Briefe an Emilie Mataja, München (Belleville) 1987, S. 147. 47 Sacher-Masoch: Seiner Herrin Diener, S. 11.

3.4 Projektion als Interaktion – Sacher-Masoch und Mataja

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schläge ernst gemeint sind und er hier überaus verantwortungsvoll agiert. Dass er ihr manufakturhafte Schreibregeln, Konventionen, Technik des Schreibens beibringen will – was Koschorke moniert – ist für den auf allgemeingültige Regeln angelegten poetischen Realismus nichts Despektierliches. Auch Sacher-Masochs ständig wiederholte Empfehlung, weniger anstößige Inhalte zu wählen (der sie in dieser Phase noch nicht nachkommen will), weil derartiges vielleicht in Frankreich oder auch Russland Erfolg habe, in Deutschland, dem Land der Heuchelei, aber nur abgelehnt werden könne, ist offenbar einer realistischen Einsicht in die Verhältnisse des deutschen Buchmarkts geschuldet. Auch Matajas Annäherung an ihn war bereits ritualisiert vor sich gegangen. Ihren Brief verfasst sie in der Silvesternacht 1874: An Sacher-Masoch! In der letzten Stunde des alten Jahres. Ich sitze allein beim flackernden Kerzenlicht und schreibe an Sacher-Masoch. Ich vergöttere, ich bete Sie in ihren Werken an. Mit ihren Flammenworten, dem Fiebertrunk, der aus Ihren Werken strömt, habe ich mir oft die müde Seele erfrischt, den schlaffen Sinn aufgerüttelt aus seinem Schlafe. Heute trete ich vor Sie hin und sage Ihnen: Erbarmen Sie sich meiner. Ich bin jung und müde. Ein krankes, todtkrankes Herz schlägt in meiner Brust. Ich habe nie geliebt, fühle, daß ich niemals lieben werde. – Sie, Sie allein könnten mich erretten. O! seien Sie mein Freund! Um dies allein flehe ich Sie an. Leer, öde, ekelhaft ist das Leben. Ich habe nur eine Hoffnung, Einen Traum: Ich will Dichter werden wie Sie Sacher-Masoch [ .. .]48

Koschorke rückt diesen Brief in die Nähe von Wanda/Aurora Rümelins Camouflage-Brief, mit dem diese sich, Sacher-Masochs literarischen Stil imitierend, ihm drei Jahre zuvor genähert hatte: Emilie Mataja wendet sich an Sacher-Masoch mit einem zwischen Entsagungspathos und höchst weltlicher Ungeduld schwankenden Tonfall, wie er damals in solchen Situationen üblich gewesen zu sein scheint. Auf ähnliche Weise hatte Aurora Rümelin 1872 einige Briefe an Rosegger adressiert, bevor sie in ihrem späteren Mann einen geeigneteren Partner fand.49

Tatsächlich hat auch diese Schreiberin den schwül-üppigen Ton der Sacher-Masochschen Novellen studiert, kennt den Duktus unterdrückten Begehrens, das sich Luft machen will, wie er dort die Spannung ins Unerträgliche steigern kann. Schon in Bezug auf Auroras Brief hatte sich gezeigt, dass Verstellung aber kein Regelbruch 48 Ebd., S. 9. 49 Ebd., S. 147.

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3 Obsessive Kommunikation – Leopold von Sacher-Masoch

sein kann in einem Spiel, in dem Verstellung gefordert ist. Die Wahl eines gravierenden Datums bei der Abfassung zusammen mit der ritualisierten Form der Ansprache des Briefempfängers, der zunächst in einer Art Beschwörungsformel in der dritten Person angerufen wird, verleihen dem Brief mitsamt seiner flackernden Kerze sicherlich den Anstrich einer überspannt-pubertären Inszenierung. Es ist ein „Fan-Brief“, ein Brief an ein Idol, was hier vorliegt und es hat alle Merkmale eines solchen, von dem naiv zur Schau gestellten Außenseitertum der Verfasserin bis zur Konventionalität der Sprachformeln, die für dieses gefunden werden. Auch hier scheint das Modell der Le´lia durch, was die Frage der Konventionalität sogleich wieder in ein anderes Licht stellt, denn eine solche Sprache, „die in den glänzendsten subjectiven Farben schillert“, so dass „die Wirklichkeit grau und nüchtern“ neben ihr erscheint, womit sie zu einer „skeptische[n] Auffassung des Lebens“50 motiviert, vermochte auch Ende der siebziger Jahre noch zu verstören. Aber genau dies ist die Voraussetzung des interpretativen Verhältnisses, das beide Briefpartner zueinander aufbauen werden. Und der Grund, warum es hier bei einem ausschließlichen Briefverhältnis bleiben wird, scheint mir weniger an Angst oder Verlogenheit eines der beiden Briefpartner zu liegen, als an dem Umstand, dass dieses Verhältnis nur als ein solches funktionieren kann und auch nur als Briefverhältnis konzipiert ist (wenn auch sein Begehren SacherMasoch zwischendurch zu dem Irrtum verleiten mag, in einer Begegnung noch eine Steigerung finden zu können). Koschorke, der Sacher-Masoch und seinem Textverfahren nichts abgewinnen kann, ist in diesem Zusammenhang dennoch in seinen Vorwürfen wiederum ein guter Wegweiser, denn auch er lenkt die Aufmerksamkeit auf die reine Brieflichkeit des diese Beziehung bestimmenden Begehrens: Das wilde Leben ist nur zugelassen in der Form des Textes. Auf dem sicheren Boden der Briefbeziehung kann die Phantasie sich in tabuiertes Gelände wagen. Versagung und Exzeß werden vereinbar um den Preis der Realisierung des Exzesses. Die Distanz zwischen den Beteiligten bedeutet für ein vom Körper in die Phantasie abgeleitetes erotisches Interesse nicht mehr Hindernis, sondern Stimulation. Sie wird als Funktionsbedingung in den Dienst des erotischen Spiels gestellt. Die Institution des Briefverkehrs richtet eine Art Trennscheibe zwischen den Partnern auf, die unter Ausschluß des taktilen Kontakts alle Arten von Präsentation 50 Julian Schmidt: George Sand (a. a. O.), S. 240.

3.4 Projektion als Interaktion – Sacher-Masoch und Mataja

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gestattet. Zwischen der Frigidität der Frau und der Algophilie des Mannes entspannt sich dabei ein eigentümliches semantisches Doppelspiel. Beide sind an der Person des anderen kaum interessiert.51

In diesem letzten Punkt hat Koschorke allerdings Unrecht. Das überraschende dieses Briefwechsels ist gerade: jeder ist dem anderen nur Projektion – seines Begehrens, seiner Karriere-Hoffnungen, seines Versuchs, der Enge der eigenen Existenz zu entkommen – und doch findet hier ein „Encounter“ statt, kommt ein Dialog zustande, durch den beide gewinnen, sie für ihr Selbstbewusstsein und ihr schriftstellerisches Fortkommen (Mataja wird später unter dem Pseudonym Emil Marriot eine Erfolgsschriftstellerin), er zumindest für seine Fantasie, die unausgesetzt Nahrung benötigt. Abermals, wie in der Entkleidungsszene der Baronin von Kossow, wie im von Polubojarinova als „fotografisch“ definierten Bildverfahren der Venus im Pelz, wird auch hier das masochistische Rollenspiel einerseits zugleich unterlegt von einem Dialog über dieses Spiel, andererseits wird es von beiden Partnern auch durchbrochen, gibt es Wechsel im Ton, die eine außerhalb des Kreises des Spiels und der Brieftexte liegende Welt erkennbar machen und einbeziehen. Beide Partner zeigen hier in ihrem Schauspielersein eine enorme Bewusstheit gegenüber ihrer Inszenierung und vermögen es, den Dialog über „Realitäten“, das Erkennen von Problemen und Konflikten mit der Außenwelt und entsprechende Bewältigungsversuche, auf durchaus beeindruckende Weise in den masochistischen Dialog zu integrieren. Ich begreife vollkommen Ihren Drang nach Luxus, Ihre Vorliebe für Seide und Sammt und Putz. Auch ich liebe den Luxus, nicht an mir, aber als Rahmen für ein Frauenbild. Diese Vorliebe ist mit dem poetischen Sinn innig vermählt. Daß Sie dieselbe nicht, gleich den meisten Frauen, durch Hülfe Ihrer Reize sondern durch Ihr Talent, Ihre Arbeit zu befriedigen suchen, ehrt Sie sehr und sichert Ihnen meine vollste Achtung. [nach praktischen Bemerkungen, ihre Arbeit betreffend und dem Angebot, einen Verleger für sie zu finden:] Correctur, welche Ihnen unüberwindliche Schwierigkeiten machen würde, werde ich übernehmen und Ihnen die bereits corigierten Druckbogen senden damit Sie an denselben lernen und ein zweites Werk selbst corigieren können. [. .. ] Sie würden mir eine sehr große Freude machen, wenn Sie mir eine gelungene Photographie von Ihnen senden wollten. Noch mehr würde mich entzücken wenn Sie mir gestatten würden Sie in Wien zu sehen und mich bei dieser Gelegenheit peitschen wollten, natürlich im Pelz. In Ihren und meinen Verhältnißen liegen alle Vorbedingungen der Grausamkeit,

51 Sacher-Masoch: Seiner Herrin Diener, S. 149.

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3 Obsessive Kommunikation – Leopold von Sacher-Masoch

denn Sie sind ein Mädchen und ich – bin verheiratet. Verstehen Sie jezt meinen Schmerzensschrei: Schade daß Sie ein Mädchen sind!“52

Der Umstand ihrer Jugend scheint weniger einen besonderen Reiz für ihn auszumachen, als einer der Hinderungsgründe gewesen zu sein, warum es nie zu einer wirklichen Begegnung gekommen ist. Hierin liegt aber zugleich wieder eine Möglichkeit zur Intensivierung des Verhältnisses. Deutlich spricht Sacher-Masoch den Bildcharakter aus, den das postalische Gegenüber für ihn hat. Dass ein derartiges Verhältnis sich dennoch nicht in wechselseitigen Projektionen erschöpft, sondern gerade einen Rahmen zu liefern vermag, in dem, unter dem Schutz der Rolle, ein Gespräch über Dinge geführt werden kann, die sonst nicht zur Sprache gebracht werden könnten, dass die masochistische Rollenbeziehung eine Szenerie liefert, die es ermöglicht, überhaupt über Sexualität, im Grunde aber für Mataja die Möglichkeit, über ihre Einsamkeit zu sprechen, liegt womöglich weniger im Schematismus des masochistischen Diskurses als in Sacher-Masochs dann doch über die Erfüllung erotischer Fantasien hinausreichendem Interesse für die Autorin, deren Talent er anerkennt und für ernsthaft fördernswert hält. Eine Begegnung auf Augenhöhe zwischen einer Neunzehnjährigen und einem vierzigjährigen verheirateten Mann kann in dieser Weise nur im Brief möglich sein. Es ist, in der Tat sehr schwer für mich, mein Talent zu entwickeln, indem mir jede Anregung vom Außenleben her versagt wird. Ich lebe ein einförmiges, monotones Leben ohne Lust und Aufregungen, langweile mich fast immer und bin oft sehr traurig. Mein Vater ist Kaufmann, sein Stand scheidet mich schon gänzlich von der Gesellschaft, die mir behagen würde. Männer von Geist, Männer die mir gefielen, lerne ich nie kennen. Alle sind zu albern um sich vor ihrem Geiste zu beugen und zu dienen, um Einem das Verlangen einzuflößen, sie zu besiegen und zu unterwerfen. Worte wie: Grausam, interessant, kokett schrecken sie ab bei einem Weibe, sie suchen lieber Güte, Bescheidenheit, Einfachheit. Was wollen Sie, daß man an solchen Anbetern anregend fände? Da bin ich doch lieber ganz allein. – Sie fragen mich ob ich auch recht grausam sei? Ich glaube es zu sein, auch weiß ich bestimmt, daß ich sehr kalt bin. Müßte ich mich einmal einem Manne hingeben – sei es meinem Gatten oder einem Andern – dann thäte ich es gewiß nur aus Verstand oder weil es sein muß und nicht aus eigenem Bedürfniß.53

52 Brief vom 20. Jänner 1875, in: Seiner Herrin Diener, S. 30f. 53 Brief vom 8. April 1875, in: Ebd., S. 67.

3.4 Projektion als Interaktion – Sacher-Masoch und Mataja

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An dieser Stelle ist es nicht mehr der Ennui einer Le´lia, der hier ausgestellt wird. Das Bekenntnis durchbricht, wie ich zuvor schon angedeutet habe, hier frappierend die Kulissen der erotischen Inszenierung. Sacher-Masoch sieht sich mit einem Mal ausdrücklich als Ratgeber angesprochen. Und es gelingt ihm in seinem Antwortschreiben durchaus, diese neue Rolle anzunehmen, und zwar nicht, indem er sie gegen die des Erotomanen, des lustvollen Sklaven, austauscht, sondern indem er beide verknüpft. Ich finde es sehr begreiflich daß Ihnen das Leben in bürgerlichen Kreisen nicht zusagt, jede feinere Regung Ihrer Seele, ja Ihres Geschmacks wird durch engherzige Bedenken gestört und unterdrückt. Sie brauchen eine ganz andere Sphäre um zu gedeihen. Diese Sphäre kann Ihnen nur Ihr Talent erobern, allerdings aber für jezt nur im Einvernehmen mit Ihrem Vater. [ .. . ] Sobald Sie das nöthige Geld haben, sagen Sie Ihrem Vater daß Ihr Talent zur weiteren Ausbildung der Bewegung bedürfe und daß Sie ein Jahr in Italien leben wollen. In den ersten Städten Italiens lebt man billiger als in den kleinsten Oesterreichs (um ein Beispiel zu geben kostet ein Kalbsbraten im Gasthaus in Venedig 15 kr., in unserem Gelde, in Bruck 32 kr.) [ .. . ] Ich würde Ihnen aber rathen sich jezt schon im Italienischen und Französischen zu üben. Mit Hülfe der letzteren Sprache können Sie sich mit den meisten Nichtdeutschen verständigen. In Italien hat man auch den großen Vortheil daß man thun kann was einem beliebt. Die Klatschsucht ist ein spezifisch deutsches Laster. Dort fällt es niemandem ein sich zum Richter über die Handlungen anderer aufzuwerfen. Ich kenne eine Reihe Damen die in Italien in freier Ehe lebten und allgemein respektirt waren. Sie würden auch ohne Zweifel intereßante Männer kennen lernen, nicht von jenem Genre daß Sie jezt umgiebt und Ihnen so wiederwärtig ist. Wenn Ihr schönes Talent sich ganz entfalten soll müßen Sie die Welt, das Leben und vor Allem die Liebe kennen lernen, sie müßen alle Wonnen und alle Schmerzen der letzteren, durch Andere leiden und Andere grausam quälen wie es eben kommt. Sie fragen mich in jenem Briefe ob der sinnliche Genuß wirklich so schön ist. Es ist die höchste Wonne die dem Menschen zu Theil werden kann. Aber es ist Thatsache daß es Frauen giebt welche Kinder haben und den Genuß nicht kennen. Der Mann genießt immer, aber in der Regel ist er so egoistisch gar nicht zu fragen ob das Weib auch genießt, und da es gar nicht so leicht ist ein Weib genießen zu machen, ist der Egoismus des Mannes in dieser Richtung eine sehr häufige Ursache der Untreue der Frau, deren Drang nach den Freuden der Liebe in der Ehe nicht gestillt wird. [. . . ] Ja, Sie müßen in das Leben, in die Welt hinaus, Sie müßen sich anbeten laßen und endlich auch selbst lieben, aber geben Sie nur gleich die Idee auf als Mädchen sich einem Manne hinzugeben und mit ihm in freier Ehe zu leben. Emancipiren Sie sich vollständig, ich billige es, aber thun Sie es erst als Frau.

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3 Obsessive Kommunikation – Leopold von Sacher-Masoch

Wir sind leider noch nicht so weit daß man einem Mädchen verzeiht, was man einer Frau kaum übelnimmt. Zudem wird ein Mann von ehrenhaftem Charakter ein solches Verhältnis mit einem Mädchen gar nicht eingehen, und jener der es eingeht, ist der Hingebung nicht werth.54

Es ist rührend, zu sehen, wie Sacher-Masoch hin- und hergerissen ist zwischen dem Versuch, seiner Briefpartnerin tatsächlich einen halbwegs vernünftigen Ratschlag zu geben, ihr eine Perspektive gibt, einen Traum, auf den sie hinleben kann, der ihr ihre gegenwärtige Situation leichter machen könnte, ohne sie dazu zu verleiten, eine unbedachte, ihre ganze Existenz zerstörende Handlung zu begehen – und andererseits in der Ausschmückung dieser Vision, je detaillierter er wird, selbst immer mehr Feuer fängt und dann doch mehr und mehr zum Opfer seiner eigenen Fantasien wird und sich schließlich selbst in diesen Traum einklinkt: Wie schön wäre es wenn Sie schon den nächsten Winter nach Italien gehen könnten. Ich würde dann mit meiner Familie auch hingehen, an demselben Orte leben wo Sie sich niederlaßen und wir könnten sans geˆne verkehren, uns täglich sehen, und ich könnte Ihr Sklave sein im vollsten Ernste ohne daß Jemand eine Ahnung hätte oder Ihr Ruf darunter leiden würde.55

Sacher-Masochs Projektionen sind zwar monomanisch im Sinne einer Fixierung auf ein bestimmtes Wunschbild, kreuzen und überblenden einander aber in den vielen Aspekten, die die Beziehung zu anderen Menschen haben können. Dem entspricht, was Aurora Rümelin/Wanda von Sacher-Masoch in ihren Lebenserinnerungen von der (trotz immer wieder hervorbrechenden Unmuts über die ungeregelten Zustände) glücklichsten Zeit berichtet, die sie mit Leopold verbrachte, dass beider Haushalt ein Treffpunkt für die unterschiedlichsten Charaktere, sexuelle und gesellschaftliche Außenseiter, Hochstapler und Selbstdarsteller war, die alle ihre Selbstinszenierungen nebeneinander produzierten und den einzigen gemeinsamen Bezugspunkt möglicherweise in der Person Sacher-Masochs selbst hatten, dessen Literatur man schätzte, weniger aus Interesse für ihre Qualität, als wegen der Verheißung, die den ganz verschiedenen Leserinnen und Lesern daraus hervorzugehen schien: die Möglichkeit der Realisierung einer fantasierten Identität und des Nebeneinanders solch unterschiedlicher Identitäten.

54 Seiner Herrin Diener, S. 70f. 55 Sacher-Masoch: Seiner Herrin Diener, S. 72.

3.5 Masochistische Utopien

197

Denn Sacher-Masoch, das hat bereits Kai Kaufmann an den galizischen Erzählungen aufgezeigt56, ist ein Autor des Habsburgmythos, des Ausgleichs des nebeneinander bestehenden Unterschiedlichen, wie kaum ein anderer.

3.5 Masochistische Utopien – Ausgleich als Nebeneinander von Arbeit und Lust Die Venus im Pelz ist Teil eines sechsbändig konzipierten Zyklus aus Romanen und Erzählungen, der Das Vermächtnis Kains heißen sollte und eben dieses Vermächtnis, die Grundübel der Menschheit, zum Gegenstand haben sollte: Die Liebe der Geschlechter, das Eigentum, den Krieg, den Staat, die Arbeit und den Tod. Abgeschlossen wurden nur die „Liebe“ und das „Eigentum“. Im 1. Theile „Die Liebe“ behandelt 1. Don Juan von Kolomea die Ehe auf gewöhnlicher sinnlicher Basis 2. Der Capitulant die Gemütsliebe 3. Mondnacht eine fantastische Liebe 4. Venus im Pelz die Gefahren der heimlichen Leidenschaft 5. Die Liebe des Plato die geistige Liebe 6. Marzella enthält die Lösung, zeigt die sittlichen Grundlagen auf welchen ein dauerndes und glückliches Verhältniß, eine ideenhafte Ehe zwischen Mann und Weib möglich ist.57

Die Frage nach der Möglichkeit einer modernen Ehe, ein bereits von der jungdeutschen Literatur verhandelter Gegenstand, wird in einer Weise gelöst, die abermals unter dem Einfluss der George Sand steht. Diesmal nicht mehr nur in der Atmosphäre, die evoziert wird, sondern tatsächlich im ideologischen Konzept einer klassenüberspannenden Liebesehe zwischen Aristokrat und „Frau aus dem Volk“, die – unter Ausgrenzung des verhassten Bourgeois – auch die soziale Utopie der George Sand bildet. Die beiden zustande gekommenen Abschlusserzählungen – Marzella und Das Paradies am Dnjestr gehen direkt oder indirekt auf Sands emanzipatorisch-sozialistische Ideen zurück.

56 Kai Kaufmann: Slawische Exotik und Habsburger Mythos. Leopold von SacherMasochs Galizische Erzählungen, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 52 (2002), H. 1, S. 175–190. 57 Leopold von Sacher-Masoch: Prospekt des Werkes Das Vermächtniß Kains, in ders.: Don Juan v. Kolomea. Galizische Geschichten, hg. v. Michael Farin, Bonn (Bouvier), S. 179f.

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3 Obsessive Kommunikation – Leopold von Sacher-Masoch

Im Meunier d‘Angibault (1845) schließen sich die junge adelige Witwe Marcelle de Blanchemont und der „plebejische“ Sozialist Henri Le´mor, die einander lieben, zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammen: „Nous travaillerons tous ensemble et nous nous associerons pour les profits“58. Ähnlich sieht es am Ende von Marzella aus: Alexander, ein adeliger Gutsbesitzer und Marzella, eine einfache Bäuerin, realisieren ihre Liebe durch gemeinsame Arbeit und gemeinsame geistige Beschäftigung: Nur durch die Bildung kann der Mensch – das Weib so gut wie der Mann – seine selbstische, gewaltthätige und treulose, ja grausame Natur überwinden, und durch Bildung, durch Erkenntniß allein kann er glücklich werden. Nicht äußere Güter, nicht sinnliche Genüsse, nur geistige Freuden gewähren vollkommene Befriedigung.59

Am Ende aller Aufregung stehen also Ruhe und Behagen, steht ein Konzept von Entsagung, das von Marzella mit buddhistischen Lehren in Verbindung gebracht wird, genauso aber identisch ist mit dem habsburgischen Programm eines befriedeten Nebeneinander unterschiedlicher Völker, zu dessen glühendsten Verteidigern SacherMasoch insbesondere nach der Niederlage von Königgrätz gegen alle Stimmen deutschnationaler Identitätsbildung wurde. Ein Konzept, in dem das allgemeine Menschheitsinteresse über nationale und individuelle Egoismen gestellt wird: Welche große, welche herrliche Aufgabe hat [. .. ] unser von blinden Aposteln des Völkerhasses oft verlästertes und verleumdetes Oesterreich zu erfüllen, eine Aufgabe, welche ungleich erhabener und humaner ist, als jene aller rein nationalen Staaten [. .. ]! Unser Oesterreich ist eine Welt im Kleinen. Alle großen Racen Europas sind in demselben vertreten und hier ist ihnen der Boden gegeben, auf dem sie friedlich mit einander in Berührung treten und die Harmonie der Zukunft vorbereiten können. Statt sich in nationalen Zänkereien zu ermüden, sollen die Völker Oesterreichs ihre große Mission erfassen und, dem Wahlspruche ihres edlen Kaisers gemäß, mit vereinten Kräften durchführen. Wie die Menschheit über dem einzelnen Volke steht, so sind auch die humanen, die ganze Welt umspannenden Bestrebungen hoch erhaben über den egoistischen nationalen. Diesen edelsten Bestrebungen in herzlicher Eintracht nachzugehen, das ist die friedliche Arbeit, welche die Weltgeschichte den Völkern unserer Monarchie zugewiesen hat; durch sie kann und soll unser Oester58 George Sand: Le Meunier d‘Angibault, hg. v. Marielle Caors, Grenoble (E´dition de l‘Aurore) 1990, S. 269. Vgl. Norbert Bachleitner: Der englische und französische Sozialroman des 19. Jahrhunderts und seine Rezeption in Deutschland, Amsterdam, Atlanta (Rodopi) 1993, S. 203. 59 Ebd., S. 504f.

3.5 Masochistische Utopien

199

reich ein Vorbild für alle anderen Staaten des Welttheils werden; ein kleines Europa für sich.60

Das Erringen dieses Ausgleichs ist das Ziel, auf das Sacher-Masochs Kain-Novellen in ihren thematischen Reihen zulaufen und wie es jeweils in der letzten Erzählung – in dieser wie im Paradies am Dnjestr, das den Abschluss des Zyklus Das Eigentum bildet – entworfen wird. Als Motto für das Märchen vom Glück wählt Sacher-Masoch einen Satz aus John Stuart Mills (gemeinsam mit seiner Frau verfasstem, deren Name ironischerweise aber nicht im Titel genannt wurde) Manifest der Frauenemanzipation The Subjection of Women (1869),61 dessen Lektüre der Niederschrift der 1870 im ersten Band des Vermächtnis Kains erschienenen Erzählung nur kurz vorausgegangen sein kann. Neben dem habsburgischen Ausgleichsmodell steht sicherlich auch Mills Konzeption einer Gleichberechtigung von Mann und Frau auf der Grundlage der natürlichen Gleichheit der Geschlechter Pate bei der am Ende der Erzählung zwischen den Liebenden geschlossenen standesübergreifenden, durch gemeinsame Arbeit gefestigten Beziehung. Aber wo für Mill die Gleichheit von Mann und Frau auf der republikanischen Idee der Gleichheit der Menschen beruht, einhergeht mit der Ablehnung der Aristokratie und der Sklaverei und aus dieser hergeleitet wird, da muss in Sacher-Masochs Konzept, allen demokratischen, teilweise sogar sozialistischen Überzeugungen zum Trotz, aus nachvollziehbaren Gründen ein Refugium für Ungleichheit und Sklaverei offengehalten werden, und bezeichnenderweise ist das in dieser Erzählung formulierte Gleichheitskonzept eines wechselseitiger Sklaverei: 60 Leopold von Sacher-Masoch: Ostern. Feuilleton, in: Grazer Morgenpost, Nr. 89 (Beilage zur Grazer Zeitung vom 13. 4. 1879), unpag. Zit. nach: Peter Stachel: Übernationales Gesamtstaatsbewusstsein in der Habsburgmonarchie. Zwei Fallbeispiele, in: kakanien revisited, http://www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/PStachel1.pdf [ÖG], S. 6 (letzter Zugriff am 16. 9. 2009). 61 „Unlikeness may attract, but it is likeness which retains“ (John Stuart Mill: The Subjection of Women. London (Longman) 1869, S. 170. Zwar erschien Jenny Hirschs Übersetzung bereits im selben Jahr wie das Original, Sacher-Masoch scheint jedoch nicht auf diese zurückgegriffen haben, da seine stark antagonisierende, den Aspekt von Widerspruch und Dissonanz herausstellende Variante („Gegensätze mögen anziehen, aber Uebereinstimmung allein hält zusammen“) von der Hirschs abweicht, die übersetzt: „Das Ungleichartige mag anziehen, aber nur das Gleichartige vermag festzuhalten“ (zit. nach: John Stuart Mill/Harriet Taylor Mill/ Helen Taylor: Die Hörigkeit der Frau. Texte zur Frauenemanzipation. Hg. v. Hannelore Schröder. Frankfurt am Main (Syndikat) 1976, S. 264.

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3 Obsessive Kommunikation – Leopold von Sacher-Masoch

„Das versteht sich doch von selbst,“ erwiederte mein Freund, daß die Ehe mit unsern natürlichen Trieben in Widerspruch tritt, darauf muß ein Jeder gefaßt sein. Entsagen heißt es auch im besten Falle, aber für das Flüchtige, Blendende, dem man entsagt, gewinnt man dauernd Werthvolles, und das ist das Herrliche der Ehe, daß sie die beiden Pole, die beiden Faktoren menschlichen Glückes: Entsagung und Genuß, so schön vereint. Und was ist am Ende die Liebe als Selbstentäußerung? Aber sie wird gefährlich, ja verderbenbringend, wo Eines sich ausschließlich dem Andern hingibt und zu seinem Sklaven wird. In der Ehe aber ist diese Entäußerung gegenseitig, und darin die sicherste Wurzel unseres eigenen Glückes. Wir fühlen nie eine höhere Befriedigung, als wenn wir uns für Andere, die wir lieben und von denen wir uns geliebt wissen, aufzuopfern meinen.62

Anders als Mill geht Sacher-Masoch weiterhin von einem hobbesianischen Konzept der menschlichen Natur aus, der Bildung entgegenwirkt, anstatt, im rousseauistischen Sinne, ihre positive Entwicklung anzutreiben. So bleibt hier auch ein verdrängter Rest des Zerstörerischen bestehen, der nicht aufgelöst werden kann und unterhalb aller befriedeten Eintracht weiterhin für eine erotische Spannung der Verhältnisse sorgt, die hier durch den Dritten im Bunde, ein Member of the Wedding, repräsentiert wird, das ganz unerwartet auftaucht: den Severin aus der Venus im Pelz. Den bringt der Erzähler mit, der am Ende das glückliche Paar besucht. Und trotz seiner schlimmen Erfahrungen mit Wanda und dem Griechen und dem daraus erfolgten Abschwur aller Schmerzlust, ist er offenbar noch immer nicht von seiner „heimlichen Leidenschaft“ geheilt (was erneut Deleuzes These von der Unauflösbarkeit der Sacher-Masochschen Erzählungen belegt) und bleibt gegenüber dem von Marzella und Alexander vorgelebten Ausgleich skeptisch: „Ich kann nicht mit Ihnen streiten Gräfin,“ erwiederte Severin lächelnd, „denn Sie haben eine Art, mit Ihrer tief melodischen Stimme, mit Ihren großen treuen Augen zu überzeugen, der Niemand widerstehen kann.“ „Nein, das ist es nicht,“ unterbrach ihn Marzella mit der liebenswürdigsten Bosheit um die Lippen, „es ist nur die Pelzjacke,“ und sie strich muthwillig mit den feinen Fingern durch die goldenen Haarspitzen des Zobels. „Auch das nicht,“ erwiderte Severin, „ich gestehe Ihnen sans fac¸on, daß ich verliebt in Sie bin, aber gewiß nur deßhalb, weil Sie nicht mir gehören, denn jede Frau, welche ich besitze, langweilt mich in kürzester Zeit. Sie sehen also, daß mein individuelles Glück im Wechsel liegt, in der Unruhe.“

62 Sacher-Masoch: Marzella oder Das Märchen vom Glück (a. a. O.), S. 478f.

3.5 Masochistische Utopien

201

„Wie wäre das möglich,“ sprach Alexander, „du überredest dich aber, daß alles das, womit du deine Unzufriedenheit betäuben willst, deiner Natur entspricht.“ Die Gräfin drohte Severin mit dem Finger. „Sie sind offenbar nicht vollständig geheilt.“ „Meinen Sie, daß ich wieder die Peitsche brauche,“ rief er. „Gewiß,“ sagte sie mit komischem Pathos, „aber diesmal die geistige, und die sollen Sie fortan von mir so lange zu kosten bekommen, bis Sie sich besiegt erklären und eine Frau nehmen, eine brave natürlich, und keine „Venus im Pelz.“ Zu diesem Zweck müssen Sie aber vor Allem einsehen lernen, daß das Glück, das Behagen des Menschen nicht in der wilden Jagd des Daseins, im stürmischen Wechsel, sondern in der Ruhe liegt; schon der Inder hat Aehnliches gelehrt und die neuere Philosophie hat es bestätigt.63

Indem Marzella Severin zum Gegenstand ihrer Erziehung macht, erhält das vollkommene Verhältnis zu Alexander erst sein Publikum und damit seine Funktion. Auch das trotzige Beharren des Severin auf seiner Perversion und Marzellas Spiel mit dieser ist wieder eine masochistische Inszenierung. Übertrumpft wird das alles, wenn Alexander am Ende ein Bild vorführt, das Marzella als Madonna im Pelz zeigt, das Gegenbild zur Tizianschen Venus im Pelz, die Severins Verwirrungen auslöste. Nur scheinbar wird hierin alles besänftigt. Tatsächlich wird die masochistische Inszenierung, das Spiel mit Bildern, fortgesetzt – ob als Venus oder als Madonna im Pelz, eine Erotisierung des Umgangs findet jeweils statt, in der alle Verhältnisse der Menschen untereinander durch Zeichen bestimmt sind, die auf regelrecht aggressive Weise zur Interpretation herausfordern. Severin wird einbezogen in diese Verbindung – und in gewissem Sinne braucht diese Ehe auch Severin. Denn letztlich stellt sie keine Überwindung des Masochismus dar, sondern dessen Kulmination. Wenn Masochismus laut Deleuze Vertrag, Aufschub und Erziehung ist, so stiftet er hier das Modell für eine Ehe, in die der Aufschub integriert ist, die durch Severin gerade noch vor der Selbstauflösung in vollkommener Harmonie gerettet wird. Sie erhält durch ihn ein dynamisches Moment, wie es Sacher-Masoch auch in seinen eigenen Verhältnissen immer gesucht hat. Allerdings ging die Beziehung zu Wanda Dunajew unter anderem wohl auch an dieser Suche nach dem „Dritten“ zugrunde. Entrüstete Zeitgenossen und der Psychiater Richard von KrafftEbing haben Leopold von Sacher-Masoch zum Einzel- und Son63 Ebd., S. 519.

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3 Obsessive Kommunikation – Leopold von Sacher-Masoch

derfall stilisiert. Zum Außenseiter und Exzentriker, zur interessanten Ausnahme. Aus der Perspektive einer nicht germanistisch beschränkten Literaturgeschichte steht er jedoch in einer Flucht von Autoren, die allesamt gegenüber den Prinzipien des „poetischen Realismus“ zwar als moralisch skandalös erschienen, in deren Umgebung Sacher-Masochs Projekt jedoch über den Einzelfall hinaus weiter tragend erscheint. Neben der bereits genannten George Sand gehört in diese Reihe eigentlich schon Balzac, der in gewissem Sinne zu den wichtigen Vertretern des Masochismus in der Literatur und in jedem Fall zu den wichtigsten Theoretikern der Liebe und Ehe im 19. Jahrhundert gehört. Nicht allein in dem als satirisch-sarkastischer Ratgeber aufgezogenen Frühwerk der Physiologie du mariage von 1829, sondern auch in seinem erzählerischen Werk gehört er neben George Sand, allerdings ohne deren Idealismus, zu den Autoren, die die zeitgenössischen Ehe- und Liebesvorstellungen immer wieder kritischer Darstellung unterzogen haben. Die relativ späten und bereits unter dem Einfluss George Sands entstandenen Me´moirs de deux jeunes marie´es von 1841 kann man in dieser Beziehung als ein regelrechtes Experiment betrachten, in dem mit den Mitteln des 18. Jahrhunderts – im Briefroman und in der marivauxesk-experimentellen Gegenüberstellung zweier ganz spiegelbildlich konstruierter Freundinnen, die nach der Erziehung im Kloster zwei entgegengesetzte Wege in der Liebe gehen – beide Versionen letztlich als Prozess der Selbstinszenierung darstellt, die nicht mehr „falscher Schein“ ist, sondern identitätskonstitutiv im Sinne einer Identität als erlernter Rolle. Die eine, Rene´e de Maucombe, die dann Mme de l‘Estorade wird, sucht nach Stabilität und Sicherheit und geht eine Ehe ein, die auf gegenseitigem Respekt, aber wenig Leidenschaft basiert, die andere, Louise de Chaulieu, sucht nach der absoluten Liebe und setzt in ihrer Beziehung zu dem hässlichen Spanier Felipe Macumer alle Inszenierungsmittel des retardierenden, ästhetisierenden Verzögerns, der bewussten Distanzierung, zur Erhöhung der Imaginationsleistung und – hier nimmt sie Sacher-Masoch vorweg – eines Spiels von Herrin und Sklave dazu ein. Mögen Sie wissen, daß ich seine [Dantes] „Hölle“ durchsucht habe nach der schmerzlichsten aller Qualen, nach einer schrecklichen moralischen Züchtigung, die ich mit der ewigen Rache Gottes verbinden will. Sie haben also gestern durch Ihr Betragen die kalte, grausame Klinge des Verdachts in mein Herz gestoßen. Begreifen Sie? ich habe an Ihnen gezweifelt und so sehr darunter gelitten, daß ich nicht länger zweifeln will.

3.5 Masochistische Utopien

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Wenn Sie den Dienst bei mir zu hart finden, geben Sie ihn auf, ich werde es Ihnen nicht übelnehmen. Weiß ich etwa nicht, daß Sie ein Mann von Geist sind? [. . .] Unsere Schätze müssen so tief vergraben sein, daß die ganze Welt sie mit Füßen tritt, ohne es zu merken. Wenn Sie schön wären, hätte ich Ihnen zweifellos nie die geringste Aufmerksamkeit geschenkt und nicht die unzähligen Gründe in Ihnen entdeckt, die die Liebe erblühen lassen; und obgleich wir sie nicht kennen – so wie wir nicht wissen, wie die Sonne Blumen blühen oder Früchte reifen läßt –, gibt es doch einen Grund unter den vielen, von dem ich weiß und der mich bezaubert. Ihr erhabenes Antlitz hat seinen Charakter, seine Sprache, seine Physiognomie nur für mich. Ich allein habe die Macht, Sie zu verwandeln, Sie zum anbetungswürdigsten aller Männer zu machen [. . .]“64

Einen Vertrag zur wechselseitigen Erregung ihrer Phantasie haben Louise de Chaulieu und Felipe Macumer abgeschlossen, der ihre Beziehung in der Tat zu einer masochistischen im Sinne Deleuzes macht. Ihr Verhältnis bezieht seine Energie aus der Umkehrung der Werte von hoch und niedrig, hässlich und schön, durch die es sich absondert und „privatisiert“ und zugleich diskursiviert, sich als dauernde Übertragung, als permanente Denkarbeit, als intellektueller Transfer fortschreibt (die Hässlichkeit des Geliebten wird nicht verklärt, sondern ist vielmehr das Punctum, an dem sich die Imagination der Liebenden entzündet, an dem sich zugleich die Ausnahmehaftigkeit ihrer Liebe erweist). In dieser Ausnahmehaftigkeit und Exklusivität fällt dieses Liebesverhältnis ebenfalls unter das Paradigma der Literatur- und Briefliebe, die sich immer auch gegen den Widerstand einer Außenwelt konstituiert. Stendhals Entdeckung der Liebe als Imaginationsleistung findet hier ihre Einlösung in einer versiert betriebenen Technik der Liebeserzeugung, der, entgegen dem ersten Anschein, auch Louises Freundin folgt, die Anhängerin der pragmatischen Ehe, die bei ihrem Mann „jenes gleichmäßige und andauernde Glücksgefühl“ erwartet, „das eine glückliche Ehe verschaffen muß, wenn Mann und Frau, einer des anderen sicher, sich gut kennen und das Geheimnis entdeckt haben, das Unendliche zu variieren, den Urgrund des Lebens zu verzaubern.“65 Auch sie entdeckt, als sie schwanger wird, die Paradoxien, der Übertragungsliebe, die Genüsse, die Umkehrungen der Imagination verschaffen:

64 Honore´ de Balzac: Erinnerungen zweier junger Ehefrauen (Me´moirs de Deux Jeunes Marie´es dt.). Übers. v. Karin Bonsack. Berlin (Aufbau) 1987, S. 131f. 65 Ebd., S. 91f.

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3 Obsessive Kommunikation – Leopold von Sacher-Masoch

Ich eile nach Marseille, manchmal zu Fuß, um in einer kleinen Straße, die zum Hafen führt, ganz in der nähe des Rathauses, halb verfaulte billige Orangen zu einem Liard zu verschlingen; ihre bläulichen und grünlichen Schimmelflecke strahlen mich an wie Diamanten: es sind Blumen für mich, ich vergesse ihren modrigen Geruch und finde in ihnen eine aufreizende Würze, die Hitze des Weins, einen köstlichen Geschmack.66

In der Kristallisation des „hässlichen“ Zweigs, der „hässlichen“ Hand der Mme Gherardi bei Stendhal hatte ein Aufbegehren der Einbildungskraft gegen ein etabliertes metaphysisches System, das Liebe, Schönheit und Wahrheit fest und statisch miteinander verknüpft, gelegen. Wo die Liebe als Aktivität der Einbildungskraft entsteht und sich erhält, muss sie dieses System herausfordern, muss seine Werte umkehren: eine schöne Hand, ein schöner Mann, bieten der Imagination keine Aufgabe, die hat sie nur dort, wo es Spannungen gibt, Widerstände. Die Imaginationsliebe benötigt den Widerspruch, den Gegensatz. Mme de l‘Estorade, in ihrer harmonischen Ehe, muss erst schwanger werden, um das zu erfahren – an verfaulten Orangen. Severin, als dritter im Bunde des vollkommenen Paares Alexander-Marzella ist dieser eingebaute Widerspruch in dieser vollendeten Liebe. Wie die Möglichkeit der Untreue, die die Phantasie der Protagonistin in einer Erzählung von Robert Musil beschäftigt: „Aber ihr war dabei, als ob sie an etwas dächte, das sie einmal im Frühling empfunden hatte: dieses wie für alle da sein können und doch nur wie für einen. Und ganz von fern, wie Kinder von Gott sagen, er ist groß, hatte sie eine Vorstellung von ihrer Liebe.“67 Severin als der Zwischenmensch dieser Beziehung, die Möglichkeit von Pelz und Peitsche, ein „als ob“ und ein „wie“, der in „das traumdunkelenge Nur durch den andern sein, das Inseleinsame des Nichterwachendürfens, dieses wie zwischen zwei Spiegeln Gleitende der Liebe“, „das wunderbare, gefahrvolle, steigernde Wesen der Lüge“ hineinträgt, die „Maske“68 – das Medium der Kommunikation. Darin ist Sacher-Masoch ganz österreichischer Autor, dass er an den Schluss seines Zyklus der „Liebe“ einen Ausgleich setzt: von ehelicher, mütterlicher und erotischer Liebe. Dass dieses Verhältnis 66 Ebd., S. 164. 67 Robert Musil: Die Vollendung der Liebe, in: Sämtliche Erzählungen, Reinbek bei Hamburg (Rowohlt) 1979, S. 182f. 68 Ebd., S. 177.

3.5 Masochistische Utopien

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dabei eines der Spannungen und ausgehaltenen Widersprüche ist, hebt diese imaginationsmanipulative Liebestechnik über den Tatbestand einer bloßen „Projektion“ hinaus und stiftet die Bedingung der Möglichkeit ihrer Gestaltung durch Literatur und Schrift.

4 Adalbert Stifter oder die Vollendung der Briefliebe . . .mit fühlenden geistigen Menschen gleichsam einen unsichtbaren Umgang zu haben, das war ungefähr die Grundlage meiner Schriften. Adalbert Stifter an Louise von Eichendorff Von Stifter sind nur die Briefe gut, sagte Reger, alles andere ist nichts wert. Thomas Bernhard, Alte Meister Meine Werke werden alle in Briefen geschrieben Adalbert Stifter an Sigmund von Handel

4.1 Adalbert Stifter, ein Autor in Briefen Obwohl Friedrich Sengle für die Biedermeierzeit einen enormen Zuwachs an Editionen von „Originalbriefen“ konstatiert, der etwa 1828/29 mit der Veröffentlichung des Briefwechsels zwischen Goethe und Schiller einsetze und mit den außerordentlich erfolgreichen Publikationen der Briefe Rahel Varnhagens (1833) und Wilhelm von Humboldts Briefen an eine Freundin (1847) nur einen Höhepunkt erlebe, der stellvertretend für zahllose weitere Editionen und deren Wertschätzung als eigenständige literarische Form durch die Zeitgenossen stehe, und obwohl Adalbert Stifter für Sengle als der Prototyp eines Autors des Biedermeier gilt, geht er auf dessen Briefe nicht ein.1 Das wurde bereits von mehreren Autoren festgestellt, die diesen Umstand zum Anlass genommen haben, Sengles Thesen zum Brief der Biedermeierzeit an dem umfangreichen Korpus des in acht Bänden erhaltenen Stifterschen Briefwechsels zu überprüfen.2 Poetologisch macht Sengle die Beliebtheit des Briefes in Vormärz und Biedermeier an seiner formalen Offenheit fest, wenn er aus Heinrich Laubes Vorrede zu seinen Politischen Briefen“ zitiert: 1 Friedrich Sengle: Biedermeierzeit II (a. a. O.), S. 204–210. 2 Vgl. z. B. Jeanne Benay: Stifter Epistolier. Entre confidences esthe´tiques et chronique domestique, in: Austriaca 48, 1999, S. 7–32, hier: S. 7.

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4 Adalbert Stifter oder die Vollendung der Briefliebe

Die Laune, das schnelle Ergreifen aller Dinge, das Reißende, Fugitive ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Tage, darum sind Briefe die bequemste Ausdrucksweise dafür, ein wichtiges Genre unserer [. .. ] Literatur.3

Deutlich lebt hier noch, angereichert mit jungdeutscher Verve und dem Pathos der Revolte, das Konzept des romantischen Briefs fort. Ja, in Gestalt der Briefe Rahel Varnhagens und Bettina von Arnims findet der romantische Brief eigentlich erst in den 30er und 40er Jahren seine Vollendung. Ganz sicher trifft Laubes Charakterisierung auf den Stil der Bismarckschen Brautbriefe zu4, aber wenn man auf den das Schreibverfahren als Prozess der Selbstdisziplinierung ausübenden Autor Adalbert Stifter schaut, möchte man diesen nicht unbedingt unter einem derartig subjektivistischen, vitalistischen Briefkonzept einreihen. Man würde jedoch das Problem von Subjektivität und Objektivität, das ab den dreißiger Jahren ein in der Tat breit verhandeltes ist, zu sehr vereinfachen5, wenn man in dem Begriffspaar eine Zusammenstellung sich gegenseitig ausschließender Widersprüche sehen wollte. Nicht nur steht Stifter in den dreißiger und vierziger Jahren noch ganz unter dem Einfluss Jean Pauls und stellt sich in der Briefnovelle Feldblumen (1840) ganz ähnlich wie etwa Karl Gutzkow in den Briefen eines Narren an eine Närrin (1831) als „Jean Paul redivivus“6 dar, sondern das Modell spät-goethescher Entsagung und das jeanpaulesker Ausgelassenheit laufen nicht nur in den frühesten Briefen Stifters parallel. Wie noch im Spätwerk sind auch in den Briefen der letzten Jahre Jean Paulsche Kosmologie und Entsagung, Vernichtvision und Selbstbeschränkung einander bedingende Faktoren. Was laut Sengle Jungdeutsche und Biedermeiermenschen verbinde, sei „die Begeisterung für den Original-Brief“.7 Sengle, der in Bezug auf den Brief des Vormärz und Biedermeier durchaus bricht mit „dem üblichen Epigonenschema“,8 sieht dennoch die große Zeit des Briefs mit dem Untergang der Kultur einer „privaten Öffent3 Heinrich Laube: Das neue Jahrhundert, Bd. 2: Politische Briefe. Fürth (Korn) Leipzig (Literarisches Museum) 1833, S. XI. Vgl. Sengle: Biedermeierzeit II (a. a. O.), S. 202. 4 Es ist nicht ohne Ironie, dass unter den in dieser Arbeit behandelten Autoren Bismarck in seinen Briefen (zumindest den frühen) am ehesten einen solchen „jungdeutschen“ Stil vertritt. 5 Vgl. Sengle: Biedermeierzeit II (a. a. O.), S. 205f. 6 Sengle: Biedermeierzeit II, S. 202 (Fußnote **). 7 Ebd., S. 205. 8 Ebd., S. 200.

4.1 Adalbert Stifter, ein Autor in Briefen

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lichkeit“ des ancien re´gime zu Ende gehen. Literarizität und Bedeutung des Briefs sind für ihn unvereinbar mit dem „Objektivitätskult der Hegelianer“9 : „Mit der ,Subjektivität‘, die von den hegelianischen Ästhetikern zu Tode gehetzt wird, verliert auch der Brief seine ästhetische Würde. Aus einer Form der Redekunst oder der Naturpoesie wird er zum bloßen ,subjektiven‘ Lebenszeugnis.“10 Wenn Sengle in diesem Zusammenhang über Hegels Briefe ächzend feststellt, „Der Frau schreibt er im trivialsten Stil Alltagsbanalitäten“11, oder bedauernd anmerkt, „daß auch Börne, der so hervorragende fingierte Briefe schreibt, in seinen Originalbriefen, auch in denen an Jeanette Wohl, unpersönlich ist. Immer nur Preise, Journalpläne, Cholera, Geldsachen, Händel mit den Verlegern“12, dann wird deutlich, dass auch Sengle selbst in derartigen Alltagsdarstellungen nicht mehr sehen will, als Lebenszeugnisse, denen jedes literarische Interesse abgeht. Gerade an Stifters Briefen zeigt sich aber, dass subjektives Lebenszeugnis, mit ermüdender Ausführlichkeit ausgeführte Alltagsbanalität – der Themenkreis ist hier fast identisch mit dem von Sengle in Börnes Briefen aufgefundenen – und nach Objektivität strebendes Kunstprogramm überhaupt nicht zu trennen und intensiv ineinander verwoben sind. Entscheidend für die Analyse der Stifterschen Liebesbriefe ist daher die Voraussetzung ihrer Anerkennung als Literatur durch den Autor selbst. Nicht nur dies. Stifter hat seine Briefe als Bestandteil seines literarischen Werks betrachtet. In ihrem Aufsatz über den Briefschreiber Adalbert Stifter charakterisiert Jeanne Benay Stifters Korrespondenz als genuinen Bestandteil von dessen literarischem Werk Wenn [in der Forschung] häufig vom Konservativismus Stifters die Rede war, dann zu unrecht. Seine Korrespondenz selbst ist der Gegenbeweis in ihrer ganzen Normalität, ihrer Architektur, in ihrer Thematik, die Zeichen einer Epoche im Wandel sind, und in ihrer verhaltenen Beweglichkeit, von der stetige Variation ausgeht. Stifter tritt ein für humanitäre Werte, öffnet sich völlig dem sozialen und politischen Leben, vor allem im Bereich seiner beruflichen Tätigkeit und in Bezug auf große historische Ereignisse. Sein Engagement ist zwar alltäglich und daher wenig auffällig, doch von umso größerer realer Intensität, Beharrlichkeit und Dauer. So tritt in der Korrespondenz mit Amalia an die Stelle des flam9 10 11 12

Ebd. Ebd. Ebd., S. 206. Ebd., Fußnote **.

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4 Adalbert Stifter oder die Vollendung der Briefliebe

menden Liebesdiskurses eine Chronik des Ehelebens, deren zeitliche Ausdehnung, minimale soziologische Konfiguration, deren Ekklektizismus, der jedem Briefverkehr innewohnt, der die kleinen Tatsachen des Alltags schildert – zugleich verschämt oder auf zurückhaltende Weise gefühlvoll aber auch haushälter- und buchhalterisch – eine neue Organisation des familiären Lebens aufweist, auf geteilten Verantwortlichkeiten beruhend (die schon alt sind, aber immer wieder neu formuliert werden, vgl. N. Elias), auf gegenseitigem Respekt und einem gerechteren Gleichgewicht der Geschlechter.13

Literarisches Schaffen und Briefwerk seien hier gleichermaßen bestimmt von der Idee der Confession. In einem an Indiskretion grenzenden Maße entschlüsselt Stifter gegenüber ihm nahe oder auch ferner stehenden Briefpartnerinnen und Briefpartnern Konstellationen seiner Erzählungen als Verweise auf private Erlebnisse, in seinen literarischen Arbeiten selbst wiederum werden offene oder verdeckte Signale und Hinweise für biographische Lesarten gesetzt (ein Verfahren, in dem eine weitere eigenartige Nähe Stifters zu SacherMasoch besteht). Die Korrespondenz, deren Veröffentlichung Stifter bereits früh plant und in seinen letzten Lebensjahren zur Publikation vorbereitet, erscheint darüber hinaus nicht an einen Empfänger allein gerichtet, sondern an dasselbe Publikum, das auch seine Romane und Erzählungen rezipiert („Vielleicht wird man einmal diesen Brief lesen“14 ; „wer weiß, ob dieser Brief nicht gedrukt wird“15 ; „Mancher, der diese Zeilen lesen würde, würde glauben [ . ..]“16), nicht nur, um das oben beschriebene Wechselverhältnis für alle Leser nachvollziehbar zu machen, nicht nur, weil er die insbesondere mit Heckenast ausgetauschten poetologischen Überlegungen als eine Art Briefwechsel Goethe-Schiller begreift, wie er selbst gegenüber Heckenast äußert,17 sondern auch, weil es für Stifter keine Unterschiede zwischen privater, öffentlicher und dichterischer Äußerung gibt. Im Schreiben sieht er einen Lebensauftrag. An Briefe, die ihm wichtig sind, geht er mit demselben Bedacht 13 14 15 16 17

Jeanne Benay: Stifter Epistolier (a. a. O.), S. 23, übers. R. L. Brief an Heckenast vom 29. 2. 1856, in: BW 2, S. 314. Brief an Heckenast vom 13. 5. 54, in: BW 2, S. 225. Brief an Fanny Greipl vom 15. 11. 1829, in: BW 1, S. 21. „Haben Sie den Briefwechsel Göthes und Schillers gelesen? Wenn nicht, thun sie es. Wie haben sich diese Männer gegenseitig gehalten und gefördert, wie waren sie sich Säulen gegen die Gemeinheit der zahlreichen Kläffer gegen sie, deren Namen jezt niemand mehr kennt. Sie und ich, wir sind keine Schiller und Göthe, aber halten und fördern können wir uns auch.“ (An Heckenast am 4. 11. 1854, BW 2, S. 324).

4.1 Adalbert Stifter, ein Autor in Briefen

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heran, wie an andere Schriften (und ist deshalb, weil er keine lieblosen, schnellen Briefe schreiben will, oft ein säumiger Briefschreiber). Sein hoher sittlicher Anspruch an sich selbst, der in einem aus den Wahlverwandtschaften und den Wanderjahren abgeleiteten Konzept der Selbstverobjektivierung oder „Entsagung“ besteht, realisiert sich im Schreiben. Jede Äußerung steht für ihn, wie er in Über Stand und Würde des Schriftstellers deutlich macht, unter dem Diktat des Sittengesetzes, das allen gattungs- und genremäßigen Überlegungen übergeordnet ist. Dies ist sicher auch einer der Gründe dafür, dass Stifter nicht an den Debatten des poetischen Realismus über wesensmäßige Unterschiede der Gattungen, Drama und Roman etc., teilnimmt. Da Schreiben für Stifter ein Prozess der Anverwandlung des Sittengesetzes oder „sanften Gesetzes“ ist (die in rigiden Ritualen der Selbstkorrektur und beständiger Überarbeitung durchgeführt wird18), sind Brief und Erzählung gleichermaßen Absonderungen dieses lebenslänglichen Vorgangs der Selbstentäußerung, der Einarbeitung des Privaten ins Allgemeine. Wir haben es daher in den Stifterschen Briefen mit einem mehrfach geschichteten Text zu tun: mit einer vom Autor bewußt hergestellten Oberfläche und einer verborgenen Inschrift, die auf Spuren verweist, die diesem Bild zuwiderlaufen, und wir haben es mit einer Privatheit zu tun, bei der schon während des Schreibens an eine Veröffentlichung gedacht wird, also mit Formulierungen, die nicht ohne Rücksicht auf die Nachwelt erwogen werden. Diese ineinander verwobenen Textebenen machen die stilistisch-ästhetische Qualität der Briefe aus: Privates wird in einen für die Öffentlichkeit gedachten literarischen Text umgemünzt.19

Aus dieser Bemerkung Alfred Dopplers lassen sich auch die Schwierigkeiten ablesen, die die Forschung allgemein mit dieser Literarisierung der eigenen Existenz hat. Sie wird mit Misstrauen betrachtet und als psychologisch bedenklich bewertet. Stifter will in dieser Perspektive seinen Lesern und seiner Mitwelt „etwas vormachen“, 18 Vgl. Blume, Hermann: „Am Narrenseile geführt“. Hypochondrische Katastrophen und diätetische Erzählstrategien im Werk Adalbert Stifters, in: Sanfte Sensationen. Stifter 2005. Beiträge zum 200. Geburtstag Adalbert Stifters. Hg. von Johann Lachinger, Regina Pintar, Christian Schacherreiter, Martin Sturm. Linz 2005 (= Jahrbuch des Adalbert-Stifter-Instituts des Landes Oberösterreich; Bd. 12/2005), S. 101–110, Stockhammer, Robert: Zusammen Stellen. Stifters Alternative zur Logik von Totalität und Zerfall, in: Totalität und Zerfall im Kunstwerk der Moderne. Hg. v. Reto Sorg und Stefan Bodo Würffel. München (Fink) 2006, S. 133–150. 19 Alfred Doppler: Adalbert Stifter als Briefschreiber. Dargestellt vor allem an den Briefen an Amalia Stifter, in: Ich an Dich. Edition, Rezeption und Kommentierung von Briefen, hg. v. Werner M. Bauer, Johannes John und Wolfgang Wiesmüller. Innsbruck 2001, S. 133–146, hier S. 134f.

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gibt nicht sein wahres Ich sondern ein konstruiertes Ideal-Ich, unter dessen trügerischer Oberfläche erst nach dem eigentlichen Stifter zu suchen ist. Dieser vorausgesetzte Umstand scheint für weite Teile der Forschung einen doppelten Umgang mit Stifter zu rechtfertigen: seine eigentliche Leistung besteht in der Oberfläche, dem Resultat einer Kristallisation oder Verkrustung, die mit einem schier unfassbaren formalen Aufwand vorgenommen wird und doch zugleich substanzlos, leere Schale ist, weil ihr Zweck einzig und allein Betrug ist. Sie ist Absonderung eines verfehlten Lebens. Aus diesem Scheitern, aus der Spannung des Widerspruchs von Schein und Sein werden Thesen zu Stifter abgeleitet, denen stets die Mahnung vor der verpfuschten bürgerlichen Existenz als teurem Preis für diesen Triumph der Form eingeschrieben bleibt.

4.2 Briefidentität als Kreuzungspunkt zwischen „Leben“ und „Werk“ Wenn man jedoch bei der Beschäftigung mit Stifter einmal die Trennung zwischen einer psychologischen Substanz und deren Umarbeitung oder Überblendung bzw. Verfälschung aufgibt und Verschriftlichung und Literarisierung nicht per se und von vornherein als psychologische Sublimierung im polemischen Sinne betrachtete, als Selbstbetrug20, müsste man erkennen, dass der von Doppler (der bahnbrechend und wichtig für die Stifterforschung wirkt) konstatierte Januscharakter der Stifterschen Literarizität ein von Stifter selbst gewollter, seinem Werk eingeschriebener ist. Die „Spuren“ sind von ihm selbst gelegt, sind (ein leider allzu abgenutzter Begriff) Leitmotive, die Durchgänge, Knotenpunkte eines komplex gesponnenen Bezugssystems, das nachzuvollziehen Stifters Auftrag an den Leser ist. Werner Welzig hat das (im leider sehr kurzen) Nachwort zu seiner Auswahlausgabe von Stifter-Briefen unübertrefflich auf den Punkt gebracht: Stifters Briefe sind keine Fenster, die Einblicke in dahinter liegende, ansonsten verschlossene Lebensräume des Schreibers gewähren. Der Lebensraum, den Stifter sich schafft, ist das Schreiben selbst. [. . .] Und nir20 Eine ganze Reihe neuerer Arbeiten geht diesen Weg. Vgl. z. B. Arno Dusini: Wald. Weiße Finsternis. Zu Stifters Briefen und Erzählung „Aus dem bairischen Walde“, in: Euphorion 92/1998, S. 437–455., Stockhammer: ZusammenStellen (a. a. O.).

4.2 Briefidentität als Kreuzungspunkt zwischen „Leben“ und „Werk“

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gends kann ein Reservat der Privatheit verletzt werden. Alles ist „Werk“, ist „producirt“, unter Einsatz des Lebens und mit gewaltiger Kraft.21

„Werk“ und „Leben“ stehen auf einer Ebene, sind gleichermaßen Oberfläche. Die vielfach als einzigartige Zeugnisse frühkindlicher Erinnerung eingeschätzten, im letzten Lebensjahr bei einem Besuch in seinem Geburtshaus von Stifter aufgezeichneten Kindheitserinnerungen sollen hier als Beispiel für Stifters Literarisierungsverfahren aufgezeigt werden, in dem es darum geht, Bilder zu finden, die Übergänge zwischen Literatur und Biographie stiften und zugleich deutlich machen, welchen Missverständnissen eine Betrachtung ausgesetzt ist, die hier das „Erlebnis“ und dessen Literarisierung trennt. In seiner Stifter-Biographie beschreibt Wolfgang Matz die Bedeutung dieser Aufzeichnungen folgendermaßen: Gibt es jemanden, dem gelungen wäre, tiefer in die eigenen Anfänge einzudringen? Denn es sind ja nicht einfach Kindheitserinnerungen, die hier niedergeschrieben wurden, es sind tastende Schritte in einen Bereich, der noch vor dem eigentlichen Erwachen des Bewußtseins liegt. Ein Bereich jenseits von Worten und Begriffen, jenseits der gliedernden und ordnenden Vernunft. Davon legt bereits die Sprache dieser Aufzeichnungen Zeugnis ab: „Finsternis“ und „Nichts“, das „Fächelnde“, das „Schwimmen“, schon das unpersönliche „Es“ sind Versuche, das Begrifflose in den ersten Lebenserfahrungen, das Gestaltlose frühester Eindrücke mit dem einzigen festzuhalten, was dem Erwachsenen zur Verfügung steht – mit Worten. Stifters Sätze sind Kreise, suchender Zugriff auf etwas, was sich niemals erfassen läßt, weil Worte die Wortlosigkeit dieser „Urerinnerungen“ zwangsläufig aufheben. Unglaublich mag erscheinen, daß diese verschwimmenden Bilder, die bis in die ersten Lebenswochen und -Monate des Kindes zurückreichen müssen, auf einer tatsächlichen Erinnerung des alten Mannes beruhen; nichts aber deutet darauf hin, Stifter könnte in diesen Blättern, an deren Veröffentlichung er kaum gedacht haben wird, seiner Phantasie freien Lauf gelassen haben.22

Wenn Wolfgang Matz dann im Weiteren in diesen späten Aufzeichnungen den Versuch einer „Selbst-Analyse“ oder gar Selbst-Therapie“23 sieht, und Stifter zugesteht, in „Bereiche“ vorgedrungen zu sein, „die sonst im Prozeß des Erwachsenwerdens so weitgehend verschüttet werden, daß sie nur mit der analytischen Hilfe eines 21 Werner Welzig: Noch einmal: Zum Text, in: Adalbert Stifter: Die kleinen Dinge schreien drein. 59 Briefe. Ausgewählt und hg. v. Werner Welzig, Frankfurt am Main, Insel, S. 227. 22 Wolfgang Matz: Adalbert Stifter oder Diese fürchterliche Wendung der Dinge, München (Hanser) 1995, S. 10f. 23 Ebd., S. 11.

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anderen zuweilen wieder freigelegt werden können“24, dann sucht er Stifter an einer Stelle, die der, an der Stifter in seiner Aufzeichnung arbeitet, so ziemlich entgegengesetzt liegt. Denn es soll nicht, wie in Maeterlincks, des Philosophen des Schweigens, Tre´sor des humbles25 (und eine Erinnerung an die berühmte, im Motto zum Törleß zitierte Stelle scheint Matz evozieren zu wollen) nach den Edelsteinen des Vorsprachlichen getaucht werden, sondern es ist der Prozess des Zeichenfindens und Schrifterfindens, den Stifter in diesen Bildern nachzeichnet. Es sind die Zeichen, die die Welt machen. Da Stifter diese Erinnerungen als einen Gruß an die Nachwelt in die Zukunft schickt („mögen Gattin, Geschwister, Freunde, Bekannte einen zarten Gruß darin erkennen und Fremde nicht etwas Unwürdiges aus ihnen entnehmen“26, glaube ich, sie als eine Art Prolog dieser Auseinandersetzung mit Stifters Liebesbriefen voranstellen zu dürfen, denn in gewisser Weise sind sie als „Brief an alle“, der zugleich Bekenntnis des Allerinnigsten sein soll, Prototyp des Stifterschen Briefes überhaupt: Weit zurück in dem leeren Nichts ist etwas wie Wonne und Entzücken, das gewaltig fassend, fast vernichtend in mein Wesen drang und dem nichts mehr in meinem künftigen Leben glich. Die Merkmale, die fest gehalten wurden, sind: es war Glanz, es war Gewühl, es war unten. Dies muß sehr früh gewesen sein, denn mir ist, als liege eine hohe, weite Finsternis des Nichts um das Ding herum.27

Wie Tristram Shandy, ließe sich vermuten, fängt Stifter hier tatsächlich seine Autobiographie vor seiner Geburt an. Die Abstraktheit des Bildes gemahnt dabei mehr an Baudelaires Beschreibung der Lohengrin-Ouvertüre als an Sterne28. Zwei Stichworte, die beiden 24 Ebd., S. 12. 25 Maurice Maeterlinck: Der Schatz der Armen. Übers. v. Friedrich von OppelnBronikowski. Leipzig (Diederich) 1892 (Reprint: Köln 1965), S. 25: „Die Moral des Mystikers [ . .. ]Sobald wir etwas aussprechen, entwerten wir es seltsam. Wir glauben in die Tiefe der Abgründe hinabgetaucht zu sein, und wenn wir wieder an der Oberfläche auftauchen, gleicht der Wassertropfen an unsren bleichen Fingespitzen in nichts mehr dem Meere, dem er entstammt.“ 26 Stifter: Mein Leben, in: Die Mappe meines Urgroßvaters, Schilderungen, Briefe. Hg. v. Fritz Krökel. München (Winkler) 1968, S. 602. 27 Ebd., S. 602. 28 „l‘immensite´ sans autre de´cor qu‘elle-meˆme. Bientoˆt j‘e´prouvai la sensation d‘une clarte´ plus vive, d‘une intensite´ de lumie`re croissant avec une telle rapidite´, que les nuances fournies par le dictionnaire ne suffiraient pas a` exprimer ce surcroıˆt toujours renaissant d‘ardeur et de blancheur. Alors je conc¸us pleinement l‘ide´e d‘une aˆme se mouvant dans un milieu lumineux, d‘une extase faite de volupte´ et de connaissance, et planant au-dessus et bien loin du monde naturel.“ Richard Wagner et Tannhäuser

4.2 Briefidentität als Kreuzungspunkt zwischen „Leben“ und „Werk“

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Nuklei, die den Atomismus des Stifterschen Kosmos bilden, treten nebeneinander auf: das Nichts und das Ding. „Ding“ ist die Bezeichnung, die Stifter in mitunter monotonster Form für alles wählt, was einen positiven Bestandteil der Welt bildet, Materielles und Geistiges, Gefühltes und Gedachtes. Anders gesagt: Ding ist alles, was nicht Nichts ist. Die „kleinen Dinge“, wie auch „Wonne und Entzücken“. Über den Begriff des Dings vermag er alles zu semiotisieren, alles kann Zeichen sein, alles steht mit allem in Bezug, ist auf alles beziehbar. So wird auch, im selben Text, eine etwas spätere Erinnerung auf diese allerfrüheste bezogen: Immer mehr fühlte ich die Augen, die mich anschauten, die Stimme, die zu mir sprach, und die Arme, die alles milderten. Ich erinnere mich, daß ich das „Mam“ nannte. Diese Arme fühlte ich mich einmal tragen. Es waren dunkle Flecken in mir. Die Erinnerung sagte mir später, daß es Wälder gewesen sind, die außerhalb mir waren. Dann war eine Empfindung, wie die erste meines Lebens, Glanz und Gewühl, dann war nichts mehr.29

Die Begriffe „Glanz“ und „Gewühl“ stellen durch die bloße Wiederholung eines jener „Bänder“ her, die das symbolische Netz in Stifters Schreiben bilden. Wolfgang Matz verzettelt sich bei der Auslegung dieser Stelle, und das fast zwangsläufig, zwischen Biographie und Erinnerungen an Stiftersche Erzählungen: „Der kleine Bub wurde zur Ostermesse in die Margarethenkirche mitgenommen, und hier konnte er von der Empore aus ins festliche Kirchenschiff hinunterschauen, mitten in den Glanz von Kerzen und funkelndem Schmuck. Denkbar ist, daß darin der Ursprung jenes noch gestaltlosen Eindrucks liegt. .. “30. Doch Helmut Pfotenhauer bemerkt bereits in Bezug auf eine derartige Deutung dieser Stelle: „So notiert man nicht die Erinnerung an individuell Erfahrenes. So konstituiert man vielmehr einen Mythos des Uranfänglichen.“31 Wolfgang Matz a` Paris, 1861. Hiermit will ich keine Wechselbeziehung behaupten oder auch nur eine direkte Vergleichbarkeit. Auffällig in beiden Fällen ist jedoch der Versuch – und Stifter geht hierin weiter – eine quasi mystische Bildsprache für eine Erfahrung zu finden, die sich so weit wie möglich dem Abstrakten zu nähern und ein physisches Erlebnis eines unkörperlichen Zustands zu vermitteln versucht – und beides findet im selben Jahrzehnt statt. Bereits Wolfgang Matz hat ja in 1857. Flaubert, Baudelaire, Stifter (a. a. O.) auf Parallelen zwischen Baudelaire und Stifter hingewiesen, die sich aus einer Teilhabe am selben „Zeitgeist“ ergeben könnten. 29 Stifter: Mein Leben, (a. a. O.), S. 603. 30 Matz: Stifter (a. a. O.), S. 25. 31 Helmut Pfotenhauer: ,Einfach . . . wie ein Halm’: Stifters komplizierte kleine Selbstbiographie, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1/1990, S.134–148, hier: S. 139.

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erwähnt nicht, auf welchem Umweg er zu seiner Aufschlüsselung gelangt. Dabei erklärt sich über diesen Umweg erst, wie Stifter verfährt und welche Bedeutung derartige Aufzeichnungen für sein biografisch-literarisches Verfahren haben. In der Erzählung Der Waldgänger von 1847 nimmt die Titelfigur den kleinen Sohn des Holzhegers in der Osternacht mit in die Klosterkirche von Hohenfurth: und ließ ihn von einer kleinen, abgelegenen Stelle des Chores in das große Lichtermeer, das von den vielen Kerzen in der Kirche angezündet war, hinunter schauen, und ließ ihn die Fahnen sehen, die von dem Lichte angeleuchtet waren und farbig und schimmernd zu dem Feste in der Kirche herum standen. Dann warteten sie, bis die Stimmen der Priester ertönten, und dann der Gesang des Volkes, und auch die ganze Musik der Kirche und der Schall der feierlichen Trompeten und Pauken.32

Dass in dieser viel früher verfassten Erzählung aber ein Schlüssel für die Erinnerungsaufzeichnung liegen könnte, dürfte dem Leser kaum nachvollziehbar sein, wenn nicht (und dieser Spur wird wahrscheinlich auch Matz gefolgt sein) im Waldgänger andere Passagen um den Bub des Holzhegers wortwörtlich entsprechende Stellen aus der autobiographischen Skizze vorwegnehmen würden. Waldgänger: [Der Knabe saß] auf der bemalten Kleidertruhe seiner Mutter, hatte ihr Gebetbuch in den Händen und las daraus: Burgen, Nagelein, buntes Haidlein – und andere abenteuerliche Worte, die ihm in seiner Einbildungskraft beikamen.33 Mein Leben: Ich nahm ein Buch, machte es auf, hielt es vor mir und las: „Burgen, Nagelein, böhmisch Haidel“. Diese Worte las ich jedes Mal, ich weiß es; ob zuweilen noch andere dabei waren, dessen erinnere ich mich nicht mehr.“34

Auch Risach, in seinen im letzten Band des Nachsommer wiedergegebenen Lebenserinnerungen, berichtet von einer solchen kindlichen Zeichen- und Dinglust. Zu dem Zeitpunkt, wo Stifter diese Erinnerung beim Besuch des Geburtshauses als Confession, Zeugnis spontanen Erinnerns inszeniert, beschäftigen ihn die Bilder bereits seit einigen Jahren, sind bereits Formeln einer immer wieder zur Sprache kommenden Reflexion über Zeichen, Dinge und Bedeutun32 Adalbert Stifter: Der Waldgänger, in: Werke und Briefe, historisch-kritische Gesamtausgabe (im Folgenden HKG), hg. von Alfred Doppler u. Helmut Laufhütte, Bd. 3: Erzählungen, Teil 1. Hg. v. Johannes John, Stuttgart (Kohlhammer) 2002, S. 125. 33 Ebd., S. 123. 34 Adalbert Stifter: Mein Leben (a. a. O.), S. 605.

4.2 Briefidentität als Kreuzungspunkt zwischen „Leben“ und „Werk“

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gen. Da, wo etwa Robert Musil das „Erlebnis“ zum Nukleus der Dichtung erklärt und bestimmte frappierende, epiphanische Momente in seinen Tagebüchern als Ausgangspunkte und Schlüsselmomente seiner Novellen markiert, stellt Stifter, der auf den ersten Blick hier der Vorläufer zu sein scheint, in Wahrheit die Verhältnisse auf den Kopf: das „Erlebnis“ ist im Werk bereits vorgeprägt, fast buchstabengetreu. Die hierarchische Reihenfolge von „Leben“ und „Werk“ im Sinne einer Vorgängigkeit des Lebens, das im Werk dann „umgesetzt“, in Form gebracht würde, ist aufgehoben. Wir haben es nicht mit biographischem „Material“ zu tun, Erinnerungen, die in fiktionale Texte eingearbeitet werden. Eine Kausalfolge ist hier vielmehr gar nicht festzustellen, autobiographischer und fiktionaler Text zeugen von derselben Stilisierung, verweisen weniger auf ein authentisches Erlebnis als wechselweise aufeinander. Ein Prinzip der Analogie, das durch die sprachliche Formelhaftigkeit noch betont wird, liegt dieser Wechselbeziehung zwischen literarischem Text und Erinnerungsprotokoll zugrunde, das den Gestus des Abtauchens ins Unbewusste, der den autobiographischen Text motiviert, durchsichtig macht auf die allem zugrunde liegende Schreibarbeit. Stifter geht es nicht um die Versprachlichung von „Unbewusstem“, sondern er stellt mithilfe begrifflicher Analogien Verknüpfungen her, die in ihrer Summe ein weitverzweigtes, vollkommen horizontal ausgerichtetes System bilden. Gustav, das Kind Risach, liebte Dinge und machte Dinge zu Zeichen. Umgekehrt erfährt hier das sprachliche Zeichen eine Nobilitierung, die es zu einem regelrechten „Ding“ macht, so wie „Ding“ ja auch der Begriff ist, den Stifter für jede Wesenheit am liebsten verwendet. Das Zeichen selbst ist Ding und über die Sprache, das System der Zeichen, treten die Dinge miteinander in Kommunikation. In der Einleitung wurde bereits ausführlicher auf den Komplex der Verschriftlichung von Welt eingegangen. Alfred Doppler stellt diese Tendenz in Stifters Briefen nicht ohne Bedenken fest, richtet seine Aufmerksamkeit auf die Differenz „zwischen der Lebenswelt des Autors und der Schrift, zwischen den biographischen Fakten und ihrer Versprachlichung“35 und diagnostiziert schließlich: „Das in Sprache umgesetzte Leben dominiert das tatsächliche Leben.“36

35 Doppler: Adalbert Stifter als Briefschreiber (a. a. O.), S. 135. 36 Ebd., S. 140.

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Dies muss man zunächst einmal – losgelöst von jeder Bewertung – vollkommen bestätigen. Stifter ist in der Tat – ganz ähnlich, wie Ge´rard Genette von Stendhal sagt – besessen von einem fe´tichisme e´pigraphique, ist ein Fetischist der Zeichen, der Kommunikation durch Medien im Gegensatz zu Rousseau, dem die Zeichen suspekt waren.37 Wenn sich Stifter in den späten 60er Jahren begeistert äußert über eine Fotografie seiner Frau, die ihm in deren Abwesenheit zur Stellvertreterin wird, und wenn er ebenso Briefe seiner Frau und das Schreiben von Briefen an diese als einen Vorgang realer Vergegenwärtigung der Abwesenden beschreibt, dann ist diese Fetischisierung nur die konsequenteste Umformung dieser im Prinzip materialistischen Sprachauffassung. Erst der Leser, der der Einladung zur Spurensuche folgt, hat die Möglichkeit, bestimmte Leerstellen auszufüllen. Erst der Zusammenhang des österlichen Kirchbesuchs im Waldgänger liefert das Tertium Comparationis für die Vergleichbarkeit der Eindrücke von Glanz und Gewühl in Mein Leben. Umhüllt von leerem Nichts ist dieses „Ding“ wiederholt im Blick von der Empore in den erleuchteten Saal der von Dunkelheit umgebenen Kirche. Das im zweiten Erinnerungsbild nicht aufgegriffene „es war unten“ tritt erst über den Umweg der Waldgänger-Schilderung in dieses Bild mit ein. Vollends plausibel wird die Überblendung, wenn die Osternacht als Auferstehung, zweite Geburt, gewissermaßen die erste Geburt überhöhend spiegelnd, gelesen wird.38 Dass es sich hierbei wirklich um ein konzeptuelles Verfahren handelt, zeigt sich daran, dass Stifters gesamtes Werk mit solchen Spuren durchsetzt ist, die in derselben Weise aufeinander Bezug nehmen und Verknüpfungen herstellen. Von Witikos Treibhaus, in dem er seine Wappenblume, die fünfblättrige Waldrose, überwintern lässt wie Risach seine Rosen39, über das Altarrestaurationsprojekt im Nachsommer, das sich in Stifters Engagement für den Kefermarkter Altar spiegelt, bis zu der Bedeutung, die weißes Leinen in 37 Ge´rard Genette: Stendhal, in: Figures II, Paris (E´d. du Seuil) 1969, S. 155–193, hier S. 167 und 163. 38 An einer anderen Stelle, an der ein derartiges „Wurmloch“ zwischen den stifterschen Texten besteht, nämlich in Gestalt der Formel „Menschenstimmen-Mädchenstimmen“ im Hochwald und im Witiko, habe ich in meinem Witiko-Aufsatz dieses Verfahren bereits einmal zu beschreiben versucht. (Roman Lach: Arbeit am Fels. Adalbert Stifters „Witiko“ als historischer Roman, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 55 (2005), S. 417–39, hier: S. 435f.). 39 Vgl. die Ausführungen hierzu im letzten Teil der Einleitung.

4.2 Briefidentität als Kreuzungspunkt zwischen „Leben“ und „Werk“

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Stifters Erzählungen immer wieder hat (wenn man darauf achtet, stellt man fest, dass „Linnenzeug“ hier beinahe so häufig eingeschmuggelt wird wie Pelze, Pelzfütterungen und einfach nur das Wort „Pelz“ in die Erzählungen von Leopold von Sacher-Masoch40), gibt es überall in Stifters Werk Durchbrüche sowohl zwischen den fiktionalen Texten untereinander wie auch zwischen „privaten“ und literarischen Äußerungen. Die Parallele zu Stendhal – in der Lesart von Genette – sei neuerlich zu ziehen erlaubt, denn die Ähnlichkeit ist frappierend: Wo beginnt das Werk? Wo endet es? Selbst wenn man die Extremfälle, die einem augenblicklich einfallen, für pathologisch halten wollte (aber ist nicht das Pathologischste nicht immer auch das Signifikanteste?), so weiß jeder Leser Stendhals, der mehr kennt als die fünf oder sechs kanonischen „Hauptwerke“, welche unzerreißbare Kontinuität die Korrespondenz mit dem Tagebuch verbindet, das Tagebuch mit den Essays, die Essays mit den Erzählungen. Das Romanwerk besitzt keinerlei definierbare Eigenständigkeit gegenüber dem Ganzen der Schriften.41

Und ganz entsprechend ist auch Stifter, der um Reinheit und Vollendung unablässig bemühte, sein Werk immer wieder überarbeitende, verbessernde, glättende, klassische Vollkommenheit anstrebende Schriftsteller dennoch ein „romancier impur“.42 Sein Werk besteht aus Überschneidungen, thematischen Dopplungen und Kreuzungen zwischen fiktiven und autobiographischen Texten und wiederum innerhalb dieser. Die Überarbeitungen, mit scheinbar selbstzerstörerischer Energie gegenüber dem eigenen früheren Schaffen durchgeführt, ersetzen doch niemals die vorangegangenen Fassungen, sondern stellen bestimmte Züge derselben – sei es durch Wiederholungen, Variationen oder gar durch Eliminationen, die die Aufmerksamkeit umso mehr auf das Weggelassene lenken – heraus und schaffen so erst einen über den Einzeltext hinausgehenden Bezug. Dementsprechend besteht der Unterschied zwischen dem Schreiben privater Briefe und dem Schreiben am Roman letztlich nur darin, dass Letzteres bezahlt wird (ein Faktor, der allerdings für Stifter immer Bedeutung haben wird!): 40 Vgl. hierzu Dörte Bischoff: Stifters Stoffe. Zwischen Fetischisierung und Performativität, in: Poetiken der Materie. Stoffe und ihre Qualitäten in Literatur, Kunst und Philosophie, hg. v. Thomas Strässle und Caroline Torra-Mattenklott, Freiburg (Rombach) 2005, S. 95–117. 41 Genette: Stendhal, S. 171. 42 Ebd., S. 178.

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Das ist schon die rechte Höhe, wenn man, statt sein ehrliches Gewerbe der Schriftstellerei ordnungsgemäß zu betreiben, täglich an seine Gattin schreibt. Heute hat dir die Bothin einen Brief gebracht, morgen bringt sie dir wieder einen, und so schreibe ich Dinge, die gar kein Geld eintragen, und ich schreibe sie doch; sie tragen etwas viel Besseres ein: eheliches Glük, eheliche Freude und häusliche Anmuth, und wo diese Dinge eingekehrt sind, dort fließen auch die Gedanken in einem goldenen Strome, und wenn man dann diesem Strome das Schifflein der Dichtkunst anvertraut, so fährt es viel lustiger schmuker und ergiebiger, als wenn man mit unmuthigem Ruder verworren die Wellen peitscht, daß sie das Fahrzeug rütteln und schwenken und es den glatten Lauf nicht gewinnen lassen.43

Die Klage über den Ansturm der Dinge aus dem Brief an Heckenast vom 13. Mai 1854, die in der Einleitung zitiert wurde, die doch zugleich ein resignierendes Annehmen des Umstands war, dass das Profane aus der Dichtung nicht herauszuhalten ist und eigentlich sogar notwendig für diese, findet sich hier letztendlich im Ergebnis ins Positive gewendet wiederholt. Stifter erschreibt sich nicht nur ein Eheglück, das es im gemeinsamen Zusammenleben (viele Bemerkungen im Briefwechsel dieser Jahre deuten darauf hin) so bisher nicht (mehr) gab, der Brief ist auch Antrieb, Schwung- und Gedankengeber für den Broterwerb, das literarische Schreiben. Sicher dürfen die Briefe an die unglücklich geliebte Jugendfreundin Fanny Greipl bei einer Untersuchung von Stifters Liebes- und Liebesbriefkonzept nicht ausgespart werden. Darüber hinaus will ich aber vor allem die Briefe an Amalia Mohaupt/Stifter und auch deren Antworten (erneut) in den Blick nehmen. Einen Höhepunkt bilden hier sicher die Briefe, die Adalbert im Jahr 1866 vor und während des Dauerschneefalls, der ihn in den Lackenhäusern im Bayerischen Wald festhält, mehrmals täglich an Amalia schreibt und die er später in die von Thomas Mann gerühmte autobiographische Erzählung Aus dem Bayrischen Wald einarbeitet. In diesen Briefen, wie im Prozess der Umarbeitung, auf den sich aus der Erzählung schließen lässt, zeigt sich wie vielleicht nirgends sonst, wie das Schreiben als Prozess für Stifter eine Übung sowohl der Angstbewältigung wie der Austarierung von Innen und Außen ist, wodurch Landschaft, Liebe und eigene Emotionalität ineinander verschränkt werden, und wie diese Übung zugleich geradezu der Katastrophe, der Realität des Nichts bedarf, um überhaupt erst weltstiftend zu wirken. Arno Dusini hat hierzu bereits sehr viel ausgearbeitet.44 43 An Amalia am 23. 3. 1866, BW 5, S. 182f. 44 Arno Dusini: Wald, weiße Finsternis. (a. a. O.)

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Über Dusinis Thesen hinausgehend lässt sich in den Briefen an Amalia, die in Stifters letzten Lebensjahren aus verschiedenen längeren Kuraufenthalten geschrieben werden – ihre Zahl ist riesig – eine Steigerung dessen feststellen, was ich die Verdinglichung der Sprache bei Stifter nennen möchte. Briefe von Amalia, aber auch Briefe an Amalia werden ihm zu Stellvertretern ihrer persönlichen Präsenz, ohne die er nicht mehr auszukommen vermag. Parallel zur Abfassung des Witiko in einem diätetischen Verfahren der permanenten Überarbeitung und Selbstkorrektur, parallel zur mit hypochondrischer Gewissenhaftigkeit betriebenen Trink- und Frischluftkur in den Bergdörfern Kirchschlag und Lackenhäuser, von der er sich fast bis zuletzt übersteigerte, utopische Heilungserfolge verspricht, entstehen in diesen mehrfachen langen Kuraufenthalten täglich Briefe, die von einer späten Liebe zeugen, die durch die bewusst und absichtlich herbeigeführte Trennung (er besteht darauf, dass Amalia ihn zu diesen Aufenthalten nicht begleitet, sie würde die Einsamkeit in den Bergen nicht ertragen45) eigentlich erst erzeugt wird: Wir waren nie so lange getrennt, wir wußten eigentlich nicht was wir aneinander haben, wir lernen durch die Trennung erst recht kennen, wie hold das Beisammensein gewesen ist, das wir nach seiner großen Bedeutung nicht schäzten, und oft sogar durch manches unüberlegte Wort trübten. [ .. . ] Das ist das Heil, das aus der Trennung erwächst. Ich rede gar nicht einmal von den lieben theuren Worten, die wir einander senden, und die wir nie so beglükt kennen gelernt hätten, wenn wir immer beisammen gewesen wären.46

Anders als bei Bismarck, werden Worte hier nicht als Notbehelf und Ersatz für Unmittelbares angesehen, sondern als Teil der Persönlichkeiten betrachtet, die einander kennen lernen. In einem späteren Brief schreibt Stifter: „Aber auch das weiß ich erst jezt, wie grenzenlos ich dich liebe, wie das Leben ohne dich für mich leer und öde und eine Wüstenei wäre, in die selbst meine geliebten Arbeiten nur ein bleiches Licht würden senden können.“47 Und so findet sich 45 Vgl. z. B. im Brief an Adolf Freih. von Kriegs-Au vom 22. u. 23. 12. 1865: „Nur die Trennung von meiner geliebten Gattin, deren Anerbiethen, bei mir zu sein, ich nicht zuließ, weil die anregende Winterluft des Berges ihrer Vollblütigkeit schädlich ist, fällt mir schwer und sie selber trägt die Trennung schmerzlicher als ich vermuthet habe.“ (BW 5, S. 108.) oder an Amalia am 25. Januar 1866: „Daß du aber herauf kömmst, und bei mir bleibst, wie du dich früher angebothen hast, würde ich nie zugeben, es wäre grausam gegen dich.“ (BW 5, S. 143) 46 An Amalia Stifter am 20. 11. 1865, BW 5, S. 79. 47 An Amalia Stifter am 10. 1. 1866, BW 5, S. 120.

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immer wieder auch ein Grund, die Trennung möglichst lange aufrecht zu erhalten: „Hinge es von meinen Wünschen ab, so wäre ich morgen unterhalb dieses Berges, und bliebe unten; aber mein Gewissen sagt, es wäre fast ein Verbrechen an uns beiden, wenn ich das einzige Heilmittel, das ich nun endlich gefunden habe [ ... ], wieder aufgäbe, weil ich meine Sehnsucht nicht zügeln kann“.48 In der Entfernung, dem ritualisierten Alltag und der Beschränkung auf briefliche Kommunikation wird hier – wie in so vielen Liebesbriefwechseln des neunzehnten Jahrhunderts – ein Modell der Entsagung realisiert, das zugleich einen Zugewinn an Liebe auf Seiten beider Liebespartner bedeutet: „Ist es nicht thöricht, ich alter Mann schreibe an eine Gattin, die mir vor 29 Jahren anvertraut worden war, Liebesbriefe, wie sie kaum ein Jüngling an seine holde Braut schreibt. Gott besser’s. Aber er wird es hoffentlich nicht bessern, und es wird immer ärger werden.“49 Wie beide Partner zu ihrer Überraschung ihre Liebe in ihren Briefen entdecken (auch dass Amalia ihn liebt, wird ihm erst aus ihren Briefen und der darin geäußerten Sorge deutlich), wie diese Liebe durch die Briefe befördert und universalisiert wird, soll auf den nächsten Seiten dargestellt und im dazu angewandten Symbolisierungsverfahren und seinem utopischen Anspruch untersucht werden. Die frühen Briefe an Fanny Greipl und die späten an Amalia Stifter (zu denen auch einige Briefe Amalias an Adalbert hinzukommen) sollen die beiden Fokusse sein, an denen Stifters Konzept des Liebesbriefs analysiert wird.

4.3 Literarisierungen und Verkapselungen eines zaghaften Liebhabers Die Wiederentdeckung Stifters als „moderner Autor“, die eigentlich schon mit Thomas Manns berühmter Bemerkung über dessen heimliche Abgründigkeit im Tagebuch der Entstehung des Doktor Faustus50 beginnt (und Thomas Mann kann ja nun mit Fug und Recht 48 An Amalia Stifter am 10. 11. 1865, BW 5, S. 98. 49 An Amalia Stifter, am 14. 6. 66, BW 5, S. 231. 50 „Seltener ist beobachtet worden, daß hinter der stillen, innigen Genauigkeit gerader seiner Naturbetrachtung eine Neigung zum Exzessiven, Elementar-Katastrophalen, Pathologischen wirksam ist, wie sie etwa in der unvergeßlichen Schilderung des gewaltigen Dauer-Schneefalls im Bayerischen Wald [. . . ] beängstigend

4.3 Literarisierungen und Verkapselungen eines zaghaften Liebhabers

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als ein Autor bezeichnet werden, der den Dualismus von öffentlichem Bild und heimlichem Abgrund, von Apoll und Dionysos, von Ich und Es, den das neunzehnte Jahrhundert nicht müde wird zu beschwören, in seiner ganzen Person ins 20. Jahrhundert hinüberträgt), die den biedermeierlich entsagenden Lehrer des „sanften Gesetzes“ nicht mehr glauben will, steckt bei der Beurteilung des Autors in dem Dilemma, dass sie dessen Werk als reine Sprachleistung in die Nähe allermodernster Formexperimente stellen kann, dessen ideologischen Überbau, Stifters quietistische Weltanschauung, die diese Sprache, diesen Stil hervorbringt, aber in absolutem Widerspruch zur offenen, proto-dekonstruktivistischen Form seiner Werke empfindet. Der Ausweg aus diesem Dilemma ist regelmäßig der Verweis auf die Abgründe und dunklen Seiten unter der glatten Oberfläche der Schrift, auf den heimlichen Nihilismus, der dieser Feier der Dinge zugrunde läge, auf das Selbstbetrügerische in Stifters Projekt der Literarisierung von Ich und Welt. So trifft man sich am Ende mit der Ansicht der depressiven Louise von Eichendorff, die einen Seelengenossen in Stifter gefunden haben wollte und sich allen seinen Beteuerungen zum Trotz nicht davon abbringen ließ, dass er kein unglücklicher Mensch sei.51 Bei allem Psychosomatischen, was man in Stifters Schreiben als „lebensfeindlich“ und ungesund moniert, sieht man Amalia Stifters vollkommen ehrgeizloser Beschränkung auf das Häusliche und Alltägliche im wechselseitigen Brief-Umgang als eine weitere Ursache für Stifters Arbeit an einer literarischen Gegenwelt zur Wirklichkeit an. Alfred Doppler geht in seiner Verurteilung nicht so weit. Doch auch ihm ist die Literarisierung des eigenen Lebens, die Verwandlung in unterschiedliche Rollenidentitäten, die Stifter gegenüber seinen verschiedenen Korrespondenzpartnern annehme, Zeichen eines ästhetischen Selbstbetrugs, der eine biographische Katastrophe, ein Scheitern, überdecke: Weniger das von einer Empfindung volle Herz und der Wunsch, mit dem Briefpartner Gedanken auszutauschen, wie es der Brieftext vorgibt, sondern die Bedachtnahme, das Bild nicht zu verwischen, das man zu übersenden trachtet, steuert den Briefverlauf und bestimmt den Stil. Wir haben es daher in den Stifterschen Briefen mit einem mehrfach geschichzum Ausdruck kommt.“ (Thomas Mann: Die Entstehung des Doktor Faustus, in: Gesammelte Werke. 12 Bde. Frankfurt am Main (Fischer) 1960, Bd. XI, S. 237f. 51 Vgl. BW 7, S. 154, s. auch S. 205.

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teten Text zu tun: mit einer vom Autor bewußt hergestellten Oberfläche und einer verborgenen Inschrift, die auf Spuren verweist, die diesem Bild zuwiderlaufen, und wir haben es mit einer Privatheit zu tun, bei der schon während des Schreibens an eine Veröffentlichung gedacht wird, also mit Formulierungen, die nicht ohne Rücksicht auf die Nachwelt erwogen werden.52

Bezeichnend beendet Doppler in seinem Aufsatz den Abschnitt zu den Briefen an Amalia Stifter mit einem Zitat aus einem Brief von Karl Kraus an Sidonie Na´dherny´: „Ich glaube nicht, daß es je einen Menschen gegeben hat, der so heiß um seine Illusionen gerungen hat.“53 Aber Kraus’ feierlicher Selbstbetrug, das glühende Bekenntnis zur Liebe als Lüge, ist nicht das, was Stifter und Amalia (sie wirkt mit, ihre Briefe sind essenziell wichtig für diesen Prozess) sich erarbeiten. Es kann in einer Untersuchung wie dieser nicht darum gehen, das Glück dieser Ehe, dieses Lebens und dieses Liebeskonzepts zu behaupten. Natürlich ist Stifter spätestens seit den 60er Jahren ein kranker Mann, von den politischen Entwicklungen enttäuscht, von finanziellen Schwierigkeiten gebeutelt, nervösen Zuständen ausgesetzt, kein glücklicher Mensch. Es fällt zumindest schwer, sich ihn als solchen vorzustellen. Es kann auch nicht darum gehen, zu beweisen, dass Amalia Stifter eine ihm gewachsene Briefpartnerin war. Das war sie nicht und das war nicht ihr Interesse. Sie ist dennoch die richtige Briefpartnerin und hat Teil am Funktionieren dieses Briefwechsels. Es soll mir vielmehr darum gehen, zu versuchen, das Konzept hinter dieser Literarisierung des eigenen Lebens und der Liebe zu Amalia Mohaupt nicht von vornherein unter dem Vorzeichen der Lebenslüge zu beurteilen. Die unglückliche Liebe zu Fanny Greipl, der Schwester eines Kommilitonen, die er als Wiener Student in den Sommerferien 1827 in Friedberg kennen lernt, geht Stifters Ehe voraus. Zäh und merkwürdig statisch zieht sich dieses Verhältnis von jenem als Gipfel allen Glücks empfundenen Sommer 1827 bis in den Sommer 1835, als Adalbert am 20. August einen letzten Brief an Fanny schreibt, in dem er die Beziehung, die bereits aufgegeben worden war, der be52 Doppler: Adalbert Stifter als Briefschreiber (a. a. O.), S. 134f. 53 Ebd., S. 142. Vgl.: Karl Kraus: Briefe an Sidonie Na´dherny´ von Boruthin. 1913– 1936, auf der Grundlage der Ausg. von Heinrich Fischer und Michael Lazarus neu hrg. und ergänzt v. Friedrich Pfäfflin, Göttingen (Wallstein) 2005, S. 165 (Brief vom 18./19. 11. 1915).

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reits ein Eheversprechen an Amalia Mohaupt gefolgt war, offenbar zu retten versucht. Als könne er seine bisherige Halbherzigkeit und Unentschlossenheit durch einen entschiedenen Schritt noch einmal wieder gut machen, beteuert er, sein auch beruflich ziel- und konturloses Verhalten endlich aufgeben zu wollen und scheint plötzlich doch noch die Möglichkeit einer gemeinsamen Zukunft für fassbar und möglich zu halten. Fanny hat diesen Brief anscheinend nicht beantwortet. Ihre Eltern hatten bereits längst eine Verbindung mit dem charakterlosen und wenig versprechenden Studenten für unmöglich erklärt und dies durch ihren Sohn, Stifters Freund Mathias Greipl, übermitteln lassen. Im Jahr darauf, am 18. Oktober 1836 heiratet sie Josef Fleischanderl. Stifter selbst heiratet am 15. November 1837 Amalia Mohaupt, die nicht zu lieben er im letzten Brief an Fanny behauptet hatte. In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre beginnen Stifters literarische Arbeiten. Im September 1839 stirbt Fanny Greipl bei der Geburt ihres Sohnes. Vom ersten literarischen Projekt an, der später als Feldblumen erschienenen Erzählung, bildet die Auseinandersetzung mit der gescheiterten Liebe zu Fanny Greipl vom Thema des schuldig werdenden Liebhabers, des Vertrauensbruchs, über die Orte, die aufs Engste mit dem ersten Entstehen dieser Liebe, dem im Sommer 1827 besuchten Blöckenstein, dem Blöckensteinsee und der Ruine Wittinghausen, bis hinauf zum Thema der Entsagung, das ihn inhaltlich und als Stilproblem lebenslänglich beschäftigen wird, den untergründigen Strom, der Stifters Werk trägt. Die Liebe zu Fanny Greipl und die Briefe, die diese dokumentieren, geben Rätsel auf. Lange Zeit galten sie als vernichtet und wurden erst wiederentdeckt, als der Stifter-Verehrer und Sammler von Stifter-Gemälden Freiherr Karl Bachofen von Echt sie dem Prager Stifter-Archiv (zu Beginn des 20. Jahrhunderts) übermachte. Von Anfang an stellt sich diese Liebe als Unmöglichkeit dar, Entsagung ist vom ersten Brief an das Hauptmotiv. Es sind genau sieben Briefe an Fanny Greipl erhalten. Sechs stehen in zeitlich relativ engem Zusammenhang, wurden zwischen November 1828, nach den ersten gemeinsamen Sommerferien, und Februar 1830 verfasst. Wie ein Epilog gibt es dann noch einmal im August 1835 den schon erwähnten Brief, in dem die ganze bereits begrabene Liebe noch einmal aufloht, ein letzter verzweifelter Ruf nach der Geliebten. Fannys Briefe sind nicht erhalten. Die kurze „Novelle“, die sich aus

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diesen Briefen ergibt, steht in zeitlicher Nähe zu der 1840 erschienen Erzählung in Briefen Feldblumen, deren Handlung in das Jahr 1834 gelegt ist. Der Albrecht der Feldblumen, der ein briefliches Tagebuch an seinen Freund Titus richtet, in dem er vom wechselnden Glück seiner Liebe zur geheimnisvollen Angela berichtet, wird also in die zeitliche Nähe von Stifters Wiener Studentenjahren gerückt, in die Zeit, in der er Fanny vergessen zu haben scheint, sich Amalia nähert und ihr schließlich einen Heiratsantrag macht. Gegenüber Lesern seiner Werke, auf deren Verehrerbriefe er antwortet, wie einem J. Mörner und Louise von Eichendorff, bezeichnet Stifter zu Beginn der 50er Jahre Amalia als „die Angela aus den Feldblumen, zwar nicht so reich an Gut und Gelehrsamkeit, doch gewiß etwa noch reicher an Güte und Treuherzigkeit“,54 „sie ist an Herzen, wenn auch nicht an Wissen der Angela in den Feldblumen gleich“.55 Dies mag eine nachträgliche Konstruktion aus einer Zeit sein, in der Stifter als Schulrat in Linz endlich in einem Zustand relativer materieller Sicherheit und äußeren Friedens lebt. Aber nimmt man diese Konstruktion einmal beim Wort, aus der sich ein Ineinandergreifen von Biografie und fiktiven Briefen ergäbe, so würden die Briefe an Fanny eine nicht-fiktive Rahmenhandlung zu den Feldblumen bilden, die (in der Fiktion) mit dem 1. Mai 1835, dem Tag der Hochzeit zwischen Albrecht und Angela, enden. Dieser würde am 20. August 1835 der letzte Brief an Fanny folgen: „Oberplan ist mir fürchterlich leer, und nur du allein beschäftigest immer mein Herz [.. .] Seit dem Hochamt [bei der Hochzeit von Schiffler und Marie, zweier Friedberger Freunde] weiß ich es, du liebest mich noch.. .“.56 Welche der beiden Frauen Stifter „betrügt“ – Amalia, der er einen Heiratsantrag macht, obwohl er immer noch Fanny liebt, oder Fanny, gegenüber der er Amalia in einem Brief als unbedeutende, aus Trotz und Verzweiflung eingegangene Affäre bezeichnet, kann nicht geklärt werden. Ebenso wenig, ob Amalia wirklich „die Angela der Feldblumen“ ist. Es ist in diesem Zusammenhang nur interessant, dass Stifter abermals Koinzidenzen zwischen seinem privaten Leben und seinem Werk behauptet und durch die Datierung der fiktiven Briefe einen merkwürdigen, spannungsvollen und unauflösbaren Widerspruch in seinem Leben betont und akzentuiert. Der letzte 54 Brief an Mörner vom 26. 9. 1851, in: WB 2, S. 90. 55 Brief an Louise Freifrau von Eichendorff, in: 23. 3. 1852, WB 2, S. 111. 56 BW 1, S. 35.

4.3 Literarisierungen und Verkapselungen eines zaghaften Liebhabers

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Brief an Fanny wird damit zu einem Aufbegehren, einem Widerspruch gegen etwas, das im literarischen Schaffen bereits ins Reine gebracht, zur Novelle gerundet ist. Ein seltsames, nur angedeutetes, für die Handlung der Feldblumen ganz irrelevantes Doppelgängerinnenmotiv erscheint als abgebrochener Handlungsstrang fast wie ein Symbol für den Schatten einer zweiten Gestalt hinter der Geliebten. Titus verwechselt Angela zu Beginn der Erzählung mit einer russischen Gräfin, die ihr außerordentlich ähnlich sieht. Dieses romantische Motiv trägt aber nicht im Geringsten zur weiteren Handlung bei. In Stifters letztem Roman, dem Witiko gibt es ein ähnliches Phänomen: als Witiko seiner späteren Frau Bertha zum ersten Mal begegnet, ist diese in Begleitung einer anderen Frau, ihrer „Singgespanin“, die im Wald verschwindet, als sie Witiko erblickt – und von der erst zum Schluss des Romans noch einmal kurz die Rede sein wird. Diese verschwindenden Doppelgängerinnen mögen weitere „Spuren“ sein, wie sie Alfred Doppler überall in Stifters Werken findet und die darauf hinweisen, dass es eine klassische Geschlossenheit des Werks hier nicht gibt: offene Motive, Fragen, „Verunreinigungen“ durch offene oder versteckte autobiographische Anspielungen. Der erste Brief an Fanny Greipl ist mit seiner nur halb ausgesprochenen Liebeserklärung zugleich auch schon eine Verzichtserklärung. Stifter ist 23 Jahre alt, hat noch nichts geleistet und geschrieben und scheint doch schon jeden Schritt seines Lebens als eine Aufgabe zu betrachten, als Beitrag zu einem Werk, das zu leisten ist, so ernsthaft, gefasst und kontrolliert ist er in diesem Brief, der sich deutlich vom Stil seiner jeanpaulisierenden Freundesbriefe, wie er sie in dieser Epoche seines Lebens zahlreich verfasst, unterscheidet. Im Stifter-Archiv der Prager Nationalbibliothek kann dieser Brief eingesehen werden: ein kleines Blatt, auf einer eng, bis an den Rand beschriebenen Seite ist alles untergebracht. Liebe theure Freundin! Ich habe dir versprochen, oder besser gesagt, du hast mir erlaubt, an dich schreiben zu dürfen; und von dieser Erlaubniß mache ich daher Gebrauch, und sende dir diese Zeilen von Wien, nebst meinen tausendfachen Gruß. Beynahe unerträglich ist mir wieder das Leben in Wien auf jene glückliche goldene Zeit, in welcher ich in so angenehmer Gesellschaft im Budweiser Kreise herumfuhr. Ich werde jener Tage in Ewigkeit nicht vergessen, es waren die schönsten Ferien meiner ganzen Studienzeit. Für jedem Menschen von Bildung und feinem Gefühle ist es ein inniges Lebensbedürfniß, sein Herz an andere Menschen anzuhängen, die

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er lieben, mit denen er in herzlichem Verkehre leben kann. Darum ist es mir bey euch so wohl, weil ich weiß, daß ihr mir alle gut seyd, und weil ich das seelige Gefühl genießen kann, euch recht von Herzen lieben zu dürfen. Vergieß nicht, liebe Fanny! auf das, was ich dir in den Ferien sagte, es kamm aus dem aufrichtigen Herzen deines besten Freundes – doch das wirst du längst vergessen haben, nur eines bitte ich dich, spotte nie über meine Schwäche, es würde mich ungemein schmerzen, denn ich habe dich wirklich recht mit ganzem Gemüthe lieb, und werde dich immer lieben. Ich weiß es ja, es ist nur ein liebliches Phantom, es ist nur ein Kartenhaus, an dem ich mich so sehr ergötze, doch mir ist dieses Phantom dieses Kartenhaus so lieb, und mich wird der Wind sehr betrüben, der es gewiß über kurz oder lang umblasen wird. Wenn es eine Thorheit ist, die ich begehe, so ist blos jenes Herumfahren Schuld, wo wir uns beyde so nahe kamen – doch es mögen die Sachen stehen, wie sie wollen, über dieß einzige sey überzeugt, daß ich stets dein Freund in der vollen Bedeutung des Wortes bleiben, und nie zweydeutig gegen dich handeln werde, sondern jederzeit offen redlich und wahr. Ich hätte dir unendlich viel zu sagen, was man alles einem Briefe nicht einschalten kann. Schreibe ja gewiß, ich bitte dich herzlich darum. Wien am 7ten November 1828. Stifter57

Ein im Auftreten naiver, in der Grammatik beinahe einfältiger (der gegen Stifter maßlos gehässige Thomas Bernhard spricht von Stifters „Grammatikfehlerprosa“58) Brief, den man kaum als Produkt eines zukünftig zu den bedeutendsten Stilisten zählenden Autors identifizieren würde, wäre nicht vom ersten Satz an klar, dass hier nicht jemand schreibt, der es nicht kann, sondern einer, der sich zurückhält, zurückzwingt, eine in ihrer Demut schon wieder penetrante Haltung einnimmt: „Ich habe dir versprochen,“ das könnte anmaßend erscheinen, als habe sie auf seinen Brief gewartet, als sei es nicht er, der hier zu erwarten und erhoffen habe. Es wird aber kein neues Blatt vorgenommen, sondern im Satz korrigiert: „oder besser gesagt, du hast mir erlaubt“. Der Brief ist nicht einfach demütig, sondern zeigt Demut, inszeniert Demut. Er führt vor, wie er voran stürmt, über die eigene Courage erschrickt und einen Schritt zurück tritt. Diese Vorwärts-Rückwärts-Bewegung bestimmt das ganze Schreiben. Zunächst richtet sich die Liebeserklärung nicht an eine Person, sondern an „euch“, also an Fanny und ihre Geschwister Theresia, Nan57 BW 1, S. 3f. Manuskript im Prager Adalbert Stifter-Archiv (STA) in der Nationalbibliothek der Tschechischen Republik Prag, Inv.-Nr. 2. 58 Nach Stadler: Mein Stifter (a. a. O.), S. 176, vgl. Thomas Bernhard: Alte Meister. Komödie, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1985, S. 72: „Stifter schreibt einen fürchterlichen Stil, der dazu noch grammatikalisch unter aller Kritik ist.“

4.3 Literarisierungen und Verkapselungen eines zaghaften Liebhabers

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ni und Mathias, mit denen Stifter den Sommer verbracht hat. Das erscheint zunächst einmal als Schüchternheit und kippt dann in ein freimütiges und offenes Liebesgeständnis – allerdings an alle – um. Es wird auf etwas angespielt, das bereits in den Ferien gesagt worden sei. Hat es schon eine Liebeserklärung gegeben? Sofort kommt wieder die Rücknahme: „das wirst du längst vergessen haben“, „spotte nie über meine Schwäche“ – dieses Sich-Kleinmachen bringt dem Schreiber anscheinend den Schwung, den er braucht, um es hinzuschreiben: „denn ich habe dich wirklich recht mit ganzem Gemüthe lieb und werde dich immer lieben.“ Dass es für ihn in dieser Liebe keine Hoffnung gibt, ist ihm ganz klar. Dass das Kartenhaus umgeblasen werden wird, wird bereits als Tatsache festgestellt. Ob der Grund hiefür wirklich seine Unreife, Unentschlossenheit und sein Schwanken ist, sein Sich-nicht-festlegen-Wollen, oder ob vielleicht von Seiten Fannys bereits etwas gesagt oder getan wurde, was seine Liebe in den Bereich der Fantasie verweist, ist eine Frage, die nicht beantwortet werden kann. Durchaus scheint es jedoch, als habe der Verfasser noch nicht alle Hoffnung verloren. Die Hoffnungslosigkeit scheint nicht auf eine definitive Absage ihrerseits zurückzugehen. Wieso sonst die vielen Glücksbeteuerungen? Nein, eine merkwürdige Dramaturgie von abwechselnder Glücksund Zerstörungsvision bestimmt diesen Brief, wie viele von Stifters Schriften. Hier spricht ein verzagter Liebhaber, der die Unerfüllbarkeit seines Begehrens bereits vorwegnimmt. Und „jenes Herumfahren“, das Schuld an allem ist, „bey dem wir uns so nahe kamen“ – also das Liebe auslösende Moment, die Ausflüge zum Plöckenstein, zur Ruine Wittinghausen – enthält im Keim schon die Konsequenz aus der Unmöglichkeit dieser Liebe: ihre Verschriftlichung, die Erschließung von Stifters zukünftiger schriftstellerischer Topographie. Rainer Baasner hat Stifters Briefstil als monologisch, ja monomanisch charakterisiert59. Deutlich findet er hierbei im Stil wieder, was er als „Selbstgerechtigkeit“ für ein Charakteristikum des Autors hält. Auch die Umständlichkeit seiner brieflichen Ausführungen deutet er in dieser Richtung. Umständlich ist der Brief in der Tat. Es findet sich darin nichts von der Augenblickshaftigkeit, dem Auf59 Baasner: Adalbert Stifters Selbstdarstellung als Dichter in seinen Briefen, in: Vom Verkehr mit Dichtern und Gespenstern. Figuren der Autorschaft in der Briefkultur. Hg. v. Jochen Strobel. Heidelberg (Winter) 2006, S. 190.

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schnappen des Schreibmoments, wie es das in Bismarcks frühen Briefen immer wieder gegeben hatte, wie es Bettina von Arnim perfekt beherrscht, wie es ein Verfahren des romantischen Briefs darstellt (seine Schlussformel ist nicht: „Schreibe ja bald“ sondern „Schreibe ja gewiß“ – Gewissheit, Stabilität ist, was Stifter im Schreiben immer wieder sucht). Er transportiert sich nicht mithilfe sprachlicher Volten und rhythmischer Katapultsprünge in die Gegenwart der Briefleserin, vielmehr distanziert er sich: „es wird stets auf Distanzierung durch allgemeine Ausdrucksweise, durch Abstraktion und Voraussehbarkeit Wert gelegt.“60 Aber das ist durchaus kein Charakteristikum des Stifterschen Briefstils dieser Jahre. Denn in Briefen an Freunde, wie den ebenfalls zum Greipl-Kreis gehörenden Adolf Freiherr Brenner von Felsach findet sich genau dieser romantische Schwung und Übermut, die Ironie und Neigung zu witzigen Paradoxen, die man in dem Brief an Fanny vielleicht vermissen mag: „Ich wirke ordentlich Wunder, indem ich schon sogleich nach meiner Ankunft, nehmlich acht Tage nach derselben, auf diesem schlecht geleimten und unbeschnittenen Papier dir die schönsten Sachen nicht sowohl schreibe, als schreiben will.“61 „Ich beantworte [deinen Brief] von Krumau aus, wo ich in der Wohnung der Clara Bayr olim Cl. Greipl, umgeben von ihren zwey schönen fragenden Buben diese Zeilen aus ihrem Drängen und Klettern und Plaudern für dich ausklaube.“62 Es gibt in den dreißiger Jahren also durchaus einen beschwingten Briefschreiber Stifter. Der zögernde, ängstliche, auf der Stelle tretende Gestus ist einer, der ausschließlich den Briefen an Fanny angehört.

4.4 Entsagung als Rückzug oder Aufbruch Im Sommer 1830 hatten die Greipls über ihren Sohn, Stifters Freund Mathias, mitteilen lassen, dass sie den weiteren Verkehr zwischen Adalbert und Fanny nicht begrüßen würden. Stifter reagiert 60 Ebd., S. 190f. 61 Brief vom 16. 8. 32, in: BW 1, S. 29. 62 Brief vom 10.9.32, in: Adalbert Stifters Jugendbriefe. Hg. v. Gustav Wilhelm. In ursprünglicher Fassung aus dem Nachlass hg., erg. u. mit e. Einl. vers. von Moriz Enzinger. Graz, Wien (Stiasny) 1954, S. 55 (vollständig zitiert nur in dieser Ausgabe, gekürzt enthalten auch in BW 1, S. 30f.).

4.4 Entsagung als Rückzug oder Aufbruch

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in seinem Antwortbrief an Mathias vom 4. Juli 1830 verletzt und frustriert. Dem Freund, der ihn gerne im Sommer gesehen hätte, erteilt er eine Absage, nicht ohne einen Zug des Beleidigtseins in Bezug auf seine geplatzten Hoffnungen. Offenbar hatte Mathias auch von eigener Frustration und Antriebslosigkeit geschrieben, denn Stifter empfiehlt ihm ein Programm des Studiums und der geistigen Arbeit, das er auch für sich selbst in Anspruch nimmt: Studiere etwas in den müssigen Stunden, schmüke deinen Geist mit wissenschaftlicher Bildung, du weißt nicht, welch ein Zauber wider den Mißmuth in den Wissenschaften liegt, zeichne, lerne Musik, in dem Reiche der Töne liegt auch Himmelsfrieden oder wenn du dieses alles nicht willst, so pflanze Blumen – überhaupt kette deine Thätigkeit an irgend etwas, und dieses wird anfangen, dich zu interessieren. [. .. ] Du klagst über Mangel an Umgang, gehe mit erhabenen Todten um, die durch ihre Schriften mit dir sprechen. Edle Dichter, große Geschichtsschreiber, z. B. Johannes Müller, gründliche Denker sind eine heilige und freundliche Gesellschaft. – Den größten Trost in meiner wüsten Lage – ja gewissermaßen die Liebe einer Geliebten – gaben mir die Studien jener großen Seelen, die obwohl auf Erden lebend, doch im Himmel wandelten, und nicht Einen oder Eine, sondern die Menschheit liebten: Hartmann, der edle Weise, durch seinen „Geist des Menschen“ und „Glückseligkeitslehre“, – der freundliche Himmel, mein Göthe, dessen großartige Ruhe und Heiterkeit den Streit der blinden Leidenschaften in edle Harmonie auflöset. Und noch zarter und heiliger, als in andere, fahren die Lichter dieser Geister in verletzte und gekränkte Seelen, und werden ihnen statt der Geliebten. Ausschweifen kann nur der erste Trotz, oder ein ohnehin verdorbenes Herz. Fürchte das nicht mehr – auch hast du das Wort ausschweifen in einem engeren Sinne genommen, als ich es gebraucht haben wollte; gibt es denn nur Ausschweifungen der Wollust? Ist nicht selbst jedes schöne Gefühl der Ausschweifung fähig? (denn Ausschweifung im Allgemeinen ist jede Überschreitung einer natürlichen Gränze) obwohl ich mein Ausschweifen auch nicht von schönen Gefühlen gesagt haben wollte; sondern, daß ich die Gränzen eines heiter ruhigen Lebens überschreiten, und in Extreme fallen könnte, welche die Harmonie in Wildheit, und Sitte in Unordnung herabstürzen, und indem sie die Wunde nur betäuben, dieselbe nicht nur nicht heilen, sondern vergrößern, und aus einen Unglücklichen einen Sünder machen. Nur nach solchen Extremen neigte, ich sage neigte sich mein ungeduldiges Temperament, die mich zerstreuten, und überschrieen – doch genug davon, mehr mündlich.63

Für Wolfgang Matz fällt in seiner Stifterbiographie das hier formulierte Programm der Verdrängung wie auch Stifters Jean-PaulBegeisterung, das „Schoppisieren“, die schwärmerisch-humoristischen Freundschaften mit zum Teil viel jüngeren Freunden, wie die 63 BW 1, S. 25f.

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4 Adalbert Stifter oder die Vollendung der Briefliebe

Berufung auf Hartmann und Goethe als Vorbilder seines Liebesverzichts unter die Rubrik der Lebenslüge.64 In Stifters gescheiterter früher Liebe sieht er in erster Linie ein Zeichen der Unreife und Verblendung Stifters, der sich in verschiedenen pubertären Umtrieben zu nichts, zu keiner vernünftigen beruflichen Laufbahn wie auch zu keiner Liebe entschließen habe können. Das Thema der Entsagung, das Stifter von früh an, ja bereits in für die Schule verfassten Aufsätzen umtreibt, sieht er als Zeichen für einen Hang zur Depression und einen Minderwertigkeitskomplex, der die letztendliche Ursache für das Scheitern seiner Liebe bilde. Die „Ideologie der Entsagung und des Dualismus von himmlischer und irdischer Liebe“ ist für Matz nur Verschleierung einer verlogenen gesellschaftlichen Praxis: „Weil man die Geliebte nicht berühren durfte, strafte man die Frauen, die dafür zur Verfügung standen, zwangsläufig mit Verachtung.“65 In einem Augenblick der äußersten seelischen Bedrängnis entdeckte Stifter die Literatur als Therapeutikum und als Gegengewicht zu den nicht mehr beherrschbaren Kräften der Wirklichkeit. Hier sah er plötzlich die Möglichkeit, „den Streit der blinden Leidenschaften in edle Harmonie“ aufzulösen – doch um den Preis einer Idealisierung und Neutralisierung der Literatur selbst. [.. .] Stifter [ .. . ] suchte Vorbilder für einen Ausweg aus seiner verfahrenen Situation. Die aber fand er nur durch die selektive Lektüre; das utopische Pathos des deutschen Idealismus verstand er umstandslos als ein lebensgeschichtlich realisierbares Ideal, den Gedanken der humanistischen Erziehung des Menschengeschlechts als psychologisches Programm für die Beherrschung der eigenen, individuellen Triebstruktur.66

Mit den Ausführungen zur Ausschweifung bezieht sich Stifter offenbar auf einen (nicht erhaltenen) früheren Brief an Mathias und dessen anscheinend besorgte Reaktion. Womöglich hat Stifter in besagtem Brief in seiner mitunter durchaus erpresserischen Manier angekündigt, das Zerstieben seiner Hoffnungen auf Fanny könne ihn in Ausschweifungen treiben. Denn auch Fanny hatte er in seinem vorerst letzten Brief vom 14. 2. 1830 angedroht, wenn ihm alles genommen würde, weil der „falsche Nachbar, oder muthwillige Hände des Kriegers“ seine Habe zerstörten, könne er „an der Würde der Seele“ verzweifeln und zum „Bösewicht“67 werden. Hier nun 64 65 66 67

Matz, S. 91. Ebd. Ebd. BW 1, S. 23.

4.4 Entsagung als Rückzug oder Aufbruch

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präzisiert er, er habe dabei nicht oder nicht ausschließlich an erotische Ausschweifung gedacht, sondern allgemein an Ausschweifung im Sinne einer Grenzüberschreitung. Ausschweifung wird hier von ihm definiert als Fall in Extreme jeder Art, als Ordnungs- und Harmonieverlust – das, was er später in seinen Schriften mit dem Begriff der „Leidenschaft“ als gefährlichem, zerstörerischen Trieb des Subjekts gegen die Naturordnung immer wieder thematisieren wird. Das Gegensatzpaar Ausschweifung – Entsagung wird hier von Stifter erstmals als kategorischer Dualismus formuliert. Wie im Falle von „Nichts“ und „Ding“ scheint es jenseits der beiden Extreme für Stifter kein Drittes zu geben. Wenn Stifter in einem solchen Zusammenhang Goethe nennt, dann wird er die Entsagungstheorie, wie sie bereits im Briefwechsel mit Charlotte von Stein als Konzept einer sich in der Liebe verobjektivierenden Subjektivität formuliert wird68 und den Mittelpunkt 68 Vgl. Christian Schärf: Schreibweisen der Entsagung, in: Goethes Ästhetik. Eine Genealogie der Schrift. Stuttgart, Weimar (Metzler) 1994, S. 154–176. Schärf diagnostiziert „Entsagung“ in weitgehender Übereinstimmung mit der Forschungstradition zum Briefwechsel Goethe/Stein als eine Einordnung des Subjekts in ein Konzept von „Ganzheit“, in das die Funktion der Sinnstiftung, an deren Realisierung das Sturm-und-Drang-Subjekt zu scheitern drohte, verlagert werde (Friedrich Gundolf sprach hier von einem „Objektivierungsprozess“ vom „Naturdurchfühler zum Naturforscher“, vgl. ders.: Goethe, Berlin (Bondi) 131930, S. 272). Dieser Vorgang verlagere allerdings auch den Bezugsrahmen der Dichtung vom „Leben“ in den Bereich des Ästhetischen. Entsexualisierung der Liebe, wie sie in der Briefliebe zu Charlotte von Stein praktiziert werde, sei eine der Konsequenzen hieraus: „Die Symbiose der Liebenden wird zeitüberspannend. Der Verzicht auf eine Erfüllung in der Präsenz des Sinnlichen steigert die Liebesvorstellung gerade in der Vergeistigung. So entsteht eine Art intimer Metaphysik, die den Liebenden einen von realen Umständen abgehobenen Eigenbereich zusichert.“ (Schärf, S. 165) Diesen Aspekt macht Schärf m. E. zu stark. Im Vordergrund der „Entsagung“ steht weniger der Verzicht auf Sexualität (den Goethe z. B. in einem Brief vom 21. Februar 1787 durchaus beklagt, vgl. Goethes Briefe an Charlotte von Stein, hg. v. Jonas Fränkel, 3 Bde. Berlin (Akademie Verlag) 1960, Bd. 2, S. 353), als die Stiftung eines sinnhaften Zusammenhangs für das Sehen und Verarbeiten der Wahrnehmung, der durch die stete Bezugnahme auf die entfernte Geliebte hergestellt wird: „Nun kann ich auch fröhlicher an das Werck gehn, denn ich habe einen Brief von dir in welchem du mir sagst, daß du mich liebst, daß du dich meiner Briefe und Nachrichten freust. Könnt ich dir nur recht viel geben. Meine Selbstgespräche bey den besten Gegenständen sind an dich gerichtet, wenn sie nur gleich auf dem Blatte stünden.“ (Brief an Charlotte von Stein vom 1. Februar 1787, in: Ebd., S. 342). Nach dem Empfang des Billets, mit dem von Stein die Beziehung wegen der verheimlichten Flucht nach Italien abbrechen wollte, hieß es am 14. Dezember 1786 deshalb auch folgerichtig: „Ich sah noch einige Villen, einige Ruinen, mit den Augen blos. Da ich merckte daß ich nichts mehr sah, lies ich ab und ging nur so vor mich hin.“ (ebd., S. 321).

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4 Adalbert Stifter oder die Vollendung der Briefliebe

der Wanderjahre bildet, im Kopf haben. Ein ganzes Projekt der Kunst- und Lebenskultivierung wird dort vorgeführt, ein Modell, das auch für den Nachsommer noch Pate stehen wird. Es ist kein verzweifelter Griff nach Vorbildern, was hier geschieht, es ist eine wohlüberlegte Bezugnahme auf ein bestehendes Denkmodell, das Stifter bereits eine Weile umtreibt, und das zu realisieren möglicherweise sein Plan ist. Es ist „etwas Mildes, nicht Marmor“, um Nietzsches Diktum über den „Geschmack ,Goethe‘ “69 im Nachsommer zu zitieren. Die Lehre der Entsagung – ein Motiv, das sich durch das Werk spätestens des klassischen Goethe zieht – erfüllt sich in der beständigen Wiederherstellung der Ordnung des Seienden. Dabei hat sie ihre Stufen, ihre Modi: sie kann als Diätetik, Takt, Schonung, ε ποχη , Einsicht in die notwendige Bedingtheit des Menschseins, deren tätige Realisierung, bisweilen schmerzlicher Selbstzwang sein, aber auf der höchsten Stufe heitere Gelöstheit und eine Freiheit als freiwillige Abhängigkeit.70

Möglicherweise ist unserem heutigen Verständnis kein Begriff des neunzehnten Jahrhunderts fremder und ungeheuerlicher als der der Entsagung. Wir können uns darunter kaum noch etwas anderes vorstellen als Verdrängung, Verklemmtheit, Zwangssublimierung. In dieser Hinsicht hat sie Peter Gay ja auch zu einem der Leitmotive der Liebe im bürgerlichen Zeitalter erklärt. Von solchen Vorstellungen muss man sich womöglich zunächst lösen, was gar nicht so einfach ist, bevor man sich mit dem Liebeskonzept auseinandersetzt, das Stifter in seinen Briefen und später auch in seinem Werk aufgreift. Wenn er davon spricht, statt eines einzigen Menschen die Menschheit lieben zu wollen, dann ist das eine Erklärung für das Konzept der Weltfrömmigkeit, wie es in den Wanderjahren durch Makarie vertreten wird, und kein Zeichen für Selbstbetrug. Eine weitere Goethesche Repräsentantin einer derartigen entsagenden Haltung ist die Ottilie der Wahlverwandtschaften, über die es heißt: Unter diesem klaren Himmel, bei diesem hellen Sonnenschein, ward es ihr auf einmal klar, daß ihre Liebe, um sich zu vollenden, völlig uneigennützig werden müsse; ja in manchen Augenblicken glaubte sie diese Höhe schon erreicht zu haben. Sie wünschte nur das Wohl ihres Freun69 Nietzsche KSA 13, S. 634, 24 (10) Okt. – Nov. 1888. Zit. nach: Martina Wedekind: Wiederholen, Beharren, Auslöschen. Zur Prosa Adalbert Stifters, Heidelberg (Winter ) 2005, S. 75. 70 Henkel, Arthur: Entsagung. Eine Studie zu Goethes Altersroman. Tübingen (Niemeyer) 1954, S. 145.

4.4 Entsagung als Rückzug oder Aufbruch

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des, sie glaubte sich fähig ihm zu entsagen, sogar ihn niemals wieder zu sehen, wenn sie ihn nur glücklich wisse. Aber ganz entschieden war sie für sich, niemals einem andern anzugehören.“71

Es ist ein Programm philosophischer Askese und geistiger Diätetik, das Stifter dem Freund vorschlägt und auch für sich selbst in Anspruch nimmt. Neben Goethe und Johannes von Müller, dem Historiker der schweizerischen Eidgenossenschaften, fällt ein weniger bekannter Name mit Hartmann. Der Mediziner, Professor an der Universität Wien, Philipp Karl Hartmann wollte mit seiner „Kalobiotik“72 zum Ausgleich zwischen kulturellem und natürlichem Zustand erziehen, frei von jeder künstlichen Steigerung und Verfeinerung: „In der Tat werden hier vor allem Selbstkontrolle, Entgegenkommen, liebevolle Zuwendung zum Bereich der je individuellen Pflichten und vor allem ein hohes Maß an Zurückhaltung als Ideale einer ethisch und eben auch ästhetisch geglückten individuellen Lebensführung propagiert.“73 Der Mensch befriedige alle Bedürfnisse und Triebe, benutze und veredle alle Anlagen und Kräfte, welche ihm die Natur gab, genieße und handle aber nie früher, als er wahres Bedürfniß und hinlängliche Kraft fühlt, und gehe in Genuß und Täthigkeit nie weiter, als ihm Sättigung und Ermüdung erlauben.74

Wenn Stifter in den späten Briefen aus seinen unterschiedlichen Kuraufenthalten immer wieder beteuert, dass seine vollständige und vollkommene Genesung kurz bevorstünde, wenn er dabei zugleich 71 Goethe: Die Wahlverwandtschaften (Zweiter Teil, 9. Kapitel), in: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens (Münchner Ausgabe), München (Hanser) 1987, Bd. 9, hg. v. Christoph Siegrist, Hans J. Becker, dorothea Hölscher-Lohmeyer, Norbert Miller, Gerhard J. Müller und John Neubauer, S. 466. 72 Vgl. Einleitung, FN 10 sowie FN 76 in diesem Kapitel. 73 Habilitationsprojekt Peter Stachel: Die Vermittlung von kulturellen Verhaltenskodices im Sinne einer Akzeptanz der bestehenden Situation von Heterogenität durch entsprechende „literarisch-wissenschaftliche“ Handlungsanleitungen, sowie das zunehmende Brüchigwerden dieses verordneten Konsenses in der Zeit um 1900, in: Projektantrag M. Csa`ky: Die Reflexion der ethnisch kulturellen Pluralität Zentraleuropas und die Vermittlung entsprechender Traditionen im Bildungssystem der Donaumonarchie. www-gewi.uni-graz.at/staff/feichtinger/Antrag.pdf, S. 7. Leider hat Peter Stachel nach eigenem Bekunden dieses hochinteressante Projekt mittlerweile aufgegeben. In einer ganzen Reihe von Stachels Schriften (vgl. auch FN 76 in diesem Kapitel) – dem ich wertvolle Hinweise zu dieser Thematik verdanke – wird aber auf den Themenkreis der Kalobiotik eingegangen. 74 Philipp Karl Hartmann: Glückseligkeitslehre für das physische Leben des Menschen oder die Kunst, das Leben zu benutzen und dabei Gesundheit, Schönheit, Körperund Geistesstärke zu erhalten und zu vervollkommnen. 3., verbesserte Auflag, Leipzig (Leopold Voß) 1836, S. 48f.

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4 Adalbert Stifter oder die Vollendung der Briefliebe

beteuert, seine Liebe zu Amalia werde eigentlich erst jetzt entfacht und von Tag zu Tag stärker, wenn er Arbeitsfortschritte und die Beruhigung seiner Nerven und alles zusammen gleichermaßen dem Aufenthalt in der Höhe zuschreibt und eine unbestimmte Sehnsucht nach Höhe, die er von jeher empfunden habe, auf den Umstand zurückführt, dass diese eben seinem körperlichen Leiden zuträglich sei75, dann zeigt er sich in der Annahme einer allerengsten Verknüpfung des Seelischen mit dem Körperlichen und dem fast religiösen Glauben an einen erreichbaren Zustand absoluter Gesundheit, der ebenso ein Zustand des Ausgleichs aller Widersprüche des Lebens zu sein verspricht, immer noch als überzeugter Anhänger der Hartmannschen Lehren.76 75 Aus Kirchschlag an Heckenast am 22. 1. 1866: „Er [der Linzer Buchhändler Haslinger, R. L. ] gab mir ein Buch von Dr. Werber: „Die Alpenluft“ [Wilhelm Joseph Anton Werber: Die Schweizer-Alpenluft in Ihren Wirkungen auf Gesunde und Kranke mit Berücksichtigung der Mineralquellen und Kurorte. Zürich (Kiesling), 1862]. Ich bitte dich, kaufe dir dieses Buch, und lies es beständig, es ist für die Gesundheitspflege unschäzbar. [ . . . ] Werber sagt, daß Magenkatarrhe in der Höhe immer gut werden. Die Sehnsucht nach der Höhe ist der Befehl der Natur, dorthin zu gehen. Ich bitte dich, verschaffe dir das Buch, es ist in vielen Dingen höchst lehrreich und auch einleuchtend. Man wird durch Luft, Wasser, Licht und Nahrungsmittel weit sicherer gesund, als durch die Apotheke. Ich fühle mich leicht auf diesem Berge, als wäre ich selber aus Luft.“ (BW 5, S. 133f.). Werber, Balneologe und Homöopath (1798–1873), steht in der Tradition der naturphilosophischen, ganzheitlich lebenshygienischen Lehrer des 19. Jahrhunderts, zu denen auch Hartmann gehört. Die Bedeutung reiner Atemluft für den menschlichen Organismus etwa in Hartmann: Glückseligkeitslehre, 3. Aufl. Leipzig 1836. Erste Abtheilung: Vom Genusse der Wärme und der Luft, S. 55–57. 76 Die Lehre von der Kalobiotik, die nach Hartmann durch Wilhelm Bronn: Für Kalobiotik als neu ausgestecktes Feld menschlichen Strebens, 2 Bde., Wien 1835–38, und vor allem Ernst von Feuchtersleben: Zur Diätetik der Seele, Wien 1838, geprägt wurde, scheint einen nicht unbedeutenden Einfluss auf die Herausbildung des österreichischen Staatsideals einer Harmonisierung potentiell konfliktgefährdeter Gegensätze durch Selbstdisziplin und Zurückhaltung gehabt zu haben. (auch Eduard Hanslick, der im Konzertsaal einen Ort letztlich auf die Gesamtgesellschaft konzipierter Einheit sah, war Anhänger kalobiotischer Lehren, vgl. Peter Stachel: „Mit Wärme und lebhafter Anschaulichkeit“. Eduard Hanslicks Anteil am „Kronprinzenwerk“, in: Eduard Hanslick zum Gedenken. Bericht des Symposions zum Anlass seines 100. Todestages, hg. v. Theophil Antonicek, Gernot Gruber, Christoph Landerer, Tutzing 2010, S. 215–232.). Da dieses österreichische Staatsideal deutlich auch mit Stifters politischen und ästhetischen Konzepten übereinstimmt, ist die Kalobiotik für ihn möglicherweise über rein gesundheitliche Aspekte hinaus von großer Bedeutung. An verschiedenen Stellen hat Peter Stachel, dem ich für seine Hinweise in diesem Zusammenhang ausgesprochen dankbar bin, auf die weitreichende Bedeutung der in der Habsburgermonarchie verbreiteten „Glückseligkeitslehren“ als lebensbejahende populärphilosophische Lebensratgeber hingewiesen, die auch eine Reaktion auf politische Verunsicherungen gewesen

4.4 Entsagung als Rückzug oder Aufbruch

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Arnold Stadler zeigt sich in seinem programmatisch subjektiven Blick auf Stifter77 in vielem als der verständnisvollste Interpret des Autors. Auch er übernimmt Matz‘ These von Stifter als an den eigenen Ansprüchen scheiterndem Autor, aber er erkennt, dass Stifter in der Lage ist, aus diesem Unglück ein ästhetisches Programm zu generieren, ein Konzept des glücklichen Lebens, das für ihn nicht als psychologisches Programm missverstandener Idealismus ist, sondern auf eine gnadenlose Genauigkeit der Wahrnehmung der eigenen Existenz und ihres Zustands hinausläuft. Nicht Verblendung ist für Stadler das Prinzip Stifters, sondern eine in der Literatur einmalige Scharfsicht: Er verurteilte sich selbst. Er erhob Einspruch gegen sich selbst, was da alles in ihm war. Wußte von den Abgründen in sich, vergegenwärtigte das Dunkle und den Schrecken, nannte sie mit Namen und wies sie von sich. Das ist das Entscheidende. Er verurteilte sich und gebot seinen Regungen Einhalt. Das macht aus ihm einen Menschen. Unter dessen Oberfläche es brodelt. Ein Mensch, der einsieht und unterscheidet zwischen Gut und Böse [. . .].78

Stifter also als Konstruktivist des Glücks. Stifter kennt das Nichts und ist davon fasziniert. Der Blick in das schwarze, leere Auge des Plöckensteinsees, der Gordon-Pym-Blick ins atmosphärische Rauschen der weißen Apokalypse in Aus dem bayrischen Wald, der späte, einen ganzen Tag lang ausgehaltene Blick aufs Meer in Triest. Stifters Welt ist stets vom Nichts her gedacht. Die Realität des Chasein dürften, als Versuche, innerhalb einer bestimmten Intellektuellenschicht, gesellschaftlichen und politischen Verunsicherungen (hauptsächlich durch den Nationalismus) auf individueller Ebene durch einen Akt bewusster Selbstkontrolle entgegen zu wirken: „In diesem [Feuchterslebens, R. L.] überaus einflußreichen (46 Auflagen in sechs Jahrzehnten) Buch wird eine Kultur der Mäßigung, Selbstkontrolle und liebevollen Zuwendung zu den je eigenen Pflichten als Grundlage einer gleichermaßen ethisch wie auch ästhetisch – das Leben als Kunstwerk – geglückten Lebensführung propagiert. Der soziokulturelle und politische Kontext dieser dazumal überaus einflußreichen Theorien innerhalb der Donaumonarchie, aber auch ihr Einfluß auf die österreichische Literatur (Stifter, Grillparzer) wäre ein ebenso lohnendes Studienobjekt wie die auffallende Nähe solcher dem Sinnlich-lebensbejahenden und Anschaulichen zugewandten populärphilosophischen Lebensratgeber – als weitere Beispiele seien hier Philipp Carl Hartmann (1773– 1830) sowie auch die „Glückseligkeitslehre“ Moritz Schlicks (1882–1936) erwähnt – zu rational-vernunftgeleiteten philosophischen Konzeptionen.“ (Peter Stachel: Die Schönheitslehre Bernard Bolzanos, in: Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften 5: Sprache, Literatur und Kunst, hg. v. Karl Acham, Wien 2003, S. 499–518, hier: FN 11, S. 502f.). 77 Arnold Stadler: Mein Stifter. Köln (Dumont) 2005. 78 Ebd., S. 38.

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os ist Voraussetzung für sein Schreiben als Welt- und Ordnungsstiften. Vor der glasklaren Bewusstheit dieses Faktums wirken auch Matz‘ Enthüllungen einer Beihilfe zum vorehelichen Abtreibungsversuch bei Amalia, ja zum Kindsmord und der herzlosen Gleichgültigkeit gegenüber dem elenden Tod von Amalias Schwester, zu der das junge Ehepaar Stifter sich nicht bekannt habe, um Begräbniskosten zu sparen, nur bestätigend. (Hier wiederholt Matz, nebenbei gesagt, nur die eher spekulativen Vermutungen von Gustav Gugitz79). Stifter setzt in seinem Werk der Lieblosigkeit der Welt, auch der eigenen Lieblosigkeit, der eigenen Brutalität ein Konzept einer kosmischen Ganzheit entgegen, in der Liebe das Band sein soll, das alles verbindet: Geliebte, Ehefrau, Freunde, Freundinnen und Hunde. Denn auch der Hund Puzi wird in dieses Liebeskonzept einer Erweiterung der Liebe durch Überwindung des Eigennutzes miteinbezogen: Schreibe mir in deinem zweiten Brief auch etwas von der Puzi. [.. . ] Sollte man denn glauben, daß man ein Thierchen so lieb gewinnen kann. Aber es ist ja eben das Gold des Menschenherzens, daß Liebe Gegenliebe erwekt. Nur böse Menschen stoßen Liebe von sich oder mißbrauchen sie durch Eigennuz. Und darum ist unser Eheglük im Grunde des Grundes so groß , weil unsere Liebe ohne allen Eigennuz ist.80

Die Briefe an Fanny hätten zum literarischen Modell in ihrer idealisierenden Liebesauffassung den Titan zum Paten, erklärt Alfred Doppler.81 Im Moment, wo seine Hoffnungen zunichte werden, tausche er nur mit den veränderten Umständen die Rolle: als Werbender sei er Albano. Als er von Fanny und der Familie zurückgewiesen wird, übernähme er die Rolle des Roquairol, der aus tiefer Kränkung in Ausschweifung und Selbstzerstörung fliehe. Derartige Stilisierungen sind – zumal bei einem Anfang-zwanzigjährigen wie Stifter – nichts Ungewöhnliches. Aber sind es denn wirklich Stilisierungen? Oder nicht doch die Äußerungen eines ganz von idealen Liebesvorstellungen Durchdrungenen, der seine Verwirrungen in 79 Gustav Gugitz: Das Geheimnis um Amalie, in: Adalbert Stifter Institut des Landes Oberösterreich. Vierteljahresschrift 2 (1953), S. 94–101. Vgl. dazu auch: Elisabeth Hugelmann: Auseinandersetzung mit dem Artikel „Das Geheimnis um Amalie“ von Gustav Gugitz. Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterreich. Vierteljahrsschrift 6 (1957) S. 21–25. (Gustav Gugitz ist nebenbei auch der Vater der – von der Forschung nicht bestätigten – These, E.T.A. Hoffmann sei der Verfasser des pornografischen Romans Schwester Monika erzählt und erfährt (Wien 1910). 80 An Amalia Stifter am 3. 11. 1866, BW 6, S. 5. 81 Doppler: Adalbert Stifter als Briefschreiber (a. a. O.), S. 136.

4.4 Entsagung als Rückzug oder Aufbruch

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einem erstaunlichen Maß zu präzisieren versucht, im dritten Brief an Fanny fast am Buchstaben ihres ihm gesandten Briefes entlang eine Auseinandersetzung mit ihren Vorwürfen führt, die sicherlich von Verletztheit zeugen, vielleicht auch verletzter Eitelkeit, kaum jedoch nur Ausdruck einer bloßen Selbstbespiegelung im literarischen Muster sein dürften. Ich möchte einige der Briefe an Fanny genauer untersuchen, die in ihrer geheimnisvollen Siebenzahl ganz monologisch dastehen, weil Fanny Greipls Briefe nicht erhalten sind, ihre Stimme überhaupt nur aus den Zitaten des bereits erwähnten Briefes zu rekonstruieren ist. Sie scheinen mir mehr zu sein als pubertäre Stilkopien. Wie bereits angedeutet, gibt es in diesen Briefen eigentlich nicht so etwas wie eine Entwicklung. Der Dualismus zwischen Hoffnung und Verzagtheit bestimmt, wie den bereits zitierten ersten, jeden der Briefe. Der zweite Brief beginnt wie der erste mit einer Demutsgeste – und doch ungleich gestelzter. Und geziert und gestelzt galant erscheint der ganze Anfang: Theuerste Freundinn! [statt „Liebe theure Freundin“, wie im ersten Brief, R. L.] Ich bin so eitel, mir einzubilden, daß du schon recht ungehalten seyn wirst, weil dein freundliches Zuschreiben so lange keine Antwort erhalten hat. In der Voraussetzung also, daß dir meine Antwort und aber auch mein Stillschweigen nicht gleichgültig sey, entschuldige ich mein langes Schweigen damit, daß ich wirklich keine Minute Zeit mir abnöthigen konnte, indem ich, da der Hofmeister des Grafen Colloredo krank war, die ganzen Geschäfte desselben zu besorgen hatte [ .. . ]82

Will er sie damit beeindrucken? Hat das Stellvertreteramt beim Grafen Colloredo bereits auf Stifters Stil und Gebaren abgefärbt? Eine gewisse herablassende Arroganz ist durchaus zu spüren gegenüber der Kleinbürgerstochter vom Lande: Dein Schreiben, das du so ungerechter Weise ein Gekritzel nennest, hat mich im höchsten Grade entzückt, da es mich doch einiger Maaßen überzeugte, daß meine Freundschaft, und dein Wohlwollen gegen mich doch nicht jenen flüchtigen Charakter hat, der der Zuneigung eigen ist, die man gewöhnlich einem guten Bekannten, mit dem man sich einige Zeit hindurch gut unterhält, so lange er da ist, weiht, und wenn er fort ist, nach und nach des fröhlichen Gesellschafters vergißt.83

82 Brief vom 3. 2. 1829, in: BW 1, S. 4. (Inv.-Nr. 3 im Prager Adalbert Stifter-Archiv). 83 Ebd.

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4 Adalbert Stifter oder die Vollendung der Briefliebe

Viel Wiener Etikette hört man aus der Umständlichkeit dieser gravitätischen Periode heraus, die eine unbedeutende Redensart mit dem Pomp einer Staatsrede vorbringt, als würde er nicht nur den Hofmeister, sondern auch noch den Haushofmeister vertreten, und den simplen Vergleich seiner Stellung gegenüber Fanny Greipl mit der eines „guten Bekannten“ literarisierend aufbläst, als handele es sich um eine homerische Metapher. Umständlich war vielleicht auch in Teilen der erste Brief – aber es war eine Umständlichkeit des kindlichen Ungeschicks. Hier ist jetzt eine gewisse Süffisanz unverkennbar. Und doch findet sich auch hier wieder das Umkippen in Verzagtheit, das sich im Schriftbild in einem überlangen Gedankenstrich manifestiert, nach dem die Abstände zwischen den Wörtern sich vergrößern, die Schrift gedehnter wird, als solle das zögernde Hervorbringen der Wörter wie im ersten Brief in anderer Form auch hier sich im Schriftbild manifestieren: Ich fürchte mich schon auf die Zeit, wo das so schöne brüderliche Band sich allmählig lösen wird, und wo der Jugendzeit, der Zeit unbefangenen freudigen Liebens, als eines schönen Traumes gedacht werden wird, der der gemeinen Wirklichkeit Platz machen mußte.84

Auch hier antizipiert der 24jährige eine Zeit des Erwachsenseins, in der an die Stelle der Liebe und der Jugend die Wirklichkeit tritt. Bereits hier beschwört er, wie später in der Einleitung des Hochwald, den „Doppeltraum der Jugend und der ersten Liebe“85, in dem er sich bereits nicht mehr befindet, als etwas, was einmal vergangen sein wird, als vollendete Zukunft. Auch hier wird ein Kartenhaus zum Einsturz gebracht. Wolfgang Matz entwickelt anlässlich dieser vorab bereits resignierenden Haltung in den Briefen an Fanny seine Theorie von Stifters Minderwertigkeitsgefühl: „Die Liebe entsteht aus eigenem Recht; will ein Mensch sich aber zu ihr bekennen, braucht er auch das Bewußtsein, selber der Liebe wert zu sein. Stifter besaß dieses Selbstvertrauen nicht.“86 Demgegenüber hat Friedrich Wilhelm Korff bereits 1969 den Wechselrhythmus von Aufbruch und Rückzug als bestimmendes Motiv der Stifterschen Werke, als Systole und Diastole seines Schaffens beschrieben. Gerade hierin sah er jenseits aller stilistischen Nachahmung und metaphorischen Verfahren die eigentliche Paralle84 Ebd., S. 5. 85 Adalbert Stifter: Der Hochwald, in: Werke und Briefe, historisch-kritische Gesamtausgabe (HKG). Hg. v. Alfred Doppler u. Helmut Laufhütte. Bd. 1,4, S. 211. 86 Matz: Adalbert Stifter (a. a. O.), S. 79.

4.4 Entsagung als Rückzug oder Aufbruch

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le zu Jean Paul, die es in Stifters Werk gibt.87 Die Glücksvision und deren Vernichtung gehören zusammen, sind Teil ein und derselben Bewegung. Hierauf spielt Alfred Doppler offenbar an, wenn er im Hinblick auf die Briefe an Fanny Greipl bemerkt, dass hier die „Transformationen Jean Paulscher Texte [... ] nicht nur durch wörtliche Anklänge, sondern auch durch die Struktur der Gedanken und Empfindungen, die in Stifter zeitlebens Spuren hinterlassen haben“88 zutage träten. Es ist die Möglichkeit des Verlusts, die die Liebe zu den Dingen generiert. Die Sonnenfinsternis, die Erfahrung kosmischer Größe, das Krisselbild des alles auflösenden Schneefalls, die Bedeutung des Raums. Die berühmte Stiftersche Liebe zum Kleinen gewinnt ihre Bedeutung und ihren Wert erst von hier her, vom Bewusstsein seiner Vernichtbarkeit. So kann Liebe in diesen frühen Briefen nur gedacht werden von ihrer Unmöglichkeit oder von ihrem Vergangensein aus.89 In der Beschwörung dieser Vergeblichkeit bekommt sein Schreiben gegenüber Fanny Greipl darüber hinaus aber auch einen Duktus des Erpresserischen: Sieh ich bin recht gut versorgt was die Bedürfniße des Lebens anbelangt, und doch werde ich, der sonst so lebenslustige, ich möchte sagen, ausgelassen lustige, von Tag zu Tag ernster, wie du es schon bemerkt hast, daß ich in den vergangenen Ferien nicht mehr so lustig war, als früher, und meine Stirne verfinstert sich. Einen großen Theil davon mag das Bewußtsein haben, daß ich einen gewißen Wunsch, der mein höchster ist, nie und nimmermehr erreichen werde. Nun er fahre hin, aber lieb wird er mir bleiben, so lange ich lebe. Laß dich nicht traurig machen durch Obiges!90

Diesen Brief beendet Stifter mit einigen Fragen voll schlecht versteckter Bosheit: Unterhälst du dich gut im Fasching? Warst du schon auf Bällen? Was macht die Nani? Hat wohl – – das geht mir immer im Kopfe – hat wohl der heurige Carnevall wieder ein Unglück unter deinem Busentuche angerichtet??? Schreibe mir bald, bald, bald, gleich nach Empfang dieses, 87 Friedrich Wilhelm Korff: Diastole und Systole. Zum Thema Jean Paul und Adalbert Stifter. Bern (Francke) 1969. 88 Doppler: Adalbert Stifter als Briefschreiber (a. a. O.), S. 136. 89 Dies ist eine weitere Parallele zu Stendhal und den sensualistischen Autoren, auf deren Werk er aufbaut: die Vergänglichkeit der Liebe erzeugt sie erst, ihre Zeitlichkeit. Und ihr Vergangensein, scheint es, begründet sie allererst für Stifter. Erst die Negation seiner Liebe durch Fanny macht ihre Rekonstruktion für Stifter notwendig. Erst durch den Bruch zwischen den jugendlichen Mathilde und Gustav kann dieser sein ganzes Leben im Nachsommer der Rekonstruktion dieser Liebe und ihrer Zeichen widmen – auch in diesem Sinne ist Stifter Restaurator. 90 Brief an Fanny Greipl vom 3. 2. 1829, in: BW 1, S. 5.

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und alles, alles, was du von dir und der Nanni weißt, und N. B. sagen willst.91

Im nächsten Brief reagiert Stifter umgekehrt auf einen offenbar von Fanny erhobenen Vorwurf der Untreue, wenn er sich wegen einer früheren Liebe rechtfertigt. Stifter sieht sich gegenüber Fanny Greipl unausgesetzt unter Rechtfertigungszwang: Er rechtfertigt sich ebenso dafür, dass er sie liebt (bzw. erklärt, es handele sich um Freundschaft), wie er beteuert, dass die Behauptung, er liebe eine andere, jeder Grundlage entbehre. Er entsagt ihr, wie er gleichermaßen und im gleichen Brief wegen vermeintlicher anderer Liebschaften an ihr herumstichelt.

4.5 Die Entdeckung der Zeichen Möglicherweise ist sein nächster Brief der Schlüssel zu seinem merkwürdigen Verhalten. Der Brief vom 15. Mai 1829 ist der umfangreichste aller (erhaltenen) an Fanny geschriebenen Briefe. In diesem Brief, wo er ganze Passagen aus ihrem letzten Schreiben zitiert, sie nicht recht zu deuten weiß, zu enträtseln versucht, vermeintliche Vorwürfe entrüstet von sich weist, verzweifelt und ausführlich die Aufrichtigkeit seiner Liebe beteuert, in diesem Brief zeigt sich, gerade im Blick auf die zitierten Stellen aus Fannys Schreiben, tatsächlich eine gewisse Blindheit für das, was sie ihm sagen zu wollen scheint – zumindest, was dies für den heutigen Leser sein könnte. Diese Blindheit, dieses Nichtverstehen ist aber kaum Ausdruck egomanischer Ichbezogenheit, monologisierender Verstocktheit. Im Gegenteil: es ist geradezu entsetzlich, wie kompliziert und verdreht er sowohl ihre Aussagen zu verstehen versucht als auch seine früheren Aussagen erklären zu müssen meint. Nein, dieser Brief zeugt von einer vollkommenen Unkenntnis konventioneller Phrasen und Redensarten, von einer Unfähigkeit, nicht im einzelnen Wort nach dem Entscheidenden zu suchen, von einem wahnhaften Abwägen jedes einzelnen Wortes, als gälte es, einen Schlüssel zu finden für ein Geheimnis, das in aller Trostlosigkeit offen zutage liegt: sie will ihn einfach nicht mehr sehen. Er will ihren „Brief Zeile für Zeile durchgehen, beantworten, und wo es nöthig ist, widerlegen.“92 Und er tut das dann auch. 91 Ebd., S. 6. 92 Brief an Fanny Greipl vom 15. 5. 1829, in: BW 1, S. 7.

4.5 Die Entdeckung der Zeichen

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Ferner lautet es in deinem Briefe wörtlich: Die Frage, die du in deinem letzten Briefe an mich machtest, die laß mir unbeantwortet, warum, Stifter, soll ich dir noch eine Erklärung über das machen, was du vielleicht schon lange als Thorheit erkennest – laß uns lieber von den Ferien nichts mehr schreiben, denn mir ist seit deinem letzten Brief, als wäre dir die Erinnerung an den Herbst die Störerinn mancher deiner Freuden etz. Was du mit dieser Stelle sagen willst, verstehe ich durchaus nicht. Ist es Spott und Ironie, oder beleidigte dich in meinem letzten Schreiben, daß ich meine Liebe zu dir eine Thorheit nenne. Fany, wenn es dich beleidigte, dann hast du mich gewißlich mißverstanden. Nicht die Liebe zu dir nenne ich Thorheit, sondern das nenne ich Thorheit, daß ich immer und immer Hoffnungen habe, immer eine schöne Zukunft träume, wo doch die Verhältniße so stehen, daß sie vermutlich diese so süssen Hoffnungen nie – in Ewigkeit nie in Erfüllung werden tretten lassen. Darum nenne ich sie Thorheit, weil sie dir und mir so manches Weh bereiten kann, darum meinte ich, es wäre besser, wenn sie nicht da wäre, um [nachträglicher Einschub: nur] dir nicht Unglück zu bereiten, da diese Leidenschaft nie zu Glücke führen kann, darum kämpfte ich schon im Herbste gegen das Aufkeimen derselben in meiner Brust an, um deinen Frieden nicht zu stören, darum war ich traurig, weil ich sie doch nicht bezwingen konnte, und kein fröhliches Ende absah, und doch diese Liebe nicht lassen konnte, darum findest du in mir den Widerspruch, daß ich dich jetzt mit aller Macht des Herzens mein zu nennen wünsche, und jetzt wieder mich zwinge, es für besser zu halten, wenn es wäre, wie früher – und darum nannte ich diese Liebe eine Thorheit! und sage – hab ich Unrecht? Aber was ich unter Thorheit verstehe, hat einen tieferen, und quälenderen Sinn als was du meinest. Die Vernunft sagt mir: Bringe das Mädchen durch deine Liebe nicht um ihre Ruhe, und doch kann ich die Neigung meines Gemüthes nicht vertilgen, wie es die kalte Vernunft fordert. So herrschen 2 Stimmen in mir, die sich widersprechen, und so geschieht es, daß ich dir in demselben Augenblicke [nachträglicher Einschub: sage] daß ich dich liebe – und auch daß es besser wäre wir wären bloß Freunde. Könnte ich nur mein geheimstes Fühlen vor dir entfalten wie ein Buch, damit du mich verständest, aber nimmer und nimmer u kann ich in Worte kleiden, was so lebendig vor der Seele steht, und du mißverstehst mich vielleicht wieder.93

Hier, auf einem abermals sehr eng und klein beschriebenen Blatt, einem Doppelblatt (ich füge dem Zitat, das wie alle Stifter-Zitate auf die Prager Ausgabe rekurriert, drei in der Handschrift enthaltene Selbstkorrekturen Stifters ein, die an sich wenig bedeutend sein mögen, aber das Ringen um den richtigen Ausdruck, mit der Sprache, das diesen Brief bestimmt, zusätzlich abbilden), wird eine neue Qualität des Schreibens erreicht, die für das, was den berühmten 93 Ebd., S. 8f., leicht korrigiert nach Inv.-Nr. 4 im Prager Stifter-Archiv (STA).

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4 Adalbert Stifter oder die Vollendung der Briefliebe

Stifterton ausmacht, essenziell ist, ein im Umgang mit Zeichen in hohem Maße interpretatives Verfahren. Aus dem hier noch ganz angstbestimmten Zeichendeuten wird mit den Jahren ein komplexes Verfahren hervorgehen, das sich im späten Briefwechsel mit Amalia Stifter vollendet. Hier lässt ihn die Angst, nicht oder falsch verstanden zu werden, Umstände und Bedeutungen, die vollkommen plausibel sind und offen daliegen mit einer Beflissenheit erklären, in der sich der Versuch spiegelt, Ding und Zeichen zur Deckung zu bringen – ein qualvoller Akt der Interpretation. Was aus der Position des Verliebten heraus vollkommen nachvollziehbar ist, dass er zugleich liebt und doch die Entfernung wünscht, weil er fürchtet, nicht wiedergeliebt zu werden, wird in dem Moment zu einem irrationalen Widerspruch, wo die Voraussetzung intuitiven Einverständnisses nicht gegeben ist, wo, wie im Falle des Missverständnisses zwischen Mathilde und Gustav im Nachsommer,94 das Bewusstsein dafür fehlt, dass alle Äußerungen in ihrer Widersprüchlichkeit auf dieselbe Empfindung der Liebe zurückgehen. An einem Punkt, wo allein intuitives Einverständnis, das Wissen um die eigene Liebe und die Liebe des andern, wo also Vertrauen und „Nähertreten“ Voraussetzung wäre, dass die Zeichen in ihrer Bedeutung verstehbar sind, versucht Adalbert, ohne über diese (intuitive) Grundlage zu verfügen, und ohne, dass auf Fannys Seite offenbar eine Bereitschaft besteht, ihm diese zu geben – oder vielleicht auch dieselbe Unsicherheit, dieselbe qualvolle Verständnislosigkeit gegenüber seinem Verhalten herrscht, das sie nicht zu deuten vermag –, durch die Zeichen allein Klarheit herzustellen. Und die Zeichen entfalten ihre bleischwer lastende Macht. Dass durch die Zeichen auch Befreiung und Öffnung ermöglicht wird, wird sich erst im Jahr von Stifters Tod, im späten Briefwechsel mit Amalia zeigen, wo den Zeichen endlich eine intuitive Gewissheit, geliebt zu werden, vorausgesetzt werden kann – die aber zugleich durch die Zeichen allererst zustande kommt.

94 Vgl. Einleitung S. 66f.

4.6 Pragmatismus und Zeichenwut

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4.6 Pragmatismus und Zeichenwut – der Briefwechsel mit Amalia Stifter, geb. Mohaupt Rainer Baasner verhehlt nicht, dass er Stifters rhetorische Strategie missbilligt. Erklärtermaßen in den Briefen auf der Suche nach authentischer Selbstbeschreibung, nach „der Wahrheit in ihrer intimsten, aufrichtigsten Form“95 muss ihm Stifters epistolarische Identitätskonstruktion suspekt erscheinen, gerade auch, weil er offensichtlich, wie Wolfgang Matz, von einer Idee der Sublimierung ausgeht, derzufolge eine solche Konstruktion nur als ein Vorgang der Verdrängung eingeschätzt werden kann. Die Ineinssetzung von Entsagung und Verdrängung mag aus psychoanalytischer Perspektive folgerichtig und plausibel erscheinen. Als Schreibstrategie ernst genommen erscheint Entsagung aber geradezu als Voraussetzung von Stifters schriftstellerischem Verfahren. Bearbeiten, Verarbeiten, Korrigieren und Konstruieren sind Vorgänge, die für Stifter eminente Bestandteile des kreativen Prozesses sind. Stifter kann das ihm so liebe „Phantom, dieses Kartenhaus“ seiner Liebe zu Fanny Greipl nur retten, indem er es fiktionalisiert, so furchtbar das klingt: im Kunstwerk konserviert. Einen richtigen Liebesbriefwechsel gibt es nicht von Adalbert Stifter. Fannys Gegenbriefe an ihn sind nicht erhalten. Bei jemandem wie Stifter, der „alles, auch die Briefe des Bruders Mathias, sorgfältig verwahrte“, sei dies eine „seltsame, erklärungsbedürftige Tatsache“, bemerkt Matz, ohne eine Erklärung zu finden. „Ob er sich später von schmerzlichen Erinnerungen trennen wollte, ob der Ehemann Stifter seiner Gattin Genugtuung verschaffen mußte? Von Fanny blieb ihm nichts als eine Erinnerung.“96 Ohne Franziska Greipls Gegenbriefe haben Stifters sieben Briefe an Fanny tatsächlich einen eigenartig fiktionalen Charakter, scheinen auf und erlöschen wieder, wie Schöpfungen einer sich an sich selbst entzündenden Phantasie, erscheinen, eingebaut in Stifters Biographie, eingefügt in den Erzählkontext der Feldblumen, wie ein in der Phantasie gelegtes Fundament für das, was danach kommt. Anders als Bismarck oder später Haeckel, die das Gedenken an die verstorbene erste Geliebte in den Briefwechseln mit ihren Partne95 Baasner: Adalbert Stifters Selbstdarstellung als Dichter in seinen Briefen (a. a. O.), S. 177. 96 Matz: Stifter, S. 77.

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4 Adalbert Stifter oder die Vollendung der Briefliebe

rinnen in das neue Liebesgespräch einzubeziehen trachten, wird Stifters Ehefrau Amalia aus dem im Werk immer wieder aufgegriffenen Diskurs um Fanny Greipl auffällig herausgehalten – und hält sich auch selbst aus diesem heraus. Dies scheint der einzige Punkt zu sein, an dem Stifter eine eindeutige und klare Trennung von Fiktion und Leben aufrecht erhält. Stifters Ehe mit Amalia Mohaupt ist für Wolfgang Matz nicht mehr als eine konsequente Ausarbeitung einer Lebenslüge zum hermetischen Illusionsgebäude, das Stifter die Wirklichkeit nicht mehr wahrnehmen lasse. Der Gegensatz zwischen Wunsch und Wirklichkeit konnte nicht krasser sein, doch Stifter wollte ihn nicht sehen. Auf die kühlen, sachlichen Briefe seiner Frau antwortete er mit überschwenglicher Dankbarkeit, als habe er die schwärmerischsten, gefühlvollsten Geständnisse einer leidenschaftlichen Geliebten empfangen. Er antwortete auf etwas, was es überhaupt nicht gab. Es ist kaum vorstellbar, daß Stifter nicht sah, was unübersehbar war. Eher scheint es seine erste Sorge gewesen zu sein, keine schriftlichen Dokumente für seine zerrissenen Gefühle zu schaffen; nach außen hin wollte er ein Bild entwerfen, das zwar nicht der Wirklichkeit, dafür aber dem Wunsch und der Literatur entsprach. Deshalb eignet Stifters Briefen an Amalia etwas seltsam Fiktives. Von seiner Seite aus bekam das Verhältnis mit jedem Jahr stärker den Charakter einer Simulation: Er versuchte, sich etwas zu erschreiben, was die Wirklichkeit versagte. Noch wußte er von seinem Betrug, doch es sollte der Tag kommen, wo er selber es vorzog, der Erfindung zu glauben.97

Wenn es sich bei der Beziehung zu Amalia um eine Simulationsliebe handeln sollte, dann muss zumindest gesagt werden, dass spätestens seit den 60er Jahren Amalia mitwirkt an deren Erstellung – und dann hätte Matz‘ Vorwurf ungefähr dieselbe Qualität wie der eines Max Nordau gegenüber der „Literaturliebe“ oder der eines Ortega y Gasset gegenüber Stendhals Konzept der Liebe, es beruhe auf einer Illusion. Für Amalia Stifter, die wahrlich keine große Schreiberin ist, erreicht die Zahl der Briefe, die sie ihrem Mann auf seine Inspektionsreisen und Kuraufenthalte nachsendet, in dieser Zeit ein überdurchschnittliches Maß. Selbstverständlich können ihre innigen Beteuerungen „das ich Dich stetz Liebe, und Lieben werde, bis in den Todt“98 allesamt für Verstellung und Heuchelei einer ausgebufften Karrieristin betrachtet werden, die ihre durch die Heirat errungene gesellschaftliche Stellung durch vorgetäuschte Gefühle zu ze97 Ebd., S. 172f. 98 Brief vom 21. 9. 1862, in : BW 8, S. 28.

4.6 Pragmatismus und Zeichenwut

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mentieren versucht. Das würde zum Bild Amalia Mohaupts als emporgekommener, bauernschlauer aber zu allem Geistigen unbegabter Grisette passen, das bereits von Jugendfreunden Stifters wie Muggerauer in die Welt gesetzt worden war – „nam taedet mihi mentionis“, (die Erinnerung daran widert mich an)99, schreibt dieser über Amalia Mohaupt. An dieser Stelle pflichte ich nur zu gern Arnold Stadler bei, der der Stifterforschung vorwirft, sie habe Amalia Mohaupt diskreditiert, aus ihr eine „kalte“, ungebildete und unpassende Gefährtin gemacht, über sie die Nase gerümpft aus Dünkel und falscher Vorstellung von dem, was ein Dichter sei und einer falschen Reinheitsvorstellung, der vor allem Stifterfreunde anzuhängen scheinen.100 Aber diese schlechte Amalia wird ja vor allem auch benötigt, um die tragische Kluft zwischen Stifters hohen dichterischen Idealen und der Trostlosigkeit und spießigen Banalität seiner eigenen Existenz aufrecht zu erhalten, die auch Stadler bestätigt. Offenbar ist es unvorstellbar und unerhört, dass jemand, der mit so denkbar schlechten Voraussetzungen und Einstellungen ins Leben tritt wie Stifter, es dennoch vollbringen können sollte, sich eine Art Glück aufzubauen, eine erfüllte Liebe, harmonisches Auskommen mit seiner Umwelt. Das Problem liegt für eine kritische Auseinandersetzung mit den Briefen Adalbert und Amalia Stifters m. E. nicht in der Frage, ob hier „wirkliche“ oder nur „simulierte“ Gefühle bestehen, sondern in der unkritisch vorausgesetzten Trennung zwischen einer unabhängig vom Autor Stifter bestehenden realen Situation, die wissenschaftlich dingfest zu machen sei und den mehr oder weniger gegen diese gerichteten dekorationsästhetischen Maßnahmen oder Inszenierungen – im negativen Sinne des Begriffs, wie ihn die uralte Skepsis der Literatur gegenüber dem Theater verwendet. Diese Trennung bildet die Grundlage des „tragischen“ Stifterbildes bis hinauf zu Arnold Stadler (bei aller Sympathie für dessen sensibel empathische Darstellung). Natürlich ist Stifter selbst an diesem Bild nicht ganz unschuldig. Der hohe Grad der Verwebung der eigenen Biographie mit dem Werk, die geradezu nihilistischen Sinn-Negationen wie die Sonnenfinsternis und der Abdias, die ein merkwürdiges Licht auf Sinnstiftungsmaßnahmen wie den Nachsommer werfen und schon von der Freundin Louise von Eichendorff kritisch kon99 Zit. nach Gugitz: Das Geheimnis um Amalie (a. a. O.), S. 96. 100 Vgl. Arnold Stadler: Mein Stifter (a. a. O.), S. 52f.

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statiert wurden, die nicht glauben wollte, dass Stifter nicht unglücklich sei101, haben viel zu diesem Bild beigetragen. Es kann aber hier nicht um ein Entweder-Oder gehen. Und gerade an Stifter lässt sich möglicherweise ein komplexes, widersprüchliches und schwieriges Bild einer bürgerlichen Liebesvorstellung aufzeigen, die mit dem sonst für das 19. Jahrhundert veranschlagten Dualismus von Neigung und Pflicht bricht.

4.7 Schreibarbeit am Glück Es gibt nämlich in den späten Briefen der beiden Eheleute durchaus ein Nachsommerglück. Ein Glück, das beide gern mit anderen teilen wollten. Nachdem in den fünfziger Jahren immer wieder einmal von dem Plan die Rede war, gemeinsam mit der alleinstehenden Louise von Eichendorff eine Wohngemeinschaft in deren „Katzenburg“ in Baden bei Wien zu führen, schlägt Stifter dieser zu Weihnachten 1860 vor, von nun ab regelmäßig die Winter bei seiner Frau und ihm in Linz zu verbringen, wobei er sich das gemeinsame Leben bereits in allen Einzelheiten ausmalt.102 Natürlich wird dieses (vor allem 101 „ . .. dieß war aber nicht Ihr Ernst, so wenig wie die Behauptung daß Sie glücklich sind, theurer Freund! Sie sagten dieß nur um mich zu ermuthigen und zu trösten, denn kein denkender Mensch kann es sein.“ Louise von Eichendorff am 6. 5. 1855, in: BW 7, S. 154. 102 BW 3, S. 261f.: „Willst du etwas Ungemach [in Anspielung auf ihre Schwarzseherei], so kannst du ebenfalls einiges haben. Ich führe dich im Schlitten, und werfe dich in den Schnee um, du kannst mit meiner Frau in das Theater gehen, das sehr langweilig ist. Die Kazen und die Hunde werden sich vertragen, verträgt sich ja die Puzi schon mit dem Staarmaz. Und sollte es nicht sein, so müssen sie in verschiedenen Zimmern wohnen. Du würdest bei uns gewiß besser aufgehoben sein, als bei dir mit deinen Abenteuern.“Umgekehrt hatte Louise von Eichendorff in Vorbereitung des gemeinsamen Lebens in Baden in den 50er Jahren bereits Baugrundstücke in ihrem Garten abgesteckt, Stifter das Eigentumsrecht an ihrem Haus übertragen wollen und in Briefen immer wieder zum Umzug zu ihr nach Baden bei Wien gedrängt. Ihre Briefe an Stifter sind wahre Schmuckstücke seiner Korrespondenz und man muss bedauern, dass sie ihren Plan offenbar wahr gemacht hat, ihre Autobiographie nur zu ihrem eigenen Vergnügen zu schreiben und hinterher zu vernichten. Wenn sie, eine glühende Tierschutzaktivistin, von ihren Protestaktionen gegen hundequälerische Nachbarn berichtet, ihre Enttäuschung schildert, dass die mittellosen Proletarier, die sie über den Winter in ihr Haus aufnimmt, sich dort betrinken, randalieren und ihre Frauen würgen, wenn sie sich im Zuge der 48er Unruhen ein Gewehr kauft, um ihr Haus zu beschützen und Schießübungen im Garten veranstaltet, vor allem aber, wenn sie Stifter immer wieder zu der Erklärung drängen will, dass auch er ein Misanthrop sei und nicht

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wegen Eichendorffs Zögern) nie wirklich zu Ende verfolgt, aber ausgeführt hat Stifter fast keines seiner derartigen Projekte. Auch den Freund und Verleger Heckenast und seine Frau hätte man gern noch mit in diesen Bund aufgenommen. Womöglich alles Tagträumereien, aber doch Ausdruck eines Wunsches, mit dem sich offenbar die Vorstellung eines glücklichen Lebens verbindet in einer Zeit, in der Stifter nur Resignation nachgesagt wird. Vor allem aber ein Hinweis darauf, dass Stifter seinen Jugendplan, statt einem Menschen die Menschheit zu lieben, nicht ganz aufgegeben zu haben scheint. Das in den Briefen immer wieder beschworene Nachsommerglück, das in den späten 60er Jahren mit der Neuentdeckung seiner Liebe zu Amalia, die eine neue Qualität erreicht, und mit der Hoffnung auf baldige Genesung verknüpft ist, stellt eine Utopie dar, die eine ganz „biedermeierliche“ Ausprägung hat: eine Gemeinschaft von Liebenden und Freunden, die in idyllischer Natur gemeinsam ein Haus bewohnen. Dass es mit Amalia Stifter zu keinem wirklichen Briefwechsel kommt, muss man nicht unbedingt wechselseitiger Gleichgültigkeit zur Last legen. Amalia tat sich mit dem Schreiben insgesamt schwer. Auch die gemeinsame Freundin Louise von Eichendorff, die den durch Stifter ausgerichteten Grüßen zufolge Amalia genauso am Herzen gelegen haben muss wie Adalbert, erhält keine Briefe von ihr. Die wenigen Briefe an ihren Mann zeigen, dass ihr der schriftliche Ausdruck enorme Schwierigkeiten bereitet, nicht nur, was Rechtschreibung und Grammatik betrifft103 (worin sie hinter allen Frauen, mit denen Stifter sonst korrespondiert, zurücksteht), sondern überhaupt das Versprachlichen von Erlebnissen und Gedanken fällt ihr schwer. Darüber macht er ihr und sich keine Illusionen, wenn er ihr am 20. Juni 1862 schreibt: an die Realität irdischen Glücks glaube, kann man verstehen, dass Stifter sie zwar gern hatte und lebenslänglich den Kontakt zu ihr gehalten hat, ihr das freundschaftliche Du anbot – und doch immer eine gewisse Distanz hielt, viel seltener an sie schrieb als sie an ihn und seine Frau. Dennoch: auch in den 60er Jahren gibt es noch Briefe von ihm, die einen möglichen Umzug nach Baden in Aussicht stellen. Im Ausspinnen von Glücksträumen ist Stifter unerschöpflich. An die Realisierung wird dabei gar nicht gedacht. Anders gesagt: die Beschwörung im Brief steht geradezu für die Realisierung ein. Vgl. auch: Wilhelm Kosch: Louise Freiin von Eichendorff in ihren Briefen an Adalbert Stifter. Nymwegen (Wächter Verlag) 21948. 103 Jeanne Benay über Amalia Stifters Briefstil: „Il est vrai que les lettres d‘Amalia a` Stifter sont e´crites de fac¸on plus ou moins phone´ tique, et il n‘est donc pas surprenant qu‘elles soient tre`s terre a` terre“. (Jeanne Benay: Stifter Epistolier. (a. a. O.), S. 7–31.)

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Du nennst deinen Brief ein Geschreibsel, es kann sein, daß er ein Geschreibsel ist; aber wie glücklich macht mich dieses Geschreibsel! Wenn ich von dir entfernt bin, und dein liebes treues Angesicht nicht sehen kann, so ist mir ein Brief von dir wie eine Sonne, die Licht und Wärme in mein Herz bringt. Ob du die Gabe der Darstellung hast oder nicht, ist einerlei, ich lese aus deinem Geschreibe dein gutes einfaches rechtschaffenes unverfälschtes Herz heraus, und sehe die Liebe, die in diesem Herzen für mich wohnt, und das beglükt mich mehr als du glauben kannst. Ich drükte deinen Brief an meine Lippen und an mein Herz, was ich in jungen Jahren mit dem Schreiben eines jungen Mädchens nie gethan habe. Du bist meine beste treueste Freundin, Gott erhalte dich mir nur sehr lange.104

Das „Geschreibsel“ ist die „schlechte Prosa“105 des Liebesbriefs und das „Nähertreten“106 des Nachsommer, das hinter die Zeichen blickt. Wieder, aber mit einer ganz anderen Haltung als 1829, betätigt sich Adalbert Stifter als Interpret des Briefes einer geliebten Frau, liest etwas aus ihren Worten „heraus“. Insbesondere in den letzten Jahren, etwa ab 1862, steigt die Zahl der Briefe, die er an Amalia verfasst, stetig. Von seinen Reisen als Schulinspektor schreibt er ihr beinahe täglich sehr warme Briefe, wie den hier zitierten. Amalia scheint sich so gut wie gar nicht für Stifters schriftstellerische Arbeit zu interessieren. Ob man gleich mit Wolfgang Matz folgern muss, dass sie seine Werke überhaupt nicht gelesen habe, weiß ich nicht, immerhin bestellt Stifter einmal bei Heckenast ein Exemplar der Bunten Steine für seine Frau, die es gerne lesen würde. In einem andern Brief vom 16. 12. 1857 bittet er Gustav Hekkenast, ihm die Iris-Hefte mit dem Waldgänger und dem Prokopus zu schicken, damit er sie zur Bearbeitung zerschneiden und beschreiben kann, weil seine Frau ihre Exemplare „wie sie sagt, nur mit blutendem Herzen verunglimpfen“107 würde. Dennoch wird die Bindung Adalberts an Amalia mit den Jahren immer inniger. Gern zitiert und in der Tat ziemlich grotesk ist der Anfang dieser Korrespondenz, der in Briefen besteht, die Stifter Amalia schickt, als sie im Spätsommer 1841 ihren Bruder in Peterwardein108 besucht. 104 Stifter BW 4, S. 66f., leicht korrigiert am Manuskript im Prager Adalbert StifterArchiv (STA), Inv. Nr. 285 („drükte“ statt „drüke“). 105 Vgl. S. 18. 106 Vgl. Kap. 1.6: Ein „fremdwichtiges Ding“. 107 BW 3, S. 80. 108 Petrovaradin, heute ein Ortsteil von Novi Sad in Serbien. offensichtlich in An-

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Als er keine Antwort von ihr erhält und immer besorgtere Briefe schickt, schreibt sie schließlich am 13. August einen, in dem sie von einigen Missgeschicken auf der Reise erzählt und beteuert, dass ihr nur eines abgehe: „Du und der arme Muffi“; „Du krank der Muffi Todt, nur das nicht dan ist alles gut.“109 „Lebe indessen recht wohl, und vergnückt und treste dich wenn dir die Zeit zu lang wird, das ich nicht lange ausbleiben werde, soltest du irgent woh Geld bekommen haben, so schike mir das Reisegeld, damit ich nicht aufgehalten werde, wen es mich allenfals nicht so lange da freuen solte, als ich mir vorgenomen habe.“110 Als sie schließlich seine besorgten Briefe voller düsterer Befürchtungen erhält, antwortet sie in einer Weise, die laut Wolfgang Matz „kaum das gewesen sein“ könne, „was der Dichter ersehnt hatte“:111 Lieber Mann! Deine beiden Briefe habe ich erhalten und zwar erst am 31. August, sie haben mich erfreut aber auch Betribt, nach dem Du so ein konfuhses zeig Durcheinander schreibst daß man nicht weiß was man aus allem dem machen soll, nicht nur ich allein, sondern wir alle wissen nicht was Du forhast, kommst Du oder nicht ich begreife dich ebenfals nicht aus welcher ursache du dein Wort nicht gehalten hast, nach unserer verabredung, Nemlich wen ich dir schreibe das ich Reisegeld brauche du es gleich oder Bald schüken wirst, und jezt ziest du so lange herum, das ich hier indessen verzweifeln muß, deine Klage in jeden Brife ist die sensucht nach mir, und doch in keinen ersenten Brife ist ein Geld welche alle gegenseitige Wunden heilen mechte, auch wirst du wohl wissen wie lange die Brife hin und her gehen missen, das ich erst alle 14ten Tag eine Antwort bekommen kann, Daher Bitte ich dich lasse mich nicht lenger noch auf der Folter und erfülle mein Wunsch so bald als nur möglich sein kann, oder komme selbst.“112

Man mag sich über die Orthographie amüsieren und die Direktheit der Schreiberin für grob halten. Zeichen emotionaler Kälte ist dieser Brief nicht. Denn so unwirsch sich Amalia ihrem Gatten gegenüber äußert: es geht doch um die Möglichkeit eines baldigen Wiedersehens. Ihr unverkennbarer Pragmatismus richtet sich auf das, was ein solches ermöglichen würde: Geld für ihre Rückreise oder sein ei-

109 110 111 112

spielung auf die Schlacht von Peterwardein, wo 1716 ein österreichisches Heer ein osmanisches schlug, spielt Stifter in seinen Briefen auf die „türkische Luft“ (BW 1, S. 93) an, die Amalia jetzt atme oder dass er einen Teil seiner Seele „an der türkischen Gränze“ habe (BW 1, S. 95). Amalia Stifter in: BW 7, S. 14. Ebd., S. 15. Matz: Stifter, S. 172. Amalia Stifter an Adalbert, in: BW 7, S. 15f.

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genes Kommen. Stifters orthographieschwache Frau denkt an ihn und vermisst ihn. Sie bildet ein pragmatisches Gegengewicht zu seinen Momenten des Wirklichkeitsverlusts, seinen Wahnvorstellungen und Neurosen („die einmal aufgeregte Fantasie sinnet sich die abentheuerlichsten Sachen aus – bald bist du ertrunken, bald hast du das Fieber, und so weiter.....“ die fünf Pünktchen, die im Manuskript ab dem dritten zu einer Art Wellenlinie verschleifen, bilden diese aufgeregte Assoziationskette quasi mimetisch ab... 113). Letztlich stimmt sie in ihrem Materialismus mit Stifters Anschauung von der Bedeutung der Dinge überein, die die äußeren Abzeichen innerer Empfindungen sind. Es soll und kann mir nicht darum gehen, die Abneigung der Stifterbiographen gegen Amalia Stifter, geb. Mohaupt zu konterkarieren. Um jedoch den Dialog der beiden angemessen einschätzen zu können, der, obwohl ein Literat daran beteiligt ist, weit weniger von Literatur handelt, als der der beiden Bismarcks, muss die Frage nach Amalias Herkommen gestellt werden. Adalbert Stifter war Amalia Mohaupt Ende 1832 in Wien auf einem Ball begegnet. Sie war die vierundzwanzigjährige Tochter eines verwitweten Fähnrichs der kaiserlichen Armee, der von seiner Soldatenpension in einem Invalidenhaus in Ungarn lebte. Sie und ihre Schwester verdienten ihr Geld als Näherinnen und beide waren geradezu prädestiniert für die Rolle der „süßen Mädeln“, die im Künstler- und Studentenmilieu verkehrten und sich aushalten ließen (Gugitz äußert in diesem Zusammenhang recht schwärmerische Vorstellungen von Szenen aus dem „Milieu von Murgers ,Bohe`me‘ in das Wienerische übersetzt“114). Eine Widmung, die ihr der Maler Ferdinand von Lampi, der sie porträtiert hatte, noch drei Monate nach ihrer Eheschließung ins Stammbuch schrieb, deutet darauf hin, dass sie diese Möglichkeit genutzt hat: „Es war eine Zeit, da ich Ihrem schönen Herzen näher stand [...]. Ich bin wieder hier, und Sie nennen mich noch ihren Freund – Amalia, inniges, himmlisches Gefühl durchströmt meine Brust im Bewußtsein dieses heiligen Vorrechts, was mir vor anderen zu Teil ist.“115 Derartige Andeutungen gegenüber einer verheirateten Frau wären nach den Sittlichkeitsgesetzen der Zeit eine Unverschämtheit, handelte es sich nicht um eine 113 Brief an Amalia Stifter vom 21. 8. 1841, in: BW 1, S. 89, vgl. STA Inv. Nr. 261 114 Vgl. Gugitz: Das Geheimnis um Amalie (a. a. O.), S. 95. 115 zit. nach Matz: Stifter, S. 141.

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Frau, gegenüber der man sich zu keiner Rücksichtnahme verpflichtet fühlt. Da Stifter zur gleichen Zeit immer wieder von der Fürstin Schwarzenberg zu Vorleseabenden eingeladen wird und diese bei diesen Gelegenheiten Stifters Frau ihre Loge im Burgtheater überlässt,116 scheint Amalia Stifter keine Person gewesen zu sein, die bei der literarischen Soire´e einer Fürstin zugelassen werden konnte (wo sie sich sicherlich auch weit unwohler gefühlt hätte, als im Theater, das sie ihr Leben lang mit Leidenschaft besucht). Die bereits früher zitierten entschuldigenden Bemerkungen Stifters über Amalias mangelnde geistige Bildung – gegenüber ihm zu diesem Zeitpunkt noch völlig fremden Menschen geäußert – und das Zugeständnis in seinem oben zitierten Brief vom 20. Juni 1862, bei ihrem Schreiben an ihn handele es sich vielleicht um ein „Geschreibsel“, zeigen, dass ihm die intellektuellen Mängel seiner Frau bewusst und nicht gleichgültig, vielleicht sogar etwas peinlich waren. Das geistvolle, geistreiche Gespräch, wie es sich der Protagonist der Feldblumen von seiner Angebeteten Angela als wiederkehrenden Höhepunkt eines zukünftigen gemeinsamen Lebens erhofft, konnte es mit Amalia nicht geben. Anders als Bismarck (der Johanna von Puttkamer zum Französischlernen auffordert) unternimmt Stifter jedoch anscheinend gegenüber seiner Frau keine Erziehungsanstrengungen. Der große Bildungsunterschied zwischen beiden Partnern hatte durchaus negativen Einfluss auf beider sozialen Umgang, da offenbar nur wenige seiner Freunde Amalia etwas abgewinnen konnten (auch hier bildete Louise von Eichendorff wieder eine sympathische Ausnahme). Ame´lie von Handel, die Frau von Stifters Jugendfreund Sigmund von Handel schreibt über Amalia: Stifters Frau war sehr brav, auch durchaus nicht dumm, aber sie stand an Bildung tief unter ihm. Das erschwerte, z. B. uns, den Verkehr mit ihm, und sie, dies fühlend, war gereizt gegen die ,höheren Stände‘. Ihrem Manne brachte sie mit großer Hingebung entgegen, was sie am besten zu geben vermochte: materielle Behaglichkeit. Damit förderte sie einen Zug der Weichlichkeit, der in Stifters Natur lag. Indem sie Willenskraft und Energie in Bequemlichkeit löste, lähmte sie dem Genius die Flügel.117

Mag es für Stifters Umwelt so ausgesehen haben, als habe er die falsche Frau geheiratet, mag diese Ehe über viele Jahre vielleicht tatsächlich „mit jedem Jahr mehr zu seinen Depressionen“ beigetragen haben,118 Adalbert Stifter hielt zu Amalia nicht nur, weil das 116 Vgl. Briefe von Betty Paoli vom 31. 3. und vom 21. 4. 1845, in: BW 7, S. 23f. 117 Zit. nach Matz: Stifter, S. 142. 118 Ebd. S. 133.

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in irgendein Konzept von unmöglicher irdischer Liebe gepasst hätte, sondern seine Briefe zeugen davon, dass die Beschäftigung mit ihr sein Schreiben – in einem ganz physischen Sinne – antrieb und am Laufen hielt. An den späten Briefen an Amalia in den Jahren 1865 bis 67 lässt sich dies auf frappierende Weise ablesen. Stifters Krankheit ist fortgeschritten und hat ihn auch nervlich mitgenommen. Vom 18. Oktober 1865 bis Ende Januar befindet sich Stifter zur Nachkur in Kirchschlag bei Linz. Ein Aufenthalt, der nur durch einige kurze Besuche bei Amalia unterbrochen wird, die auf seinen Wunsch in Linz bleibt. Angeblich will er ihr die Einsamkeit des Bergdorfs nicht zumuten. Zugleich ist diese lange Trennung seiner Liebe außerordentlich förderlich. Sobald er sie einmal in Linz besucht (das erste Mal bereits Ende Oktober), scheint es zum Streit zu kommen („Es war mir wehe, daß ich dich in Linz gekränkt hatte. Wenn doch mit meinem Übel nicht diese Empfindlichkeit verbunden wäre“,119 schreibt er ihr in einem am 12. November abgeschickten Brief). Schon im zweiten Brief – und von da an immer wieder – erklärt er: wie groß dieses Glück [unserer Vereinigung] ist, fühle ich jezt erst recht, da ich von dir getrennt bin, und du wirst es gewiß auch fühlen. Wie öde mir alles Leben ohne dich wäre, empfinde ich jezt, wenn ich öfter so denke, wie es wäre, wenn ich so fort leben müßte, wie ich jezt lebe, ohne je mehr deine geliebten Augen zu sehen, deine geliebte Stimme zu hören.120

Man kann diesen Widerspruch mit einer satirischen Sprichwortweisheit abtun, dass die Liebe eben am besten da gedeiht, wo sie nicht von der Wirklichkeit auf die Probe gestellt wird. Aber Stifter ist zu gewissenhaft und geht zu planmäßig vor in der Ausarbeitung seiner späten ehelichen Brief-Liebe, als dass ironische Überheblichkeit hier angebracht wäre. Der Brief als Vertreter der realen Präsenz der Geliebten stellt für ihn tatsächlich weniger eine Möglichkeit der Distanzierung durch Idealisierung dar, als eine neue Form von Nähe her („entstellte Nähe“ könnte man zur Not benjaminisierend sagen und hätte damit eine nicht unpassende Bezeichnung für das gefunden, was hier praktiziert wird).

119 BW 5, S. 65. 120 Ebd., S. 49.

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Es ist Morgens der 16t November, und ich schreibe weiter. Der Bote hat keinen Brief gebracht. Ich weiß wohl nun, daß es dir mindestens nicht schlechter geht; aber weit lieber wäre es mir gewesen, wenn ein Zettel gekommen wäre, des Inhalts: der gnä-Frau geht es wieder besser. So hängt mit allen Fäden mein Herz an dir, daß jedes Ding, welches dich angenehm oder unangenehm berührt, an diesen Fäden zu mir fortläuft, und die gleiche Empfindung in mir erregt. Und wenn des Tages zehn Nachrichten kämen: jezt thut sie das, jezt jenes, sie ist besser, sie hat dieses und jenes gegessen u. s. w. so wäre mir das nicht zu viel. Ich wäre gleichsam immer bei dir. [.. . ] Ich liebe dich jezt weit weit mehr, als da du ein 22 jähriges blühendes unbeschreiblich schönes Mädchen warst, und du liebst mich alten Mann mit allen seinen Wunderlichkeiten und Grillen mehr, als den jungen kräftigen gleichsam Himmel und Erde stürmenden. Und diese Liebe wird nicht geringer werden, sondern wachsen, und im Hochalter, wenn uns eines beschieden ist, werden wir völlig eins in dem andern und gleich sein.121

In einer typisch Stifterschen Wortbildung wie „Hochalter“ wird in nuce dieser selige Zustand durch Symbolisierung antizipiert. Es klingen in diesem Wort sowohl der „Hochaltar“ wie der „Hochwald“ an, das so auf in Stifters symbolischem Kosmos gravierend wichtige „Dinge“ verweist (der Kefermarkter Altar, die Implikationen des Hochwald). So werden auch über Einzelworte Fäden gezogen, symbolische Verknüpfungen hergestellt, Bedeutungen gestiftet. In den Briefen der letzten Jahre zelebrieren Amalia und Adalbert Stifter das Konzept einer Spätliebe, das sich erst unter der Voraussetzung der Brieflichkeit der Beziehung wirklich realisiert und auf einem Konzept von Zeichenbewusstheit beruht, bei dem es „weniger um die Zeichen des Textes, die Unbedeutendstes nicht verschweigen“ geht, als „um das, wofür der Text ein Zeichen ist“.122 „Die Briefe sind Anrede, Teil von Kommunikation und schriftlicher Ausdruck von Verbundenheit, sie sind verwetterte Sehnsucht123, Zeichen des Denkens an den anderen, schließlich auch solche des Angedenkens“, wie Arno Dusini aufgezeigt hat.124 An dieser Intensivierung und Erhöhung ihrer Liebe nimmt auch die schreibfaule Amalia teil, denn zum Zeichen und Medium der Kommunikation werden auch die Gebäckstücke, die sie schickt, kurze Grußbotschaften und sogar – wie im vorliegenden Fall – Briefe, die Dritte 121 122 123 124

BW 6, S. 35f. Arno Dusini: Wald. Weiße Finsternis. (a. a. O.), S. 454. 20. November 1866, BW 6, S. 50. Dusini: Wald. Weiße Finsternis, (a. a. O.), S. 454.

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während ihrer Krankheit an ihrer Statt schreiben. Über die Zeichen vollzieht sich das oben zitierte Philemon-und-Baucis-hafte Ineinanderwachsen der beiden Partner. Und Nachsommerliebe als Briefliebe realisiert sich hier dergestalt, dass „der Schrift Präsenz und Unmittelbarkeit des Ausdrucks in ebendemselben Ausmaß zugestanden werden können, in dem diese bisher als Privileg der Mündlichkeit erschienen waren.“125 Dem scheint zu widersprechen, dass es auch in diesen späten, 1866 geschriebenen, Briefen aus den Lakerhäusern, wo Adalbert sich erneut zur Kur aufhält, während Amalia krank zu Hause in Linz liegt, und ein immer länger andauerndes Dauerschneien ihn von der Außenwelt abzuschneiden droht, wiederholte Klagen darüber gibt, dass er nur mithilfe des Mediums und in der Vorstellung, nicht physisch bei ihr sein kann. So schreibt er einige Tage später, am 22. November, als der Schneesturm weiter andauert und ein baldiges Wiedersehen allmählich immer unwahrscheinlicher wird: Ich schreibe dir diese Dinge so ausführlich, weil es das Einzige ist, das mich stärkt und labt, wenn ich wenigstens schriftlich zu dir reden kann. Ach säße ich auf dem Sopha in unserem Schlafzimmer bei dir, was gäbe ich. Könnte ich deine guten Augen sehen, dein freundliches Angesicht und deinen lieben Mund, und könnte ich die Worte hören, welche dieser Mund spricht.126

Das erinnert auf den ersten Blick an Bismarcks Absage an die Schriftlichkeit, die so viele Missverständnisse bringe und das gesprochene Wort nicht ersetzen könne. Aber wo bei Bismarck körperliche Nähe, Im-Arm-Haben und Ins-Auge-Sehen, das Wort in seiner Bedeutung entkräften sollten, der Tonfall als performative Ergänzung und Verkörperlichung des Wortes Traulichkeit und Unmittelbarkeit herzustellen hatte, wo das Wort und vor allem das geschriebene Wort zu immer neuen Missverständnissen führte, Intimität also aus dem Bereich der Schrift verwiesen und ganz auf den des Körpers übertragen wurde, fällt an Stifters Briefbemerkung sofort auf, dass die gewünschte Nähe bei aller geäußerten Zuneigung nicht als eine qualitativ grundsätzlich vom medial vermittelten Austausch unterschiedene, innigere oder intimere Kommunikationsform visioniert wird. Seltsam starr, in der befremdlich unheimlichen Ritualhaftigkeit des Stifterschen Spätstils, die man aus dem Nachsommer und dem Witiko kennt, sitzt Stifter in seinem Wunschtraum 125 Ebd., S. 442. 126 BW 6, S. 56f.

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passiv als Wahrnehmender vor einem „Angesicht“, in dem ein „Mund“ ist und die „Worte“, die dieser Mund spricht, werden gehört. Auch in dieser Wunschvorstellung ist Amalia ein Medium. Stifter beobachtet sie, um als Empfänger ihre Worte aufzunehmen. Nähe bedeutet die Hinzufügung eines neuen Zeichensystems, aber keine qualitativ andere Form von Kommunikation. Auch hier geht es um Worte, die gesprochen werden und um Worte, die gehört werden, liegt der Akzent auf dem Übertragungsaspekt, auf der Transmission. „Wenn ich auch hieher die paar Tage keinen Brief mehr von dir bekomme, so werde ich ihn hoffentlich sehr bald in deinen lieben treuen guten Augen lesen“, schreibt er am 12. November 1866.127 Diese epistolar-symbolische Form des Umgangs verrät nichts über die vermeintliche Kälte dieses Paares, sondern nur über die hochgradige Zeichenbewusstheit Stifters. Sinnlichkeit spielt im Verhältnis der beiden durchaus eine Rolle. So schreibt er am 13. 11. „ich will nicht mit der stürmischen Liebe des Ankommenden in dich fahren wie sonst, sondern dich nur recht still und sanft küssen wie im Traume [von einem solchen geträumten Kuss war im selben Brief zuvor die Rede].“128 Doch ist der Brief als Vermittlungsmedium für Stifter, anders als für Bismarck (zumindest dessen Beteuerungen zufolge), nicht nur ein Notbehelf. Arno Dusini hat überzeugend dargelegt, dass Stifter die „für die Kultur des Abendlandes so eminent folgenreiche Denkfigur von Mündlichkeit und Schriftlichkeit“129 weder einfach im rousseauistischen Sinne fortführt, in dem der Vergleich immer zuungunsten der nicht „authentischen“ Schrift ausfiele, noch einfach nur zugunsten der Schrift umkehrt, sondern ausgleicht in der Gleichsetzung aller Zeichen. Schriftliche Ausführlichkeit ist das Äquivalent zu körperlicher Nähe und als solches absolut gleichrangig. Der Brief vom 16. November, aus dem bereits zwei Seiten zuvor zitiert wurde, beginnt so: Es ist der Abend des 15t Novembers gekommen, und ich beginne wieder einige Zeilen an dich zu schreiben, welche ich morgen nach Schwarzenberg schiken werde, nachdem ich sie werde vollendet haben, daß du sie am Sonntage vormittags erhälst. Wie der Tag bis Mittag war, hast du in dem vorigen Briefe gelesen. Ich aß mit Nani ein Stückchen Kalbsbraten, 127 BW 6, S. 23. 128 Ebd., S. 25. 129 Dusini, Wald, S. 442.

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und ging dann auf die Kegelbahn spazieren. Dann that ich einen kurzen Schlummer, las dann die Linzerzeitung und ein wenig Göthe. Die Dämmerung verplauderte ich mit Nani. Sie erzählte mir von dem Blechingerischen Hause, ich ihr von dir. Den Seppel schikte ich wieder nach Schwarzenberg, auf die Post zu warten. er watete in dem Schnee bereitwillig fort. Dann sezte ich mich zum Schreiben an dich nieder.130

Von einem „dann“ zum nächsten wird eine lückenlose Folge von äußeren Vorgängen abgespielt, die (mit zwei wichtigen Ausnahmen) keinen Bezug zur Empfängerin des Briefes haben. Man könnte nun auch hier wieder von einem monologischen Sich-Ausmehren sprechen, doch trifft das den Charakter dieser Aufzählung nicht. Jeder Schritt, jedes Ereignis wird gewissermaßen geadelt, indem es der Geliebten berichtet wird. Durch diesen Bezug erhält das Banale den Charakter eines Rituals. Auch im März hatte er aus Kirchschlag täglich an Amalia geschrieben und dabei nach Auslassungen über Quittungen, Geld und Portosparmöglichkeiten unvermittelt seine Liebeskonzeption in ein gewaltiges Landschaftsbild gefasst: Nie in meinem Leben aber habe ich die Alpen in so sanfter Hoheit gesehen wie heute. Die Schneefelder schimmernd in der Morgensonne, das Blau der Felsenschatten so mild von dem weichen milchicht grünlichen Himmel abgehend und doch Alles so deutlich, daß man meinte, darnach greifen zu können. Ein so edles Gefühl kam in meine Seele, daß ich dir es nicht beschreiben kann. Ich dachte an Gott, der das Alles gemacht hat, und es war wie ein heiliges Gebet in meinem Innern. Ich dachte dann an dich, die du mir nach Gott das Höchste bist, und wie eine lichte Wolke, war es mir, schwebe Liebe von mir zu dir ins Thal hinab. Ich wandte mich wieder zu Gott, und dankte ihm, daß er mir aufs Neue nach langer Seelenumschattung der Krankheit diese Empfindung gegeben hat. Ich habe die Natur wieder, ich habe dich, du meines Lebens Freude wieder. [. . . ] [später betrachtet er die Alpenkette durchs Fernrohr erneut] Dann richtete ich das Rohr auf das Haus unserer Wohnung, und zwar auf die Fenster unseres Speisezimmers. Alles war so deutlich, daß man die Schrift auf dem Schilde sah. Dort, dachte ich, schlägt das gute Herz, das dein ist, wie es leibt und lebt, dein für dieses ganze Erdenwallen und dein vielleicht für die ganze Ewigkeit. Wie hat Gott den Menschen beglükt, daß er ihm gab, Liebe empfinden und Liebe schenken zu können! Aber was sage ich: dem Menschen? Die ganze Welt ist auf Liebe gebaut, ein Meer von Liebe ist Alles. Liebt uns nicht unser Hündchen, ist es nicht glücklich in dieser Liebe, und ist es nicht glücklich, wenn es von uns Zeichen der Neigung empfängt?131

130 BW 6, S. 34. 131 Brief vom 18. und 19. März 1866, Nachschrift vom 19. 3., BW 5, S. 179.

4.7 Schreibarbeit am Glück

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Erneut wird – wie in der Laubenszene des Nachsommer – durch das Auge ein Netzwerk gesponnen – zwischen Alpen, Gott, Tal, Amalia und dem zwischen allem stehenden Stifter. Die Liebe bildet vermittelnde Fäden, das Kommunikationsmedium zwischen den Eckpunkten dieses Netzwerks. Der auf den Gegenstand gerichtete intensive Blick – und das Vergrößerungsglas hat hierbei eine entscheidende Funktion132 – stellt das Übertragungsmittel dieser Liebe dar. Er kann eine Verbindung zwischen Landschaft, göttlicher Weltordnung, Geliebter und auch dem unbedeutenden Detail eines Ladenschildes herstellen, das durch diesen Blick gleichermaßen zum Symbol, zum Schriftzeichen wird, das ein regelrechter Stellvertreter des anderen ist. Am 8. Juni 1866 schreibt er: Den ersten Tag in den Lakerhäusern wende ich einzig allein dazu an, dir einen Brief zu schreiben; denn du bist mir doch und bleibst mir für alles Leben das Süsseste und das Theuerste, das mein Herz kennt, und womit könnte sich dieses Herz in der eingetretenen Einsamkeit tröstender beschäftigen als mit Worten an dich, die, weil sie schon nicht von meinem Munde an dein Ohr gelangen können, doch mit diesem Papiere den Weg zu deinen Augen finden, und so ein Band abgeben, das von hier zu dir hinüberreicht, und dir meine Gefühle bringt, die ich sonst in der Abgeschiedenheit vergraben müßte. Du hast auf dem Schiffe, das uns trennte, zu mir gesagt, daß ich dir bald schreiben möchte, also wirst auch du diese Buchstaben gerne vor deine Seele gelangen lassen.133

Der Buchstabe in seiner Materialität (und dieses Bild verwendet Stifter häufiger) ist ebenso wie andere „Dinge“ Transportmittel einer Liebe, die letztlich identisch mit der allem zugrunde liegenden göttlichen Liebe ist. Hierin ist Stifters Zeichenverständnis ganz romantisch. Anders als die Romantiker allerdings legt er einen weit größeren Akzent auf die Bedeutung des Zeichens selbst. Er versucht nicht, in einer „poetischen“ Sprache den Dingcharakter der Worte zu durchbrechen, um ans Universelle, Poetische zu gelangen, sondern vertraut darauf, dass alles, jedes Zeichen, jedes Ding immer schon Transportmittel des Universellen ist, wenn es mit Liebe aufgeladen, mit Liebe betrachtet wird. Das generiert einen gewissen 132 Von Kirchschlag aus ist bei gutem Wetter offenbar das Linzer Wohnhaus der beiden durch das Fernrohr zu sehen. Wie die beiden Schwestern im Hochwald visiert Stifter es immer wieder an. Einmal bittet er Amalia sogar, im Falle, dass sie sich von einer Krankheit erholt habe, ein weißes Laken aus dem Fenster zu hängen (Brief vom 23. und 24. Juli 1866, BW 5, S. 256). Brief, Fernrohr und auch Fotografie erfüllen eine ähnliche ikonographische Funktion in dieser Liebeskorrespondenz. 133 BW 5, S. 210.

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Fetischcharakter134 des Umgangs mit Dingen und Begriffen, wobei die Bedeutung des Dings als Zeichen mitunter wichtiger zu werden droht, als das Bezeichnete selbst, wie sich an der Geschichte, die sich aus dem Umgang mit Amalias Porträt-Fotografie entwickelt, ablesen lässt, die im Folgenden rekapituliert werden soll.

4.8 Entrückte Intimität und ihre Medien Zu Weihnachten 1865 hatte ihm Amalia ihr von einem Linzer Fotografen aufgenommenes Porträt geschenkt. Ein Geschenk, das ihn maßlos freut. In Kirchschlag hängt er das Bild neben seinem Bett auf, behandelt es geradezu wie eine Reliquie und lässt sich eigens einen Vorhang dafür anfertigen. Daß du mir möchtest einen Vorhang zu deiner Photographie schiken, wird dir die Schusterin gemeldet haben. Ich habe das Bild am liebsten über meinem Nachtkästchen, allein dahin scheint 1/2 Stunde die Morgensonne, daher muß es gedekt werden. bis jezt gab ich, wenn Sonne war, eine reine Serviette darüber. Bei Tage stehe ich oft davor, und betrachte die geliebten Züge des Angesichtes. Wenn ich die Kerzen anzünde, leuchte ich hinauf, und schaue noch eine Weile hin, ehe ich die Arbeit beginne. Vor dem Schlafengehen ist es das Lezte, darnach ich sehe, und Nachts ist mir, als beschüze es meinen Schlaf.135

Dabei wird das Bild vom bloßen Vermittler mehr und mehr auch zum Kommunikationspartner: Mit deinem Bilde hast du mir das süsseste Geschenk gemacht, das du mir zu machen im Stande warst. Wenn ich nicht arbeite oder im Freien bin, so leistet es mir die holdeste Gesellschaft, ich sehe diese Augen, diesen Mund, diese Mienen, diese Gestalt an, und du bist mir gegenwärtig, ich möchte dir erzählen, dir freundliche Worte geben, und wenn ich es in Gedanken thue, so ist mir völlig, als empfinde dieses das Bild, und als gehe auf den Lichtbildzügen ein entgegenkommendes Lächeln auf.136

Amalias in dem früheren Brief imaginiertes „Angesicht“137 und die Begegnung mit ihrer Fotografie unterscheiden sich qualitativ nicht. Die Magie der Fotografie, deren Technik eine Präzision der Abbildung ermöglicht, die gegenüber den Bildern der Einbildungskraft wiederum wie ein Wunder wirkt, begeistert ihn mehr und mehr. Bald ist es die Technik der Fotografie selbst, die er segnet: 134 135 136 137

Vgl. auch Bischoff: Stifters Stoffe (a. a. O.). Brief vom 6. 1. 1866 aus Kirchschlag, BW 5, S. 114. Brief vom 10. 1. 1866, BW 5, S. 118f. BW 6, S. 56.

4.8 Entrückte Intimität und ihre Medien

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Durch dein großes photographisches Bild hast du mir eine Wohlthat erwiesen, die ich erst jezt recht einsehe und empfinde. Wenn ich auch stets, so oft ich von dir abwesend war, dein Bild vor Augen hatte, so war es doch nicht klar und deutlich, und schwebte gleichsam nur in dem Nebel der Einbildungskraft: jezt trete ich zu dem Bettkästchen, schaue zu den geliebten Zügen hinauf, sie blicken klar und bestimmt und holdselig auf mich, und ich bin beglükt, wie ich es dir gar nicht sagen kann. Du bist dann gewisser Maßen bei mir, und belebst meine Einsamkeit. Jezt segne ich die Erfindung der Photographie.138

Die „rastlosen Kadaver“139 der Porträtfotografie, die die Zeitgenossen begeisterten, zugleich aber auch tief beunruhigten, denen das Auge des Fotografierten einen „toten Blick“ entgegenzuwerfen scheint140, haben für Stifter offenbar nichts Beängstigendes. Das Foto wird ausschließlich mit Attributen des Lebendigen belegt. In der Gegenüberstellung des Nebels der Einbildungskraft und der Klarheit und Bestimmtheit des fotografischen Blicks bedient Stifter sich der Descartschen Opposition von unteren Seelenkräften – keine Erkenntnis möglich machenden undeutlichen Bildern der Sinnlichkeit – und der die Gegenstände klar voneinander abgrenzenden und gegenwärtig und bewusst machenden Wahrheit (clare et distincte). Der Fotografie wird die Klarheit des erkannten Begriffs zugewiesen, sie ist ein Medium ordnender Rationalität. Hinzu kommt, dass dieser Blick auch „holdselig“, d. h. gnadenreich herablassend ist, also wiederum eine religiöse Konnotation erfährt, die letztendlich die religiöse Seite des Wahrheitsbegriffs umfasst. Im Bild wird so die Geliebte mehr und mehr zur die Zeit überdauernden Ikone petrifiziert. Und das Bild droht mehr und mehr den Platz der Geliebten selbst einzunehmen: Und als ich wieder in mein Zimmer gekommen war, trat ich vor dein Bild, und sah in die geliebten Züge, auf den treuen Mund, in das ehrliche Auge. Gott segne die Erfindung der Lichtbilder, mir ist sie jezt zum Segen geworden. Ich kann dir für die zarte Aufmerksamkeit nicht genug danken, daß du mir gerade für meine Einsamkeit dieses Bild gegeben hast. Es ist ein Band zwischen mir und dir.141 138 Brief vom 23. 1. 1866, in: BW 5, 140. 139 Marcellin, ein Karikaturist, im Journal Amusant 1856 über die Fotografie: „diese fotografischen Fantome, haben zugleich die Starre des Todes und die Unruhe des Lebens an sich – rastlose Kadaver.“ (Übers. R. L., zit. nach Andre´ Rouille´: La photographie en France, textes & controverses, une anthologie, 1816 – 1871, Paris (Macula) 1989, S. 265). 140 Gerhard Plumpe: Der Tote Blick. Zum Diskurs der Photographie in der Zeit des Realismus. München (Fink) 1990, bes. S. 25–30. 141 Brief vom 9. 3. 1866, BW 5, S. 158.

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Ich aß mein Mittagsmahl, sagte deinem Bilde freundliche Worte, und ging auf die Gasse.142

Als Stifter im August seinen Aufenthalt aus dem Kirchschlag in die höher gelegenen Lakerhäuser verlegt, auch dort das Bild aufhängt und berichtet, welche allgemeine Begeisterung es ausgelöst hat,143 scheint es für Amalia Stifter jedoch genug gewesen zu sein. In einem nicht erhaltenen Brief muss sie ihr Unbehagen an Stifters Umgang mit ihrem „Stellvertreter“ geäußert haben, wenn er sie wegen ihrer Eifersucht auf ihre eigene Fotografie aufzieht: Weiblein, du bist ja auf dein Bild eifersüchtig! Und dazu hast du gar keinen Grund. Du bist selbst im Hauskleide, wie du schreibst, weit schöner als das Bild, bist auch jünger, und gefällst mir unendlich mehr. Wo nähme das Bild auch den Zauber her, der so eindringlich wirkt, wenn du recht freundlich lächelst, oder die lieben treuherzigen Blike auf mich richtest. Das Bild ist nur ein Schattenstellvertretter, wenn es mir auch unbeschreiblich lieb ist, da ich doch an ihm die Züge, die mir über alles theuer sind, mit leibhaftigen Augen betrachten kann, während ich sie mir sonst nur mangelhaft mit der Einbildungskraft in die leere Luft malen mußte. Und so lasse mir das arme Bild in Zeiten, da ich dich nicht haben kann.144

Obwohl hier Leibhaftigkeit und Einbildungskraft gegeneinander ausgespielt werden, scheint das Foto letztere doch ungemein zu affizieren. Es suggeriert Leben und tritt selbst an dessen Stelle. Das Symbol erobert den Platz dessen, wofür es steht. Hier ist nun Amalia Stifters Einspruch gegen die Verehrung ihres Bildes von eminenter Wichtigkeit. Er zeigt erstens, dass sie durchaus Partner und nicht nur Objekt in der Liebe ist. Denn von dem Moment an, wo sie ihr Missfallen am Kult um die Fotografie äußert, ändern sich Stifters Schilderungen seines Umgangs mit dieser. Er wird in den Briefen problematisiert und reflektiert. Dies geschieht einerseits in humoristischer Form, indem Stifter nun im Gegenzug die Fotografie auf Amalia eifersüchtig sein lässt: Jezt trit die Amalia an der Wand wieder in ihre Rechte. Aber diese sieht mich beinahe trozig an, als sagte sie: „Jezt wäre ich dir recht, da die andere fort ist.“ Ich schaue sie aber so lange, und so erbärmlich an, bis sie wieder ein milderes Angesicht zeigt, und willig zur Aushilfe dient.145

142 143 144 145

Brief Brief Brief Brief

vom vom vom vom

16. 3. 10. 8. 22. 8. 3. 11.

1866, 1866, 1866, 1866,

BW BW BW BW

5, 5, 5, 6,

S. 169. 269. S. 280. S. 9.

4.8 Entrückte Intimität und ihre Medien

263

Zweitens betont er aber auch da, wo die intensive Beziehung zum Bild wieder aufgenommen wird, gegenüber Amalia jetzt die Mittlerfunktion desselben. Ausgehend vom Wechselgespräch mit dem Bild wandern die Gedanken zur realen Amalia Stifter und imaginieren sie in ihren Handlungen. Es tritt an die Stelle der bloßen Bildverehrung also wieder ein erzählerisches Verfahren, wieder wird die protokollhafte Rekapitulation des Tagesablaufs zur Möglichkeit eines Rapports. Die Macht des Bildes ist wieder in den ursprünglichen Zusammenhang zurückgeholt. An beider Hochzeitstag schreibt er ihr: Ich stand dann auf, kleidete mich an, und trat mit dem Lichte vor dein Bild, die edlen Züge betrachtend, und im Gedanken dem Bilde sagend, was ich dir nicht sagen konnte. Von da an dachte ich stets an dich, wie du erwachen wirst, wie du aufstehst, wie du auch dein Herz zu Gott wendest, wie du an mich denkst, mit deiner Umgebung sprichst, vielleicht von mir sprichst, nein, gewiß von mir sprichst.“146

Liebe drückt sich aus durch Genauigkeit, Akribie, Erforschung des Details. Nicht nur ein redensartliches Aneinander-Denken wird gesucht, nicht nur wird der Blick in Richtung des Hauses der Geliebten gesendet, schweifen die Gedanken zu ihr, sondern das beste Fernglas wird eingesetzt, um den Gegenstand möglichst genau ins Visier zu nehmen. Schreiben, Vergrößern, das Betrachten einer Fotografie sind gleichermaßen Techniken einer medialen Liebespraxis, einer Annäherung an die geliebte Frau, die der vorherigen Entfernung bedarf, um etwas zu ermöglichen, was Roland Barthes zu Beginn seiner Fragmente einer Sprache der Liebe als „Verlassenheitsprüfung“ bezeichnete, der der Liebende sich durch die Abwesenheit des Geliebten aussetze: Ich halte dem Abwesenden unaufhörlich den Diskurs seiner Abwesenheit – eine ganz und gar unerhörte Situation; der Andere ist abwesend als Bezugsperson, anwesend als Angesprochener. Aus dieser eigentümlichen Verzerrung erwächst eine Art unerträgliches Präsens; ich bin zwischen zwei Zeitformen eingekeilt, die der Referenz und die der Anrede: du bist fort (und darüber klage ich), du bist da (weil ich mich an dich wende). Ich weiß also, was das Präsens, diese schwierige Zeitform, ist: ein unverfälschtes Stück Angst. Die Abwesenheit dauert an, ich muß sie ertragen. Also manipuliere ich sie: ich verwandle die Verzerrung der Zeit in ein Hin und Her, bringe Rhythmus hervor, eröffne die Sprachszene (die Sprache erwächst aus der Abwesenheit: das Kind hat sich eine Spule gebastelt, wirft sie fort und 146 Brief vom 15. 11. 1866, BW 6, S. 31.

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zieht sie wieder an sich, indem es so Weggehen und Wiederkehr der Mutter darstellt: ein Paradigma ist entstanden). Die Abwesenheit wird zur aktiven Praxis, zur Geschäftigkeit (die mich hindert, irgend etwas anderes zu tun); es kommt zur Ausarbeitung einer Fiktion mit vielfältigen Rollen (Zweifeln, Vorwürfen, Anwandlungen von Begierde und Melancholie). Diese sprachliche Inszenierung hält den Tod des Anderen fern: ein sehr kurzer Augenblick trennt, wie man sagt, die Zeit, in der das Kind seine Mutter noch für abwesend hält, von der, in der es sie bereits tot glaubt. Die Abwesenheit manipulieren heißt diesen Augenblick verlängern, den Moment, da der Andere aus der Abwesenheit kurzerhand in den Tod stürzen könnte, so lange wie möglich hinauszögern.147

Zum Schreiben von Briefen wie zum Betrachten von Bildern und Fotografien nimmt sich Stifter besondere, ausgewählte Stunden vor. Auch die abrupten Wechsel zwischen Liebesbeteuerung und Einkaufsaufträgen, Lebensmittelbestellungen und minutiösen Ausführungen zu Wechselkursen und Sparmöglichkeiten erklären sich auf diese Weise. Die Briefe an Amalia sind weniger „ein Versuch, die Lebenswelt in eine Sprachwelt zu transponieren“148, wie Alfred Doppler dieses Verfahren deutet, als die Übertragung eines literarischen Verfahrens auf die Gestaltung einer Beziehung, bzw. eine Praxis, die die Gleichartigkeit von Leben und Sprache schon voraussetzt. Vielleicht hat auch Amalias Materialismus einen nicht ungewichtigen Beitrag zur Entwicklung dieses Verfahrens geliefert. In dem bereits zuvor zitierten Brief vom 8. Juni 1866 fährt Stifter fort: Ich habe, als dein Schiff sich in Bewegung sezte, vom Ufer aus gesehen, daß du dir die Augen mit dem Tuche trocknetest, und habe empfunden, wie schwer uns beiden die Trennung wurde. Ich blikte dem Schiffe nach, so lange es zu sehen war. Der Himmel mit den düstern Wolken, das Wasser, welches diese Wolken spiegelte, der schmutzige Rauch des Schiffes, das Dahingleiten des langen Fahrzeuges, alles erschien mir unaussprechlich traurig.149

Wieder wird eine genaue Beobachtung in eine Emotion übersetzt, die gleichermaßen ihre wie seine Empfindung ist. Das beobachtete Zeichen sondert den Beobachteten nicht als Objekt vom Betrachter ab, sondern stellt eine wirkliche Verbindung her! Ich ging mit Katharina schweigend fort. Sie weinte. In der Handlung Harslem kauften wir Kerzen, und dort fragte ich auch wegen der Thalerscheine. Der Kaufmann sagte, daß er mir für 200 preußische Thaler 366 fl. Ö. W. geben könne.150

147 148 149 150

Roland Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe (a. a. O.), S. 29f. Doppler: Adalbert Stifter als Briefschreiber (a. a. O.), S. 141. BW 5, S. 210. BW 5, 210/11.

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Es folgt ein ausführlicher Bericht über unterschiedlich günstige Wechselkurse, nach denen er sich erkundigt habe und die freudige Botschaft, dass sein Wirt Rosenberger ihm einen weitaus besseren Umtauschkurs vermittelt habe. Derartige „Sprünge“ haben die Forschung immer wieder irritiert. Auch Stifter selbst scheint das Irritierende dieses plötzlichen Übergangs von Abschiedsschmerz zu Sparsamkeitserwägungen gespürt und am Ende weniger Amalia, als einem imaginierten zukünftigen Leser des Briefes erklären zu wollen, welche Bedeutung das hat, wenn er ausführt: Dieses Geschäft und der so günstige Ausgang, den ich gar nicht erwartet hatte, zerstreute mich ein wenig. Ich ging nach Hause, und schrieb an dich den kurzen Brief mit sehr schlechter Stahlfeder. Ich konnte nicht ausführlicher schreiben, weil ich sonst die Post versäumt hätte. Da ich deinen edlen häuslichen und sparsamen Sinn kenne, so habe ich dir hier diese Angelegenheit ausführlich mitgetheilt, wie ich es ja überhaupt zwischen Gatten so hold und befriedigend finde, wenn sie sich Alles, auch das Kleinste sagen [Hervorhebung von mir, R. L.]. Ich plaudere daher fort. Ich gab an dich 400 f. Ö. W. auf die Post [. ..]151

Auf mitunter geradezu virtuose Weise vermag Stifter seine Sparsamkeit nicht nur mit dem Ausdruck der Innigkeit seiner Empfindung zu versöhnen, sondern noch emotionalen Gewinn aus seinem Geiz zu schlagen, wenn eine Portoersparnis zugleich Anlass für eine unerwartete Verlängerung des Schreibvorgangs wird: Ich habe gestern, als ich diesen Brief schon geschrieben hatte, noch in Erfahrung gebracht, daß am Dienstag der Knecht nach Linz beichten geht, und er hat sich erbothen, etwas an dich mit zu nehmen. Ich beschloß also, um die Kosten einer eigenen Sendung zu ersparen, das Schreiben und die Quittung und das Geld mit zu geben. du erhältst also Alles um einen Tag später, und erhältst noch mehrere Zeilen dazu, und ich genieße die Freude, dir noch manches Schreiben zu können. Es wird wohl kein Schaden aus der Verzögerung erwachsen. Das Schreiben an dich aber ist mir immer ein Fest.152

In puncto Sparsamkeit sind sich Amalia und Adalbert vollkommen einig. Auch ihrer pragmatischen Einstellung zufolge kommt den Dingen dieser Zeichencharakter zu. Sie, die nicht gern schreibt, drückt ihre Neigung in Dingen aus, so wie er die Verbindung zu ihr durch Dinge und die Benennung von Dingen herstellt. Zu ihrem Hochzeitstag 1865 schreibt Amalia ihm auf großem Bogen in schöner, sauberer Schrift einen Brief, der den Charakter eines erneuerten 151 Brief vom 8. 6. 1866, BW 5, S. 211f. 152 An Amalia Stifter am 18. 3. 1866, BW 5, S. 178.

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Ehevertrags hat und in manchem an die feierlichen Briefe erinnert, die Ferdinand Raimund seiner Geliebten Antonie Wagner geschrieben hatte153 und deren Funktion genau die einer vertraglichen Stabilisierung der Beziehung gewesen war. Geliebter Mann! Da es einmahl daß Schücksal so beschieden hat, daß wir jetzt so getrennt leben müßen, und schon 28 Jahre bald vorüber sind, wo dieser feuerliche Tag so nahe ist, welcher mich stetz erinnert wo wir vereint Hand in Hand den Heiligen Schwur der Liebe und Treue zugeschworen haben, und mir noch so klar und deutlich alles vor den Augen schwebt, und meine Gesinnung und mein Herz noch so denkt als wie an diesen Tag gedacht hat, so kann ich nicht Unterlassen an Dich einige Zeilen zu schreiben ich bin wohl Überzeugt, daß auch Du jetzt nicht anderst Denkst als wie Damahls, und der liebe Gott wird es doch wieder so fügen daß wir noch viele Jahre glüklich und zufrieden mitsamen leben werden, und ich hoffe daß alle diese Wünsche, wohl auch die Deinigen sein werden, und deßhalb vereinige ich meine Wünsche, mit den Deinigen. Die Mari wünscht unß auch beiden, daß wir in Gesundheit und Zufriedenheit, und noch vielmer Jahre mitsammen verleben möchten, als wir schon Verlebt haben. Ich sende Dir ein Haselhun, und Wünsche, daß es Dir schmeke und auch habe ich mir für diesen Tag einen Strizel baken lassen, wovon ich Dir auch ein Stük sende daß Du dir ihn an diesen Tag wohl schmeken lassen solst, mir geht es so weit gut, und Wünsche und Hoffe daß es Dir auch gut geht, und ich lebe in der besten Hoffnung Daß der liebe Gott meine so wie Deine Wünsche erfüllen wird. Ich Grüße und Küsse Dich vielmahls und verbleibe Deine dich Liebende Gattin Amalia Stifter Linz den 13. November 1865154

Stifter ist nur auf den ersten Blick ein verblendeter Liebhaber, wenn er in seinem Antwortbrief schreibt: Du sagst immer, du könnest nicht schreiben, und schreibst mir einen Brief, den der erste Dichter unsers Volkes nicht schöner zu schreiben im Stande wäre. Gezierter und geschraubter könnte er schreiben, wahrer und heiliger nicht. Du kennst überhaupt deinen Werth nicht, wie ich dir oft sagte; ich aber kenne ihn und ehre ihn.155

153 Vgl. S. 26f. 154 BW 8, S. 82f. 155 BW 5, S. 75f. Vgl. auch den Brief vom 23. März 1866: „Ach wie glüklich machst du mich durch deine herzlichen Worte, und wenn du auch sagst, du kannst nicht schreiben, so ist die Natürlichkeit, die Lauterkeit, die Wahrhaftigkeit deiner Gedanken tausendmal mehr Goldes werth als das gemachte gekünstelte Ding einer schreibseligen Person. Mir werden deine Briefe Kleinode sein, so lange ich lebe.“ (BW 5, S. 183).

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Stifter liest Amalias ungelenken Brief nicht als mit konventionellen Formeln abgearbeitete Schreibpflicht, sondern findet in ihren Beteuerungen, die keinerlei Anspruch auf Originalität erheben, eine Poetik realisiert, deren „Wahrheit“ und „Heiligkeit“ er von einer Dichtung des Ausdrucks abgrenzt, die er mit gängigen antimanieristischen Pejorativen abkanzelt. Entsprechend nimmt er jeden ihrer Sätze als Bekenntnis, so wie er es für sich selbst beanspruchen würde und liefert in seinem Antwortbrief, für den er „eigens diesen geheiligten Tag [15. November?] für die Darlegung meines Dankes“156 bestimmt. Und so, wie er einst den Absagebrief Fannys Absatz für Absatz einer interpretierenden, diskutierenden Lektüre unterzogen hat, betätigt er sich auch jetzt wieder als Interpret, als Entschlüsseler (ohne jede Überheblichkeit), der Wahrheiten, die sich in ihren einfachen Sätzen offenbaren. Du sprichst die Hoffnung aus, daß auch ich jezt noch so denke, wie an jenem Tage. Wohl denke ich noch so, alles ist auch mir noch klar und deutlich, wie es gewesen ist; aber mein Gefühl hat sich sehr geändert, es ist um vieles wärmer anhänglicher und unauslöschlicher geworden, mit jedem Tage, seit dem wir verbunden sind, ist meine Liebe zu dir gewachsen, und ich empfinde es, sie wird bis zu meinem Tode wachsen. Wenn du Gott anruffst, daß er uns noch eine Zeit vereint mit einander leben lassen möchte, so ist dies auch mein Anliegen an den allmächtigen Herrn des Himmels. [. . . ] und ich empfinde an diesem feierlichen Tage recht lebhaft, daß meine lange Krankheit und unsere Trennung, womit uns der Vater im Himmel heimgesucht hat, auch zu unserem Heile ist.157

Als ein nachvollziehendes Bestätigen führt Stifter hier die Interpretation ihres Briefes durch, das zugleich den Charakter der Auslegung einer heiligen Schrift hat. Hatten die Briefe an Fanny die erste Realisation eines Modells der Entsagung dargestellt, die dort noch ganz als Modell des Verzichts erschien, so gelingt Stifter in den späten Briefen an Amalia – in einem von beiden Briefpartnern geteilten Verfahren der Weltaneignung und Weltdeutung, in der die Dinge zu Zeichen werden – eine Annäherung an die Geliebte, die nach beinahe dreißig gemeinsam verbrachten Lebensjahren eigentlich erst durch die Trennung eine Möglichkeit der Kommunikation über Zeichen stiftet, die zugleich Dinge sind, so dass Äußeres und Inneres in der brieflichen Kommunikation tatsächlich in eine Struktur integriert werden können, in der alles zum Symbol für den An156 BW 5, S. 74. 157 BW 5, S. 74f.

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4 Adalbert Stifter oder die Vollendung der Briefliebe

deren werden kann. Möglich wird dies letzten Endes nur dadurch, dass den Normen und Hierarchien der geläufigen Literatur-Ordnung konsequent entsagt wird.

5 Zellenliebe – Ernst Haeckel und Frida von Uslar-Gleichen 5.1 Naturalistische Literaturliebe Wir sind kein gewöhnliches junges Liebespaar, meine Frida, welches mit der Neigung scherzt und tändelt. Wir sind beide „Einsame Menschen“ von hoher Begabung, denen das Schicksal sehr viele Illusionen grausam zerstört hat. Ich fühle, daß es auch diese letzte und höchste Illusion in Trümmer schlagen wird! – In den vielen und schlaflosen Nächten, die ich um Dich gelitten und, oft bitterlich geweint habe, frug ich mich vergebens nach dem Grunde des „Welträthsels“, welches für uns Beide in unserer Liebe liegt! Warum habe ich, der 30 Jahre hindurch zahlreichen Angriffen schöner und verführerischer Frauen mannhaft widerstanden hat, vor Dir mich in den Staub geworfen, trotz aller Bedenken u. Hindernisse! Liebste Frida, das ist eben das Räthsel der „Wahlverwandtschaft“! dieses wunderbaren psychologischen „Chemotropismus“, über dessen Macht ich in den „Welträthseln“ (– ebenso wie früher in der Anthropogenie –) gesprochen habe, – nicht ahnend, daß ich selbst noch im hohen Alter ihr unterliegen würde!1

In dem Brief, den der Evolutionsbiologe Ernst Haeckel am 5. August 1899 an seine Geliebte Frida von Uslar-Gleichen schreibt, scheint die Gattung des Liebesbriefs aufzuschließen an die neueste wissenschaftliche Forschung. An die Stelle der romantischen Reminiszenz scheint eine naturalistische Auffassung der Liebe zu treten, eine schonungslose Vivisektion des eigenen Empfindens an die Stelle der empfindsamen Formel. Resigniert übergibt man sich der Macht der Zellen und literarisch sekundiert wird man dabei nicht mehr von Byron oder Jean Paul, sondern von Gerhart Hauptmann. Aber so einfach ist es natürlich nicht. Das Moment des „Wunderbaren“, das sich auch in oben stehendem Zitat als unauffälliges Beiwort an den wissenschaftlichen Fachbegriff anschmiegt, ist gerade in Verbindung mit den von Haeckel beobachteten Fortpflan1 Das ungelöste Welträtsel. Frida von Uslar-Gleichen und Ernst Haeckel. Briefe und Tagebücher. Hg. v. Norbert Elsner, 3 Bde. Göttingen (Wallstein) 2000, Bd. I, S. 203.

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5 Zellenliebe – Ernst Haeckel und Frida von Uslar-Gleichen

zungs- und Entwicklungsphänomenen des Lebens in diesem Briefwechsel immer präsent. Auch in Bezug auf die Liebe: Beide Briefpartner rekurrieren auf die für sie selbst so überraschende, unmögliche und letztendlich zutiefst unglückliche Liebe mit der Metapher des „Zaubermärchens“, dessen Höhepunkte die äußerst wenigen Begegnungen auf kurzen, heimlich unternommenen Reisen bilden: Eine Wartburgfahrt am 17. Juli 1899, die zum „Wartburgmärchen“ wird, wie der unter dem Schlüssel „Tivoli“ subsumierte gemeinsame Tag im April 1901, den beide in einem Hotel dieses Namens in Hannoversch Münden verbringen und die letzte Begegnung im Oktober 1902, der Tag in Leipzig, wo beide mehrere Stunden Hand in Hand vor Alexandre Calames Landschaften im Städtischen Museum sitzen.2 Eine späte Liebe verbindet den Evolutionsbiologen Ernst Haekkel mit der 30 Jahre jüngeren Frida von Uslar-Gleichen. Einmal mehr spiegelt sich dabei für den männlichen Partner (wie bei Bismarck und bei Stifter) eine frühere, letztlich unglücklich verlaufene Liebesgeschichte, eine tote Geliebte im Bild der neuen Partnerin. Die Bekanntschaft mit Frida von Uslar-Gleichen weckt bei Haeckel Erinnerungen an seine Jugendliebe und erste Frau, seine Cousine Anna Sethe, mit der er sich am 3. Mai 1858, also vierzig Jahre vor der Bekanntschaft mit Uslar-Gleichen, verlobt hatte.3 Von allen hier dargestellten Korrespondenzen ist die zwischen Haeckel und UslarGleichen sicher die „epistologischste“, denn es kommt in den fünf Jahren des Verhältnisses zu nicht mehr als den drei oben genannten Begegnungen. Diese Liebe findet in ihren Briefen statt. In Briefen wird die Einzigartigkeit dieser illegitimen Liebe beschworen, zu deren Rettung und Legitimation beide sich ein an Goethes Briefen an Charlotte von Stein gebildetes Modell von entsagender Fernliebe auferlegt haben,4 das Gespräch über Natur und 2 Das ungelöste Welträtsel, Bd. II, S. 797. 3 Auch diese Beziehung war schon unter den Auspizien des Todes begonnen worden, im Schmerz über den Tod des geliebten Lehrers Johannes Müller, hatte Haeckel, so berichtet er in seinem Tagebuch, mit Anna den Abschnitt „Meer“ in Emil Adolf Roßmäßlers Das Wasser gelesen, da war die Liebe über dieses naturalistische Paolo-und-Francesca-Paar gekommen (vgl. Heinrich Schmidt: Einleitung zu Ernst Haeckel: Himmelhochjauchzend . .. Erinnerungen und Briefe der Liebe. Dresden (Carl Reissner) 1927, S. 8. 4 Haeckel an Uslar-Gleichen am 2. 9. 1899: „Ich sehe aus dem schweren, uns beide aufreibenden Conflicte der sehnlichsten Wünsche u. der schwersten Pflichten keinen anderen Ausweg als den der Entsagung!“ (Das ungelöste Welträtsel, Bd. I, S. 268.

5.1 Naturalistische Literaturliebe

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Wissenschaft und die „echte Seelen-Verwandtschaft“5 an die Stelle der Leidenschaft und der Erfüllung setzend. Das Medium des Briefes ist dabei auch zur Disziplinierung des Eros notwendig, denn Du denkst an ein freundschaftliches Wiedersehen, wo wir Beide ruhig Hand in Hand sitzen und unsere Gedanken austauschen können. L. F. [„liebe Freundin“ und zugleich „Liebe Frau“, die Doppeldeutigkeit ist beabsichtigt, R. L.] das ist bei mir, mit meinem leidenschaftlichen, nach inniger Liebe dürstenden Temperament unmöglich. Denke an die unvergeßliche Stunde Sonntag Nachmittags im Z. I. (– dessen Raum mir seitdem doppelt heilig ist! –). Da kommt wider Wissen und Willen erst Hand zu Hand, dann Arm zum Arm, und dann Mund zum Munde!6

So wird für Ernst Haeckel und Frida von Uslar-Gleichen der Brief in der Tat zum imaginären Raum der Begegnung, in dem ein unmögliches beiderseitiges Glück als Märchen erträumt wird, zugleich aber auch zum Raum der wissenschaftlichen Mitteilung und Auseinandersetzung, die als sublimierte Leidenschaft an deren Stelle treten soll und – und das gibt diesen Briefen endgültig eine Komplexität und Mehrschichtigkeit, die sie – wie die bereits behandelten – zu Bestandteilen eines der paradigmatischen Briefwechsel des 19. Jahrhunderts werden lassen – zu dem Ort, der beider Liebe, die keinerlei gesellschaftliche Legitimität besitzt, durch Wissenschaft erklärt und rechtfertigt und in ein neues, wissenschaftliches Modell von Welt einordnet. Auf geradezu atemberaubende Weise wird die Literarizität, Unmöglichkeit, Märchen- und Mythenhaftigkeit dieser Liebe verknüpft und erweitert mit Wissenschaft und Naturgesetzlichkeit, um ihr einen Platz in einer überzogenen Kosmologie zuzuweisen, einer Art modernem Gegenstück zu Dantes Paradies. Wenn Frida von Uslar-Gleichen ihren inneren Drang, sich mit ihm zu beschäftigen als eine Art romantischen Rapport zu erklären sucht, „eine unaufklärbare Seelensympathie [.. .], die die feine Telephonleitung zwischen uns in Gang bringt“7 und die szientifische Metapher (die Entsprechung zu Stifters „Fäden“, die sich zwischen Dingen und Menschen spannen8) dabei noch mehr scherzhaft zum Einsatz bringt, dann erscheint Ernst Haeckel dieses Unaufklärbare durchaus aufklärbar und seine und ihre Empfindungen als Beleg für die Richtigkeit seiner Thesen, wenn er am 27. September 1899 aus Korsika schreibt: 5 6 7 8

Das ungelöste Welträtsel, Bd. I, S. 281f. Brief vom 2. 9. 1899, in: Das ungelöste Welträtsel, Bd. I, S. 268. Brief vom 9. September 1899, in: Das ungelöste Welträtsel, Bd. I, S. 269. Vgl. BW 6, S. 35f.

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5 Zellenliebe – Ernst Haeckel und Frida von Uslar-Gleichen

Lesen Sie in den „Welträthseln“ das Kapitel Bewußtsein, und zwar den Passus über das zweite (andere) oder „alternirende“ Bewußtsein. (P. Lindau hat es in dem Schauspiel „Der Andere“ packend geschildert!–). Denken Sie, was mir im Sommer passirt ist! Kommt mitten in die dringende Arbeit der Correctur etc am 17. Juni ein „Mädchen aus der Fremde“, die es verstanden hat, in wenigen Tagen mich vollständig – im eigentlichen Sinne! – zu bezaubern und mein persönliches „Bewußtsein“ einfach wegzublasen. Was ich in jenen 6 wunderbaren Tagen der Bekanntschaft mit jener Circe gesprochen, was ich ihr später in ganz unglaublichen Briefen geschrieben habe, das war offenbar nicht der kühle strenge „Jünger der Wissenschaft“ sondern ein ganz „ein Anderer“! – Mein strenger „Gewissenswurm“, der hier inmitten meiner nun schon 5 Wochen dauernden „Einzelhaft“ schrecklich lebendig geworden ist, macht mir die schlimmsten Vorwürfe! Zum Glück habe ich den alten Trost, daß eben „Alles so kommen mußte“ – da ich (leider!) an keinen freien Willen glaube. Ein anderer Trost ist mir, daß ich Sie als eine großartige Experimental-Psychologin betrachte, die an dem Gelingen ihres kühnen Versuches, das „alternirende Bewußtsein“ gerade an dem Monisten E. H. zu demonstrieren, gewiß Freude haben wird! (-Aber das arme „Versuchsthier“!) Ein dritter Trost endlich ist mein alter „Galgen-Humor“, der sich dann als Retter einzustellen pflegt, wenn „Alles schief geht.“ – Das Tollste ist aber, daß ich sogar fest an Träume glaube, an „Geschichten, die gar nicht passiert sind“! Der schönste dieser Träume – ein wahrhaft reizendes Zaubermährchen! – ist eine wunderbare „Wartburg-Fahrt“, die ich mir einbilde, am 17. Juli mit jener bestrickenden Hexe unter dem glücklichsten Stern gemacht zu haben. Das Alles kommt mir heute noch so leibhaftig vor, daß ich daran glauben könnte!!9

In einen Zusammenhang von mehrfach gestaffelten literarischen Bezügen (Paul Lindaus Stück, Schillers Ballade Das Mädchen aus der Fremde, die Circe der Odyssee, der „Gewissenswurm“ des alten Miller aus Kabale und Liebe, die Wartburg-Fahrt mit der bestrikkenden Hexe, die eine gemischte Reminiszenz an Tannhäuser und Walpurgisnacht des Faust darstellt) wird eine Passage aus dem populär-naturwissenschaftlichen Hauptwerk Ernst Haeckels gestellt, das er Frida in dieser Zeit gerade zu Lesen gegeben hat, nicht ganz ohne Sorge darüber, wie sie dessen grundsätzlich atheistische Tendenz aufnehmen wird. Das Phänomen des „alternierenden Bewußtseins“ wird in den Welträthseln, einem anthropologischen Gegenstück zu Humboldts Kosmos, als eine Art schizophrene, eigentlich aber eher hoffmanneske Doppelidentität beschrieben.10 Im Abschnitt „Pathologie des Bewußtseins“ heißt es: 9 Das ungelöste Welträtsel, Bd. I, S. 298f. 10 Das Stück von Paul Lindau, auf das Haeckel hier Bezug nimmt, ist eine Variation auf das Jekyll-und-Hyde-Thema, und eine Nähe, wenn er auch selbstverständlich von Haeckel selbst nicht hergestellt wird, zwischen E.T.A. Hoffmanns serapion-

5.1 Naturalistische Literaturliebe

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Die bedeutungsvolle Erkenntniß der modernen Physiologie, daß das Großhirn beim Menschen und den höheren Säugethieren das Organ des Geisteslebens und des Bewußtseins ist, wird einleuchtend bestätigt durch die Pathologie, durch die Kenntniß seiner Erkrankungen. [...] Alle diese und andere bekannte Thatsachen beweisen, daß das Bewußtsein beim Menschen – und genau ebenso bei den nächstverwandten Säugethieren – veränderlich ist, und daß seine Thätigkeit jederzeit abgeändert werden kann durch innere Ursachen (Stoffwechsel, Blutkreislauf) und äußere Ursachen (Verletzung des Gehirns, Reizung u s. w.). Sehr lehrreich sind auch die merkwürdigen Zustände des alternirenden oder doppelten Bewußtseins, welche an einen „Generationswechsel der Vorstellungen“ erinnern; derselbe Mensch zeigt an verschiedenen Tagen, unter veränderten Umständen ein ganz verschiedenes Bewußtsein; er weiß heute nicht mehr, was er gestern gethan hat; gestern konnte er sagen; Ich bin Ich; – heute muß er sagen; Ich bin ein Anderer. Solche Intermissionen des Bewußtseins können nicht bloß Tage, sondern Monate und Jahre dauern, sie können selbst bleibend werden.11

Der Anklang an Rimbauds „Je est un autre“ ist selbstverständlich Zufall und doch zeigt sich hier eine dem „de´re`glement des tous les sens“12 nicht ganz unähnliche passive Konzeption von Identität. Es geht um die physiologische Herleitung von Bewusstsein und Identität, Instanzen, oder besser Funktionen, die Haeckel auf Körperfunktionen zurückführt und damit ihrer metaphysischen Begründung beraubt. Es ist eine der Haeckel beschäftigenden Fragestellungen, an denen er sich immer wieder als „Entzauberer“ betätigt, an denen er durch eine organische die religiöse Erklärung außer Kraft zu setzen sucht. Was im Zusammenhang der Welträtsel aber zur Abwehr metaphysischer Erklärungen von Individualität und Bewusstsein dient, wird im Zusammenhang des Briefs ins Gegenteil umgedeutet, indem es unmittelbar mit der Beziehung zu dem „Mädchen aus der Fremde“, also Frida von Uslar-Gleichen, verknüpft wird. tischem Dualismus und Haeckels immer wieder alle Bekundungen des Monismus durchbrechendem stark antagonistischen Denken ist nicht so abwegig, wie es scheinen mag. Auch der scherzhaft eingestandene Determinismus, der zugleich – selbstverständlich ebenfalls scherzhaft – den Bereich der Träume in das Konzept des vorgeprägten „Zusammenhangs der Dinge“ einbezieht, hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem ins Phantastische überdehnten mechanistischen Weltbild der humoristischen Figur des Ludwig in E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Zusammenhang der Dinge. 11 Ernst Haeckel: Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie. Mit einer Einleitung von Iring Fetscher. Stuttgart (Kröner) 1984. S. 237. Vgl. auch Das ungelöste Welträtsel, Bd. I, S. 298. 12 Arthur Rimbaud: Lettre a` Georges Izambard (sog. „Seherbrief“), in: Sämtliche Dichtungen. Zweisprachige Ausgabe, übers. u. hg. v. Thomas Eichhorn, München (dtv) 1997, S. 366–369, hier: S. 368f.

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Der Konflikt zwischen zwei Identitäten, auf den hier angespielt wird, hat mit dem zu tun, was Haeckel viele Jahre zuvor auszukämpfen hatte, als er gerade am Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn und am Beginn seines Liebesverhältnisses zu seiner späteren, früh verstorbenen Frau Anna Sethe stand: der ihm unauflöslich erscheinende Widerspruch zwischen dem Bedürfnis nach Liebe und dem Interesse an der, ja dem Drang zur Wissenschaft. Einer seiner Lehrer hatte ihm gesagt, dass sich beides nicht verbinden ließe und ihm von zu früher Heirat abgeraten, und wie eine ide´e fixe zieht sich das Motiv dieses Dilemmas durch die Briefe an Anna – bis zu deren frühem Tod am 16. Februar 1864, der wie eine schicksalhafte Einlösung der Prophezeiung aufgefasst wird, wie ein Richtspruch der Wissenschaft.13 Die Kluft zwischen Wissenschaft und Liebe, Pflicht und Neigung – eine Grundkonstellation dualistischen Denkens – steht merkwürdig quer zu den monistischen Ansichten, die Haeckel in seinem Werk vertreten wird. Sie wird diesem Monismus bis zuletzt immer wieder in die Quere kommen. Nun tritt Frida von Uslar-Gleichen als Circe in sein Leben, die einerseits die drängende Arbeit unterbricht und damit schon wieder einen Störfaktor für die wissenschaftliche Tätigkeit bildet – die aber zugleich eine großartige „Experimental-Psychologin“ ist und den Wissenschaftler selbst zum Gegenstand von Forschungen macht. Gerade indem dieser, der bisher nur „strenger Jünger der Wissenschaft“ gewesen sein will, sich eine neue zweite Identität als an Träume glaubender Romantiker gibt, der zu ersterem in gespanntem, kontrastierendem Verhältnis steht, wird der alte Gegensatz zwischen Wissenschaft und Liebe scheinbar aufgelöst. Von der Wissenschaft zum im letzten Satz geäußerten Bekenntnis, an all dies „glauben“ zu können, geht die Entwicklung dieses Briefes, durch die in der Annahme einer neuen, von der Geliebten als Hexe und Experimentalwissenschaftlerin, Zauberin und Forscherin gestifteten Identität zugleich eine Welt und ein im Weltbild des Wissenschaftlers bisher unmöglicher Ausgleich gewonnen wird. Das „alternie13 Vgl. Brief an die Eltern vom 21. 3. 1864: „und nun kommt mir diese ganze glückliche Zwischenzeit, wo ich gelebt und geliebt habe, nur wie ein kurzer, schöner Traum vor, und ich versuche mich in die Zeit vor 1858 zurückzuversetzen, wo ich noch in der Wissenschaft alles Glück zu finden vermeinte.“ (Haeckel: Himmelhoch jauchzend . . . (a. a. O.), S. 318f.). Bereits hier kündigt sich Haeckels naturwissenschaftliche Weltanschauung, in der er sich auf Darwin beruft, als pessimistischer Gegenidealismus an, wie im Weiteren dieses Kapitels noch darzustellen sein wird.

5.1 Naturalistische Literaturliebe

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rende Bewusstsein“ ist ein Taschenspielertrick in Haeckels monistischem System, eine Umklappfunktion, die einen Ausweg aus dem Determinismus andeutet, der aber immer in die Gegenwelt der Träume, Projekte – oder der Briefe verweist, die insbesondere dem Wissenschaftler Haeckel im Laufe der Zeit nicht mehr genügen wird. Die Verlagerung der Liebe zu Frida auf einen zweiten Teil seiner Persönlichkeit, die Dopplung derselben und der unausgesetzte Widerspruch zum anderen Teil ihrer jeweiligen Persönlichkeit wird sowohl Haeckel als auch Uslar-Gleichen aufreiben. Beide sind nicht Romantiker genug, um im Märchen einen wirklich autarken, gleichwertigen Bereich zu sehen, der in Konkurrenz zur Realität treten kann. An ihrem Glauben an die Übermacht der Realität scheitert beider Beziehung (wenn auch nicht unbedingt beider Liebe). Das „Zaubermärchen“ von der Wartburg-Fahrt am 17. Juli – der bis zu diesem Zeitpunkt einzigen realen Begegnung, die es zwischen beiden gab – wird von ihm in den Briefen dieser Tage mehrfach zum Initiationsmoment dieser persönlichkeitsumkrempelnden Liebe stilisiert: [. . . ] der 17. Juli, unser „Wartburg-Tag“, erscheint mir geradezu wie ein Mährchen! Wenn ich denke, wie spröde ich mich sonst gegen hunderte von Annäherungs-Versuchen anderer Menschen verhalte, wie kurz ich meist die Briefe abfertige, wie geizig ich mit einer Zeile bin! – dann erscheint mir der Eindruck, den erst I I/2 Jahre lang Ihre eigenartigen Briefe auf mich gemacht haben – und dann die „bezaubernde“ Erscheinung Ihrer l. Person – einfach beispiellos! Nur durch die Gewalt der innigsten Sympathie war es möglich, daß ich Ihnen ein hingebendes Vertrauen schenkte, wie es bisher nur meine nächsten u. liebsten Angehörigen besaßen!14

Es scheint, als sei ein Ausgleich gegenüber dem Dilemma der Liebe zu Anna gefunden: „Himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt“ war die Devise der Liebe zu Anna Sethe gewesen, die die entscheidenden Jahre der wissenschaftlichen Weichenstellung, den Weg zu Darwin, begleitet hatte.

14 Brief vom 19. September 1899, in: Das ungelöste Welträtsel, Bd. I, S. 289.

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5.2 Der Dualismus Liebe/Wissenschaft und der Weg zu Darwin Liebe wird in den Briefen an Anna Sethe immer in Konkurrenz zur wissenschaftlichen Arbeit abgehandelt. Schon im ersten Brief hatte Haeckel diesen Konflikt thematisiert, der sich von da an bis zuletzt durch seine Briefe an die Cousine zieht: Weiterhin dachte ich auch über den Dualismus der beiden Naturen im Menschen nach und verhalf dem „lieben Menschen“, d. h. dem Gemütsmenschen mit seiner warmen Seele voll Liebe, Hingabe, Gefühl und Poesie, zu seinem Rechte gegenüber dem „Naturforscher“, dem Verstandesmenschen voll Sinn für Wissenschaft und Erkenntnis, der bisher allein hatte herrschen wollen. Freilich kam’s dabei zuletzt so auf eine Art „doppelte Buchführung“ hinaus (analog der berüchtigten R. Wagnerschen); indes weiß ich mir vorläufig doch nicht anders zu helfen, als daß ich beide entgegengesetzte Naturen nebeneinander bestehen lasse. Sie müssen sehen, wie sie sich vertragen und auskommen. Nur wünsche ich nicht, daß der „liebe Mensch“ durch Deine mächtige Unterstützung zur absoluten Herrschaft gelangt. Je mehr ich aber auch dieser, von der Wissenschaft nicht anerkannten Seite menschlichen Geisteslebens ihr Recht ließ, je mehr mir Dein liebes Bild den nackten Mechanismus der Lebensmaschine mit der blühenden Farbenpracht des selbstbewußten Geistes überkleidete, desto wohler und herzlicher wurde mir zumute.15

Haeckel, der spätere Vertreter und recht häufig auch entschiedene Polemiker eines biologischen Monismus, der Gründer des Monistenbundes, zeigt sich hier befangen in einer dualistischen Anschauung der menschlichen Natur, die ihn fast zu zerreißen droht. Gefühl und Kalkül, Emotion und „nackter Mechanismus“ stehen einander unvereinbar gegenüber. Diese Unvereinbarkeit zu überwinden, wird das Ziel seiner späteren Forschungen sein. Jenseits von Idealismus und Materialismus soll eine Welteinheit bewiesen werden, deren Grundlagen – Haeckels neuester Biograph Robert J. Richards hat darauf hingewiesen – in Goethes und Spinozas Pantheismus zu finden sind.16 In einem der zahlreichen Manifeste für seine Philosophie einer materialistischen Einheit der Welt formuliert er diesen Monis15 An Anna Sethe am 23. 5. 1858, in Ernst Haeckel: Himmelhoch jauchzend . . . Erinnerungen und Briefe der Liebe. Hg. u. eingeleitet von Heinrich Schmidt. Dresden (Reissner) 1927, S. 14f. 16 Robert J. Richards: The Tragic Sense of Life. Ernst Haeckel and the Struggle over Evolutionary Thought. Chicago, London (University of Chicago Press) 2008, bes. S. 124–128 u. 456–461. Vgl. auch ders.: The Romantic Conception of Life: Science and Philosophy in the Age of Goethe. Chicago (University of Chicago Press) 2002.

5.2 Der Dualismus Liebe/Wissenschaft und der Weg zu Darwin

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mus ausdrücklich als Überwindung der Spaltung der Welt in Geist und Materie: Nach der [. . .] Auffassung der herrschenden dualistischen Schulphilosophie ist die Seele des Menschen ein übernatürliches Wesen, das den sterblichen Körper nur zeitweise bewohnt und ihn beim Tode verlässt. Dieser Mythus ist durch die modernen Fortschritte der vergleichenden Physiologie, der empirischen Psychiatrie und der phyletischen Psychologie unhaltbar geworden. Das ganze gewaltige Dogmengebäude der Metaphysik, die dualistischen Lehren von den zwei getrennten Welten, von einer realen Körperwelt und einer realen Geisterwelt, sind jetzt hinfällig geworden. Sie sind ebenso wie die Irrlehren des Spiritismus und Okkultismus, ebenso wie die Mythen und Wundergeschichten der Theologie, aus dem Reiche der rationellen Wissenschaft entfernt und in das uferlose Gebiet der Dichtung verwiesen worden.17

Fatalerweise gelingt es Haeckel aber auch als Kämpfer für den Monismus nicht, sich von grundsätzlich dualistischen Denkmustern zu lösen. Die Gegensätze, an denen das neunzehnte Jahrhundert festhält – Ich und Welt, Innen und Außen, Freiheit und Schicksal, Glück und Verzicht – bestimmen auch ihn, bestimmen auch noch die Liebe zu Frida von Uslar-Gleichen, die sich als große Synthese anzulassen scheint, einen Moment lang die Utopie einer Überwindung der Gegensätze verheißt und dann doch an der Unvereinbarkeit von Widersprüchen scheitert, die zunächst andere zu sein scheinen als die von Wissenschaft und Liebe – sich wie diese aber in Haeckels Denken von derselben Aufspaltung in „Ideal“ und „Wirklichkeit“ herleiten. Bezeichnenderweise werden Haeckel wie auch von Uslar-Gleichen selbst ihr Verhältnis immer wieder dem Bereich des „Märchens“ und des „Zaubers“ zuordnen – genau jenem Gebiet also, das in obigem Zitat aus dem Bereich der „rationellen Wissenschaft“ verbannt wird. Zunächst wird aber für den jungen Haeckel im Verhältnis zu seiner Verlobten Anna Sethe die dualistische Anschauung noch bestätigt und verstärkt durch die meisten von Haeckels Lehrern, die ihm davon abraten, sich vor der Beendigung seiner Ausbildung auf die Liebe einzulassen. So wird der Versuch einer „doppelten Buch17 Ernst Haeckel: Die Grenzen der Naturwissenschaft, in: Das monistische Jahrhundert. Wochenschrift. Hg. v. Wilhelm Ostwald, Heft 30, Leipzig 1913, S. 834, zit. nach: Volker Mueller: Philosophischer Monismus und Naturwissenschaften. Zu Entwicklungen monistischer Weltanschauungen in Deutschland, in: Darwin, Haeckel und die Folgen. Monismus in Vergangenheit und Gegenwart. Hg. v. Arnher E. Lenz und Volker Mueller. Neustadt am Rübenberge (Angelika Lenz) 2006, S. 33–46, hier: S. 34.

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führung“ für Ernst Haeckel zum fatalen Widerspruch, den aufzulösen ihm während der gesamten Beziehung zu Anna Sethe nicht gelingen will. Hin- und hergerissen zwischen den zwei Polen „Verstand“ und „Gefühl“ scheint es eine Möglichkeit der Vermittlung für Haeckel nicht zu geben. Die Gegensätze sind unversöhnliche Aggregatzustände des Seins. Die düstere, hoffnungslose, kalte Welt der Forschung – und dieser gegenüber die lichte Welt der Liebe: Du wußtest schon lange, was mir jetzt erst klar geworden ist und mit jedem Tage klarer wird. Ich wollte die Liebe leugnen, mir selbst nicht gestehen, von der ich doch schon lange beherrscht war; ich wollte mit dem Verstande begreifen und als nichtig hinstellen, was nur durch die Tiefe des Gemüts erfaßt werden kann. Wenn ich noch einmal ganz wieder aus der Nacht des naturalistischen Materialismus, in die mich mein naturforschendes Streben, das nur durch sinnliche, empirische Anschauung die Wahrheit erfassen wollte, hinabgeführt hat, wenn ich aus diesem düstern, hoffnungslosen Verstandesreich je noch einmal zum Licht der Hoffnung und des Glaubens, der mir jetzt noch ein Rätsel ist, hindurchdringe, dann ist es nur durch Deine Liebe, meine beste, einzige Anna! Oh, was hast Du mir schon jetzt dadurch für ein neues, reiches Leben erschlossen. Die Liebe, die ich so lange verachtet, verstoßen, verbannt, geleugnet hatte, wie selig macht sie mich.18

Auffällig ist die durchgehend negative Konnotation des „naturwissenschaftlichen Materialismus“ und des „nackten Mechanismus der Lebensmaschine“ in diesen frühen Briefen, ein gängiges Bild des zeitgenössischen Diskurses, dem selbst die Apologeten des naturwissenschaftlichen Positivismus selten entgehen. Die Naturalisierung der Seele wird auch von ihren Predigern als negativer Schritt empfunden, als Desillusionierung, als Preisgabe eines schönen Trostes. Zwischen Liebe und Wissenschaft gibt es für Haeckel einen unauflösbaren Widerspruch, den er einerseits im Konzept seines biologischen Monismus aufzuheben versucht, der andererseits in Gestalt eines strafenden Schicksals immer wieder zuschlagen wird, wenn er sich der Liebe zu überlassen droht. Michel Foucault hat die heimliche Eschatologie, die der positivistischen Weltanschauung zugrunde liegt, in der Ordnung der Dinge aufgezeigt und wie sich daraus die paradoxe, dualistische Spannung einer Empirie ergibt, die immer zugleich auch transzendental sein muss, das Subjekt, das immer zugleich Individuum und Typus ist.19 Mit der biogenetischen Grundregel „Die Ontogenese rekapi18 Ebd. am 24. 8. 1858, S. 58. 19 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge (a. a. O.), S. 387–389.

5.2 Der Dualismus Liebe/Wissenschaft und der Weg zu Darwin

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tuliert die Phylogenese“, die er 1866 aufstellen wird, stellt sich Haeckel geradezu als Prototyp dieses von Foucault für die Moderne diagnostizierten Dilemmas auf. Gerade aber die biogenetische Grundregel (eine Übertragung der Goetheschen Morphologie auf die Evolution, wie Robert J. Richards aufgezeigt hat20) steht quer zur Möglichkeit eines Monismus, der wirklich monosubstanziell, also jenseits einer Dialektik von Innen und Außen gedacht wäre: Das „Allgemeine“ wuchert sich zum Schicksal aus, dem das Individuelle in tragischer Gespanntheit gegenüber steht. Der naturalistische Aufbruch steht unter dem Vorzeichen des Tragischen – bei Ernst Haeckel wie bei Gerhart Hauptmann. Dass Haeckel selbst dazu tendiert, den Ereignissen in seinem Leben die Struktur einer tragischen Entwicklung zu unterlegen, zeigt sich in seinem Umgang mit dem Tod Anna Sethes, die bald nach der Hochzeit stirbt. Seine Italienfahrt, die Haeckel kurz nach der Verlobung unternimmt, führt er bezeichnenderweise ohne Anna durch. Dafür wird die Reise begleitet und ausgeschmückt mit Briefen an Anna und die Familie, in denen die anfängliche Frustration wegen der Unergiebigkeit seiner Forschungen in Neapel, die Krise, die sich in Erwägungen äußert, vielleicht doch lieber zur Landschaftsmalerei überzugehen, ebenso ausführlich geschildert, wie die Arbeitswut nach seinem Umzug nach Messina, wo er eine Fülle von Material und seinen eigentlichen Forschungsgegenstand entdeckt, die Quallen und Radiolarien, die maritimen Kleinstlebewesen – beabsichtigt oder nicht, scheint in dem Auffinden des „Schlüssels“ in Sizilien das Modell der Goetheschen Italienreise auf.21 Kaum erscheint die Arbeit wieder sinnvoll, tritt der Gewissenskonflikt zwischen Liebe und Wissenschaft erneut hervor: Der Tag verschwindet bei der steten, ununterbrochenen und höchst interessanten Arbeit so schnell, daß ich mich immer höchlichst wundere, wenn mich mein Stubennachbar um 5 Uhr zum Essen ruft. Aber mit den Abenden ist es anders! Da tritt das Gemüt, das den Tag über bei der Verstandesbeschäftigung still geschwiegen und sich ganz geduckt hat, in sein volles Recht. Und auf diesem vollen Rechte besteht das eigensinnige 20 Robert J. Richards: A Brief History of Morphology, in: The Tragic Sense of Life (a. a. O.), S. 455–487, bes. 456–461. Siehe auch ders.: Die tragische Seite Ernst Haeckels: Sein wissenschaftliches und künstlerisches Ringen, in: Darwin. Kunst und die Suche nach den Ursprüngen. Hg. v. Pamela Kort und Max Hollein. Kat. Ausst. Schirn Kunsthalle. Frankfurt am Main. Köln (Wienand) 2009, S. 92–102. 21 Vgl. Goethe: Italienische Reise (MA 15, S. 313) am 13. 4. 1787 aus Palermo: „Italien ohne Sicilien macht gar kein Bild in der Seele: hier ist erst der Schlüssel zu Allem.“

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Ding so fest, daß es sich auch nicht ein Härchen davon abtrotzen läßt! Umsonst predigt allabandlich der Verstand: „Sieh, diese schöne Arbeitszeit von 6–12 Uhr, das sind sechs ganze Stunden; was kann man da alles leisten!“ Da kommt aber immer und ewig wieder das dumme Herz gelaufen und schwatzt mir von meiner Herzallerliebsten und von den Lieben allen im trauten deutschen Norden so viel vor, daß der Verstand gar nicht zu Wort kommt [ .. . ], und dann nehme ich wieder die alten Briefe vor und lasse die lieben Gedanken so innig auf mich wirken – so sind mir schon viele Abende vergangen, ohne daß ich zu der beabsichtigten Arbeit gekommen wäre; das muß aber jetzt anders werden, und ich werde mich ernstlich zusammennehmen, der unbändigen Phantasie, die jetzt den Südsturm nach Norden begleitet, die Flügel zu binden und die schöne Zeit, die mir diese langen Winterabende bieten, ordentlich zu reicher, befriedigender Arbeit zu verwenden.22

5.3 Entsagung als Resignation Anna Sethes früher Tod erscheint entsprechend dann wie eine Strafe des Schicksals, das den Abfall von der reinen Wissenschaft ahndet und ihn ermahnt, endlich erwachsen zu werden. Wie viele seiner Zeitgenossen, meint Haeckel „Entsagung“ lernen und sich jetzt ganz der Arbeit widmen zu müssen. anders als das Entsagungskonzept Adalbert Stifters ist aber seines keines der Menschenliebe sondern eines des Rückzugs und der Weltverneinung: und weil ja in der Regel das Unglück den Menschen weit mehr bildet als das Glück, so bin auch ich in diesen zwei Jahren, unter dem beständigen Druck des schwersten Unglücks, in ungewöhnlichem Maße gebildet und gebessert worden. Aus dem unreifen, verwöhnten und weichen Jüngling ist in dieser ungewöhnlich harten Zeit ein reifer, selbständiger und fester Mann geworden, und ich habe in hohem Maße gelernt, was ich früher nie kannte: mich beherrschen. Während ich früher immer geneigt war, das Leben mit allzu idealen Augen anzusehen, und während meine Phantasie meistens das Übergewicht über meinen Verstand hatte, hat sich nun das richtige Gleichgewicht hergestellt, und in richtiger Wertschätzung der realen Lebensverhältnisse verfolge ich nun mit festem Auge das hohe Lebensziel, welches mir in meiner geliebten Wissenschaft so klar vor Augen gestellt ist, und zu dessen Erreichung eine eigentümliche Vereinigung bestimmter Fähigkeiten und Talente mich besonders tauglich macht. [...] und die Notwendigkeit der Entsagung, welche ich damals nicht tragen zu können glaubte, ist mir jetzt durch fortgesetzte Willens-Uebung zur anderen Natur geworden.23

22 Messina, 26. 11. 1859, in: Ernst Haeckel: Italienfahrt. Briefe an die Braut 1859/1860. Leipzig (Koehler) 1921, S. 131. 23 Brief an die Eltern vom 17. 2. 1866, in: Himmelhoch jauchzend, S. 329f.

5.3 Entsagung als Resignation

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Und bereits zwei Jahre vorher, kurz nach Annas Tod, schreibt er an die Eltern: Wie seltsam es geht. Meine Lage ist jetzt gerade so, wie ich sie mir als Ideal immer vorstellte, ehe ich das Glück der Liebe und die Freude des Ineinanderlebens der Gemüter kannte, wie es nur die Ehe gibt. Damals strebte ich nur immer danach, in einer freien Stellung, wie meine jetzige ist, lediglich der Wissenschaft zu leben und für sie tätig sein zu können. Dieser Wunsch ist nun erfüllt, nachdem ich das ungleich höhere Glück in seiner edelsten Form kennengelernt habe, welches das Gemütsleben der Liebe gewährt. Dieses Bessere ist mir genommen und das Gute ist mir geblieben. So werde ich mich denn an dieses halten und es ausnützen, so gut es geht. Die Freude an der wissenschaftlichen Tätigkeit und das Bewußtsein, hier noch Tüchtiges leisten und den Fortschritt der Erkenntnis fördern zu können, muß mein Trost und mein Lohn sein.24

Schon kurz nach dem Tod Annas soll diesem ein moralischer, biographischer Sinn verliehen werden. Er wird umstilisiert zum Ordnungsruf an sich selbst, zum Ausschlagen des Pendels in die Richtung der Arbeit. So wird die ursprüngliche Dichotomie von Liebe und Arbeit nicht aufgelöst, sondern erst recht bestätigt. Bereits in diesem Brief an die Eltern verkündet Haeckel ein Bekenntnis zur Lehre Darwins, das in der Formulierung merkwürdig negativ ist und den Entwicklungsgedanken weniger als eine Bejahung der Vielfalt der Lebewesen denn als einen düster-pessimistischen Anti-Idealismus erscheinen lässt: Deine Lebensanschauungen teile ich im wesentlichen, lieber Vater, nur daß ich das menschliche Leben und die Menschen selbst noch weit geringer schätze als Du, und mein entsetzliches Schicksal hat mich in dieser Verachtung des Lebens nur noch bestärkt. [Hieraus folgert er] daß aus einem so verfehlten und widerspruchsvollen Geschöpf, wie der Mensch, eine persönliche Fortentwicklung nach dem Tode nicht wahrscheinlich ist, wohl aber eine Fortentwicklung des Geschlechts im großen und ganzen, wie das schon aus der Darwinschen Theorie zu folgern ist. Das Individuum mit seiner kurzen persönlichen Existenz erscheint mir aber nur als ein vorübergehendes Glied in dieser großen Kette, als ein rasch vergängliches Nebelbild [. . .]25

Der resignative Rückzug in die Arbeit geht einher mit wiederholten Bekenntnissen zur „Realität“, die aber nur negativ aufgefasst ist. Auch in einer viel später, 1874, verfassten biographischen Skizze, die die teleologische Sinnstiftung in Bezug auf Anna Sethes Tod wiederholt und bestätigt, sieht er seine endgültige Abkehr von der 24 Brief an die Eltern vom 13. 2. 1864, in: Ebd., S. 325. 25 Ebd., S. 332f.

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Religion, hin zur „radikalsten Realphilosophie“26 und seine Entdekkung der Theorie Charles Darwins27 in engem Zusammenhang mit diesem Triumph der wissenschaftlichen Arbeit über die Liebe: Erst als ich nach vollendetem Universitätsstudium in das Leben hinaustrat, und besonders in meinem sechsundzwanzigsten Lebensjahre, während der fünfzehn Monate meiner Reise durch Italien und Sizilien, als ich so viele mir bis dahin unbekannte Seiten des realen Menschenlebens kennen, bedauern und verachten lernte, erst da wurde meine ideale Lebensanschauung vielfach zerstört, und es stiegen ernstliche Zweifel an den tiefsten Glaubenswahrheiten in meinem Innern auf. Als ich nun aber nach meiner Rückkehr aus Italien 1860 mit Darwins Werk bekannt wurde, als ich hier die Lösung der schwierigsten philosophischen Probleme auf dem mechanischen oder monistischen Wege angebahnt sah, da begann sich in mir eine Einheit der Weltanschauung vorzubereiten, vor welcher nur wenige der altgewohnten, liebgewordenen Glaubensartikel mehr bestehen konnten.28

Interessanterweise ist diese „Bekehrung“ also eine negative, ein Resultat der Enttäuschung: nicht als Rückkehr zum Leben, zu den Menschen vollzieht sie sich, sondern nur als Verlust aller Ideale, als Erkenntnis der Wertlosigkeit des Menschenlebens und einer daraus resultierenden Verachtung. Dabei hatte die erste Begegnung mit Darwins Entstehung der Arten im Herbst 1860 unter weit positiveren und enthusiastischeren Auspizien gestanden: In Messina hatte er endlich zu seinem eigentlichen Forschungsgegenstand, den Radiolarien gefunden. Zurückgekehrt, schrieb er in einem gewaltigen Schaffensschub nicht nur seine Habilitationsschrift sondern auch sein zweibändiges Radiolarien-Werk, zu dem er zahlreiche Farbtafeln anfertigte, die in ihrer Pracht und Genauigkeit schon vieles von den Kunstformen der Natur vorwegnehmen, dem Musterbuch einer ästhetischen Naturwissenschaft, mit dem Haeckel dem Jugendstil wichtige Impulse geben wird. Gleichzeitig mit dieser Arbeit, wie er am 8. November 1861 an Anna schreibt, ist er „in Darwin vertieft“29. Wie sehr er in Darwins These, dass Arten nicht in ihrer definitiven Form geschaffen sind, sondern sich entwickeln, Übergangsformen bilden, Metamorphosen durchmachen, seine eigenen Beobachtungen bestätigt findet, die ihm zahlreiche Zwischenstadien bei den Radiolarien gezeigt haben, erweist sich in einer enthusiasti26 27 28 29

Aus einer autobiographischen Skizze vom Jahre 1874, in: Ebd. S. 332. Ebd., S. 333. Ebd., S. 332f. Ebd., S. 250.

5.3 Entsagung als Resignation

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schen Fußnote im Radiolarien-Werk, die eine große Huldigung an Darwin ist.30 Richards zeigt plausibel auf, dass Haeckels enorme Bereitwilligkeit zur Aufnahme der Darwinschen These ihren Grund nicht allein in seinen Beobachtungen an den Radiolarien gehabt habe, sondern auch in Haeckels Vertrautheit mit der Goetheschen Morphologie, die laut Richards eine Evolutionstheorie avant la lettre ist.31 Darüber hinaus steht auch Haeckel ganz offensichtlich in der für die deutsche Darwin-Rezeption folgenreichen Tradition einer Darwin-Lektüre durch die Brille des Schopenhauerschen Pessimismus, auf die bereits Peter Sprengel hingewiesen hat.32 Dass Haeckel Darwins Theorie dreizehn Jahre später dann trotz aller sogar noch gewachsenen Zustimmung in den düsteren Farben des Nihilismus malt, hängt nicht allein mit dem Schmerz um die 1864 verstorbene Anna Sethe zusammen. Die Schilderung der Bekanntschaft mit Darwin als pessimistisches Damaskus ist nicht nur eine individuelle Konstellation Haeckels: Pessimismus (mit oder ohne Schopenhauer) und Darwinismus gehen vielfach in der deutschen Rezeption eine enge Verbindung ein (vgl. beispielsweise Leopold von Sacher-Masoch, Max Nordau oder auch Gerhart Hauptmann)33 und gerade Haeckel, obwohl er Schopenhauers Verzichtslehre ab30 Ernst Haeckel: Die Radiolarien (Rhizopoda radiaria) eine Monographie ; mit einem Atlas von fünfunddreissig Kupfertafeln. Berlin (Reimer) 1862–1888, Bd. I (1862), S. 231. Vgl. Richards: The Tragic Sense of Life (s. folgende Fußnote), S. 71f. 31 Robert J. Richards: The Tragic Sense of Life. Ernst Haeckel and the Struggle over Evolutionary Thought. Chicago and London (Chicago University Press) 2008, S. 70f. Zu Goethes Evolutionstheorie: ders: Romantic Conception of Life: Science and Philosophy in the Age of Goethe. Chicago (Univ. of Chicago Press) 2002, S. 476–86. 32 Peter Sprengel: Darwin in der Poesie. Spuren der Evolutionstheorie in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Würzburg (Königshausen und Neumann) 1998, S. 51: „Man brauchte also gar nicht Darwin zu kennen, um die lebhafteste Anschauung vom ,Kampf ums Dasein‘ zu haben. [ . . . ] Darwin wie Schopenhauer konstatieren das Walten eines gnadenlosen Konkurrenzkampfs in der Natur, letzterer sieht in der Bestimmung dazu eine natürlich Anlage des Menschen. Indem er somit selbst ausdrücklich den Übergang vom Tierreich auf die menschliche Existenz herstellt, ist Schopenhauer – wiederum von der Bewertung her abgesehen – den Vertretern des Sozialdarwinismus in methodischer Hinsicht näher als Darwin selbst, dem es ja nur um die Erklärung für die Entstehung der Arten ging. [. . . ] Das Wirkungspotential der (biologisch gebildeten) Naturphilosophie übersteigt somit in gewisser Weise dasjenige der eigentlichen Naturwissenschaft.“ Und das gilt – soviel lässt sich hinzufügen – frappierenderweise auch für den Naturwissenschaftler Ernst Haeckel. 33 Monika Fick bemerkt, dass auch Hugo von Hofmannsthal Haeckel und Schopenhauer „in einem Atemzug“ nennt (Fick: Sinnenwelt und Weltseele, (a. a. O.), S. 347f.)

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lehnt, verfällt immer wieder in Positionen, die eigentlich nihilistischer oder pessimistischer Provenienz sind.34 Ein Widerspruch, den Haeckel nicht auflösen kann: er will Monist sein und kann den Realismus, die Lehre von der Einheit der Materie doch nur als Negation des Ideals denken. Statt das Leben zu feiern, verfällt er immer wieder in die Klage über die Eitelkeit der Welt. Er hat letzten Endes keinen positiven Begriff von Realität. Wo die Welt unmittelbar erfahrene Fülle, bunte Naturschönheit ist, da fällt sie für ihn in das Gebiet der Kunst, eine schöne Inkommensurabilität, der nur der Künstler, der das Recht zur Subjektivität hat, sich hingeben darf. Wo sie verstehbar und geordnet erscheint, da ist sie für Haeckel aber immer auch gleich nur toter Mechanismus.

5.4 Die Liebe nach Darwin – Frida von Uslar-Gleichen Die Liebe zu Frida von Uslar-Gleichen, der Liebesbriefwechsel mit ihr, wird unter dem Zeichen eines solchen pessimistischen Darwinismus stehen. Zunächst aber scheint es, als würde sich der Gegensatz von Liebe und Wissenschaft in Frida von Uslar-Gleichen versöhnen lassen, denn hier ist es gerade die Wissenschaft, über die die Annäherung sich vollzieht. Frida von Uslar-Gleichen hatte sich nach ihrer Lektüre von Haeckels Natürlicher Schöpfungsgeschichte mit der Bitte um Empfehlungen für weitere Studien im Frühjahr 1898 an den Verfasser gewendet, woraus schnell ein reger Briefwechsel entstanden war. Als anderthalb Jahre später die erste Begegnung in Jena stattfindet, ist sofort klar, dass beide sich füreinander bestimmt halten und dass diese Liebe zugleich unerfüllbar ist, da Haeckel mittlerweile wieder verheiratet ist und von Uslar-Gleichen von einer streng protestantischen Mutter überwacht wird, die den Atheisten Haeckel niemals als Partner ihrer Tochter dulden würde. Die folgenden Jahre sind von dem verzweifelten Kampf bestimmt, den früheren Zustand einer intellektuellen Freundschaft im wissenschaftlichen und weltan34 Vgl. hierzu auch Richards: The Tragic Sense of Life, S. 13–16 und 453/54. Richards bezieht sich in seiner Diagnose nicht auf Schopenhauer sondern auf ein Buch des spanischen Autors Miguel de Unamuno: Del sentimiento tra´gico de la vida (1913), der aber selbst wiederum in seiner Zeitdiagnose des unauflösbaren Widerspruchs zwischen wissenschaftlichem Positivismus und Idealismus ganz schopenhauerisch denkt.

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schaulichen Austausch wieder herzustellen. Das zunehmende Bewusstsein der Aussichtslosigkeit und Hoffnungslosigkeit dieser Liebe wird Frida von Uslar-Gleichen schließlich am 13. Dezember 1903 in den Selbstmord treiben. Gerade in dem zu Beginn dieses Kapitels zitierten Briefauszug zeigt sich der melancholisch-depressive Grundton dieses Briefwechsels. Eine düstere Schicksalsgläubigkeit und -ergebenheit, die dem Rekurs auf Naturwissenschaft und Biologie nicht entgegensteht, sondern durch deren Erkenntnisse immer nur wieder bestätigt zu werden scheint und die einmal mehr den nihilistischen Kern dieses Monismus offenbart. Was den heutigen Leser hier am meisten frappieren mag, ist die Anspielung auf Hauptmanns Einsame Menschen. Ist doch dieses neun Jahre vor der brieflichen Erwähnung uraufgeführte Stück selbst auch eine indirekte Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der naturwissenschaftlichen Weltsicht auf den Zusammenhalt der bürgerlichen Familie. Im Zimmer des jungen Biologen Johannes Vockerat, des tragischen Protagonisten, hängen die Porträts von Darwin und Ernst Haeckel – und der Konflikt, in dem er sich befindet, nimmt in der Konstellation geradezu das Problem der Beziehung zu Frida von Uslar-Gleichen vorweg. Haeckel hat eine außerordentliche Spürnase im Auffinden solcher Literatur, in der er die eigene Situation wiederfindet. Auch Frida von Uslar-Gleichen verwendet häufig literarische Anspielungen oder Buchempfehlungen, um ihre Ansichten verschlüsselt weiterzugeben oder bestimmte Aspekte ihrer gegenseitigen Beziehung zu diskutieren. Anders als sein radikaler Freund Braun versucht Johannes Vokkerat in Einsame Menschen den Spagat zwischen Atheismus und dem Glauben und den Wertvorstellungen der anderen, namentlich seiner Mutter und seiner Frau Käthe. Die so gehaltene prekäre Balance wird gestört durch zwei Gäste, den genannten Freund Braun, der Johannes immer wieder Halbherzigkeit und Feigheit vorwirft, und Fräulein Anna, eine zu den ersten studierenden Frauen gehörende Kollegin, mit der ihn Weltanschauung und Ideale verbinden und die zu lieben er sich mehr und mehr eingestehen muss. Tatsächlich muss Haeckel dieses Drama, das im Jahr der Uraufführung 1891 bei Fischer im Druck erschien und 1898 bereits in der zehnten Auflage vorlag, wie eine Präfiguration seiner eigenen familiären wie gesellschaftlichen Stellung zu dieser Zeit erschienen sein.

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Seit 1867, drei Jahre nach dem Tod Anna Sethes, wieder verheiratet mit der Professorentochter Agnes Huschke, ist seine Ehe geprägt von den gegensätzlichen Temperamenten der zur Depression neigenden Agnes, die ihn in seinen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen kritisiert, wenn er sich auf Polemiken über Wissenschaft und Religion einlässt, und dem sanguinischen, zu „Temperamentssprüngen“35 neigenden Ernst, der in all diesen Jahren weiterhin auf die idealisierte Anna Sethe fixiert bleibt. In der Tat ist die Anspielung auf Hauptmanns Stück mehr als nur ein beliebig herangezogener Vergleich, und auf merkwürdige Weise ist hier das Verhältnis zwischen der Weltanschauung des Naturwissenschaftlers und deren literarischer Behandlung im Drama ein wechselseitiges. Der naturwissenschaftliche Monismus ist Thema des Stücks, wird vom zentralen Paar Vockerat und Anna Mahr vertreten und ist Ausgangspunkt des dramatischen Konflikts zwischen Letzterem und seiner Familie. Ernst Haeckel, der in Einsame Menschen namentlich genannt wird als Autorität dieser Weltanschauung, beruft sich wiederum als Leser und Liebesbriefschreiber auf dieses Stück als Gegenstand eigener Identifikation. Das wäre nicht mehr als ein Aperc¸u, würde sich in der Parallele Haeckel/Uslar zu Johannes/Anna nicht einiges zeigen, was im Falle ersteren Verhältnisses zunächst unklar erscheint (und auch in neuesten biographischen Darstellungen unklar bleibt). Zufall oder nicht, Hauptmanns Johannes hat mit Haeckel vieles gemeinsam, vor allem den Wunsch nach einem Ausgleich. Wie Johannes und Anna werden Haeckel und Uslar-Gleichen versuchen, eine geistige Liebe zu leben, in der Entfernung einander zu entsagen und doch im Bewusstsein der Wechselseitigkeit dieses Zustandes einander nahe zu sein – ein weiteres Projekt einer Distanz- oder Fernliebe, an denen das 19. Jahrhundert, wie sich gezeigt hat, reich ist. Doch Johannes’ Unfähigkeit, diese zu verwirklichen, führt bei Hauptmann in die Katastrophe. Mir ist alles entwertet, beschmutzt, besudelt, entheiligt, in den Kot gezogen. Aber ich fühle, daß ich etwas war, durch Sie, Ihre Gegenwart, Ihre Worte – und wenn ich das nicht wieder sein kann, dann – dann kann mir auch alles andre nichts mehr nutzen. Dann mach ich einen Strich unter die Rechnung und – schließe – ab. [. . .] Geben Sie mir einen Anhalt. Geben Sie mir etwas, woran ich mich aufrichten kann.36 35 Konrad Huschke: Einführung zu Ernst und Agnes Haeckel. Ein Briefwechsel. Jena (Urania) 1950, S. 12.

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Frappierend ähnlich sind Äußerungen, die Ernst Haeckel immer wieder in den Briefen an Uslar-Gleichen macht: Wenn ich an all‘ die kleine Misere des täglichen häuslichen Lebens denke, an das werthlose Gekram von Kleinigkeiten, mit dem die armen Menschen ihre Zeit vergeuden, an die jämmerlichen Angriffe, mit denen meine vielen Gegner täglich die besten Arbeiten meines Lebens in den Staub ziehen, – dann steigt tröstend u. ermuthigend Deine herrliche Gestalt vor mir auf, – in Wirklichkeit: „Ein Wesen höherer Art“ u. hebt mich in reinere, edlere Höhen empor! „Das ewig Weibliche zieht uns hinan!“37

Als schwacher Liebhaber, der, um sich aus der Resignation zu erheben, immer wieder der starken, hohen Geliebten bedarf, inszeniert sich Haeckel durchwegs in diesem Briefwechsel und folgt darin dem Muster des Johannes Vockerat erstaunlich genau. Die Klage über die häusliche Misere und die zitierte Anrufung des EwigWeiblichen aus der Bergschluchten-Szene des Faust II zeugen aus dem Munde eines erklärten Anti-Idealisten für eine gewisse Inkonsequenz des Denkens und verdeutlichen die Problematik des heimlichen Dualismus im Haeckelschen Monismus erneut. Eine Problematik, die sich auch in der Auseinandersetzung um die letzte Tafel der Kunstformen zwischen Uslar-Gleichen und Haeckel wiederholen wird, auf die ich später noch eingehen werde. Haeckels larmoyante Briefpassage erscheint erneut (wie bereits im Falle der Todesvisionen in den Briefen Bismarcks) als Ausdruck einer für das Jahrhundert typischen Sakralisierung des Weiblichen und weiblicher Schönheit, wie sie von Elisabeth Bronfen diagnostiziert wurde: Die Schönheit der Frau und die Schönheit des Bildes vermitteln beide die Illusion von Intaktheit und Einheit; sie verdecken unerträgliche Zeichen des Mangels, der Defizienz und Vergänglichkeit, und verheißen dem Betrachter das Unmögliche – eine Tilgung der allgegenwärtigen „kastrativen“ Bedrohung des Subjekts durch den Tod. [hierzu Bronfens Fußnote: „Wenn nicht anders spezifiziert, benutze ich das Wort ,kastrativ‘ im allgemeinen, nicht im geschlechtsspezifischen Sinne, um einen Entzug von Vitalität, das Zerstückeln einer Einheit, eine machtbeschränkende Trennung, einen Verlust zu kennzeichnen. ( .. .)] Schönheit umfaßt aber auch immer die Einschrift des Todes, denn sie erfordert die Umwandlung (ob in der Phantasie oder Wirklichkeit) eines unvollkommenen belebten Körpers in ein vollkommenes, unbelebtes Bild, eine tote „Figur“. Lemoine36 Gerhart Hauptmann: Einsame Menschen, V. Akt, in: Das dramatische Werk in 8 Bänden. Frankfurt am Main, Berlin (Ullstein) 1977, Bd. 1, S. 382. 37 Brief vom 4. 8. 1901, in: Das ungelöste Welträtsel, Bd. II, 688.

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Luccioni meint, daß Schönheit das Wunschobjekt des Mannes in die Ferne rückt, wobei es aber in seinem Status als Objekt erhalten bleibt. Schönheit weckt sexuelles Verlangen und verbietet es zugleich, weil sie unfaßbar ist. (E. Lemoine-Luccioni, 1976)38 Die Schönheit der Frau und die Schönheit des Bildes sind vergänglich, und sie entziehen sich dem Zugriff, weil dieser Schutzschild gegen den realen Tod an sich real nicht ist, sondern eine Phantasie, eine Illusion.39

Gerade in Bezug auf den Erlösungsschluss des Faust II hat diese These ganz sicher ihre Berechtigung. Weiblichkeit wird hier zum sakralen Bild, zur Ikone, zu einer Art potenzierter Sixtinischer Madonna, die als Erlösungsverheißung in den Theaterraum hineinschwebt. Dass Haeckel das Goethe-Zitat nicht nur als Bildungsphrase bemüht, sondern sich des Bedeutungszusammenhangs bewusst ist, zeigt sich sowohl im Bild der vor ihm aufsteigenden weiblichen Gestalt wie auch an der Abgrenzung des Ideals von „werthlosem Gekram von Kleinigkeiten“, die in der Komposition dem Goetheschen Tableau analog ist. Deshalb scheint mir diese Stelle auch nicht nur ein Aussetzer zu sein, ein kurzfristiges, impulsives Abgehen von den eigenen Prinzipien und Überzeugungen. Sie wiederholt vielmehr die Figur der Negativität, die sich fast überall in Haeckels Äußerungen zum Realen findet. Stifterisches Aushalten scheint Uslar-Gleichen dem tragischen Lebensgefühl ihres Geliebten entgegenhalten zu wollen, wenn Sie schreibt: Der Augenblick wird aber kommen u. jetzt bin ich stärker als Du! Ich versuche nicht mir meine Liebe zu dir zu umschleiern, oder mir einzureden, daß ich sie unterdrücken muß. Dagegen sage ich mir aber: „Diese Liebe zu Ernst Haeckel kann ich nicht töten, weil ihre Wurzeln mit den Wurzeln meines Daseins verflochten sind – will es auch nicht – ich sehe aber ein, daß jetzt an ein Zusammenleben mit ihm nicht zu denken ist. Deshalb fasse ich meine ganze Kraft zusammen u. harre aus, bis ich die Prüfungszeit vorüber ist, die ich ebenso wie Tausende vor u. nach mir durchzumachen habe. Meine Liebe soll mich nicht schwach u. blind für den Segen des Augenblicks u. die Proben die das tägl. Leben an meine Kraft stellt, machen, nein, im Gegenteil – weil ich glücklich bin, jemand gefunden zu haben, der mich seiner würdig erachtet u. meiner wert ist, muß ich doppelt groß u. tapfer sein. – Dieselben Gedanken erwarte u. verlange ich von Dir, mein Heiligtum. Du sollst den Anforderungen des gegenwärtigen Lebens genügen u. Dich ihm voll widmen, weil du weißt 38 Eugenie Lemoine-Luccioni: Partage des Femmes. Collection Le champ freudien, dirige´e par J.Lacan. Paris (Seuil) 1976. 39 Elisabeth Bronfen: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik. München (dtv) 1996, S. 96f.

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daß das Beste dieser Welt unantastbar in Deinem Herzen lebt. Du sollst nie wieder sagen: „Wozu lebe ich eigentlich noch?“ Du sollst stark sein – u. erst in meinen Armen, wenn Du mir angehörst u. wenn ich mit Entzücken die Wucherzinsen zahle, die Du verlangst – Darfst Du schwach werden. – –40

Diesen Brief unterschreibt sie mit „Deine treue Frau“.41 Eine Beschwörungsformel, die wie Ferdinand Raimunds Brief an Antonie Wagner eine Stabilität stiften soll, die diese Beziehung nicht hat. Hier zeigt sich in seiner ganzen Schwere das Problem der Liebe, die sich ihr eigenes transzendentales Fundament geben will42. Das Wartenkönnen soll zur Grundlage der Legitimität dieser Liebe umgedeutet werden. Hier wie in Stifters Brief an Heckenast wird im Ausharren eine Möglichkeit des Ausgleichs gesucht zwischen den Anforderungen des Alltags und dem inneren „Heiligtum“ – sei dies, wie hier, die Liebe oder wie bei Stifter die Kunst (und damit für Stifter doch eigentlich auch die Liebe). Dieses Aushalten oder Ausharren stellt eine Möglichkeit dar, an der Spannung zwischen Innen und Außen zu wachsen und sie so in einer Art Selbstverallgemeinerung aufzuheben, es ist damit ein Gegenmodell zum tragischen Unterliegen des Individuums unter der Realität. Einen solchen Versuch, sich selbst ein Gesetz zu geben und damit der Vernichtung durch das Gesetz zu entgehen, unternimmt auch Fräulein Anna in Gerhart Hauptmanns Stück. Einen Moment lang sieht es so aus, als könne sie damit tatsächlich Johannes’ tragische Welthaltung überwinden: Fräulein Anna: [. . .]: Wollen wir uns ein Gesetz geben – und danach handeln? Wir beide allein, – unser ganzes Leben lang, wenn wir uns auch nie wiedersehn – nach dem einen, eignen Gesetz? Wollen wir? Es gibt sonst nichts, was uns verbinden kann. Wir dürfen uns nicht täuschen darüber. Alles andre trennt uns. Wollen wir? Wollen Sie einschlagen? Johannes: Ich fühle wohl, – daß mich das halten könnte. Ich könnte auch arbeiten, ohne Hoffnung, das Ziel zu erreichen. Aber wer bürgt mir? Wo nehme ich den Glauben her? Wer sagt mir, ob ich mich nicht abquäle für ein nichts? Fräulein Anna: Wenn wir wollen, Herr Johannes, wozu brauchen wir Glauben und Garantien? Johannes: Aber wenn mein Wille nicht stark ist?

40 Brief vom 14. 10. 1900, in: Das ungelöste Welträtsel, Bd. II, S. 566f. 41 Ebd., S. 569. 42 Vgl. Niklas Luhmann: Liebe. Eine Übung. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2008, S. 38–42.

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Fräulein Anna (ganz leise): Wenn der meine schwach wird, will ich an den denken, der unter demselben Gesetz steht. Und ich weiß gewiß, das wird mich aufrichten. – Ich werde an Sie denken, Herr Johannes! Johannes: Fräulein Anna! – – Nun gut, ich will! ich will! – Die Ahnung eines neuen, freien Zustandes, einer fernen Glückseligkeit gleichsam, die in uns gewesen ist – die wollen wir bewahren. Was wir einmal gefühlt haben, die Möglichkeit, die wir gefühlt haben, soll von nun an nicht mehr verlorengehn. Gleichviel, ob sie Zukunft hat oder nicht, sie soll bleiben. Dies Licht soll fortbrennen in mir, und wenn es erlischt, so erlischt mein Leben. (Beide stumm und erschüttert). Ich danke Ihnen, Fräulein Anna.43

Die Möglichkeit gegen die Realität aushalten – noch Musils Ulrich wird sich an diesem Projekt abarbeiten. Nicht nur ist hierbei aber, wie Luhmann erklärt, die Gefahr groß, dass die durch derartige Aufstauung gesteigerte Erwartung dazu führt, dass „reflexive Liebe sich unkorrigiert übersteigern und idealisieren“44 kann, so dass ihr in der Wirklichkeit nichts mehr zu entsprechen vermag, und übersteigerte Erwartungen an den Geliebten gestellt werden, sondern im Konzept des „Einsamen Menschen“, der sein Gesetz im Geheimen gegen das Gesetz der Welt aufrecht erhält, ist die Konsequenz der Isolation beider Partner in dieser Gegenwirklichkeit mit enthalten. In ihrem Brief vom 14. Oktober 1900, den ich oben zitiert habe, scheint Uslar-Gleichen diese Passage aus Einsame Menschen im Kopf gehabt zu haben. Sie hat also offenbar die implizite Rollenzuweisung angenommen, die in Haeckels Vergleich ihrer beider Situation mit der der Protagonisten bei Hauptmann lag. Wie im sacher-masochistischen Spiel werden auch hier durch Literatur bestimmte Rollen zugewiesen und wird damit dem Drama eine bestimmte Richtung gegeben. Ein Verfahren, das, wie schon ausgeführt, grundlegend ist für die briefliche Literaturliebe. Aber indem Uslar-Gleichen die Rolle des Fräulein Anna annimmt, gibt sie sich auch die Möglichkeit, eine aktivere und gestaltendere Funktion in dieser Beziehung einzunehmen, als die einer „Mater gloriosa“ der Bergschluchten. Ihr Modell der Entsagung ist offenbar das eines aktiv angestrebten Ausgleichs, dem eine implizite Hoffnung eingeschrieben ist. Ihre fordernden, Vorschläge machenden, auf Veränderung dringenden Briefe zeugen davon. In Haeckels Denken dagegen scheint die Möglichkeit eines solchen Ausgleichs nie wirklich Gestalt anzunehmen. Entsagung und 43 Hauptmann, Einsame Menschen (a. a. O.) V. Akt, S. 382f. 44 Lumann: Liebe. Eine Übung (a. a. O.), S.49.

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Resignation sind bei ihm vielmehr synonyme Begriffe. Schon in einem Brief vom 2. September 1899, sechs Wochen nach der gemeinsamen dreitägigen Reise, die als „Wartburgmärchen“ einen der wenigen, im Laufe der Jahre mehr und mehr verklärten Glücksmomente dieser Beziehung ausmachen wird, schreibt er ihr: „Ja, wir dürfen wohl nun Beide sagen, daß das schöne Mit-Leiden (– nach Nietzsche eine verächtliche Schwäche! –) zu den festen Fundamenten unserer Freundschaft gehört.“45 Und in diesem Brief schickt er ihr jenen merkwürdigen Reim, den er erstmalig im Zusammenhang mit seiner Besteigung des Adams-Pik auf Ceylon in einem 1883 in der Deutschen Rundschau erschienen Reisebericht46 zitiert hatte: „Resignation, dies herbste aller Worte – Eröffnet uns allein des Friedens Pforte“!47 Die Idee der Vergeblichkeit ihrer Liebe und die daraus resultierende Resignation werden zum Leitmotiv und grundlegenden Konzept dieses Verhältnisses, an dessen Ausgestaltung beide arbeiten. Frida wird sich mehr und mehr in der Rolle der Mahnerin zu Zurückhaltung und Keuschheit sehen, die, als eine zweite Charlotte von Stein, das Drängen ihres männlichen Korrespondenzpartners zurückzuweisen und zu bezähmen habe: „Halten Sie diese Wünsche, so viel als möglich, mit fester Hand nieder, denn der Weg den wir noch zurückzulegen haben, Hand an Hand u. Herz an Herz – ist mühsam u. bedarf des kräftigenden Trunkes aus klarem Quell, nicht des süßen Giftes.“48 Der erzwungene Verzicht wird von beiden Briefpartnern um- und aufgewertet zu einem Projekt der Entsagung, der Überwindung subjektiven, egoistischen Drängens zugunsten einer sich ins Weltganze eingliedernden Liebe zum Ganzen („Ich hoffe, mein theuerster Freund, daß es mir mit der Zeit gelingen soll, Dich soweit zu führen, wie Goethe durch Frau von Stein geführt wurde! – : daß Du über der großen Freude an dem Verständnis der Seelen die Sehnsucht nach dem Körperlichen vergißt“49 Und zur Stärkung und Ermahnung wird immer wieder Literatur herbeibemüht, einerseits durch den stetig wiederholten Verweis auf den Bezähmungs-Diskurs Goethe/Stein50 (der gemäß bis heute an45 Das ungelöste Welträtsel, Bd. 1, S. 267. 46 Erneut in Ernst Haeckel: Berg- und Seefahrten. 1857/1883. Hg. v. Heinrich Schmidt. Leipzig (Koehler) 1923, S. 116–135. 47 Das ungelöste Welträtsel, Bd. 1, S. 268. 48 Ebd., S. 293. 49 Das ungelöste Welträtsel, Bd. 2, S. 680.

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dauernder Tradition als Erziehungsprojekt gelesen wird, als Vorgang der Bändigung des jungen, stürmenden und drängenden Goethe durch die besänftigende Weiblichkeit Charlotte von Steins51) aber auch durch Zitierung konventionellerer Dichtungsware wie Karl Stielers Wandererlied, das von Uslar-Gleichen einem Brief vom 23. 9. 1899 beilegt: [...] Zwei braune Augen sahn ihm nach, Die ganz voll Tränen waren Ihm aber dünkt, er hätt‘ noch nie, Ein schön‘res Leid erfahren!52

Hier zeigt sich, dass diese Beziehung sich durchaus einfügt in zeitgenössische post- oder spätromantische Paradigmen, in denen das Zurückstecken der „Neigung“ zugunsten der „Pflicht“ in süßlicher Verkitschung als die große Kulturleistung gefeiert wird, die jeder Einzelne durch alle Zeitalter hindurch immer wieder zu erbringen habe. (Man kann durchaus im „Zwang des Verzichts“ das Band sehen, das für den Historismus alle Epochen verbindet.) Im „schönen Leid“ und im „schönen Mit-Leiden“ gestalten sich beide ihre unerfüllbare Liebe ästhetisch zu einer modernisierten, sehnsuchtsbestimmten Minnebeziehung aus, deren Genuss gerade in ihrer Aussichtslosigkeit liegt. Insbesondere Frida von Uslar-Gleichen scheint darum bemüht, die erotische Komponente zugunsten einer „geistigen“ Liebe zurückzudrängen. Dabei wird für sie offenbar gerade dieser Verdrängungsprozess magisch aufgeladen, indem der Liebe ein jenseitiger, unantastbarer Raum zugewiesen wird, durch den sie metaphysisch überhöht wird. Während Haeckel selbst immer wieder auch ein Begehren nach körperlicher Begegnung äußert, scheint für Uslar-Gleichen gerade in der Verzichtsleistung eine Art Weihe ihrer Liebe zu bestehen:

50 In unterschiedlichen Varianten (und mit unterschiedlichen Bedeutungsnuancen) wird die Formel „ich weiß was Du bist“, die Goethe Charlotte von Stein am 14. Juli 1782 in einem Billet übersendet, zum Signum und Symbol dieser Liebe. In Goethes Billet heißt es: „Es ist eine unaussprechliche Glückseeligkeit wenn Gesinnungen und Empfindungen zwischen zwey Wesens wechseln ohne irgend anzustosen, zurückgehalten oder geschröckt zu werden. Lebe wohl und fühle daß ich weis was du bist.“ (Goethes Briefe an Charlotte. v. Stein (a. a. O.), Bd. 1, S. 403). 51 Vgl. Christian Schärf: Goethes Ästhetik (a. a. O.), S. 162f. 52 Das ungelöste Welträtsel, Bd. I, S. 293.

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Nun wollen wir es so machen: Wir packen d. liebe Hoffnung ganz fest verschlossen u. unantastbar zu unterst in unser Herz. Da mag sie schlafen u. doch wie ein Zauber-Stein, uns unbewußt, ihre Kraft für den ganzen Menschen ausstrahlen. Wir aber thun, als ob’s jetzt wirklich Winter wäre u. als ob nicht nur Du der Großvater wärest, sondern auch ich eine Großmutter bin. Und nun schreiben wir uns so ganz lieb u. ruhig wie zwei alte, treu bewährte Seelen.53

Doch schon früh zeigt sich, dass sie womöglich auch diejenige ist, die diesen Verzicht weit weniger auszuhalten im Stande ist. In einem zwischen April und August 1900 geführten, an Ernst gerichteten Tagebuch notiert sie: „Weißt Du, wie schwer das Leben auf mir liegt u. wie ich oft fürchte, ich werde diese trostlose dunkle Zukunft gar nicht ertragen können?“54 Dass ihr Leben auch anders aussehen könnte, erfährt sie etwa, wenn sie die Reiseberichte von Emil und Leonore Selenka liest, deren Ostasiatische Reiseskizzen55 ihr Haeckel ausgeliehen hat:56 Wenn ich so lese, welche Zauberwelt Professor Selenka mit seiner Frau teilte, – wie ganz anders in Euren wissenschaftl. u. in Künstlerkreisen d. Frauen leben, erfaßt mich oft ein Mitleid mit mir selbst, daß ich so leben muß, wie ich’s thue u. die Tage dahin gehen in Sorge für Essen u. Trinken u. Kleider!57

Hier zeigt sich zum einen, dass sich Frida von Uslar-Gleichen durchaus der gesellschaftlichen Problematik bewusst ist, die hinter dem Ritterroman ihrer unglücklichen Liebe steckt. Gleichzeitig wird – sicher auch in Bezug auf die Reiseziele des Ehepaares Selenka – dieses durchaus realistisch an den milieuspezifischen Lebensumständen festgemachte Konzept einer gleichberechtigten, auf gemeinsamer wissenschaftlicher Arbeit basierenden Paarbeziehung erneut verschoben in den Bereich des „Zaubers“, wo auch schon die Erfahrungen der Wartburgreise und überhaupt alle gemeinsamen Erlebnisse liegen. In diesen Bereich werden auch von ihr die Ideen einer möglichen Realisierung von Glück meist sofort weggeschoben. Auch bei ihr bleibt Realität letzten Endes nur negativ beschreibbar. 53 Brief vom 15. 8. 1900, in: Das ungelöste Welträtsel, Bd. II, S. 524. 54 Ebd., S. 525. 55 Emil und Lenore Selenka: Sonnige Welten. Ostasiatische Reiseskizzen: Borneo – Japan – Java – Sumatra – Vorderindien – Ceylon, Wiesbaden (Kreidel) 1896. 56 Vgl. Liste zur „Bücher-Kiste“ vom 18. August 1900, in: Das ungelöste Welträtsel, Bd. II, S. 540. 57 Brief vom 30. 9. 1900, in: Das ungelöste Welträtsel, II, S. 563.

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So hatte sie ihm, schon bevor er gegen Ende August 1900 seine Reise nach Java angetrat, am 13. dieses Monats geschrieben: Nun steht die nüchterne Wahrheit aber vor mir u. ich sage mir schonungslos, daß es Thorheit ist, irgend welche Hoffnungen auf ein baldiges Vereintsein zu haben, abgesehn von dem Unrecht. Nun regt sich meine alte Energie u. ich fühle klar, daß ich mir kein weiteres Träumen erlauben darf, wenn ich mein jetziges Leben so weiterführen will, wie es eines ordentlichen Characters würdig ist. – Ich mache nun einen energischen Schlußstrich unter meine Illusionen u. sage mir u. dir: Wir beide müssen damit rechnen, noch jahrelang einsam zu sein – also dürfen wir uns nicht unnötig schwach machen. Das geschieht, wenn wir trügerischen Wünschen u. Hoffnungen nachhängen – u. wenn wir uns öfters sehen. Beides soll u. muß aufhören u. von jetzt ab hat allein d. Correspondenz = der Papier-Flügel zwischen uns das Recht. – Will der Himmel uns über kurz oder lang sein schönstes Glück in den Schooß werfen, so soll er uns dessen wert u. stark finden. –58

Durch die Heroisierung des Verzichts vermag sie sich – fast bis zum Schluss, wo die Verzweiflung sie dann doch besiegt – immer wieder Kraft zu geben – der Nachsatz zeigt, dass dieser Verzicht begleitet wird von einer durchaus metaphysisch motivierten Hoffnung auf „Belohnung“. Auch ihn vermag sie in solchen Momenten durchaus mitzureißen und von ihrem Konzept zu überzeugen, wie seine Antwort zeigt: [. . . ] kann ich Dir heute Abend – inmitten der schrecklichen Packerei u. Schreiberei – mittheilen, daß ich mich tapfer halten und daß ich meiner liebsten Freundin an starkem Ritter-Sinn Nichts nachgeben will! Zwar ist das Gefühl schmerzlichster Resignation vorherrschend; aber daneben glimmt doch immer noch im tiefsten Herzensgrund ein Fünkchen Hoffnung, da wo „die köstliche Perle schläft!59

Doch offenbar ist diese Kraftanstrengung nur zu leisten bei physischer Trennung. Wie bei Stifter sind der Ausgleich und die Entsagung an die Brieflichkeit der Beziehung gebunden. So wird dieser Briefwechsel als „Prüfung“ selbst zum Teil einer Märcheninszenierung, an deren Ende der Zauber der endlichen Vereinigung stehen soll: „schon wenn ich an Dich schreibe, ist der süße, selbstlose, fast möchte ich sagen, unirdische Zauber da“, schreibt sie ihm am 30. Juni 1901.60 58 Ebd., S.538. 59 Ebd., S. 539, vgl. Matt. 13,45/46: „Abermals ist gleich das Himmelreich einem Kaufmann, der gute Perlen suchte. Und da er eine köstliche Perle fand, ging er hin und verkaufte alles, was er hatte, und kaufte sie.“ 60 Ebd., S. 680.

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In dieser Hinsicht scheint ihr Konzept des Ausharrens tatsächlich eines der Entsagung im Sinne Goethes zu sein. Doch die Macht der Alltags-Dinge ist zu stark, die Verklärung gerät immer wieder an ihre Grenzen und macht einfacher, dumpfer Depression Platz: Es gibt Zeiten im Leben, wo man fühlt, wie der Hammer des Schicksals unbarmherzig drein schlägt u. uns mürbe machen möchte. – Es kommen Momente, wo ich denke: Mach’s Dir bequem, laß ihn fahren; geh den Alltagsweg, denke u. thue, was die Deinen thun u. denken – u. kannst du das nicht – ach, ich kann es nicht, so geh aus dem Leben. – Sieh, Herzens-Liebling! Auch Dein Vögelchen zwitschert nicht nur Hoffnungslieder, sondern sitzt oft mit eingezogenem Köpfchen u. mag d. Welt nicht mehr sehn. – Aber sei ruhig! Ich bin ein alter, erprobter Kämpfer u. so gehe ich Tag für Tag, Stunde für Stunde meinen Weg u. trage weiter. Aber, so anders wie ich den Meinen gegenüber stehe, so sehr verändert sich auch d. Welt in mir. Ich werde immer stiller, ern- [Schluss fehlt]61

Auch in seinen Briefen scheint die Entsagungsphilosophie vom weltumarmenden Konzept mehr und mehr zur stagnierenden Depressionsformel zu verkommen. Fast zur gleichen Zeit, in der sie obigen Brief verfasst, kopiert er für sie ein Gedicht, das der Münchner Hygiene-Professor Max von Pettenkofer kurz vor seinem Selbstmord am 10. Februar 1901 niedergeschrieben habe: „Ich fühl’s, ich bin nicht für die Welt geboren.“62 Entsagung – Ausharren – Resignation – im Briefwechsel zwischen Ernst Haeckel und Frida von Uslar-Gleichen überkreuzen und widersprechen sich Goethesches Lebenskonzept und Weltverneinung auf schwer durchschaubare Weise. Insbesondere auch in Bezug auf die Person Ernst Haeckels wäre zu fragen, wie ein vehement verteidigter Monismus und Materialismus zu vereinbaren sein kann mit einer resignativen Einstellung, aus der eine Weltverneinung spricht, die mitunter geradezu wie Ekel erscheint. Hier ist es sinnvoll, am Faden des Resignationskonzepts noch einmal den Einzelheiten von Haeckels Weltanschauung nachzugehen, denn sie ist zugleich auch die Liebesanschauung, mit der beide Partner wohl oder übel sich auseinanderzusetzen gezwungen sind.

61 Brief vom 16. 9. 1901, in: Ebd., S. 698. 62 Ebd., S. 708.

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5.5 Bilder der Resignation Ernst Haeckel selbst bringt ein Resignations-Konzept zunächst in ablehnender Weise mit der Lehre Buddhas – zugleich aber auch mit Eduard von Hartmanns Philosophie des Unbewußten in Verbindung: Schon immer hätten, leitet er die Schilderung seiner Besteigung des Adams-Pik (Adams Peak oder Sri Pada auf Ceylon) von 1883 ein, merkwürdig isoliert stehende Berge die Fantasie der Völker angeregt und zur Legendenbildung animiert. So sei auch der AdamsPik sowohl – in der muslimischen Legende – mit der biblischen Geschichte des Adam, wie auch mit buddhistischen und hinduistischen Legenden verknüpft worden: Hier verkündigt er zuerst sein Evangelium vom Nirwana und lehrt die Menschen ihr Glück in der Entsagung suchen: ohne Wunsch zu leben, um ohne Furcht zu sterben. Hier ist es, wo der Pessimismus, die in unsern Tagen wieder auflebende Philosophie des Unbewußten, zuerst klaren Ausdruck fand: „Resignation, dies herbste aller Worte, Eröffnet uns allein des Friedens Pforte!“ Andächtig lauscht das zusammengesetzte Singhalesenvolk der Heilsbotschaft des Mensch gewordenen Gottes. Die berauschende Pracht der umgebenden Tropennatur, die uns armen Nordländern als der verkörperte Paradiesgarten erscheint, hindert die Eingeborenen nicht, auf alles Glück derselben Verzicht zu leisten; und dem Beispiele seiner versammelten Fürsten und Adelsgeschlechter folgend, wird bald das Lankavolk zur Buddhalehre bekehrt. Als bleibende Denkmäler seines Besuches hinterläßt Buddha bei seiner Himmelfahrt nicht allein eine Handvoll seines Haupthaares, sondern auf besonderes Gebet des Königs auch den Eindruck seines Fußes. Dieser heilige Fußtapfen, der wundertätige Sripada, blieb an dem Punkt zurück, auf welchem der Fuß des Buddha die Erde zum letzten Male berührte, auf der höchsten Felsenspitze des Samanala [d. i. der Adams-Pik, R. L.].63

Wie man es von dem Religionskritiker und -verächter Haeckel nicht anders erwarten würde, scheint die Haltung des Berichtenden gegenüber dieser Bekehrung zum Weltverzicht – gerade in Anbetracht der Schönheit und Fülle der den heiligen Ort umgebenden Natur – durchaus skeptisch oder gar ablehnend zu sein. Wenn er im Anschluss darstellt, wie geschäftstüchtige Priester hier bald schon eine ganze Wallfahrtsindustrie etablieren, wird dieser Eindruck von 63 Ernst Haeckel: Berg- und Seefahrten (a. a. O.), S. 118.

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Skepsis mehr als bestätigt. Die Anspielungen auf gegenwärtige Geistestendenzen weisen jedoch in eine Richtung, der Haeckel zwar durchaus ablehnend gegenüber steht, mit deren Thesen er sich jedoch auseinandersetzte. In einem – allerdings nicht besonders intensiven – Briefwechsel, den er mit Eduard von Hartmann, dem Verfasser der Philosophie des Unbewußten64, auf dessen Initiative hin, zwischen Oktober 1874 und Oktober 1876 führte65, bezeugen beide Briefpartner ihr gemeinsames Eintreten für die Entwicklungslehre und Deszendenztheorie. Der Dissens zwischen beiden wäre, laut Hartmann, folgender: „Sie sagen: hinter dem Mechanismus der (empfindenden) materiellen Atome ist nichts weiter; ich sage, da fängt es erst recht an.“66 Für Haeckel aber ist dieser Unterschied nicht nebensächlich, wie Hartmann immer wieder bekundet, sondern der eigentlich entscheidende. Entsprechend scheint Haeckel den Briefwechsel nach einem letzten Schreiben vom 30. Dezember 1875, in dem er erklärt, dass es ihm auf dem Gebiet der „philosophischen Probleme der Entwicklungsgeschichte“ – also der Übertragung der Deszendenztheorie in das weltanschauliche Gesamtkonzept des Monismus – „noch an der nötigen Reife und Vorbildung“ fehle,67 abgebrochen zu haben. In einem allerletzten Schreiben Hartmanns, nach einer Pause von beinahe einem Jahr am 24. Oktober 1876 verfasst, lässt dieser erkennen, dass es ihm bei der Vermittlung zwischen seinem und dem Haeckelschen System vor allem auch um einen wissenschafts- und religionspolitischen Kompromiss geht, der der Evolutionstheorie ihre antireligiöse Spitze nehmen soll, wenn er erklärt, „daß mein Standpunkt eine bessere Stütze für den praktischen Idealismus bildet als der Ihrige, und deshalb mehr geeignet als der letztere ist, die ideale Cultur unseres Volkes mit den neueren Ergebnissen der exakten Forschung zu vereinigen, und den gegenwärtig zwischen beiden klaffenden Riß zu schließen.“68 Diese und eine frühere Bemerkung, dass er die Ver64 Eduard von Hartmann: Philosophie des Unbewußten. Versuch einer Weltanschauung. Berlin (Duncker) 1869. 12. Aufl., 3 Bde. Leipzig (Kröner) 1923. Zu Hartmanns Philosophie des Unbewussten vgl. Monika Fick: Sinnenwelt und Weltseele (a. a. O.), bes. S. 75–85. 65 Metaphysik und Naturphilosophie. Briefwechsel zwischen Eduard von Hartmann und Ernst Haeckel. Hg. v. Bertha Kern-von Hartmann, in: Kant-Studien 48 (1956/1957), S. 3–24. 66 Hartmann am 4. November 1874, in: Ebda., S. 8. 67 Ebda., S. 22. 68 Ebda., S. 24.

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söhnung des „teleologischen Publikums“ (er meint damit letztlich den Protestantismus) mit der Naturwissenschaft für dringend geboten halte, „weil das nächste Jahrzehnt in Deutschland den Sieg der Cultur über den Ultramontanismus für die ganze Welt erkämpfen muß, und dazu alle Kräfte der deutschen Wissenschaft einheitlich zusammenwirken müssen“ (9. Juli 187569), zeigen, dass es Hartmann vor allem darum geht, Haeckel an seine patriotische Pflicht zu erinnern, ihn aufzufordern, in Rücksicht auf diese den Ausgleich mit dem Protestantismus zu suchen, um ihn für den Kulturkampf zu vereinnahmen. Obwohl der Nationalismus in Haeckels Weltanschuung durchaus einen Platz hat (spätestens im Ersten Weltkrieg wird Haeckel sich auch zu den entsprechenden chauvinistischen Äußerungen hinreißen lassen), ist der Widerstand gegen jede Art von Religion, bei dem er sich immer wieder auch zu unüberlegten Polemiken versteigt, offenbar stärker als das Bewusstsein seiner Staatsbürgerpflicht. In der Schilderung der ceylonesischen Bergbesteigung wird Hartmanns Lehre nun mit einer Ideologie des Pessimismus und des Weltverzichts in Verbindung gebracht, die dieser eigentlich ablehnte und bekämpfte. In der Idee des Unbewussten behauptet Hartmann vielmehr eine Einheit von Wille und Vorstellung, Realem und Idealem. Auf diesem Konzept beruht sein Monismus, auf dessen Grundlage er die Forderung, dass nur „die volle Hingabe der Persönlichkeit an den Weltprozeß um seines Zieles, der allgemeinen Welterlösung willen, [und] die Bejahung des Willens zum Leben als das vorläufig allein Richtige proklamiert, denn nicht in feiger, persönlicher Entsagung und Zurückziehung ist etwas für den Weltprozeß zu leisten“70. Auf einen derart „eschatologisierten“ Monismus will sich Haekkel offenbar nicht einlassen. Möglicherweise missversteht er ihn auch, der zitierte Eingang der Schilderung legt dies nahe, als Abform des Pessimismus. Wahrscheinlicher aber ist, dass er in Hartmann letzten Endes doch den Verteidiger der Religion, und damit einen Gegner sieht. Die Schilderung des Bergaufstiegs ist denn letztlich auch eine große Widerlegung der Verzichtsphilosophie, der die Pracht und 69 Ebda., S. 19. 70 Eduard von Hartmann: Philosophie des Unbewußten. Leipzig (Kröner) 3 Bde, 12 1923, Bd. 2, S. 402f.

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Überfülle der Tier- und Pflanzenwelt und die Schönheit der tamilischen und singhalesischen Gläubigen, denen er auf dem Weg begegnet, in jedem Augenblick widersprechen. Am Heiligtum selbst, dessen Besuch abermals satirische Bemerkungen über manipulierende Priester veranlasst, ist er denn vor allem ergriffen von der selbstverständlichen Toleranz, mit der die Gläubigen verschiedener Religionen einander begegnen, die am selben Ort etwas je verschiedenes anbeten: Während der sechs Stunden, die wir auf dem Gipfel des Adams-Pik zubrachten, sahen wir mehrere Pilgerscharen daselbst ihre Andacht verrichten; abwechselnd buddhistische Singhalesen und brahmanische Tamilen. Auch ein paar arabische Mohammedaner kamen dazwischen herauf und beteten mit derselben Andacht den Sripada als Fußabdruck des Urvaters Adam an, mit welcher unmittelbar vorher die schwarzen Malabaren denselben als Reliquie des Siva, und die braunen Singhalesen als Andenken an Buddha verehrt hatten. Die gegenseitige friedliche Duldung, welche diese drei ganz verschiedenen Religionen hier oben gegeneinander seit mehr als 1000 Jahren üben, ist in der Tat erhebend; sie ist in vieler Beziehung beschämend, namentlich für die verschiedenen christlichen Sekten, die sich mit größter Intoleranz befehden. Man denke nur an die blutigen Kämpfe der griechischen und römischen Christen am heiligen Grabe in Jerusalem; oder an die widerwärtigen Beweise von gehässiger Unduldsamkeit, die wir selbst gegenwärtig noch jedes Jahr in unserm Vaterlande erleben müssen.71

Im Schlusssatz dieses Zitats zeigt sich, was Haeckel an dem Kulturkämpfer Hartmann insbesondere gestört haben könnte. Wie auch immer: Zum Abschluss ihrer Wanderung, es ist der 12. Februar, feiern Haeckel und seine Begleiter Darwins Geburtstag vor dem heiligen Fußabdruck und erweitern die Reihe der an das Heiligtum geknüpften Religionen um die der Naturwissenschaft, und hier zeigt sich sowohl der Stellenwert, wie die quasi-religiöse Funktion, die Darwin für Haeckel hat. Naturanschauung und vegetative Fülle widerlegen die Religion der Resignation. In der Verehrung Darwins sowie in der ästhetischen Anschauung der Natur im panoramatischen Blick über die Insel Ceylon72 wird begründet, was Haeckel als Wissenschafts71 Haeckel: Berg- und Seefahrten (a. a. O.), S.132. 72 „Allerdings ist das Großartigste an unserem Panorama gerade diese Vorstellung und die Erinnerung an die tausend herrlichen und interessanten Bilder, mit denen unsere Streifzüge durch dies irdische Paradies uns bereichert haben. Indem wir hier den Schauplatz derselben von einem Punkte aus rings überschauen, durchfliegen wir gewissermaßen das Inhaltsverzeichnis des Skizzenbuches, das wir hier mit Feder und Pinsel gesammelt haben.“ (Ebd., S. 133)

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Religion in den Welträtseln als Kultus zukünftiger, von der Religion abgekommener Generationen immer wieder einmal entwirft: Der moderne Mensch, welcher „Wissenschaft und Kunst“ besitzt – und damit zugleich auch Religion – bedarf keiner besonderen Kirche, keines engen, eingeschlossenen Raumes. Denn überall in der freien Natur, wo er seine Blicke auf das unendliche Universum oder auf einen Teil desselben richtet, überall findet er zwar den harten „Kampf ums Dasein“, aber daneben auch das „Wahre, Schöne und Gute“; überall findet er seine „Kirche“ in der herrlichen Natur selbst.73

Im Nebeneinander des „Kampfs ums Dasein“ und des „Schönen, Wahren und Guten“ bürdet er dieser Kirche der Wissenschaft und Kunst aber sogleich wieder den Widerspruch auf, der sich überall in Haeckels Schreiben findet, den Widerspruch zwischen spinozistischer Naturverehrung in Goethe-Nachfolge und einer quasi hobbesianischen negativen Naturauffassung, die Darwin uneingestanden dann doch pessimistisch liest. Ein verhängnisvoller Widerspruch, der sich auch in der Weltanschuung eines erklärten Monisten wie Felix Dahn74 wiederfindet, in der Eroberungswille als Lebensprinzip und Pessimismus als Untergangsrausch ebenso gleichberechtigt wie unverbrüchlich nebeneinander stehen. Mit den Jahren werden auch die fatalistischen und pessimistischen Bemerkungen in Haeckels Briefen an Uslar-Gleichen immer zahlreicher – bis zur neuerlichen, jetzt ganz undistanzierten Zitat der Resignationsverse 16 Jahre nach der Niederschrift der AdamsPik Besteigung: Theuerste Freundin! „Resignation, dies herbste aller Worte – Eröffnet uns allein des Friedens Pforte“! Ich sehe aus dem schweren, uns Beide aufreibenden Conflicte der sehnlichsten Wünsche u. der schwersten Pflichten keinen anderen Ausweg als Entsagung!75

Abermals zitiert er die Devise dann in der Darstellung seiner zweiten Indienreise, im Buch Aus Insulinde (1901) – der Reiseschilderung, die er eigentlich Frida von Uslar-Gleichen hatte widmen wollen, aus Rücksicht auf die Gesellschaft und auf seine Frau dann aber 73 Haeckel: Die Welträtsel (a. a. O.), S. 437f. Vgl. auch Richards: The Tragic Sense of Life (a. a. O.), S. 402. 74 Zum Verhältnis Felix Dahns zum Darwinismus und zu Haeckels Monismus vgl. Kurt Frech: Felix Dahn, in: Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918, hg. v. Uwe Puschner, Walter Schmitz und Justus H. UlbrichtMünchen (Saur) 1996, S. 685–698, hier: S. 692f. und Mark A. Hovey: Felix Dahn’s „Ein Kampf um Rom“, Diss. State Univ. of New York at Buffalo 1981, S. 56–65. 75 Brief vom 2. 9. 1899, in: Das ungelöste Welträtsel, Bd. I, S. 268.

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doch dieser zueignete. Vom Schiff aus beobachtet er eine gewaltige Siphonophore: Leider war es mir, bei der raschen Fahrt des Dampfers, nicht möglich, eine dieser interessanten Staatsquallen zu fischen; auch auf meiner ersten Reise nach Ceylon hatte ich sie in derselben Gegend des Indischen Oceans (am 4. November 1881) angetroffen, ohne sie erlangen zu können. Derartige Resignationen – nothgedrungener Verzicht auf interessante Beobachtungs-Objekte, die man fast mit Händen greifen kann – gehören zu den grausamsten Tantalusqualen des reisenden Naturforschers! Durch zahlreiche solcher Entbehrungen seit mehr als einem halben Jahrhundert belehrt, pflege ich mich mit dem Philosophen zu trösten: Resignation, dies herbste aller Worte, Eröffnet uns allein des Friedens Pforte! Freilich muß ich leider bekennen, daß mein Temperament der praktischen Verwirklichung dieses schönen, theoretischen Weisheitswortes stets neue Hindernisse bereitet, und daß sich mir „des Friedens Pforte“ wohl erst dann öffnen wird, wenn von den mir beschiedenen Tagen „zuletzt der letzte kommt“.76

Quallen, „Medusen“, sind in Haeckels Bestiarium nicht einfach nur beliebige Gegenstände wissenschaftlicher Neugier, das deutet sich schon in der merkwürdig heftigen Verzichts-Begrifflichkeit an, die in diesem Zusammenhang angewendet wird. Die Desmonema Annasethe und die Discomedusa Rhopilema Frida77, Quallenarten, die er nach den beiden großen Lieben seines Lebens getauft hat, legen beredtes Zeugnis davon ab, inwieweit Haeckels Monismus auch ein Verfahren der Übertragung und der Verschriftlichung/Versprachlichung ist, wie es bereits an Adalbert Stifter aufgezeigt wurde. Die Formel dieses Verfahrens geht – wie letztlich Haeckels gesamtes Naturdenken – auf Goethe zurück: I. Unser reiner Monismus ist weder mit dem theoretischen Materialismus identisch, welcher den Geist leugnet und die Welt in eine Summe von toten Atomen auflöst, noch mit dem theoretischen Spiritualismus (neuerdings vielfach als Energetik bezeichnet), welcher die Materie leugnet und die Welt nur als eine räumlich geordnete Gruppe von Energien oder immateriellen Naturkräften betrachtet. II. Vielmehr sind wir mit Goethe der festen Überzeugung, daß „die Materie nie ohne Geist, der Geist nie ohne Materie existiert und wirksam sein kann“. Wir halten fest an dem reinen und unzweideutigen Monismus von Spinoza: Die Materie, als die unendlich ausgedehnte Substanz, und der Geist (oder die Energie) als die 76 Ernst Haeckel: Aus Insulinde, in: Gemeinverständliche Werke. Hg. v. Heinrich Schmidt. 6 Bde., Leipzig (Kröner) 1924, Bd. VI, S. 323. 77 Vgl. Ernst Haeckel: Kunstformen der Natur. Leipzig (Bibliographisches Institut) 1904, Tafel 88 und begl. Erkl.

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empfindende und denkende Substanz, sind die beiden fundamentalen Attribute oder Grundeigenschaften des allumfassenden göttlichen Weltwesens, der universalen Substanz.78

Da also alles teilhat an der universalen Substanz, ist alles auch, ganz im Sinne des Goetheschen Symbolbegriffs, lesbar als Verweis auf das Ganze. Die Staatsqualle – um es ein bisschen überspitzt aber durchaus richtig zu sagen – ist so etwas wie Haeckels Ginko biloba, die nicht „eins und doppelt“ ist, sondern eins und vielfach! Robert J. Richards zeigt auf, wie der Verlustschmerz um Anna Sethe nicht nur in vulkanische Arbeitswut umgesetzt wird, aus der die Generelle Morphologie der Organismen hervorgeht, sondern umgekehrt auch die als Selbsttherapie gesuchte Kontemplation forscherischer und klassifizierender Arbeit einen Prozess bewusster und gewollter Übertragung oder Sublimierung in Gang setzt, in dem die Gefühle für den verlorenen Gegenstand der Liebe auf den Gegenstand der Forschung übertragen werden: While walking along the shore, lost in his grief, he idly gazed upon a medusa, of a species unknown to him, floating near the surface of a tidal pool. The creature seems to have been transformed before his eyes into something quite different. Later in 1879, in his giant two-volume System der Medusen, he recounted the experience in the fine print of his systematic description of the organism, a creature he named Mitrocoma Annae – Anna’s headband. Any reader who chanced to fall upon this passage, buried as it is amongst technical descriptions of the over six-hundred species of medusa catalogued, would certainly have been startled by its very personal character:79 Mitrocoma Annae gehört zu den reizendsten und zierlichsten unter allen Medusen; sie wurde von mir im April 1864 in der Bucht von Villafranca bei Nizza zuerst beobachtet, und zwar nur an zwei Tagen, das eine Mal in 2, das andere Mal in 20 Exemplaren. später niemals wieder. [.. .] Die Bewegungen dieser wundervollen Eucopide gewähren einen zauberhaften Anblick, und ich habe mich glückliche Stunden lang an dem Spiele ihrer Tentakeln erfreut, die gleich einem blonden Haarschmucke von dem Rande des zarten Schirm-Mützchens herabhängen und bei der leisesten Berührung in dichte kurze Spiralen aufgerollt werden. Auch der Schirm selbst nimmt sehr mannichfaltige und zierliche Formen an [. .. ]. Ich benenne diese Art, die Fürstin unter den Eucopiden, zum Andenken an meine unvergessliche theure Frau, Anna Sethe. Wenn es mir vergönnt war, während meiner tellurischen Pilgerfahrt Einiges für die Naturwissenschaft und die Menschheit zu leisten, so verdanke ich es zum grossen Theile dem veredelnden Einflusse dieser hochbegabten Frau, die mir 1864 durch einen jähen Tod entrissen wurde.80 78 Ernst Haeckel: Die Welträtsel (a. a. O.), S. 32. 79 Richards: The Tragic Sense of Life (a. a. O.), S. 109.

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So kann die Qualle zum Symbol eines das ganze Leben betreffenden Gesamtkunstwerks werden: Gegenstand der Forschung wie einer merkwürdigen unstillbaren Sehnsucht, Symbol des „EwigWeiblichen“ und Unberührbaren, Nicht-Erreichbaren, Inbegriff des Aufschubs, Namensgeberin seiner in Jena errichteten, mit Quallenornamenten geschmückten „Villa Medusa“ und Synonym für Schönheit, Verlust und Trauer. 1878 erklärt Haeckel in dem Vortrag Zellseelen und Seelenzellen, in dem er die Grundlage seines Monismus in der Überzeugung von der beseelten Materie auseinandersetzt, die aus zahllosen Zellen bestehe, die alle für sich beseelt seien, d. h. in seinem Verständnis, „die Fähigkeit des Protoplasma, Reize verschiedener Art zu empfinden und auf diese Reize durch bestimmte Bewegungen zu reagieren“,81 erneut die Staatsqualle zur Kronzeugin seiner monistischen Anschauung, in der sich gewissermaßen eine biologische Weltformel verkörpere, die das Prinzip der Anpassung, das Verhältnis des Individuums zum Ganzen und Schönheit in sich vereine: Man findet die Siphonophoren schwimmend auf dem glatten Spiegel der wärmeren Meere, jedoch nur zu gewissen Zeiten und nicht häufig; sie gehören zu den prachtvollsten Gebilden der unerschöpflichen Natur, und wer jemals das Glück hatte, lebende Siphonophoren anhaltend zu beobachten, wird das herrliche Schauspiel ihrer wunderbaren Gestaltungen und Bewegungen nie vergessen. Am besten vergleicht man eine solche Siphonophore mit einem schwimmenden Blumenstock, dessen bunte Blätter, Blüten und Früchte zierlich geformt, zart gefärbt und wie aus geschliffenem Kristallglase gebildet sind. Jeder einzelne, blumenähnliche oder fruchtförmige Anhang des schwimmenden Stockes ist eigentlich eine Medusenperson, d. h. ein medusenartiges Einzeltier. Die verschiedenen Medusen der Gesellschaft haben aber durch Arbeitsteilung ganz verschiedenartige Formen angenommen. Ein Teil von diesen Medusen besorgt bloß die Schwimmbewegung, ein anderer die Nahrungsaufnahme und Verdauung, ein dritter die sinnliche Empfindung, ein vierter den Schutz und Trutz, ein fünfter die Eibildung usw. Die verschiedenen Lebensaufgaben, welche jede einzelne gewöhnliche Meduse für sich vollzieht, sind also hier auf die verschiedenen Personen der Gesellschaft verteilt, und diese haben alle ihren Körper, ihrer besonderen Lebensaufgabe entsprechend, umgebildet.

80 Ernst Haeckel. Das System der Medusen. Erster Theil einer Monographie der Medusen. Jena (Gustav Fischer) 1879. Reprint: Weinheim, Florida 1986, S. 189. 81 Ernst Haeckel: Zellseelen und Seelenzellen, in: Gemeinverständliche Werke, hg. v. Heinrich Schmidt-Jena. Leipzig, Berlin (Kröner und Henschel) 1924, Bd. 5: Vorträge und Abhandlungen, S. 162–195, hier: S. 194.

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Ähnlich wie im Ameisenstaate sind also auch hier im Siphonophorenstaate viele verschieden geformte Tiere einer Art zu einer höheren sozialen Gemeinschaft verbunden. Während aber in dem viel höher stehenden Ameisenstaate das ideale Band der sozialen Interessen und des staatlichen Pflichtgefühls die freien Staatsbürger zusammenhält, sind hier im Siphonophorenstaate die einzelnen Gemeindemitglieder unmittelbar in körperlichem Zusammenhang, als Sklaven an das Joch der Staatskette geschmiedet. Zwar besitzt auch hier jede einzelne Person ihre persönliche Seele; abgetrennt vom Stocke kann sie sich willkürlich bewegen und selbständig empfinden. Außerdem aber besitzt der ganze Stock noch einen einheitlichen Zentralwillen, von dem die einzelnen Personen abhängen, und eine Gemeinempfindung, welche jede Wahrnehmung einer einzelnen Person sofort allen übrigen mitteilt. Jede von diesen Medusenpersonen des Siphonophorenstockes kann also mit Faust von sich sagen: „Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust!“ Die egoistische Seele der einzelnen Person lebt in Kompromiß mit der sozialen Seele des ganzen Stockes oder Staates. Wehe denjenigen Medusen des Siphonophorenstockes, welche in verblendetem Egoismus sich von ihren Gemeinden losreißen und auf eigene Hand ein freies Leben führen wollen! Unfähig, alle die einzelnen Arbeiten zu leisten, welche zu ihrer Selbsterhaltung nötig sind und welche sie von ihren verschiedenen Mitbürgern geleistet erhalten, gehen sie, getrennt von letzteren, rasch zugrunde. Denn die eine Meduse des Stockes kann ja nur schwimmen, die zweite nur empfinden, die dritte nur essen, die vierte nur Beute fangen und Feinde abwehren usw. Nur das harmonische Zusammenwirken und die gegenseitige Hilfeleistung aller Mitglieder dieser schwimmenden Genossenschaften, nur der Gemeinsinn, die Zentralseele, welche alle miteinander in treuer Liebe verbindet, vermag der Existenz der einzelnen, wie des großen, ganzen, dauernd Bestand zu verleihen. So ermöglicht auch nur die treue Erfüllung der bürgerlichen und sozialen Pflichten von Seiten der Staatsbürger den dauernden Bestand der menschlichen Kulturstaaten.82

Die zitierte Passage zeigt, wie viel symbolistische Naturschilderung, wie sie Maurice Maeterlinck in La vie des Abeilles (1901) praktiziert, bereits Haeckels Darstellungen zu danken haben.83 Hier wie dort wird die präzise, wissenschaftlich fundamentierte Beobachtung in der Darstellung sogleich in einen lebensphilosophischen, man könnte beinahe sagen neo-allegorischen Rahmen gestellt, der die 82 Ebd., S. 187–189. 83 Bereits 1899 stellt Rudolf Steiner den Bezug zwischen Maeterlinck und Haeckel her: „Diejenigen, deren Sympathien sie zu den Aposteln der Weltverehrung, zu Darwin und Haeckel weisen, empfinden eine tiefe Befriedigung, wenn ihnen der Genter ,Mystiker‘ erzählt: ,Alle unsere Organe sind die mystischen Mitschuldigen eines höheren Wesens, und wir haben nie einen Menschen, sondern stets eine Seele kennengelernt.‘“ (Materlinck, der „freie Geist“, in: Gesamtausgabe Abt. A: Schriften, Bd. 32: Gesammelte Aufsätze zur Literatur 1884–1902, S. 230–236).

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Beobachtung zugleich ästhetisiert und einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt, der die Anthropomorphisierungen, die hier wie dort vorgenommen werden, insbesondere die Gleichsetzungen von biologischer Organisation und menschlicher Vergesellschaftung, ihres subjektiven Vergleichscharakters enthebt und zu Wahrheiten petrifiziert, deren ästhetischer Reiz wie auch die Gefahr, die von ihnen ausgeht, in ihrem archaisierenden Allegorisieren liegt. Die Gefahr des Haeckelschen Monismus: wo alles mit allem in Verbindung steht und alles mit allem analog gesetzt werden kann, wird die Gleichsetzung des Unterschiedlichen zur Gleichgültigkeit gegenüber individuellen Unterschieden.84 Auch der Körper höher entwickelter Tiere und des Menschen wurde in diesem Text zuvor schon als „Zellenstaat“ mit der hierarchischen Struktur der mittelalterlichen Ständegesellschaft und dem hinduistischen Kastensystem verglichen und gleichgesetzt,85 das Frankreich von 1871, das durch die Belagerung von Paris seines „Gehirns“ verlustig gegangen sei und in den Provinzen dennoch weiter aktiv war und Widerstand leistete (durchaus mit Respekt für „Gambettas unerschütterliche Seele“ verzeichnet86) mit einem enthaupteten Frosch, dessen Glieder sich weiter bewegen, und die „menschliche Kulturinstitution der Sklaverei“87 war voller Bewunderung auch im wohlorganisierten Ameisenstaat aufgefunden worden, geknüpft an rassistische Behauptungen hierüber (Haeckel ist 84 Man könnte aber auch mit Eva Johach in Haeckels Gleichsetzung menschlicher Kultur mit dem „Zellenstaat“ der Qualle den Versuch einer Um- und Wegdeutung des (westlichen) Menschen vom Primaten zum staatenbildenden Geschöpf sehen, die mit Haeckels doppeldeutiger Einstellung gegenüber der Abstammung des Menschen vom Affen, auf die ich zum Schluss dieses Kapitels noch eingehen werde, übereinstimmen würde: „Über das Argument einer gemeinsamen ,Geistestätigkeit‘ (die jedoch auch den sozialen Instinkt meinen kann), nähert sich der westliche Mensch den staatenbildenden Ameisen an – und rückt damit von den Primaten ab, deren primitive Lebensform man dank Staatenbildung und gesellschaftlicher Arbeitsteilung hinter sich gelassen hat. Die Auszeichnung der Ameisen- und Termitenstaaten als „Kulturvölker“ (Haeckel) stiftet eine eigenartige Verwirrung, die auch gewollt sein könnte. Man könnte behaupten, dass diese neu aufgebauten ,Primaten‘ eine hoffnungsvolle Möglichkeit eröffnen, der unwillkommenen Verwandtschaft mit affenähnlichen Urmenschen zu entkommen – die in den ,Naturvölkern‘ der Kolonien wieder aufzuerstehen scheinen.“ (Eva Johach: Termite werden. Staatenbildende Insekten im Industriezeitalter, in: Kultur und Gespenster 4/2007, S. 20–37, hier S. 25. Auch abrufbar im Internet unter: http://www.textem.de/?id=1203 (zuletzt aufgerufen am 20. 9. 2009). 85 Ebd., S. 171. 86 Ebd., S. 176. 87 Ebd., S. 179.

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Rassist, da helfen auch Richards’ Rettungsversuche nicht, das evolutionäre Prinzip des survival of the fittest ist gerade auch in diesem Text eng geknüpft an einen Diskurs des Genialischen und Elitären). Aber wenn man einmal von der durchaus berechtigten Irritation über Haeckels Sozialdarwinismus absieht, wird man einerseits zunächst eine gewisse dichterische Gleichgültigkeit gegenüber den unterschiedlichen „politischen Staatskonzepten“ konstatieren, die Haeckel in der Natur vorfindet (im Tierkörper herrscht eine Zellenmonarchie, in der Pflanze die Zellenrepublik88), zum anderen findet sich auch hier wieder – und so führt dieser Umweg auf den Briefwechsel mit Frida von Uslar-Gleichen zurück – ein auffälliges Interesse für die Tragödie des Individuums, das zu dieser Gemeinschaft auf Gedeih und Verderb verdammt ist. Regelrecht zu einem abbreviierten Waldemar Bonsels wird Haeckel ja in der angedeuteten Erzählung von der Medusenperson, die sich als Biene Maja der Syphonophore vom Quallenstock entfernen will.89 Das Thema der Gesellschaftsstiftung ist für Haeckel offenbar nie denkbar ohne das Problem des individuellen Freiheitsbegehrens, die identitätsaufhebende Liebesgemeinschaft der Staatsqualle verhindert nicht Ausbruchsversuche der einzelnen „Person“ – selbst hier ist die Tragödie möglich. So ist auch der hier vorgeführten totalitären Konstruktion ein Dualismus eingeschrieben, der überall in Haeckels Denken dem geschlossenen System des Monismus entgegenläuft, dagegen aufbegehrt – und unterliegt. Erst dieses Moment von Widerstand macht somit den Monismus Ernst Haeckels zum Fatalismus. Ausgesprochen widersprüchlich ist die Medusenmetapher und das, was sich in Haeckels Leben mit ihr verbindet. Die beiden Frauen, denen die Ehre einer Quallenbenamung zuteil wird, Anna und Frida, verschmelzen für ihn nicht allein dadurch, dass Frida von ihm als eine Art Wiedergängerin Annas wahrgenommen wird, sondern auch, indem er jener beispielsweise Gegenstände, die Anna gehörten, übergibt90 – und sie fasst diese Geschenke in der Tat auch als 88 Ebd., S. 193. 89 Waldemar Bonsels 1912 erschienener Roman Die Biene Maja und ihre Abenteuer gehört ebenfalls in den Zusammenhang der Beschäftigung mit den Staatsformen niederer Tiere, die aus dem ganzheitlichen Denken des Symbolismus hervorgeht – Maeterlincks La Vie des Abeilles (1901) wurde bereits erwähnt – und sich auch in rassistischen und nationalsozialistischen Staatsdiskursen fortsetzt (vgl. z. B. Hanns Heinz Ewers Ameisen, München (Müller) 1925). Vgl. Eva Johach: Der Bienenstaat. Geschichte eines politisch-moralischen Exempels, in: Anne von der Heiden/Joseph Vogl (Hg.): Politische Zoologie. Berlin (Diaphanes Verlag) 2007, S. 75–89. 90 Vgl. Das ungelöste Welträtsel Bd. 1, S. 519 sowie S. 544.

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Symbole einer solchen überpersönlichen, syphonophorischen Liebesgemeinschaft auf und praktiziert abermals einen Symbolismus der Übertragung, wie er in allen bereits dargestellten Liebesbriefwechseln stattfindet: „Finde ich in einem Buche den Namen Deiner lieben Anna als Eigentümerin, sehe ich Stellen von Deiner Hand unterstrichen – so ist’s mir fast, als ob die räumliche Trennung gehoben sei u. als ob Anna, Du u. ich zueinander reden u. im Geist vereinigt leben. – “91 Auch in der kurzen Textpassage des Reiseberichts über die Begegnung mit den unerreichbaren Staatsquallen des Indischen Ozeans bleibt es aber nicht bei dem einschichtigen Verweis, sondern auch hier wird das dem neunzehnten Jahrhundert so teure bildungsbürgerliche Zitierverfahren noch weiter getrieben, so dass diese Stelle ganz umwuchert wird von Anspielungen, die den Text selbst zu einer Art Syphonophore machen, die sich aus einer Vielzahl von Subindividuen zusammensetzt. Dem heutigen Leser wird der in Anführungszeichen gesetzte abschließende Halbsatz „bis zuletzt der letzte kommt“ als Zitat wenig sagen, und nur mit Hilfe des Internet, dem Griffel einer neuen Textarchäologie, das manchmal sicherlich auch zu einem neopositivistischen Überschwang verleiten mag, werden hier Bedeutungsschichten wieder lesbar, scheinen die Farben vergessener, im Text verborgener Dichtungen wieder auf, wie das schöne Paul Heyse-Gedicht aus den Reisebriefen: An Joseph Viktor v. Scheffel in Karlsruhe. Die Bezüge, die Haeckel hier herstellen kann, sind mehrfach. Heyses Gedicht ist ein Reisebrief an den Freund, den er 1877 aus Capri, im Gedenken an die dort gemeinsam verbrachten Jugendtage schreibt, auf deren Spuren er durch die Straßen streift, alte Orte und ehemalige Freundinnen und Geliebte besucht, unter anderem die einstmals schöne Mariuccia: [. . . ] Und ich saß ihr gegenüber, Und wir suchten eins im andern Die entschwundne Jugend wieder. Sag mir, Mariuccia, fragt‘ ich, Warum bist du einsam blieben? Angiolinas Onkel, weißt du, Jener schlanke Apotheker, Warst du nicht mit ihm versprochen?

91 Brief vom 14. 10. 1900, in: Das ungelöste Welträtsel, Bd. II, S.567.

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5 Zellenliebe – Ernst Haeckel und Frida von Uslar-Gleichen

Und er liebte dich, und du auch Liebtest ihn Im nächsten Jahre, Sprach sie still, ist er gestorben, Und seitdem Ihr weggegangen, Ist kein andrer mehr gekommen, Mariuccia schön zu finden. Seht, ich bin’s auch nicht geblieben; Wer betrübt ist, altert frühe. Und nun führ‘ ich meinem Bruder Hier das Haus seit manchem Jahre. An Gesellschaft ist kein Mangel, Wie ihr seht; ich bin genügsam. Immer seh‘ ich vom Balkone Einen Tag dem andern folgen, Bis zuletzt der letzte kommt.92

Auf Capri verbrachte Haeckel 1859 paradiesische Tage mit dem ihm lebenslang freundschaftlich verbundenen Maler und Dichter Hermann Allmers.93 Es ist die Zeit seiner „Konversion“ zum Darwinismus und der Höhepunkt seiner Liebe zu Anna Sethe, der er begeisterte Briefe schreibt.94 Das Briefgedicht Heyses ist so einerseits ein Spiegel der eigenen Freundschaft zu Allmers (dessen Gefühle für den Freund, so lässt sich aus den Briefen schließen, Richards vermutet es auch, das nur Freundschaftliche überstiegen, offenbar aber keinen, zumindest keinen erotischen, Widerhall bei Haeckel fanden95), wie auch der eigenen Jugenderinnerungen – darüber hinaus 92 Paul Heyse: An Viktor von Scheffel in Karlsruhe, in: Gesammelte Werke. Bd. 1, Berlin (Hertz) 1872, S. 463f. 93 Vgl. Richards: The Tragic Sense of Life (a. a. O.), S. 57–63. 94 Ernst Haeckel: Italienfahrt. Briefe an die Braut 1859/1860. Leipzig (Koehler) 1921. 95 Auch für Allmers gab es in der Freundschaft zu Haeckel einen unvergesslichen Zaubermoment, dessen er in dem Gedicht Meerfahrt in der Zaubernacht, seinem „lieben Wandergesellen Ernst Haeckel“ gewidmet, gedachte: [...] Fremd waren wir einander noch – Wir sahn uns ja kaum eine Stunde – Und beide trieb’s zu reden doch Uns bald aus tiefstem Herzensgrunde Von allem, was uns lieb und wert, Und wie’s bisher mit uns gekommen, Was uns ein hold Geschick beschert, Was uns ein feindliches genommen, Vom Elternhaus, vom Heimatland, Von glückerfüllten Jugendtagen –

5.5 Bilder der Resignation

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sind Heyses hispanisierende Trochäen (das Versmaß des Desengan˜o) aber auch ein Verlusts- und Resignationsgedicht. Das trostlose Leben der alt werdenden Mariuccia, die auf ihrem Balkon den Tod erwartet, an der die Zeit ebenso Spuren hinterlassen hat, wie an ihren Altersgenossen, die aber zugleich in einen Zustand der Zeitlosigkeit übergetreten ist, in dem das Älterwerden sich nicht mehr mit Sinn füllen lässt, spiegelt Haeckel halb scherzhaft sich selbst, den seiner Jugendliebe verlustig gegangenen. Ebenso spiegeln sich in dem Bild der Mariuccia aber auch Aufschub, Warten und Stagnation in der Beziehung zu Frida, die mehr und mehr als hoffnungsloses Warten erscheint. In auffälliger Weise werden bei diesem auf die Empirie verpflichteten Forscher auch in wissenschaftlichen Zusammenhängen immer Verknüpfungen mit Persönlichem hergestellt. Auch auf sein Werk scheint zuzutreffen, was Goethe in Dichtung und Wahrheit von seinen Schriften behauptet, alle seien „Bruchstücke einer großen Konfession“96. Zur Darstellung des biologischen Weltgesetzes gehört bei Haeckel immer die Figur des diesem tragisch unterworfenen SubUnd herzlich drückten wir die Hand Einander, brauch ich dir’s zu sagen? Und endlich auch von deinem Lieb Erzähltest du – dann wardst du stumm – Indes das Schiff still weitertrieb, Und lautlos wieder war’s ringsum. [ . . . ] wie uns nun vereint Ein Dasein ward, ein Herzensglück Das uns, solang die Sonne scheint, Kein Tag wohl jemals bringt zurück. Doch was die Herzen uns erschloß, Was uns zu Freunden hat gemacht, War nur – meinst du nicht auch, Genoß? – Die Meerfahrt in der Sommernacht. (Haeckel und Allmers. Die Geschichte einer Freundschaft in Briefen der Freunde. Hg. v. Rudolph Koop. Bremen (Arthur Geist) 1941, S. 17f.). Sicherlich kein überwältigend gutes Gedicht. Recht effektvoll ist die nur unauffällig akzentuierte Leerstelle nachdem das angesprochene Du von seinem „Lieb“ erzählt und verstummt und auch alles vorherige überschwängliche Herzausschütten und Erzählen verstummt. Das Fehlen der Gegenstimme, der Gegenerzählung im Vergleich zur vorherigen Wechselseitigkeit des Gespräches setzt einen unaufdringlichen Akzent. Die schön gesetzte Zäsur im Heyse-Gedicht (auf das das Allmers Gedicht, trotz aller Unterschiede, zu rekurrieren scheint), die sich zwischen das vergangene Liebesglück und die Enttäuschung der Gegenwart schiebt, wird hier von der durchgehaltenen Form überspielt, eine vollkommen undramatische, fast verschwindende „unanswered question“. 96 Goethe: Dichtung und Wahrheit. Zweiter Teil, Siebentes Buch, MA, S. 306.

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jekts – in seinen wissenschaftlichen Schriften wie in seinen Briefen an die Geliebte. Eine Figur des Unbehagens im System, mit der häufig direkte Anspielungen auf die eigene Person verbunden sind und die der prästabilierten Harmonie seines monistischen Weltbilds ein Moment von Leiden einfügt, dessen Zweck letztlich aber immer nur die Bestätigung des Unterliegens des Individuums ist. Das Projekt der Haeckelschen Schriften – in seinem Zusammenhang aus wissenschaftlichen Untersuchungen, populärwissenschaftlichen Vorträgen, Reiseschilderungen und privaten Briefen, die, sicher nicht zur Publikation bestimmt, dennoch gegenüber der Briefpartnerin den Anschluss an das „offizielle Werk“ suchen – ist in dieser Verknüpfung von wissenschaftlicher Apodiktik und begleitender Melancholie ein zutiefst gründerzeitliches, eine fatale Verbindung von Determinismus und Selbstmitleid, wie sie das Scheitern der kleinen Aufbrüche in den Romanen Fontanes wie die großen Untergänge ganzer Völker in denen Felix Dahns verursacht. Dem Versuch, die unauflösbaren Dissonanzen seiner Persönlichkeit und seines Lebens – Naturwissenschaft, Kunst, Liebe – aufzuheben oder zusammenzuzwingen, ist so schon von Anfang an das Scheitern eingeschrieben, das mit dem Selbstmord Frida von UslarGleichens dann auch erfolgt.

5.6 Spinozistischer Fatalismus Einsame Menschen bildet mit seiner Dramaturgie der Vergeblichkeit eine Folie des Paares Haeckel-Uslar-Gleichen, das sich ebenso wie der Gelehrte Johannes Vockerat und die Studentin Anna Mahr in seiner intellektuellen Überlegenheit von der Umwelt unverstanden und isoliert weiß. Zwei verfrühte Übermenschen müssen an den gesellschaftlichen Umständen zugrunde gehen. Hauptmanns Poetik, in der Vererbung zur Grundlage einer Wiedergeburt der Tragödie wird, eine neue Schicksalshaftigkeit stiftet, die eine ungeheure Steigerung des Dramatischen ermöglicht, weit über die Weimarer Klassik hinaus weisend (deren Tragödien letztendlich gegen das Tragische gerichtet waren, darin ein zu überwindendes Problem sahen, das Hauptmann jetzt in all seiner Entsetzlichkeit dennoch als „Natur“ feiert), passt außerordentlich gut zum Selbstbild dieses Paares, erklärt zum Teil die Bereitwilligkeit, mit der sich beide ihrem „Schicksal“ ergeben. Selbst die Hoffnungen, die beide sich mitunter

5.6 Spinozistischer Fatalismus

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für eine gemeinsame Zukunft erlauben, sind vom Wirken und Walten der „Natur“ determiniert, die Haeckels Frau einen „friedlichen Tod“ bescheren könnte, wie beide mehrmals relativ unverhohlen äußern.97 Johannes Vockerats Absicht, „objektiv“ zu sein, was für ihn heißt, anders als sein ihn wegen seiner Feigheit und Inkonsequenz kritisierender Freund Braun, eine „Sache, die soundso vielen heilig ist“98 zu respektieren, trotz der Wut, die ihm die Angriffe des dümmlichen Pfarrers Kollin gegen Darwin und Haeckel verursachen, ist letztlich auch die Ursache seiner Zerrissenheit, denn Liebe bindet ihn sowohl an Mutter und Ehefrau – in einer dumpf-kindlichen Weise –, wie an die ihm intellektuell nahestehende Anna. In dem Brief, aus dem Zitat stammt, das dieses Kapitel einleitet, versucht Ernst Haeckel, wieder einmal, eine Bestandsaufnahme der Beziehung zu machen und nüchtern drei Möglichkeiten eines zukünftigen Umgangs zu erwägen: Verzicht, Hoffen und Warten auf den Tod von Haeckels Ehefrau oder gemeinsame Flucht – eine Möglichkeit, die er aber sogleich ausschließt. Alle in diese Richtung gehenden Reflektionen bleiben Rechtfertigungen der Stagnation. Das Warten, das Bangen bei Verschlechterung des Gesundheitszustandes von Haeckels wenig geliebter Ehefrau, das Verzagen, Aufgeben, Trennung Ankündigen und diese Ankündigung wieder Zurücknehmen, bestimmt die Briefe dieses Paares. Zugleich ist das Gespräch – durchaus kontrovers geführt – über Haeckels naturwissenschaftliche Forschungen ein Band, was beide aneinander knüpft. In den Briefen ist Frida seine „Assistentin“ – auch wenn sie es in der Realität nie werden konnte. Wenn nun Haeckel in jenem Brief vom 5. August 1899 das „Welträtsel“ dieser aller Vernunft und allem Glücksbegehren zuwiderlaufenden Liebe durch „Wahlverwandtschaft“ erklärt, dann stellt er da97 Frida von Uslar-Gleichen am 11. 9. 1899: „Wir wären aber keine Menschen, mein theurer Freund, wenn neben solchen Gedanken nicht auch andere aufstiegen, die sich nicht bannen lassen – ich kann es, wenn ich noch so ehrlich bin, nicht Wünsche u. Hoffnungen nennen, wohl aber leise Träume, was werden könnte, wenn sich die müden Augen schlößen ectr . . . Mein theurer Mann, machen Sie sich mit dem Gedanken vertraut, daß zehn – nein hundert Mal solche Zeiten kommen werden, wo der Zustand Ihrer armen Frau das Schlimmste befürchten läßt u. stärken sie Ihr herrliches, großes Herz, daß es in reinstem Mitgefühl u. in dem Wunsche für das Glück Anderer sich selbst vergißt u. jede neue Prüfung es nur fester u. selbstloser finde.“ (Das ungelöste Welträtsel I, S. 288) 98 Hauptmann: Einsame Menschen (a. a. O.) Akt I, S. 305.

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mit eben über den Goetheschen Roman hinaus auch eine Verbindung zu seinem eigenen Werk her, das ihm zur Prophezeiung dieser Liebe und zu ihrer Legitimation wird. In den Welträtseln – jenem Buch, dessen Fahnen er Frida zu lesen gegeben hat und dessen Erscheinen einen breiten Strom der Entrüstung wegen der atheistischen und materialistischen Weltanschauung, die sich darin bekundet, hervorrufen wird (teilweise wird auch Frida selbst in diesen Chor der Entrüsteten einstimmen), schreibt Haeckel im Abschnitt zur Physiologie des Seelenursprungs im Kapitel „Keimesgeschichte der Seele“ über den „psychologischen Chemotropismus“ der Wahlverwandtschaft: Wenn nun die beiderlei Zellen infolge der Begattung zusammentreffen, oder wenn sie durch künstliche Befruchtung (z. B. bei Fischen) in Berührung gebracht werden, ziehen sie sich gegenseitig an und legen sich fest aneinander. Die Ursache dieser zellularen Attraktion ist eine chemische, dem Geruche oder Geschmacke verwandte Sinnestätigkeit des Plasma, die wir als „erotischen Chemotropismus“ bezeichnen; man kann sie auch geradezu (sowohl im Sinne der Chemie als im Sinne der Romanliebe) „Zellenwahlverwandtschaft“ oder „sexuelle Zellenliebe“ nennen.99

Im Unterschied zum Kulturkritiker Max Nordau sieht der Naturwissenschaftler Haeckel offenbar keinen Gegensatz zwischen natürlicher und Literatur-, bzw. Roman-Liebe. Ausführlicher heißt es dann im Kapitel „Das Substanzgesetz“: Wahlverwandtschaft der Elemente. Das verschiedene Verhalten der einzelnen Elemente gegeneinander, das die Chemie als „Affinität oder Wahlverwandtschaft“ bezeichnet, ist eine der wichtigsten Eigenschaften der Masse und äußert sich in den verschiedenen Mengen-Verhältnissen oder Proportionen, in denen ihre Verbindung stattfindet, und in der Intensität, mit der dieselbe erfolgt. Alle Grade der Zuneigung, von der vollkommenen Gleichgültigkeit bis zur heftigsten Leidenschaft, finden sich in dem chemischen Verhalten der verschiedenen Elemente gegeneinander ebenso wieder, wie sie in der Psychologie des Menschen und namentlich in der Zuneigung der beiden Geschlechter die größte Rolle spielen. Goethe hat bekanntlich in seinem klassischen Roman „Die Wahlverwandtschaften“ die Verhältnisse der Liebespaare in eine Reihe gestellt mit der gleichnamigen Erscheinung bei Bildung chemischer Verbindungen. Die unwiderstehliche Leidenschaft, welche Eduard zu der sympathischen Ottilie, Paris zu Helena hinzieht und alle Hindernisse der Vernunft und Moral überwindet, ist dieselbe mächtige „unbewußte“ Attraktionskraft, welche bei der Befruchtung der Tier- und Pflanzeneier den lebendigen 99 Ernst Haeckel: Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie. Mit einer Einleitung von Iring Fetscher. Stuttgart (Kröner) 1984, S. 179.

5.6 Spinozistischer Fatalismus

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Samenfaden zum Eindringen in die Eizelle (aber auch zur Apfelsäure!) antreibt; dieselbe heftige Bewegung, durch welche zwei Atome Wasserstoff und ein Atom Sauerstoff sich zur Bildung von einem Molekül Wasser vereinigen. Diese prinzipielle Einheit der Wahlverwandtschaft in der ganzen Natur, vom einfachsten chemischen Prozeß bis zum verwickelsten Liebesroman hinauf, hat schon der große griechische Naturphilosoph Empedokles im fünften Jahrhundert v. Chr. erkannt, in seiner Lehre vom „Lieben und Hassen der Elemente“. Sie findet ihre empirische Bestätigung durch die interessanten Fortschritte der Zellularpsychologie, deren hohe Bedeutung wir erst in den letzten vierzig Jahren gewürdigt haben. Wir gründen darauf unsere Überzeugung, daß auch schon den Atomen die einfachste Form der Empfindung und des Willens innewohnt – oder besser gesagt: der Fühlung (Aesthesis) und Strebung (Tropesis) –, also eine universale „Seele“ von primitivster Art (noch ohne Bewußtsein! –)100

Es scheint, als denke Haeckel hinsichtlich des Geschlechtstriebs dann doch wie Schopenhauer. In dessen Metaphysik der Geschlechtsliebe heißt es: „Denn alle Verliebtheit, wie ätherisch sie sich auch geberden mag, wurzelt allein im Geschlechtstriebe, ja ist durchaus nur ein näher bestimmter, specialisierter, wohl gar im strengsten Sinn individualisierter Geschlechtstrieb.“101 Hin und wieder erinnern Haeckels mit Hartnäckigkeit vertretener Monismus und sein daraus hervorgehendes analogisches Denken aber auch an die materialistische Philosophie des 18. Jahrhunderts. Nicht umsonst führt er selbst als weiterführende Lektüre zu diesem Kapitel La Mettries L‘Homme machine an. Sein Monismus ist – etwa im Vergleich mit dem biologischen Monismus, wie ihn H. G. Wells und Julian Huxley in The Science of Life formulieren102 ganz deterministisch. Vererbung ist in seinem System eine Art Kismet, unabänderliches Schicksal, dem sich das Individuum zu unterwerfen hat. Ebenso ist es mit der Liebe. 100 Haeckel: Welträtsel, S. 285f. 101 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Zweiter Band, welcher die Ergänzungen zu den vier Büchern des ersten Bandes enthält, Viertes Buch, Kapitel 44: Metaphysik der Geschlechtsliebe, in: Werke in fünf Bänden, hg. v. Ludger Lütkehaus, Frankfurt am Main (Haffmans bei Zweitausendeins) 2006, S. 618f. 102 Vgl. H. G. Wells, Julian Huxley, G. P. Wells: The Science of Life, London etc. (Cassell) 1931. Book 8, Chapt. 4, § 4: The Body-Mind (S. 763): „We may never be able to untie the knot of predestination, but we can assert that the sense of freely willing is an essential part of this new machinery evolved by life for choosing between different ideas or courses of action. To spare oneself these feelings by substituting the idea of predestination in the excessively crude form of Kismet or Fate imposed on us from without is not only poor philosophy but a retrograde step in evolution.“

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Zwangsläufig zieht es die Menschen zueinander wie den Samenfaden zur Eizelle. Dass dieser Vorgang nun aber wiederum als ein psychologischer Prozess, als eine Seelenstrebung angesehen wird, verknüpft diesen Materialismus unversehens mit einer Idee von Allbeseeltheit, die über La Mettrie hinausweist. Hier zeigt Haeckels Monismus Übereinstimmungen mit dem psychophysischen Monismus eines Spinozisten wie Gustav Theodor Fechner, dem der physische Zusammenhang des Weltalls zugleich ein psychischer ist. Fechner, dessen Schriften außerordentlich einflussreich für das naturphilosophische, und -wissenschaftliche Denken in Deutschland bis ins 20. Jahrhundert hinein sind, verlagert gewissermaßen den Ganzheitsanspruch des Historismus auf die Allbeseeltheit eines Kosmos, in dem selbst die Planeten Seelen haben.103 In seiner Schrift Einige Ideen zur Schöpfungs- und Entwicklungsgeschichte der Organismen104 von 1873 bringt er sein System der prästabilierten Allseele mit der Darwinschen Lehre in dem „Prinicip der Tendenz zur Stabilität“105 in Übereinstimmung: „das Princip der bezugsweisen Differenzierung und des Kampfes um das Dasein sind besprochenermassen nur Hebel des Fortschrittes nach diesem Princip: indess das Princip der Vererbung die Erfolge des bisherigen Fortschrittes sichert“106, so dass, mit den Worten von Fechners Biographen und Anhänger, dem Physiker und Science-Fiction-Autor Kurd Laßwitz, es sich denken lässt, „daß der Kreislauf, der sich nicht bloß im einzelnen Organismus bildet, ebenfalls eine Form der Stabilität bietet, die in Bezug auf die gleichzeitige Existenz organischer und anorganischer Bildung die möglich größte mit ihrem Zusammensein vereinbare Stabilität anstrebt“107. Jede Entwicklung und evolutionäre Veränderung hat also eine Tendenz zur Stabilisierung, in der sich der Plan der Allseele erfüllt. Die Psyche der Zelle in Haeckels Zellular103 Zu Gustav Theodor Fechner im besonderen und die Bedeutung der Psychophysik und des Monismus für die intellektuellen Bewegungen der Jahrhundertwende vgl. Monika Fick: Sinnenwelt und Weltseele. Der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende, Tübingen (Niemeyer) 1993, bes. S. 37–48 (Fechner). 104 Gustav Theodor Fechner: Einige Ideen zur Schöpfungs- und Entwicklungsgeschichte der Organismen, Leipzig (Breitkopf und Härtel) 1873. 105 Ebd., S. 35. 106 Ebd., S. 89. Inwiefern der sich hier äußernde Monismus und das ganzheitliche Denken der von Stifter praktizierten Kalobiotik in Verbindung miteinander stehen, wäre ein interessanter Untersuchungsgegenstand. 107 Kurd Lasswitz: Gustav Theodor Fechner, Stuttgart (Frommanns Verlag) 2. verm. Aufl. 1902, S. 137.

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psychologie erfüllt ebenfalls diese Entelechie, deren Allegorie Haeckel im Bild der Staatsqualle gegeben hat. Mit einer eigentümlichen Schmerzenslust konstatiert Haeckel in dem oben zitierten Brief an Frida von Uslar-Gleichen, dass die schicksalhafte Liebe, die beide füreinander empfinden, sein naturwissenschaftliches System bestätigt. Hier erweist sich für ihn die Übereinstimmung von Leben, Wissenschaft und – Literatur. Eine unfreie Liebe, bei der Imagination oder Kristallisation – ganz anders als bei Stendhal – anscheinend überhaupt keine Rolle spielt, weil das Voneinander-Angezogen-Sein ein mechanischer Reflex ist, – und die doch in der Zwangsläufigkeit und Unentrinnbarkeit ihrer Wirkung große Ähnlichkeit mit der Liebe Stendhals hat. In die Imagination werden hier die Begleiterscheinungen dieser Entelechie verlegt: das individuelle Leiden am biologischen Dispositiv. Als Naturwissenschaftler ist Haeckel also Naturalist. Durchaus wird sich von Uslar-Gleichen durch diesen naturwissenschaftlichen Determinismus immer wieder provoziert und zu Spott oder Protest herausgefordert fühlen – und so einige Höhepunkte des Briefwechsels zu liefern: Vergleichen Sie das sexuelle Gefühl u. die damit verbundenen zartesten u. süßesten Regungen im Menschen mit dem „Geschlechtstriebe der höheren Tiere“ so kann ich auch nicht eine Spur von Ähnlichkeit mehr entdecken. Hier fehlt (bei den Tieren) nicht mehr wie alles, was Gemüt heißt u. nur das Sensuelle bleibt. – Die Leidenschaft, die in den „Ganglienzellen der Großhirnrinde ihren Sitz hat – macht mich herzlich lachen. So recht männlich gesagt. Alles bis aufs Kleinste mit dem Verstand seziert wahr u. schonungslos bis zu den Wurzeln auch gegen Sich Selbst u. dabei ein so weiches geliebtes großes Kind. Unsere bösen! Ganglienzellen – Was haben sie uns alles angethan! Sollten sie nicht auf operative Weise zu entfernen sein?108

Bei dem Versuch, sich dieser Einbeziehung in ein biologisches System zu entziehen, kommt Uslar-Gleichen letzten Endes beim selben Fatalismus an – nur dass sie ihn außerhalb des Bereichs des wissenschaftlichen Zugriffs belässt, die Bastion der Poesie verteidigt, die Haeckel mit der Naturwissenschaft verschmelzen will:

108 Brief vom 1. 10. 1899, in: as ungelöste Welträtsel. Frida von Uslar-Gleichen und Ernst Haeckel, Briefe und Tagebücher, hg. v. Norbert Elsner, 3 Bde., Göttingen (Wallstein) 2000. Bd. 1: 1898–1900, S. 302.

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Lieber, Theurer wozu alles Grübeln u. Sezieren? Wir haben einfach zueinander kommen müssen, weil es tief im Geheimnis unserer Naturen so vorbestimmt war. Ich weiß deshalb doch, daß es etwas Außergewöhnliches ist; daß Sie mir Unendliches geben – ohne Ihren Willen, sich selbst unbewußt u. fremd – daß ich völlig aus meiner spröden Herbigkeit heraus getreten bin. – [ . .. ]109

In der Konstitution eines Bereichs des Unerklärlichen, des Wunders, wird einerseits Einspruch gegen eine „Entzauberung“ durch Wissenschaft erhoben, ein Raum des Religiösen oder Quasi-Religiösen freigehalten. Letzten Endes wird aber dieselbe Auffassung einer schicksalhaften Anziehung einmal mit Mustern (letzten Endes romantischer) Naturwissenschaft, einmal mit denen des romantischen Liebesdiskurses umschrieben: Ja, die wunderbare! Sympathie zwischen uns! Wie es nur kommt, daß zwei Menschen, die aus so ganz verschiedenen Verhältnissen hervorgingen, einen so unwiderstehlichen Seelenzug zu einander fühlen? Ist es nicht etwas so Großes, Heiliges, daß kein Gottesdienst daran reicht! Wie weit bist Du nun schon von mir getrennt! u. doch fühle ich Deine Nähe unausgesetzt u. vorige Nacht, als ich aufwachte, war es mir als ob mir jemand leise über das Haar striche u. halb im Traum dachte ich – das kann nur Haeckel sein! Wenn ich Dich nenne, den Meinen gegenüber, die oft nach Deinen Büchern u. Deiner Reise fragen, so rede ich nur von „Haeckel“ u. so kommt es, daß mir Dein großer Name, der Dich zum ersten unter allen Gelehrten stempelt – mir vertrauter ist als „Ernst“. Für mein eigenes Herz aber bist Du nur „mein Liebling“ oder „Silberhäschen“.110

Was sie Wunder nennt und er Biologie, gleicht sich in der Sache. In der Schicksalsgläubigkeit und der Passivität sind sich beide Korrespondenten einig. Wie aktiv erscheint dagegen Stifter in seinem verzweifelten Selbsterziehungsprojekt! Wenn immer wieder über die Erklärung der Liebe als Wunder oder biologische Fügung diskutiert, mitunter fast gestritten wird, dann ist dem heutigen Leser dabei recht deutlich, dass es auch um die Frage der sexuellen Erfüllung geht, an die im Konzept der Entsagung und des Ausharrens, wie es ihr vorschwebt, zunächst nicht gedacht ist. Im April 1901 wird die Debatte hierüber recht heftig. Frida von Uslar-Gleichen beschwert sich über die immer selteneren und nichtssagenderen Briefe:

109 Brief vom 23. September 1899, in: Ebd., S. 294. 110 Brief vom 5. September 1900, in: Das ungelöste Welträtsel, Bd. 2, S. 558.

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Du schreibst in jedem Deiner Briefe, lieber Freund, daß du Dich nach meinen „warmen Worten“ sehnst, vergißt aber, daß Du selbst Dich völlig auf den Standpunct kühler Resignation zu stellen wünschst. – Ohne es zu wollen, hast Du mich oft verletzt. Ich habe Grund anzunehmen, daß das Bild unserer Freundschaft u. Liebe, sich in Deinem Gedächtnis etwas verschoben hat u. daß Du mir den Hauptteil der Schuld beimißt, wenn wir in unserer vertrauenden Hingabe so weit kamen, wie es geschah. [. .. ] Du mußt mir aber nachfühlen, daß ich Dir nun auch nicht mehr meine volle Zärtlichkeit geben kann; ich würde mit der Zeit wirklich leicht in den Verdacht der Unweiblichkeit kommen, abgesehen davon daß es mir widerstrebt, mehr zu geben, als ich empfange. – Wir werden also die Bahn ruhiger Freundschaftsbriefe betreten u. Du sollst in meinen Briefen stets das Echo Deiner eigenen finden. Schreibst Du mir nur alle Monate ein Mal, so werde ich Dir in ganz dergleichen Pausen antworten ectr. .. Vielleicht wird Dir mit der Zeit diese Art der Correspondenz lieber sein, als die frühere u. Dir viele Kämpfe ersparen. Ich möchte wenigstens alles thun, um den von Dir projectierten u. in allen Briefen der letzten Monate wiederholt bestätigten Plan für unsere Correspondenz zu erleichtern.111

In seiner Antwort wird sein Unmut über das „Nur-Briefliche“ der Beziehung ziemlich unverhohlen geäußert: Wenn Du findest, daß wir Beide auf das persönliche Beisammensein und auf den unmittelbaren Austausch „von Mund zu Mund“ überhaupt verzichten sollen, dann ist es besser, Du gewöhnst Dich an den Gedanken (– der doch früher oder später zur harten Wirklichkeit wird – ), Dein „alter Freund“ sei gestorben. Unsere fortgesetzte Correspondenz gieb dann lieber auf ( – wie du es bei R. W. gethan hast! – ); ich meinerseits fühle nur zu sehr, daß ich von Zeit zu Zeit Dich sehen muß und Deine wunderbare Person Hand in Hand genießen muß, wenn ich überhaupt, wie bisher, Tag und Nacht in Gedanken bei Dir sein und sie Dir brieflich mittheilen soll!112

Mit „Person“ und „Persönlichkeit“ von denen in diesem Zusammenhang immer wieder die Rede ist, ist ganz offensichtlich der sexuelle Kontakt gemeint. Der Brief kann nur Ergänzung zur sexuellen Erfüllung sein, nicht diese ersetzen. Die Frage, die hier ansteht, ist offenbar die, ob man nicht doch ein ganz „gewöhnliches Liebespaar“ sein wolle, das sich heimlich trifft und seine Beziehung vor der Welt verbirgt – denn das ist letztendlich sein Vorschlag – oder ob man das Projekt einer Übermenschenpartnerschaft aufrecht erhält, die durch Entsagung legitimiert und überhöht wird. Hier wird das „Sexuelle“ diskursiviert (vgl. Foucault: Der Wille zum Wissen113) 111 Brief vom 4. April 1901, in: Ebd., S. 617. 112 Brief vom 11. April 1901, in:Ebd., S. 623f.

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bzw. überhaupt als Entität installiert (Doderer: Sexualität und totaler Staat114), ein Zusätzliches und Anderes, als „Natur“, als „Trieb“ den Einzelnen determinierend und nach Erfüllung drängend. Dieses Sexuelle kann nicht – ganz anders als der sich im Brief fortschreibende Eros im Briefwechsel der Stifters oder auch in Sacher-Masochs Aufschub-Konzept – in den Briefwechsel integriert werden. Es liegt außerhalb der Rede und Schrift und wird – je länger es als Mangel empfunden wird – mehr und mehr zu ihrem Gegensatz. Hier wird auf Einlösung des Körperlichen gedrungen. Der Brief ist nur ein Vertreter und Stimulator, ein Surrogat, Ersatz, nicht Medium des Eros. Allen integrativen Schreibmaßnahmen zum Trotz trennt sich hier – zumindest für Ernst Haeckel – der Körper wieder vom Geist, bricht die Allseele entzwei. 113 Foucault: Der Wille zum Wissen (a. a. O.), S. 39f.: „Nun müßte man gerade die geläufige These in Zweifel ziehen, wonach der Sex außerhalb des Diskurses steht und man nur über die Beseitigung eines Hindernisses und den Bruch eines Geheimnisses den Weg zu ihm finden kann. Gehört nicht diese These zu dem Imperativ, durch den man den Diskurs hervortreibt? Läßt man nicht gerade um der endlosen Erweiterung und Erneuerung der Sprechanreize willen den Sex als äußerste Grenze jedes aktuellen Diskurses oder als das unbedingt zu lüftende Geheimnis erscheinen? – als eine widerrechtlich zum Schweigen verurteilte Sache, über die zu sprechen gleichzeitig schwierig und notwendig, gefährlich und kostbar ist? [ . . . ] Das Geheimnis des Sexes ist keineswegs die allen Sprechanreizen zugrunde liegende Realität – gleichgültig, ob sie diese aufzubrechen oder aber durch ihr Reden wieder zu verfestigen suchen. Eher handelt es sich um ein Thema, das zur Mechanik der Anreize gehört, um eine Art und Weise, der Redeaufforderung eine Form zu geben, eine für die grenzenlos wuchernde Ökonomie des Diskurses über den Sex unentbehrliche Fabel. Die modernen Gesellschaften zeichnen sich nicht dadurch aus, daß sie den Sex ins Dunkel verbannen, sondern daß sie unablässig von ihm sprechen und ihn als das Geheimnis geltend machen.“ in diesem Sinne ist die „Diskursivierung des Sexes“ ebenso bei Sacher-Masoch und seinen Briefpartnerinnen zu finden, wie bei Haeckel/Uslar-Gleichen, wo der Sex in der Rede ja weit weniger in Erscheinung tritt. Es ist aber gerade der von Foucault konstatierte Imperativ, der Sex stünde außerhalb der Rede, besitze eine außerhalb der Sprache liegende Realität, die Behauptung eines „Wesens“, einer sexuellen „Essenz“, die den Haeckel-Uslarschen vom sacher-masochistischen Diskurs unterscheidet: jener ist eben faktisch dualistisch, indem er eine Spaltung zwischen Sprache und Leben voraussetzt, die die Sprache, das Schreiben über Liebe und Sexualität als etwas vom Leben, vom Eigentlichen, von dem, was die beiden „Persönlichkeit“ nennen, abgetrenntes erscheinen lässt. Bei Sacher-Masoch und Mataja, noch mehr bei Sacher-Masoch und Rümelin oder auch in den Sacher-Masochschen Romanen ist die Sprache jedoch der Sex! 114 Heimito von Doderer: Sexualität und totaler Staat, in: ders.: Die Wiederkehr der Drachen. Aufsätze, Traktate, Reden. Hg. v. Wendelin Schmidt-Dengler. München (Biederstein) 1970, S. 273–298.

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Das Problem, das auch in Haeckels Ablehnung des Idealismus liegt, ist Frida von Uslar-Gleichen bewusst und sie schreibt einen langen und überlegten Brief, in dem sie unter Berufung auf Moral und Gesellschaft zugleich eine Ernsthaftigkeit seinerseits zu erzwingen versucht, um das unausgesprochen erwogene Programm einer „heimlichen Affäre“ zu verhindern: Wenn Du mir in Deinem letzten Briefe sagst: nach reiflicher Überlegung bin ich zu dem u. dem Resultat gekommen, so täuschest du Dich völlig über dich selbst. Das, was Du mir in den langen Monaten Deiner Abwesenheit in jedem Briefe schriebst, war nicht nur pathologisch. Nein, Dein wahrer, guter Instinct sagte Dir, daß unser Verhältnis der innigen Liebe nicht so fortgeführt werden kann, wenn wir uns nicht völlig geistig u. körperlich aufreiben wollen – dasselbe was ich mir schon hunderte von Malen gesagt habe – solange keine Aussicht auf dauernde Vereinigung ist. – Denkst Du jetzt anders, so kommt das daher, weil d. nimmermüde Sehnsucht nach Glück u. Wiedersehen Dich bei Deiner Heimkehr mit doppelter Macht überfiel u. willenlos macht, bis auf den einen Wunsch: des Wiedersehens mit mir. Nun höre zu: „Ich sehne mich ebenso innig, Dich zu sehn, Deinen geliebten Kopf an mein Herz zu legen, Dir all d. Fülle der Zärtlichkeit zu geben, die Du so sehr entbehrst u. seit dem Tode Deiner Anna nicht besessen hast. [.. . ] In mir lebt aber eine Stimme, die sich nicht töten läßt u. die mir sagt: so wie Ihr jetzt miteinander verkehrt, wenn Ihr zusammen seid, ist es Unrecht gegen alle menschlichen, seit Ewigkeiten her mühsam erworbenen Grundsätze von Pflicht u. Recht. [. . . ] Bedenke, daß die Nachwelt unsere schönen reinen Namen mit Schmutz bewerfen kann; denn wir sind keinen Tag vor Entdeckung sicher, wenn wir zusammen kommen u. d. Menschen sehen nichts als d. Schlechte! Sie können, selbst wenn sie wollen, keine Ideale fassen. werden wir selbst bei den Idealen verharren? Mein einziger Wunsch ist, da wir zur Resignation (vorläufig) gezwungen sind, unserem Verhältnis Klarheit u. Wahrheit zu geben, es in solche Bahnen zu lenken, daß wir jedem in die Augen sehen dürfen. [. . . ] – Und von diesem Wege, zu dem du, wenn Du es ernstlich willst, schon die rechten Mittel finden wirst, mache ich unser Wiedersehn abhängig. so schwer Dir der Entschluß sein wird, u. so viel Du erst zu leiden hast, mein süßer, innig geliebter Ernst, so wirst Du mit der Zeit seinen Segen empfinden, gleichwie über mich Ruhe u. Frieden kommt, während ich schreibe.115

Uslar-Gleichen, im Sinne der angenommenen Rolle einer Charlotte von Stein, kämpft um die Weiterführung des Aufschub-Projekts und damit um die Aufrechterhaltung des ganzheitlichen Anspruchs dieser Liebe. Auf das Sexuelle will er aber nicht mehr verzichten: 115 Brief vom 14. April 1901, in: Das ungelöste Welträtsel, Bd. II, S. 625–628.

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. .. daß „alle den Körper betreffenden Wünsche zurücktreten müssen“! – Die Erfüllung dieser Bedingung, liebste Fr.! ist mir ganz unmöglich! Du weißt nicht, wie grenzenlos ich Dich liebe! wie das ganze natürlich und gute und reine! – Liebesbedürfniß des gesunden Mannes, das in der unglücklichen 34 jährigen Ehe mit meiner armen kranken Frau (der jedes Verständniß für volle Hingabe fehlt!) gewaltsam zurückgedrängt wurde, durch Dich neu belebt, durch Deine schöne, ganz eigenartige, reizende Persönlichkeit zur flammenden Leidenschaft gesteigert worden ist. Ich kann nicht kühl u. ruhig neben Dir sitzen u. mit dir plaudern, wo meine ganze Seele nach Kuß und Umarmung drängt!116

Indem er zugleich darauf dringt, auch die Briefsprache nicht mehr erotisch zu unterwandern, erteilt er der erotischen Schreibart – zumindest vorläufig – eine Absage: „dann, Liebste! müssen wir nicht nur auf alle diese süßen Genüsse Verzicht leisten, sondern auch auf alle Zärtlichkeiten, die daran erinnern, und die unseren l. Briefwechsel bisher gewürzt haben. Dann darf weder von der „Weißen Taube“, noch von dem weichen „Seidenschwänzchen“ die Rede sein, weder vom lieben Silberschwan, noch vom Weißen Raben und Silberhäschen“!117 – Bilder der Harmlosigkeit, die hier ihre insgeheime sexuelle Konnotation preisgeben. Beruhte das Spiel mit derlei Verschlüsselungen sowohl auf beiderseitigem Einverständnis wie auf einem Verschweigen des Doppelsinns, war die Kommunikation also auf Integration des Eros durch Symbolisierung gegründet, so droht Haeckel mit dem Ausstieg aus dem Spiel, indem er die Rede auf das Sexuelle als etwas außerhalb des Briefverkehrs liegendem bringt. Dies würde zugleich die Profanierung dieser von beiden Partnern so lange als absolut gesetzten Liebe zur „Affäre“ – und damit den Übergang in einen neuen Dualismus, den von Sein und Schein – bedeuten. Haeckels Kampf gegen den Idealismus wird immer mehr auch ein Kampf gegen den Idealismus in der Liebe. Frida von UslarGleichens Konzept eines Aufschubs und einer Verbrieflichung der Liebe wird von ihm deshalb zuletzt immer aggressiver abgewehrt. Die polemische Gegnerschaft zum Idealismus lässt aber auch ihn selbst paradoxerweise wiederum in einen neuen Dualismus verfallen: weil das Ideal irgendwie immer Lug und Betrug ist, baut er den Gegensatz von Natur und Geist erneut auf, indem er letzteren einfach immer nur unter negative Vorzeichen setzt. Haeckel lehnt den 116 Ebd., S. 736. 117 Ebd., S. 738f.

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Idealismus ab und setzt ihn doch in seinem Denken überall und immer als Gegenfigur voraus. Auch die Liebe zu Frida kann er nur mit Kategorien des naturalistischen Fatalimus beschreiben, da wo er sich um eine Sinnstiftung bemüht, muss er sogar den lieben Gott noch einmal zu Hilfe rufen: „Die Welt mit ihren heuchlerischen Sitten-Begriffen würde diesen Herzens-Bund scharf verurtheilen; – Gott, der ,all liebende Vater, der Alles kennt‘ (wenn er existierte! –) würde ihn segnen; er würde sagen, daß er uns dises süße Geschenk als Entschädigung für so viel Leid und Kummer gegeben habe!“118 So wird die Natur zur großen Entzaubererin, zur Enttäuscherin – wo sie doch zugleich als Ursprung und Quell alles Schönen verehrt werden soll. Augenfällig wird dieser Widerspruch in der letzten Tafel, die Haeckel für die Kunstformen der Natur vorgesehen hat und in dem Konflikt, der sich darüber mit Uslar-Gleichen entspinnt: Dabei fällt mir ein: Geliebter, könntest Du nicht d. Frauenfigur auf der letzten Tafel (Tafel 100!!) Deines Werkes ohne Affen bringen? Ich kann mir nicht denken, daß Affen wirkl. Anspruch an „Kunstformen“ machen; dagegen denn das was, ohne d. Schönheit, unsere Körper zu Kunstformen stempeln könnte, ist doch nur das Durchdringen des Höheren, Geistigen. Sei nun der Affe auch noch so entwickelt – u. wie ich überzeugt bin, unser Ahnherr, so ist das geistige Element bei ihm noch nicht vorherrschend, d. Schönheit aber fehlt. – Und weshalb, nur weil Du „Haeckel“ bist, diese Affenverherrlichung? Auch ohne das, kennen d. Menschen Deinen Standpunct. Dann wenigstens, bringe auf Tafel 100 nicht nur Affen, sondern auch andere Säugetiere. Weshalb aber nicht lieber Deine Frau von einzelnen Körperteilen, wie Hand, Nagel, Arm – Haar – Auge, Lippen ectr. . . umrahmen. Machst Du es nicht bei Deinen Siphonophoren ebenso?119

Haeckel hatte für die letzte Tafel eine Zeichnung angefertigt, die die „Apotheose des Entwicklungsgedankens“120 verherrlichen und zugleich auch eine Huldigung an Frida sein sollte, und die geistige Wiedergeburt, die er durch sie erlangt hatte.121 In der Mitte des Bildes erscheint eine nackte, idealschöne Frauengestalt in klassischer Pose, die von Felsen und Blattwerk umrahmt, sich hell vor dem Hintergrund eines dunklen Höhleneingangs abhebt. Um diese Frauengestalt herum, die offenbar Fridas Züge tragen sollte und 118 119 120 121

Ebd., S. 735. Brief vom 14. Januar 1902, in: Ebd., S. 729. Vgl. Abb. in ebd., S. 731 und in Richards: The Tragic Sense of Life (a. a. O.), S. 418. Vgl. Richards: The Tragic Sense of Life (a. a. O.), S. 417–419.

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„Helena, als schönste aller „Kunstformen der Natur“122 repräsentiert, sind im Kreis unterschiedliche Arten von Menschenaffen gruppiert, die in Haeckels Darstellung durchaus einen gewissen karikaturhaften Zug haben, der die „Hässlichkeit“ und Einfalt dieser Geschöpfe gegenüber der Mittelfigur betont. Auffällig ist das Bemühen, den Affen zugleich porträthaft-menschliche Züge zu geben und diese durch der charaktertypologischen Konvention entsprechende Ausdrucksformen von Verschlagenheit (links oben), Einfalt (links unten, rechts oben) oder monomanische Konzentration (unten Mitte) in an Hogarth erinnernder Manier zugleich abzuwerten. Unten links versucht ein ziemlich selbstzufrieden dreinblickender Orang-Utan die Pose der Helena offenbar zu imitieren und diskreditiert sich zugleich durch den Greifreflex, der ihn mit Händen und Füssen nach Ästen krallen lässt. Ein aufrecht stehendes Gorillaweibchen, dessen große, von feuchtem Schimmer glänzende Augen auf beinahe Guido-Reni-hafte Weise nach oben gerichtet sind, zeigt in ihrer Haltung bereits eine Annäherung an das Ideal und im Blick ein Moment des Über-sich-Hinausgehens. Gleichzeitig sind ihre fast obszön betonten Brüste geradezu eine Verhöhnung der schönen weiblichen Formen des Ideals und scheinen eine Beobachtung Haeckels an den Fischweibern von Marseille bestätigen zu sollen, die er Uslar-Gleichen im September 1899 mitteilte: „welcher colossale Unterschied zwischen diesen derben, fleischigen, grundgemeinen Wesen und zwischen dem zarten, edlen, übersinnlichen Frauen Ideal, dessen Bild mich begleitete! (– größer als der Unterschied zwischen jenen Megären und einem Gorilla-Weibe!–)“.123 Haeckels Antwort auf Uslar-Gleichens Einwand vom 31. Januar 1902 bestätigt deren Vermutung, dass es bei dieser Tafel letzten Endes nicht um eine genetische Herleitung, sondern um den Kontrast geht: Die bedenkliche Schluss Tafel Nr 100 – in der Dein Bild die Hauptrolle spielen sollte! – kommt zuletzt daran; sie wird mir noch viel Kopfbrechen machen. Das Mittelbild (– Helena, als schönste aller „Kunstformen der Natur“ ! –) möchte ich mit anderen Primaten (Affen u. Halbaffen) nicht allein der phyletischen Entwickelung zu Liebe umrahmen, sondern auch um die Schönheit durch den Contrast um so stärker zu heben.

122 Das ungelöste Welträtsel, Bd. II, S. 730. 123 Das ungelöste Welträtsel, Bd. I, S. 273.

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Diese charakteristische u. malerische Gruppirung der Formen – in ihrer morphologischen u. stammesgeschichtl. Beziehung! – könnte auch allein diesem Schlußbilde Interesse verleihen. Denn „Schöne Frauen-Körper“ sind ja schon zu Millionen abgebildet – schöner als ich sie geben kann. Auch Dein Vorschlag (– meine Helena! –), die Mittel-Figur mit einzelnen Körpertheilen zu umrahmen (Augen, Hand Haar etc) könnte nur ein Künstler ersten Ranges mit Erfolg ausführen (– und das bin ich leider nicht! –).124

Die künstlerische Unfähigkeit ist natürlich nur eine Ausrede – zurecht antwortet Uslar-Gleichen ihm, er könne die Tafel ja von Lenbach entwerfen lassen, doch darum geht es nicht: die Entdeckung der Evolution bleibt für Haeckel mit dem Schock des Kontrasts verbunden, mit dem Entsetzen über die „niedrige“ Herkunft des „Hohen“. Dagegen stellt Darwins System selbst, wie Winfried Mennighaus aufzeigt, die Verabschiedung des statischen idealistischen Schönheitskonzepts dar, an dessen Stelle „novelty“ und „variety“ treten, die ständige Veränderung, die Mode und – die Übertreibung, ein Moment des Ineffizienten und Karikaturhaften, in dem sich diese Dynamik realisiert: As the great anatomist Bichat long ago said, if every one were cast in the same mould, there would be no such thing as beauty. If all our women were to become as beautiful as the Venus de Medici, we should for a time be charmed; but we should soon wish for variety; and as soon as we had obtained variety, we should wish to see certain characters in our women a little exaggerated beyond the then existing common standard.125

Und Menninghaus schließt: Der Wunsch nach polarisierender Übertreibung des jeweils Gegebenen, das Humboldt-Darwinsche Prinzip aller ästhetischen Differenz am Körper der Lebewesen, verzehrt notwendig alle Ideale, die sie ebenso notwendig als imaginären Horizont der Verstärkungsarbeit immer wieder neu und anders aufbaut.126

Dass Haeckel ausgerechnet die Qualle, die zu 98 % aus Wasser besteht und eines der instabilsten Lebewesen überhaupt ist, zu seinem Symbol erhoben hat, und dass er diese dann wiederum im statischen Gebilde der Staatsqualle gewissermaßen überhöht und aufgehen lässt, bildet emblematisch die Schwierigkeiten ab, die er 124 Ebd., Bd. II, S. 730–732. 125 Charles Darwin: The descent of man, and selection in relation to sex, 2 Bde., Princeton (Princeton University Press), 1981 (Reprint der Ausg. v. 1871), Bd. II, S. 354, zit. nach: Winfried Menninghaus: Das Versprechen der Schönheit, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2003, S. 81. 126 Ebd.

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und zahlreiche andere deutsche Anhänger der Lehren Charles Darwins mit dem Prinzip der Evolution haben. So vermag Haeckel, obwohl er als Wissenschaftler an der Übergangslosigkeit der natürlichen Entwicklung festhält, gegenüber Hartmann auf der „Sprunglosigkeit“ der Evolution beharrt, auf seiner Tafel 100 diese doch nicht darzustellen, findet kein Bild für sie. Gigantisch erscheint der Abstand zwischen dem Gorillaweibchen und der Eva-Venus-Helena auch ihm selbst. Und wie eine Erscheinung tritt sie unter den Affen auf. „O Eva! Du „Ewig Weibliche“ (– Hexe, Circe etc etc). Stamm-Mutter aller Menschenkinder!“127 Sie bleibt unerreichbar und unberührbar wie die Syphonophore. Im Sinne Foucaults ist sie der abgetrennte und zugleich zum einzigen Bezugspunkt erklärte „Sex“128. Auf Anraten seines Schwiegersohnes verzichtet Haeckel dann tatsächlich darauf, diese Tafel am Ende der Kunstformen der Natur abzudrucken. Uslar-Gleichen begrüßt dies und macht einen Vorschlag, bei dem deutlich wird, dass ihr der Bezug auf „das Weibliche“, und damit auch auf sie, sehr wichtig ist. Am Morgen des 27. 9. geht sie in einem offenbar eigens wegen dieses Gegenstandes einem Brief vom Vortag angefügten Postskriptum erneut auf dieses Thema ein: Ich komme nochmals auf Tafel 100 Deiner Kunstformen zurück, nach dem ich mich d. ganze Nacht damit beschäftigte. Geliebter Freund! Wenn ich daran zurück denke, wie ich meine Hände bei Dir wärme, so weiß ich auch, daß vielleicht kein zweites Menschenpaar, vor Allem keine Frau, so rein handeln könnte. es giebt eine Höhenstufe der Anschauung, die die Menschen in Allem nur das Vollkommene erblicken lassen. Aber diese Stufe kennt fast Niemand und da Dein Schwiegersohn Dich liebt u. seine Frau, die Deinen Namen trägt, nebenbei auch ein practisch fühlender Mann ist, so konnte sein Urteil nicht anders ausfallen. Ich bitte Dich, laß Dich nicht betrüben, daß dieser Plan scheiterte. – Noch inniger bitte ich, daß Du d. letzte Tafel nun mit doppelter Liebe vornimmst. Es kommt ja gar nicht darauf an, daß sie schnell fertig wird. Die Ide´e, uns Frauen zu huldigen, ist so reizend, daß ich wollte, du könntest sie dennoch in zarter Weise verwirklichen. Vielleicht ließe sich eine Gewinde Umgebung entwerfen, bestehend aus einer Rose mit Tauperlen, einem Kolibri, einer Perlmuschel, einem Katzenpfötchen – oder Schwänzchen, einem herrlichen Schmetterling, einem Goldfisch – kurz etwas Reizendem aus jedem Tierreich und in der Mitte, zart verschleiert, die ganze Figur oder der Kopf des schönen Weibes. 127 Das ungelöste Welträtsel, Bd. II, S. 759. 128 Vgl. FN 113.

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Gerade Tafel 100, die noch einmal, sozusagen d. Ide´e des ganzen Werkes sammeln u. erklären soll, ist so schwierig zu komponieren, daß ich auf das Schmerzlichste bedauere, nicht mit Dir darüber reden zu können. Ich möchte empfehlen den Ko Wäre ich an Deiner Stelle, so machte ich in München Station u. spräche sowohl mit Gabriel Max, als mit Lenbach darüber. Deine impulsive Natur könnte Dich jetzt veranlassen, Hals über Kopf eine letzte, schwache Tafel zu entwerfen. Und das würde mich tief betrüben. Verzeih Deiner Egeria!129

Numa Pompilius-Haeckel hat auf seine Egeria nicht gehört und zu deren tiefer Enttäuschung ein Blatt mit Antilopen an das Ende des Buches gesetzt: „Daß Antilopen gerade, so graziös u. anmutig in den Bewegungen sie auch sind, den Schluß bilden, und all‘ meine schönen Ide´en verworfen wurden, verschmerze ich nicht.“130 Ihr Vorschlag zeigt jedoch, wie sehr im Grunde ihre „Ide´en“ sich von denen Haeckels unterschieden und wie wenig Haeckel selbst zugleich noch an diesem Punkt der Beziehung im Stande oder bereit ist, sein wissenschaftliches Denken in eine huldigende Überhöhung seiner Liebe zu Frida zu verwandeln. Demgegenüber hatte Uslar-Gleichen schon zuvor ihre Schwierigkeiten mit der Anerkennung der „Bizarrerie“ der Radiolarien und Quallen als „Kunst“ geäußert.131 In einem früheren Brief fordert sie für die letzte Tafel bereits „Noch ,mal was Hübsches, Buntes, Zartes? – Nur keine Wiederholung von Medusen, Radiolarien etc.. .“ und beschwört ihn: „lasse die Kreise Deines Darwinismus nicht in Deine Kunst hineingleiten, da sich d. Kunst weit über alles Erdenwerk erheben soll.“132 Es zeigt sich in der gesamten Auseinandersetzung um die Schlusstafel, wie sie hier geführt wird, dass dem angestrebten Konzept von Ganzheitlichkeit bei beiden ein Denken in Hierarchien entgegensteht, das mit diesem Konzept eigentlich unvereinbar ist, auf das beide aber nicht verzichten können, weil dieser Elitarismus tief in ihrem Denken verwurzelt und darüber hinaus die einzige Legitimation ihrer unerlaubten Beziehung ist: Weil beide ein Menschenpaar höherer Ordnung bilden, muss sich ihre Liebe aus der Wirklichkeit in die Schriftlichkeit flüchten (und in keinem der hier 129 Das ungelöste Welträtsel, Bd. II, S. 904f. 130 Brief vom 1. 11. 1903, in: Ebd., S. 914. 131 Vgl. die Auszüge aus Uslar-Gleichens Ästhetische Betrachtungen zu Ernst Haekkels Kunstformen der Natur, in: Ebd., S. 915. 132 Brief vom 26. 9. 1909, in: Ebd., S. 903.

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behandelten Briefwechsel wurde dieser Gegensatz so absolut gesehen und der Entschluss zur Briefliebe so rigoros gegen die Begegnung in der Wirklichkeit gesetzt). Dabei bestätigt dieser Elitarismus letztlich die Weltordnung der „Anderen“, mit der er nicht bricht, die er nicht kokett unterminiert, wie Sacher-Masoch das tut, bei aller gleichzeitigen Anerkennung der Konvention, mit der er sich auch nicht, wie Stifter das tut, produktiv auseinanderzusetzen vermag. Man kann hierin, wenn man mag, die Bestätigung dessen sehen, was Max Nordau als Bedrohung naturhafter Liebe durch die Literatur verurteilt hatte – ironischerweise ausgerechnet bei einem der Kronzeugen, die Nordau zur Bestätigung seines Biologismus heranzieht. Von der Seite der Imagination her gesehen aber, also von der Seite, von der für Stendhal die Liebe allein anzusehen war, ist hier ein Gipfelpunkt der Liebesbriefkultur erreicht. Über Jahre hinweg arbeiten zwei Individuen erfolgreich daran, durch Schrift, Symbol und durch beständiges Retardieren einen Raum aufzuschieben für eine Liebe, die in der Welt der „Anderen“ keinen gehabt hätte. Fernab aller Simulationen des „Persönlichen“, fernab des Briefs als schriftlichem Gespräch im Sinne Gellerts, schreitet dieses Paar unter dem Wald der von ihm gestifteten Symbole einher. Die Korrespondenz wird zum Raum der Correspondances: La Nature est un temple ou` de vivants piliers Laissent parfois sortir de confuses paroles; L‘homme y passe a` travers des foreˆts de symboles Qui l‘observent avec des regards familiers. Comme de longs e´chos qui de loin se confondent Dans une te´ne´breuse et profonde unite´, Vaste comme la nuit et comme la clarte´, Les parfums, les couleurs et les sons se re´pondent. II est des parfums frais comme des chairs d‘enfants, Doux comme les hautbois, verts comme les prairies, – Et d‘autres, corrompus, riches et triomphants, Ayant l‘expansion des choses infinies, Comme l‘ambre, le musc, le benjoin et l‘encens, Qui chantent les transports de l‘esprit et des sens. Charles Baudelaire

6 Schluss Gegen Ende des 20. Jahrhunderts hat der amerikanische Psychologe Robert J. Sternberg in Gestalt eines „Story“-Modells die Liebe als prozessuale Methode der Auseinandersetzung mit Narrationen beschrieben. Sternberg definiert Liebe (in sicherlich etwas plakativer Weise) als „Story“, an der beide Partner als an einem „Drehbuch“ ihrer Liebe arbeiten.1 Die persönliche „Liebestheorie“ eines Individuums hängt nach Sternberg von verschiedenen Erfahrungsfaktoren ab, die es seit der Kindheit mit sich führt: „Love as a story“ generiert sich bereits für das Individuum aus dem, was durch Eltern, Medien, Leseerfahrungen in diese Narration eingespeist wird: Ich erkannte, daß ich die vielen Geschichten über Beziehungen, die ich gehört hatte, untersuchen und systematisieren mußte. Diese Geschichten wiesen große Unterschiede auf, nicht nur hinsichtlich verschiedener Beziehungen, sondern manchmal auch innerhalb einer einzigen Beziehung: Zwei Partner konnten über ihre Beziehung vollkommen unterschiedliche Geschichten erzählen, und wenn diese Geschichten sehr stark voneinander abwichen, schienen die Beteiligten weniger zufrieden damit zu sein. Ich begann also, eine Perspektive der Liebe als Geschichte zu formulieren, die ich hier nun vorstellen möchte. Im Zentrum steht der Gedanke, daß wir dazu neigen, uns in Menschen zu verlieben, deren Geschichten mit den unseren identisch sind oder ihnen gleichen, deren Rollen in diesen Geschichten aber die unseren ergänzen. In mancher Hinsicht gleichen sie uns also, in anderer aber potentiell nicht. Verlieben wir uns nun in eine Person, deren Geschichte sich von unserer stark unterscheidet, sind sowohl die Beziehung wie auch die ihr zugrundeliegende Liebe gefährdet [„are both at risk“].2

Gegenüber Stendhals Liebestheorie, bei der, wie in der Einleitung ausgeführt wurde, Fiktionalisierungsverfahren ebenfalls eine entscheidende Rolle bei der Entstehung und Aufrechterhaltung der Liebe spielen, ist Sternbergs Theorie insofern deterministischer, als 1 Robert J. Sternberg: Warum der Gärtner nie auf die Prinzessin hereinfällt. Das verborgene Drehbuch unserer Beziehungen (Love Is A Story. A New Theory of Relationships dt.), übers. v. Bernhard Kleinschmidt, München (Droemer Knaur) 2002. 2 Ebd., S. 10 (vgl. Sternberg: Love is a Story, New York (Oxford University Press) 1998, S. X.

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der Akzent auf die Erwartungen gelegt wird, die derartige Stories erzeugen. Sein Buch ist entsprechend auch eher eine Typologie verschiedener Liebes-Stories, die unterschiedlich gut zu einander passen, eine recht statische Liste, als eine Geschichte der Liebe, wie Stendhals De l‘Amour. Dennoch ist Sternbergs Konzept der LoveStory in Bezug auf das Phänomen der „Literaturliebe“, wie sie hier in Briefwechseln des 19. Jahrhunderts verhandelt wurde, reizvoll und ein Blick darauf lohnend, als es einen Ansatz zu einem Beschreibungsmodus für das literarische Verfahren der hier praktizierten Briefliebe bietet.3 Auch für Sternberg geht es nämlich am Ende in der Liebesbeziehung vor allem darum, dass „zwei Menschen in einer Partnerschaft [ ... ] eine gemeinsame Geschichte erschaffen, die über ihre individuellen Geschichten hinausgeht.“4 An einem virtuellen Ort werden diese Geschichten ineinandergeschrieben. Der Brief ist dieser Ort, ein „Zwischen“, ein Schwellenort.5 Briefliebe als Literaturliebe stellt sich im neunzehnten Jahrhundert als ein Verfahren dar, „Love-Stories“ mithilfe des Mediums Brief aufeinander zu und ineinander zu schreiben. Der Brief ist sowohl der Ort, an dem sich der Erwartungshorizont der Briefpartner manifestiert, als auch der, an dem er sich fortsetzt und aufhebt. Er ist damit das Medium, in dem – in der Terminologie Sternbergs – „riskante“ Lieben dynamisiert und ausgetragen werden können. So 3 Vgl. auch Richard David Precht: Liebe. Ein unordentliches Gefühl, München (Goldmann) 2009, S. 322: „Das Entweder-Oder an Sternbergs sechsundzwanzig Liebesfilmen erscheint [ .. . ] etwas zu schematisch. [ . . . ] Die wichtigste Aussage an Sternbergs Untersuchung erscheint gleichwohl plausibel: dass unsere Liebesvorstellungen und unsere Erwartungen episch, dramatisch oder in heutiger Zeit eben oft filmisch sind. Und dass unser Bild von uns selbst und von dem anderen zumindest Elemente von Genres haben. Diese Genres wiederum sind Erfindungen unserer Umwelt, mithin des Kinos und des Fernsehens. Was auch immer wir uns unter unserem eigenen Genre vorstellen – das Drehbuch dazu stammt weitgehend auch von anderen. Kaum ein Mensch erfindet von sich aus die Zutaten der Romantik.“ 4 Ebd., S. 24. 5 Obwohl es an dieser Stelle auf den ersten Blick verführerisch scheint, unterlasse ich den Vergleich mit Homi Bhabhas „drittem Raum“ jenseits kolonialer und postkolonialer Diskurse, einem Nicht-Ort des transitorischen Übergangs, an dem die Utopie der Begegnung mit dem Fremden möglich wäre. (Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur, übers. v. Michael Schiffmann und Jürgen Freudl, Tübingen (Stauffenburg Verlag) 2000, bes. S. 317–352). Zumindest hat sich gezeigt, dass der Brief keineswegs ein utopischer Ort ist, sondern im Gegenteil gewichtige Realität und Materialität besitzt, und dass er nicht außerhalb der Diskurse steht, sondern mitten darin, ihren Kreuzungspunkt bildet. Vielleicht trifft sich dies aber doch auch mit Bhabhas Konzept.

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vermag das Medium des Briefs als Mittel eines verlängerten Erzählens, eines „längeren Gedankenspiels“, zu dem Partnerschaft hier wird, relative Dauer auch in Beziehungen zu bringen, an deren Ausgangspunkt womöglich konträre, nicht zu einander passende „LoveStories“ stehen. Das längere Gedankenspiel, wie es Arno Schmidt prototypisch in den als gegenweltliche Parallelschöpfungen, sukzessiv über Jahre und Jahrzehnte gemeinschaftlich aufgebauten Fiktionswelten, der Bronte¨-Geschwister aufgefunden hat, und das Norbert Miller als ein auf diffuse Weise auf „Analogie und Widerspruch“ zur Erfahrung angewiesenes Spiel bezeichnet hat, das allererst mit der Neuanwendung der Kategorie der Wahrscheinlichkeit auf die Literatur durch die Aufklärung möglich werde,6 kann tatsächlich als Paradigma der Briefliebe für das 19. Jahrhundert – im Gegensatz zum Brief als „Gespräch“ des 18. Jahrhunderts – herangezogen werden. In der beständigen Reflektion auf den Widerspruch von Schreiben und Leben, zu der sowohl die Gleichsetzung des geliebten Partners mit seiner Schrift und der Materialität seines Briefes, der mitgeschickten Dinge, der Fotografien gehört, wie die Klage über den Gegensatz zwischen brieflicher Gegenwart und wirklicher Anwesenheit des Partners, erstellt und verfestigt sich ein Dualismus der „zwei Welten“, der in Bezug auf den Brief ein verstärktes Bewusstsein von Literarizität bei den Schreibenden mit sich bringt. Jeder Brief wird zu einer bewussten Schwellenüberschreitung und trägt diesen ihn begründenden Spannungszustand der Fern-Nähe, des Zwischenmenschlichen oder – nach der in der Einleitung gegebenen Formulierung Alexander von Villers – den Zustand des „Zwischenmenschen“ beständig aus, sei dies nun in reflektierenden Passagen oder sei es in den abrupten und betonten Registerwechseln, die in zahlreichen Briefen beobachtet worden sind, zwischen „Hoch“ und „Tief“, zwischen Beschwörung und Gespräch, zwischen Ideal und Wirklichkeit, wie dies in der Terminologie des poetischen Realismus heißen würde. Spannung – von Otto Ludwig (in Auseinandersetzung mit Goethe und nach dem praktischen Vorbild von Charles Dickens und dessen Fortsetzungsromanen) in die Diskussion um den realistischen Roman eingeführt – ist gewissermaßen die Nahrung und der Treibstoff dieser sich weiter6 Norbert Miller: Utopie und längeres Gedankenspiel. Erfundene Wirklichkeit in der Literatur, in: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung / Jahrbuch 1985, S. 119–146, hier: S. 133.

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schreibenden Liebe. Denn wenn Liebe, wie Se´nancour und Stendhal gesagt hatten, in der wechselseitigen Affizierung der Imagination, in der Beschäftigung, die man der Phantasie – der eigenen und der des Gegenübers – zu verschaffen vermag, besteht, bzw. erzeugt und am Leben erhalten wird, dann ist ihr diese Eigenschaft mit dem Erzählen gemeinsam, wie es in den Überlegungen Otto Ludwigs konzipiert wird: Wie muß man nun sprechen oder schreiben, um zunächst auf die Phantasie zu wirken? Was in der Form erregt die Tätigkeit der Phantasie? Deutlichkeit der Vorstellungen? wozu das Direkte gehört? Gewiß nicht. [. . . ] Der Verstand geht gern in gerader Linie auf seinen Gegenstand los; die Phantasie ergötzt sich am Wege, sie will voraus, bleibt nach, schweift hüben und drüben ab; [. . .] Das Täuschen der Erwartung, indem der Romandichter uns zu den Wünschen, die er in uns erregt, führt, aber auf einem andern und schönern Wege, als auf dem er uns vermuten ließ, dahin geführt zu werden, ist hier schon im kleinsten Mittel der Kunst [im Satz, R. L.] vorgebildet.7

In einem anderen Sinne als dem polemischen einer Romanen nachgeäfften, schwärmerisch erfahrungsfernen Liebe wird man so die „Roman-Liebe“ noch begreifen können: als Liebe, die sich der Spannungs-Technik des Romans bedient, um sich mithilfe der Phantasie zu erzeugen und am Leben zu erhalten. Erzeugung von Erwartung und Hinauszögern der Erfüllung, vom Mittel des langen Satzes, der gewundenen Periode bis hinauf auf die Ebene der Handlung, sind also Prinzipien einer Technik des Erzählens, mit deren Hilfe die Phantasie des Lesers in beständiger Tätigkeit erhalten wird. Deutlich schwingt in der Entgegensetzung von gerader und geschwungener Linie Hogarths Theorie der Line of beauty mit, die Ausdruck der sich ergehenden Betrachterimagination ist. An anderer Stelle macht Ludwig noch deutlicher, dass erzählerische Spannung tatsächlich weniger ein Intensitäts-, denn ein Dehnungsgrad ist: „die Begebenheiten, die Naturwirkungen drängen nicht so unmittelbar auf die Leidenschaft, weil [sic] Intensität der Spannung, und daher des Vorgangs selbst, sondern vielmehr auf die Extension der Spannung und damit des Vorgangs.“8 Stendhals imaginatives Liebeskonzept – bei dem eine Eigenschaft der Geliebten, die womöglich zunächst sogar eine negative sein mag, Leidenschaft gerade da auslöst, wo sie an einer anderen Frau 7 Otto Ludwig: Romanstudien (a. a. O.), S. 637–639. 8 Ebd., S. 578.

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entdeckt wird – läuft hier tatsächlich analog zu Ludwigs Extension, die sich ausdrücklich als Technik zur Erzeugung von Leidenschaft versteht. Im Konzept der Fernliebe, des „Fremdwichtigen“ bei Stifter, in der Sacher-Masochschen Spannung, den Anbahnungsbriefen, die Erwartungen schüren und nähren, in der Überdeckung der Leere der Nichtbegegnung mit Sprache im Briefwechsel Haeckel-UslarGleichen, in den Erwartungsbriefen des ersten Winters der Brautzeit der Bismarcks – überall ist es diese Technik der Extension, auf der sich die briefliche Kommunikation aufbaut. Diese Extension, diese Dehnung, diese Spannung bedarf eines Gegensatzes, zwischen dessen Polen sie sich ausdehnen kann, einer Schwelle, die sie übertreten kann, eines Widerspruchs. Eine deutliche Grenze zwischen Schreiben und Leben, zwischen Brief und „Persönlichkeit“, wie das Frida von Uslar-Gleichen und Ernst Haeckel nennen, scheint nur gezogen zu werden, um jene „Spannung“ installieren zu können. Eine Linie, die zwei Räume stiftet, den der Liebe und den der „Anderen“, bildet die Bedingung der brieflichen Liebeskommunikation, der Erschaffung von Liebe durch und als Literatur. Diese wird also erst möglich, indem sie sich in Gegensatz zu einer wie auch immer gedachten „Wirklichkeit“ setzt. Während in der Schwärmerkritik und den Invektiven gegen das Romanelesen des 18. Jahrhunderts noch die Ideenverwirrung und die Abziehung von gesellschaftlichen Pflichten, insbesondere der Frauen, im Vordergrund standen, wird in Max Nordaus Polemik gegen die „Literaturliebe“ vor einer regelrechten invasiven Gefährdung der Wirklichkeit durch die Literatur gewarnt. Die zwischen „Leben und Dichtung“ bestehende Grenze sei „so dünn wie ein Messerrücken.“ Wenn überhaupt noch von einer Einwirkung des Lebens auf die Dichtung die Rede sein kann, so ist sie nicht größer als die der Wirklichkeit auf die Träume, die ja auch teilweise durch sehr schwache Sinneseindrücke angeregt werden, diese aber maßlos und willkürlich zu den unwahrsten Vorstellungen verarbeiten. Die Wirkung der Dichtung auf das Leben ist dagegen eine ungeheure. Sie übt eine gewaltige und unablässige Suggestion aus, die sich die ganze geistige Persönlichkeit, die ganze Denkungs- und Handlungsweise des Lesers unterwirft.9

9 Max Nordau: Inhalt der poetischen Literatur, in: Paradoxe (a. a. O.), S. 247–260, hier: S. 248.

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Der die Reihe der Untersuchungen dieser Arbeit abschließende Briefwechsel zwischen Frida von Uslar-Gleichen und Ernst Haekkel ließe sich am ehesten im Sinne dieser von Nordau als bedrohliche Grenzüberschreitung abgewehrten Überwältigung des Lebens durch Literatur verstehen. Weit mehr als die anderen hat dieser chronologisch letzte unter den hier verhandelten Briefwechseln den Charakter eines erschriebenen künstlichen Paradieses, ist Zufluchtsort vor der „Natur“, so wie sie von Nordau aufgefasst wird – und erhebt doch zugleich den Anspruch, in seiner Ausnahmehaftigkeit wiederum auch Natur zu sein. Hier aber ein „Scheitern an der Wirklichkeit“ zu konstatieren, hieße, selbst der Opposition von „Ideal“ und „Wirklichkeit“ zu verfallen, die dieser und den anderen Liebeskorrespondenzen des 19. Jahrhunderts zugrunde liegt. Durchaus stellen ja diese alle eine Wirklichkeit her, die zwar immer wieder in einen Gegensatz zu einer feindseligen Außenwelt gesetzt wird, zugleich aber auf vielen Ebenen in Austausch mit anderen Diskursen – wissenschaftlichen, literarischen, ökonomischen – steht und daher ungemein reich und vielgestaltig ist. Mögen beide Teilnehmer im Resultat durch diesen fast ausschließlich brieflichen Verkehr nicht „glücklich“ werden – der Selbstmord von Uslar-Gleichen ist erschütternd und furchtbar – im Sinne des Sternbergschen Liebeskonzepts passen die „Stories“ dieses Paares außerordentlich gut zueinander, ist dieser Briefwechsel unter den vier behandelten (mit Ausnahme vielleicht noch desjenigen zwischen Mataja und Sacher-Masoch) derjenige, zu dem beide Partner im qualitativen und quantitativen Sinne am gleichmäßigsten beitragen, kann man ihn im Sinne einer Literatur als Lebensform als durchaus geglückt betrachten. Wo man dem Identitätsessenzialismus nach Art Nordaus enträt und Identität als etwas sich immer wieder Konstituierendes auffasst, wo man in der Möglichkeit des Missverständnisses die Bedingung allererst der Kommunikation erkennt,10 wird man auch das Konzept einer sich im Schreiben als gemeinsame „Love-Story“ konstituierenden Briefliebe nicht als Surrogat „wirklicher“ Liebe auffassen, son10 Vgl. Peter Stachel: Ein Staat, der an einem Sprachfehler zu Grunde ging. Die „Vielsprachigkeit“ des Habsburgerreiches und ihre Auswirkungen, in: Das Gewebe der Kultur. Kulturwissenschaftliche Analysen zur Geschichte und Identität Österreichs in der Moderne, hg. v. Johannes Feichtinger und Peter Stachel. Innsbruck (Studienverlag) 2001, S. 11–45, bes. S. 11. Online unter http://www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/ PStachel4.pdf , S. 1 (zuletzt aufgerufen am 31. 1. 2011).

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dern darin ein symbolisches Verfahren erkennen, das Bedeutungsräume erschließen, Identitäten öffnen und vervielfältigen kann, ohne dabei zu leugnen, dass es sich andererseits auch zum determinierenden System verhärten kann, unter dessen Sinnwucht Kommunikation einfriert. „Der maskierte Eros“, als der Eros der Briefliebe, ist nicht zwingend ein betrügerischer, in der Ersatzform epistolarer Kommunikation sich verstellender, uneigentlicher Eros gegenüber dem „echten“ körperlichen, küssenden, „napoleonischen“, in der „Erfüllung“ triumphierenden, wahren Eros. Er ist die Uneigentlichkeit als Voraussetzung einer Liebe, die sich auf keine metaphysische Grundlage beruft, die als Produkt und Funktion der Einbildungskraft zu ihrer Realisation eines Mediums bedarf, des Briefes im weitesten Sinne, der auch Zeichen und Symbol sein kann und „Schattenstellvertreter“, wie Stifter die Fotografie nannte: ein Blatt, eine Gabe, ein Satz – oder die prächtigen, unberührbaren Medusen, denen Ernst Haeckel die Namen seiner Geliebten gab. Hinter diesen Masken verbirgt sich nichts, sie sind die Mittler in dem Spannungsraum zwischen zwei Menschen, die sich aufeinander beziehen. Sie gewinnen, weil sie das „Zwischen“ bilden, schnell den Charakter eines Fetischs, des Zaubergegenstandes, der sich zwischen die Liebenden stellt. Denn Eros ist weder hinter der Maske noch ist er in der Maske – er ist der gespannte Bogen zwischen zwei Schreibenden, die line of beauty, an der entlang sie einander imaginieren.

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