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German Pages 494 Year 2023
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Der lange Abschied von der Prügelstrafe
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Wertewandel im 20. Jahrhundert Band 8 Herausgegeben von Andreas Rödder
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Sarina Hoff
Der lange Abschied von der Prügelstrafe Körperliche Schulstrafen im Wertewandel 1870–1980
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Zugl. Diss. Univ. Mainz (2020) u. d. T.: Von „Prügelpädagogen“ und „notwendiger Züchtigung“: Einstellungen zu körperlichen Strafen in Schulen circa 1870–1980
ISBN 978-3-11-062761-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-112378-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-112451-3 ISSN 2366-9446 Library of Congress Control Number: 2023935766 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: le-tex publishing services GmbH, Leipzig Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
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Vorwort
Diese Arbeit wurde Ende 2020 vom Fachbereich Geschichts-und Kulturwissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz als Dissertation mit dem Titel „Von ‚Prügelpädagogen‘ und ‚notwendiger Züchtigung‘: Einstellungen zu körperlichen Strafen in Schulen circa 1870–1980“ angenommen und für die Drucklegung leicht überarbeitet. Allen, die mich auf dem langen Weg ihrer Entstehung in vielfältiger Weise unterstützt und begleitet haben, möchte ich an dieser Stelle ganz herzlich danke sagen. Zuerst gilt mein Dank natürlich meinem Doktorvater Andreas Rödder für die Betreuung dieser Arbeit und die von viel Freiheit, Vertrauen und Respekt geprägte Zusammenarbeit – und für seine Offenheit und intellektuelle Neugier, dank der aus meiner spontan entstandenen Themenidee ein Projekt der Mainzer Wertewandelsforschung werden konnte. Letzteres ist zudem auch Bernhard Dietz zu verdanken, dem ich für seine hilfreichen Ratschläge und ermunternden Worte in allen Phasen der Arbeit sehr dankbar bin. Auch Michael Kißener danke ich für die Begutachtung der Arbeit und für interessante Denkanstöße. Äußerst dankbar bin ich auch allen, die mir die Möglichkeit gaben, mein Projekt auf Tagungen oder in Oberseminaren vorzustellen, ganz besonders Markus Raasch, Till Kössler und Michael Mayer. Ihnen und den Zuhörern dieser Vorträge verdanke ich viele kleinere und größere Hinweise und Ideen, die diese Arbeit sehr bereicherten. Das Gleiche gilt für die stets wohlwollend-kritischen Anmerkungen im „heimischen“ Mainzer Oberseminar. Finanziell wurde mein Forschungsprojekt von der Stipendienstiftung des Landes Rheinland-Pfalz unterstützt, wofür ich sehr dankbar bin. Dank gebührt auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der von mir besuchten Archive und Bibliotheken, die mir mit freundlichem, geduldigem Service und kompetenter Beratung zur Seite standen. Dem Verlag De Gruyter Oldenbourg und insbesondere Benedikt Krüger danke ich für die freundliche und unkomplizierte Betreuung während der Drucklegung. Bastian Knautz und Anette Neder danke ich dafür, dass sie nicht nur zeitweise Büros und zahlreiche Mittagspausen, sondern auch viele Höhen und Tiefen des Doktorandenlebens mit mir teilten – und dieses dadurch sehr bereicherten. Miriam Anders und Manuel Meffert danke ich für ihre aufmerksame Lektüre von Teilen dieser Arbeit und für ihre Hilfe beim Bändigen so mancher Satzungetüme, vor allem aber jeweils für ihre langjährige Freundschaft. Den „Haßlocher Mädels“ gebührt das Verdienst, dass sie „sellemols“ als aufmerksames Publikum auf dem Schulhof vor anstehenden Geschichtstests meine Freude am historischen Erzählen weckten. Vor allem aber danke ich ihnen, ganz https://doi.org/10.1515/9783111123783-201
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Vorwort
besonders Mandy, für ihre Freundschaft in all diesen Jahren, mit der sie mir auch in anstrengenden Phasen Rückhalt und die nötige Ablenkung gaben. Der größte Dank gilt schließlich meinen Eltern für unermüdliches Korrekturlesen, für geduldiges Zuhören, für den besten Schreibblockadentherapiehund Isla, für all ihre Unterstützung in jeder nur erdenklichen Form – und nicht zuletzt dafür, dass sie nie von mir erwartet haben, dass ich ihnen dieses Buch widmen solle, sich aber hoffentlich dennoch freuen, wenn ich es hiermit tue.
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5
Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
1.1
Ausgangspunkt und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . .
13
1.2
Vorgehensweise und Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
1.3
Literatur- und Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . .
26
1.4
Begriffe und Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
30
1.5
Betrachtungszeitraum und (rechtliche) Ausgangslage . . . . .
31
2. „Prügelpädagogik“ gegen „Humanitätsduselei“ – Debatten bis 1900
39
2.1
Der pädagogische Diskurs Ende des 19. Jahrhunderts . . . . .
39
2.2
„Gegen die Prügelpädagogen“ – radikale Kritik an Körperstrafen vor 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
50
2.3
Die Position der Lehrerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . .
62
2.4
Fallbeispiel Preußen 1899 – die Grenze des Durchsetzbaren .
80
2.5 2.5.1 2.5.2 2.5.3 2.5.4 2.5.5
Soziale Praxis bis 1900 . . . . . . . . . . . . . Züchtigung oder Misshandlung? . . . . . . . Anlässe für Körperstrafen . . . . . . . . . . . Soziale und politische Aspekte . . . . . . . . Selbstverständliche Akzeptanz von Schlägen . Über Einzelfälle hinaus . . . . . . . . . . . .
. . . . . .
94 94 100 108 110 112
2.6
Zwischenfazit bis 1900: weitverbreitete Akzeptanz . . . . . .
115
3. Reform – aber auch Veränderung? 1900–1933 . . . . . . . . . . . .
117
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3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3
Aufbruch ins „Jahrhundert des Kindes“ . . . Reformpädagogische Aufbruchsstimmung . . . . . . mit altbekannten Argumenten? . . . . . . . . . und begrenztem Einfluss? . . . . . . . . .
. . . .
. . . .
117 118 122 128
3.2
Neue Experten: Medizin und Psychologie . . . . . . . . . . .
132
3.3
Die gespaltene Lehrerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
144
https://doi.org/10.1515/9783111123783-202
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Inhaltsverzeichnis
3.3.1 Lehrer gegen das Züchtigungsrecht? Fallbeispiel Sachsen 1907 3.3.2 Nur ein „Auswuchs der Frauenpädagogik“? Überregionale Lehrerdebatten . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Entwicklung in den 1920er Jahren . . . . . . . . . . . . . . .
151 154
3.4
Arbeiterbewegung und Körperstrafen . . . . . . . . . . . . .
163
3.5
Exkurs: Gymnasien und Volksschulen . . . . . . . . . . . . .
172
3.6 3.6.1 3.6.2 3.6.3
Drei Länder – drei Wege I . . . . . . . . Bayern: keine Veränderung . . . . . . . Sachsen: ein vollständiges Verbot . . . . Preußen: das lange Ringen ums Verbot .
. . . .
176 176 180 184
3.7
Die juristische Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
194
3.8 3.8.1 3.8.2 3.8.3
Soziale Praxis . . . . . . . . . Neue Quellen, gewohntes Bild? Sachsen nach dem Verbot . . . Überregionale Entwicklung . .
207 207 222 226
3.9
Zwischenfazit 1900–1930: Reform und begrenzte Veränderung 228
. . . .
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4. Rückkehr zur Prügelpädagogik? Die Zeit des Nationalsozialismus . 4.1
144
231
Die kaum noch vorhandene theoretische Debatte . . . . . . .
234
4.2 Normative Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Preußen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Aufhebung des sächsischen Verbots . . . . . . . . . . . . . .
241 241 245
4.3
Praxisfälle nach 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
246
4.4
Zwischenfazit 1933–1945: keine abrupte Richtungsänderung, aber Unterbrechung der Abschaffungsbestrebungen . . . . .
256
5. Zwischen Menschenwürde und Halbstarken: 1945–1968 . . . . . .
259
5.1
Pädagogische Debatten ab 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . .
259
5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3
Drei Länder – drei Wege II . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hessen: ein absolutes Verbot im Namen der Menschlichkeit Bayern: ein kurzlebiges Verbot . . . . . . . . . . . . . . . . Rheinland-Pfalz: ein in Vergessenheit geratendes Verbot . .
. . . .
265 265 275 288
5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3
Eine (nicht nur) juristische Kehrtwende: die 1950er Jahre Das BGH-Urteil von 1954 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . und seine Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das BGH-Urteil von 1957 . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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293 297 301 311
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Inhaltsverzeichnis
9
5.3.4 Eine Kehrtwende auch außerhalb der Rechtsprechung? . . . .
315
5.4 Die 1960er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Die Strafe als Problem der Erziehung . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2 Sitte oder Misshandlung? Die öffentliche Debatte zu Körperstrafen in der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3 Goldener Schlagring für Prügelpädagogen: die Schülerbewegung
325 329
5.5 Soziale Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.1 1940er und 1950er Jahre: weitgehend akzeptierte Anwendung 5.5.2 1960er Jahre: sinkende Akzeptanz . . . . . . . . . . . . . . .
341 341 353
5.6
Zwischenfazit 1945–1968: die Sonderstellung der 1950er Jahre
357
6. Das rasche Verschwinden: 1970er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . .
361
6.1 Der erstaunlich kurze Weg zum Verbot . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Rheinland-Pfalz: Öffentlicher Druck führt zum Verbot . . . . 6.1.2 Bayern: ein Verbot mit Zustimmung der Lehrerschaft . . . .
361 361 369
6.2
Die ausbleibenden Kontroversen . . . . . . . . . . . . . . . .
374
6.3
Das lange Ende eines Gewohnheitsrechts . . . . . . . . . . .
380
6.4
Soziale Praxis nach 1970 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
388
7. Längsschnitte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
397
7.1
332 338
Schule und Familie: ähnliche Entwicklung, unterschiedliche Geschwindigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
397
7.2
Weiblichkeit, Männlichkeit und Härte . . . . . . . . . . . . .
402
7.3
Wechselwirkungen und Mechanismen des Wandels . . . . . .
406
7.4
Ehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
416
7.5
Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
423
7.6
Gewalt(-losigkeit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
429
7.7
Gehorsam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
438
7.8
Autorität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
446
8. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
457
Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
463
1 1.1
Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ungedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
463 463
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Inhaltsverzeichnis
1.2
Gedruckte Quellen . . . . . . . . 1.2.1 Parlamentsprotokolle . . . 1.2.2 Zeitschriften . . . . . . . . 1.2.3 Weitere gedruckte Quellen
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464 464 465 467
2
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
479
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Abkürzungsverzeichnis ADLZ AG BGH BGHSt BLV BLLV (ab 1951) DLV EGMR-E FAZ FR LG MdgUM MEV MWKV MUK Mf V MKöU NJW OLG Rdnr. RMWEV RGSt RGZ StMIKS StMUK Zentralblatt
Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung Amtsgericht Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Bayerischer Lehrerverein Bayerischer Lehrer- und Lehrerinnenverband Deutscher Lehrerverein Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Deutschsprachige Sammlung Frankfurter Allgemeine Zeitung Frankfurter Rundschau Landgericht Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten, Preußen Ministerium für Erziehung und Volksbildung Hessen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung (Preußen, ab 1918) Ministerium für Unterricht und Kultus Rheinland-Pfalz Ministerium für Volksbildung (Sachsen, ab 1923) Ministerium des Kultus und öffentlichen Unterrichts (Sachsen, bis 1923) Neue Juristische Wochenschrift Oberlandesgericht Randnummer Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Bayerisches Staatsministerium des Innern für Kirchen- und Schulangelegenheiten Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen
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1. Einleitung 1.1 Ausgangspunkt und Fragestellung „Gegen die Prügelpädagogen“, so lautete der Titel einer 1875 erschienenen Streitschrift, deren Verfasser für eine Abschaffung der körperlichen Strafen in Schulen eintrat.1 „Ein Prügelpädagoge vor Gericht“ betitelte 1930 die Mainzer Volkszeitung ihren Bericht über ein Urteil, das einen Lehrer vom Vorwurf der Körperverletzung freisprach, nachdem dieser eine Schülerin mit Schlägen gemaßregelt hatte.2 Und 1968 machte das Schülermagazin underground unter anderem mit der Verleihung des „Goldenen Schlagrings als Wanderpokal für Prügelpädagogen“ auf sich aufmerksam.3 Diese willkürlich herausgegriffenen Beispiele zeigen, dass über ein gutes Jahrhundert hinweg mit verblüffend ähnlicher Wortwahl scharfe Kritik an der Praxis von körperlichen Strafen in Schulen geübt wurde. Gleichzeitig gilt für alle angeprangerten „Prügelpädagogen“, sowohl 1875 und 1930 als auch 1968, dass sie grundsätzlich auf dem Boden des Gesetzes standen. So scharf schulische Körperstrafen schon im 19. Jahrhundert (und früher) kritisiert und so kontrovers sie diskutiert wurden, blieben alle pädagogischen und politischen Forderungen nach ihrer Abschaffung doch lange Zeit erfolglos. Zwar kam es in Sachsen und Thüringen in den 1920er Jahren zu Verboten, diese waren jedoch nur kurzlebig. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in den meisten westdeutschen Bundesländern Körperstrafen in der Schule zwar eingeschränkt und beispielsweise für Mädchen oder Schüler der ersten beiden Klassenstufen verboten. Dennoch blieben im größten Teil der Bundesrepublik Schläge grundsätzlich ein erlaubter Teil der schulischen Erziehungspraxis. Erst um das Jahr 1970 wurden sie in nahezu allen Bundesländern in bemerkenswert rascher Folge vollständig verboten.4 Der Kontrast zwischen der langen Beharrungskraft körperlicher Schulstrafen trotz zunehmend kontroverser Debatte über ihre Berechtigung und ihrer nachhaltigen und vollständigen Ächtung innerhalb kurzer Zeit ist ebenso auffällig wie erklärungsbedürftig. Aus ihm ergibt sich die zentrale Fragestellung dieser Arbeit: Warum konnte sich in den frühen 1970er Jahren in der Bundesrepublik 1 2 3 4
Eduard Sack: Gegen die Prügelpädagogen, Braunschweig 1878. Volkszeitung Mainz, Nr. 147 vom 28.6.1930. Vgl. Bloßes Einmaleins, in: Der Spiegel Nr. 48, 1968, S. 97. So in Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein 1970, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen 1971, Hamburg bereits 1969 (vgl. Deutscher Bundestag: Drucksache 7/3318). Vollständige Verbote bereits in den 1940er-Jahren gab es dagegen lediglich in West-Berlin (1948) und Hessen (1946, 1949 bekräftigt). Vgl. hierzu Serwe: Entwicklung, S. 115–127.
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14
1. Einleitung
ein flächendeckendes Verbot körperlicher Schulstrafen durchsetzen und warum waren zuvor entsprechende Forderungen nur begrenzt erfolgreich? Das Ziel ist es also, die Debatten um körperliche Strafen über einen langen Zeitraum – beginnend mit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts – nachzuzeichnen und zu analysieren, Veränderungen und Kontinuitäten aufzuzeigen, um so sowohl die allmähliche Verdrängung dieser Strafform als auch das bemerkenswert rasche Ende dieses Prozesses erklären und kontextualisieren zu können. Die Geschichte dieser Strafform in der Schule erscheint schon an sich als lohnenswerter Untersuchungsgegenstand. Schließlich konnten körperliche Strafen prägende Bedeutung für die alltägliche Schulerfahrung von Kindern wie Lehrern haben, sie waren über Jahrhunderte hinweg Gegenstand intensiver pädagogischer Diskussionen und der Frage nach ihrer Zulässigkeit wurde immer wieder hohe bildungspolitische Bedeutung beigemessen – im hessischen Kultusministerium beispielsweise galt 1950 das Verbot körperlicher Strafen als „eine der wichtigsten Maßnahmen auf dem Gebiete zur Schul- bzw. Erziehungsreform“.5 Angesichts dieser Bedeutung erstaunt es, dass sich die Schul- und Bildungsgeschichte bisher relativ wenig mit diesem Thema befasst hat.6 Vor allem aber ist das Phänomen schulischer Körperstrafen auch deshalb historisch interessant, weil Schläge zu Erziehungszwecken nicht nur eine der im Alltag verbreitetsten, sondern auch die wohl am stärksten sozial akzeptierte Form von Gewalt gegen Kinder darstellen. Wenn sie nicht nur im Intimraum der Familie, sondern auch in Schulen durch Lehrer offiziell erlaubt waren, könnte man zugespitzt sogar von einer staatlich anerkannten Form von gegen Kinder gerichteter Gewaltanwendung sprechen. Das macht die Frage des schulischen Züchtigungsrechts zu einem besonders aufschlussreichen Fallbeispiel, anhand dessen sich die Aushandlungsprozesse nachvollziehen lassen, in denen die Grenze zwischen weitgehend anerkannten Erziehungsmitteln und inakzeptablen Formen der Gewalt konstruiert und allmählich verschoben wurde. Dass Erziehungsgewalt und ihr Rückgang bisher wenig aus historischer Perspektive untersucht wurde, haben zuletzt beispielsweise Stefan Grüner und Sonja Levsen
5 6
Bemerkungen zum Protokoll der 1. Sitzung des Ausschusses für Schulstrafen, 18.10.1950, HHStAW 1178, 149. So findet die Thematik beispielsweise in den drei für den Betrachtungszeitraum relevanten Bänden des Handbuchs der deutschen Bildungsgeschichte (jeweils herausgegeben von Christa Berg, Dieter Langewiesche/Heinz-Elmar Tenorth und Christoph Führ/Carl-Ludwig Furck) kaum Erwähnung. Ähnliches gilt etwa für Geißler: Schulgeschichte, und Herrlitz u. a.: Schulgeschichte. Bezeichnend für das relativ geringe Interesse der neueren pädagogischen Forschung an Strafen und ihrer historischen Dimension ist das Historische Wörterbuch der Pädagogik (Hrsg. Dietrich Benner/Jürgen Oelkers), in dem ein Rezensent „Gehorsam und Disziplin, Lob und Tadel, Belohnung und Strafe, Übung und Wetteifer, Verwahrlosung – gewissermaßen das ABC der Erziehungsliteratur seit der Antike“ in der Auswahl der Stichworte vermisste (Flitner: Rezension, S. 137).
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1.1 Ausgangspunkt und Fragestellung
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festgestellt.7 Diese Arbeit versucht also, zum Schließen dieser Forschungslücke an der Schnittstelle von Bildungs- und Gewaltgeschichte beizutragen. Die Diskussion über Körperstrafen in der Schule zeichnet sich zudem dadurch aus, dass es in ihr eben nicht nur um die Legitimierbarkeit von Gewalt ging, sondern auch um Fragen der grundlegenden Ausrichtung von Erziehung. Zwar kann der Verzicht auf körperliche Schulstrafen (auf der individuellen Ebene der sozialen Praxis) oder deren Verbot (auf der politisch-gesellschaftlichen Ebene) aus den unterschiedlichsten Gründen erfolgen: Beide lassen sich mit der Berufung auf einen grundsätzlichen Gewaltverzicht ebenso begründen wie mit rein pragmatischen Motiven, wie beispielsweise dem Vermeiden von Konflikten mit den Eltern oder der Gefahr unbeabsichtigter ‚Nebenwirkungen‘ in Form von Gesundheitsschäden. Vor allem aber dürfte die Einstellung zu schulischen Körperstrafen von der Bewertung ihrer erzieherischen Zweckmäßigkeit abhängen und somit von sich verändernden Erziehungsvorstellungen. Zu diesen gehören Konzepte von der kindlichen Natur, psychologische Theorien zu Lern- und Entwicklungsprozessen – und insbesondere die Ziele, die durch Erziehung erreicht werden sollen. Somit berührt die Diskussion um Körperstrafen stets auch Werte,8 denen auf individueller oder aber, bei schulischen Zielen, gesellschaftlicher Ebene besondere Relevanz beigemessen wird. Insofern ist zu erwarten, dass mit der Frage, ob Lehrer ihre Schüler körperlich strafen dürfen, stets auch implizit oder explizit Wertvorstellungen verhandelt wurden – so etwa zur Bedeutung von Gewaltfreiheit, Ehre und Menschenwürde oder Gehorsam und Autorität. Gerade solche Wertvorstellungen waren auf gesellschaftlicher Ebene zum Zeitpunkt der Abschaffung körperlicher Schulstrafen in einem Umbruch begriffen – so zumindest die weitgehend einhellige Diagnose der Sozialwissenschaften. Über den genauen Charakter, Ursachen und Verlauf dieses Wertewandels wurden allerdings recht unterschiedliche Deutungen vorgelegt: Sei es als von unterschiedlichen ökonomisch-politischen Sozialisationsbedingungen und Mangelerfahrungen verschiedener Generationen vorangetriebene Ablösung „materialistischer“ durch „postmaterialistische“ Werte (Inglehart), als Verfallsprozess bürgerlicher Tugenden (Noelle-Neumann) oder als Bedeutungsgewinn von „Selbstentfaltungswerten“ gegenüber traditionellen „Pflicht- und Akzeptanzwerten“ bei vielfältiger Kombinierungsmöglichkeit beider Wertdi7
8
Vgl. Grüner: Gewalt, S. 32; Levsen: Autorität, S. 288 („Der allmähliche Rückzug der Prügelstrafe aus der westeuropäischen Kultur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts veränderte Erziehungsverhältnisse und Kindheit umfassend, ist jedoch bisher wenig beachtet und fast gar nicht erklärt worden.“) „Werte“ werden hier nach Andreas Rödder (Wertewandel, S. 29) verstanden als „allgemeine und grundlegende normative Ordnungsvorstellungen [. . . ], die für das Denken, Reden und Handeln auf individueller und kollektiver Ebene Vorgaben machen und die explizit artikuliert oder implizit angenommen werden können“.
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1. Einleitung
mensionen (Klages).9 Doch bei aller Unterschiedlichkeit herrscht(e) in der Wertewandelsforschung weitgehend Einigkeit darüber, dass vor allem zwischen 1965 und 1975 die Bedeutung traditioneller Werte wie Ordnung, Sicherheit und Gehorsam sank, dafür die von „post-materialistischen“ oder „Selbstentfaltungswerten“ wie Freiheit, politische Mitsprache und Selbstverwirklichung stark anstieg. Schon der zeitliche Zusammenfall legt nahe, das Ende körperlicher Schulstrafen mit diesem Wertewandel zu begründen – und tatsächlich wird diese Erklärung in expliziter oder implizierter Form gelegentlich geäußert.10 Dass aus historischer Perspektive „der Wertewandel“ jedoch keineswegs als gegebener Faktor zur Begründung ausreicht, sondern selbst zu hinterfragen, zu erklären und in langfristige Wandlungsprozesse einzuordnen ist, ist eine Grundidee der Mainzer historischen Wertewandelsforschung.11 Tatsächlich bleiben auch beim pauschalen Verweis auf „den Wertewandel“ als Grund für das Ende körperlicher Strafen mindestens zwei entscheidende Fragen offen: Erstens übersieht diese Erklärung die bis ins 19. Jahrhundert (und darüber hinaus) zurückreichende Tradition kontroverser Debatten über das Thema. Ohne deren Berücksichtigung lässt sich jedoch keine valide Aussage darüber treffen, ob wirklich ein zeitlich begrenzter „Wertewandelschub“12 für das rasche Verschwinden körperlicher Strafen sorgte oder ob hier nicht deutlich längerfristig wirksame Veränderungsprozesse ihren Abschluss fanden. Und zweitens bleibt der pauschale Verweis auf „den Wertewandel“ meist die Erklärung schuldig, welche veränderten Werthaltungen konkret die Haltungen zu Körperstrafen beeinflussten. Diese Leerstellen versucht diese Arbeit zu füllen. Sie versteht sich somit auch als ein Beitrag zur historischen Wertewandelsforschung13 und orien9
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Vgl. als zentrale Texte der jeweiligen Deutungen: Inglehart: Revolution; Noelle-Neumann: Proletarier?; Klages: Wertorientierung. Für einen Überblick über die sozialwissenschaftliche Wertewandelsforschung vgl. etwa Hillmann: Wertewandelsforschung; mit Fokus auf den drei genannten Ansätzen: Thome: Wandel. Vgl. etwa Höhn: Wandel, S. 157; Krieger: Erziehungsvorstellungen; Bussmann: Germany, S. 136; Reuband: Aushandeln, S. 136 (allerdings mit Einschränkungen). Vgl. Dietz/Neumaier: Nutzen, insb. S. 300. Dabei will die historische Wertewandelsforschung, wie sie von Andreas Rödder, Bernhard Dietz, Christopher Neumaier und anderen konzipiert wurde, eine unreflektierte Übernahme sozialwissenschaftlicher Ergebnisse ebenso vermeiden wie das gegenteilige Extrem, Wertewandel ausschließlich als zeitgenössische Selbstbeschreibung zu dekonstruieren. Vielmehr sollen neben der kritischen Historisierung der sozialwissenschaftlichen Forschung auch die von ihr beschriebenen Phänomene mit historischen Methoden untersucht und überprüft werden (vgl. Dietz: Aufstieg, S. 29 f.). Klages: Werte, S. 701. Nach Rödder (Wertewandel, S. 26 f.) lassen sich zwei Ansatzpunkte historischer Wertewandelsforschung unterscheiden, die er als „Beobachtung erster Ordnung“ (Untersuchung der Gegenstände sozialwissenschaftlicher Forschung, also von Werten und deren Wandlungsprozessen) und „Beobachtung zweiter Ordnung“ (Untersuchung der sozialwissenschaftlichen Forschung selbst) beschreibt. Diese Arbeit beschränkt sich weitgehend auf die Beobachtung erster Ordnung, da die Debatten um körperliche Schulstrafen bereits vor
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tiert sich an deren methodischen Überlegungen:14 So analysiert diese Arbeit die von Befürwortern wie Gegnern körperlicher Strafen verwendeten Argumente vor allem daraufhin, auf welche Werte sie sich implizit oder explizit bezogen, wie sie diese definierten und welche Priorität sie ihnen beimaßen. Sie nimmt hierfür eine bewusst langfristig angelegte diachron vergleichende Perspektive ein und bedient sich hermeneutischer Verfahren. Auch das Mainzer Konzept des „Wertewandelsdreiecks“ lässt sich gut auf die vorliegende Fragestellung übertragen: Es beschreibt die von Hans Joas inspirierte Annahme, dass sich Werte nicht etwa als lineare Folge sozialstrukturellen Wandels verändern, sondern dass diskursiv verhandelte Werte, soziale Praktiken und institutionelle Rahmenbedingungen (worunter hier auch rechtliche Regelungen und materielle Bedingungen zu verstehen sind) sich gegenseitig beeinflussen, sodass sich ein dreiecksförmiges Gefüge von Wechselwirkungen ergibt.15 Der Prozess der Ächtung körperlicher Schulstrafen lässt sich in der Mitte dieses Dreiecks verorten, bestand er doch in Veränderungen in allen drei Bereichen: Körperstrafen verloren ihre Legitimierbarkeit im (nicht nur, aber oft auf Werte bezogenen) öffentlichen und pädagogischen Diskurs, ihre Legalität in den schul- und strafrechtlichen Rahmenbedingungen und sie verschwanden (nahezu) vollständig aus der sozialen Praxis. Bisherige Erklärungen für die Verdrängung körperlicher Strafen neigen dazu, jeweils einer ‚Ecke‘ des Dreiecks eine entscheidende Vorrangstellung zuzuweisen. Manche erklären die Anwendung von bzw. den Verzicht auf Körperstrafen aus der Eigenlogik des alltäglichen Unterrichtshandelns, also der sozialen Praxis, die wiederum durch die materiellen und institutionellen Bedingungen beeinflusst ist:16 Demnach sei die Anwendung körperlicher Strafen für Lehrer in erster Linie ein Notbehelf gewesen, auf den sie angesichts ungenügender Rahmenbedingungen wie zu großer Klassen oder fehlender Lehrmaterialien und aufgrund ihrer eigenen unzureichenden Ausbildung zurückgriffen, um trotz dieser Erschwernisse das geforderte und zur Wissensvermittlung notwendige Maß an Disziplin herzustellen. Erst nach der Verbesserung von Unterrichtsbedingungen und Lehrerausbildung sei dann der – in der Theorie von der Lehrerschaft längst gewünschte – Verzicht auf Körperstrafen möglich geworden und somit quasi automatisch eingetreten. Auch wenn diese Erklärung als bei Lehrern beliebtes Argumentationsmuster aus den Debatten selbst stammt, ist eine gewisse Plausibilität nicht zu bestreiten und die Frage der Unterrichtsbedingungen sollte als ein Faktor nicht ignoriert werden. Doch weist diese Deutung
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dem Aufkommen von ‚Wertewandel‘ als diskursivem Phänomen weitgehend abgeschlossen waren. Vgl. Rödder: Wertewandel, S. 30–35; Dietz: Theorie, S. 40–44; Dietz/Neumaier: Nutzen, S. 301–303. Vgl. Rödder: Wertewandel, S. 30 f. sowie Dietz/Neumaier: Nutzen, S. 302 f. Vgl. als wohl deutlichstes Beispiel: Rohrbach: Züchtigung, S. 30.
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erhebliche blinde Flecken auf: Schließlich kann sie die meist kontroverse Diskussion des Themas, auch und gerade innerhalb der Lehrerschaft, nicht erklären, genauso wenig wie die Tatsache, dass es zur gleichen Zeit in verschiedenen Ländern bei sehr ähnlichen Rahmenbedingungen zu gegensätzlichen Regelungen des Züchtigungsrechts kam. Somit ist es nicht erstaunlich, dass Historiker nach Deutungen gesucht haben, die über diese vereinfachte Fortschrittsgeschichte hinausgehen. Dirk Schumann setzt die Abschaffung körperlicher Strafen als Teil einer allgemeinen Liberalisierung der Schuldisziplin in den Kontext der Verrechtlichung des Schulwesens, sieht die entscheidenden Veränderungen also vor allem bei den rechtlichen Rahmenbedingungen.17 Dagegen geht diese Arbeit davon aus, dass sich die Ächtung körperlicher Strafen nicht einseitig von einer Ecke des Dreiecks erklären lässt. Vielmehr müssen erstens die Debatten, zweitens die Gesetze, Erlasse und strafrechtlichen Bewertungen, die den institutionellen Rahmen des Züchtigungsrechts festlegten, sowie drittens die soziale Praxis berücksichtigt und vor allem ihre gegenseitige Beeinflussung untersucht werden, um die Mechanismen des Wandels beschreiben zu können. Dabei ist zu beachten, dass Debatten um körperliche Schulstrafen und die Frage ihrer Zulässigkeit immer wieder auf öffentlich-politischer Ebene geführt wurden, daneben aber auch mehrere Teil- und Fachdiskurse zu unterscheiden sind: Pädagogik, Psychologie und – in geringerem Ausmaß – Medizin setzten sich auf theoretischer Ebene mit Erziehungsstrafen auseinander, das Züchtigungsrecht war eine berufspraktische Frage für Lehrer, und seine Rechtfertigung und Grenzen wurden in der Rechtswissenschaft teils kontrovers diskutiert. Auch hier spielen also Wechselwirkungen zwischen den Teildiskursen und gegebenenfalls unterschiedliche Geschwindigkeiten des Wandels eine wichtige Rolle. Dabei geht es auch um die Frage, welchen Akteuren bzw. beteiligten Gruppe es wie gelang, Expertenhoheit zu erlangen und Einfluss auf die öffentliche Diskussion, aber auch auf die rechtlichen Normen und die Praxis zu erlangen. Eingrenzung des Gegenstands
Der lange Betrachtungszeitraum zwingt zu einer klaren Eingrenzung des Themas: So konzentriert sich diese Arbeit ausschließlich auf die die Schulen betreffenden Debatten, die Frage körperlicher Strafen in anderen Erziehungskontexten, insbesondere in der Familie und der Heimerziehung, wird weitgehend ausgeblendet. Dabei könnte man einwenden, diese Arbeit habe sich ausgerechnet für den falschen Ausschnitt aus dem Reden über Körperstrafen entschieden: Schließlich liegt die Annahme nahe, dass Eltern (und in der Folge dann auch 17
Vgl. Schumann: Legislation, S. 218.
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öffentliche Kommentatoren oder Bildungspolitiker) eine körperliche Bestrafung ihres Kindes durch den Lehrer immer dann akzeptierten, wenn sie selbst diese Strafform in ihrer eigenen Erziehung praktizierten. War die Frage, ob Lehrer ihre Schüler körperlich strafen dürfen, nicht einfach nur eine Folge der grundsätzlichen Einstellung zu Strafen in der Erziehung? Wäre es nicht sinnvoller, die Veränderungen in der familiären Erziehungspraxis zu untersuchen, für die Debatten über die schulische Strafpraxis bestenfalls Indikator sein können? So einleuchtend diese Einwände sein mögen, werden sie durch eine genauere Betrachtung der Debatten zum schulischen Züchtigungsrecht doch schnell widerlegt. Wie die folgenden Kapitel zeigen werden, konnte die Ablehnung des schulischen Züchtigungsrechts zwar mit einer Infragestellung dieser Strafart in der familiären Erziehung einhergehen, sie musste dies aber keinesfalls. Zu groß schienen den meisten Betrachtern die Unterschiede zwischen der engen Eltern-Kind-Beziehung und dem Verhältnis zum ‚fremden‘ Lehrer, zwischen dem privaten Raum der Familie und der größeren Öffentlichkeit einer Schulklasse, zwischen dem individuellen Erziehungsrecht der Eltern und dem staatlichen Erziehungsauftrag der Schule. Aus juristischer Perspektive spitzte beispielsweise der Grundgesetzkommentator Günter Dürig diesen Unterschied folgendermaßen zu: „Schulische und elterliche körperliche Züchtigung unterscheiden sich der Sache nach etwa wie eine staatliche Expropriation von einem Ehegattendiebstahl.“18 Auch in Meinungsumfragen lag die Zustimmung zu Körperstrafen als elterlichem Erziehungsmittel stets höher als die zu ihrer Anwendung in der Schule.19 Dabei macht gerade die Tatsache, dass an die schulische Erziehung sowohl in juristischer als auch in pädagogischer Hinsicht wesentlich stärkere normative Ansprüche gestellt wurden, diese für die Untersuchung besonders lohnenswert: Schließlich sind hier umso intensivere gesellschaftliche Aushandlungsprozesse über die Ausgestaltung dieser Normen und die sie leitenden Wertund Erziehungsvorstellungen zu erwarten. Diese Arbeit geht also davon aus, dass es sich bei der Frage des elterlichen und der des schulischen Züchtigungsrechts um zwei verschiedene Debatten handelt, die in unterschiedlichen Geschwindigkeiten verliefen, auch wenn sie natürlich eng miteinander verbunden waren und sich gegenseitig beeinflussten. Um diesem Einfluss gerecht zu werden, wird die Diskussion um Körperstrafen in der familiären Erziehung zwar nicht systematisch untersucht, aber insoweit berücksichtigt, als in den schulbezogenen Debatten auf sie verwiesen wird oder sie als wichtiger Einflussfaktor für diese erscheint. Hierdurch wird es möglich, 18 19
Dürig, Art. 2 Abs. II, S. 110. Vgl. etwa die beiden Umfragen in Noelle/Neumann (Hrsg.): Jahrbuch 1958–1964, S. 64 und S. 363. Deshalb ist es auch nicht korrekt, die Bejahung von Körperstrafen in der Familie mit der Zustimmung zum schulischen Züchtigungsrecht gleichzusetzen, wie dies gelegentlich in der Forschungsliteratur geschieht.
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einige Aussagen über das Verhältnis von elterlichem und schulischem Züchtigungsrecht zu treffen, die in Kapitel 7.1 genauer vorgestellt werden – auch wenn sie, der asymmetrischen Perspektive geschuldet, nur vorläufigen Charakter haben können. Noch weniger als die familiäre kann die Heimerziehung in dieser Arbeit berücksichtigt werden. Zwar gibt es auch hier zahlreiche Berührungspunkte, beispielsweise bei den Argumenten in den auch in diesem Bereich kontrovers geführten Debatten über die pädagogische Berechtigung körperlicher Strafen oder bei den teils sehr ähnlichen normativen Regelungen für beide Bereiche.20 Doch insgesamt erscheinen die spezifischen Bedingungen von Heimen als „totalen Institutionen“ zu verschieden von denen der Schule, um beide Debattenkontexte ohne Weiteres gleichzusetzen.21 Ein systematischer, diese Unterschiede berücksichtigender Vergleich ist jedoch im Rahmen dieser Arbeit nicht zu leisten, weshalb es sinnvoller erscheint, die Heimerziehung vollständig auszublenden – nicht zuletzt, weil hierzu bereits viele eigene Untersuchungen vorliegen.22 Genauso ausgespart wird die Geschichte körperlicher Strafen außerhalb des erzieherischen Kontexts, also etwa als Kriminalstrafe oder Disziplinierungsmittel in Gefängnissen oder gegenüber Gesinde und Ehefrauen.23 Solche Körperstrafen gegen Erwachsene waren mit Beginn des Betrachtungszeitraums dieser Arbeit in den meisten Bereichen bereits Vergangenheit: Das 1872 in Kraft getretene Strafgesetzbuch sah, mit Ausnahme der Todesstrafe, keinerlei körperliche Kriminalstrafen mehr vor, auch im Militär waren zu diesem Zeitpunkt Schläge als Strafe durchgängig nicht mehr erlaubt. Lediglich in Gefängnissen blieben Körperstrafen bis in die Anfangsjahre der Weimarer Republik hinein ein erlaubtes Disziplinarmittel, und auch ein Züchtigungsrecht von Gutsherren gegenüber ihrem Gesinde war bis ins 20. Jahrhundert hinein – trotz offizieller Einschränkungen und Abschaffungen – noch akzeptiert.24 Erst 1951 abgeschafft wurde das Züchtigungsrecht von Ausbildern gegenüber ihren Lehrlingen, das zwar noch 20
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Vgl. Kuhlmann: Expertise; Pfordten/Wapler: Expertise, S. 66–70. Beispielsweise bezogen sich mehrere Gerichtsurteile zum Züchtigungsrecht in den 1970er Jahren gleichermaßen auf Lehrer wie Heimerzieher, vgl. BGH: Urteil vom 12.8.1976, 4 StR 270/76, in: NJW 29 (1976), S. 1949, und AG Braunschweig: Urteil vom 13.1.1977, Az. 7c 161/76 (juris). Vgl. zum von Erving Goffman geprägten Begriff der „totalen Institution“ und seiner Bedeutung als „wichtigste[r] Erklärungsansatz“ für Gewalt in der Heimerziehung Rudloff: Eindämmung, S. 254. Ein großer Teil dieser Untersuchungen ging aus den in den 2000er Jahren öffentlich und politisch artikulierten Forderungen der Opfer nach Aufarbeitung ihrer als Kinder und Jugendliche erlittenen Gewalterfahrungen und nach Entschädigung hervor. Vgl. etwa Runder Tisch Heimerziehung: Abschlussbericht; sowie die bei Rudloff: Eindämmung, S. 251 f., genannte Literatur. Vgl. hierzu etwa Speitkamp: Ohrfeige, S. 29–33, Frevert: Politik, S. 38–52. Zur Entwicklung in Preußen bis Mitte des 19. Jahrhunderts vgl. Koselleck: Preußen, S. 641–659. Vgl. Schröder: Prügelstrafe, S. 5–12.
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am ehesten mit dem schulischen vergleichbar wäre, wegen der unterschiedlichen betroffenen Altersgruppen hier aber dennoch ausgeblendet wird.25 Trotz all dieser Eingrenzungen bleibt das so abgesteckte Untersuchungsfeld weit und uneben: Schließlich ist „die Schule“ kein homogenes Gebilde, sondern lässt sich in verschiedene Schulformen differenzieren, die wiederum je nach Zeit und Raum unterschiedlich ausfallen. Hier wurde ein breiter Zugang gewählt, der prinzipiell alle öffentlichen Schulen einbezieht, ohne systematisch zwischen den einzelnen Formen zu unterscheiden, dabei aber einen klaren Schwerpunkt auf Volksschulen legt. Beides spiegelt die zeitgenössischen Debatten: Körperliche Strafen kamen zwar während des ganzen Untersuchungszeitraums in der Praxis auch an Gymnasien und anderen höheren Schulen vor, sie waren dort aber schon sehr früh rechtlich stark eingeschränkt oder gar verboten und pädagogisch geächtet. Zwar gilt erst für die Zeit nach 1945, dass sie „als Problem höherer Schulen gar nicht gedacht“ wurden,26 aber auch zuvor wurde das Thema in öffentlichen und pädagogischen Debatten vor allem mit Volksschulen verbunden. Da jedoch viele pädagogische oder ethische Argumente universelle Gültigkeit unabhängig von Schulformen beanspruchten, ist eine klare Trennlinie zwischen Volks- und höheren Schulen (und erst recht zu weiteren Untergliederungen wie Haupt- und Mittelschulen) in den Debatten nicht immer zu ziehen. Auch lässt sich feststellen, dass beispielsweise in der Lehrerschaft höherer Schulen die Frage körperlicher Strafen zwar deutlich seltener, aber meist nicht auf grundsätzlich andere Weise behandelt wurde als von ihren Kollegen an Volksschulen. Umgekehrt lassen die einzelnen vorhandenen Unterschiede zwischen den Schultypen bestimmte Aspekte, etwa soziale Abstufungen von Ehrbegriffen, deutlicher hervortreten. Deshalb legt diese Arbeit zwar den Schwerpunkt auf Volksschulen, schließt höhere Schulen aber bewusst nicht gänzlich aus der Betrachtung aus. Unterschiede zwischen den Schularten werden jeweils dort thematisiert, wo es sinnvoll scheint. Anhand der teils unübersichtlichen Differenzierung der Schulformen wird bereits ein Grundproblem aller bildungsgeschichtlichen Untersuchungen für den deutschen Raum deutlich, nämlich die föderale Organisation des Kultuswesens. Sie lässt der Wahl des Untersuchungsraumes besondere Bedeutung zukommen. Hierbei fährt diese Arbeit gewissermaßen zweigleisig: Für die pädagogischen und die rechtswissenschaftlichen Debatten wurde, aus der sich im Lauf der Untersuchung bestätigenden Annahme heraus, dass diese hauptsächlich in überregionalen Kommunikationszusammenhängen geführt wurden, bis 1945 das gesamte Deutsche Reich einbezogen, vereinzelt auch Beiträge aus dem übrigen deutschen Sprachraum, sofern sie nachweislich in Deutschland rezipiert wurden. Nach 1945 beschränkt die Arbeit sich auf die Bundesrepublik, da eine Einbezie25 26
Vgl. Albrecht: Entwicklung, S. 201. Gass-Bolm: Ende, S. 446.
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hung der Deutschen Demokratischen Republik wegen der kaum vergleichbaren Rahmenbedingungen des öffentlichen Diskurses problematisch wäre.27 Im Gegensatz zu den überregionalen wissenschaftlichen Diskursen unterschieden sich die konkreten schulrechtlichen Regelungen zum Züchtigungsrecht dagegen von Land zu Land – und mit ihnen die Diskussionen über ebendiese Regelungen in Öffentlichkeit und Parlamenten sowie die Bewertung von Einzelfällen der sozialen Praxis. Dies bringt für die Analyse insofern einen Vorteil, als durch den Vergleich verschiedener Entwicklungen in den einzelnen Ländern Erkenntnisse beispielsweise über die Auswirkungen rechtlicher Regelungen möglich sind. Andererseits bedeutet es aber auch, dass eine gleichberechtigte Betrachtung aller Länder nicht möglich ist, sondern nur einzelne Fallbeispiele ausgewählt werden können. Hier gilt es, einen Kompromiss zu finden zwischen der Berücksichtigung besonders intensiver Debatten, wie sie beispielsweise um das sächsische Verbot geführt wurden, und der Gewährleistung einer möglichst großen geographischen Kontinuität. Deshalb wurden für die Zeit vor 1945 die Beispiele Preußen, Sachsen und Bayern sowie nach 1945 Hessen, RheinlandPfalz und Bayern ausgewählt. Preußen drängt sich schon aufgrund seiner seit dem 19. Jahrhundert „führende[n] Rolle“ in der Bildungspolitik“ und seiner Bedeutung in der historischen (Bildungs-)Forschung auf.28 Sachsen liefert ein interessantes Fallbeispiel für ein frühes, ungefähr zehn Jahre anhaltendes vollständiges Verbot körperlicher Strafen während der Weimarer Republik, zu dem Bayern, wo es in der gleichen Zeit keinerlei rechtliche Änderungen zum Züchtigungsrecht gab, sozusagen ein diametrales Gegenbeispiel ist. Auch die drei für die Zeit nach 1945 ausgewählten Bundesländer stehen, wie zu zeigen sein wird, jeweils für sehr unterschiedliche Wege im Umgang mit dem Thema. Mit Bayern ist zudem zumindest für ein Land eine kontinuierliche Betrachtung über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg möglich. Dagegen ist Rheinland-Pfalz gerade als neu gegründetes Bundesland interessant, hätte hier doch die Möglichkeit bestanden, völlig neue Regelungen in dieser Frage zu schaffen. Auch lässt sich hier eine räumliche Kontinuität der Untersuchung, die für Sachsen und die preußischen Kerngebiete wegen der Ausklammerung der DDR nicht 27
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Vgl. zur Schwierigkeit (wenn auch nicht Unmöglichkeit), Wertekonflikte und -wandel in autoritären und diktatorischen Systemen zu untersuchen, Dietz: Theorie, S. 43. Diese Problematik gilt natürlich auch für die nationalsozialistische Diktatur, die in dieser Arbeit dennoch zumindest ansatzweise einbezogen werden soll, da eine Ausblendung hier nicht zuletzt wegen der zeitlichen Kontinuität noch problematischer erscheinen würde. In der DDR waren körperliche Strafen in Schulen ausdrücklich verboten, zurückgehend auf einen bereits 1945 für die SBZ ergangenen Erlass. Siehe etwa: Geißler: Zuchtmittel; Schumann: Schläge, S. 43–47. Zitat Führ: Bildungsgeschichte, S. 4. Nach Axel Nath (Geschichte, S. 409) spiegelt Preußen in Bezug auf viele quantitative Indikatoren der Schulgeschichte „auch den Durchschnitt der deutschen Flächenländer“, kann also als repräsentatives Beispiel gelten.
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möglich ist, zumindest teilweise gewährleisten: Schließlich gehörten große Teile von Rheinland-Pfalz zuvor zu Preußen oder Bayern, sodass im Vergleich auch das Nachwirken der unterschiedlichen von den jeweiligen Vorgängerländern geprägten Verwaltungstraditionen deutlich werden kann. Auch Hessen umfasste nach dem Zweiten Weltkrieg große Teile der preußischen Regierungsbezirke Kassel und Wiesbaden. Deshalb wird bei der Untersuchung Preußens, abgesehen von für den gesamten Staat relevanten Debatten über rechtliche Regelungen, bei der Untersuchung der sozialen Praxis ein Schwerpunkt auf den Gebieten liegen, die auch nach 1945 zum Untersuchungsraum gehören.
1.2 Vorgehensweise und Quellen Die Debatten um körperliche Schulstrafen spielten sich auf mehreren Ebenen ab, die jeweils für sich und in ihren Wechselwirkungen untersucht werden sollen: Naheliegenderweise beschäftigte das Thema auf wissenschaftlicher Ebene die Disziplinen Pädagogik und Psychologie. Eng damit zusammenhängend, aber (trotz nicht immer ganz scharfer Trennlinien) doch davon zu unterscheiden, ist die fachlich-praxisbezogene Diskussion unter Lehrern. Diese beiden Diskurse lassen sich gut anhand veröffentlichter Quellen, insbesondere pädagogischer Lexika, Hand- und Lehrbücher und vor allem Fachzeitschriften, rekonstruieren. Bei letzteren sind insbesondere die zu verschiedenen Zeiten jeweils unter dem Titel Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung (ADLZ) erschienenen Zeitschriften zu nennen.29 Mit ihnen stand für nahezu den gesamten Untersuchungszeitraum ein schon durch seine weite Verbreitung recht repräsentativer Spiegel der Debatten in der Lehrerschaft zur Verfügung. Ergänzend wurde die Lehrervereinspresse auf Landesebene untersucht, insbesondere für die Jahrgänge, bei denen beispielsweise aufgrund (angedachter) Veränderungen der schulrechtlichen Rahmenbedingungen im jeweiligen Land besonders intensive Debatten zum Thema zu erwarten waren. Auch Versammlungsprotokolle und,
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Bereits im Kaiserreich verstand sich die ADLZ mit einer Auflage von ca. 2.000–3.000 und ihrem allgemeinen, nicht von einem einzelnen Verein abhängigen Anspruch als „Chronik der modernen deutschen Volksschulpädagogik“ (Fr[iedrich] G[ärtner]: „Fünfzig Jahre im Dienste des Lehrerstandes“, ADLZ 50 (1898), S. 1–3, Zitat S. 2). Nachdem diese Zeitschrift 1914 eingegangen war, wurde ihr Name 1919 vom zuvor als Pädagogische Zeitung firmierenden Zentralorgan des Deutschen Lehrervereins übernommen (vgl. Bölling, S. 74 f. und S. 36, Anm. 15). Nach dessen Gleichschaltung 1933 wurde die Zeitschrift eingestellt, 1947 belebte die GEW den Namen für ihre zentrale Zeitschrift wieder (1971 umbenannt in „Erziehung und Wissenschaft“).
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soweit erhalten, interne Unterlagen der Lehrerverbände, Korrespondenz mit Mitgliedern usw. wurden als Quellen herangezogen.30 Eine systematische Durchsicht ist angesichts des langen Betrachtungszeitraums allerdings nur für einen kleinen Bruchteil der vielfältigen schulpädagogischen Zeitschriftenlandschaft leistbar. Um dennoch ein möglichst breites, repräsentatives Bild zu gewinnen, wurden daneben mithilfe der 1896 von Felix Friedrich Dietrich begründeten Bibliographie der deutschen Zeitschriftenliteratur (ab 1963: Internationale Bibliographie der Zeitschriftenliteratur aus allen Gebieten des Wissens) relevante Artikel zu den Schlagworten „Züchtigung“ bzw. „Züchtigungsrecht“ ermittelt, wobei allerdings Treffer aus Zeitschriften mit sehr geringem Verbreitungsgrad oder regionalem Charakter (außerhalb der Untersuchungsräume) ignoriert wurden. Auf dem gleichen Weg konnte auch ein repräsentativer Einblick in die in der rechtswissenschaftlichen Zeitschriftenliteratur geführten Debatten zum Thema gewonnen werden. Eine weitere wichtige Quelle für den juristischen Diskurs stellen Dissertationen dar, für die das (schulische) Züchtigungsrecht über den gesamten Betrachtungszeitraum hinweg ein beliebtes Thema bildete, denn es berührte grundlegende Probleme der Rechtswissenschaft, wie etwa die Geltungsdauer eines Gewohnheitsrechts oder das Verhältnis von Straf- und Disziplinarrecht. Hinzu kommen Lehr- und Handbücher und insbesondere Gesetzeskommentare. Auch Urteilsbegründungen von Prozessen, in denen Lehrer wegen Körperverletzung angeklagt waren, lassen über den jeweiligen Einzelfall hinaus Rückschlüsse auf Deutungen und Rechtfertigungen der schulischen Züchtigungsbefugnis zu. Dies gilt vor allem für die Urteile höherer Instanzen, die etwa in den Entscheidungssammlungen des Reichs- bzw. Bundesgerichtshofs oder in Fachzeitschriften veröffentlicht wurden und so wiederum den juristischen Diskurs beeinflussten. Neben diesen verschiedenen Teil- bzw. Fachdiskursen wurde die Berechtigung körperlicher Züchtigung in Schulen zumindest phasenweise auch gesamtgesellschaftlich kontrovers diskutiert. Die naheliegendste Quelle für diese Debatten ist die Presse. Hier ist angesichts des langen Zeitraums freilich selbst bei Konzentration auf wenige Leitmedien keine vollständige systematische Analyse möglich. Stattdessen wurden in erster Linie fallbeispielartig einzelne Anlässe, zu denen sich die öffentliche Diskussion verdichtete (z. B. die Neuregelungen des Züch30
Insbesondere beim Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband, dessen Vereinsarchiv zumindest ab 1946 im Bayerischen Hauptstaatsarchiv vollständig überliefert ist. Fast alle vor 1945 entstandenen Unterlagen des damals noch „Bayerischen Lehrervereins“ genannten Verbands sind dagegen, wohl durch Kriegszerstörung, verloren gegangen. Dies gilt auch für den sächsischen Lehrerverband (vgl. Moderow: Volksschule, S. 39), dessen interne Debatten in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in dieser Arbeit ebenfalls eine wichtige Rolle spielen, sodass hier nur auf veröffentlichte Versammlungsprotokolle zurückgegriffen werden konnte.
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tigungsrechts in Preußen 1899 oder die beiden BGH-Urteile 1954 und 1957), untersucht.31 Daneben wurde die öffentliche Diskussion über Schulstrafen am Rande von sich an ein breites Publikum richtenden pädagogischen Sachbüchern, etwa Erziehungsratgebern, aber auch in speziell zum Thema verfassten Streitschriften geführt. Sie bilden ebenso eine wichtige Quelle für die öffentlichpolitische Verhandlung des Themas wie Parlamentsprotokolle. Letztere bilden außerdem den Übergang zu einer anderen Ebene der Untersuchung, nämlich den institutionellen bzw. in diesem Fall insbesondere (schul-)rechtlichen Rahmenbedingungen. Hier sind Gesetze und Verordnungen auf verschiedenen Verwaltungsebenen von Interesse. Deren Entstehung und Intention lässt sich anhand der überlieferten Akten von Kultusministerien und Verwaltungsbehörden nachvollziehen. Entsprechende Bestände wurden im Bayerischen Hauptstaatsarchiv, im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, im Hessischen Hauptstaatsarchiv, im Sächsischen Staatsarchiv und im Rheinland-Pfälzischen Landeshauptarchiv eingesehen. Problematischer gestaltet sich die Quellenlage bei der dritten und letzten Untersuchungsebene, der sozialen Praxis. Schließlich vollzog sich das konkrete Interagieren von Schülern und Lehrern im Alltag hinter üblicherweise geschlossenen Klassenraumtüren – und dürfte sich zudem massiv je nach Schule, Lehrer und einzelner Klasse unterschieden haben. So war die Frage, in welchem Ausmaß und aus welchen Anlässen Lehrer körperliche Strafen tatsächlich anwandten, schon für Zeitgenossen kaum zu beantworten und konnte selbst kontrovers diskutiert werden. Selbst wenn körperliche Züchtigungen aufgrund entsprechender Vorschriften schriftlich dokumentiert wurden, bleibt das Problem der unvollständigen Überlieferung und der möglicherweise mangelnden Repräsentativität bestehen. Ein zumindest einigermaßen zuverlässiger (wenn auch aufgrund der oft widersprüchlichen Zeugenaussagen immer noch problematischer) Einblick in konkrete Unterrichtssituationen und Strafhandlungen von Lehrern bietet sich immer dann, wenn diese Gegenstand von aktenkundigen Untersuchungen wurden – also etwa bei Straf- und Disziplinarverfahren oder Beschwerden von Eltern wegen (vermeintlicher) Überschreitung des Züchtigungsrechts. Hier wird aus der Quellennot eine Tugend im Hinblick auf die Fragestellung: Schließlich wurde in solchen Fällen genau die Grenze zwischen akzeptierter und als ille31
Lediglich digitalisiert vorliegende und im Volltext durchsuchbare (Wochen-)Zeitungen konnten über einen längeren Zeitraum ausgewertet werden – dies waren insbesondere: für die erste Hälfte des Betrachtungszeitraums der sozialdemokratische Vorwärts sowie eingeschränkt Berliner Tageblatt und (Berliner) Volks-Zeitung, nach 1945: die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Zeit und der Spiegel. Für einzelne, sich anhand dieser Zeitungen herauskristallisierende Anlässe für intensivere Debatten zum Thema wurden daraufhin die entsprechenden Wochen weiterer (politisch anders ausgerichteter) bedeutender Zeitungen punktuell durchsucht.
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1. Einleitung
gitim angesehener Gewalt ausgehandelt, deren Verschiebung der Gegenstand dieser Arbeit ist. An beispielhaften Einzelfällen zu untersuchen, wo verschiedene Akteure – Lehrer, Eltern, Richter, Schulaufsichtsbehörden, Mediziner usw. – diese Grenze jeweils zogen, wie diese Grenzziehungen gerechtfertigt wurden und welche sich durchsetzen konnten, erscheint somit aufschlussreicher als der aufgrund der Quellenlage ohnehin zum Scheitern verurteilte Versuch, die schulische Strafpraxis allgemeingültig zu beschreiben oder gar zu quantifizieren. Als Quellen für eine solche Analyse von Einzelfällen dienten (neben wenigen veröffentlichten Gerichtsurteilen) Personalakten, Ermittlungsakten von Staatsanwaltschaften, Korrespondenz von Schulbehörden mit Eltern und ähnliche Archivalien. Auch wenn diese natürlich nur in sehr begrenztem, stichprobenartigen Umfang untersucht werden konnten, geben die so gewonnenen Ergebnisse zumindest Anhaltspunkte dafür, ob und wie theoretische Debatten und rechtliche Normen im alltäglichen schulischen Handeln und bei dessen Rechtfertigung aufgenommen wurden. Zumindest punktuelle Einblicke in die quantitative Verbreitung von Körperstrafen bieten die Ergebnisse zeitgenössischer (in Ausnahmefällen auch rückblickender) sozialwissenschaftlicher Befragungen, die, sofern vorhanden, ergänzend herangezogen wurden. Weitgehend verzichtet wurde dagegen auf die Untersuchung von Erinnerungen von Schülern oder Lehrern an in der Schulzeit erlebte bzw. angewendete Strafen.32 Hier wäre das Problem der willkürlich verstreuten, nur begrenzt repräsentativen Überlieferung ebenfalls vorhanden, würde zudem aber noch durch die Verzerrung der Erinnerung verstärkt.
1.3 Literatur- und Forschungsstand Gewalt gegen Kinder ist seit dem letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts ein in verschiedenster Hinsicht intensiv erforschtes Phänomen.33 Erziehungsgewalt wurde dabei in erster Linie von Medizin, Soziologie, Psychologie, Pädagogik und Rechtswissenschaft als gegenwärtiges Problem untersucht. Daneben geriet aber auch die vergangene Erziehungspraxis verstärkt in den Blick – allerdings selten aus genuin geschichtswissenschaftlicher Perspektive. So wurde einer der 32
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Vgl. als ein Beispiel für eine Sammlung literarisch verarbeiteter Berichte: Kastura: Rohrstock. Zu den methodischen Herausforderungen von Oral History zur Untersuchung körperlicher Schulstrafen vgl. Milewsky: Oral History (S. 11), die mit dieser Methode den Schulalltag in Ontario (Kanada) in den 1930er Jahren untersuchte. Dabei hat die historische Forschung Gewalterfahrungen von Kindern zunächst im Zusammenhang mit den Kriegen des zwanzigsten Jahrhunderts intensiv untersucht. Vgl. hierzu und zum Forschungsfeld der Kindheitsgeschichte allgemein den Literaturüberblick von Kössler: Tendenzen.
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1.3 Literatur- und Forschungsstand
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„konkurrierende[n] Großentwürfe der historischen Kindheitsforschung“34 Ende der 1970er Jahre von dem Sozialwissenschaftler und Psychoanalytiker Lloyd deMause vorgelegt: Unter dem (in der deutschen Übersetzung) programmatischen Titel „Hört ihr die Kinder weinen“ zeichnete er das Bild einer „Evolution der Kindheit“, in der eine weitverbreitete massive Gewaltanwendung gegen Kinder im Laufe der Geschichte nur allmählich einem liebevolleren Umgang wich.35 Da dieser Prozess nach deMause durch psychologische Gesetzmäßigkeiten bestimmt und somit weitgehend unabhängig vom Einfluss historischer Entwicklungen ist, kann dieser Ansatz zur Erklärung der in dieser Arbeit im Mittelpunkt stehenden Aushandlungsprozesse wenig beitragen – ganz abgesehen davon, dass deMauses sich auf recht einseitig ausgewähltes Quellenmaterial stützende Thesen inzwischen als weitgehend widerlegt gelten können.36 Insbesondere in populärwissenschaftlichen und öffentlichen Zusammenhängen wird physische und psychische Gewalt als Erziehungsmittel oft unter dem Schlagwort der „Schwarzen Pädagogik“ angesprochen, das Katharina Rutschky mit ihrer 1977 unter diesem Titel erschienenen Quellensammlung prägte. Rutschky hob darin aus einer psychoanalytisch geprägten Perspektive die repressiven, den kindlichen Willen brechenden Tendenzen einer auf Selbstbeherrschung und Gehorsam abzielenden bürgerlichen Aufklärungspädagogik hervor.37 Sie strebte weniger eine neutrale Analyse an, sondern verfuhr bewusst „tendenziös“ sowie „rücksichtslos gegen die expliziten Absichten der Autoren“ und den ursprünglichen Kontext ihrer Quellen.38 Sowohl Rutschkys als auch deMauses Arbeiten (und die jeweils an sie anknüpfenden) zielen in erster Linie auf die „Aufdeckung des Leides von Kindern in der Vergangenheit“ ab.39 Sie unterscheiden sich in ihrer Ausrichtung somit grundlegend von dieser Arbeit, die eben nicht die den Kindern zugefügte Gewalt selbst, sondern deren Rechtfertigungen und sich verändernden Bewertungen untersucht. Auch die neuere pädagogi34
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Grüner/Raasch: Einleitung, S. 9. Der andere „Großentwurf “ wurde in den 1960er Jahren von Philippe Ariès entwickelt und besagt, dass das Konzept der „Kindheit“ als spezifischer, vom Erwachsenenalter grundsätzlich verschiedener Lebensabschnitt erst ab dem 17. Jahrhundert allmählich „entdeckt“ wurde, was zu zunehmender Kontrolle und Disziplinierung führte. Vgl. deMause: Evolution. DeMause verstand seine Arbeit ausdrücklich als Gegenentwurf zu Ariès’ Thesen. Vgl. Winkler: Kindheitsgeschichte, S. 25. Der Begriff der Schwarzen Pädagogik erscheint auch deshalb als Analysebegriff wenig geeignet, da er nicht klar umrissen ist. Rutschky selbst verzichtete auf eine explizite Definition, in der pädagogischen Literatur wird er meist für jegliche Formen der „Erniedrigung durch pädagogische Zwangsmaßnahmen“ verwendet, die zudem oft dadurch charakterisiert sind, dass vom Kind erwartet wurde, die zugefügten Strafen als in seinem Interesse liegend anzuerkennen und mit Liebe zum Erzieher zu reagieren (vgl. Kuhlmann: Erziehung, S. 81–85). Rutschky: Pädagogik, S. XV. Nyssen; Geschichte, S. 57.
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sche Forschung hat, sofern sie die Geschichte von Erziehungsstrafen überhaupt untersucht, meist einen anderen Fokus, interessiert sie sich doch vor allem für „transhistorisch stabile Wirkungen der Gewalt in der Erziehung und situative Anlässe, die sie provozierten“.40 Dieser Schwerpunkt auf Funktionsmechanismen von und Denkmustern über Erziehungsgewalt statt auf Veränderungen und Kontinuitäten bringt oft ein aus historischer Perspektive zuweilen irritierendes Desinteresse an der zeitlichen Dimension und dem spezifischen Kontext der herangezogenen Quellen mit sich.41 Zwar gibt es auch einige ältere Darstellungen, die gerade die Veränderung der schulischen Strafpraktiken aus pädagogischer oder juristischer Perspektive in den Blick nehmen. Jedoch sind diese oft noch selbst Teil der Debatte, beispielsweise, indem sie eine zielgerichtete Entwicklung zur zunehmenden Reduzierung körperlicher Strafen konstruieren und infolgedessen deren vollständige Abschaffung als logischen Endpunkt fordern.42 Eine Ausnahme ist Wolfgang Scheibes „Die Strafe als Problem der Erziehung“, das einen bis heute relevanten Überblick über die Geschichte des pädagogischen Denkens über Strafen bietet. Ungefähr ab der Jahrtausendwende rückte das Thema der Gewalt gegen Kinder verstärkt in den Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit, als nach und nach sexueller Missbrauch und Misshandlungen etwa an der Odenwaldschule oder in kirchlichen Institutionen und die weit verbreitete, teils systematische Anwendung von Gewalt verschiedenster Art in der Heimerziehung der 1950er und 1960er Jahre bekannt wurden. In den folgenden Jahren beschäftigten sich nicht nur Journalisten oder Filmemacher,43 sondern auch Wissenschaftler ver40 41
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Dollase: Rahmungen, S. 17. So etwa bei Hafeneger: Strafen, S. 27–39; Richter: Strafen, S. 104 f.; teilweise auch Dudek: „Liebevolle Züchtigung“ (z. B. S. 62). Für Wolfgang Sünkel (Problem, S. 96) gibt es in dieser auf Ideen statt auf Aushandlungsprozesse konzentrierten Perspektive gar seit 1798 „zu unserem Problem [der Körperstrafe, S. H.] nur mehr Variationen und Ergänzungen, aber nichts prinzipiell Neues“. Außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses steigert sich die Missachtung der zeitlichen Dimension zuweilen zu massiven Verzerrungen – ein besonders drastisches Beispiel ist Müller-Münch: Generation, wo unter dem Etikett „damals“ die aus dem 18. Jahrhundert stammende Schlagbilanz des Lehrers Häuberle (vgl. S. 48 dieser Arbeit) implizit in die 1950er Jahre verlegt wird (S. 186). Sehr deutlich bei Rohrbach: Züchtigung; aus juristischer Perspektive: Serwe: Entwicklung. Auch wenn diese Werke durch ihren Entstehungszeitpunkt und ihre klare Positionierung in den kontroversen Debatten für diese Arbeit eher als Quellen relevant sind, bieten sie gleichzeitig einen hilfreichen und wertvollen Überblick zur Entwicklung der Rahmenbedingungen des Züchtigungsrechts. Eine stark normative Ausrichtung kennzeichnet auch einige neuere Publikationen – und wird beispielsweise bei Engelbrecht schon im Titel erkennbar: „Von der Prügelstrafe bis zur Anwendung angemessener persönlichkeits- und gemeinschaftsbildender Erziehungsmittel“. Beispielsweise Müller-Münch: Generation, sowie die u. a. darauf basierende WDRDokumentation „Wer seine Kinder liebt, der züchtigt sie . . . “ (Regie: Erika Fehse, Erstausstrahlung 2014). Im Spielfilm wurde die familiäre Erziehung im Kaiserreich in
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stärkt mit der Rolle von Gewalt in Erziehungskontexten der Vergangenheit – wobei ähnlich wie in den öffentlichen Debatten der Fokus stärker auf einzelnen Misshandlungsfällen, sexualisierter Gewalt, Heim- oder familiärer Erziehung lag.44 Auch wenn dieses vermehrte öffentliche Interesse an Gewalt in erzieherischen Kontexten bisher nur zu einem eher zögerlichen Aufgreifen des Themas als historischen Gegenstand führte,45 liegen durchaus einige neuere geschichtswissenschaftliche Arbeiten auch zur speziellen Thematik körperlicher Schulstrafen vor. So haben etwa Torsten Gass-Bolm und vor allem Dirk Schumann die Entwicklung des schulischen Züchtigungsrechts in der Bundesrepublik untersucht und in den Kontext allgemeiner gesellschaftlicher Wandlungs- und Modernisierungsprozesse gesetzt.46 Schumanns Arbeiten sind ein wichtiger Anknüpfungspunkt für diese Arbeit, auch wenn sie teilweise zu anderen Schlüssen kommen. Während diese Studien sich auf die Zeit nach 1945 konzentrieren, ist Sace Elders Analyse juristischer Debatten zum Züchtigungsrecht auf das Kaiserreich begrenzt. Zeitlich langfristig angelegt sind dagegen die Studien Winfried Speitkamps und Ute Freverts zur Geschichte der Ehre bzw. der Demütigung, in denen körperliche Strafen jedoch jeweils nur als einer von vielen Aspekten und dadurch relativ knapp behandelt werden.47 Dies gilt ähnlich auch für Sonja Levsens vergleichende Studie über Autorität und Demokratie in der französischen und deutschen Erziehung nach 1945, die für diese Arbeit wertvolle Impulse und eine Kontrastfolie zur Einordnung zentraler Befunde bietet. Versuche, die Entwicklung schulischer Körperstrafen langfristig und mehrere relevante Teildebatten umfassend zu behandeln, liegen dagegen bisher erst ansatzweise vor.48 Neben ihrem Kernthema der Geschichte der Erziehungsgewalt berührt diese Arbeit zahlreiche andere Forschungskontexte, vor allem natürlich zur Schulund Bildungsgeschichte der verschiedenen Epochen, aber beispielsweise auch
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Michael Hanekes stark von Rutschkys Arbeit beeinflusster „deutsche[r] Kindergeschichte“ (so der Untertitel) Das weiße Band (2009) aufgegriffen. Vgl. hierzu Johannson: Schwarze Pädagogik. Vgl. Hagner: Hauslehrer, und Dudek: „Liebevolle Züchtigung“, die jeweils einen Fall aus dem Kaiserreich/der Weimarer Republik und dessen zeitgenössische Rezeption analysieren; zur Heimerziehung siehe oben, Anm. 22. Als Beispiel für die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der Pädagogik vgl. Thole et al.: Gewalt. Als einige der vereinzelten Gegenbeispiele wären die Beiträge in Grüner/Raasch: Zucht; Kössler: Brutalisierung, sowie Rudloff: Eindämmung, zu nennen. Vgl. Gass-Bolm: Ende; Schumann: Schläge; ders.: Authority. Schumann: Legislation, beschreibt zwar für die Beispielländer Hessen, Bayern und Nordrhein-Westfalen auch Entwicklungen seit dem Kaiserreich, legt den analytischen Fokus aber – wie im Titel erkennbar – eindeutig auf die Zeit der BRD und hier insbesondere auf die Ambivalenz von Modernisierung, Liberalisierung und Bürokratisierung. Vgl. Speitkamp: Ohrfeige; Frevert: Politik. Vgl. Grüner: Gewalt.
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zur Geschichte der Jugend und ihrer Wahrnehmung oder der Wissenschaftsgeschichte von Psychologie und Pädagogik. Angesichts dieser Breite und des langen Betrachtungszeitraums ist es nicht möglich, all diese Forschungskontexte vollständig zu erfassen. Stattdessen stützt sich die Arbeit hier vor allem auf Handbücher und Überblicksdarstellungen sowie auf ausgewählte, für die spezifische Thematik besonders aufschlussreich scheinende Arbeiten, ohne damit einen Anspruch auf vollständige Abbildung des jeweiligen Forschungsstands zu erheben.
1.4 Begriffe und Aufbau Auch wenn diese Arbeit sich im größeren Kontext der Erforschung von Gewalt gegen Kinder verorten lässt, ist ihr Gegenstand doch strikt auf physische Gewalt im engeren Sinne beschränkt, und hier ausschließlich auf körperliche Strafen. Hierunter werden im Folgenden Handlungen verstanden, mit denen Lehrer Schülern in erzieherischer Absicht bewusst und direkt Schmerzen zufügten, meist durch Schläge mit der bloßen Hand oder mit Gegenständen wie Ruten, Lederriemen, Rohrstöcken usw. Ausgeblendet werden dagegen Formen psychischer Gewalt wie Demütigungen und Erniedrigungen, die aufgrund ihrer schwereren Abgrenzbarkeit nicht im gleichen Maße rechtlich reguliert waren, und sexualisierte Gewalt, die während des gesamten Betrachtungszeitraums Tabuisierungen unterlag und so anders verhandelt wurde.49 Diese enge Eingrenzung erfolgte, um die Körperstrafendebatten als ein Fallbeispiel handhabbar und über den langen Zeitraum hinweg vergleichbar zu machen. Sie ist nicht als eine Wertung dessen, welche Handlungen ‚eigentlich‘ als Gewalt zu verstehen oder in ihren Folgen gravierender oder harmloser seien, misszuverstehen. Auch die Benennung des so eingegrenzten Phänomens ist nicht ganz unproblematisch, da Bezeichnungen körperlicher Strafen in der Diskussion selbst zum Gegenstand wurden und oft emotional besetzt waren. Dies gilt insbesondere für den Begriff der „Prügelstrafe“, der zumindest in der zweiten Hälfte des Untersuchungszeitraums ausschließlich von deren Gegnern benutzt und vor allem von Lehrern als unsachlicher Kampfbegriff empfunden wurde. Zeitgenössisch zwar weniger umstritten war der Begriff der „(körperlichen) Züchtigung“, er birgt jedoch die Gefahr der Verharmlosung.50 Wenn er dennoch in dieser Ar49
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Vgl. zu den verschiedenen Formen der Gewalt gegen Kinder Melzer/Lenz/Bilz: Gewalt, die darauf hinweisen, dass psychische Gewalt auch für die Gegenwart aufgrund ihrer schwierigen Eingrenzbarkeit nur unzureichend erforscht ist (S. 765). Hierauf weist etwa der Jurist Hans-Jörg Albrecht hin. Für ihn „verdeckt der Begriff der Züchtigung mehr als daß er erhellen würde. Denn grundsätzlich geht es doch um die Zufü-
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beit gelegentlich – und ohne Anführungszeichen – verwendet wird, geschieht dies im Interesse der Lesbarkeit und weil er sich in rechtlichen Vorschriften als Fachbegriff eingebürgert hat (und zumindest in der Zusammensetzung „Züchtigungsrecht“ bis heute in diesem Sinn verwendet wird51 ). Zu beachten ist auch, dass Gegenstand und Quellen eine bestimmte Verzerrung des Bildes, das sich von körperlichen Strafen im Schulalltag ergibt, zur Folge haben: Indem diese Arbeit bewusst weitgehend auf Zeitzeugenaussagen oder Ego-Dokumente von Schülern verzichtet, sondern sich vor allem auf theoretische Debatten der Erwachsenen stützt, thematisiert sie nicht das Erleben von Gewalt, sondern vor allem deren Rechtfertigung. Sie behandelt zum großen Teil rechtliche und gesellschaftliche Normen und nur zu kleinen Teilen deren Umsetzung im schulischen Alltag. Daraus ergibt sich nahezu zwangsläufig, dass Erziehungsgewalt in dieser Arbeit als seltener und als für die Betroffenen ‚harmloser‘ erscheint, als dies in einer stärker die Opferperspektive einbeziehenden Darstellung der Fall wäre. Diese Verzerrung ist eine Folge der Fragestellung, der es eben nicht um körperliche Strafen selbst, sondern um deren sich wandelnde Bewertung geht, und sollte keinesfalls als inhaltliche Aussage missverstanden werden. Der Aufbau der Arbeit kombiniert zwei unterschiedliche Zugangsweisen: Um die Aushandlungsprozesse zu körperlichen Strafen sowie die um Expertenhoheit konkurrierenden Akteure leichter nachvollziehbar zu machen und die Debatten kontextualisieren zu können, erfolgt zunächst eine chronologisch gegliederte Darstellung. Im zweiten Schritt sollen dann zentrale Mechanismen und Muster des Wandels deutlicher herausgestellt werden. Dazu dienen Längsschnitte, die jeweils einen Aspekt bzw. einen Wertbegriff und dessen sich verändernde Verwendung in den Debatten in den Blick nehmen und so die Ergebnisse der Untersuchung zusammenfassen.
1.5 Betrachtungszeitraum und (rechtliche) Ausgangslage Die Geschichte körperlicher Schulstrafen reicht wesentlich weiter zurück als der Betrachtungszeitraum dieser Arbeit. „Ohne körperliche Züchtigung konnten sich die wenigsten Kulturen vorstellen, den Nachwuchs zum gesellschaftlichen oder situativen Zielverhalten zu bringen“, fasst Rainer Dollase die historische
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gung physischer Verletzungen und vor allem um die Zufügung körperlicher Schmerzen“ (Entwicklung, S. 202). Vgl. beispielsweise Albrecht: Entwicklung; Göbel: Züchtigungsrecht; Priester: Ende.
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Verbreitung körperlicher Strafen zusammen.52 Dennoch ist seine Annahme, dass Körperstrafen „[e]rst im 19. Jahrhundert“ infrage gestellt wurden, etwas übertrieben: Bereits in Antike und Mittelalter war die weite Verbreitung von Schlägen in familiärer und schulischer Erziehung zwar im Allgemeinen sozial akzeptiert, konnte aber zumindest vereinzelt durchaus kritisiert werden.53 Im Zuge der Aufklärung wuchs die Kritik zu einer ersten „Gegenbewegung gegen die Strafe in der Erziehung“ an, bei der etwa die Philanthropisten um Johann Bernhard Basedow das Prinzip der Belohnung statt Strafen in den Mittelpunkt stellten und (zumindest in der theoretischen Idealvorstellung) Körperstrafen nur in Ausnahmefällen zulassen wollten.54 Großen Einfluss auf die Diskussion hatte Jean-Jacques Rousseau mit seinem Prinzip der „natürlichen“, auf direkten Zwang verzichtenden Erziehung, in der Strafen nur in Form von sich (vermeintlich) aus den Handlungen des Kinds ergebenden negativen Folgen vorkommen sollten.55 Freilich hielten die meisten praktischen Pädagogen dieser Zeit trotz aller Kritik an häufigen Körperstrafen einen vollständigen Verzicht auf dieselben für unmöglich. Dennoch ist bemerkenswert, dass gegen Ende des 18. Jahrhunderts beispielsweise in Österreich oder Baden körperliche Schulstrafen weitgehend oder ganz verboten wurden, auch wenn die vollständige Umsetzung solcher Verbote in der Schulpraxis höchst fraglich ist.56 Bereits für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde in der bildungshistorischen Forschung eine „discursive densification of the debate on corporal punishment“ diagnostiziert und viele derjenigen Positionen und Argumentationsmuster beschrieben, die auch in den in dieser Arbeit untersuchten Debatten zum Ausdruck kommen.57 Wenn diese Untersuchung also ungefähr um 1870 einsetzt, nimmt sie einen zu einem gewissen Grad willkürlichen Einschnitt in sehr viel längere Entwicklungslinien vor. Und doch gab es im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Veränderungen, die eine in diesem Zeitraum beginnende Betrachtung sinnvoll erscheinen lassen: Nun setzte eine erneute „Verdichtung“ des Redens über körperliche Strafen ein, es mehrten sich öffentliche Stimmen, die das schulische Züchtigungsrecht ablehnten. Die 1870er Jahre markierten zu-
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Dollase: Erziehung, S. 17. Dort auch das folgende Zitat. Vgl. Scheibe: Strafe, S. 19–27. Vgl. außerdem zur Antike: Gebhardt: Prügelstrafe, S. 202–212, sowie Kirsch: „Schulen“; zum Mittelalter Richard-Elsner: Gewalt. Vgl. Scheibe, Strafe, S. 86–99. Vgl. zu pädagogischen Straftheorien des 18. und frühen 19. Jahrhunderts auch Richter: Strafen, S. 71–85. Vgl. Scheibe: Strafen, S. 55–84. Vgl. Engelbrecht: Prügelstrafe, S. 43–47. Auch in Bayern existierte ab 1815 ein Verbot von Körperstrafen durch Lehrer (nicht jedoch durch Schulinspektoren), das aber in den 1860er Jahren wieder aufgehoben wurde (vgl. Ministerial-Entschließung, die Aufrechterhaltung der Schuldisciplin betr., 8.1.1866, in: Ministerialblatt für Kirchen- und Schul-Angelegenheiten im Königreich Bayern 2 (1866), Nr. 2 vom 15.1.1866, S. 13–17.) Heinze/Heinze: Punishment, S. 53. Vgl. auch Liedtke: Züchtigung, S. 200.
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dem den Beginn eines „Expansions- und Investitionsschubs“ der Volksschule,58 sodass sich die Rahmenbedingungen der hier untersuchten Entwicklungen von früheren deutlich unterschieden. Dies gilt beispielsweise für die Schulpflicht, die erst ab den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts in Deutschland wirklich flächendeckend und durchgängig durchgesetzt war59 und die direkt mit der Frage körperlicher Strafen zusammenhängt: Solange die Schulpflicht nicht allgemein akzeptiert war, konnte die Sorge vor brutaler Behandlung der Schüler ein Faktor sein, der Eltern davon abhielt, ihre Kinder in die Schule zu schicken – und konnte somit der Versuch, zumindest diese Ursache für mangelnden Schulbesuch auszuschalten, ein Grund für Verbote oder Einschränkungen von Körperstrafen sein. Die offensichtlichste Zäsur um 1870 ist natürlich eine politische. Allerdings hatte die Kaiserreichsgründung von 1871 auf die Thematik körperlicher Strafen nur indirekte Auswirkungen. Schließlich war die Ausgestaltung des Schulwesens Sache der Einzelstaaten (und sollte es bekanntlich bis in die Bundesrepublik bleiben).60 Nicht nur deshalb war die Rechtslage um 1870 äußerst unübersichtlich: Gesetzliche Bestimmungen zum Züchtigungsrecht existierten nur in wenigen Ländern – etwa im einflussreichen Preußen, dessen Allgemeines Landrecht von 1794 die Bestimmung enthielt: „Die Schulzucht darf niemals bis zu Mißhandlungen, welche der Gesundheit der Kinder auch nur auf entfernte Art schädlich werden könnten, ausgedehnt werden.“61 Diese Vorschrift (die durch eine Kabinettsorder vom 14.5.1825 wiederholt und auf die seitdem neu zu Preußen hinzugekommenen Gebiete ausgedehnt worden war) galt bis ins 20. Jahrhundert in ganz Preußen als maßgeblich für die strafrechtliche Bewertung körperlicher Strafen und sogar bundesrepublikanische Gerichte zogen sie noch als Maßstab heran.62 Häufiger wurde der Rahmen des Erlaubten aber nicht durch Gesetze, sondern durch Ministerialerlasse und Verordnungen der Schulbehörden festgelegt. Neben landesweit gültigen, eher allgemein formulierten Erlassen der Kultusministerien gab es eine verwirrende Vielzahl von Vorschriften und Schulordnungen auf Bezirks-, Kreis- oder örtlicher Ebene. Diese lokalen Bestimmungen hielten sich natürlich innerhalb des durch die Kultusministerien vorgegebenen Rahmens, 58 59 60 61 62
Kuhlemann: Niedere Schulen, S. 180. Vgl. ebd., S. 192; Tenorth: Geschichte, S. 201; Kraus: Kultur, S. 46. Vgl. zur Relativierung der Reichsgründung als kultur- und bildungsgeschichtliche Zäsur Kraus: Kultur, S. 57. § 50 PrALR II, 12. Vgl. etwa Th. H.: Schläge in der Schule, Mit dem Stock, in: Hessische Lehrerzeitung 3 (1950), S. 134. Noch 1956 forderte Günther Friebe, die Bestimmung des ALR zur alleinigen Beurteilungsgrundlage für die Grenze des Lehrer-Züchtigungsrechts zu machen (Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Lehrers bei Überschreitung des Züchtigungsrechts, in: Zeitschrift für Beamtenrecht 4 (1956), S. 174–178, hier S. 175).
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gingen jedoch sehr viel stärker in Details und regelten beispielsweise, mit welchen Werkzeugen (meist Stock, Rute oder Lederriemen) und auf welche Körperteile geschlagen werden durfte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts bemühten sich Schulbehörden um Neuregelungen der schulischen Strafrechte, die jedoch selten grundsätzlich Neues brachten, sondern eher bestehende Vorschriften und eingebürgerte Verfahren erneuerten, präzisierten und vereinheitlichten. In Bayern legte beispielsweise die oberbayerische Schul- und Lehrordnung von 1890 fest: „Als körperliche Züchtigung dürfen nur einige – im höchsten Fall sechs – Streiche mittels einer Rute oder eines mäßig starken biegsamen Stöckchens oder Röhrchens und zwar auf die flache Hand oder das Hinterteil gegeben werden“, ähnliche Bedingungen wurden um die Jahrhundertwende auch in der Oberpfalz, Ober- und Unterfranken erlassen. Dagegen wurde in Niederbayern den Lehrern nur allgemein vorgeschrieben, Züchtigungen mit der „durch den Zweck gebotenen, jede körperliche Verletzung oder die Gesundheit gefährdenden Beschädigung ausschließenden Ruhe und Mäßigung“ auszuführen, im Regierungsbezirk Pfalz existierten gar keine entsprechenden Vorschriften.63 Sowohl die kultusministeriellen Erlasse als auch die lokalen Bestimmungen waren meist als verbindliche Vorschriften formuliert, zu deren Einhaltung sämtliche der jeweiligen Behörde unterstehenden Lehrkräfte verpflichtet waren. Handelten sie ihnen zuwider, konnten sie für diese Missachtung von Dienstvorschriften als Beamte disziplinarisch bestraft werden, z. B. durch Rügen, förmliche Verwarnungen, Gehaltskürzungen oder sogar Entfernung aus dem Amt.64 Allerdings liegt es in der Natur dieser dienstlichen Sanktionen, dass sie – abgesehen von drastischen Maßnahmen wie Versetzungen oder Entlassungen – normalerweise nicht an die Öffentlichkeit gelangten. Auch die Entscheidung über die (Nicht-)Verfolgung und das Strafmaß eines Vergehens war für Außenstehende intransparent und weitgehend Ermessenssache der zuständigen Schulbehörden. Somit erstaunt es wenig, dass eine andere Form der Sanktion von über das akzeptierte Maß hinausgehenden Züchtigungen weitaus mehr Aufmerksamkeit in der Debatte erfuhr: nämlich die strafrechtliche Verfolgung. Strafrechtliche Bewertung
Wenn die Reichsgründung auch auf die eigentliche Schulgesetzgebung wenig Einfluss hatte, so stellt sie für die rechtliche Bewertung körperlicher Schulstrafen dennoch einen wichtigen Einschnitt dar: Denn im Gegensatz zur Kultuspolitik 63 64
„Die Bestimmungen der einzelnen Kreis-Schul- und Lehrordnungen über das Züchtigungsrecht des Lehrpersonals an den Volksschulen“, LASp H3, 7062, Bl. 67–70. Vgl. Knorr: Züchtigung, S. 110.
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blieb das Strafrecht nicht den Einzelstaaten vorbehalten. Hier wurde 1872 ein reichsweit gültiges Strafgesetzbuch eingeführt, dessen für unser Thema relevante Paragraphen sich bis in die heutige Zeit nur wenig verändern sollten. Somit galt im gesamten Untersuchungszeitraum (nahezu) der gleiche strafrechtliche Rahmen für körperliche Schulstrafen. Da er nicht ganz unkompliziert, aber zum Verständnis der Debatten um Körperstrafen nötig ist, lohnt es sich, ihn an dieser Stelle ausführlicher zu erklären. Entscheidend ist dabei vor allem der in § 223 StGB definierte Tatbestand der Körperverletzung: Eine solche begeht laut der während des gesamten Untersuchungszeitraums nahezu unveränderten Formulierung, wer „vorsätzlich einen Anderen körperlich mißhandelt oder an der Gesundheit beschädigt“ (ab 1969 entfiel das Wort „vorsätzlich“). Da der Begriff der „Misshandlung“ dabei recht weit zu verstehen ist, wurde und wird er nach mehrheitlicher Meinung durch „jede über einen leichten Klaps hinausgehende körperliche Züchtigung“ erfüllt.65 Somit war das Schlagen eines Schülers – sei es mit der bloßen Hand, einem Stock oder einem anderen Werkzeug – grundsätzlich eine normalerweise strafbare Körperverletzung. Verschärft wurde diese Tatsache durch § 340 StGB, laut dem Körperverletzungen, wenn sie ein „Beamter [. . . ] in Ausübung oder in Veranlassung der Ausübung seines Amtes vorsätzlich“ begeht, schwerer bestraft werden. Dabei galten Lehrer an öffentlichen Schulen auch dann als „Beamte“ im Sinne dieses Paragraphen, wenn sie im Hinblick auf ihr privatrechtliches Beschäftigungsverhältnis Angestellte waren.66 Somit galt für Lehrer, die ihre Schüler über das erlaubte Maß hinaus schlugen, ein höheres Strafmaß als dies bei anderen Körperverletzungen der Fall war. Dies trug dazu bei, Richter vor einer Verurteilung zurückschrecken zu lassen, und verschärfte die Diskussion. Hinzu kommt, dass die Staatsanwaltschaften damals wie heute Körperverletzungen im Amt auch ohne gesonderten Antrag verfolgen mussten, wogegen leichte Körperverletzungen nur auf Antrag oder bei besonderem öffentlichem Interesse untersucht wurden.67 Es konnte also selbst dann zu einem Verfahren gegen züchtigende Lehrer kommen, wenn der geschädigte Schüler bzw. dessen Eltern dies gar nicht wünschten. Nicht nur die Körperverletzung im Amt nach § 340 StGB konnte für Lehrer strafverschärfend wirken. Ab 1912 existierte zudem der § 223a (ab 1933 § 223b), der ein besonderes Strafmaß für Körperverletzungen an Kindern und Jugendlichen „mittels grausamer oder boshafter Behandlung“ vorsah (ab 1933 war stattdessen die Rede von „quält oder roh mißhandelt“). Allerdings galten nach gängiger juristischer Ansicht Schläge zu Erziehungszwecken eben nicht als solche grausame bzw. rohe, quälerische Misshandlungen, mit Ausnahme 65 66 67
Stettner: Problematik, S. 8. Vgl. Kaiser: Züchtigungsrecht, S. 67, sowie Janissek: Recht. Vgl. den damaligen § 232 StGB (heute § 230 StGB).
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von „ganz schwere[n], eklatante[n] Fälle[n] grober und gröbster, zum Teil auch fortgesetzter körperlicher Züchtigung“.68 Bis zum Ende des Untersuchungszeitraums taucht der Tatbestand der Kindesmisshandlung im Zusammenhang mit Schulstrafen in der juristischen Debatte nur selten auf. Wenn er doch für Schläge in der Schule in Erwägung gezogen wurde, war oft bereits durch die brutale Art der Bestrafung eindeutig, dass der Lehrer jegliches etwaiges Züchtigungsrecht überschritten hatte. Für die juristische Diskussion um die Existenz eines solchen Züchtigungsrechtes – und für diese Arbeit – sind solche Fälle also wenig relevant.69 Eher der Vollständigkeit halber zu erwähnen sind weitere Abstufungen des Tatbestands, die im Zusammenhang mit Schulstrafen relevant werden konnten: So etwa die gefährliche Körperverletzung, z. B. mittels einer Waffe bzw. eines „gefährlichen Werkzeuges“70 , die schwere Körperverletzung, die beispielsweise zum Verlust von Gliedmaßen führt, oder gar die Körperverletzung mit Todesfolge. Auch wenn diese Unterscheidungen in der Praxis natürlich höchst bedeutsam waren, stellen sie doch nur quantitative Abstufungen dar, die vor allem für das jeweilige Strafmaß im Einzelfall relevant waren. In der grundsätzlichen juristischen Debatte über das Thema hatten sie keine Bedeutung – hier war nur die qualitative Frage entscheidend, ob und unter welchen Umständen körperliche Schulstrafen überhaupt eine strafbare Körperverletzung (jeglicher Art) sein konnten. Hierfür war der oben dargestellte Tatbestand nach § 223 maßgeblich. Darüber, dass dieser von jeder körperlichen Züchtigung erfüllt wurde, bestand während des gesamten Betrachtungszeitraums weitgehende Einigkeit, die gelegentlich geäußerten Gegenmeinungen einzelner Autoren konnten sich in der Rechtsprechung nicht durchsetzen.71
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Stettner: Problematik, S. 4 f. Bereits 1910 schrieb Kaufmann über den entsprechenden Gesetzesentwurf, er könne für die meisten rechtswidrigen Züchtigungen keine Bedeutung haben (Züchtigungsrecht, S. 180). Lehrerpresse und -verbände dagegen äußerten im Entwurfsstadium des Gesetzes und bei seiner Einführung mehrfach Bedenken, durch den neuen Paragraphen seien auch Lehrer von Gefängnisstrafen wegen Züchtigungsfällen bedroht. Vgl. die Artikel „Gefängnisstrafe für Ausübung des Züchtigungsrechts“, in: Pädagogische Zeitung 1912, S. 721–722; „Schutz für Kinder gegen grausame Behandlung“, in: Pädagogische Zeitung 1910, S. 366. Vgl. Stettner: Problematik, S. 5; Kohlhaas: Mißhandlung, S. 347. Da die Definition eines solchen „gefährlichen Werkzeugs“ stark vom Einzelfall abhängt, konnte dieser Paragraph durchaus bei Fällen körperlicher Züchtigung angewandt werden. Stettner (S. 7) nennt als Beispiel den sonst als erlaubtes Züchtigungsmittel geltenden Rohrstock, wenn er zum Stoß ins Auge benutzt wird. So etwa Havenstein: Züchtigungsrecht; Dohna: Rechtswidrigkeit, S. 83–94; nach dem Zweiten Weltkrieg u. a.: Würtenberger: Bedeutung, S. 291 f.; Redelberger: Züchtigungsrecht (1952), S. 1158. Auch Schönke ging in seinem Kommentar zum StGB ab der Auflage von 1952 „entgegen der herrschenden Meinung“ davon aus, dass „es bei einer Züchtigung bereits in vielen Fällen an der Tatbestandsmäßigkeit fehlen wird“ (S. 603).
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1.5 Betrachtungszeitraum und (rechtliche) Ausgangslage
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Solange aber die körperliche Bestrafung in der Schule sozial weitgehend akzeptiert war und von Schulordnungen und Verwaltungsverordnungen zumindest implizit erlaubt wurde, musste es absurd erscheinen, einen Lehrer wegen Körperverletzung zu verurteilen, der innerhalb dieses akzeptierten und erlaubten Rahmens gestraft hatte. Dem Lehrer musste also ein Rechtfertigungsgrund zugesprochen werden, der trotz des erfüllten Tatbestands die Strafbarkeit ausschloss. Dass Lehrer ein solches „Züchtigungsrecht“ besaßen, war vom Beginn des Untersuchungszeitraums bis in die 1970er Jahre hinein die dominante Ansicht im strafrechtlichen Diskurs. Die Begründung und Herleitung dieses Rechts stellte allerdings ein juristisches Problem dar, denn es gab kein Gesetz, das Lehrern ein Züchtigungsrecht ausdrücklich zugestand. Sowohl im preußischen Allgemeinen Landrecht als auch in den Verordnungen auf Landesebene war nur festgelegt, was der Lehrer im Rahmen der „Schulzucht“ nicht durfte – dass körperliche Strafen bis zur genannten Grenze erlaubt waren, war zwar impliziert, wurde aber eben nicht ausdrücklich formuliert. Bestimmungen auf Reichsebene, beispielsweise in Form einer Ausnahmeklausel im Strafgesetzbuch, wurden zwar insbesondere von Lehrervertretern mehrfach gefordert, aber nie eingeführt.72 Das Problem, das Züchtigungsrecht zu begründen, wurde im Laufe der Zeit unterschiedlich gelöst. Das Reichsgericht ging davon aus, dass der Erziehungsauftrag des Lehrers auch das Recht einschließe, (körperliche) Strafen zu verhängen. Da der Lehrer ebenjenen Erziehungsauftrag vom Staat, vertreten durch die Schulbehörden, erhält, konnte das Züchtigungsrecht gleichzeitig als Amtsbefugnis gesehen werden, die nur in den Grenzen der entsprechenden behördlichen Erlasse ausgeübt werden durfte.73 Durch diese Sichtweise des Reichsgerichts erlangten die ursprünglich nur dienstrechtlich relevanten Vorschriften der verschiedenen Schulbehörden plötzlich auch strafrechtliche Bedeutung. In Preußen führte das dazu, dass Kultusminister von Goßler 1888 die Bezirksregierungen anwies, alle existierenden das Züchtigungsrecht einschränkenden Verordnungen aufzuheben und neue Anweisungen nur in einer Form zu erlassen, die nicht als strafrechtlich relevante Vorschrift verstanden werden konnte. Das Ziel dieses Erlasses war es, die Zahl der Prozesse gegen Lehrer zu reduzieren.74 Die gleiche Funktion hatte auch der „Kompetenzkonflikt“ zwischen Schulbehörden und Strafgerichten: Wenn ein Beamter wegen einer in Ausübung seines Amts 72
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Vgl. etwa Sächsischer Lehrerverein: Protokoll der Delegirten- und 2. Generalversammlung (1877), S. 493; Das Züchtigungsrecht – eine Kalamität (Aus den Erfahrungen der Rechtsschutz-Kommission des Deutschen Lehrervereins), in: Pädagogische Reform 25 (1901), Nr. 31 (Rechtsbeilage). Vgl. Reichsgericht: Urteil. v. 29.3.1887, RGSt Bd. 15, S. 378; siehe auch Hennig: Schulzuchtrecht, S. 32. Vgl. „121. Grenze für das dem Lehrer zustehende Züchtigungsrecht“, in: Zentralblatt 1888, S. 422–424; sowie „67. Handhabung des Züchtigungsrechtes seitens der Lehrer“, Zentralblatt 1889, S. 265–266.
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1. Einleitung
vorgenommenen Handlung angeklagt wurde, seine vorgesetzte Behörde jedoch nicht von einem strafrechtlich relevanten Vergehen ausging, konnte diese den „Konflikt erheben“. Ob diesem Veto stattgegeben und das Gerichtsverfahren eingestellt wurde, entschied bis 1879 der Gerichtshof für Kompetenzkonflikte, danach das Oberverwaltungsgericht.75 Diese strafrechtlichen Aspekte waren, wie die folgenden Kapitel zeigen werden, vor allem bei Lehrern umstritten und boten immer wieder Anlass für kontroverse Debatten in der Öffentlichkeit. Ohne die Kenntnis dieser rechtlichen Rahmenbedingungen lässt sich die Diskussion um körperliche Strafen nicht verstehen. Doch bevor die Debatten um das Züchtigungsrecht in den Blick genommen werden, soll zunächst die pädagogische Position zu körperlichen Strafen zum Beginn des Untersuchungszeitraums untersucht werden.
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Genau genommen richtete sich der Erlass von 1888 somit nicht gegen die Rechtsprechung des Reichsgerichts, sondern gegen die des Oberverwaltungsgerichts, das ebenfalls die Vorschriften der Schulaufsichtsbehörden als Maßstab nahm und dadurch mehr Klagen zuließ als zuvor. Vgl. Beetz: Führer, S. 432 f.
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2. „Prügelpädagogik“ gegen „Humanitätsduselei“ – Debatten bis 1900 2.1 Der pädagogische Diskurs Ende des 19. Jahrhunderts Eine Analyse der Debatte zu körperlichen Strafen in der wissenschaftlichen Pädagogik oder Erziehungswissenschaft bringt zunächst das Problem mit sich, zu definieren, was ‚die wissenschaftliche Pädagogik‘ ist.1 Denn dies ist zumindest für die erste Hälfte des Untersuchungszeitraums keinesfalls so klar, wie es auf den ersten Blick scheinen könnte: Heinz-Elmar Tenorth sieht das gesamte 19. Jahrhundert noch als „prädisziplinäre Phase“ der Erziehungswissenschaft, die stark von „Schulmännern“ und „Lehrerwissen“ geprägt war und etwa in Ausbildungsliteratur für Lehrer systematisiert wurde.2 Zur auch institutionell klar von den Praktikern getrennten, sich als Wissenschaft definierenden und als solche anerkannten, universitär etablierten Disziplin entwickelte sie sich erst allmählich im Laufe des 20. Jahrhunderts.3 Wenn es also für das 19. Jahrhundert kaum möglich ist, anhand äußerlich-institutioneller Merkmale Autoren oder Publikationen „der Pädagogik“ zuzuordnen, bietet sich stattdessen eine pragmatische Lösung an: Als wissenschaftlich-pädagogische Literatur gilt das, was sich selbst als solche definiert. Besonders interessant erscheinen dann diejenigen Werke, die für sich beanspruchen, den jeweils zeitgenössischen Stand der Wissenschaft widerzuspiegeln und alle relevanten Themen abzubilden – konkret also Lehr- und Handbücher, pädagogische Lexika bzw. Enzyklopädien.4 Diese können zudem einen hohen Grad an Repräsentativität beanspruchen, haben sie
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2 3 4
Die vor allem in der neueren Erziehungswissenschaft getroffene Bedeutungsunterscheidung zwischen „Erziehungswissenschaft“ und „(wissenschaftlicher) Pädagogik“ (vgl. Tenorth: Erziehungswissenschaft, S. 360–382) erscheint für diese Arbeit nicht relevant, beide Begriffe werden hier wie im allgemeinen Sprachgebrauch meist üblich synonym verwendet. Vgl. Tenorth: Erziehungswissenschaft, S. 353 f. Vgl. Wininger: Steinbruch, S. 58–68; Tenorth: Erziehungswissenschaft, S. 358–374. Vgl. hierzu auch die ganz ähnlichen Überlegungen Michael Winingers in seiner Dissertation zur Psychoanalyse-Rezeption in der Pädagogik: Davon ausgehend, dass eine wissenschaftliche Disziplin sich eben nicht nur über ihre institutionelle Verankerung definiert, sondern vor allem auch über gemeinsame Kommunikationsplattformen und -netzwerke, wie etwa Kongresse, Periodika und Lehr- bzw. Handbücher, nutzt er ebendiese Publikationen, insbesondere Enzyklopädien, als Spiegelbild der Fachöffentlichkeit (vgl. S. 34–36). Zum Quellenwert von pädagogischen Lexika als „Dokumentationen eines als gültig deklarierten und definierten Wissens“ s. auch Richter: Strafen, S. 16 f.
https://doi.org/10.1515/9783111123783-002
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2. „Prügelpädagogik“ gegen „Humanitätsduselei“ – Debatten bis 1900
doch den Anspruch, einen Fachkonsens abzubilden.5 Hinzu kommt, dass man für bekannte Lexikonwerke aufgrund ihrer Auflagenzahlen und der ihnen zugeschriebenen Autorität eine große Wirkung nicht nur in Fachkreisen, sondern auch auf die Rezeption pädagogischen Denkens in anderen Disziplinen, unter Erziehungspraktikern und in der Öffentlichkeit annehmen kann. Tatsächlich bestätigt die Untersuchung der pädagogischen Zeitschriftenliteratur, dass die hier vorgestellten Lexikonartikel in hohem Maße als repräsentativ angesehen werden können. Die im Folgenden hauptsächlich zitierten Lexikonartikel dienen also als typische (und durch ihre Textsorte besonders bedeutsame) Beispiele zur Illustration von Erkenntnissen, die anhand einer breiteren Quellenbasis bestätigt werden.6 Dreifache Legitimierung durch Tradition: Die Real-Encyclopädie des Erziehungs- und Unterrichtswesens
Besonders bieten sich als Beispiel in diesem Sinn zwei Fachlexika an, die ungefähr zu Beginn des hier untersuchten Zeitraums entstanden sind. Sie beschreiben somit sozusagen den Ausgangspunkt der Entwicklung, die in dieser Arbeit dargestellt werden soll. Das etwas ältere stammt bereits aus den 1860er Jahren. Es handelt sich um die von Adolph Pfister und Hermann Rolfus herausgegebene Real-Encyclopädie des Erziehungs- und Unterrichtswesens nach katholischen Principien. In deren Artikel zur körperlichen Züchtigung zeigt sich besonders deutlich, wie weit die pädagogische Debatte über körperliche Schulstrafen historisch zurückreicht – und wie sehr das Bewusstsein dieser Tradition Teil des Diskurses war: So besteht der Artikel zu einem großen Teil aus geschichtlichen Darstellungen und Verweisen. Dabei ist einerseits eine gewisse Distanzierung zu erkennen, wenn die Autoren etwa auf „Beispiele von unmenschlicher Grausamkeit“ aus der römischen Antike oder auf das „Klopfsystem des siebenzehnten 5 6
Vgl. Wininger: Steinbruch, S. 36. Systematisch untersucht wurden für diesen Zeitraum vor allem die herbartianisch ausgerichteten Deutschen Blätter für erziehenden Unterricht und die Pädagogische Reform. Hinzu kommen zahlreiche theoretische Artikel in Lehrerzeitschriften wie etwa der Allgemeinen Deutschen Lehrerzeitung. Angesichts der Vielfalt und Unübersichtlichkeit der pädagogischen Zeitschriftenlandschaft des 19. Jahrhunderts wäre eine Untersuchung mit Anspruch auf Vollständigkeit kaum möglich bzw. würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Eine umfassende Auflistung pädagogischer Zeitschriften bietet Buchheit, der allerdings nicht scharf zwischen wissenschaftlichen und eher praxisbezogenen Titeln unterscheidet – hier wird das Grundproblem der Abgrenzung von Pädagogik als wissenschaftlicher Disziplin besonders deutlich. Deshalb sind auch Überschneidungen dieses Kapitels mit der Analyse der Debatten der Lehrerschaft unvermeidlich, die hier gemachte Unterscheidung zwischen theoretisch-wissenschaftlichem Diskurs und Praktikern ist zumindest für diese Zeit weniger als eine trennscharfe Linie denn als zwei Enden eines Spektrums zu verstehen.
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2.1 Der pädagogische Diskurs Ende des 19. Jahrhunderts
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und achtzehnten Jahrhunderts“ verweisen.7 Gleichzeitig lässt aber die Darstellung der langen Geschichte körperlicher Erziehungsstrafen und vor allem der Hinweis, diese seien bei allen bekannten Völkern üblich gewesen,8 diese Strafart als eine selbstverständliche, fast schon naturgegebene Konstante der Erziehung erscheinen. Noch deutlicher wird die Rolle, die Tradition als Legitimation körperlicher Strafen spielt, wenn der Lexikonartikel die zahlreichen Bibelstellen zitiert, die die Notwendigkeit der Züchtigung betonen. Diese stammen vor allem aus dem Alten Testament und dort größtenteils aus dem Buch der Sprüche. Die bekanntesten und auch in späteren Debatten am häufigsten zitierten unter ihnen sind Spr 13, 24: „Wer die Rute spart, hasset seinen Sohn; wer ihn aber lieb hat, behält ihn beständig in Zucht“, sowie Spr 23, 13–14: „Entziehe einem Knaben die Züchtigung nicht; denn wenn du ihn mit der Ruthe schlägst, wird er nicht sterben. Schlägst du ihn mit der Ruthe, so wirst du seine Seele von der Hölle erlösen.“9 Pfister/Rolfus führen außerdem noch weitere Bibelzitate an, die alle in ähnlicher Weise zu einer strengen Erziehung mahnen und diese mit der Anwendung körperlicher Strafen gleichsetzen. Dabei sehen sie keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Altem und Neuem Testament, denn auch in letzterem werde „die Züchtigung im allgemeinen als ein Mittel der Besserung“ dargestellt. Angesichts des dezidiert katholischen Standpunkts der Real-Encyclopädie erstaunt es wenig, dass sich für die Verfasser auch die pädagogische Stellungnahme aus der theologischen ableitet: „Auf Grund dieser Stellen und der ganzen Heilsökonomie Gottes haben die positiven Pädagogen die körperliche Züchtigung stets als nothwendig [. . . ] anerkannt.“10 Diese Anerkennung schildern die Verfasser an späterer Stelle ausführlicher: So sei zwar das im 17. und 18. Jahrhundert übliche sehr häufige und brutale Strafen von Rousseau und den Philanthropisten bekämpft und die Züchtigung „auf ein bescheidenes Maß reduziert“ worden, gegen eine völlige Abschaffung aber „sprachen sich die gefeiertsten Pädagogen aus: Emich, Zeller, Harnisch,
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10
Pfister/Rolfus: Real-Encyclopädie, S. 671 und S. 673. Vgl. ebd., S. 671. Die Zitate folgen den Formulierungen von Pfister/Rolfus selbst (S. 671) und unterscheiden sich somit leicht von den heute gebräuchlichen Versionen der Einheitsübersetzung („Wer die Rute spart, hasst seinen Sohn, wer ihn liebt, nimmt ihn früh in Zucht“; „Erspar dem Knaben die Züchtigung nicht; wenn du ihn schlägst mit dem Stock, wird er nicht sterben. Du schlägst ihn mit dem Stock, bewahrst aber sein Leben vor der Unterwelt.“) bzw. der Lutherbibel („Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn; wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn beizeiten“; „Lass nicht ab, den Knaben zu züchtigen; denn wenn du ihn mit der Rute schlägst, so wird er sein Leben behalten; du schlägst ihn mit der Rute, aber du errettest ihn vom Tode. Du schlägst ihn mit dem Stock, bewahrst aber sein Leben vor der Unterwelt“). Pfister/Rolfus: Real-Encyclopädie, S. 672.
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2. „Prügelpädagogik“ gegen „Humanitätsduselei“ – Debatten bis 1900
Hergenröther, Zerrenner, Curtman und Pestalozzi“.11 All diese als Befürworter (maßvoller) Körperstrafen angeführten Pädagogen wirkten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, größtenteils als Leiter von Lehrerseminaren oder Schulen und als Verfasser von Werken zu didaktischen und methodischen Fragen. Allerdings beschränkt sich die Rezeption dieser Autoren im Artikel auf die reine Namensnennung. Eine Ausnahme bildet der zweifellos prominenteste der angeführten Pädagogen, Johann Heinrich Pestalozzi. Er wird ausführlich zitiert, und zwar mit einer Textstelle, die hier genauer vorgestellt werden soll, da sie in den Debatten zu körperlichen Strafen bis ins 20. Jahrhundert hinein immer wieder auftaucht.12 Dort beschreibt Pestalozzi Ohrfeigen als in bestimmten Situationen nicht nur vertretbares, sondern sogar notwendiges Erziehungsmittel und weist die vollständige Ablehnung körperlicher Strafen als Schwäche zurück: Wir haben gewiß Unrecht, gegen den Reiz sinnlicher Begierden von der Kraft leerer Worte Alles zu erwarten und zu glauben, den Willen des Kindes ohne Züchtigung, durch bloße wörtliche Vorstellung nach unserm Willen lenken zu können. Wir wähnen, unsere Humanität habe sich ja zu einer Zartheit erhoben, die uns in keinem Falle mehr erlaube, an das ekle, rohe Mittel des Schlagens nur zu denken. Aber es ist nicht die Zartheit unserer Humanität, es ist ihre Schwäche, die uns also leitet.13
Auch wenn der Lexikonartikel zur Frage der Berechtigung körperlicher Schulstrafen kaum explizit Stellung nimmt und sich auf eine (scheinbar) neutrale Wiedergabe der pädagogischen Stellungnahmen beschränkt, zeigt sich gerade in der Auswahl dieses Zitats dennoch eine klare Tendenz – verschweigen die Verfasser doch, dass diese Aussagen Pestalozzis sich im Zusammenhang der Originalrede auf die familiäre Erziehung beziehen. Betrachtete man Pestalozzis Gesamtwerk, würde dagegen eine klare Trennung zwischen den Lehrern und Eltern jeweils zugestandenen Kompetenzen deutlich: Er betonte mehrfach, dass körperliche Strafen nur dann infrage kämen, wenn sie „von Vatter- und Mutterherzen ausgehen“ und wenn somit ihre negative Wirkung auf das Verhältnis von Kind und Erzieher durch sehr viele positive Erfahrungen ausgeglichen werden könne.14 Ein solches Vertrauensverhältnis könne ein Lehrer im üblichen Schulbetrieb normalerweise nicht aufbauen. Deshalb erlaubte Pestalozzi an den 11 12
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Pfister/Rolfus: Real-Encyclopädie, S. 673. Vgl. z. B. Wilhelm: Erziehungsfaktor, S. 27; Plecher: Züchtigung, S. 12. Auch in den Debatten der Lehrerschaft fand das Zitat große Verbreitung, vgl. etwa: Sächsischer Lehrerverein: Protokoll (1907), S. 651; außerdem Richter: Schulzucht, der wiederum auf Sachse: Wort, verweist. Hier zitiert nach Pfister/Rolfus: Real-Encyclopädie, S. 673. Das Zitat stammt aus der in der Wochenschrift für Menschenbildung abgedruckten Version der 1809 gehaltenen „Lenzburger Rede“. Vgl. Pestalozzi: Werke, Bd. 22, S. 310. Brief Nr. 1356 an Morell, 5.2.1808, in: Pestalozzi: Briefe, Bd. 6, S. 24–26. Vgl. außerdem den Brief an einen Freund über seinen Aufenthalt in Stanz, in: Pestalozzi: Werke, Bd. 13, S. 1–32, hier: S. 18–19 f.
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von ihn geleiteten Schulen körperliche Bestrafungen grundsätzlich nicht, selbst wenn er sie im konkreten Einzelfall für pädagogisch sinnvoll oder zumindest vertretbar hielt.15 Durch das Zitieren dieser Textstelle in einem Artikel, der „die Frage, ob körperliche Züchtigung in der Schule angewendet werden dürfe“, zum Ausgangspunkt hat, wird Pestalozzis Rechtfertigung körperlicher Strafen entgegen ihrer eigentlichen Intention für den schulischen Kontext in Anspruch genommen. Andere Autoren reklamierten dagegen später ebenso selbstverständlich Pestalozzi für die vollständige Ablehnung körperlicher Strafen und ignorierten seine diesbezüglichen Ambivalenzen.16 Dass im Laufe der Zeit sowohl ausgesprochene Züchtigungsbefürworter als auch -gegner versuchten, die fast schon ans Mythische grenzende fachliche Autorität Pestalozzis für ihre jeweilige Position zu beanspruchen und so ihre Argumentation zu stützen, ist wenig erstaunlich.17 Gerade weil Pestalozzis Aussagen zum Thema wegen ihrer Ambivalenz so unterschiedliche Anknüpfungspunkte boten, eignet sich die Rezeption dieses pädagogischen Klassikers allerdings als eine Art Indikator: Sie zeigt auch die Tendenz derjenigen Texte, die sich nicht als ausdrückliche Stellungnahme zugunsten einer bestimmten Seite in der tagespolitischen Debatte um Verbote oder Einschränkungen verstanden, sondern beanspruchten, den (scheinbar) objektiven Fachkonsens wiederzugeben. In diesem Sinne ist festhaltenswert, dass nicht nur in der Real-Encyclopädie, sondern auch in den meisten anderen untersuchten pädagogischen Texten, seien sie eher wissenschaftlich oder eher an Praktiker gerichtet, bis Anfang des 20. Jahrhunderts die „züchtigungsfreundliche“ Deutung Pestalozzis klar dominierte und aus seinen Schriften nahezu ausschließlich die hier vorgestellte Textstelle zitiert wurde.18 Am Beispiel Pestalozzis wird besonders deutlich, dass die von der RealEncyclopädie dargestellte Traditionslinie pädagogischen Denkens eine durchaus einseitig konstruierte ist: Zwar kommen auch modernere Untersuchungen zu 15 16 17
18
Vgl. Scheibe: Strafe, S. 130–132. Beispielsweise von Bracken: Prügelstrafe, S. 92–94; Freud: Kinder. Diese Rolle „als Symbol, das je nach Gebrauch mit unterschiedlichen Inhalten aufgefüllt wurde“ (Osterwalder: Pestalozzi, S. 116) beschreibt die neuere Forschung als typisch für die Rezeption Pestalozzis: Er wurde „häufig für die eigenen Zwecke und Vorstellungen seiner Rezipienten instrumentalisiert und seine Person vor allem zu den Jubiläumsfeiern 1846, 1896 und 1927 geradezu ins Mystische überhöht“ (Kuhlemann/Brühlmeier: Pestalozzi, S. 5). Vgl. zum Beispiel Sachse: Wort; Scholz: Züchtigungsrecht, S. 186; Bach: Züchtigung, S. 6; Plecher: Züchtigung, S. 12; Richter: Schulzucht, S. 522. Zwar verweisen auch die ausgesprochenen Züchtigungsgegner Freimund (S. 34) und Sack (S. 35, S. 42) auf Pestalozzi, beziehen sich dabei aber nicht auf eine konkrete Aussage zum Thema, sondern lediglich auf die allgemeinen pädagogischen und didaktischen Ideale ihres Vorbilds. Erst im 20. Jahrhundert finden sich Beispiele für eine differenzierte Berufung auf Pestalozzi (etwa Kutzner: Frage).
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dem Ergebnis, dass in der pädagogischen Debatte des (frühen) 19. Jahrhunderts die grundsätzliche Bejahung gemäßigter körperlicher Strafen dominant war. Aber sie verweisen auch auf „einzelne, die als ausgesprochene Gegner dieser Strafe auftreten“, etwa Heinrich Stephani.19 Diese Gegnerschaft stieß immerhin auf so viel Resonanz, dass etwa in Bayern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Lehrer nicht körperlich strafen durften.20 Indem in der Real-Encyclopädie solche entgegengesetzten Stimmen und Entwicklungen ignoriert werden, entsteht das Bild eines scheinbar unumstrittenen pädagogischen Konsens, der zwar die Häufung körperlicher Strafen früherer Jahrhunderte verurteilt, deren grundsätzliche Notwendigkeit aber ebenso entschieden bejaht. Insgesamt zeichnet die Real-Encyclopädie also drei Traditionslinien – historisch, religiös und pädagogisch –, von denen jede auf eine Legitimierung körperlicher Schulstrafen abzielt. Die Berufung auf die dreifache Autorität von Bibel, „großen“ Pädagogen des 18./19. Jahrhunderts und historischer Kontinuität findet sich in vielen (schul-)pädagogischen Texten der Zeit. Noch deutlicher, als dies die offensichtliche Parteinahme vermeidende Real-Encyclopädie tut, leiten die Autoren dabei aus diesen Traditionslinien die quasi naturgesetzlich feststehende Unmöglichkeit eines völligen Verzichts auf körperliche Strafen ab.21 Züchtigung im Interesse des Kindes: Die Enzyklopädie des gesamten Erziehungs- und Unterrichtswesens
Doch wie wurde die vermeintliche Unentbehrlichkeit körperlicher Strafen abgesehen von dieser Rechtfertigung durch die Tradition begründet? Eine typische Antwort findet sich in einem weiteren, noch ambitionierteren pädagogischen Lexikon aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nämlich in der von Karl Adolf Schmid herausgegebenen Enzyklopädie des gesamten Erziehungs- und Unterrichtswesens. Dieses „große Handbuch des 19. Jahrhunderts“22 erschien ab 1859, die hier relevanten Artikel „Schulstrafen“ und „Zucht“ wurden jedoch erst im 8. Band 1870 bzw. im 10. Band 1875 veröffentlicht. Die Enzyklopädie beanspruchte, von einem dezidiert evangelischen Standpunkt aus „über alle für die Erziehung und den Unterricht wichtigen Gegenstände zuverläßige, dem jetzigen Standpunct der Wissenschaft entsprechende Auskunft“ zu geben.23 Ihr 19 20
21 22 23
Scheibe: Strafe, S. 206. Vgl. auch Heinze/Heinze: Corporal Punishment, S. 59–62. Schulaufsichtsorgane konnten allerdings weiterhin Körperstrafen gegen Schüler verhängen, es handelte sich also nicht um ein völliges Verbot, aber doch um eine sehr massive Einschränkung (vgl. Liedtke: Züchtigung, S. 200). Auch in Baden waren körperliche Schulstrafen seit den 1770er Jahren zumindest sehr stark eingeschränkt (vgl. Rohrbach: Züchtigung, S. 15). Beispielsweise Stengel: Würdigung; Wander: „Prügelpädagogen“; Bach: Züchtigung, S. 3–4. Scheibe: Strafe, S. 171. Schmid: Enzyklopädie, Bd. 1, S. V.
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Einfluss auf die Debatten zu körperlichen Schulstrafen wird beispielhaft daran deutlich, dass der Seminarlehrer Johannes Josef Sachse, dessen Monographie zur Geschichte und Theorie der Erziehungsstrafe Wolfgang Scheibe als repräsentativ für „die dogmatische Schulpädagogik des 19. Jahrhunderts“ einschätzt,24 viele Argumente und zum Teil wörtliche Formulierungen aus dem vom Pfarrer V. Strebel verfassten und 1871 veröffentlichten Artikel „Schulstrafen“ der Enzyklopädie übernahm. Schon dass „(körperliche) Züchtigung“ oder „Züchtigungsrecht“ nicht als eigene Schlagworte auftauchen, aber mehr als die Hälfte des Artikels zu „Schulstrafen“ dieser Frage gewidmet ist, kann man als erstes Indiz für die Selbstverständlichkeit deuten, mit der die Herausgeber der Enzyklopädie diese Strafart als eine unter vielen legitimen Schulstrafen akzeptierten. Tatsächlich sprach Strebel von körperlicher Züchtigung als dem „Höhepunct der Strafen“ und „der energischsten Strafthat“, die zwar sparsam anzuwenden, aber eben nicht verzichtbar sei.25 Strebel konstatierte nicht nur die Notwendigkeit körperlicher Strafen, sondern begründete zudem ausführlich auf einer grundsätzlich-theoretischen Ebene ihre Berechtigung als sinnvolles Erziehungsmittel. Dies tat er in erster Linie durch eine religiöse Legitimierung: Da auch Gott menschliche Sündhaftigkeit stets mit körperlichem Leiden bestraft habe (wofür Strebel etwa die Bestrafung des abtrünnigen Volks Israel, aber auch die Schmerzen gebärender Frauen als Beispiel anführte), habe auch die körperliche Erziehungsstrafe ihre „tief im Wesen des sündigen Menschen liegende Berechtigung“.26 Dass dieses negative Menschenund Kindheitsbild vom christlichen Konzept der Erbsünde beeinflusst ist, ist unschwer zu erkennen – und wird explizit deutlich, wenn Strebel den Gegnern körperlicher Strafen vorwirft, sie würden die kindliche Sündhaftigkeit auf „gut pelegianisch“, das heißt: die Erbsünde verneinend, verkennen.27 Ausgehend von dieser Grundannahme einer im Kind von vornherein vorhandenen Sündhaftigkeit, die es zu unterdrücken gelte, formulierte Strebel sein Verständnis von Schulstrafen: 24 25 26
27
Scheibe: Strafe, S. 222. Strebel: Schulstrafen, S. 291. Strebel: Schulstrafen, S. 292. Siehe mit nahezu identischer Formulierung auch Sachse: Geschichte, S. 160. Vgl. zur länger zurückreichenden Tradition dieser Herleitung aus einem bestimmten christlich geprägten Menschenbild und dem darauf basierenden Erziehungskonzept, wie sie auch in den folgenden Zitaten deutlich wird; Liedtke: Züchtigung, S. 201–203. Strebel: Schulstrafen, S. 294. Im Artikel „Zucht“ des gleichen Lexikons war nicht nur die Erbsünde die theologisch-philosophische Legitimation für Körperstrafen, sondern für den Verfasser war die Notwendigkeit dieser Strafform sogar so evident, dass sie umgekehrt als praktischer Beleg für die Richtigkeit des theoretischen Konzepts dienen konnte: „Der Wille des Kindes muß gebrochen werden [. . . ]. Daß eine solche Nothwendigkeit vorliegt, ist ein Beweis von der angeborenen Verderbnis des menschlichen Wesens.“ (Lechler: Zucht, S. 681 f.).
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2. „Prügelpädagogik“ gegen „Humanitätsduselei“ – Debatten bis 1900 Die strafende Zucht will dem Schüler zunächst sein Unrecht zum Bewußtsein bringen, will sein Gewissen wecken und stärken, will ihm helfen den Eigensinn brechen, will ihm heraushelfen aus allerlei sittlicher Gebundenheit, will ihm bezeugen, daß er sich der über ihm stehenden Ordnung unterwerfen müße und daß nur recht frei sei, wer aus sittlichen Gründen gehorcht.28
Das Ziel war also eben nicht eine gewaltsame Unterdrückung, sondern ein freiwilliger, aus Akzeptanz der gegebenen Ordnung resultierender Gehorsam des Kindes. Die Disziplinierung durch Strafen sollte durch Selbstdisziplin des Schülers ersetzt werden, sie erschien so lange als nötige Vorstufe, bis das „Gewissen“ des Kindes stark genug ist – anders formuliert: bis es die schulischen und gesellschaftlichen Normen ausreichend internalisiert hat –, um diese auch ohne äußeren Zwang einzuhalten.29 Allerdings war diese Vorstufe für Strebel und viele seiner Zeitgenossen eine unbedingt notwendige, muss doch zunächst der „Eigensinn“ des Kindes gebrochen werden (bemerkenswerterweise ist selbst dieses Brechen in Strebels Formulierung die Aufgabe des Kindes selbst, bei der ihm Strafen lediglich „helfen“ sollen). Dieser Eigensinn wurde dabei grundsätzlich negativ und als den moralischen Normen der Gesellschaft widersprechend gedacht. Er sei es, der dem Erlernen der zentralen Erziehungsziele Gehorsam und freiwilliger Unterordnung im Wege stehe. Dabei unterschied Strebel nicht klar zwischen dem Gehorsam gegenüber der „sittlichen Ordnung“ und dem gegenüber höherstehenden Personen – und die Annahme liegt nahe, dass für ihn ein solcher Unterschied auch nicht bestand, sondern das Befolgen ethischer Normen und das Einordnen in hierarchische Strukturen zwei Seiten derselben Medaille waren. Wenn – so die Überzeugung Strebels und vieler Zeitgenossen30 – negative Eigenschaften unvermeidlich in der Natur des Kindes angelegt sind und sich (nur) durch ein gewisses Maß an Gewalt in ihrer Entfaltung hemmen lassen, dann liegt diese Gewaltanwendung letztlich im Interesse des Kindes selbst, ermöglicht sie doch das Heranbilden eines den Anforderungen der Gesellschaft entsprechenden Charakters. Nach dieser Logik war es nur folgerichtig, wenn Strebel die vom Lehrer zu übernehmende Vaterrolle folgendermaßen beschrieb: „Er straft, weil er liebt, und würde lieber nicht strafen, wenn ihn die Liebe nicht zwänge“,31 und erklärte: „Durch den in erzieherischer Absicht zugefügten Schmerz redet die Seele mit der Seele.“32 Diese idealisierende Auffassung von Strafen als „Ausdruck 28 29 30
31 32
Strebel: Schulstrafen, S. 283, Hervorhebungen S. H. Vgl. auch Kuhlmanns Beschreibung der „Fähigkeit zur Selbstbeherrschung“ als typisch bürgerliches Erziehungsziel (Erziehung, S. 82). Eine ähnliche Argumentation findet sich beispielsweise bei Wanner: Schulstrafen, S. 12; Bach: Züchtigung, S. 6; Rasche, Emil: Die körperliche Züchtigung als Strafmittel in der Volksschule, in: Der praktische Schulmann 50 (1901), S. 642–653. Strebel: Schulstrafen, S. 293. Ebd., S. 292. Die identische Formulierung übernimmt auch Sachse: Geschichte, S. 152.
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2.1 Der pädagogische Diskurs Ende des 19. Jahrhunderts
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jenes herzlichen Wohlmeinens, das wir Liebe nennen“33 identifizieren Carsten und Kristin Heinze bereits für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts als typisches Merkmal des pädagogischen Diskurses über körperliche Strafen.34 Dass diese Denkweise auch noch einige Jahrzehnte später wirkmächtig war, zeigen nicht nur Strebels Worte. Sie ist auch der Grund, warum es für Lehrer kein Widerspruch war, ausgerechnet im Zusammenhang mit Körperstrafen „Wahre und innige Liebe des Lehrers zu allen Kindern“35 zu fordern oder die Handlungsanweisung zu formulieren: „Der Lehrer nehme sich des Gestraften in Liebe an und zeige ihm durch sein Verhalten, daß er nur sein Wohl im Auge habe.“36 Abgrenzung von Strafen und Misshandlungen
Für Strebel waren körperliche Strafen also nicht einfach eine pragmatische Lösung zur Ermöglichung eines geordneten Unterrichts, sondern sie hatten auch eine echt pädagogische, der moralischen Erziehung und Charakterbildung dienende Funktion. Freilich ließen sie sich in diesem Sinne nur durch diejenigen Vergehen rechtfertigen, die als Zeichen einer „tieferen Verstrickung in die Sünde“ gedeutet wurden, das heißt hier konkret: „freche Lüge, auffallende Roheit oder Gewaltthätigkeit, Widerspenstigkeit, starren Eigensinn, maßlosen Leichtsinn, thierische Faulheit, offenbare Bosheit, grobe Schamlosigkeit, muthwilliges Verderben fremden Eigentums“.37 Diese Auflistung von Körperstrafen rechtfertigenden Vergehen wird uns – in leichter Variation – im Laufe dieser Arbeit immer wieder begegnen. Abgesehen von der eine gewisse Sonderstellung einnehmenden Lüge38 zeichnen sich zwei Gruppen ab: Einerseits sind es Gewalthandlungen bzw. „Roheit“ gegen Mitschüler, Tiere und Dinge, die wiederum Gegengewalt rechtfertigen sollten, andererseits eben Verstöße gegen den vom Lehrer und der Schule als Institution geforderten Gehorsam (wozu sich in einem weiteren
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Strebel: Schulstrafen, S. 284. Heinze/Heinze: Corporal Punishment, S. 64. Wittke: Züchtigungsrecht und Züchtigungspflicht. Thesen, in: Die deutschen Lehrerkonferenzen des Jahres 1892/93, S. 109–110. Westpreußische Provinzial-Lehrerversammlung: Züchtigungen. Strebel: Schulstrafen, S. 298. Katharina Rutschky (Pädagogik, S. 148), die ebenfalls Lüge und Ungehorsam als die beiden Verhaltensweisen identifiziert, die für die Pädagogik des 18. und 19. Jahrhunderts „kapitale Sünden“ darstellten, verweist auf die Deutung des Psychoanalytikers Viktor Tausk, laut dem Kinder durch Lügen erstmals ein Bewusstsein für ihren eigenen Willen und ihre Selbstständigkeit entwickeln. Folgt man dieser Interpretation, wäre auch die pädagogische Verdammung des Lügens nur eine weitere Spielart des Kampfs gegen Ungehorsam und „Eigensinn“.
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Sinn auch „Faulheit“, also das Nichterfüllen der verlangten Mitarbeit, rechnen lässt).39 Im Anlass des Schlagens lag für Strebel auch die wichtigste Trennlinie zwischen gerechtfertigter Züchtigung und abzulehnender Misshandlung: Unbedingt zu vermeiden seien körperliche Strafen „der bloßen Schwachheit, dem bloßen Fehler der Kindesart, der Unbeholfenheit, Ungeschicklichkeit gegenüber, also z. B. nie wegen bloßer Zerstreutheit, Flatterhaftigkeit, Unachtsamkeit, nie wegen bloßen Schwatzens, Spielens und dergleichen Kindereien, nie wegen einfach mangelhafter Leistungen“.40 Insbesondere letztere Strafen seien „im tiefsten Grunde unsittlich“. Der Nachsatz „zudem entkräftigen sie die Strafen für wirklich züchtigungswürdige Vergehen“ macht noch einmal deutlich, dass diese Einschränkung keinesfalls mit einer generellen Infragestellung körperlicher Strafen zu verwechseln ist.41 Auch seien zu häufige Schläge entwürdigend für Schüler wie Lehrer, führten zur Abhärtung der Schüler gegen diese Strafart und schließlich zu Hass und Verachtung gegenüber dem Lehrer. Wie das nächste Kapitel zeigen wird, entsprachen diese Gefahren den auch von Züchtigungsgegnern geäußerten – mit dem entscheidenden Unterschied, dass jene sie körperlichen Strafen an sich zuschrieben, Strebel (und die große Mehrheit der Pädagogen) dagegen nur deren zu häufiger Anwendung. Daraus ergibt sich die immer wieder betonte Forderung für die Unterrichtspraxis, dass Schläge als letztes Mittel nur so selten wie möglich angewandt werden dürften, zum Beispiel, indem Lehrer den Stock unter Verschluss halten (und so spontanes, unüberlegtes Schlagen verhindern) oder die Strafe zunächst nur androhen sollten.42 Es waren also vor allem Schläge wegen geringfügiger Anlässe und dementsprechend häufiges Schlagen gemeint, wenn Strebel berichtete, dass „in früherer Zeit ein abscheulicher Misbrauch“ von körperlichen Schulstrafen stattgefunden habe. Er führte verschiedene anschaulich geschilderte Beispiele für die Brutalität vergangener Strafpraktiken an – so etwa das des schwäbischen Lehrers Häuberle und dessen angeblicher Bilanz seiner 51-jährigen Karriere: „911.527 Stockschläge, 124.010 Ruthenhiebe, 20.989 Pfötchen und Klapse mit dem Lineal, 136.715 Handschmisse, 10.235 Maulschellen, 7905 Ohrfeigen, 1.115.800 Kopfnüsse, 22.763 Notabene mit Bibel, Katechismus, Gesangbuch und Grammatik.“43 Von solchen Praktiken distanziert der Autor sich und seine Zeit: Es sei 39
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So z. B. auch bei Direktorenkonferenz Dresden: Ausführungsmodalität, S. 117–118; Schumann: Schulzucht, S. 96–99; Bach: Züchtigung, S. 11, Keller: Handbuch, S. 143. Vereinzelt finden sich jedoch auch stärkere Einschränkungen, z. B. nur bei Trotz, nicht aber bei Faulheit oder Lüge (so Däbritz: Frage, S. 176). Strebel: Schulstrafen, S. 298 (dort auch die beiden folgenden Zitate). Ebd., S. 299. Vgl. Matthias: Pädagogik, S. 190; Schumann: Schulzucht, S. 97; Gesell: Züchtigung, S. 15; Kehr: Praxis, S. 60. Strebel: Schulstrafen, S. 296. Die Tradition dieser Liste reicht mindestens bis ins Jahr 1780
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2.1 Der pädagogische Diskurs Ende des 19. Jahrhunderts
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„uns jetzt kaum glaublich, wie häufig, wie nachdrücklich und zugleich behaglich“ der Stock früher benutzt worden sei.44 Hier wird eine zentrale Funktion deutlich, die der historische Rückblick in Strebels Text erfüllt (abgesehen von der in einem Lexikonartikel natürlich angestrebten umfassenden Information über das Thema): Durch die Verurteilung früherer Praktiken wurde, ähnlich wie bereits in der Realencyclopädie, eine klare Trennlinie zwischen den als brutal und barbarisch angesprochenen Methoden der Vergangenheit und der im Kontrast umso aufgeklärter, fortschrittlicher erscheinenden eigenen Position und der Gegenwart gezogen. Auch die sprachliche Zuordnung war eindeutig: Während die von den Autoren als notwendig angesehene ‚Züchtigung‘ wie bereits beschrieben in den Kontext von Liebe, Fürsorge für das Kind und „Reden mit der Seele“ gerückt wurde, wurden die historischen Praktiken sehr viel stärker als Gewalt angesprochen: Dies ist beispielsweise der Fall, wenn Strebel die Geschichte der Schule im Mittelalter bis in die „neuere Zeit“ als „eine wahre Leidensgeschichte der Jugend“ beschrieb, davon sprach, dass sogar Mädchen von Rutenschlägen auf den Hintern „nicht verschont“ blieben oder über Prügelpraktiken aus der Perspektive der Schulkinder berichtete.45 Für Strebel verlief die entscheidende Trennlinie also nicht zwischen der Anwendung von Gewalt und dem Verzicht auf diese, sondern zwischen unreflektiertem, häufigem, „rohem“ Schlagen einerseits und aus Erziehungsabsicht entspringenden, vermeintlich dem Kindeswohl dienenden, kontrolliert-gemäßigten Körperstrafen andererseits. Dabei wurde nur ersteren ein eigentlich ‚gewalttätiger‘ Charakter zugeschrieben, zweitere wurden – auch wenn es sich objektiv betrachtet natürlich ebenfalls um körperliche Gewalt handelt – kaum als solche angesprochen. Die Schilderung der brutalen Bedingungen des Mittelalters bzw. der frühen Neuzeit wirkte (unabhängig von ihrer möglichen historischen Korrektheit) als Kontrastfolie, vor der die von Strebel befürwortete kontrollierte Anwendung von Gewalt als Erziehungsmittel in bestimmten Situationen umso unproblematischer erschien. Die in den Lexikonartikeln deutlich gewordene Überhöhung körperlicher Strafen als Zeichen der Liebe zum Kind, die sprachliche Distanzierung von Ge-
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zurück, als sie im „Philanthropischen Journal für die Erzieher und das Publikum“ zitiert wurde (vgl. „Kurze Nachrichten von den Erziehungsschriften“, in: Allgemeine deutsche Bibliothek 50 (1782), S. 565–586, hier S. 571). Seither wurde sie immer wieder „im Tone der Verabscheuung und des Sensationell-Unterhaltenden der Grausamkeit wiederholt“ (Scheibe: Strafe, S. 176) und es scheint kaum einer historischen Betrachtung des Themas möglich, ohne einen Verweis auf sie auszukommen (was hiermit erneut bestätigt wird). Dabei wurde sie noch bis in die 1970er Jahre als wörtlich zu nehmende, authentische Quelle behandelt (vgl. deMause: Evolution, S. 41), auch wenn ihr nicht überprüfbarer Wahrheitsgehalt zumindest fragwürdig scheint. Strebel: Schulstrafen, S. 297. Ebd., S. 296 f. (beide direkten Zitate auf S. 297).
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walt und Rohheit und die Legitimation durch historische und pädagogische Tradition sowie Religion führten zu einer Position, die Johann Josef Sachse folgendermaßen zusammenfasste: „Die körperliche Züchtigung ist im allgemeinen gerechtfertigt, in vielen Fällen empfehlenswert, in manchen Fällen sogar unentbehrlich.“46 Dieses Zitat stammt nicht etwa aus der ersten Version seines Buchs von 1879, sondern aus der 1913 erschienenen dritten Auflage – und verdeutlicht somit, wie lange die beschriebenen Positionen und Argumente im pädagogischen Diskurs nachwirkten. Auch 1897 konnte Paul Natorp den Stand der Debatte noch so zusammenfassen: Allein die weit überwiegende Zahl der heute einflussreichen Theoretiker, und die Praktiker fast alle, halten die körperliche Züchtigung nicht nur für zulässig und in gewissen, wenn auch seltenen Fällen unentbehrlich, sondern scheinen ihr auch eine erziehende Wirkung, wenngleich nur in beschränktem Masse [sic] und selbstredend nur in Verbindung mit den positiven Mitteln der Zucht, zuzutrauen.47
Allerdings klingt in Natorps Zitat bereits an, dass die Befürwortung körperlicher Strafen als Erziehungsmittel zwar auch zum Ende des Jahrhunderts noch von der klaren Mehrheit, aber eben nicht allen theoretischen Pädagogen geteilt wurde. Solche abweichenden Stimmen sollen im folgenden Kapitel im Mittelpunkt stehen.
2.2 „Gegen die Prügelpädagogen“ – radikale Kritik an Körperstrafen vor 1900 Wer waren diese Gegner körperlicher Schulstrafen seit den 1870er-Jahren? Und wichtiger: Was waren die Beweggründe für ihre der Mehrheitsmeinung so radikal entgegengesetzte Bewertung? In den 1870er-Jahren erschien eine ganze Reihe von Streitschriften, deren programmatische Ausrichtung schon im Titel mehr oder weniger deutlich wurde, wandten sie sich doch Gegen die Prügel-Pädagogen, forderten den Lehrer ohne Stock oder stellten zumindest Schläge in der Schule? demonstrativ infrage.48 Im Folgenden werden die vier wichtigsten dieser Schriften vorgestellt. Dabei bleibt allerdings zunächst die diesem Kapitel seinen Namen gebende Monographie Eduard Sacks außen vor, da sie durch ihre stark politische Ausrichtung eine gewisse Sonderposition einnimmt und deshalb im Anschluss einzeln betrachtet 46
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Sachse: Geschichte, S. 174. In der ersten Auflage (1879) lautete die Formulierung: „Die körperliche Züchtigung ist in vielen Fällen eine empfehlenswerte, in vielen Fällen aber eine unentbehrliche Strafe“ (S. 149). Natorp: Frage, S. 277. So die Titel der Monographien von Eduard Sack, Carl Klett und Theodor Mertens.
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wird. Die drei Schriften von Theodor Mertens, Carl Klett und A. Freimund49 weisen dagegen trotz unterschiedlicher Schwerpunkte im Detail viele Gemeinsamkeiten in ihrer Argumentation auf und sollen deshalb gemeinsam untersucht werden. Zwei der Autoren wiesen sich selbst als Schulleiter aus: Mertens als Leiter der Stadttöchterschule II in Hannover, Freimund (der seine Praxiserfahrung durch einen Anhang mit abgedruckten Dankesbriefen ehemaliger Schüler zusätzlich betonte) als Leiter einer Realschule. Die älteste der hier vorgestellten Schriften, Der Lehrer ohne Stock von 1869, stammte von dem Pfarrer Carl Renatus Gottlob Klett aus Thüngenthal (einem heutigen Stadtteil von Schwäbisch-Hall). Auch wenn er selbst kein Lehrer war, dürfte er angesichts der üblichen Rolle von Pfarrern bei der lokalen Schulaufsicht enge Kontakte zum Alltag der Volksschule gehabt haben. So wurde Klett nach eigener Aussage zum Verfassen seiner Streitschrift durch eine Konferenz seines Schulbezirks inspiriert, auf der trotz der beschlossenen Einschränkung des Züchtigungsrechts von Volksschullehrern deutlich geworden sei, dass ein Teil der Lehrerschaft „dem körperlichen Züchtigungsrecht immer noch einen großen Wert beilegt“.50 Kletts Hintergrund als Pfarrer ist auch in anderer Hinsicht bedeutsam, wurde doch im vorigen Kapitel gezeigt, dass religiöse Aspekte für die Legitimation körperlicher Strafen eine wichtige Rolle spielten, sei es in Form eindeutiger Handlungsanweisungen aus der Bibel oder als theoretischer Hintergrund wie bei der Erbsünde. Auch Klett nutzte religiös-biblische Argumente – allerdings stützte er damit seine Position gegen Körperstrafen. So setzte er den von „Gesetzeseifer“ geprägten Aussagen des Alten Testaments die Sprache des Neuen Testaments und das Vorbild Jesus entgegen, der „die Kindlein, die man zu ihm brachte, herzete und die Hände auf sie legte und sie segnete“.51 Die Ausführungen Kletts sind also ein Beispiel dafür, dass eine ausdrücklich christliche Perspektive nicht zwangsläufig zu einer Bejahung körperlicher Strafen führen musste.52 49
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Bei diesem Namen, unter dem die Schrift „Über körperliche Züchtigung beim Unterricht in Volksschulen“ erschien, handelt es sich wohl um ein Pseudonym. Teilweise wird es in Bibliothekskatalogen mit Martin Runkel aufgelöst, dies dürfte jedoch eine Verwechslung sein, da es sich bei Runkel um einen 1872 verstorbenen Altphilologen handelt (vgl. Goedeke: Grundriss, Bd. 17, S. 1250). Da das Pseudonym nicht eindeutig aufgelöst werden konnte, wird hier „A. Freimund“ (im Interesse des Leseflusses ohne Anführungszeichen) als Autorenname verwendet. Klett: Lehrer, S. 3. Ebd., S. 34. Auch die biblische Aussage, dass auch Gott die Menschheit zu ihrem eigenen Nutzen „züchtige“, lässt Klett nicht als eine auf die Kindererziehung übertragbare Handlungsempfehlung gelten. Eine ganz ähnliche Argumentation findet sich auch bei Mertens, der ebenfalls auf das Neue Testament verweist (S. 30) und zudem eine alternative Deutung der Aussagen des Alten Testaments vorlegt: Diese seien als Plädoyer für Schläge als im Vergleich zur Todesstrafe mildere Bestrafung zu verstehen (S. 8).
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2. „Prügelpädagogik“ gegen „Humanitätsduselei“ – Debatten bis 1900
Wenn im Folgenden die Argumente der Züchtigungskritiker genauer vorgestellt werden, gilt es, einen wichtigen Punkt im Hinterkopf zu behalten: Sie richten sich fast ausschließlich gegen körperliche Strafen, nicht gegen Schulstrafen an sich. Zwar wurde durchaus Skepsis gegenüber dem pädagogischen Nutzen von Strafen geäußert – so gab etwa Freimund zu bedenken, dass Strafe nur unerwünschtes Verhalten unterdrücken, nicht aber zu echter Motivation zum Guten führen könne.53 Dass Schulstrafen notwendig seien, und sei es nur als ein solches Mittel zum oberflächlichen Unterdrücken von Fehlverhalten, wurde dabei aber nicht bestritten. Dies ist typisch für die Debatten vor 1900: Die Notwendigkeit von Schulstrafen im Allgemeinen wurde entweder nicht infrage gestellt oder sogar ausdrücklich bejaht.54 Welches waren also die Gründe, die körperliche Strafen für die hier vorgestellten Autoren im Gegensatz zu anderen Strafformen als inakzeptabel erscheinen ließen? Gewalt, nicht Liebe
Im letzten Kapitel wurde gezeigt, wie die Befürworter körperlicher Strafen diese als im Interesse des Kindes liegendes Erziehungsmittel deuteten und sie dadurch, auch sprachlich, aus dem Kontext der Gewalt hinaus und in den von Liebe und Fürsorge hineinrückten.55 Genau die gegenteilige Rahmung lässt sich bei den Gegnern beobachten: Sie sprachen körperliche Strafen bevorzugt als das „rohe Überbleibsel einer früheren Zeit“56 an, durch das in der Schule „die rohe Gewalt, das sogenannte Recht des Stärkeren“ herrsche.57 Züchtigung in der Schule zu erlauben hieß für sie eben nicht, die Anwendung eines notwendigen Erziehungsmittels zu ermöglichen, sondern „Leben und Gesundheit seiner Kinder der launenhaften Willkür und groben Gewaltthat um nichts und wieder nichts preis zu geben“.58 Der Vorstellung einer durch die Liebe zum Kind motivierten, in dessen eigenem Interesse liegenden Züchtigung widersprachen sie vehement. So vermisste etwa Klett nicht nur den „Beweis für den ursächlichen Zusammenhang zwischen Liebe und Schlägen“, sondern sah in beiden sogar unvereinbare Gegensätze: Zwar könne auch ein körperlich strafender Erzieher Liebe zu seinen 53 54
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Vgl. ebd., S. 15 f. So beschrieb es etwa Freimund (Züchtigung, S. 10) als notwendig, gegenüber den im Widerspruch zu den schulischen Normen stehenden Neigungen der Kinder „gesetzliches Handeln, Pflichttreue zu erzwingen und auch die Furcht vor der Strafe als einen Hebel zur Erziehung zu benutzen“. Siehe Seite 49 dieser Arbeit. Ausführlich wird auf die Rolle des Gewaltbegriffs in den Debatten um körperliche Strafen in Kapitel 7.6 eingegangen. Mertens: Schläge, S. 31. Freimund: Züchtigung, S. 20. Mertens: Schläge, S. 39.
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Zöglingen empfinden, aber Schläge erfolgten nur „in Augenblicken schwacher oder gar erloschener Liebe“, ihr häufigeres Vorkommen sei „überhaupt keine Liebe, sondern despotischer Schulterrorismus“. Zumindest in vorsichtiger Formulierung legte er nahe, dass die Rechtfertigung mit dem Wohl des Kindes ein bloßer Vorwand sein könne für Strafen, die in Wahrheit aus „Vorurtheil und selbsüchtiger Absicht“ entspringen.59 Noch deutlicher wurde Freimund in seiner Ablehnung der Idee einer ‚väterlichen‘, dem Wohl des Kindes dienenden Strafpraxis: „Diese soviel gerühmte väterliche Weise existirt überhaupt nur als Begriff in den Köpfen von Lehrern und Inspektoren: für die Jungen ist und bleibt jede Züchtigung nichts anderes als eine Prügelei, bei der das Recht des Stärkern die Hauptrolle spielt.“60 Bemerkenswert, weil außergewöhnlich für pädagogische Äußerungen dieser Zeit ist, wie hier die Perspektive des Schülers eingenommen wird. So, wie Freimund den sprachlichen Kontrast von „väterlicher Weise“ und „Prügeln“ dekonstruierte, stellten Körperstrafengegner immer wieder die von den Befürwortern gezogenen Trennlinien zwischen legitimen und unangemessenen, zwischen kontrollierten und maßlosen, zwischen harmlosen und das Züchtigungsrecht überschreitenden Schlägen infrage: Für sie waren in Misshandlungen ausartende Überschreitungen keine bedauerlichen Ausnahmefälle, sondern unvermeidliche Begleiterscheinungen des Züchtigungsrechts.61 Auch in medizinischer Hinsicht betonte Klett die gesundheitsschädliche „Erschütterung des Nervensystems“, die mit Schlägen grundsätzlich verbunden sei und jede körperliche Strafe schädlich mache: „Jeder Schmerz ist Krankheit, und jede Krankheit läßt im Organismus eine Spur zurück.“62 Auch den Unterschied zwischen berechtigten und unberechtigten Schlägen ließ Klett im Hinblick auf die Wirkung auf die Schüler nicht gelten: Selbst wenn ein Lehrer durch Schläge „Recht und Vernunft“ durchsetzen wolle, vermittle er dadurch vor allem die Botschaft, dass ihm dies durch andere Mittel nicht möglich sei – und somit werde dem Kind nur „der Grundsatz: Gewalt ist Recht eingeprügelt“.63 Diese problematische Vorbildwirkung eines Gewalt anwendenden Lehrers war für Klett ein zentrales Argument: Wie viele Züchtigungsbefürworter beklagte auch er die zunehmende Verrohung der Jugend, machte aber gerade die Körperstrafen in der Schule für diese verantwortlich. Auch wenn er zugestand, dass Kinder auch außerhalb der Schule vielfältige Gewalterfahrungen machten, treffe die Schule „doch die stärkere Schuld, weil durch ihre Gewaltthätigkeit
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Klett: Lehrer, S. 35. Freimund: Züchtigung, S. 31. Vgl. Mertens: Schläge, S. 35, Klett: Lehrer, S. 12. Klett: Lehrer, S. 16. Ebd., S. 12.
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die Gewaltthätigkeit außerhalb der Schule legitimiert wird“.64 Der Gedanke, dass „Strenge“ in Form körperlicher Strafen keine Möglichkeit zur Bekämpfung jugendlicher Rohheit, sondern vielmehr deren Ursache sei, findet sich, wenn auch in weniger deutlich ausformulierter Form, auch bei anderen Autoren.65 Er leitet über zu weiteren zentralen Argumenten, nämlich den (langfristigen) Folgen für die bestraften Schüler. Gefahren durch Körperstrafen
Auch im Hinblick auf ihre Wirkungen erschienen Körperstrafen bei den hier vorgestellten Autoren nicht als pädagogisches Mittel zum erwünschten Erziehungserfolg, sondern als zu seelischen Schäden führende Gewaltanwendung. Sie verneinten zunächst, dass sich durch Schläge die damit beabsichtigten Resultate erzielen ließen: „der rohe, verwahrloste Junge schüttelt die Schläge lachend von sich ab“, bei anderen Schülern werde Trotz und schließlich sogar Hass auf Lehrer und Schule erzeugt.66 Auch wenn sich die Schüler aus Angst vor Schlägen äußerlich korrekt verhielten, sei dies keineswegs mit der erwünschten Aufmerksamkeit im Unterricht gleichzusetzen, im Gegenteil: „Das Kind, welches durch Furcht zum Stillsitzen gezwungen wird, versinkt entweder in Träumerei, oder es richtet seine Blicke mit solcher Angst auf das Mienenspiel und die Bewegungen des Gefürchteten, daß es keine Zeit übrig behält, an den Stoff zu denken.“67 Hier klingen bereits die beiden Folgen an, die am häufigsten als Gefahren von körperlichen Strafen diskutiert wurden, nämlich – je nach Charakter des einzelnen Kindes – „Verstocktheit“ oder Angst. Alle drei Autoren waren sich einig, dass durch Körperstrafen das Schüler-Lehrer-Verhältnis „vergiftet“,68 die Liebe zum Lehrer „allmählich in Scheu, dann in Abscheu und zuletzt in Haß“ verwandelt werde.69 So entwickelten die Schüler – selbst wenn sie die Schläge nur als Zuschauer erlebten – schließlich eine feindselige Haltung gegenüber Schule und Lernen überhaupt.70 Nicht nur in Bezug auf die schulische Motivation sahen die hier vorgestellten Autoren Körperstrafen nicht als Lösung, sondern gerade als Ursache typischer Probleme. So warnte etwa Mertens, Schläge machten „die Kinder ferner leicht hart und rachsüchtig; das Unrecht, das sie erlitten haben und dessen Narben sie in 64 65 66 67 68 69 70
Ebd., S. 11. So konstatierte beispielsweise Mertens (Schläge, S. 35): „Härte verhärtet.“ Freimund: Züchtigung, S. 29–30. Ebd., S. 20. Mertens: Schläge, S. 41. Freimund: Züchtigung, S. 21. Vgl. Klett: Lehrer, S. 8, zur Wirkung auf zusehende Mitschüler außerdem Freimund: Züchtigung, S. 22 f.
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der Seele brennen fühlen, wollen sie anderen wieder zufügen, in der Demütigung und Beschimpfung der andern sich von der eigenen erholen“.71 Damit lieferte er ein bemerkenswert frühes Beispiel des später breit rezipierten Zusammenhangs zwischen dem Erleiden von Gewalt und eigener (späterer) Gewalttätigkeit. Neben Gewalttätigkeit führten Mertens, Freimund und Klett auch Trotz und Unehrlichkeit als typische Folgen körperlicher Strafen an.72 Hier wird deutlich, wie diametral entgegengesetzt die Ansichten dieser Autoren zu denen des pädagogischen Mainstreams waren, galten doch gerade diese drei „Fehler“ Rohheit, Trotz und Lügen typischerweise als angemessene Gründe für körperliche Strafen. Die andere viel diskutierte Gefahr war die bei den Schülern durch Schläge ausgelöste Angst und deren Folgen. Mertens veranschaulichte besonders drastisch, „in welche unnatürliche Aufregung schon die Furcht vor harter Züchtigung die armen Kinder bringen kann“, indem er zwei aktuelle lokale Fälle von Kinderselbstmorden auf die Angst vor körperlicher Bestrafung zurückführte.73 Auch Klett betonte die Angst, die Schüler bei einem häufig schlagenden Lehrer ständig empfänden (so komme es vor, dass „Schüler, sobald sie aufgerufen werden in fieberhafte Angst geraten und am ganzen Körper zittern“), und deren Auswirkungen auf die Gesundheit insbesondere körperlich schwacher Kinder.74 Diese, wie man heute sagen würde, psychosomatischen Folgen sah Klett als noch problematischer als die direkten Gesundheitsgefahren durch Schläge. Ehre und (Menschen-)Würde
Nicht nur in Bezug auf die mehr oder weniger direkten, konkreten Folgen von Schlägen stellten die hier vorgestellten Autoren den Gewaltcharakter körperlicher Strafen in den Mittelpunkt. Er war außerdem Ausgangspunkt von eher grundsätzlichen, pädagogisch-philosophischen Überlegungen. Mertens vergleicht Schläge mit dem pädagogisch verpönten und in Schulen meist verbotenen „Schimpfen“, das aber nur eine Art Vorstufe zu körperlicher Gewalt sei: „Man erklärt im Zorn, jemandem nicht den Werth der menschlichen Persönlichkeit zuzugestehn, sondern ihn für ein Thier, einen verächtlichen Körpertheil, ein lebloses Ding zu halten. Im Schlagen aber behandelt man ihn wirklich demgemäß!“ Schläge seien somit „ein viel entschiedenerer Angriff auf die Persönlichkeit des Kindes“.75 Auch für Klett treffen körperliche Strafen das „Kind in seiner innersten Persön71 72 73 74
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Mertens: Schläge, S. 41. Vgl. ebd.; Freimund: Züchtigung, S. 50. Mertens: Schläge, S. 39 f. „Solche Angst, durch Schläge und mehr noch durch Drohungen dem Kinde systematisch anerzogen, wird zur physisch-moralischen Krankheit, die den Schüler hinausbegleitet in das Leben.“ (Klett: Lehrer, S. 18 f.). Mertens: Schläge, S. 33.
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lichkeit“,76 wobei er diesen Begriff synonym mit „Ehre“ und „Würde“ verwendet: Da durch körperliche Züchtigung der Mensch wie ein Tier behandelt werde, sei sie die „Leugnung aller Ehrbarkeit“ – und mache es dem Kind somit unmöglich, ein Ehrgefühl zu entwickeln. Dieses Ehrgefühl setzt Klett wiederum gleich mit dem „Rechtsgefühl“, also dem Bewusstsein für die eigenen Rechte, aber auch der Achtung vor denen anderer.77 Beides ist für Klett untrennbar miteinander verknüpft: Solange das Kind „vom eigenen Rechte nichts weiß, so lange [sic] weiß es nichts vom Rechte anderer, wird also zu Rechtsverletzungen aller Art stets bereit sein“ – dabei solle es doch „zu freiwilliger Selbstbeschränkung dem Rechte Anderer gegenüber“ erzogen werden.78 Auch für Klett soll die Erziehung also zur Selbstdisziplin des Kinds und zu dessen freiwilliger Einordnung in die Gesellschaft führen, genau wie für die Befürworter körperlicher Strafen. Der grundlegende Unterschied liegt jedoch darin, wie dieses Ziel zu erreichen sei: Für Klett resultiert diese Selbstdisziplin eben nicht aus dem Gehorsam gegenüber Normen oder Autoritäten, dessen Notwendigkeit dem Kind zunächst durch äußeren Zwang inklusive körperlicher Gewalt verdeutlicht werden müsse. Stattdessen solle sie aus der inneren Einsicht des Kindes entstehen, das aus dem Bewusstsein seiner eigenen Rechte die anderer anerkennt. Anstelle von Gehorsam erscheint Rücksichtnahme als entscheidendes Ziel, anstelle von Unterdrückung unerwünschten Verhaltens die Stärkung des Rechts- und Ehrgefühls des Kindes als Mittel der Erziehung. Hier zeigt sich ein grundlegender Unterschied in den Erziehungszielen und den dahinterliegenden Menschenbildern. Bemerkenswert ist auch, dass für Klett Ehre bzw. Würde absolute Werte sind, die jedem Kind innewohnen und nicht etwa von dessen Verhalten abhängig gemacht werden können.79 Er reagiert damit auf die bei Züchtigungsbefürwortern gängige Argumentation, dass Schläge zumindest solchen Kindern gegenüber legitim seien, „bei denen bereits der letzte Rest von Ehrgefühl verschwunden ist, oder ein solches gar nie vorhanden war“,80 oder dass Kinder noch keine volle Menschenwürde besäßen, sondern diese erst entwickelten.81
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Klett: Lehrer, S. 16. Die auch an anderer Stelle von Kletts Text deutlich werdende Betonung der Rechte des Kindes (etwa seine Forderung, dass „das Kind, das mit seinem Eintritt in die Schule Pflichten übernimmt, an denen seine schwachen Schultern meist schwer genug tragen, auch sein Recht kenne“, nämlich insbesondere das Recht auf „humane Behandlung“ und auf „Rückenfreiheit“, S. 6) ist so explizit bei seinen Zeitgenossen sonst kaum zu finden. Klett: Lehrer, S. 15. Vgl. Klett: Lehrer, S. 15 f. So die Formulierung von Dienstbier: Ausübung, S. 51. Vgl. beispielsweise Gesell: Züchtigung, S. 14. Ausführlich zu diesen verschiedenen Konzepten von Ehre und Menschenwürde siehe Kapitel 7.4 und 7.5.
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Ähnlich wie Klett gestand auch Freimund grundsätzlich jedem Kind Ehre zu und machte diese ausdrücklich nicht vom sozialen Status abhängig82 – dennoch zog er eine Grenze, und die war das Alter: So bezeichnete er Kinder unter ca. neun Jahren als „schamlose, ehrlose und lieblose Geschöpfchen“, auf die man somit auch nicht über „Schamgefühl, Ehrgefühl und Liebe oder Ehrfurcht einwirken“ könne.83 Auch für Mertens war bei Kindern unter drei Jahren, wo „die Zucht mehr nur eine Dressur ist, wo die Geberde noch den Gedanken und das Wort überwiegt, [. . . ] die Körperstrafe die wahrhaft naturgemäße“.84 Hier wird deutlich, was uns in der Analyse der Debatten immer wieder begegnen wird: Die Gegnerschaft zu körperlichen Schulstrafen ist keinesfalls gleichzusetzen mit der vollständigen Ablehnung dieser Strafart auch im familiären Kontext. Die hier von Mertens und Freimund vertretene Ansicht, dass bei Kleinkindern bis zu einem gewissen Alter aus Mangel an Ehrgefühl und kognitiven Fähigkeiten einerseits keine negativen Auswirkungen zu befürchten seien, andererseits andere erzieherische Ansprachen erfolglos seien, war eine verbreitete Rechtfertigung für die (Alters-)Grenze zwischen abgelehnten schulischen und akzeptierten familiären Körperstrafen. Eduard Sack: Körperstrafen und Untertanengeist
Wie eingangs erwähnt, hebt sich die Argumentation des vierten in diesem Kapitel vorzustellenden Autors etwas von den vorherigen ab: Zwar dürfte auch Eduard Sack allen bisher geschilderten Überlegungen zum Gewaltcharakter körperlicher Strafen und zu ihren negativen seelischen Folgen zugestimmt haben – sie spielen in seiner 1878 veröffentlichten Schrift Gegen die Prügel-Pädagogen jedoch eine untergeordnete Rolle. Stattdessen formulierte er als Ausgangspunkt seiner Auseinandersetzung mit dem Thema: „Mit jeder tiefgehenden allgemeinen Bewegung für Freiheit und gleiches Recht wurden die Befugnisse zu körperlicher Züchtigung beschränkt oder ganz beseitigt; dagegen wurde die Prügelstrafe sofort wieder gerechtfertigt und gefordert, wenn die Feinde der Freiheit und die Verächter der Menschenwürde Gewalt haben“.85 Für Sack waren körperliche Schulstrafen also eher eine politische als eine pädagogische Frage, Freiheit und Menschenwürde die entscheidenden Maßstäbe für ihre Illegitimität. 82 83 84 85
Vgl. Freimund: Züchtigung, S. 44 f. Ebd., S. 74. Mertens: Schläge, S. 25. Sack: Prügel-Pädagogen, S. 9. Sack grenzte dabei die schulische „Züchtigung“ nicht klar von körperlichen Bestrafungen Erwachsener, etwa als Kriminalstrafe, ab, sondern sah sie als einen Teilaspekt der umfassenderen Problematik der gegen „die Armen und Unmündigen“ gerichteten „Prügel“ (ebd., S. 8).
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2. „Prügelpädagogik“ gegen „Humanitätsduselei“ – Debatten bis 1900
Diese politische Perspektive ist nicht erstaunlich, berücksichtigt man den Hintergrund des Autors. Der 1831 geborene Eduard Sack war zunächst als Volksschullehrer intensiv in Lehrervereinen und als Publizist tätig, wobei er sich so kritisch äußerte, dass er nach mehreren Beleidigungsprozessen, Geld- und Gefängnisstrafen 1864 aus dem Staatsdienst entlassen wurde. Seit 1871 war er Redakteur der linksliberalen Frankfurter Zeitung.86 Auch zur Arbeiterbewegung hatte er in den 1870er Jahren zunehmende Kontakte – und tatsächlich weisen viele seiner Argumente gegen körperliche Schulstrafen auf die der sozialdemokratischen Züchtigungsgegner der folgenden Jahrzehnte voraus.87 Wie weit Sacks politische und weltanschauliche Position von der des pädagogischen Mainstreams (und der sich nach 1870 betont staatsnah positionierenden organisierten Lehrerschaft88 ) entfernt war, zeigt sich an seiner Beurteilung des Werts Autorität bzw. korrespondierend dazu Gehorsam. Während dieses Erziehungsziel für die meisten Pädagogen der Zeit eine zentrale Rolle im Konzept der „Schulzucht“ einnahm, war es für die Züchtigungsgegner durchaus relativierbar.89 Sack ging jedoch noch einen Schritt weiter und erklärte, es gebe „sehr sorgfältig abwägende Eltern, die ihre Kinder geradezu ermuntern, sich nicht jede Zurechtweisung gefallen zu lassen“,90 und fragte: „wissen die Lehrer nicht, daß ein Ziel ihrer Arbeit, ein Zweck der Erziehung die Erlösung (Emanzipation) des Menschen von jeglicher Autorität ist?“91 Dieser Satz würde auch in einer 100 Jahre jüngeren Publikation nicht fehl am Platz erscheinen, 1878 stellte er allerdings noch eine radikale Minderheitsposition dar. Dieser Zurückweisung des Erziehungsideals Gehorsam entsprechend beschreibt Sack körperliche Strafen als Mittel zur Sicherung der „wichtigsten und ergiebigsten Interessen der ‚herrschenden und leitenden Klassen‘“: Angesichts der Tatsache „daß, wer in der Kindheit viel Schmerz und Schimpf über sich hat ergehen lassen müssen, sein Leben lang geneigt bleibt, mit Geduld und Ergebung in einen ‚höheren Willen‘ Gewalt und Unrecht zu ertragen“, entwickelten häufig geschlagene Kinder normalerweise „einen fast unausrottbar unterthänigen Charakter“ und würden so demütige, gehorsame Untertanen.92 Sacks Aussage, „das 86 87 88 89
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Vgl. Glöckner: Einleitung, S. XII–XLII. Siehe Kap. 3.4 dieser Arbeit. Siehe S. 74 dieser Arbeit. So betonte etwa Freimund: „Offener Trotz ist ein Zeichen von Kraft. Ich liebe trotzige Jungen, denn bei richtiger Leitung kann man vorzügliche Leistungen von ihnen erzielen“ (Züchtigung, S. 67), und relativierte gängige Vorstellungen ‚straffer Schulzucht‘, indem er „eine muntere, geweckte Klasse, in der nicht jedes launige Wort, jede voreilige Bemerkung, jede Frage durch olympisches Stirnrunzeln verscheucht werden“ bevorzugte gegenüber einer, in der die Schüler „aus Furcht vor Stock und Ohrfeige wie Automaten sitzen, die Hände falten die Arme zur Antwort erheben“ (ebd., S. 28). Sack: Prügel-Pädagogen, S. 17. Ebd., S. 23 f. Hervorhebung im Original durch Sperrsatz. Ebd., S. 14.
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2.2 „Gegen die Prügelpädagogen“ – radikale Kritik an Körperstrafen vor 1900
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Gefühl der Menschenwürde wird von körperlichen Züchtigungen am ersten und stärksten getroffen und am gründlichsten vernichtet“93 , erinnert an die weiter oben zitierten Formulierungen von Klett und Mertens. Allerdings gibt es einen Unterschied, nämlich den politischen Charakter von Sacks Deutung: Bei ihm erscheint dieses „Vernichten“ von Würde und Ehrgefühl des Kinds nicht, wie bei den anderen beiden Autoren, als unerwünschte Nebenwirkung körperlicher Strafen, sondern als bewusst eingesetztes Mittel, um Kindern Untertanengeist zu vermitteln. Dieses von Sack gezeichnete Bild von körperlichen Strafen als politisches Unterdrückungsmittel sollte vor allem von Sozialdemokraten aufgegriffen werden und prägte auch spätere historische und pädagogische Analysen der schulischen Strafpraxis. Vor 1900 war es in dieser Deutlichkeit ansonsten aber noch kaum anzutreffen, auch wenn sich zumindest Ansätze auch bei anderen Autoren finden. So beklagte etwa Klett das (im Kontrast zu anderen europäischen Nationen) spezifisch deutsche „kriechende und sich selbst wegwerfende, das tölpelhafte und dann doch wieder flegelhafte Benehmen“ und das durch „falsche Unterthänigkeit und brutale Rohheit“ geprägte Verhalten gegenüber hierarchisch Höhergestellten. Er begründete diesen „Nationalfehler“ mit der in Deutschland üblichen „unfreien, pedantischen Erziehung“.94 Auch er sprach davon, dass Schläge Kinder zu „Menschen, die nach Sklavenart feige zurückweichen“, erzögen,95 wendete dies jedoch nicht in den politischen Vorwurf eines absichtlichen Heranbildens von „Sklavennaturen“. Zwischen pädagogischer und öffentlicher Debatte
Obwohl alle vier hier vorgestellten Autoren entweder selbst Lehrer waren oder zumindest als ehemalige Lehrer bzw. als Pfarrer der Volksschule nahestanden, bewegten sie sich mit ihren als kleine Monographien veröffentlichten Schriften außerhalb der wichtigsten Kommunikationswege von Pädagogik und Lehrerschaft: Weder veröffentlichten sie in entsprechenden Zeitschriften noch traten sie als Sprecher auf Lehrerversammlungen in Erscheinung. In pädagogischen Texten wurden sie zwar teilweise durchaus wahr-, aber meist wenig ernst genommen. So verwies etwa Strebel in der Enzyklopädie des gesammten Erziehungsund Unterrichtswesens zwar namentlich auf Klett, ließ aber dessen Kritik nur für den „Mißbrauch“ des Züchtigungsrechts gelten. Kletts Ablehnung körperlicher Strafen an sich wies er dagegen kurzerhand als „Akt der Willkür“ und als
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Ebd., S. 15. Klett: Lehrer, S. 22. Ebd., S. 21.
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2. „Prügelpädagogik“ gegen „Humanitätsduselei“ – Debatten bis 1900
unzutreffend zurück.96 Zu Sacks Streitschrift veröffentlichte die Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung eine Rezension des ihm politisch durchaus nahestehenden Friedrich Wilhelm Wander.97 Er bescheinigte dem Buch zwar, dass es „einiges Wahres“ enthalte und viele Leser verdiene – widersprach ihm aber in Bezug auf körperliche Strafen, deren Notwendigkeit und Angemessenheit Wander ausführlich verteidigte.98 Somit bestätigt sich Wolfgang Scheibes zusammenfassende Beschreibung der Position der Züchtigungsgegner im pädagogischen Diskurs: „Sie sind noch Außenseiter, die mit ihren z. T. radikalen Forderungen in kleinen Broschüren hervortreten, deren Wirkungskreis begrenzt gewesen sein mag.“99 Dass die hier zitierten Autoren sich innerhalb des pädagogischen Fachdiskurses nicht durchsetzen konnten und sich durch ihre gewählte Form der Veröffentlichung eher an die breite Öffentlichkeit wandten, deutet darauf hin, dass die öffentliche Debatte kritischen Stimmen gegenüber aufgeschlossener war als die fachliche. Und tatsächlich nahm die radikale Kritik an körperlichen Strafen hier eine weniger marginale Position ein, konnte doch das mit einer Auflage von ca. 380.000 Exemplaren äußerst breit rezipierte, (national-)liberal ausgerichtete Familienblatt Gartenlaube100 1877 einen anonymen, in der „Wir“-Form verfassten Artikel abdrucken, der sich klar gegen jegliches schulisches Züchtigungsrecht aussprach.101 Aufhänger des Artikels war die angebliche Erfindung einer „Prügelmaschine“ in Amerika, mit der „gleichzeitig an zwölf Kindern die Ruthenstrafe sehr energisch vollzogen werden kann“. Das Bild des maschinellen Prügelns und die dadurch beim Leser ausgelösten Assoziationen lassen Schlagen als häufig und kaltblütig-mechanisch ausgeführte, brutale Routinestrafe erscheinen. Somit weist der Artikel zumindest implizit das vom pädagogischen ‚Mainstream‘ gezeichnete Bild von körperlichen Strafen als aus Liebe zum Kind angewandtem Erziehungsmittel zurück. Stattdessen beruft er sich auf Rousseau, Basedow, Pestalozzi und Diesterweg, die Schläge auch „aus Gründen der pädagogischen Nützlichkeit“ abgelehnt hätten. Dass deren züchtigungskritische Position von zeitgenössischen Pädagogen und Lehrervertretern vermehrt revidiert werde, erklärt der Verfasser des Gartenlaube-Artikels mit schulpolitischen Gründen: Stark an Eduard Sack angelehnt (und diesen auch namentlich erwähnend), macht er die „gewaltsame Einführung einer pietistisch-orthodoxen Dressur der Volksju96 97
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Vgl. Strebel: Schulstrafen, S. 293. Auch Wander war wegen seiner regierungskritischen Publizistik und seiner freiheitlichrevolutionären politischen Aktivitäten 1849 aus dem Schuldienst entlassen worden. Vgl. Fränkel: Wander. Wander: „Prügelpädagogen“, S. 123 f. Ähnlich lobte auch A. W. Grube (Je nachdem, S. 85 f.) zwar Mertens’ von „Geist, Einsicht und Wärme“ geprägten Schreibstil, widersprach der Forderung eines vollständigen Züchtigungsverbots aber vehement. Scheibe: Strafe, S. 172. Vgl. Wittmann: Geschichte, S. 278. Systematische Prügel, in: Die Gartenlaube 25 (1877), S. 92. Dort auch die folgenden Zitate.
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gend“ durch die preußische Kultuspolitik der 1850er Jahre und die Stiehl’schen Regulative verantwortlich,102 denn das dort geforderte Pensum an auswendig zu lernendem Stoff sei nur durch Schläge „einzubläuen“ gewesen. Das Hauptargument gegen die körperliche Strafe war für die Gartenlaube jedoch ein grundsätzlicheres: „In den Schulen sollten die Schläge schon deshalb nicht conservirt werden, weil sie den jungen Seelen das Beispiel einer Strafart geben, die außerhalb der Schule doch als unbedingt roh, als unzweifelhaft häßlich aus den Kreisen der guten Sitte verbannt worden ist.“ Diese als nicht weiter erklärungsbedürftig oder verhandelbar angesehene Ablehnung „aus Gründen der Humanität und des natürlichen Zart- und Würdegefühls“ bildete in der öffentlichen Debatte immer wieder den Kern der Argumentation. Daneben finden sich stets Begründungen, wie sie oben am Beispiel der vier Autoren vorgestellt wurden, wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten: Während die Gartenlaube Sacks politischere Position aufgriff, betonte etwa ein Aufsatz in der nationalliberalen Zeitschrift Die Grenzboten vor allem die verrohenden, das Ehrgefühl schädigenden Folgen körperlicher Strafen sowie die mit dem Züchtigungsrecht untrennbar vorhandene Gefahr von Überschreitungen und Misshandlungen.103 Ein etwa zwei Jahrzehnte später im Kölner Tageblatt erschienener Artikel legte den Schwerpunkt vor allem auf die Brutalität körperlicher Strafen und ihre verrohende (Vorbild-)Wirkung, wie sie beispielsweise auch von Klett hervorgehoben wurde, unterschied sich also nicht grundlegend von den älteren Beispielen.104 Obwohl innerhalb der pädagogischen Diskussion die Befürworter körperlicher Strafen klar dominierten, gab es in der Öffentlichkeit also eine zwar wohl kaum für eine Mehrheit repräsentative, aber doch deutliche, vor allem von liberaler Seite artikulierte Forderung nach einem Verbot. Im Schnittpunkt zwischen pädagogischer und öffentlicher Debatte befanden sich die Lehrer, die sich somit
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Die 1854 von Ferdinand Stiehl verfassten und bis 1872 gültigen „Regulative über die Einrichtung des evangelischen Seminar-, Präparanden- und Elementarschul-Unterrichts“ maßen dem Religionsunterricht sehr hohe Bedeutung bei und legten umfangreiche von den Schülern zu beherrschende Inhalte fest, so etwa neben dem Katechismus und mehreren Gebeten mindestens dreißig Kirchenlieder (vgl. Stiehl: Regulative, S. 66–68). Die „in der Geschichtsschreibung zumeist als Inbegriff klerikal-reaktionärer Schulpolitik“ geltenden Regulative zeichneten sich insgesamt durch das „Prinzip einer strikten Bildungsbegrenzung“ aus (Bölling: Sozialgeschichte, S. 57–58), allerdings hebt die neuere Forschung auch ihren modernisierenden Beitrag zur „Vereinheitlichung und Rationalisierung im Massenschulwesen sowie zur Professionalisierung des Lehrerstandes“ hervor (Holtz/Rathgeber: Bildungskonzept, S. 44). A.: Aus Hannover: zwei Worte über die Erziehung unserer Kinder, in: Die Grenzboten 30 (1871), 1. Sem., 2. Bd., S. 801–804. Friedrich Fischbach: Die Prügelstrafe in der Schule, in: Kölner Tageblatt Nr. 826 v. 22.11.1897 (Sammlung Kölner Zeitungsausschnitte II. 24, 44).
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einem gewissen Konflikt ausgesetzt sehen konnten. Wie sich die Lehrerschaft in diesem Spannungsfeld positionierte, wird das nächste Kapitel untersuchen.
2.3 Die Position der Lehrerschaft Forderung nach Rechtssicherheit
Durchsucht man Lehrerzeitschriften nach Äußerungen zu körperlichen Strafen, so stößt man immer wieder auf theoretisch-pädagogische Auseinandersetzungen mit dem Thema – mindestens ebenso häufig allerdings wird man in den auf Rechtsschutz spezialisierten Beilagen fündig. Insbesondere die strafrechtliche Bewertung von sogenannten „Überschreitungen des Züchtigungsrechts“ beschäftigte die Lehrerpresse immer wieder. Wie in Kapitel 1.5 beschrieben, galt juristisch zwar als gesichert, dass Lehrkräften grundsätzlich ein „Züchtigungsrecht“ zustehe – die genauen Grenzen dieses Rechts waren jedoch unklar und umstritten. Die ungeklärte Frage, inwieweit die in ihrer Vielfalt teils verwirrenden Anweisungen verschiedener Schulbehörden auch für die strafrechtliche Beurteilung maßgebend waren, und die oft vagen, unterschiedlich auslegbaren Formulierungen entsprechender Vorschriften führten zu einer uneinheitlichen Rechtsprechung: Was in einem Fall einen Freispruch bedeutete, konnte in einem anderen zu einer beträchtlichen Geldstrafe führen (die gegebenenfalls von dienstrechtlichen Sanktionen begleitet werden konnte). Der Tatbestand der Körperverletzung im Amt mit seinem erhöhten Strafmaß verschärfte die Lage weiter. Angesichts dessen ist es nicht erstaunlich, dass die Lehrerverbände ein großes Interesse an einer eindeutigeren, das Risiko einer strafrechtlichen Verfolgung senkenden juristischen Regelung hatten. Bereits auf den ersten beiden Allgemeinen Deutschen Lehrertagen 1876 und 1878, also wenige Jahre nach der Einführung des für die rechtliche Bewertung von Züchtigungsrechtsüberschreitungen nun maßgeblichen Strafgesetzbuchs, wurde über die strafrechtliche Situation diskutiert – und beschlossen, dass die Lehrer sich in Öffentlichkeit, Verwaltung und Politik für eine Überarbeitung der entsprechenden Bestimmungen in ihrem Interesse einsetzen sollten.105 Konkret forderte der Lehrertag beispielsweise, dass Anklagen wegen Überschreitung des Züchtigungsrechts nur noch mit Zustimmung der Schulbehörde und bei Vorliegen eines bezirksärztlichen Attests zu verfolgen seien.106 1877 erschien zudem ein Aufruf in der Bayerischen Lehrerzeitung, dessen Verfasser beklagten, dass durch die rechtliche Lage 105 106
Vgl. Verhandlungen des Allgemeinen Deutschen Lehrertages zu Erfurt. Vgl. Stenographischer Bericht über die Verhandlungen des 2. Deutschen Lehrertages zu Magdeburg, in ADLZ 30 (1878), S. 285.
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2.3 Die Position der Lehrerschaft
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körperliche Strafen „kaum mehr vollzogen werden“ könnten, und alle Lehrer aufforderte, Material zur Vorbereitung einer Petition an den Reichstag einzureichen, die möglicherweise durch „eine hervorragende parlamentarische Kraft“ unterstützt werden würde.107 Auch in späteren Jahren finden sich immer wieder Initiativen, durch Petitionen und Lobbyarbeit bei Reichstagsabgeordneten eine Änderung des Strafrechts herbeizuführen, durch die beispielsweise Überschreitungen des Züchtigungsrechts nur bei nachgewiesener Gesundheitsschädigung als Körperverletzung zu verfolgen sein sollten.108 Zwar verliefen all diese Initiativen ergebnislos und wurden von behördlicher oder juristischer Seite wenn überhaupt eher ablehnend kommentiert – 1910 urteilte ein Jurist scharf, Lehrer sollten „Strafrecht und Strafprozeß in Ruhe lassen!“109 –, die Hartnäckigkeit, mit der sie dennoch immer wieder gestartet wurden, zeigt aber deutlich, als wie groß Lehrerverbände und -vereine das Problem empfanden. „Niemand kann einem angeklagten Lehrer im Voraus sagen, wie sein Fall enden wird; das hängt nur vom Empfinden der Richter ab“, klagte beispielsweise 1901 ein Mitarbeiter der Rechtsschutzkommission des Deutschen Lehrervereins unter der programmatischen Überschrift „Das Züchtigungsrecht – eine Kalamität“.110 Für einen Redner auf der Versammlung des Allgemeinen Sächsischen Lehrervereins 1877 war es gar „nur der Milde der Gerichte und der Behörden [. . . ] zu danken, daß jährlich nicht so und so viel Lehrer ins Zucht- oder Arbeitshaus gebracht werden“.111 Diese drastische Formulierung ist natürlich auch als rhetorisches Mittel beim Vertreten der eigenen Interessen zu bewerten. Dies gilt vor allem angesichts der Tatsache, dass nach allen verfügbaren Zahlen tatsächliche Verurteilungen und erst recht harte Strafen für Lehrer während des gesamten Betrachtungszeitraums als selten gelten können112 – was auch Lehrervertreter selbst in anderen Zusammenhängen gerne betonten.113 Trotz dieses 107 108
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Pfeiffer/Koppenstätter: Anruf!, in: Bayerische Lehrerzeitung 11 (1877), S. 353–354. So forderte etwa die Pädagogische Zeitung ihre Leser 1903 kurz nach der Veröffentlichung eines Aufsatzes zum Thema „Strafgesetzrevision und Züchtigungsrecht der Lehrer“ (32 (1903), S. 65–67) auf, angesichts der bevorstehenden Reichstagswahlen die Kandidaten über das Thema zu „informieren“ (Der neue Reichstag und das Züchtigungsrecht der Lehrer, ebd., S. 418). 1906 wandte sich der Vorstand des Preußischen Lehrervereins mit einer entsprechenden Petition an den preußischen Kultusminister (vgl. Vorstand des Preußischen Lehrervereins: Züchtigungsrecht). Kaufmann: Züchtigungsrecht, S. 236. Anonym, Das Züchtigungsrecht – eine Kalamität (Aus den Erfahrungen der RechtsschutzKommission des Deutschen Lehrervereins), in: Pädagogische Reform 25 (1901), Nr. 31 (Rechtsbeilage). Sächsischer Lehrerverein: Protokoll der Delegirten- und 2. Generalversammlung (1877), S. 492. Vgl. Kapitel 2.5.5 dieser Arbeit. Vgl. etwa die Aussage des Lehrers Bräutigam 1907, die Zahl der ZüchtigungsrechtÜberschreitungen sei „im Verhältnis zur großen Menge der Volksschullehrer verschwindend klein“ (Sächsischer Lehrerverein: Protokoll 1907, S. 651); ähnlich: Das
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2. „Prügelpädagogik“ gegen „Humanitätsduselei“ – Debatten bis 1900
offensichtlichen Widerspruchs zwischen den gefühlten bzw. geäußerten und den tatsächlichen Ausmaßen des Problems sollten die Äußerungen der Lehrer nicht als bloße effekthaschende Übertreibung abgetan werden: Denn wenn auch die statistische Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung geringer war, als es die Proteste der Lehrerschaft scheinen lassen konnten, war die Rechtsprechung tatsächlich höchst widersprüchlich und der Ausgang eines Falles kaum vorhersehbar.114 Diese Unsicherheit dürfte zu einer von vielen Lehrern empfundenen echten Angst vor Gerichtsprozessen, Geld- oder gar Gefängnisstrafen und dem damit verbundenen Ansehensverlust geführt haben.115 Daneben zeigt sich in den entsprechenden Lehreräußerungen immer wieder das Gefühl ungerechter Behandlung und unzureichender Würdigung der pädagogischen Arbeit (als deren Teil körperliche Strafen dabei meist selbstverständlich angesprochen wurden): So wandte sich ein Autor 1902 gegen die Gefahr, „wegen einer vielleicht in pädagogischer Hinsicht für den Schüler sehr heilsamen Züchtigung vor Gericht gezogen und wie ein Verbrecher bestraft zu werden“116 ; ein anderer beklagte etwas später: „Der Lehrer, der einem Schüler einen kräftigen Schlag auf das Gesäß verabfolgt, wird also nach dem gleichen Paragraphen abgeurteilt wie der schlimmste Messerheld.“117 Für diese (und viele andere) Lehrervertreter lag das grundsätzliche Problem darin, dass etwas als illegale Körperverletzung gewertet wurde, das aus ihrer Sicht ein grundsätzlich legitimes pädagogisches Mittel war. Hier wird bereits deutlich, wie die in der Lehrerschaft verbreitetste inhaltlich-pädagogische Position zu körperlichen Strafen aussah – auf diese und ihre Begründung soll nun ein genauerer Blick geworfen werden. Die (vermeintliche) Notwendigkeit körperlicher Strafen – und ihre Begründung
„Es muss auffallen, dass selbst unter den praktischen Schulmännern sich noch immer einige finden, welche die Nothwendigkeit resp. die pädagogische Zweckmässigkeit der körperlichen Züchtigung leugnen“, so wurde in der Pädagogischen Reform 1878 festgestellt.118 Dieses Zitat zeigt einerseits, dass es auch unter Lehrern in den 1870er-Jahren Gegner körperlicher Strafen gab – wie etwa die im
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Züchtigungsrecht an den bayerischen Volksschulen, in: Bayerische Lehrerzeitung 44 (1910), S. 201. Vgl. dazu auch die in Kapitel 2.5 vorgestellten Einzelfälle. Vgl. Meyer: Schule, S. 86. K.: Ein paar Ohrfeigen und ihre Folgen, in: Korrespondenzblatt für den akademisch gebildeten Lehrerstand 10 (1902), S. 194–196, hier S. 196. Hervorhebung S. H. F. A. Müller: Regelung, S. 1010. Zur Frage der körperlichen Züchtigung, in: Pädagogische Reform 2 (1878), S. 58.
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2.3 Die Position der Lehrerschaft
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vorigen Kapitel vorgestellten Schulleiter. Doch dass sogar die sich selbst „auf der äussersten Linken“ verortende Pädagogische Reform119 diese Tatsache mit offensichtlichem Erstaunen und durchaus missbilligend berichtete, verdeutlicht, wie sehr das „Leugnen“ der Notwendigkeit körperlicher Strafen um 1870 eine Außenseiterposition darstellte.120 Für den Verfasser des Reform-Artikels dagegen stand fest: Ein typischer Klassenlehrer könne ohne körperliche Strafen, „einzig und allein durch ‚pädagogischen Takt‘, durch ‚imponierende Intelligenz‘, durch ‚Manneswürde‘ und wie die Phrasen-Schlagwörter alle heissen“ keine „gute Disciplin aufrecht“ erhalten.121 Um dieses Argument zu verstehen, lohnt sich zunächst ein Blick darauf, wie eine solche „gute Disciplin“ in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts verstanden wurde. Hierfür ist ein Handbuch für „Volksschullehrer und für solche, die es werden wollen“ aufschlussreich, das bis ins 20. Jahrhundert hinein weit verbreitet war und als repräsentativ für den Stand der Schulpädagogik seiner Zeit gelten kann:122 Karl Kehrs Praxis der Volksschule. Es beschreibt als vom (angehenden) Lehrer anzustrebendes Ideal eine äußerliche Disziplin, bei der das Schülerverhalten bis ins Detail normiert ist, von der Sitzhaltung über das Beantworten von Fragen (im Stehen, dem Lehrer ins Auge sehend, in vollständigen Sätzen unter Aufnahme der gestellten Frage) bis hin zum Herausnehmen der Schulbücher, das in drei von der ganzen Klasse synchron auf Klatschzeichen des Lehrers ausgeführten Schritten geschehen solle.123 Gerade dieses Ausführen von standardisierten Bewegungen auf „Kommando“ mutet sehr militärisch an und wurde in der Forschung als typisches Beispiel für „den militärischen Charakter der Volksschule im wilhelminischen Deutschland“ angeführt.124 Kehr selbst allerdings betonte, der Lehrer sei „kein Korporal und soll keiner sein“, weshalb
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Was wir wollen, in: Pädagogische Reform 1 (1877), S. 1. In den untersuchten Lehrerzeitschriften findet sich kaum eine Stellungnahme, die die grundsätzliche Notwendigkeit körperlicher Strafen verneinte. Die einzigen Ausnahmen bilden die jeweils für ein Preisausschreiben eingereichten Aufsätze „Gedanken über das Züchtigungsrecht der Schule“, in: ADLZ 30 (1878), S. 214–215, und Fiedler: Ursachen, die den Verzicht auf Körperstrafen zumindest als Ziel für die Zukunft proklamierten – das aber vor allem bei Fiedler als sehr vage und in der Ferne liegend erschien. Däbritz (Frage) äußerte sich zwar ebenfalls sehr kritisch zu den Folgen körperlicher Strafen, bewertete diese aber zumindest bei Trotz und Widerspenstigkeit als „erziehlich und nützlich“ (S. 176). Zur Frage der körperlichen Züchtigung, in: Pädagogische Reform 2 (1878), S. 59. Karl Kehr (1830–1885) kann als „der maßgebliche Schulpraktiker innerhalb der preußischen Lehrerschaft wie auch innerhalb der Schulverwaltung“ gesehen werden (Meyer: Schule, S. 253, Anm. 88); seine 1868 erstmals veröffentlichte Praxis der Volksschule wurde bis 1913 13-mal aufgelegt. Vgl. Kehr: Praxis, S. 48 f. Dabei sollten für Kehr Disziplin und Gehorsam nicht durch abschreckende Strafen, sondern in erster Linie durch Gewöhnung und Konsequenz erreicht werden (vgl. S. 62). Flissikowski/Kluge/Schauerhammer: Prügelstock, S. 145.
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er etwa von „militärischem Schreien“ Abstand nehmen solle.125 Dies bestätigt Ute Freverts Befund, dass gerade in den Anfangsjahren des Kaiserreichs Lehrer bedacht waren, eine gewisse Distanz zum Militär zu wahren, und es ablehnten, Erziehungsziele bewusst auf die Ansprüche des Militärs auszurichten.126 Dennoch ist ein gewisser Einfluss militärischer Vorstellungen von Disziplin auch in den Debatten zu körperlichen Strafen deutlich zu erkennen, wenn etwa ein Autor in der Allgemeinen Deutschen Lehrerzeitung die seiner Meinung nach mangelhafte Disziplin in der Schule beklagte: „Wie aber beim Militär nur durch so eiserne Konsequenz die glanzvollen Resultate erzielt werden, so auch in der Schule.“127 Neben der Orientierung an militärischen Praktiken dürften auch ganz pragmatische Gründe für die Forderung einer solch strikten Schuldisziplin verantwortlich sein: So wurde noch im Jahr 1882 das „Normalmaß von 80 Kindern“ pro Klasse längst nicht an allen Volksschulen erreicht;128 noch 1896 war zudem auf dem Land nahezu die Hälfte aller Volksschulen einklassig, das heißt, die Schüler der verschiedenen Altersgruppen wurden gleichzeitig von einem Lehrer unterrichtet.129 Hält man sich dies vor Augen, wird nachvollziehbarer, dass ein wie damals üblich hauptsächlich auf dem Lehrervortrag basierender Unterricht kaum praktikabel war, ohne das Verhalten jedes einzelnen Schülers so weit wie möglich zu normieren (inwieweit das von Kehr als theoretisches Ideal geforderte Ausmaß von Disziplin im tatsächlichen Unterrichtsalltag erreicht wurde, bleibt dabei fraglich130 ). So sah der Lehrer Hugo Rheinländer 1888 den Grund, warum das „erste Erfordernis für einen fruchtbringenden Unterricht [. . . ] eine stramme Zucht“ sei, nicht zuletzt in den großen Klassen: Dort gebe es „allerhand störende Elemente, die beseitigt werden müssen, wenn die Gesamtarbeit gedeihlich 125 126
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Kehr: Praxis, S. 49. Vgl. Frevert: Nation, S. 291. Allerdings weist auch Frevert darauf hin, dass vor allem nach der Jahrhundertwende häufiger über einen militaristischen Unterrichtsstil und sich wie Offiziere benehmende Lehrer geklagt wurde – was insbesondere ältere Lehrer negativ bewerteten. Sachse: Wort, S. 125. Allerdings kritisierte Sachse damit gerade, dass für Militär und Schule in der Öffentlichkeit aus seiner Sicht normalerweise zu unterschiedliche Maßstäbe angelegt wurden. Titze: Lehrerbildung, S. 357. Die von Enzelberger (Sozialgeschichte, S. 69) zusammengestellten Zahlen nennen für Preußen 1885 in städtischen Klassen 67, in ländlichen 79 als durchschnittliche Schülerzahl, die bis 1911 auf 49 bzw. 61 sank. Kuhlemann (Niedere Schulen, S. 192) kommt auf Basis der preußischen Statistik für 1886 mit durchschnittlich 75 Schüler pro Lehrer und 64 pro Klasse zu etwas niedrigeren, in der Größenordnung aber ähnlichen Zahlen. In den Städten betrug der Anteil einklassiger Schulen immerhin noch 11 %. 1886 lag er noch bei 57 % (Stadt) bzw. 15 % (Land), bis 1911 sollte er auf 39 % bzw. 8 % sinken. Vgl. Herrlitz u. a.: Schulgeschichte, S. 105. Bölling sieht die Anforderungen in Kehrs Handbuch als „weithin völlig unrealistisch“ (Sozialgeschichte, S. 68).
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fortschreiten soll. Auswüchse, die den geistigen Unterrichtsanspruch hemmen, und Fehler, die der erziehenden Thätigkeit hinderlich sind, müssen ohne Gnade vernichtet oder doch unterdrückt werden“ – wozu auch körperliche Strafen nötig und gerechtfertigt seien.131 Wenn auch aus heutiger Sicht die martialische Wortwahl und die unbedingte Priorität, die den Bedürfnissen des Unterrichts vor denen der Schüler eingeräumt wird, auffallen, ist in unserem Kontext an dem Zitat etwas anderes bemerkenswert: nämlich dass die Notwendigkeit körperlicher Strafen aus dem praktischen Unterrichtsalltag und dessen konkreten Rahmenbedingungen (hier die Klassengröße) hergeleitet wird und nicht etwa aus grundsätzlichen pädagogisch-theoretischen Erwägungen. Noch deutlicher herausgestellt wurde der Zusammenhang zwischen Rahmenbedingungen des Unterrichts und körperlichen Strafen von Züchtigungsgegnern: So gestand selbst der im letzten Kapitel vorgestellte Eduard Sack zu, dass „die Lehrer, wie sie jetzt sind, und unter den Verhältnissen, in denen sich unser Schulwesen gegenwärtig befindet, ohne harte körperliche Züchtigungen den von den Vorgesetzten an sie gestellten Forderungen nicht zu genügen und den Kindern gegenüber sich in ihrem Ansehen nicht zu behaupten vermögen“.132 Allerdings leitete Sack aus dieser Diagnose die Forderung nach Behebung der von ihm festgestellten Missstände (neben überfüllten Schulen und einseitig auf Auswendiglernen ausgelegten Lehrplänen auch mangelnde Lernmittel, unqualifizierte Schulaufsicht, unzureichende Ausbildung und prekäre Lebensbedingungen der Lehrer) ab – und man könnte durchaus argumentieren, dass die Frage körperlicher Strafen für ihn (zumindest an dieser Textstelle) vor allem als Vehikel diente, um grundsätzliche Forderungen nach Schulreform zu äußern und diesen Nachdruck zu verleihen. Die Betonung der praktischen Rahmenbedingungen des Unterrichts als Grund für körperliche Strafen, wie sie etwa bei Sack, aber auch in vereinzelten Beiträgen in der Lehrerpresse zu finden ist,133 veranlasste Folkert Meyer zu der Feststellung: „Gerade Schulpraktiker entdogmatisierten – auch unter dem Eindruck einer teilweise gewandelten öffentlichen Meinung gegenüber der Leibesstrafe – die metaphysische Auffassung von der körperlichen Züchtigung.“134 Diese Beobachtung ist allerdings vor 1900 nur für eine kleine Minderheit unter den Schulpraktikern zutreffend: Nicht nur in der Fachpresse, sondern auch in den Beiträgen auf Lehrerversammlungen dominierten bei der Verteidigung von körperlichen Strafen klar die in Meyers Worten „metaphysischen“, also etwa religiösen oder philosophisch-pädagogischen, jedenfalls grundsätzlichen, nicht von veränderlichen Rahmenbedingungen abhängigen, Argumente. Zwar 131 132 133 134
Rheinländer: Strafrecht, S. 345. Sack: Prügel-Pädagogen, S. 100. Vgl. Fiedler: Ursachen. Meyer: Schule, S. 88.
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verwiesen auch diese Lehrer manchmal auf die praktische Notwendigkeit von Körperstrafen zum Aufrechterhalten einer gewissen Disziplin, die wiederum Voraussetzung eines erfolgreichen Unterrichtsbetriebs sei – aber für sie war dieser praxisbezogene Aspekt nur ein ergänzendes Argument zu der zentralen Auffassung von Disziplin als Selbstzweck und Körperstrafen als an sich notwendigem, sinnvollem Erziehungsmittel. So ergänzte auch der oben zitierte Hugo Rheinländer seine Aufzählung von Schülerverhalten, das den Unterricht störe und deshalb unterdrückt werden müsse, mit dem Hinweis auf „Lügenhaftigkeit, Trotz, Roheit und Unsittlichkeit, die der Erziehung im Wege stehen. Und da soll der Lehrer nicht strafend, nicht mit körperlicher Züchtigung einschreiten!“135 Dass körperliche Strafen der Erziehung dienten, dass ihr Zweck nicht nur sei, einen geregelten Unterrichtsbetrieb zu erzwingen, sondern vor allem den Schüler „durch wohlverdiente Strafe zu einem brauchbaren Gliede der menschlichen Gesellschaft zu machen“136 , galt bis etwa 1900 unter der großen Mehrheit der Lehrerschaft als selbstverständlicher Konsens. Dies ist auch nicht erstaunlich, stimmt es doch mit der in Kapitel 2.1 geschilderten Position der theoretischen Pädagogik überein. Auch die einzelnen Argumentationsstrategien entsprechen weitgehend den dort vorgestellten – sofern Lehrer die Notwendigkeit körperlicher Strafen in der Erziehung überhaupt theoretisch begründeten und nicht, wie es häufig geschah, als mehr oder weniger selbstverständlich voraussetzten.137 Wie auch in den vorgestellten pädagogischen Lexika wurde in Lehrerzeitschriften die Autorität einflussreicher Pädagogen (allen voran Pestalozzi)138 , biblischer Aussagen139 und der Tradition140 zur Legitimierung körperlicher Strafen genutzt. Auch die inhaltliche Begründung, warum diese Strafart ein notwendiges Erziehungsmittel sei, entspricht dem bekannten Muster: Besonders deutlich wird dies beispielsweise in einem Artikel der Allgemeinen Deutschen Lehrerzeitung, der die Notwendigkeit von Strafe (worunter durch den Zusammenhang vor allem
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Rheinländer: Strafrecht, S. 345 (Hervorhebung S. H.). So die Formulierung in Mangold: Jugendbildner, S. 176. Zum Beispiel Stengel: Würdigung (S. 109), der die Selbstverständlichkeit durch den Verweis auf Sprichwörter u. Ä. betonte. Vgl. Scholz: Züchtigungsrecht, S. 185–186; Ein Ausspruch Pestalozzi’s über die körperliche Züchtigung, in: Bayerische Lehrerzeitung 11 (1877), S. 410; Stengel: Würdigung, S. 96–97. Vgl. Dienstbier: Ausübung, S. 51; Westpreußische Provinzial-Lehrerversammlung: Züchtigungen; B. Bähring: Aphorismen über die Allgemeinheit der Volksschule und über das Züchtigungsrecht in der Schule, in: Pfälzische Lehrerzeitung 13 (1887), S. 179, Rheinländer: Strafrecht, S. 345. So beispielsweise Wander: „Prügelpädagogen“, S. 123, mit der Aussage, körperliche Züchtigung sei „das älteste Zuchtmittel der Eltern und der diese zeitweise vertretenden Lehrer und Lehrmeister“ und dem Verweis auf Sprichwörter. Vgl. auch Gottschalk: Auswüchse, S. 522; Stengel: Würdigung, S. 109.
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die Körperstrafe zu verstehen ist) folgendermaßen begründet: „Der oft ungestüm hervorbrechende Eigensinn und Trotz muß gebrochen, die Unverträglichkeit, lügenhaftes und schamloses Wesen müssen entfernt und ein sittlicher Zustand muß herbeigeführt werden“, wobei „den sinnlichen Abschweifungen vom Pfade des Guten sinnlich und nachdrücklich entgegengetreten werden“ müsse.141 Mit dieser Sichtweise, dass unerwünschte Eigenschaften unweigerlich ‚gebrochen‘ werden müssten, korrespondiert die Vorstellung, dass körperliche Strafen letztlich im Interesse des Kindes selbst lägen. Diese steigerte sich häufig zu der Erwartung, dass die Schüler dies bei korrekter Ausführung der Bestrafung selbst anerkennen oder zumindest im Nachhinein Dankbarkeit für die erhaltenen Schläge empfinden sollten.142 Dass diese Haltung nicht allein für Lehrer typisch war, zeigt etwa Martin Doerrys Untersuchung der „Mentalität der Wilhelminer“: Er identifiziert die Dankbarkeit für in der Kindheit empfangene strenge Erziehung inklusive (körperlicher) Strafen und die Vorstellung, erfolgreich ‚gezähmt‘ worden zu sein, als typische Topoi in Autobiographien.143 Das Gegenstück hierzu bildet die Furcht vor erwarteten negativen Folgen fehlender Strafen. Sie kommt besonders deutlich in einer Pestalozzi zugeschriebenen Textstelle zum Ausdruck, welche die Bayerische Lehrerzeitung 1871 kommentarlos, aber offensichtlich zustimmend, abdruckte: Deren Verteidigung der Notwendigkeit körperlicher Strafen gipfelte in der angeblich häufig von Insassen der Zuchtund Irrenhäuser geäußerten Klage: „Hätten mich mein Vater und meine Mutter
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Die körperliche Züchtigung in der Volksschule, in: ADLZ 28 (1876), Nr. 32, S. 275–277, Zitat S. 275. Vgl. z. B. die Betonung eines Lehrers, „daß eine von der Weisheit diktirte, von der Besonnenheit ausgeführte, von der Liebe für des Kindes wahres Wohl zeugende körperliche Züchtigung in dem noch nicht ganz unverdorbenen Kinde das Gefühl seiner Schuld und Reue“ wecke (Gesell: Züchtigung, S. 15). So erklären sich auch weit verbreitete Ratschläge für die ‚richtige‘ Vorgehensweise bei körperlichen Strafen wie: „Der Lehrer nehme sich des Gestraften in Liebe an und zeige ihm durch sein Verhalten, daß er nur sein Wohl im Auge habe.“ (Westpreußische Provinzial-Lehrerversammlung: Züchtigungen), oder „Strafe er jederzeit den werdenden Menschen so, daß der erwachsene ihm dafür danke“ (Die körperliche Züchtigung in der Volksschule, in: ADLZ 28 (1876), S. 275–277). Auch Erfahrungsberichte, laut denen ehemalige Schüler sich für die früher erhaltenen Züchtigungen bedankten, waren ein typisches Element des Lehrerdiskurses (vgl. z. B. Stenographischer Bericht über die Verhandlungen des 2. Deutschen Lehrertages zu Magdeburg, in ADLZ 30 (1878), S. 278). Vgl. Doerry: Übergangsmenschen, S. 155–160. Er sieht diesen Befund als Teil der von ihm festgestellten „Autoritätsfixierung“ der „Wilhelminer“ (verstanden als die Geburtsjahrgänge 1853–1865). Dass die von Doerry untersuchten Autobiographien teilweise erst in den 1930er Jahren verfasst wurden, verdeutlicht zudem die Langlebigkeit der Idee von Körperstrafen zum langfristigen Nutzen des Kinds.
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bei der ersten Bosheit gezüchtigt, so wäre ich jetzt kein Scheusal vor Gott in den Menschen.“144 Bildhaft anschaulich wird die Vorstellung von körperlichen Strafen zum Wohl des Kindes in den immer wieder gezogenen Vergleichen zu (schmerzhaften) ärztlichen Eingriffen oder (übel schmeckender) Medizin. Viele Lehrer sprachen vom „Heilen“ unerwünschten Verhaltens, von Schlägen als „Arzneien“ und zogen explizite Parallelen, die zeigen sollten, dass körperliche Strafen ebenso notwendig und nutzbringend seien wie unangenehme medizinische Behandlungen: „Es gibt auch bei der Jugend nur zu häufig moralische Gebrechen, welche durch scharfes Eingreifen geheilt werden müssen, wenn das Kind in moralischer Beziehung nicht gänzlich zu Grunde gehen soll“ – und zu diesem Zweck zu schlagen, bereite dem Lehrer genauso wenig Vergnügen, wie es „der Arzt hat, wenn er eine Beule mit der Lanzette öffnet und einen tiefen Schnitt in das faule Fleisch macht, der dem Patienten einen Angstschrei auspreßt“.145 In der Logik der medizinischen Metaphorik liegt, dass es neben dem „Heilmittel“ auch eine zu kurierende Krankheit geben muss – und worin diese aus Sicht der Lehrerschaft lag, zeigt ein nicht nur in Körperstrafendebatten immer wieder anzutreffender Topos, nämlich die „zunehmende Rohheit und Unbotmäßigkeit der Jugend“.146 Diese wurde typischerweise als ein besonders akutes Problem der jeweils aktuellen Zeit wahrgenommen – und zwar, so viel kann hier vorab verraten werden, über nahezu den gesamten in dieser Arbeit betrachteten Zeitraum hinweg, wobei sich einige Wellen besonders intensiver Verunsicherung durch die ‚Jugend von heute‘ erkennen lassen. Solche Schwerpunkte liegen etwa in der zweiten Hälfte der 1870er Jahre und in den letzten Jahren des Jahrhunderts. Die Bandbreite reichte dabei von der aus dem Alltag gegriffenen Klage: „Es ist fast nicht mehr in der Schule auszukommen, die Mädchen werden so roh und ungesittet wie die Knaben, Ungehorsam und Widersetzlichkeit nehmen mit jedem Tage zu“147 , bis hin zu zeitkritisch-pessimistischen Interpretationen, die das Verhalten der Schülerschaft als Symptom einer vom „Hasten nach Geld, Ehre, Ruhm und sorgenlosen Lebensstellungen“, Genusssucht und „Abscheu vor 144
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Ein Ausspruch Pestalozzi’s über die körperliche Züchtigung, in: Bayerische Lehrerzeitung 11 (1877), S. 410. Es handelt sich hierbei um die Fortsetzung der bereits im Kapitel 2.1 (S. 28) vorgestellten Stelle, die in einer Fassung von Pestalozzis „Lenzburger Rede“ enthalten ist. Dienstbier: Ausübung, S. 52. Vgl. u. a. auch Hermann: Die Disciplinarmittel der Volksschule, in: Bayerische Lehrerzeitung 9 (1875), S. 363–366, hier S. 365; Wander: „Prügelpädagogen“, S. 122 f.; G. M.: Öffentliche Urteile über die körperliche Züchtigung in unseren Schulen, in: Pädagogische Zeitung 33 (1904), S. 139–140. Die Vorstellung einer „heilenden“ Wirkung von Strafe identifiziert auch Scheibe als ein typisches Merkmal auch der pädagogischen Strafrechtfertigungen im 19. Jahrhundert (Strafe, S. 180). Dienstbier: Ausübung, S. 49. Zur langen Geschichte dieses Topos vgl. Liedtke: Funktion, S. 139–141. Mangold: Jugendbildner, S. 175.
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jeder ernstlichen Anstrengung“ geprägten Zeit148 oder eines in der Gesellschaft verbreiteten „Mangel[s] an Selbstdisziplin“149 deuteten. Vor allem aber erschien in den Äußerungen der Lehrerschaft die Geringschätzung von Autoritäten jeglicher Art als Kernproblem: So äußerte bereits 1876 ein Lehrer über die Jugend: „Gesetz und Autorität sind ihnen leere, nichtssagende Wörter, gibt es ja keine größeren Herren, als sie selbst in ihrer Einbildung und Naseweisheit sind.“150 1899 berichtete ein anderer, es werde „allgemein“ beklagt, „daß die Autorität in den breiten Schichten des Volkes keine Anerkennung mehr findet“, und auch die Jugend sei „anmaßender gegen die Lehrer, wie überhaupt gegen alle Erwachsenen, geworden“.151 Bezeichnend – und durchaus repräsentativ – ist dabei seine Erklärung dieser Entwicklung: Sie sei die „unausbleibliche Folge der gelockerten häuslichen Erziehung, welche die Rute in der Kinderstube verbannt hat. Gegen diese weichliche und verkehrte Erziehungsmethode muß die Schule Front machen“. Die hier deutlich werdende selbstverständliche Annahme, dass nicht nur erwünschtes Verhalten und Gehorsam gegenüber Erwachsenen, sondern auch das spätere Einhalten moralischer Normen nur durch eine strenge, „straffe“ Erziehung zu erreichen sei, ist in den Lehrerdebatten immer wieder zu finden – und geht fast immer einher mit der ebenso selbstverständlichen Gleichsetzung dieser strengen Erziehung mit dem (zumindest möglichen) Gebrauch von körperlichen Strafen. Deutlich wird dies beispielsweise in der Klage eines Lehrers: „Die schlaffste Disziplin und Unterordnung herrscht in den Schulen, wo die Kinder wissen, dem Lehrer sind die Hände gebunden. Keckes Auftreten der Kinder, ja selbst offene Widersetzlichkeit gegen die Anordnungen des Lehrers bilden da stehende Klagen.“152 Die (im Hinblick auf körperliche Strafen recht euphemistisch anmutende) Umschreibung „dem Lehrer sind die Hände gebunden“ verweist auf eine weitere Gleichsetzung, nämlich die von Züchtigungsrecht und Autorität des Lehrers. 148
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Sachse: Geschichte, S. 190. Auch Beeger (Verhandlungen des Allgemeinen Deutschen Lehrertags zu Erfurt, S. 231) führte die „Arbeitsscheu und Genußsucht“ vieler Schüler auf das gewachsene allgemeine Streben nach Wohlstand, die Verrohung auf die Nachwirkungen der zurückliegenden Kriege zurück. Letzterer Diagnose stimmte sogar der radikale Körperstrafengegner Eduard Sack zu, kritisierte dabei aber zudem die Kriegsverherrlichung etwa im Geschichtsunterricht oder durch Sedan-Feiern (vgl. Sack, S. 86 f.). Insgesamt widersprach Sack jedoch der Vorstellung außergewöhnlicher „Roheit, Wildheit und Unbotmäßigkeit“ in der Schule, entlarvte diese als Topos und wertete es sogar als positiv, wenn Kinder sich nicht jede Zurechtweisung von Erwachsenen gefallen ließen (vgl. S. 16–20). Wander: „Prügelpädagogen“, S. 123. Dienstbier: Ausübung, S. 49. Lassen sich die körperlichen Züchtigungen in der Schule ohne Lockerung der Schulzucht beseitigen? Zur Preisbewerbung, in: Deutsche Schulpraxis 19 (1899), S. 171–173, Zitat S. 173. Dort auch das folgende Zitat. Sachse: Wort, S. 125.
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Autorität des Lehrers
Dabei ging kaum ein Autor so weit, offen zu behaupten, dass die Autorität eines Lehrers gegenüber seinen Schülern in erster Linie auf möglicher Gewaltanwendung beruhe – im Gegenteil: Autorität erschien als Voraussetzung153 oder gerade als Gegenbegriff zum körperlichen Strafen. Wenn ein Lehrer durch seine Eigenschaften und sein Verhalten Autorität erlange, benötige er weniger Strafen. So nannte der Lehrer Georg Stengel etwa vorbildlichen Fleiß, Pünktlichkeit, Ordnung und Konsequenz als Eigenschaften, die Autorität gegenüber Schülern sicherten.154 Allerdings klagte er in demselben Artikel auch: „Wollte man einen Lehrer außer stand setzen, grobe Vergehen sofort und mit gebührendem Nachdruck zu ahnden, so würde er gar bald von seinen Schülern verhöhnt werden. [. . . ] Wo bliebe seine Autorität, welche zu stärken und zu heben man gerade in unserer Zeit allen Anlaß hat?“155 Hier wird deutlich, was für die meisten Autoren gilt: In der theoretischen Konzeption war die Möglichkeit, sich nötigenfalls mit legaler Gewalt durchzusetzen und so „den Anordnungen des Lehrers in den Augen manches verwilderten Gassenjungen den nötigen Rückhalt zu verleihen“, nicht die wichtigste oder gar alleinige Grundlage der Lehrerautorität – sie war jedoch ein unverzichtbarer Bestandteil. Dass „dem Trotzigen, der die Autorität des Lehrers höhnt und verachtet, die Macht dieser Autorität körperlich fühlbar gemacht werden muss“, war in den Lehrerdebatten weitgehender Konsens.156 Denn der entscheidende Maßstab für die Autorität eines Lehrers wurde in der Fähigkeit gesehen, Anordnungen gegenüber den Schülern durchzusetzen, wozu körperliche Gewalt (bzw. deren Androhung) natürlich ein effektives Mittel sein konnten. Die Aufrechterhaltung einer wie oben beschriebenen strikten Schuldisziplin war also Folge und Prüfstein der Autorität des Lehrers, weshalb beide Begriffe in den Debatten zu Körperstrafen meist zusammengedacht, ja geradezu als Synonym gesehen werden konnten. In dieser Perspektive lief das Verhältnis zwischen Schülern und Lehrern auf ein Nullsummenspiel heraus, bei dem eine Würdigung von Rechten des Schülers – etwa im Fall einer möglicherweise gegen die Vorschriften verstoßenden Züchtigung – automatisch als Autoritätseinbuße des Lehrers gedeutet wurde: So wird dem entarteten Jungen [bei Verdacht der Überschreitung des Züchtigungsrechts, S. H.] von allen Seiten geholfen, so daß er am Ende glauben muß, es sei ihm großes Unrecht widerfahren. Auf diese Weise wird natürlich die Autorität des Lehrers bei 153
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„Beim Züchtigen muß der Erzieher erst recht seiner Autorität sicher sein, muß er ganz besonders weise und gerecht verfahren.“ (anonym: Die psychologische Grundlage der Strafe mit besonderer Bezugnahme auf die körperliche Züchtigung, in: ADLZ 47 (1895), S. 123–125, Zitat S. 125) Stengel: Würdigung, S. 122. Ebd., S. 109. Dort auch das folgende Zitat. Grube: Je nachdem, S. 85.
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seinen Schülern völlig untergraben. Die ungezogenen Jungen wissen es auch bereits, daß man ihnen überall hilft, und sie wären einfältig genug, wenn sie sich dieses nicht zu Nutze machten.157
In diesem Machtkampf konnten Lehrer neben persönlichen Eigenschaften und eben der Möglichkeit, unerwünschtes Verhalten zu sanktionieren, auch ihre Amtsautorität in die Waagschale werfen. Der Grad an gesellschaftlichem Ansehen, das einem Lehrer zugestanden wurde, war ein Einflussfaktor für den Respekt, den Schüler ihm entgegenbrachten – und somit auch für deren konkrete Bereitschaft, seinen Anordnungen Folge zu leisten.158 Dies erklärt, warum nicht nur Prozesse gegen Lehrer,159 sondern auch schon öffentliche Kritik an „Prügelpädagogen“ immer wieder als Gefahr für die Lehrerautorität zurückgewiesen wurden: Wenn die Presse als „Anklägerin des Lehrerstandes“ auftrete, untergrabe sie „damit seine Autorität und schadet dadurch der Jugenderziehung“, klagte ein bayerischer Lehrer 1877.160 Ein weiterer Grund, warum die Lehrerdebatten zum Züchtigungsrecht eine so große Empfindlichkeit gegenüber (vermeintlichen) Bedrohungen des gesellschaftlichen Ansehens des Standes zeigten, liegt darin, dass ebendieses Ansehen am Ende des 19. Jahrhunderts noch ein äußerst unsicheres war, vor allem für Volksschullehrer.161 Trotz deutlicher Verbesserung im Vergleich zum Beginn des Jahrhunderts162 waren materielle Lage und soziale Geltung insbesondere auf dem Land noch weit von den Zielen der Volksschullehrer entfernt: Gerade im Vergleich zu Gymnasiallehrern bestand ein schmerzhaft empfundener Statusunterschied in Bezug auf die Bezahlung und vor allem die fehlende universitäre Ausbildung und den dadurch fehlenden Zugang zur „Bildungselite“.163 Lehrer an höheren Schulen wiederum orientier157 158
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Dienstbier: Ausübung, S. 50. Besonders deutlich wird dies in dem zu Beginn dieses Kapitels zitierten Artikel der Pädagogischen Reform, laut dem „vor allem vielleicht Schulleiter“ genügend (Amts-)Autorität hätten, um auf körperliche Strafen verzichten könnten (Zur Frage der körperlichen Züchtigung, in: Pädagogische Reform 2 (1878), S. 59). Vgl. z. B. Vorstand des Preußischen Lehrervereins: Züchtigungsrecht, S. 444: „Selbst wenn Freisprechung erfolgte, ist seine Autorität auf Jahre hinaus vernichtet“; F. A. Müller: Regelung, S. 1011; Die körperliche Züchtigung in der Volksschule, in: ADLZ 28 (1876), Nr. 32, S. 275–277, hier S. 277. Mangold: Jugendbildner, S. 175. Vgl. Skopp: Sprosse, S. 388. So setzte sich beispielsweise in Preußen zwischen 1870 und 1900 die einheitliche Seminarsbildung durch, zudem stiegen die Gehälter stark an, sodass nach den 1870er Jahren zumindest „große Teile der Volksschullehrerschaft in relativ gesicherten Verhältnissen deutlich oberhalb des Lebensstandards der Arbeiterschaft“ lebten (Titze: Lehrerbildung, S. 361). Vgl. auch Enzelberger: Sozialgeschichte, S. 72–74, Herrlitz u. a.: Schulgeschichte, S. 106 f. In den 1890ern erhielten Volksschullehrer zudem die von ihnen als wichtige Verbesserung ihres sozialen Status empfundene Berechtigung zum Einjährig-Freiwilligen Militärdienst (vgl. Stübig: Einfluss, S. 519–523). Vgl. Enzelberger: Sozialgeschichte, S. 75 f.
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ten sich an anderen akademischen Berufen und forderten beispielsweise die besoldungsmäßige Gleichstellung mit Juristen.164 Selbstinszenierung als Erziehungsexperten
In dieser Situation nur teilweise eingelöster Aufstiegshoffnungen bei gleichzeitig im Lauf des 19. Jahrhunderts gefestigtem „ausgeprägten Standesbewußtsein“ versuchten Lehrer intensiv, nicht nur die materiellen Berufsbedingungen, sondern vor allem auch den gesellschaftlichen Status ihres Berufs zu verbessern.165 Dies taten sie, wie Keiner/Tenorth für die Zeit nach 1870 feststellen, durch (im Kontrast zu den um 1848 von Lehrern öffentlich geäußerten liberalen Positionen und bildungspolitischen Forderungen stehende) demonstrative Staatsnähe und indem „sie die Bedeutung der Profession der Lehrenden und Erziehenden im gesellschaftlichen Kontext überzeichnen“.166 In diesem Zusammenhang kann man auch die oben beschriebenen gesellschaftskritischen Klagen der Lehrer über zunehmenden Respektverlust der Jugend und die Betonung der Notwendigkeit strenger Erziehung als Gegenmittel sehen. Im Zusammenhang mit der Debatte um körperliche Strafen zeigt sich der Versuch der Lehrerschaft, größere Anerkennung als Berufsstand zu finden, aber vor allem in der Betonung professioneller Kompetenz. Der naheliegendste Wissensvorsprung, auf den sich Lehrer gegenüber anderen Debattenteilnehmern berufen konnten, war die praktische Unterrichtserfahrung. Somit konnten die Argumente von Züchtigungsgegnern außerhalb der Lehrerschaft leicht als praxisfern diskreditiert werden, wie etwa in einem in der Zeitschrift Deutsche Schulpraxis erschienenen Artikel: „Die Herren am grünen Tische [. . . ] reden stets viel von der Erziehung durch die christliche Liebe, das Beispiel etc. Ich bin überzeugt, sie wenden sofort ihre Ansicht, wenn sie einmal in praxi in einer Volksschulklasse von 40 bis 60 oder gar 80 oder noch mehr Schülern stehen.“167 In einem anderen Aufsatz wurde als Reaktion auf einen züchtigungskritischen Zeitungsartikel gefragt: „Wie würde es der Verfasser des fraglichen Artikels anfangen, wenn er einen verstockten Lügner, einen frechen, unbeugsamen Trotzkopf, einen verhärteten Thier- und Menschenquäler zu behandeln hätte?“ Der Autor führte dann konkrete Beispiele für Fehlverhalten von Schülern an (Taschendiebstahl, Zerschneiden von Wandkarten, in Sitzbänke gesteckte Nadeln) und ließ diese 164 165 166
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Vgl. Bölling: Sozialgeschichte, S. 36. Ebd., S. 76. Keiner/Tenorth: Schulmänner, S. 214. Allerdings wurde tatsächlich die „Volksschule vermehrt als Instrument politischer Sozialisation und Herrschaftssicherung eingesetzt“, insbesondere zur Bekämpfung sozialistischer Ideen (Enzelberger: Sozialgeschichte, S. 68). Vgl. auch Meyer: Schule, S. 88 f. Rheinländer: Strafrecht, S. 345.
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wie selbst erlebte Erfahrungen aus seiner Lehrertätigkeit wirken.168 Allerdings tauchen die gleichen Beispiele auch in einem anderen Artikel der Bayerischen Lehrerzeitung auf, wo sie wiederum aus der in den 1860er Jahren verfassten Hausapotheke des Theologen Leopold Kist zitiert wurden.169 Hier wird deutlich, dass auch das vermeintlich aus der persönlichen, alltäglichen Unterrichtserfahrung hervorgehende „Wissen“ von der praktischen Unverzichtbarkeit körperlicher Strafen zu einem gewissen Grad konstruiert war. Es handelte sich eben nicht (nur) um tatsächliches individuelles Erfahrungswissen, sondern (auch) um einen in der Lehrerschaft tradierten Topos. In dem soeben zitierten Artikel gipfelte die Betonung der Praxiserfahrung in der Forderung „Schulfragen sollen von Schulmännern behandelt werden“, schließlich würde auch „z. B. ein Zeitungsredacteur sehr ungehalten werden, wenn ein Schulmeister sich erkühnen wollte, ihn zu meistern bezüglich seiner politischen Ansichten“.170 Die Ablehnung der Einmischung von „Laien“ außerhalb des Berufsstands in etwas, das als Fachfrage angesehen wurde, ist sicher nichts Überraschendes und bei vielen Berufsgruppen zu den unterschiedlichsten Themen anzutreffen. Bemerkenswert ist jedoch die Selbstverständlichkeit, mit der hier die Frage der Legitimität körperlicher Erziehungsgewalt nicht als auch nur im entferntesten Sinn politisch oder gesellschaftlich relevante, sondern als rein fachliche Angelegenheit dargestellt wurde. Damit wurde der Öffentlichkeit außerhalb des Lehrerstands jegliche Legitimation zur Teilnahme am Diskurs zu Erziehungsstrafen abgesprochen, die Lehrerschaft reklamierte für sich den Status als Experten, die alleine zu einer angemessenen Beurteilung des Themas kommen konnten. Dass diese Rolle nicht nur mit praktischer Berufserfahrung und Alltagswissen begründet wurde, sondern dass Lehrer sich auch als theoretisch-pädagogische Experten verstanden und inszenierten, zeigt der Vortrag des Leipzigers Julius Beeger auf dem Lehrertag in Erfurt 1876 – eine wegen des bedeutenden, außenwirksamen Anlasses und der offensichtlich breiten Zustimmung seiner Zuhörer besonders repräsentative Quelle: Beeger betonte, dass zwar in der Vergangenheit die Philanthropisten körperliche Schulstrafen abgelehnt hätten, nun jedoch alle „bedeutendsten Pädagogen der Neuzeit“ sie für unter bestimmten Umständen für notwendig hielten. „Was pädagogische Autoritäten früherer Zeiten in diesem Sinne gefehlt haben, kann also als durch die weiterentwickelte Pädagogik rectificiert angesehen werden“, lautete sein Fazit. Während die Schule den „Mode gewordenen Irrthume“ der Ablehnung körperlicher Züchtigung überwunden habe, sei er bei gebildeten Laien, etwa Journalisten 168 169 170
Die körperliche Züchtigung in den Schulen, in: Bayerische Lehrerzeitung 11 (1877), S. 440– 442, Zitat S. 441. Scholz: Züchtigungsrecht, S. 185. Die körperliche Züchtigung in den Schulen, in: Bayerische Lehrerzeitung 11 (1877), S. 440– 442, Zitat S. 442.
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2. „Prügelpädagogik“ gegen „Humanitätsduselei“ – Debatten bis 1900
und Lokalpolitikern noch weit verbreitet.171 Mit dieser Deutung sprach Beeger den Lehrern neben dem Wissensvorsprung durch praktische Erfahrung auch einen theoretischen zu, schienen sie doch als pädagogische Experten auf dem neuesten Stand der Wissenschaft, während in der öffentlichen Meinung noch veraltete Theorien verbreitet seien. Praktische Erfahrung und theoretisches Wissen waren also zwei Säulen der in Abgrenzung zu den vermeintlich unqualifizierten Laien konstruierten professionellen Expertenrolle der Lehrer.172 Doch in den Debatten wird noch ein dritter Baustein deutlich: Ausgehend vom Argument, dass körperliche Strafen für das Kind selbst nützlich und notwendig seien, unterschied beispielsweise Dienstbier „echte Humanität“ und „falsche Humanität“. Letztere führe, indem sie „die entarteten und rohen Schüler in Schutz“ nehme, „schließlich zur größten Inhumanität und Roheit“.173 Der Wertbegriff „Humanität“, mit dem Schläge in der Schule aus Sicht ihrer Gegner unvereinbar waren, erfuhr hier eine Umdeutung: Während er „am Anfang des Jahrhunderts nur in erhabenen Sinn gebraucht“ worden war, wurde er nun zu einem gegen die Züchtigungskritiker gewendeten Kampfbegriff abgewertet174 – und dominierte in dieser diffamierenden Verwendung die Debatte der Lehrerschaft, die immer wieder vom „Humanitätsschwindel“,175 der „hyperhumanitären [. . . ] Zeitströmung“176 , von „Humanitätsschwärmern“177 und ihrer „krankhaften Empfindelei, die sich ‚Humanität‘ nennt, aber keine ist“178 , von „weinerlichen, vor lauter Humanität übersprudelnden Stubenpädagogen“179 und ähnlichen Varianten sprach. Hierbei handelte es sich nicht einfach nur um eine generelle Zurückweisung der als zu weich empfundenen Maßstäbe im „Jahrhundert der Humanität“,180 wie sie etwa der Lehrer zum Ausdruck brachte, der „unserem modernen verweichlichten Geschlechte ein Stahlbad für Kräftigung der Nerven“ empfahl.181 Vielmehr wurde die Ablehnung körperlicher Strafen aus Humanitätsgründen, 171 172
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Verhandlungen des Allgemeinen Deutschen Lehrertages zu Erfurt, S. 232. Vgl. zur wichtigen Rolle, die die Berufung auf die Pädagogik als „Grundlage und gesellschaftlich anerkannte Legitimation für die eigenverantwortliche Ausübung ihres Berufs“ für die sozialen Ambitionen der Lehrerschaft spielte, Becker/Kluchert: Bildung, S. 90. Dienstbier: Ausübung, S. 51. Scheibe: Strafe, S. 177. Vgl. zur Geschichte des Begriffs auch Bödeker: Menschheit; zur diffamierenden Verwendung: Helfer: Humanitätsduselei. Grube: Je nachdem, S. 86. Seitz: Züchtigungsrecht, S. 276. Gesell: Züchtigung, S. 13. Wander: „Prügelpädagogen“, S. 123. Sachse: Wort, S. 125. So die – ebenfalls in abwertender Absicht den Züchtigungskritikern zugeschriebene – Bezeichnung in: Die körperliche Züchtigung in der Volksschule, in: ADLZ 28 (1876), S. 275–277, Zitat S. 276. Gesell: Züchtigung, S. 15.
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wenn sie etwa als „unpädagogische Übertreibung“ oder als Idee von „humanisierenden Stubenpädagogen“182 bezeichnet wurde, immer wieder als erzieherische Inkompetenz beschrieben. Lehrer stellten der (vermeintlich) weltfremden, unpädagogischen Perspektive der Züchtigungsgegner ihren eigenen realistischen, die (vermeintliche) Notwendigkeit von Härte in der Erziehung erkennenden Blick gegenüber – und konstruierten damit letzteren als ein Merkmal professioneller Erzieher. Auf dieser Grundlage konnte ein Lehrer 1899 gar den Verzicht auf Strafen als (erzieherische) Vernachlässigung des Kinds werten, wenn er von „solche[n] in der Zucht von Haus aus vernächlässigte[n] Kinder, die vorsätzlich aus purer Affenliebe keinen Schlag bekommen“ sprach.183 Der hier verwendete Begriff der „Affenliebe“ ist in Erziehungsratgebern der Zeit und beispielsweise auch in den von Katharina Rutschky zusammengestellten Texten der „Schwarzen Pädagogik“ als typische Diffamierung angeblich verzärtelnder mütterlicher Zuwendung zu finden.184 Er kann ebenfalls als ein Abgrenzungsmechanismus gesehen werden, mit dem erzieherische Professionalität im Kontrast zu vermeintlichen Laien, hier insbesondere Müttern, konstruiert wurde. Es lässt sich also festhalten, dass Lehrer in den Debatten zu körperlichen Strafen immer wieder auf verschiedene Arten betonten, dass sie (durch Praxiserfahrung, Rezeption aktueller pädagogischer Wissenschaft und Verzicht auf ‚übertriebene Humanität‘) über erzieherisches Fachwissen verfügten, das Nichtlehrern fehlte. „Entwicklung und Verwertung beruflichen Fachwissens“ wiederum wertet Douglas R. Skopp in seiner Untersuchung des Professionalisierungsprozesses der Lehrerschaft als eine der drei (von insgesamt sechs) von ihm aufgestellten „Kennzeichen einer akademischen Profession“, die Volksschullehrer Ende des 19. Jahrhunderts erreicht hatten.185 Zu den (noch) nicht vorhandenen Professionsmerkmalen rechnet Skopp dagegen die „Macht über Klienten [v. a. Staat und Kirche] d. h. die Bereitschaft der Klienten, sich der Sachkenntnis des Akademikers zu beugen“. Zwar waren Volksschullehrer noch keine Akademiker und der Staat für sie eben nicht „Klient“, sondern Dienstherr, von dem sie stark 182 183 184
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Scholz: Züchtigungsrecht, S. 186. Germania Nr. 130 vom 10.6.1899, 1. Blatt, S. 2. Vgl. Höffer-Mehlmer: Elternratgeber, S. 104 f.; Kay: How Should We, S. 111–117; Rutschky, S. 24. Kay betont ebenfalls die Selbstpräsentation der Ratgeberautoren als Experten, während Rutschky den ‚Affenliebe‘-Vorwurf eher psychoanalytisch deutet als Versuch männlicher professioneller Erzieher, die enge Mutter-Kind-Beziehung aus „eifersüchtiger Angst“ zu zerstören. Skopp: Sprosse, S. 385 und S. 402. Anwendbarkeit und Definition des ursprünglich auf freie Berufe bezogenen Professionalisierungsbegriffs sind in Geschichtswissenschaft und Pädagogik umstritten (strikt ablehnend etwa Wehler: Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 1197; vgl. auch Moderow: Volksschule, S. 18, Fn. 20). In unserem Zusammenhang ist die Frage, inwieweit für den Lehrerberuf von einer tatsächlichen Professionalisierung gesprochen werden kann, allerdings eher zweitrangig, entscheidender sind die zweifellos vorhandenen Bemühungen der Volksschullehrer in diese Richtung.
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abhängig waren, sodass eine solche „Macht“ kaum eine realistische Perspektive war. Doch strebten Lehrer zumindest in diese Richtung, wenn sie eine stärkere Anerkennung und die Gewährung größerer Selbstständigkeit bei der Ausübung ihres Berufs zu erreichen suchten. Voraussetzung hierfür war aber, dass ihr Anspruch auf Sachkenntnis, auf Wissensvorsprung in Erziehungsfragen akzeptiert wurde. Betrachtet man die Debatten über körperliche Strafe vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zur Professionsbildung, so wird ein in zwei Richtungen laufender Prozess deutlich: Einerseits – und naheliegenderweise – beriefen sich Lehrer auf ihren Expertenstatus, um ihrer Position zu körperlichen Strafen mehr Gewicht zu verleihen. Andererseits aber wurde, wie oben gezeigt, dieser Anspruch auf Expertenstatus zum Teil gerade erst durch die Abgrenzung von ‚Humanitätsschwärmern‘ und ‚Stubenpädagogen‘ konstruiert. Die Debatte um ein Züchtigungsverbot war zwar sicher nicht das wichtigste, aber doch ein Feld, auf dem Lehrer ihre Professionalität in Erziehungsfragen demonstrieren und verteidigen konnten. Es gilt somit Deppisch/Meisingers Feststellung: „Die theoretische Auseinandersetzung des Lehrerstandes um das Problem ‚Disziplin‘ ist also ein professionsbildendes Moment.“186 Diese Aussage bezieht sich zwar ursprünglich auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts und auf die Selbstverständigung der Lehrerschaft zum Thema; sie lässt sich aber auch auf das Ende des Jahrhunderts übertragen, als dieser Prozess quasi seine Fortsetzung fand, indem der interne Aushandlungsprozess durch ein offensiveres Vertreten der Position und somit Abgrenzung nach außen abgelöst wurde.187 Die Spannung zwischen Argumenten vom ‚grünen Tisch‘ und den sich auf Erfahrung berufenden Erziehungspraktikern und der dahintersteckende Streit um die Deutungshoheit ziehen sich, wie spätere Kapitel zeigen werden, wie ein roter Faden durch die Debatten um körperliche Strafen. Ähnliches gilt für das Problem der Rechtsunsicherheit, das in den 1950er Jahren von den Lehrern kaum weniger dringlich empfunden wurde als ein knappes Jahrhundert zuvor und das erst mit dem völligen Verbot körperlicher Schulstrafen eine eindeutige Lösung fand. Allerdings soll nicht verschwiegen werden, dass gerade diese Lösung der Rechtsfrage bereits ab der Jahrhundertwende auch von Lehrern diskutiert wurde. So äußerte ein Mitglied der Rechtsschutzkommission des Deutschen Lehrervereins 1901, falls keine Änderung der Rechtslage zu erreichen sein sollte, sei die
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Deppisch/Meisinger: Stand, S. 359. Nach Skopp (S. 385) könnte man den von Deppisch/Meisinger beobachteten Prozess als Beispiel für die Professionalisierungsmerkmale „berufliche Subkultur“ und „Entwicklung und Verwertung beruflichen Fachwissens“ werten. In den 1870er Jahren ginge es demnach um die öffentliche Anerkennung dieses Fachwissens und das Erlangen von, wenn nicht Autorität über, so doch größere Selbstständigkeit gegenüber „Klienten“.
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Aufhebung des Züchtigungsrechts „eine Wohlthat für den Lehrerstand; denn derselbe hat nicht die Verpflichtung, ‚auf eigene Rechnung und Gefahr‘ unbotmäßige Burschen eine starke Hand fühlen zu lassen“.188 In der Formulierung wird deutlich, dass der Verfasser körperliche Strafen ganz im Einklang mit den oben dargestellten pädagogischen Positionen der Lehrerschaft als sinnvolles Erziehungsmittel betrachtete. Dass der Verzicht auf körperliche Strafen als Drohung verwendet werden konnte, wird besonders deutlich am Beispiel eines im Raum Kassel wegen Züchtigungsrechtsüberschreitung angeklagten Lehrers, der aussagte: „In Zukunft werde ich [. . . ] von diesem Rechte überhaupt keinen Gebrauch mehr machen. Für die Folgen bin ich nicht verantwortlich.“189 Auch als ein Lehrer 1891 in der Leipziger Zeitschrift Neue Bahnen seine Kollegen aufforderte, auf das Züchtigungsrecht zu verzichten, hielt er es für gut möglich, dass daraufhin Eltern oder Schulbehörden bald auf die Wiedereinführung körperlicher Schulstrafen drängen würden (was die Lehrer dann erfüllen sollten, „um den Eltern und der Menschheit überhaupt einen Dienst zu erweisen“).190 So paradox es klingen mag: Diese Art von Abschaffungsforderungen ist eher ein Beleg für die Selbstverständlichkeit, mit der Lehrer körperliche Strafen als ein legitimes und an sich notwendiges Erziehungsmittel betrachteten.191 Dennoch kann man die Tatsache, dass ein Verbot körperlicher Strafen überhaupt denkbar erschien (bezeichnenderweise wurde dieser Gedanke – im Gegensatz zum individuellen Verzicht auf Körperstrafen – in den 1870er und 1880er Jahren noch nicht geäußert) als einen ersten Hinweis für einen sich abzeichnenden Wandel in der Debatte der Lehrerschaft sehen. Bevor jedoch dieser um 1900 beginnenden Entwicklung nachgegangen wird, soll zunächst eine Art „Bestandsaufnahme“ für die Position der Lehrer um die Jahrhundertwende versucht werden – und gleichzeitig eine in den bisherigen Kapiteln vernachlässigte Gruppe von Akteuren in
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Das Züchtigungsrecht – eine Kalamität (Aus den Erfahrungen der RechtsschutzKommission des Deutschen Lehrervereins), in: Pädagogische Reform 25 (1901), Nr. 31 (Rechtsbeilage). B. an Amtsgericht Hofgeismar, 2.1.1888, HStAM 274 Kassel 254, Bl. 15. F. W. Krause, Weg mit dem Züchtigungsrechte!, in: Neue Bahnen 2 (1891), S. 181–187, Zitat S. 187. So führte Therese Wilhelm 1911 die große Mehrheit der züchtigungsrechtskritischen Äußerungen von Lehrern auf solche rein pragmatischen Gründe zurück: „Die Lehrer wollen lieber ein notwendiges Zuchtmittel ganz preisgeben, als den ganzen Stand durch die so häufige Verurteilung der Volksschullehrer wegen Überschreitung des Züchtigungsrechtes um seine ganze Autorität bringen zu lassen.“ Wenn Lehrer sich für eine Abschaffung aussprächen, geschehe dies meist „mit der Erklärung, daß in diesem Falle jede Verantwortung für die Erziehung und das Wissen des einzelnen Kindes abgelehnt werden müsse“ (Erziehungsfaktor?, S. 32). Noch 1923 setzte Karl-Otto Beetz seinen Verweis auf „eine sehr starke, auf Beseitigung der Prügelstrafe gerichtete Bewegung“ in der Lehrerschaft in Zusammenhang mit der rechtlichen Problematik (Führer, S. 420).
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2. „Prügelpädagogik“ gegen „Humanitätsduselei“ – Debatten bis 1900
den Blick genommen werden, nämlich die Schulbehörden. Auf beide Aspekte werfen die Ereignisse in Preußen 1899 ein repräsentatives Schlaglicht.
2.4 Fallbeispiel Preußen 1899 – die Grenze des Durchsetzbaren Der Ministerialerlass vom Mai 1899
Das preußische Kultusministerium hatte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts kaum in die Debatte um körperliche Strafen eingegriffen. Zwar hatten einzelne Regierungsbezirke das Züchtigungsrecht mehr oder weniger detailliert durch Verfügungen geregelt,192 das Ministerium selbst hatte dagegen keine Bestimmungen oder Einschränkungen erlassen. Im Gegenteil: Nachdem die Gerichte dazu übergegangen waren, Vorschriften der Schulverwaltung strafrechtliche Bedeutung zuzugestehen, hatte der Kultusminister interveniert, um bei weniger schwerwiegenden Fällen „die Lehrpersonen davor zu schützen, daß sie [. . . ] der gerichtlichen Verfolgung ausgesetzt werden, mit den sich an dieselbe anknüpfenden mißlichen Folgen“.193 Gut zehn Jahre (und zwei personelle Wechsel) später veränderte das Ministerium, nun unter Robert Bosse,194 die Rechtslage zu körperlichen Strafen erneut – dieses Mal jedoch in eine gänzlich andere Richtung, veröffentlichte es doch einen Erlass, der „körperliche Züchtigung so gut wie unmöglich“ machte.195 Der Ministerialerlass vom 1. Mai 1899 betonte zwar zunächst: „Die Befugnis der Lehrer, erforderlichenfalls auch körperliche Strafen anzuwenden, soll nicht bestritten werden.“196 Allerdings sollten Körperstrafen „nur im äußersten Falle“, wenn andere Strafarten erfolglos waren oder „bei besonders schweren 192
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Die wohl strengsten Einschränkungen bestanden dabei in Königsberg, wo Schläge laut einer ins Jahr 1845 zurückgehenden, 1870 wiederholten und erweiterten Verordnung ausschließlich mit einer „aus dünnen Zweigen geflochtenen Ruthe in die flache Hand“ erlaubt waren, normalerweise nach Unterrichtsende ausgeführt werden sollten und stets unter Angabe des Grundes ins Klassenbuch eingetragen werden mussten (264. Körperliche Züchtigung der Schulkinder, in: Zentralblatt 12 (1870), S. 744–751, Zitat S. 750). Handhabung des Züchtigungsrechtes seitens der Lehrer, in: Zentralblatt 31 (1889), S. 265– 266. Vgl. auch S. 37 dieser Arbeit. Mehrere Quellen berichten, dass der von Unterstaatssekretär Robert v. Bartsch unterzeichnete Erlass vom 1.5.1899 „ohne Zutun und in Abwesenheit des Kultusministers Dr. Bosse ausgefertigt“ worden sei (Beetz: Führer, S. 421), vgl. auch: Zum Bosseschen Züchtigungserlass, in: Pädagogische Zeitung 30 (1901), S. 786. So die – nur wenig übertriebene – Formulierung von Deppisch/Meisinger: Stand, S. 363. Verhütung von Überschreitungen des Züchtigungsrechtes in den Schulen, in: Zentralblatt 41 (1899), S. 507–510, dieses und die folgenden Zitate S. 508.
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2.4 Fallbeispiel Preußen 1899 – die Grenze des Durchsetzbaren
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Vergehungen“ vorkommen. Lehrer wurden aufgefordert, von solchen seltenen Ausnahmefällen abgesehen, körperliche Züchtigungen möglichst „überhaupt nicht anzuwenden“.197 Im Gegensatz zur im letzten Kapitel vorgestellten Position der Lehrerschaft ging das Ministerium davon aus, dass der weitgehende Verzicht auf Körperstrafen möglich sei. Denn das geforderte Aufrechterhalten „fester Zucht und Ordnung“ sei eben nicht durch harte Strafen, sondern dank „der ganzen Persönlichkeit und Amtsführung des Lehrers“ zu erreichen: „Wo der religiös-sittliche Charakter des Lehrers, seine gewissenhafte Pflichterfüllung, seine ernste und zugleich liebevolle Behandlung der Kinder, sein gediegener Unterricht die Schuljugend mit Achtung und Liebe gegen den Lehrer erfüllt“, gebe es erfahrungsgemäß fast keinen Anlass zu körperlichen Strafen. Es blieb nicht bei der bloßen Nennung des Erwünschten, sondern das Ministerium traf konkrete Maßnahmen, um die Häufigkeit körperlicher Strafen zu reduzieren: Der Erlass legte fest, dass nur nach Einwilligung des Schulleiters bzw., wenn dieser an kleineren Schulen nicht vorhanden war, des Schulinspektors körperlich gestraft werden durfte. Nur wenn dies „durch die örtlichen Verhältnisse erschwert oder verhindert wird“, konnte das vorherige Einverständnis durch eine nachträgliche Mitteilung ersetzt werden (allerdings nicht bei noch provisorisch angestellten Junglehrern). Diese Regelungen bedeuteten in der Praxis, dass körperliche Strafen massiv erschwert waren – denn das nötige Einholen der Zustimmung nahm den Strafen gerade die Unmittelbarkeit, die viele Lehrer als für den pädagogischen Erfolg nötig erachteten. Gerade an Schulen ohne Leiter, bei denen die Erlaubnis beim Schulinspektor eingeholt werden musste, war dieses Vorgehen mit erheblichem Aufwand verbunden und kaum praktikabel. Insofern kam der Erlass einem Verbot körperlicher Strafen wesentlich näher, als es auf den ersten Blick scheinen könnte. Hatte das preußische Kultusministerium also die Sichtweise der im vorletzten Kapitel vorgestellten Züchtigungsgegner übernommen? Eher nicht, denn während sich die Gegner körperlicher Strafen in den öffentlichen Debatten auf Werte wie Humanität, Menschenwürde oder Ehre bezogen sowie die negativen Folgen für die Entwicklung des Kindes ins Feld führten, ging die Begründung des Ministerialerlasses in eine ganz andere Richtung: Als Anlass für die neuen Vorschriften wurden „einige in neuerer Zeit vorgekommene Fälle von Ausschreitungen bei Bestrafung von Schulkindern“ genannt.198 Auch die Beschränkung körperlicher Strafen auf Ausnahmefälle war nicht Selbstzweck, sondern erfolgte aus der Überlegung, dass so „Überschreitung des Züchtigungsrechtes und ungehörige Anwendung körperlicher Strafen vermieden“ würden. Der Erlass steht also eher in der Tradition von älteren, durch niedere Behörden erlassenen Vorschriften zum Züchtigungsrecht, wie auch durch die Formulierungen „Es wird aufs neue nachdrücklich einzuschärfen 197 198
Ebd., S. 509. Dort auch die folgenden Zitate. Ebd., S. 508.
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2. „Prügelpädagogik“ gegen „Humanitätsduselei“ – Debatten bis 1900
sein“ und „Es ist [. . . ] aufs neue ernstlich daran zu mahnen“ ausdrücklich hervorgehoben wird. Dass es hierbei weniger um pädagogische Fragen ging, sondern in erster Linie um das Verhindern von Misshandlungen und Ausschreitungen bei der weit verbreiteten Praxis körperlicher Strafen, zeigt die lange Aufzählung verbotener Praktiken, vom Schlagen mit Büchern oder Linealen bis zum „Zerren und Schütteln der Kinder“. Auch der Schlusssatz des Erlasses steht in dieser Tradition: „Es müssen die Eltern das Vertrauen zur Schule haben können, daß ihre Kinder unbedingt vor ungehörigen Strafen bewahrt sind und, wenn auch in fester Zucht gehalten, eine liebevolle, väterliche Behandlung erfahren.“ Der Erlass sollte also in erster Linie eine gewisse Rechtssicherheit für die Eltern (nicht die Kinder selbst) schaffen. Entstehung und Hintergrund
Diese Intention des Erlasses ist auch durch dessen Entstehungszusammenhang zu erklären: Bei den als Anlass genannten Einzelfällen aus „neuerer Zeit“ dürfte es sich, so die zeitgenössische Vermutung einer Zeitung, vor allem um zwei Skandale handelte, die „hochgehende Beunruhigung in der öffentlichen Meinung“ ausgelöst hatten.199 Der erste hatte sich bereits 1897 in Schöneberg (bei Berlin) zugetragen, wo ein Junge an einer Bauchfellentzündung gestorben war, kurz nachdem ihn sein Lehrer bäuchlings auf eine Schulbank gelegt und auf den Hintern geschlagen hatte, wobei ärztliche Gutachten zu unterschiedlichen Aussagen über einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Züchtigung und dem Tod des Schülers kamen. Das Schöneberger Tageblatt hatte den Fall zum Anlass genommen, kritisch über die gesamte Strafpraxis an den örtlichen Schulen zu berichten und dem Rektor mangelndes Eingreifen vorzuwerfen. Dies wiederum führte zu Beleidigungsklagen der Kritisierten gegen die Redakteure und Verfasser der Artikel (wogegen eine Anklage des Lehrers wegen Körperverletzung von der Staatsanwaltschaft abgelehnt worden war) – und in Form dieser sich über mehrere Jahre und Instanzen hinziehenden Prozesse war „die „Schöneberger Schulaffäre“ bis in den März 1899 in der Berliner Presse äußerst präsent.200 In dem anderen Züchtigungsprozess, der im Frühjahr 1899 die Zeitungen beschäftigte, war kein Lehrer, sondern eine katholische Ordensschwester angeklagt, die als Erzieherin in einem Waisenhaus einen Jungen mit zahlreichen (je nach 199 200
Das Züchtigungsrecht der Lehrer, in: Berliner Tageblatt Nr. 277 vom 3.6.1899, S. 2. Vgl. etwa: Die Schöneberger Schulaffäre, in: Berliner Tageblatt Nr. 159 vom 27.3.1899; Die Schöneberger Schulaffäre, in: Volks-Zeitung Nr. 147 vom 28.3.1899, Beiblatt, S. 1. Die Redakteure wurden schließlich freigesprochen (vgl. Volks-Zeitung Nr. 8 vom 6.1.1900, Beiblatt, S. 1 f.), im Jahr 1900 kam es außerdem zu einem Prozess gegen den Lehrer, der aber ebenfalls mit Freispruch endete (vgl. Volks-Zeitung Nr. 282 vom 20.6.1900, Beiblatt, S. 1; das Urteil ist abgedruckt in Müller: Lehrer, S. 71–74).
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Aussage ca. 20 bis 59) Stockschlägen hatte bestrafen lassen. Auch dieser Prozess ging über zwei Instanzen (die beide die Angeklagte freisprachen) und sorgte so dafür, dass die Frage, wie weit Erzieher bei Körperstrafen gehen durften, über längere Zeit in der Presse präsent war.201 Außerdem brachte im Frühjahr 1899 die polnische Fraktion im preußischen Abgeordnetenhaus einen Antrag auf Verbot oder zumindest Einschränkung des Züchtigungsrechts ein.202 Auch hier wurde nicht die Berechtigung körperlicher Strafen an sich verneint, sondern der Abgeordnete Motty lobte verschiedene bestehende Verordnungen, die „in humaner Weise“ beispielsweise Schläge mit einer Rute oder einem dünnen Stöckchen erlaubten, solange sie nur als letztes Mittel und mit dem Ziel der Besserung des Schülers angewendet wurden.203 Die Kritik der polnischen Abgeordneten bezog sich vielmehr darauf, „daß die körperliche Züchtigung vielfach in Mißhandlung ausgeartet ist, welche gerade in der neuesten Zeit einen Höhepunkt erreicht hat.“ Einige besonders drastische Beispiele für solche Misshandlungen, die in einem Fall sogar zum Tod des geschlagenen Schülers geführt hatten, wurden nicht nur in der Parlamentssitzung geschildert, sondern hatten bereits zuvor in den lokalen Zeitungen für Aufsehen gesorgt. Dass es gerade die polnischen Abgeordneten waren, die Fälle von Überschreitung des Züchtigungsrechts in ihren Heimatprovinzen anprangerten, war kein Zufall, denn dort wies die Frage der ‚Schuldisziplin‘ eine besondere Problematik auf: Die von Preußen betriebene Germanisierungspolitik in den polnischen Provinzen barg beträchtliches Konfliktpotenzial für den Unterrichtsalltag der Volksschule, etwa wenn Deutsch als Unterrichtssprache gegen den Willen von Eltern und Schülern durchgesetzt werden sollte. Zwar hatte zu Beginn der 1890er Jahre eine Entspannung und Milderung der antipolnischen Sprachenpolitik der vorherigen beiden Jahrzehnte eingesetzt, um die Jahrhundertwende kam es jedoch wieder zu einer Verschärfung. So wurden Versuche, deutschsprachigen Religionsunterricht durchzusetzen, 1901 und 1906 mit massiven Protestbewegungen und Schulstreiks beantwortet.204 Diese sich zuspitzenden sprachlichen 201 202
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Vgl. u. a. Volks-Zeitung Nr. 105 v. 3.3.1899 (S. 1) und Nr. 173 v. 14.4.1899 (S. 1). Der Antrag forderte, die existierenden Vorschriften zum Thema den Volksschullehrern „erneut zur gewissenhaften Beachtung einzuschärfen und deren Verfolgung durch die Schulaufsichtsorgane streng überwachen zu lassen, auch ferner in Erwägung zu ziehen, ob die Anwendung körperlicher Strafmittel seitens der Lehrer durch eine anderweitige gesetzliche Regelung überhaupt nicht zu untersagen oder wenigstens bedeutend einzuschränken wäre“, Berliner Tageblatt, Parlaments-Ausgabe, Nr. 285a vom 8.6.1899, S. 1. Preußisches Abgeordnetenhaus, Stenographischer Bericht, 19. Wahlperiode, 71. Sitzung v. 7.6.1899, S. 2275. Dort auch das folgende Zitat. Vgl. hierzu: Born: Preußen, S. 42–53; Balzer: Polenpolitik, S. 152–179. Vor allem im Zusammenhang mit Schulstreiks wurden immer wieder auch die körperlichen Strafen, mit denen Lehrer versuchten, Schulbesuch und deutsche Unterrichtssprache durchzusetzen, kritisiert. Diese Debatten werden im weiteren Verlauf dieser Arbeit allerdings ausgeblendet,
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2. „Prügelpädagogik“ gegen „Humanitätsduselei“ – Debatten bis 1900
und nationalen Konflikte prägten bereits 1899 als Hintergrund die Debatte im Abgeordnetenhaus.205 Es kann offenbleiben, ob der Antrag der polnischen Abgeordneten tatsächlich den Erlass des Kultusministeriums oder zumindest dessen Veröffentlichungszeitpunkt beeinflusste, wie dies ein konservativer Abgeordneter mit dem Hinweis nahelegte, die kurz vor der Parlamentsdebatte bekannt gewordene Vorschrift sei „wohl geeignet, dem Antrag Motty vollständig den Wind aus den Segeln zu nehmen“.206 Auf jeden Fall führte das zeitliche Zusammentreffen dazu, dass die Parlamentsdebatte über den polnischen Antrag am 7. Juni 1899 sich zum Teil in eine Diskussion der Neuregelungen des Züchtigungsrechts verwandelte. Reaktionen im Abgeordnetenhaus
Diese Neuregelung erklärte der Vertreter des Ministeriums im Abgeordnetenhaus mit dem Verweis auf Misshandlungsfälle wie die oben geschilderten: Ziel sei, „der Beunruhigung, welche durch diese einzelnen Fälle hervorgerufen worden war, und die durch eine ganz unnötige Aufbauschung in der Presse (sehr richtig! rechts) noch zu größerem Umfange angewachsen war, [. . . ] entgegen zu treten.“207 Hier bestätigt sich, was schon zu Beginn anhand des Erlasstextes festgestellt wurde: Die Intention des Ministeriums richtete sich weniger gegen körperliche Strafen an sich als gegen deren Ausarten in Misshandlung (wobei die Grenze zur „Überschreitung“, abgesehen von den zum Schlagen verwendeten Werkzeugen, weitgehend undefiniert blieb). Andererseits ging der tatsächliche Inhalt des Erlasses doch deutlich über die vom Kultusministerium beteuerte Absicht hinaus, er habe „nichts weiter bezweckt, als das bestehende Verwaltungsrecht den Behörden noch einmal in Erinnerung zu bringen“: Dass vor einer körperlichen Strafe die Erlaubnis des Schulleiters eingeholt werden musste, war für den größten Teil Preußens eben kein bereits bestehendes Verwaltungsrecht, sondern eine qualitativ neuartige Einschränkung. Und auch wenn der Erlass kaum die pädagogischen und idealistischen Argumente der Züchtigungsgegner aufgriff, enthielt er dennoch eine zumindest implizite pädagogische Botschaft: Die Aussage, dass ein Lehrer bei guter Unterrichtsweise körperliche Strafen nur in sehr seltenen Ausnahmefällen brauche, stand im deutlichen Widerspruch zu der in
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da hier kaum eine klare Abtrennung von Einstellungen zu Körperstrafen einerseits und nationalen, sprachlichen oder konfessionellen Konfliktlinien andererseits möglich ist. Vgl. den Verweis des Abgeordneten Motty auf die Sprachproblematik als Ursache für Überschreitungen des Züchtigungsrechts. Preußisches Abgeordnetenhaus, 71. Sitzung v. 7.6.1899, Stenographischer Bericht, 19. Wahlperiode, S. 2278. Abg. v. Willisen (kons.), ebd., S. 2282. Regierungskommissar von Bremen, ebd., S. 2279. Dort auch das folgende Zitat.
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der Lehrerpresse dominierenden Position. Zudem konnte sie von allen häufiger schlagenden Lehrern als Angriff verstanden werden, sprach sie ihnen doch im Umkehrschluss die pädagogische Qualifikation ab. Somit ist es nicht erstaunlich, dass der Erlass bei Lehrern, aber auch in der Öffentlichkeit auf starke Kritik stieß. Dies wurde bereits in der Parlamentsdebatte über den Antrag der polnischen Abgeordneten deutlich. Der Zentrumsabgeordnete Adalbert Geisler, ein Hauptlehrer, verteidigte allgemein die Notwendigkeit des Züchtigungsrechts: Er beteuerte zwar, „kein Freund des Prügelns“ zu sein, wandte sich aber gegen die „falsch[e] Gefühlsduselei“, die durch Abschaffung sämtlicher Körperstrafen „der Zuchtlosigkeit Thür und Thor“ öffnen würde.208 Geisler nahm damit aber allein gegen den polnischen Antrag auf starke Einschränkung körperlicher Strafen Stellung, nicht gegen den Erlass des Kultusministeriums. Diesen kritisierten dafür die in der Debatte folgenden Redner umso heftiger: Für den konservativen Abgeordneten von Willisen liefen die Formulierungen des Erlasses auf eine Forderung nach vollständigem Verzicht auf körperliche Strafen hinaus – und dieser sei unmöglich. Die vorgeschriebene Rücksprache mit Schuldirektor oder Schulinspektor zog er ins Absurd-Lächerliche, indem er Verwunderung ausdrückte, „daß nicht gesagt worden ist: der Junge muß auch zugezogen werden und gefragt werden, ob er denn wirklich Prügel verdiene!“209 Auch ein zweiter Redner des Zentrums, der Lehrer Hubert Sittart, bezeichnete die Verordnung als „verfehlt“, da sie das Züchtigungsrecht „in ungesunder Weise“ einschränke. Er beschrieb körperliche Strafen als notwendigen Teil einer „väterlichen“ Behandlung des Kindes, als Voraussetzung, um die „Autorität der Lehrer zu wahren, damit nicht später so viele Fälle vorkommen, in denen man sich sagen muß: es wäre besser gewesen, wenn der Junge in früheren Jahren etwas mehr Strafe erhalten hätte.“210 Ein Abgeordneter der freisinnigen Vereinigung (und Schuldirektor) bescheinigte dem Erlass immerhin, dass seine „pädagogische Grundlage [. . . ] zweifellos richtig“ sei, allerdings schieße er „weit über das Ziel hinaus“: Das Einholen der Erlaubnis vor einer körperlichen Strafe schaffe eine Wartezeit, die den pädagogischen Effekt zunichte mache, da der Schüler entweder den eigentlichen Grund für die Bestrafung vergesse oder aus Angst vor dem Folgenden unnötig leide. Somit wies auch dieser Redner den Erlass als „nicht in allen Theilen durchführbar“ zurück.211 Zusammenfassend gilt für die Debatte im Abgeordnetenhaus erstens: Alle Redner, selbst die eine Einschränkung fordernden polnischen Abgeordneten, gingen davon aus, dass körperliche Strafen zumindest als ‚letztes Mittel‘ gerechtfertigt sein konnten. Hier zeigt sich ein grundlegender Unterschied zur 208 209 210 211
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2. „Prügelpädagogik“ gegen „Humanitätsduselei“ – Debatten bis 1900
Argumentation der in Kapitel 2.2 vorgestellten Züchtigungsgegner, die körperliche Strafen grundsätzlich ablehnten und auch bestimmte Anlässe, eine seltene oder gemäßigte Ausführung nicht als Rechtfertigung gelten ließen. Alle nicht polnischen Redner gingen zweitens von den Positionen aus, die in Kapitel 2.3 als typisch für Lehrer und pädagogischen Mainstream aufgezeigt wurden, vor allem von der Notwendigkeit körperlicher Strafen zum Aufrechterhalten von Autorität und als Gegenmittel zur empfundenen Rohheit der Jugend. Die große Mehrheit der Redner griff den Erlass des preußischen Kultusministeriums auf dieser Grundlage als der Erziehung schädliche Einschränkung des Lehrerstrafrechts und/oder als praxisfremd an. Und drittens ist festzuhalten: Es waren mit einer Ausnahme Lehrer bzw. Schulleiter, die sich zum polnischen Antrag äußerten und so diese öffentlich-politische Debatte über körperliche Strafen dominierten. Reaktionen in der (Lehrer-)Presse
Mit ähnlichen Einwänden wie die im Abgeordnetenhaus sprechenden Schulmänner reagierte auch die Lehrerpresse auf den Erlass: Als einer „der schwersten Mißgriffe“ wurde er in der herbartianischen Zeitschrift Pädagogisches Archiv bezeichnet.212 Er nehme Lehrern die Selbstständigkeit und damit auch die Autorität, außerdem sei es „von geradezu beleidigender Art“, die Fähigkeiten der Lehrer als maßgeblich für die Schulzucht (und Grund für deren Defizite) darzustellen. Zudem sei es nun einmal Aufgabe der Schule, Erziehungsfehler der Eltern „durch eine straffe Zucht auszugleichen. Daß diese nicht immer ohne Rute zu erreichen ist, weiß selbst der gemeine Mann.“213 Auch die Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung lehnte den Erlass ab, da körperliche Strafen für die Schuldisziplin unverzichtbar seien: „Niemand wird den Lehrer loben, der bei jedem geringen Vergehen der Kinder gleich den Stock schwingt; aber als ultima ratio ist die Körperstrafe gewiß besser als tausend Strafpredigten.“214 Dagegen betonten die Pädagogische Reform und die Pädagogische Zeitung (das Organ des Deutschen Lehrervereins) das Ziel einer Reduktion oder gar Abschaffung körperlicher Strafen zu teilen.215 Allerdings waren sie deshalb kaum weniger kritisch gegenüber den neuen Bestimmungen des Kultusministeriums, 212 213 214 215
Eberstein: Züchtigung, S. 554. Ebd., S. 555. Rundschau, in: ADLZ 51 (1899), S. 269. „Die Lehrerschaft wird den Tag segnen, an welchem der baculus auf Nimmerwiedersehen aus der Schule verschwindet.“ (J. F.: Die Züchtigung in den Volksschulen, in: Pädagogische Reform 23 (1899), S. 197). Weniger negativ gegenüber körperlichen Strafen äußerte sich ein Artikel der Pädagogischen Zeitung 28 (1899), S. 417–420, aber auch für ihn konnte es „keine Frage sein, daß die Lehrerschaft mit der Tendenz des Ministerialerlasses vom 1. Mai d. J. sympathisiert“ (S. 418). Vgl. für eine ähnliche Position – Übereinstimmung
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die aus Sicht beider Autoren diesem Ziel eher schadeten: Indem Lehrer Strafen nicht selbstständig, sondern nur nach Rücksprache mit dem Schulleiter verhängen sollten, werde ihre Autorität geschwächt – und diese verminderte persönliche Autorität müsse dann gerade mit härteren, auch körperlichen Strafen ausgeglichen werden. Nicht nur in Lehrerzeitschriften äußerten sich Lehrer zum Erlass. So druckte etwa die konservative Zeitschrift Der Türmer einen den Ministerialerlass scharf angreifenden Aufsatz eines anonym bleibenden Lehrers ab. Dieser betonte schon im Titel „Die Strafpflicht der Volksschullehrer“ die angebliche Notwendigkeit körperlicher Schulstrafen als Erziehungsmittel. Er argumentierte zudem mit der Autorität des Lehrers, die durch das Einholen einer Erlaubnis zu körperlichen Strafen geschmälert würde – was wiederum dem Erziehungsziel schade, „in scharfer Zucht den zukünftigen Bürger an Unterordnung und Gehorsam zu gewöhnen“.216 Auch in der katholischen Germania kamen Lehrer mehrfach zu Wort: Die Zeitung hatte schon den Abdruck des Erlasses äußerst negativ kommentiert und „in vielen pädagogischen Kreisen bedenkliches Kopfschütteln“ erwartet: „Es hat den Anschein, als ob im Cultusministerium jene vom falschen Humanismus getragene Anschauungen ganz und gar die Oberhand gewonnen hätten, von denen wir uns für die Zukunft der preußischen Volksschule nur die schlimmsten Erfahrungen versprechen.“217 In den nächsten Wochen druckte sie mehrfach Stellungnahmen von Lehrern ab, die den Erlass ablehnten und die Notwendigkeit körperlicher Strafen betonten: Diese seien unverzichtbar, „da erfahrungsgemäß andere Strafmittel bei solchen entarteten Schülern wenig fruchten“218 und die vom Erlass selbst geforderte gute Schulordnung nur mit Körperstrafen als „durchgreifendes Abschreckungs- und Besserungsmittel“ durchgesetzt werden könne.219 Weitere „Erwägungen eines praktischen Schulmannes“ erschienen einige Tage später auf der Titelseite. Sie setzten sich weniger mit den Inhalten der neuen Vorschriften auseinander, sondern sahen sie eher als Symptom für ein zunehmendes „Verfügungswesen“, das die Selbstständigkeit der Lehrer einschränke und sie von ihrer Schulgemeinde isoliere – aber auch diese etwas andere Perspektive führte zu einer deutlichen Ablehnung des Ministerialerlasses.220 Anfang Juli zitierte die Zeitung Berichte von Lesern über schulische Disziplinproble-
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mit dem Ziel des Erlasses bei, hier allerdings milder formulierter, Kritik an einzelnen Bestimmungen – Rademacher: Züchtigung. Die Strafpflicht der Volksschullehrer, in: Der Türmer 1 (1899), Bd. 2, S. 468–471, Zitat S. 470. Tagesübersicht, in: Germania Nr. 124 vom 3.6.1899, 3. Blatt, S. 1. Tagesübersicht, in: Germania Nr. 128 vom 8.6.1899, 2. Blatt, S. 1. Germania Nr. 130 vom 10.6.1899, 1. Blatt, S. 2. M: „Der Ministerialerlass über die körperliche Züchtigung in der Volksschule“, in: Germania Nr. 135 vom 16.6.1899, 2. Blatt, S. 1.
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me nach Bekanntwerden des Erlasses und kombinierte dies mit Aussagen von Kreisschulinspektoren, die körperliche Strafen als unentbehrlich beschrieben und sich gegen die neue Vorschrift aussprachen.221 Auch die konservative „Kreuzzeitung“ (Neue Preußische Zeitung) lehnte den Erlass als unbegründet ab, denn „es wird in unseren Schulen sehr viel weniger geprügelt, als vielfach unter dem Einfluß einer übertriebenen Gefühlsseligkeit angenommen wird“.222 Auch schade das Einholen der Erlaubnis vor einer Züchtigung sowohl der Autorität des Lehrers als auch der Wirksamkeit der Strafe. Hier kamen zwar keine Lehrer direkt zu Wort, aber sie wurden dennoch zumindest indirekt als Autoritäten zitiert, wenn der Artikel am Ende auf Volksschullehrer verwies, die selbst keine körperlichen Strafen anzuwenden bräuchten und dennoch von deren grundsätzlicher Berechtigung in der Schule überzeugt seien. Die Kreuzzeitung bemerkte außerdem, der Erlass habe „die Zustimmung der freisinnigen Presse gefunden“. Das ist zumindest in Bezug auf die erste Reaktion Anfang Juni durchaus richtig: So lobte etwa die nationalliberale Kölnische Zeitung Anfang Juni in ihrem lokalen Ableger, dem Kölner Stadtanzeiger, den „sehr dankenswerten Erlaß“, der „einer Forderung der öffentlichen Meinung in erfreulicher Weise entgegen kommt“.223 Einige Tage später betonte sie zwar einerseits immer noch, der Erlass habe „allgemeine Zustimmung gefunden“. Gleichzeitig aber veröffentlichte sie eine Zuschrift eines Lehrers, der befürchtete, der Erlass könne Lehrkräfte „veranlassen, lieber auf dieses Strafmittel zu verzichten, auch wenn es gegebenenfalls zur Besserung des Schülers als das einzig richtige erscheinen sollte“.224 Das Unterlassen einer vermeintlich ‚notwendigen‘ Körperstrafe erscheint hier also, wenn auch nur implizit, als größere Gefahr als das Schlagen ohne hinreichenden Anlass, dem der Erlass vorbeugen wollte. Die Kölnische Zeitung kommentierte, die Zuschrift richte sich „zu Recht“ gegen die Bestimmung des Erlasses, die Körperstrafen von der Erlaubnis des Schulleiters abhängig machte. Auch im Berliner Tageblatt, einer „der bedeutendsten linksliberalen Zeitungen“ des Kaiserreichs,225 wich eine zunächst neutral-positive Berichterstattung bei Bekanntwerden des Erlasses (die Zeitung bezeichnete die Verfügung Anfang Juni als „dankenswerth“226 ) im Laufe der Zeit kritischeren – also züchtigungs221
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Germania Nr. 150 vom 5.7.1899, 3. Blatt, S. 2. Vgl. auch den Bericht der Germania über eine Kreislehrerkonferenz, auf der sich vor allem die Lokalschulinspektoren und die Geistlichen scharf gegen den Erlass ausgesprochen hätten (Nr. 172 v. 30.7.1899, 1. Blatt, S. 1). Neue Preußische Zeitung Nr. 236 vom 3.6.1899, S. 1. Stadtanzeiger Nr. 249 vom 5.6.1899 (Sammlung Kölner Zeitungsausschnitte, II.32, 192). Das Strafrecht des Volksschullehrers, in: Kölnische Zeitung Nr. 445 vom 9.6.1899 (Sammlung Kölner Zeitungsausschnitte, II.33, 13). Dussel: Tagespresse, S. 95. Die positive Bewertung des Erlasses wurde in diesem Artikel nur dadurch eingeschränkt, dass die Zeitung in einer solchen Vorschrift ein Symptom dafür sah, dass „gewisse Miß-
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freundlicheren – Tönen, die nicht zuletzt in Zuschriften von Lehrern geäußert wurden.227 Ende Juli schließlich berichtete die Zeitung selbst, dass aufgrund der Berichterstattung über den Erlass einzelne Schüler geäußert hätten, ihr Lehrer dürfe sie nun nicht mehr schlagen – und kommentierte dies mit den Worten: „Wohin also der Erlaß führt, sehen wir hier im Kleinen [. . . ] Bei den furchtbaren Auswüchsen unserer Zeit, und diese zeigen sich auch in der Schule, kann der Lehrer ohne Züchtigungsmittel nicht fertig werden, wenn seine Autorität keinen Schiffbruch erleiden soll.“228 Das gleiche Muster von den Erlass begrüßendem redaktionellem Kommentar, dem kritische Zuschriften von Lehrern folgten, denen sich die Redaktion zumindest teilweise anschloss, lässt sich auch bei der liberalen Berliner Volks-Zeitung beobachten.229 Insofern wirkt das Fazit der Neuen Preußischen Zeitung, wenn auch von politischer Gegnerschaft beeinflusst, doch treffend: Sie bilanzierte, dass die freisinnige Presse den Erlass „anfangs mit Genugtuung begrüßt hat, schließlich aber mit Rücksicht auf die Stimmung der Lehrer in ihrer Beurtheilung wechselte.“230 Lediglich der sozialdemokratische Vorwärts bewertete den Erlass durchgängig als „sehr am Platze und [. . . ] der Zustimmung aller vernünftig denkenden Staatsbürger sicher“231 – ganz im Ein-
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stände in unseren öffentlichen Schulen“ vorhanden sein müssten (Das Züchtigungsrecht der Lehrer, in: Berliner Tageblatt Nr. 277 vom 3.6.1899, S. 2). So etwa ein Brief „aus Kreisen des höheren Lehrerstands“, laut dem „Furcht vor der Möglichkeit wirklich empfindlicher Strafe“ nötig sei, damit sich „die gegenwärtige Jugend, und nicht nur die der Volksschule, [. . . ] immer unter recht fester, ihrem Eigenwillen keine Chancen gebender Autorität fühlt“ (Nr. 362 vom 19.7.1899, S. 1). Dieser Position widersprach ein Arzt und Universitätsprofessor, der in seinem Leserbrief die dominante Rolle der Lehrerschaft in der öffentlichen Debatte direkt ansprach: „Es könnte danach fast scheinen, als ob sich die Allgemeinheit diesen Anschauungen anschlösse. Dem ist aber nicht so: Wenn man die Eltern fragt, so werden sie gewiß nur ihre volle Zustimmung der schrankensetzenden Verfügung geben. Die Lehrer sind eben Partei.“ Die Redaktion merkte zu letzterer Zuschrift zwar einerseits an, sie werde „in den vielen Kreisen unbedingt Zustimmung finden“, betonte aber andererseits, dass gerade in der Volksschule Körperstrafen ihrer Meinung nach nicht entbehrlich seien (Offener Sprechsaal, Nr. 382 vom 29.7.1899, S. 7). Berliner Tageblatt Nr. 367 vom 21.7.1899, S. 1. Vgl. die positive Bewertung etwa im Artikel „Ultramontane Prügelpädagogik“, in: VolksZeitung Nr. 256 vom 3.6.1899, S. 1, und die Zuschrift „Von einem Lehrer aus der Provinz Brandenburg“, Nr. 273 vom 14.6.1899, S. 2. Der Lehrer beschrieb körperliche Strafen als zumindest bei den bestehenden Klassengrößen unvermeidbar, die Redaktion stimmte ihm in Bezug auf die Kritik an den Verhältnissen in der Volksschule zu, betonte aber gleichzeitig, „daß die übergroße Mehrzahl der Lehrer selbst von keinem Rechte so ungern Gebrauch macht, als von den Züchtigungsrechte“, und hoffte auf baldige Überwindung dieser Strafart. Neue Preußische Zeitung Nr. 357 vom 2.8.1899, S. 2. Vernünftiges aus dem Kultusministerium, in: Vorwärts Nr. 127 v. 3.6.1899, S. 2. Vgl. auch: Christliche Pädagogik, in: Vorwärts Nr. 128 v. 4.6.1899, S. 3; Zum Anti-Prügel-Erlaß, in: Vorwärts Nr. 139 v. 17.6.1899, S. 2.
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klang mit der konsequenten Ablehnung körperlicher Strafen, die typisch für die bildungspolitischen Debatten der Arbeiterbewegung ist, wie in einem späteren Kapitel noch zu zeigen sein wird. Das positive Aufgreifen von Lehreraussagen in Zeitungen und die Debatte im preußischen Abgeordnetenhaus, bei der die große Mehrheit der sich äußernden Abgeordneten aus dem ‚Lehrerstand‘ kam, zeigt: Für die Kritik der Pädagogischen Zeitung, dass vor allem in der linksliberalen Presse oft „ein x-beliebiger, sonst vielleicht recht tüchtiger Redakteur und Litterat“ sich zu Schulthemen äußere, statt die (so der Subtext) eigentlich qualifizierten Lehrer zu befragen,232 mochte es vereinzelte Anlässe gegeben haben, so wie es eben auch vereinzelt positive Presseresonanz auf den Erlass gab. Dennoch war das Gesamtbild der öffentlichen Debatte im Jahr 1899 wie oben gezeigt ein anderes: Tatsächlich wurden Lehrer im Parlament wie auch in der Presse bereitwillig als Experten und Meinungsführer zum Thema akzeptiert. Ironischerweise dürfte gerade auch die Selbstinszenierung als nicht genug gehörte Praktiker zu diesem Status beigetragen haben. Das zeigt etwa der Türmer-Artikel mit seiner demonstrativen Unterschrift „von einem Mann der Praxis“ oder die Kritik der Germania, der Erlass habe „im Abgeordnetenhause von allen praktischen Pädagogen, welche Mitglieder des Landtags sind, einstimmige Mißbilligung erfahren, während derselbe von den unpraktischen ‚Pädagogen‘ der liberalen Presse bisher sehr gepriesen wurde.“233 Dass die – von den Lehrern in bemerkenswerter Einhelligkeit vertretene234 – Ablehnung des Erlasses in der öffentlichen Meinung schließlich klar dominierte, zeigt nicht zuletzt die Reaktion des Kultusministeriums. Überarbeitung des Erlasses 1899
Angesichts der lauten Kritik am Erlass vom Mai 1899 – Zeitungen berichteten gar, einzelne Bezirksregierungen hätten sich geweigert, den Erlass zu veröffentli232 233 234
Der Ministerialerlass über die körperliche Züchtigung in der Volksschule, in: Pädagogische Zeitung 28 (1899), S. 417–420, Zitat S. 420. Nr. 134 vom 15.6.1899, 1. Blatt, S. 1. Es soll nicht verschwiegen werden, dass auch Lehrer abweichende Einzelmeinungen äußern konnten – dies zeigt etwa ein Leserbrief von einem „älteren Volksschullehrer aus der Provinz“, der körperliche Strafen als vermeidbar und bei häufiger Anwendung verrohend ablehnte und deshalb den Erlass positiv bewertete (Volks-Zeitung Nr. 364 v. 5.8.1899, S. 1). Auch der Lehrer Carl Rademacher kritisierte nur einzelne Bestimmungen des Erlasses, der insgesamt aber „freudig begrüßt werden muß“ (Züchtigung, S. 9). Allerdings handelt es sich hierbei um Ausnahmen, die Gegner des Erlasses dominierten klar. So sprachen sich beispielsweise auch verschiedene Kreislehrerkonferenzen gegen die Vorschrift vom 1. Mai aus (vgl. für Kreis Köpenick: Berliner Tageblatt Nr. 327 v. 30.6.1899, S. 3; für Perleberg II: Neue Preußische Zeitung Nr. 347 v. 27.7.1899, S. 2; für Havelberg: Germania Nr. 172, 30.7.1899, 1. Blatt, S. 1).
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chen235 – sah sich das Kultusministerium zum Reagieren gezwungen. Ende Juli veröffentlichte es eine Präzisierung, die noch einmal betonte, daß die Befugnis der Lehrer, erforderlichen Falls auch körperliche Strafen anzuwenden, nicht in Frage gestellt werden soll. Es handelt sich lediglich darum, Vorsorge zu treffen, daß die Anwendung dieses letzten und äußersten Strafmittels durchaus auf die dafür geeigneten Fälle beschränkt bleibt und daß dabei jeder zu harten, lieblosen und inhumanen Behandlung vorgebeugt wird.236
Der Erlass ging davon aus, „daß eingewurzelter Roheit, unbeugsamen Trotze und ausgeprägter Faulheit gegenüber eine ernste Züchtigung nicht bloß dem betroffenen Schüler sondern auch als warnendes Beispiel seinen Mitschülern zum Segen sein kann“.237 Er betonte jedoch die Gefahren durch „eine gewohnheitsmäßige, auch bei geringen Verfehlungen oder gar bei Minderleistungen, die auf mangelnder Begabung der Kinder beruhen, erfolgende Anwendung empfindlicher körperlicher Züchtigungen“, die abstumpfend wirkten und „die sittliche Sphäre der Schule [. . . ] herabsetzen“. Der Erlass übernahm damit eine Grenzziehung zwischen legitimen und unangemessenen Strafen, die uns aus der theoretischpädagogischen Lehrmeinung der 1870er Jahre bereits bekannt ist – und die ganz im Gegensatz zur Position der sich auf Humanität berufenden Züchtigungsgegner impliziert, dass körperliche Strafen zumindest in bestimmten Fällen durchaus angemessene Erziehungsmittel sein können. Gegenüber dem Erlass vom Mai wurde die umstrittenste Vorschrift entschärft, indem die neue Verfügung ausdrücklich die Möglichkeit vorsah, die Erlaubnis zu körperlichen Strafen „gewissen unbotmäßigen Schülern gegenüber“ einmalig in allgemeiner Form und nicht vor jedem einzelnen Straffall einzuholen. Auch die Sonderregelung für Junglehrer wurde aufgehoben. Trotz dieser Anpassungen im Detail blieb die Veränderung doch so gering, dass beispielsweise die Berliner Volks-Zeitung, die sich grundsätzlich gegen Körperstrafen positionierte und die Verfügung vom Mai sehr begrüßt hatte, nun auch die zweite Version „im Wesentlichen mit Genugtuung“ zur Kenntnis nehme konnte.238 Umgekehrt reichten die Nachbesserungen allerdings auch nicht aus, um die Gegner des Erlasses zu besänftigen. Die Germania, die sich von allen untersuchten Zeitungen am intensivsten gegen die Vorschriften vom Mai ausgesprochen hatte, wertete die Abänderungen als „gewiß nur geringe Erleich-
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Bosse c/a. Bosse, in: Berliner Tageblatt Nr. 385 vom 31.7.1899, S. 1 (sowie Berliner Tageblatt Nr. 367 vom 21.7.1899); die Germania konkretisierte zudem, „daß einzelne Regierungen den Erlaß als unannehmbar bezeichnet haben“ (Vom Antizüchtigungserlaß, in: Nr. 165 vom 22.7.1899, 2. Blatt, S. 2). Verhütung von Überschreitungen des Züchtigungsrechtes in den Schulen, in: Zentralblatt 41 (1899), S. 670 f. Ebd., S. 671. Die körperliche Züchtigung in den Schulen, in: Volks-Zeitung Nr. 354 vom 31.7.1899, S. 1.
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terungen und Verbesserungen, welche gegenüber den am 1. Mai aufgestellten Grundsätzen nicht besonders schwer ins Gewicht fallen“.239 Nachdem im September 1899 das Kultusministerium an Conrad von Studt übergegangen war, wurden im Januar 1900 die Erlasse des Vorjahres wegen der „Schwierigkeiten und Bedenken“, denen sie begegnet waren, aufgehoben.240 Allerdings wies der neue Kultusminister gleichzeitig die Schulaufsichtsorgane an, auf eine maßvolle Anwendung körperlicher Strafen zu achten und diese insbesondere jungen Lehrern einzuschärfen. Vor allem aber wurden alle Lehrkräfte verpflichtet, „jede vollzogene Züchtigung nebst einer kurzen Begründung ihrer Notwendigkeit in ein anzulegendes Strafverzeichnis sofort nach der Unterrichtsstunde einzutragen“. Diese Strafverzeichnisse sollten regelmäßig von Schulleitern und -inspektoren kontrolliert werden; zudem sah der Erlass ausdrücklich die Möglichkeit vor, Lehrern, die diese Dokumentationspflicht vernachlässigten oder sich Misshandlungen oder wiederholte unangemessene Strafen zuschulden kommen ließen, das Züchtigungsrecht zu entziehen. Der Erlass schuf also keine neuen Regelungen zur Zulässigkeit körperlicher Strafen, versuchte aber auf verschiedenen Wegen, die Durchsetzung und Kontrolle der bestehenden sicherzustellen. Die Aufhebung der Erlasse von 1899 wurde in der Lehrerpresse begrüßt, ohne dass die dafür neu hinzugenommenen Kontrollmechanismen allzu heftig kritisiert worden wären.241 Auch von den Tageszeitungen wurde sie weitgehend neutral zur Kenntnis genommen, eine mit den kontroversen Stellungnahmen des Vorjahrs vergleichbare Debatte blieb aus.242 Somit können die preußischen Ereignisse von 1899/1900 als eine Art Grenzpfosten gedeutet werden, der markierte, welche Einschränkungen seitens der Schulbehörden durchsetzbar waren und welche nicht: Eine angekündigte strengere Kontrolle und Ahndung von Überschreitungen des Züchtigungsrechts durch die Schulaufsichtsbehörden wurde von den Lehrern weitgehend akzeptiert – trotz oder gerade wegen der unklaren Definition ebendieses Rechts und seiner Grenzen. Nicht durchsetzbar war dagegen eine Vorschrift, die den einzelnen Lehrer schon in seinen Entscheidungen
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Eine kleine Abänderung des Antiprügelerlasses, in: Germania Nr. 173 vom 1.8.1899, 1. Blatt, S. 1. Handhabung des Züchtigungsrechtes seitens der Lehrer und Lehrerinnen, 19.1.1900, in: Zentralblatt 42 (1900), S. 231 f. Dort auch die folgenden Zitate. Vgl. etwa Aufhebung der Züchtigungserlasse vom 1.5. und 27.7.1899, in: Pädagogische Zeitung 29 (1900), S. 71. Ein „rheinländische[r] Schulmanne“ kritisierte in seiner Zuschrift an Die deutsche Schule (Die deutsche Schule 4 (1900), S. 247 f.) zwar die neu eingeführten Strafbücher als bürokratische Maßnahme, die „Schuldige wie Unschuldige über einen Kamm“ schere, verurteilte aber in erster Linie rückblickend die bereits aufgehobenen Erlasse von 1899. So druckten beispielsweise die Volks-Zeitung (Nr. 38, 24.1.1900, S. 2) und das Berliner Tageblatt den Erlass unkommentiert ab.
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über Strafen von seinen Vorgesetzten abhängig machte und die eine Beschränkung von Körperstrafen auf seltene Ausnahmefälle nicht nur forderte, sondern durch die recht umständliche praktische Umsetzbarkeit ihrer Bestimmungen geradezu erzwang. Der Grund für die massive Ablehnung der Einschränkungen von 1899 kann dabei auch in der Tatsache gesehen werden, dass sie von den Lehrern eine Veränderung ihrer Strafpraxis forderte, ohne die Bedingungen des Unterrichts, also etwa die Klassengröße, zu verbessern. So kommentiert etwa Meyer, die Verordnung von 1899 sei gescheitert, weil sie „pädagogische Gründe für eine Beschränkung des Züchtigungsrechtes geltend machte, damit aber die praktischen Schwierigkeiten der Lehrersituation völlig außer acht ließ“.243 Dass Meyer hier eine zeitgenössische, nicht zuletzt von Lehrern selbst vertretene,244 Position übernimmt, nimmt dieser freilich nicht die Legitimität. Sicher waren die Rahmenbedingungen bzw. deren Nichtbeachtung durch die Schulbehörden (die nicht zuletzt den psychologischen Effekt hatte, dass Lehrer sich als unverstanden in den Schwierigkeiten ihres Berufs fühlen konnten) ein wichtiger Faktor für die empfundene Unverzichtbarkeit körperlicher Strafen und für die Ablehnung des Erlasses. Auch finden sich durchaus Stellungnahmen von Lehrern, die körperliche Strafen grundsätzlich negativ bewerteten, aber bei den gegebenen Bedingungen noch als unverzichtbar ansahen.245 Hier deutet sich bereits ein Wandel in den pädagogischen Ansichten auch unter Praktikern an, der sich in den nächsten Jahrzehnten noch verstärken sollte. Andererseits bleibt für 1899 jedoch festzuhalten, dass die meisten sich äußernden Lehrern eben keine solche Skepsis gegenüber Körperstrafen bekundeten und nicht in erster Linie mit den veränderlichen Unterrichtsbedingungen argumentierten, sondern mit sehr viel grundsätzlicheren Faktoren, wie etwa der Notwendigkeit von Strenge, um einer Verrohung der Jugend entgegenzuwirken. Somit sprechen die Reaktionen auf den Erlass insgesamt dafür, dass auch 1899 unter Lehrern die Vorstellung vor- (allerdings nicht allein-)herrschend war, dass Körperstrafen ein grundsätzlich notwendiger Teil der Erziehung seien und eben nicht nur ein Notbehelf bei unzureichenden Rahmenbedingungen – und vor allem keine auf sehr wenige Einzelfälle beschränkte seltene Ausnahme, wie es der ursprüngliche Ministerialerlass gefordert und geradezu erzwungen hätte. Dass diese Perspektive der Lehrerschaft im preußischen Parlament wie auch in der Presseberichterstattung größtenteils zustimmend aufgegriffen wurde, sogar von
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Meyer: Schule, S. 88. Vgl. beispielsweise: Der Ministerialerlass über die körperliche Züchtigung in der Volksschule, in: Pädagogische Zeitung 28 (1899), S. 417–420; Eberstein: Züchtigung, S. 557. Vgl. Rademacher: Züchtigung; Der Ministerialerlass über die körperliche Züchtigung in der Volksschule, in: Pädagogische Zeitung 28 (1899), S. 417–420; J. F.: Züchtigung in den Volksschulen, in: Pädagogische Reform 23 (1899), S. 197.
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Zeitungen, die zunächst dem Erlass positiv gegenübergestanden hatten, zeigt, dass die Lehrer ihren im letzten Kapitel beschriebenen Anspruch auf Expertenstatus in dieser Frage in der Öffentlichkeit weitgehend durchsetzen konnten. Die ausführliche kritische Berichterstattung über einzelne Züchtigungsskandale, wie sie dem Erlass vorausging und das Kultusministerium zum Eingreifen veranlasst hatte, widerspricht dem höchstens teilweise und nur auf den ersten Blick: Zwar konnte die Empörung über Misshandlungsfälle Anlass für grundsätzliche Kritik an körperlichen Strafen sein. Genauso gut kann aber auch das Verurteilen solcher Grenzüberschreitungen die Legitimität dessen stärken, was innerhalb dieser Grenzen bleibt. Zu klären bleibt dann allerdings, wo die Grenze zwischen legitimer Körperstrafe und abgelehnter Misshandlung gezogen wurde. Genau diese Frage wird im Mittelpunkt stehen, wenn das folgende Kapitel die Ebene der allgemeinen Debatten verlässt und anhand von Einzelfällen eine Annäherung an die soziale Praxis schulischer Strafen versucht.
2.5 Soziale Praxis bis 1900 2.5.1 Züchtigung oder Misshandlung?
In den bisher vorgestellten Debatten spielte immer wieder die Grenze zwischen als legitim und als unangemessen angesehenen Körperstrafen eine wichtige Rolle: Pädagogen und Lehrer unterschieden zwischen notwendiger, „väterlicher“ Züchtigung bei schweren Vergehen und dem „Klopfsystem“ willkürlichen, gewohnheitsmäßigen Schlagens schon bei geringfügigen Anlässen. Ein großer Teil der den Erlass von 1899 kommentierenden Presse gestand Lehrern grundsätzlich eine gewisse Berechtigung zum körperlichen Strafen zu, prangerte aber Misshandlungen scharf an. Das Verhüten solcher Misshandlungen und Überschreitungen war die Intention des preußischen Kultusministeriums (und anderer Schulaufsichtsbehörden), die gleichzeitig Lehrern ausdrücklich ein Züchtigungsrecht zugestanden. Doch wo genau lag die Grenze zwischen korrekter Anwendung und Überschreitung dieses Rechts? In dienstrechtlicher Hinsicht war diese Frage zumindest an manchen Orten in den 1870er und 1880er Jahren noch einfach und eindeutig zu beantworten. So hatten einige Verwaltungsbezirke teils sehr detaillierte Vorschriften darüber erlassen, wie weit Lehrer bei Bestrafungen gehen durften.246 In anderen Bezirken 246
Für das Herzogtum Nassau beispielsweise war nach § 29 der Disziplinarinstruktion für die Schulinspektoren v. 24.3.1817 Lehrern „nur die Austeilung weniger Streiche auf die flache Hand mit einem zwei Finger breiten ledernen Riemen gestattet, allein auch dieses nur nach Beendigung der Lehrstunde und nach Entlassung der übrigen Schüler“ (zitiert
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2.5 Soziale Praxis bis 1900
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gab es dagegen deutlich offenere oder gar keine eigenen Bestimmungen. Zudem ist fraglich, ob und wie diese teils recht alten Vorschriften in der Praxis tatsächlich um- und durchgesetzt wurden, schließlich blieb den Schulaufsichtsbehörden ein beachtlicher Ermessenspielraum bei der Frage, wie streng sie die Strafpraxis der Lehrer überwachen und gegebenenfalls sanktionieren wollten. Und nachdem 1888 in Preußen das Kultusministerium nur noch solche Vorschriften erlaubte, die nicht rechtlich bindend formuliert waren, war zumindest für die strafrechtliche Beurteilung allein die Bestimmung des Allgemeinen Landrechts maßgebend, die Misshandlungen, „die der Gesundheit des Kindes auch nur auf entfernte Art schädlich werden können“, ausschloss. Diese Formulierung war alles andere als eindeutig: Schon ab welchem Grad Verletzungen, wie etwa Striemen oder Blutergüsse, als „Gesundheitsschädigung“ zu werten sind, kann sehr unterschiedlich ausgelegt werden. Dass es laut dem Gesetzestext nicht auf das Vorhandensein, sondern auf die Möglichkeit einer solchen Verletzung ankam, fügte eine weitere Ebene der Unsicherheit und des Ermessensspielraums hinzu. Gerade diese fehlende Eindeutigkeit machte die disziplinarische und strafrechtliche Bewertung von Züchtigungsfällen für verschiedene Auslegungen offen – und damit aus historischer Sicht so interessant: Weil die Grenze zwischen Erlaubtem und Verbotenem nicht klar festlag, musste sie in jedem Einzelfall ausgehandelt werden. Dabei äußerten verschiedene Akteure – vor allem Lehrer, Schulbehörden, Gerichte, Eltern und Ärzte – jeweils ihre Auffassungen, bis zu welchem Punkt und wodurch Körperstrafen gerechtfertigt seien. Deshalb sollen im Folgenden solche Einzelfälle anhand von Gerichts- und Personalakten untersucht werden: Wo und anhand welcher Kriterien zogen die verschiedenen Beteiligten in der Praxis jeweils die Grenze zwischen legitimer Züchtigung und Misshandlung? Schwere der Verletzungen
Das vom Allgemeinen Landrecht nahegelegte Kriterium zur Beurteilung des Unterschieds zwischen Züchtigung und Misshandlung waren die aus den Schlägen des Lehrers resultierenden Verletzungen. Dabei zeigen die betrachteten Fälle immer wieder, dass in der Praxis meist nicht wie im Gesetzestext vorgesehen nach der potenziellen Gefährdung, sondern lediglich nach den tatsächlich eingetretenen Folgen geurteilt wurde. Dies wird besonders deutlich am Beispiel des Lehrers Köhler aus einem Dorf im Landkreis Kassel: Er hatte in einem anscheinend durch Wut ausgelösten Gewaltexzess drei zwölfjährige Schüler, die Unterrichtsstoff nicht wie gefordert auswendig gelernt hatten, abwechselnd geschlagen. Das Gericht zählte anhand der Schüleraussagen für den am schwersten getroffenen Jungen, Christian, drei bis fünf „Prügeltouren“ mit jeweils acht bis nach: Regierung Wiesbaden an MdgUM, HHStAW 405-12903, Bl. 110). Vgl. zur (schul-) rechtlichen Lage auch S. 33 f. dieser Arbeit.
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zehn Schlägen.247 Die beiden anderen Jungen waren ‚nur‘ je zweimal auf die gleiche Art bestraft worden, hatten also jeweils insgesamt knapp 20 Schläge erhalten. Auch die Folgen waren bei Christian massiver als bei seinen Mitschülern: Er erlitt nicht nur schwere Schwellungen und Blutergüsse, sondern war „in einen fieberhaften Zustand gerathen, auch mehrere Tage bettlägerig krank“ und konnte erst nach acht Tagen wieder die Schule besuchen.248 Bei den anderen beiden Schülern stellte der Kreiswundarzt jeweils sechs bis acht blutunterlaufene Hautstellen fest, wobei diese Verletzungen „als leichte zu betrachten“ seien.249 Die Regierung Kassel plädierte deshalb in den Fällen dieser beiden Schüler für eine rein disziplinarische, nicht strafrechtliche Verfolgung, und der zuständige Oberstaatsanwalt stimmte ihr zu: Die vom Arzt bescheinigten blutunterlaufenen Striemen seien als Folge einer körperlichen Strafe „völlig naturgemäß. Eine Überschreitung des Züchtigungsrechtes kann ich in dem Vorgehen des Lehrers nicht finden“.250 Deshalb kam nur einer der drei Fälle vor Gericht, obwohl sie in Bezug auf Art und Anlass der Züchtigung identisch waren und man durchaus hätte argumentieren können, dass auch die zwar im Vergleich geringere, aber doch noch hohe Anzahl von knapp 20 Schlägen bei den anderen beiden Jungen schwerere Verletzungen hätte auslösen können. Somit erscheint die Formulierung im Urteil bezeichnend: „Aus den Folgen der erteilten Prügel ist zu entnehmen, daß dieselben in so großer Zahl und mit solcher Kraft verabreicht sein müssen, wie es bei einer Bestrafung nicht der Fall sein darf.“251 Diese von den Folgen ausgehende Bewertung führte, in Verbindung mit der noch zu erörternden Tatsache, dass der Lehrer offensichtlich im Zorn geschlagen hatte, zu einer Verurteilung zu 50 Mark Geldstrafe.252 Auch andere Fälle zeigen, dass Gerichte vor allem dann dazu neigten, Lehrer wegen Körperverletzung zu verurteilen, wenn Schläge längerfristige, über Blutergüsse hinausgehende Folgen hatten. So wurde etwa 1884 im Regierungsbezirk 247 248 249 250 251 252
Strafkammer des LG Kassel: Urteil vom 27.1.1888, HStAM 274 Kassel, 91, Bl. 88. Staatsanwaltschaft beim LG Kassel: Anklageschrift, 23.11.1887, HStAM 274 Kassel, 91, Bl. 5–9. Kreiswundarzt Dr. Limberger an Landrat Wolfhagen, 10.8.1887, HStAM 274 Kassel, 91, Bl. 15 f. Randnotiz auf Schreiben der Kgl. Reg. Kassel vom 16.12.1887, 20.12.1887, HStAM 274 Kassel, 91, Bl. 88. Strafkammer des LG Kassel: Urteil vom 27.1.1888, HStAM 274 Kassel, 91, Bl. 88 (Hervorhebung S. H.). Vgl. ebd. Bei der Höhe der Geldstrafen ist zu berücksichtigen, dass der schuldig gesprochene Angeklagte zudem die Verfahrenskosten zu tragen hatte, deren Höhe die der eigentlichen Strafe deutlich überschreiten konnte. Im hier geschilderten Fall betrug die vom Lehrer zu zahlende Gesamtsumme 172 Mark (vgl. Kostenverfügung, 18.2.1888, HStAM 274 Kassel, 91, Bl. 97). Einen Hinweis zur Einordnung der Summen gibt das Gnadengesuch eines Lehrers aus einem Dorf im Taunus, der 1891 ein jährliches Einkommen von 882 Mark angab (Kleber an Kaiser Wilhelm II., 28.8.1891, HHStAW 468, 3, Bl. 29).
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Wiesbaden ein Lehrer zu 10 M Strafe verurteilt, nachdem er einen Schüler mit einem Holzstück auf die Schulter geschlagen hatte, woraufhin der rechte Arm in seiner Beweglichkeit derart eingeschränkt war, dass der Junge vom Arzt für ein bis zwei Wochen arbeitsuntauglich geschrieben wurde.253 Drei Jahre später verurteilte die Strafkammer Limburg einen Lehrer zu 20 Mark Geldstrafe, nachdem er ein Mädchen ca. sechs- bis zehnmal auf den Rücken geschlagen hatte. Zwar hatten die Schläge laut dem Bericht des Ortsschulinspektors nur Hautrötungen zur Folge, also geringere Verletzungen als in vielen anderen der hier vorgestellten Fälle, der Arzt hatte das Mädchen jedoch für ca. zehn Tage krankgeschrieben.254 Eine erheblichere Strafe von 250 Mark erhielt der Lehrer Kleber, der 1891 ein ungefähr 12-jähriges Mädchen geohrfeigt und so stark mit Stock und Riemen geschlagen hatte, dass erhebliche Schwellungen und Blutergüsse auf Wange, Hals, Oberarm und Rücken die Folge waren. Außerdem hoben Anklageschrift sowie Urteil hervor, dass die Schülerin nach dem Vorfall wochenlang an epileptischen Anfällen litt, die als Folgen der Aufregung durch die Züchtigung gedeutet wurden. Die Annahme liegt nahe, dass diese langfristige Gesundheitsbeeinträchtigung ein Grund für das recht hohe Strafmaß war, auch wenn das Gericht dies nicht explizit aussprach.255 Auch Schläge gegen den Kopf, die beispielsweise Nasenbluten verursachten, wurden häufig als Überschreitungen bewertet.256 Solange jedoch längerfristige Folgen ausblieben, waren die Grenzen als legitim angesehener Züchtigung relativ weit gefasst, Blutergüsse und Striemen galten meist als normale Folgen angemessener Schläge. Ein Lehrer, gegen den ein Verfahren wegen Körperverletzung eröffnet, dann aber eingestellt wurde, führte zu seiner Verteidigung an: „Ein Oberschulinspektor sagte einmal auf einer Lehrerkonferenz. ‚Mit Baumwolle kann der Lehrer nicht strafen, und wenn er mit einem Stocke straft, so giebts auf dem jungen Fleische Striemen und wenn es keine Striemen giebt, so ist der Stock nicht richtig gebraucht‘.“257 Dass sich ein Vertreter der Schulaufsicht so geäußert haben könnte, erscheint durchaus glaubhaft, wenn man sich das ganz ähnlich gehaltene Gutachten der Dresdner Direktorenkonferenz aus den 1870er Jahren vor Augen hält: 253 254 255
256
257
Oberstaatsanwaltschaft Frankfurt a. M. an Regierung Wiesbaden, 11.10.1884, HHStAW 405, 18775. Vgl. HHStAW 405, 15534. Allerdings wurde in der Begründung des Strafmaßes zugunsten des Angeklagten angeführt, dass das Krampfleiden nicht durch die körperliche Einwirkung selbst, sondern ‚nur‘ indirekt durch die Aufregung verursacht worden sei – was im Umkehrschluss bestätigt, dass eine klar auf die Züchtigung zurückzuführende längere Krankheit wichtiger Grund für eine Verurteilung war. Strafkammer am LG Wiesbaden: Urteil v. 21.8.1891, HHStAW 468, 3, Bl. 71. Vgl. etwa Schöffengericht Idstein: Urteil gegen Lehrer Paul Stöhr v. 31.8.886 (Abschrift), HHStAW 405, 15731, oder Regierung Wiesbaden an Lehrer Sühs, 28.4.1899, HHStAW 405, 10574. Burhenne an Amtsgericht Hofgeismar, 2.1.1888, HStAM 274 Kassel, 254, Bl. 15.
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2. „Prügelpädagogik“ gegen „Humanitätsduselei“ – Debatten bis 1900 Es ist gewiß, die Züchtigung darf nie in Mißhandlung des Kindes ausarten. Aber bei Schlägen auf das Gesäß oder über den Rücken wird es, wenn sie wirklich heilsam schmerzen und unbequem werden sollen, auch nicht ohne Schwielen abgehen. Dann zeigen freilich die geschlagenen Stellen des Körpers nach einigen Tagen nothwendig ein bedenkliches Farbenspiel, und derjenige, welcher die Züchtigung vollzogen hat, setzt sich bei Vielen dem Vorwurfe brutaler Härte aus. [. . . ] Dem Bösen wehrt man eben nicht durch Tätscheln, sondern – leider! – nur „mit harter Strafe und Schlägen, die man fühlet“.258
Dass eine solche Bewertung nicht nur bei Schulpraktikern akzeptiert wurde, zeigt die Einschätzung eines Juristen, für den eine Danziger Verordnung, die nur Rutenschläge auf die flache Hand erlaubte, „das Maß der Züchtigung derartig unter die gesetzliche Grenze herabschraubt, daß aus dem vom Gesetzgeber gewollten ernsthaften Zuchtmittel eine bloße Spielerei werden muß“.259 Die hier untersuchten Einzelfälle bestätigen, dass nicht nur Lehrer selbst, sondern auch Schulaufsichtsbehörden und Gerichte Striemen und „bedenkliches Farbenspiel“ als Folgen in teils recht erheblichem Ausmaß akzeptierten, ohne darin eine Überschreitung des Züchtigungsrechts zu sehen. Dabei konnte in der Praxis die von den Dresdner Direktoren als äußerstes Maximum angesehene Zahl von neun Schlägen auf Finger, Hintern oder Rücken deutlich überschritten werden, wie nicht nur der bereits geschilderte Fall Köhler zeigt. Auch in der Züchtigung eines 13-jährigen Jungen, die „ca. 15 meist streifenartige, zum Theil doppelstreifige, in verschiedenen Richtungen gelagerte Blutunterlaufungen“ quer über den Rücken mit „zum Theil bedeutender Geschwulst“ zur Folge hatte, sah die Bezirksregierung Kassel keine über das Erlaubte hinausgehende Misshandlung, da die Schläge „nirgends eine wirkliche Verletzung des Körpers herbeigeführt“ hätten.260 Teilweise gaben Ärzte in ihren Gutachten selbst eine Bewertung nicht nur der Verletzungen, sondern auch der sie verursachenden Züchtigung ab. Dies bedeutete jedoch nicht, dass Gerichte, Staatsanwaltschaften oder Schulbehörden dieser Einschätzung immer folgten: Im Fall Burhenne von 1887 schloss zwar der begutachtende Arzt aus den sehr umfangreichen Blutergüssen auf Schulter und Oberarm eines 9-jährigen Mädchens ausdrücklich, „daß eine sehr rohe Mißhandlung des schwachen Kindes stattgefunden haben muß“.261 Dennoch wurde das Strafverfahren eingestellt, da die besonders 258 259 260
261
Direktorenkonferenz Dresden: Ausführungsmodalität, S. 120. Keßler: Reichsgericht, S. 182. Staatsanwaltschaft Frankfurt: Anklage gegen d. Lehrer Johannes Fucker, 22.1.1883 (Abschrift), HStAM 166, 1126, Bl. 10–14. Das letzte Zitat aus: Regierung Kassel: Plenarbeschluss v. 9.3.1883, ebd., Bl. 15–21. Das Landgericht stimmte dieser Bewertung zwar nicht zu, das preußische Oberverwaltungsgericht schloss sich jedoch der Sichtweise der Regierung an und erklärte den von ihr erhobenen Konflikt für berechtigt, wodurch eine strafrechtliche Verfolgung ausgeschlossen wurde. Vgl. Kgl. OVG Preußen, 1. Senat, Urteil v. 12.3.1884 (Abschrift) in HStAM 166, 1126, Bl. 33 f. Dr. Lohmann: Attest, 12.11.1887, HStAM 247 Kassel, 254, Bl. 4.
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deutlichen Spuren auf den schlechten Ernährungszustand des Kindes, nicht auf eine besonders heftige, das Züchtigungsrecht überschreitende Bestrafung zurückzuführen seien.262 Kontrolliertes oder emotionales Schlagen
Im bereits vorgestellten Fall Köhler ging die Urteilsbegründung des Gerichts nicht nur auf die Heftigkeit der Schläge und die Schwere der zugefügten Verletzungen ein, sondern betonte vor allem die emotionale Motivation des Lehrers, die auch bereits die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft hervorgehoben hatte. Letztere berichtete: Als im Religionsunterricht deutlich wurde, dass die drei Jungen die als Hausaufgabe auswendig zu lernenden Sonntagsnamen des Kirchenjahres nicht beherrschten, „übermannte den Lehrer Köhler der Zorn. Er ging mit den Worten ‚Ich kann das nicht mehr dabei lassen‘ an seinen Tisch, entnahm daraus den Schulschrankschlüssel, holte sich aus dem Schrank einen etwa 80 Centimeter langen und 2 Centimeter dicken Haselstock, um die Knaben körperlich zu züchtigen“.263 Dies tat er, indem er die Jungen abwechselnd über das Pult zog, ihnen mehrfach mit dem Stock auf den Rücken schlug – und dies bei jedem Schüler noch ein bis dreimal wiederholte. Es war wohl vor allem dieser durch die hohe Zahl und Härte der Schläge unkontrolliert wirkende Ablauf, der das Gericht – in Verbindung mit Zeugenaussagen, die den Lehrer als jähzornigen Mann schilderten – die Bewertung der Staatsanwaltschaft übernehmen ließ: „Ein leidenschaftliches Drauflosschlagen verrät aber nicht [. . . ] die Absicht der Züchtigung, wie sie einem verständigen und besonnenen Manne angemessen erscheinen muß, als vielmehr den Vorsatz, dem Zorn gegen den Betroffenen Luft zu machen durch Erregung von Schmerzen an dessen Körper und das ist Mißhandlung.“264 Die hier anhand der Emotionen des Lehrers gezogene Trennlinie zwischen als legitim gesehener kontrolliert-rationaler Bestrafung und durch Zorn motivierter Misshandlung findet sich auch in theoretisch-normativen Texten, wo immer wieder die Grundregel „Strafe nicht in Erregung!“265 betont wurde. Dieser lag nicht nur die pragmatische Überlegung zugrunde, dass Schläge im Affekt leichter exzessiven, gesundheitsgefährdenden Charakter annehmen konnten, sondern sie wurde außerdem pädagogisch begründet: „Der Strafende erscheine im Strafakte immer als der das Beste wollende Erzieher, nicht als rachsüchtiger stärkerer Geg262 263 264 265
Staatsanwaltschaft Kassel: Bescheid an Ludwig Zimmermann, 8.2.1888, HStAM 247 Kassel, 254, Bl. 32. Staatsanwaltschaft Kassel: Anklageschrift, 23.11.1887, HStAM 274 Kassel, 91, Handakten Bl. 2. I. Strafkammer d. LG Kassel: Urteil v. 27.1.1888, HStAM 274 Kassel, 91, Bl. 88 f. Rheinländer: Strafrecht, S. 346. Ähnliche Beispiele: Schumann: Schulzucht, S. 98; Reichsgericht: Urteil vom 14.6.1892 (RGSt, Bd. 23, S. 162).
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ner, der sich ‚sein Mütchen kühlen will‘.“266 Dieser „das Beste wollende Erzieher“ sollte freilich auch nicht im gegenteiligen Extrem völlig emotionslos „mit dem kalten Verstande“ schlagen.267 Die geforderte Emotion war jedoch nicht Wut, sondern eher Trauer, durch die der Lehrer den Schülern signalisieren sollte, „daß es ihm herzlich leid ist“. Wenn ein Lehrer dagegen in Wut schlage, „erscheint er den Kindern als ein reiner Satan“ und löse nur Furcht aus.268 Diese Vorstellung impliziert natürlich, dass eine „richtig“, also kontrolliert und ohne Zorn ausgeführte körperliche Strafe vom Kind dagegen eben nicht als bloße Rache und furchteinflößend verstanden werde, sondern als sinnvolles Erziehungsmittel die gewünschte Einsicht wecken könne. Hier zeigt sich wieder einmal, wie sich die angenommene Legitimität von innerhalb bestimmter Grenzen bleibenden körperlichen Strafen einerseits und die Ablehnung von Überschreitungen dieser Grenzen andererseits konzeptuell gegenseitig bedingten und im Kontrast zueinander konstruiert wurden. Dass die vehemente Ablehnung von Schlägen aus Zorn im 19. Jahrhundert vor diesem Hintergrund zu sehen ist, wird vor allem im Vergleich zu späteren Bewertungen von emotionalen Reaktionen des Lehrers deutlich.269 Vorläufig bleibt jedoch das verbreitete Ideal des ‚wutfreien‘ (nicht emotionslosen) Schlagens festzuhalten, das erklärt, wieso beispielsweise im Fall Köhler nicht nur die durch Wut begünstigte Schwere der Schläge, sondern auch unabhängig davon das Schlagen im Zorn an sich als illegitim bewertet wurde. 2.5.2 Anlässe für Körperstrafen
Neben dem Ausschluss von leidenschaftlichem Zorn bezog sich eine andere in theoretischen Texten gezogene Trennlinie zwischen legitimer Strafe und Misshandlung auf die Anlässe der Bestrafung: Körperliche Strafen sollten nur bei schweren Vergehen wie „Trotz und Widersetzlichkeit, grobem Lügen und Leugnen, Roheit und Bosheit, Unsittlichkeit sowie bei andauernder Faulheit“ oder als letztes Mittel angewendet werden270 – und keinesfalls bei schlechten Leistungen.271 Galt diese Norm auch bei der Bewertung konkreter Einzelfälle?
266 267 268 269 270
271
Gesell: Züchtigung, S. 16. Die körperliche Züchtigung in der Volksschule, in: ADLZ 28 (1876), S. 275–277. Dieses und das folgende Zitat S. 276. Rheinländer: Strafrecht, S. 346. Siehe S. 432 dieser Arbeit. Rheinländer: Strafrecht, S. 357. Rheinländers Formulierung wurde hier als ein typisches Beispiel gewählt, seine Auswahl von Vergehen lässt sich jedoch mit kleinen Variationen in nahezu allen entsprechenden Äußerungen der Zeit finden (z. B. Schumann: Schulzucht, S. 96 f.). Vgl. Scheibe: Strafe, S. 208 f.
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Von den ungefähr zwanzig betrachteten Fällen vor 1900 aus den Regierungsbezirken Wiesbaden und Kassel waren nur zwei eindeutig mit „Ungehorsam“ oder „Ungezogenheit“ des Schülers begründet. Genauso viele beruhten auf Unaufmerksamkeit im Unterricht, einem Vergehen, von dem unter Pädagogen zumindest umstritten war, ob es körperliche Strafen rechtfertigen könne.272 Der häufigste Anlass für körperliche Bestrafungen waren jedoch nicht korrekt beantwortete Lehrerfragen und unerledigte Hausaufgaben. Hier zeigt sich, dass die in der Theorie trennscharfe Zuordnung legitimer und illegitimer Strafanlässe in der Praxis höchst problematisch war: Waren dies bloße Fehler des Schülers, schlechte schulische Leistungen, die nach weitgehend akzeptierter theoretischer Norm keinesfalls mit Schlägen bestraft werden durften?273 Oder – und diese Deutung war besonders naheliegend, wenn der abgefragte Stoff als Hausaufgabe zu lernen gewesen war – handelte es sich um die Folgen von Faulheit, die zumindest in ausgeprägter Form zu den legitimen Züchtigungsanlässen gezählt wurde? Oder konnte die Reaktion des Schülers gar als absichtliches Verweigern einer Antwort, als Ungehorsam oder Trotz gedeutet werden? Diese Problematik unterschiedlicher Deutungsweisen von Schülerverhalten wird an einigen später besprochenen Fallbeispielen besonders deutlich werden. Zunächst ist jedoch festzuhalten, dass sich die hier untersuchten Fälle meist aus eher alltäglichen Unterrichtssituationen, insbesondere mangelnder Mitarbeit der Schüler oder Unaufmerksamkeit entwickelten, nur selten ging es um als besonders schwerwiegend angesehene Vergehen wie rohes Verhalten gegenüber Mitschülern, Sachbeschädigung oder Ähnliches. Da sich die hier untersuchten Bestrafungen ja dadurch auszeichnen, dass sie zumindest von einem Akteur als nicht legitim gesehen wurden, könnte man nun annehmen, sie seien gerade wegen der fragwürdigen Anlässe sanktioniert worden. Eine nähere Betrachtung zeigt jedoch, dass die Begründungen der Strafe normalerweise nicht entscheidend für die Bewertung eines Züchtigungsfalls durch Gerichte oder Schulbehörden waren. So finden sich mehrere Beispiele, in denen etwa in Urteilsbegründungen ausdrücklich betont wurde, dass ein Lehrer einen ausreichenden Anlass zur Züchtigung gehabt habe, wenn er beispielsweise die Hausaufgaben nicht erledigende Schüler wegen ihrer „Faulheit“ bestrafte.274 Dies legt nahe, dass die hier 272
273 274
So etwa Strebel: Schulstrafen, S. 298: „Sie werde also niemals angewendet der bloßen Schwachheit, dem bloßen Fehler der Kindesart, der Unbeholfenheit, Ungeschicklichkeit gegenüber, also z. B. nie wegen bloßer Zerstreutheit, Flatterhaftigkeit, Unachtsamkeit, nie wegen bloßen Schwatzens, Spielens und dergleichen Kindereien, nie wegen einfach mangelhafter Leistungen.“ Vgl. als besonders ausführlich argumentierendes Beispiel: Stengel: Würdigung, S. 122. Vgl. Staatsanwaltschaft Kassel: Bescheid an Ludwig Zimmermann, 8.2.1888, HStAM 247 Kassel, 254, Bl. 32; Strafkammer des LG Marburg: Urteil vom 27.2.1886 (Abschrift), HHStAW 405, 13878, Bl. 159–161. Allerdings äußerte das Gericht im zweiten Fall nur, dass der Schüler grundsätzlich „für seine Faulheit eine Strafe verdient“ habe und die Schläge des
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2. „Prügelpädagogik“ gegen „Humanitätsduselei“ – Debatten bis 1900
vorgestellten Fälle bezüglich der Strafanlässe einen recht typischen Ausschnitt darstellten und Körperstrafen nicht etwa nur in Ausnahmefällen, sondern gerade bei eher alltäglichen Unterrichtssituationen (Unaufmerksamkeit, unerledigte Hausaufgaben) verbreitet waren. Dagegen gab es bis 1900 nur zwei Fälle, in denen der Anlass der Strafe überhaupt thematisiert wurde. Kein Verständnis für Ursachen von Fehlverhalten
So begründete die Staatsanwaltschaft Wiesbaden 1891 ihre Anklage gegen den Lehrer Kleber aus Reckenroth neben der brutalen Ausführung und den recht erheblichen Folgen der Züchtigung an erster Stelle mit dem „Mangel einer begründeten Veranlassung zu dem Schlagen“. Wie war es zu dieser unbegründeten Misshandlung gekommen? Der Lehrer hatte ein Mädchen an die Tafel gerufen. Die Schülerin sollte einen Kreis zeichnen, fand jedoch die richtige Stelle für den Mittelpunkt nicht. Als sie das Wort „Mittelpunkt“ an die Tafel schreiben sollte, verschrieb sie sich, woraufhin der Lehrer sie zweimal ohrfeigte. Nachdem andere Schüler auf Aufforderung des Lehrers das Wort buchstabiert hatten, konnte die Schülerin die richtige Antwort nicht wiederholen, als sie es erneut schreiben sollte, machte sie wieder den gleichen Fehler. Daraufhin schlug der Lehrer sie mehrfach, zunächst mit einem Stock und dann einem Lederriemen, auf den Rücken. Für die Staatsanwaltschaft (wie wohl auch für einen heutigen Leser) stand fest, dass die Schülerin „in Folge der hochgradigen Erregung, in welche sie durch die erste u. noch 2 nachfolgende Ohrfeigen [. . . ] versetzt war, gar nicht mehr im Stande“ war, die Aufgabe zu lösen.275 Der Lehrer hingegen gab zu Protokoll: „Sie weigerte aber aus Trotz die Antwort“,276 und auch sein Rechtsanwalt betonte, sein Mandant habe „das volle Recht, das spätere hartnäckige Schweigen des Kindes als Trotz und Wiederspenstigkeit [sic] aufzufassen“ gehabt.277 Dass gerade der Strafverteidiger diesen Punkt hervorhob, dürfte kein Zufall sein: Schließlich waren sowohl in der Pädagogik als auch in den meisten disziplinarischen Vorschriften Schläge wegen schlechter Leistungen verpönt,
275
276 277
Lehrers nicht „derartig unverhältnismäßig“ gewesen seien, dass von einer Misshandlungsabsicht auszugehen sei (Bl. 160). Ob eine körperliche Strafe pädagogisch berechtigt war, wollte das Gericht im Einklang mit der damals üblichen Rechtsprechung (vgl. S. 199 dieser Arbeit) nicht beurteilen. Diese Zurückhaltung bezüglich pädagogischer Fragen kann als ein Grund gesehen werden, warum insbesondere Gerichte die Strafanlässe normalerweise nicht infrage stellten. Auffällig ist jedoch, dass auch die für die pädagogische Bewertung zuständigen Schulbehörden dies vor 1900 nur selten taten. Staatsanwaltschaft beim kgl. LG Wiesbaden: Anklageschrift, 25.5.1891, HHStAW 468, 3, Bl. 2. Die Staatsanwaltschaft ging davon aus, dass K. der Schülerin bereits bei ihrem Weg an die Tafel eine Ohrfeige gegeben hatte, was vom Lehrer bestritten wurde und offensichtlich nicht mehr zweifelsfrei ermittelt werden konnte. AG Katzenelnbogen: Vernehmungsprotokoll, 23.4.1891, HHStAW 468, 3, Bl. 14–16. Rechtsanwalt Bergas an Strafkammer d. LG Wiesbaden, 17.6.1891, HHStAW 468, 3, Bl. 22.
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wegen Ungehorsam oder Trotz dagegen akzeptiert. Es konnte also auch eine taktische Rechtfertigung sein, wenn ein Lehrer eine Strafe mit Ungehorsam und Trotz begründete. Ob Kleber im geschilderten Fall tatsächlich davon ausging, dass das Mädchen nicht antworten wollte (und nicht etwa nicht konnte), lässt sich natürlich nicht klären. Wichtiger ist aber die Tatsache, dass das Gericht seine Erklärung als glaubwürdig bewertete: Zwar wurde er verurteilt, dies begründete das Gericht aber – anders als die Anklageschrift – ausschließlich mit der weit über die Grenzen der im Regierungsbezirk geltenden Vorschriften hinausgehenden Art der Bestrafung, nicht mit deren Anlass. Im Gegenteil nannte es als entscheidenden strafmildernden Umstand, dass der Lehrer den Fehler des Mädchens „weniger auf geringe Begabung und Schüchternheit als auf Unaufmerksamkeit und Faulheit zurückführte“ – und stellte diese Deutung nicht als unplausibel infrage.278 Auch in anderen Fällen wird deutlich, dass Lehrer schlechte Leistungen als Faulheit, nicht beantwortete Fragen oder Anweisungen als Trotz werteten – und das jeweilige ‚Fehlverhalten‘ durch Strafe zu unterdrücken versuchten, ohne nach möglichen Ursachen zu suchen. Ein eindrückliches Beispiel trug sich 1887 bei Hofgeismar (Landkreis Kassel) zu: Hier schlug ein Lehrer eine 9-jährige Schülerin mehrfach, nachdem sie die am Vortag als Hausaufgabe gestellte Rechnung an der Tafel nicht lösen konnte. Der gleiche Ablauf wiederholte sich am folgenden Tag, nachdem die gleichen Rechenübungen erneut Hausaufgabe gewesen waren. Die Schülerin selbst und zwei Mitschülerinnen nannten als Grund für die Schläge lediglich die Tatsache, dass das Mädchen die Aufgaben nicht beherrschte.279 Der Lehrer dagegen wertete diese Unkenntnis als Beleg dafür, dass die Schülerin die Hausaufgaben nicht wie behauptet selbst erledigt, sondern abgeschrieben habe – und erklärte, er habe sie „wegen ihrer Faulheit, ihres Ungehorsams und ihrer Lüge“ gestraft.280 Bemerkenswert ist ein Vergleich mit den Aussagen des Arztes, der das Mädchen untersucht und das Attest über die Verletzungen erstellt hatte: Er wies darauf hin, dass das Kind unterernährt sei und angesichts seines schwachen körperlichen Zustands nicht nur nicht mit dem Stock geschlagen werden sollte, sondern auch „die ihm obliegenden Aufgaben nur mit größerer Kraftanstrengung wie jedes andere wohlgenährte Kind ausführen“ könne.281 Auch hätte der Lehrer berücksichtigen müsse, dass das Mädchen als Tochter einer „geisteskranken“ Mutter nicht so schnell begreifen könne wie andere Schüler. 278 279
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Strafkammer LG Wiesbaden: Urteil vom 21.8.1891, HHStAW 468, 3, Bl. 71. AG Hofgeismar: Protokolle von Zeugenaussagen, 30.12.1887, HStAM 274 Kassel, 254, Bl. 12. Allerdings bestätigten spätere Zeugenaussagen von Mitschülern die Version des Lehrers, inklusive der Erklärung durch Lüge – der Grund für diese veränderte Darstellung der Kinder sei der Phantasie des Lesers überlassen. Burhenne an AG Hofgeismar, 2.1.1888, HStAM 274 Kassel, 254, Bl. 15. AG Hofgeismar: Protokoll der Aussage von Dr. Lohmann, 18.1.1888, HStAM 274 Kassel, 254, Bl. 21 f. Dort auch die folgenden Zitate.
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Nicht zuletzt lieferte der Arzt eine alternative Erklärung für das Nichtlösen der Rechenaufgabe, indem er anführte, zumindest am zweiten Tag sei das Mädchen „in einem Zustande gewesen, daß es in seiner Angst vor weiteren Schlägen gar nicht rechnen konnte“. Im Kontrast zu diesen nach individuellen Ursachen für das Verhalten des Kinds suchenden Überlegungen des Arztes wird das Erziehungsverständnis, das sich in der Erklärung des Lehrers zeigt, umso deutlicher: Es ist gekennzeichnet durch einen Fokus auf (äußeres) Fehlverhalten statt Einbeziehung der Perspektive des Kinds und Einfühlung in dessen Motivationen sowie durch ein negatives Bild vom Kind. So werden charakterliche Defizite und bewusst schädigendes Verhalten (Faulheit, Lüge, Ungehorsam) eher als Erklärungen für unerwünschte Verhaltensweisen angebracht als andere Faktoren wie mangelnde körperliche oder kognitive Fähigkeiten oder situative Bedingungen – vereinfacht gesagt: Statt zu fragen, ob ein Kind möglicherweise nicht kann, nimmt der Erzieher automatisch an, dass es nicht will. Auch in der Praxis: Lehrerautorität als Nullsummenspiel
Dass es nicht nur in den hier vorgestellten Einzelfällen Lehrern häufig an der „rechten geistigen Diagnose“ bei Vergehen mangele, indem zum Beispiel ein Kind für faul gehalten werde, obwohl es „nach seinen Kräften und der ihm zugemessenen Zeit das Mögliche geleistet hat“, wurde 1878 auch in der Allgemeinen Deutschen Lehrerzeitung beklagt.282 Vor allem aber kritisierte der anonyme Verfasser des außergewöhnlich züchtigungskritischen Aufsatzes einen anderen unter seinen Kollegen verbreiteten Fehler: Nicht selten straften Lehrer, um „für die vermeintliche Verletzung des ‚Autoritätsgefühls‘ Revanche zu nehmen. Und wie unschuldig sind da wohl zumeist die armen, wenn auch gefehlt habenden Opfer, da sie es sich nicht einmal im Traum haben einfallen lassen, unserer ‚Autorität‘ ein Haar zu krümmen!“ Ein Beispiel für körperliches Strafen aus dem Gefühl bedrohter Autorität heraus liefert der Lehrer Fucker in Praunheim bei Frankfurt am Main. Dieser Fall wurde oben bereits als Beispiel für eine recht brutale (aber von der Bezirksregierung als legitim angesehene) Bestrafung angeführt, hatten die Schläge des Lehrers doch fünfzehn blutunterlaufene Streifen und deutliche Schwellungen auf dem Rücken des 13-jährigen Schülers zur Folge. Der zu den Schlägen führende Vorfall begann mit einem Fehler des Jungen bei einer Rechtschreibübung. Als ihm der Lehrer das korrekte Wort deutlich vorsprach, wischte der Schüler den falschen Buchstaben weg, schrieb ihn sofort danach aber wiederum falsch hin. Dies wiederholte sich „mindestens 6 mal“, somit war es, so die Bewertung der Bezirksregierung Kassel, „hinreichend klar, daß [der Schüler] nicht aus Mißverständnis oder Unwissenheit, sondern aus Ungehorsam immer den gleichen 282
Gedanken über das Züchtigungsrecht der Schule, in: ADLZ 30 (1878), S. 214–215, dieses und das folgende Zitat S. 215.
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Fehler machte“. Als der Lehrer daraufhin dem Jungen mit dem Rohrstock einige Schläge auf den Rücken gab, begann dieser, „mit so ungewöhnlich lauter Stimme zu schreien, daß der Lehrer darin nicht die Äußerungen des Schmerzes sondern abermals des Trotzes erkennen mußte, und nunmehr eine weitere stärkere Züchtigung durch Schläge auf den Rücken vornahm“.283 Es ist bemerkenswert, wie hier die Regierung die Deutung des Lehrers als alternativlos übernahm – und wie selbstverständlich sie zustimmte, dass das Verhalten des Schülers, selbst wenn man es als absichtliche Provokation wertet, nur durch gesteigerte Gewalt zu beantworten sei. Denn, so der Beschluss der Regierungsplenarsitzung, angesichts der Tatsache, dass der betreffende Schüler seinen Lehrern „als ein überaus trotziger, schlecht erzogener Knabe bekannt war“, sei „die Züchtigung mit dem Rohrstock im Interesse der Schuldisziplin erforderlich“ gewesen – wenn nicht gar „unbedingt erforderlich“, wie es in der ursprünglichen Version des Dokuments hieß.284 Glaubt man dem Körperstrafenkritiker Carl Klett, so war die Steigerung der Strafe wegen der Reaktion des Schülers kein Einzelfall: Ihm zufolge erschienen Lehrern Reaktionen, die nicht den erwarteten entsprachen (sei es durch gleichgültiges Ertragen der Strafe oder aber durch als übertrieben gewertetes Weinen), häufig als „eine Auflehnung gegen die Person des Lehrers und führen zu neuer Strafe“.285 Im Fall Fuckers war dieser Eindruck einer „Auflehnung gegen die Person des Lehrers“ nicht nur ein subjektiver, sondern wurde auch von der Regierung geteilt, die wiederum die durch das Verhalten des Schülers (scheinbar) bedrohte persönliche Autorität des Lehrers mit der „Schuldisziplin“ gleichsetzte. Wie sehr Lehrer dazu neigten, das Verhalten ihrer Schüler als Trotz zu deuten, zeigt auch der Fall eines sechsjährigen Schülers, den sein Lehrer wiederholt mit dem Stock gegen den Kopf geschlagen und in die Ohren gekniffen hatte. Während der Vater mangelnden Lernerfolg des Schülers als Strafanlass ansah, nannte der Lehrer Ungehorsam des Jungen als Grund und erklärte, es „sei der angesichts der ganzen Schule beharrlich gezeigte Trotz der Art gewesen, daß eine 283
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285
Regierung Kassel: Plenarbeschluss, 9.3.1883, HStAM, 166, 1126, Bl. 15–21, Hervorhebung S. H. Dass die Deutung der Regierung auch aus zeitgenössischer Perspektive keine Selbstverständlichkeit war, zeigt das von der Notwendigkeit einer Züchtigung weniger überzeugte Oberste Verwaltungsgericht: Es fragte nach der Verhältnismäßigkeit von „Verschulden des Schülers“ und Strafe und zweifelte, „ob nicht in dieser Beziehung den Lehrer der Vorwurf eines erziehlichen Mißgriffs trifft, wofür nach Lage des Falles die Umstände wohl zu sprechen scheinen“ (Urteil d. kgl. OVG, 1. Senat, v. 12.3.1884, HStAM, 166, 1126, Bl. 33). Das Wort „unbedingt“ ist durchgestrichen, ohne dass sich der Urheber der Streichung klar identifizieren ließe. Ebenfalls gestrichen wurde ein späterer Absatz, der anführte, da der Lehrer auf den Rücken, also „einen Körperteil, der mit den Organen nicht in unmittelbarem Zusammenhange steht“, geschlagen habe, sei „eine besondere Vorsicht auf Seiten des Lehrers von vornherein nicht geboten gewesen.“ Klett: Lehrer, S. 20.
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empfindlichere Strafe hätte eintreten müssen“.286 Leider sind keine konkreteren Informationen über das Verhalten des Schülers überliefert – aber es liegt nahe, der Wiesbadener Bezirksregierung zuzustimmen, dass Trotz als Ursache „bei einem Kinde von 6 Jahren entschieden bezweifelt werden muß“.287 Auch wenn in diesem Fall die Schulaufsichtsbehörde die Interpretation des Lehrers anzweifelte, begründete sie die verhängte Ordnungsstrafe von 10 Mark unabhängig vom Anlass ausschließlich mit der rohen Art der Misshandlung und mit dem nicht einwandfreien außerdienstlichen Verhalten des Lehrers – was bestätigt, dass das theoretische Tabu der Schläge wegen schlechter Leistungen in der Praxis kaum durchgesetzt wurde. Auch bei diesem Fall ist die Möglichkeit zu bedenken, dass es sich bei der Erklärung des Lehrers wie oben beschrieben vor allem um eine Schutzbehauptung handelte. Wenn dies der Fall sein sollte, würde das den Befund nur unwesentlich verändern: Wenn Lehrer bevorzugt die Erklärung mit Ungehorsam und Trotz zur Rechtfertigung wählten, konnten sie offensichtlich davon ausgehen, dass ebendiese Anlässe für Körperstrafen von Schulbehörden und Gerichten am ehesten akzeptiert werden würden. Und das wiederum belegt den bereits in den pädagogischen Debatten festgestellten breiten öffentlichen Konsens, dass gerade das Erziehungsziel des Gehorsams gegebenenfalls durch Gewalt erreicht werden müsse – oder andersherum formuliert: die Autorität des Lehrers mit Schlägen zu verteidigen sei. Das bei der Untersuchung der Lehrerdebatten festgestellte Verständnis von Lehrerautorität als Nullsummenspiel, bei dem ein Nachgeben oder Eingehen auf die Perspektive und Bedürfnisse der Schüler als Verlust von eigener Autorität gesehen wurde, scheint auch in den konkreten Fallbeispielen immer wieder durch. So zum Beispiel in folgendem Fall, der sich 1887 an der Armenschule in Hersfeld zutrug: Als ein als „schwächlich und kränklich“ beschriebener gehbehinderter 13-jähriger Schüler wiederholt seinen Aufsatz unordentlich angefertigt hatte, hielt der Lehrer, obwohl er bisher „mit Rücksicht auf seine Gebrechlichkeit“ vermieden hatte, diesen Jungen körperlich zu bestrafen, „eine kleine Züchtigung für nothwendig“.288 Er wollte dem Schüler mit dem Rohrstock auf den Rücken schlagen, woraufhin dieser sich so gegen die Wand stellte, dass dies unmöglich war. „Schon wollte ich von einer Züchtigung abstehen, als mir der Gedanke entstand, daß ich Nachsicht nicht mehr üben dürfe“, so die Erklärung des Lehrers, warum er dem Schüler nun einen Schlag auf die Schulter gab, der diesen unbeabsichtigt auch am Ohr traf. Ähnlich wie im Fall des Lehrers Fucker, der aus Sicht der Regierung das Verhalten des Schülers als Trotz bewerten muss286 287 288
Ortsschulinspektor Knoedgen an Kreisschulinspektor Pfarrer Michels, 14.5.1892, HHStAW 405, 15091. Kgl. Reg. Wiesbaden: Verfügung v. 31.5.1892 auf dem Rand von: Kreisschulinspektor Pfr. Michels an Reg. Wiesbaden, 26.5.1892, HHStAW 405, 15091. AG Hersfeld: Vernehmungsprotokoll, 13.6.1887, HStAM, 274 Kassel, 242, Bl. 7–10.
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te, der eine körperliche Bestrafung erforderlich machte, ist hier der durch die Formulierung „dürfe“ geweckte Eindruck der Zwangsläufigkeit bemerkenswert. Der Verzicht auf eine gewaltsame Strafe erschien aus dieser Sicht als undenkbar oder zumindest als Fehler, der unvermeidlich zu einer Einbuße an Autorität des Lehrers und zu sinkender Schuldisziplin führen müsse. Beide Fälle zeigen auch die innere Logik einer auf der Androhung von Gewalt basierenden Autorität: Verweigert das Kind ihr die Anerkennung, sei es durch den Versuch, sich der Körperstrafe zu entziehen, sei es durch subtilen Spott (falls das laute Schreien im Fall Fucker tatsächlich als solcher zu werten sein sollte), bleibt nur die Verstärkung der Gewalt, um den Anspruch auf Autorität aufrechtzuerhalten.289 Ein weiteres Beispiel für die große Angst vor Autoritätsverlust ist das Gnadengesuch, das der 1891 zu einer hohen Geldstrafe verurteilte Lehrer Kleber an den Kaiser richtete: Er beteuerte nicht nur, sein Schlagen sei unumgänglich gewesen, da durch das Verhalten der Schülerin „die Disziplin meiner ganzen Schule vernichtet werden konnte“, sondern erklärte zur Beschwerde des Vaters des Mädchens: „Sehr gerne hätte ich diesen Mann um Entschuldigung gebeten, konnte es aber meiner Autorität wegen nicht.“290 Hier bestätigt sich eindrücklich das Bild einer durch jedes Eingestehen eines Fehlers oder Nichtdurchsetzen einer Anweisung gefährdeten persönlichen Autorität. Dass zudem äußerlich-formale Respektsbezeugungen eine wichtige Rolle spielten, zeigt der Fall eines Lehrers, der eine Schülerin ohrfeigte, weil sie bei einer zufälligen Begegnung auf der Straße grußlos an ihm vorbeigegangen war. Für das preußische Oberverwaltungsgericht war dies „ein völlig ausreichender Anlaß“ für eine körperliche Züchtigung, da die Schüler ihrem Lehrer Achtung zu erweisen hätten.291
289
290 291
Dieser Mechanismus zeigt sich beispielsweise auch in zwei Gerichtsurteilen, in denen Lehrer freigesprochen wurden, die versucht hatten, ihre Anweisung, aus der Schulbank herauszutreten, mit Gewalt gegen sich wehrende Schüler durchzusetzen. Die Gerichte werteten dabei teils erhebliche Gewaltanwendung (auf den Rücken gezielte Stockschläge, die das Gesicht trafen, Festhalten am Ohr u. ä.) als durch „eine so schwere Gefährdung der Schuldisziplin und eine so erhebliche Verletzung der Autorität des Lehrers“ gerechtfertigt (LG Kassel, 26.1.1900, zitiert nach Müller: Lehrer, S. 85). Das LG Berlin wertete es sogar als „die Amtspflicht des Angeklagten, ihn dafür gehörig zu züchtigen und dadurch seinen Worten Nachdruck zu verleihen“ (Urteil v. 7.3.1900, zitiert nach ebd., S. 84). Kleber an Wilhelm II, 28.8.1891, HHStAW 468, 3, Bl. 29. Urteil des königl. Oberverwaltungsgerichts, Erster Senat, v. 26.11.1887 (Abschrift), HHStAW 405, 12903, Bl. 70–75. Allerdings ging das OVG wegen des in einer Regierungsanweisung verbotenen Schlagens ins Gesicht dennoch von einer Überschreitung des Züchtigungsrechts aus.
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2.5.3 Soziale und politische Aspekte
Im oben beschriebenen Fall des Lehrers Fucker war ein Argument, warum die Regierung die körperliche Strafe als legitim, ja notwendig ansah, die Tatsache, dass der geschlagene Schüler als trotzig und schlecht erzogen galt. Solche Zuschreibungen spielen in den hier untersuchten Fällen immer wieder eine wichtige Rolle, sie wurden von Lehrern häufig zu ihrer Rechtfertigung vorgebracht und von Behörden und Gerichten selten hinterfragt. So führte ein örtlicher Schulinspektor und Pfarrer zur Entlastung des Lehrers in einem Züchtigungsfall an, dass die geschlagenen Schüler „beide verkommenen Familien angehören und [. . . ] durchaus ungezogene Rangen“ seien.292 Im Fall des Lehrers Burhenne wurde bereits erwähnt, dass der als Gutachter herangezogene Arzt den schlechten Ernährungszustand des geschlagenen Mädchens betonte, der seiner Ansicht nach eine Körperstrafe hätte verbieten müssen. Auch der Lehrer betonte den familiären Hintergrund der Schülerin als Tochter eines Tagelöhners und einer psychisch Kranken, zog aber gänzlich andere Schlüsse daraus. Für ihn stand fest: „Dem Kinde fehlt durchaus die häusliche Zucht“; es laufe nach dem Unterricht auf der Straße umher und tue nichts für die Schule. „Da muß die Schulzucht eintreten und helfen die Worte nicht mehr, so muß Strafe folgen.“293 Auch wenn hier zunächst „die Worte“ als Erziehungsmittel genannt werden, so ist bei deren Nichterfolg doch (gewaltsame) Strafe die einzig denkbare Alternative. Wenn die Schule also Aufgaben der ihre Erzieherrolle nicht ausfüllen könnenden Eltern übernehmen sollte, dann war dies in erster Linie die disziplinierende Funktion. Hier wird erneut die bereits in anderen Zusammenhängen festgestellte Vorstellung von Erziehung als ‚Zähmung‘ deutlich. In dieser Logik ist auch naheliegend, dass körperliche Strafen gerade gegenüber denjenigen Schülern, die „schlechtgeartet und schlechterzogen, die schon in hohem Grade sittlich verdorben sind“ als einzig „angemessene, ja in Wahrheit pädagogische Strafe“ beschrieben wurden.294 Dass dabei die Kategorisierung von gut und schlecht „gearteten“ oder erzogenen Schülern nicht allein aufgrund deren konkreten Verhaltens, sondern auch anhand ihrer sozialen Herkunft vorgenommen wurde, diesen Verdacht legen die oben beschriebenen
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Schulinspektor Gichte an Regierung Wiesbaden, 27.1.1885, HHStAW 405, 18775. Borhenne an AG Hofgeismar, 2.1.1888, HStAM 274 Kassel, 254, Bl. 15. Hervorhebung im Original als Unterstreichung durch den Verfasser. Gesell: Züchtigung, S. 14. Wie verbreitet diese Ansicht war, zeigte sich beispielsweise beim Lehrertag in Magdeburg 1878: Als dort ein Königsberger Lehrer erklärte: „Wenn wir verwahrloste Subjekte haben, so werden wir bei ihnen immer viel mehr dadurch erreichen, wenn wir sie mit Liebe erziehen, auf dem Wege der Güte“, erntete er „Oho!“ und „Heiterkeit“ vonseiten der Zuhörer. Stenographischer Bericht über die Verhandlungen des 2. Deutschen Lehrertages zu Magdeburg, in: ADLZ 30 (1878), S. 277.
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Fälle nahe.295 In zugespitzter Form wurde er von Züchtigungsgegnern häufig geäußert – beispielsweise im sächsischen Landtag, wo 1872 ein Abgeordneter der Fortschrittspartei erklärte, dass „im Grunde genommen, blos das Kind des Armen geprügelt wird“.296 Nicht nur soziale, sondern auch damit verbundene politische Aspekte spielten eine Rolle: So verwies im geschilderten Fall Fucker der Lehrer zu seiner Verteidigung auf den schweren Stand, den er in seinem Dienstort Praunheim habe „bei einer fast durchweg social-demokratischen Bevölkerung, die menschlicher und göttlicher Ordnung Hohn spricht“.297 Er klagte, dass die Eltern von der Schule verhängte Strafen nicht akzeptierten, indem sie mit ‚Nachsitzen‘ bestrafte Kinder aus der Schule abholten, sie davon abhielten, Strafarbeiten anzufertigen – und eben bei körperlichen Strafen Anzeige gegen den Lehrer erstatteten. Auch wenn angesichts der Absicht Fuckers ein gewisses Maß an Übertreibung zu erwarten ist, können diese Klagen als Bestätigung dafür gesehen werden, dass die Amtsautorität von Lehrern häufig eine prekäre, in manchen Fällen nur eingeschränkt oder gar nicht akzeptierte war – und gerade deshalb so empfindlich von Lehrern verteidigt wurde. Entscheidend ist aber vor allem, dass auch in dieser Hinsicht die Kasseler Regierung Fuckers Perspektive übernahm: Sie erhob den Konflikt gegen eine strafrechtliche Verfolgung des Lehrers und begründete das gegenüber dem Kultusministerium unter anderem damit, „daß die Bevölkerung von Praunheim sozialdemokratischen Bestrebungen nicht unzugänglich und daher die Autorität des Lehrers möglichst zu schützen ist“.298 Auch in Sindlingen, einem heutigen Stadtteil von Frankfurt am Main, der von den nahegelegenen Farbwerken Hoechst geprägt war, beklagte ein Ortsschulinspektor den „sozialdemokratische[n] Geist, der die ganze Gegend durchdringt“ und „im Schulleben am meisten Gelegenheit sich zu äußern“ habe.299 Dieser Geist, der Eltern besonders empfindlich „auf jede Strafe, und wenn sie auch noch so wohlverdient ist“ reagieren lasse, war für den Ortsschulinspektor Grund, zumindest zwei von drei gegen den Lehrer vorliegenden Beschwerden wegen Züchtigungsrechtsüberschreitungen wenig Bedeutung beizumessen. Gleichzeitig sah er ihn als einen Faktor, der es dem Lehrer „fast zur moralischen Unmöglichkeit [. . . ] macht immer das richtige Maß einzuhalten“ – während er gleichzeitig zugestand, dass der Lehrer in einem Fall dieses „richtige Maß“ überschritten habe. 295 296 297 298 299
Vgl. hierzu auch Meyer: Schule, S. 87. Abg. Ludwig, Sächsischer Landtag, II. Kammer, 52. Sitzung am 9.3.1872, Mittheilungen 1871/73, Bd. 2, S. 1574. Johannes Fucker an kgl. Regierung Kassel, 24.2.1883, HStAM 166, 1126, Bl. 3–10 (Zitat Bl. 9). Regierung Kassel an MgdUM, 27.4.1883, HStAM 166, 1126, Bl. 28. Ortsschulinspektor Brückmann an Kreisschulinspektion Marxheim, 27.8.1900, HHStAW 405, 18288. Dort auch die folgenden Zitate.
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Dass Lehrer und Schulaufsicht sich so deutlich gegen den „sozialdemokratischen Geist“ positionierten, ist natürlich kein erstaunlicher Befund, wurde doch gerade die Rolle der Schule als Instrument der Herrschaftssicherung und der Bekämpfung sozialdemokratischer Ideen zeitgenössisch ausdrücklich gefordert.300 Das daraus insbesondere in der Forschung der 1970er und 1980er Jahre abgeleitete Bild der kaiserzeitlichen, insbesondere der preußischen Volksschule als „Schule der Untertanen“301 mag als Gesamturteil einseitig sein, es beschreibt jedoch zumindest eines der ambivalenten Charakteristika des damaligen Schulwesens zutreffend – und erfährt in der Rechtfertigung von körperlichen Strafen gegenüber einer sozialdemokratisch geprägten Schülerschaft eine Bestätigung. Auffällig ist allerdings, dass es sich aus Sicht von Lehrern und Schulbehörden beim Umgang mit der Sozialdemokratie um eine rein defensive Reaktion handelte: Sie erschien als Bedrohung bestehender gesellschaftlicher Ordnung im Allgemeinen und der Autorität von Schule und Lehrern im Besonderen. Dieses Bedrohungsgefühl führte in den beiden hier untersuchten Fällen – einmal auf der untersten Ebene der Schulaufsicht, einmal auf einer höheren – zur Bereitschaft, auch recht weitgehende körperliche Strafen zu tolerieren, um die Durchsetzungsfähigkeit des Lehrers gegenüber Schülern, aber auch Eltern zu stützen. Was aus der einen Perspektive eine defensive Reaktion war, konnte aus anderer Sicht dagegen als aktiver Angriff erscheinen: So gab es durchaus Vorwürfe, dass Lehrer Schüler wegen politischer Differenzen mit deren Elternhaus schlügen.302 2.5.4 Selbstverständliche Akzeptanz von Schlägen
Wenn, wie geschildert, Lehrer körperliche Bestrafungen mit dem Verweis auf die schlechte Erziehung des jeweiligen Kindes im Elternhaus rechtfertigten, ging dies häufig mit dem Vorwurf einher, die Eltern würden ihr Kind selbst misshandeln.303 Der Anwalt eines Lehrers rechtfertigte das Handeln seines Mandanten damit, man könne „selbstverständlich in den Schulen auf dem Lande, wo die Jungen schon vom Hause aus eine empfindliche körperliche Züchtigung gewohnt
300 301
302 303
Vgl. Herrlitz et al., S. 111–113; Benner/Kemper: Theorie, S. 26. So der Buchtitel Folkert Meyers. Ähnlich etwa Berg: Okkupation. Vgl. für einen Forschungsüberblick zur Tradition dieser Position und zu ihrer Relativierung Sauer: ‚Schulehalten‘, S. 1–5; Kuhlemann: Niedere Schulen, S. 179 f. Nipperdey (Geschichte, S. 537–541) lehnt angesichts von Modernisierung und Ausbau des Schulwesens im Kaiserreich zwar eine Reduktion auf „die Schule der Obrigkeit“ als einseitig ab, bestätigt aber gerade in Bezug auf die alltägliche Schulwirklichkeit deren autoritären Stil und sozialdisziplinierende Funktion. Vgl. Sack: Prügel-Pädagogen, S. 89–91. Vgl. zum Beispiel Sturm an Regierung Wiesbaden, 19.8.1900, HHStAW 405, 18288.
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sind, ohne solche nicht fertig werden“.304 Auch wenn solche Aussagen mit dem Ziel der eigenen Rechtfertigung natürlich höchst kritisch zu sehen sind, dürften sie einen wahren Kern enthalten: Das Beschweren über eine konkrete Züchtigung durch den Lehrer ist keinesfalls gleichzusetzen mit der grundsätzlichen Ablehnung dieses Strafmittels in der Schule oder gar in der Erziehung allgemein. Aussagen von Lehrern, die Eltern hätten sie selbst gebeten, ihr Kind wenn nötig körperlich zu strafen, mögen noch mit Vorsicht zu bewerten sein.305 Teilweise versicherten aber auch die sich beschwerenden Eltern selbst ausdrücklich, dass sie eben nicht grundsätzlich gegen körperliche Strafen, sondern nur mit Art oder Anlass der jeweiligen Züchtigung nicht einverstanden seien. Beispielsweise äußerte etwa ein Vater, der dem Lehrer vorwarf, seinen Sohn nicht, wie behauptet, wegen Unaufmerksamkeit, sondern wegen eines Rechenfehlers geschlagen zu haben: „Ein Betragen, wie das oben erwähnte, wäre von mir ganz exemplarisch geahndet worden & hätte mir keineswegs Anlass gegeben, mich an Kgl. Regierung beschwerdeführend zu wenden.“306 Umgekehrt ist unter den untersuchten Fällen dieses Zeitabschnitts kein einziger, in dem Eltern (oder andere Beteiligte) eine grundsätzliche Ablehnung gewaltsamer Erziehungsmittel äußerten. Nicht nur Eltern betonten ihre grundsätzliche Akzeptanz körperlicher Strafen, in mehreren Fällen taten dies sogar die direkt Betroffenen, die Schüler: Sie sagten beispielsweise aus, der Lehrer schlüge sie zwar, aber niemals „ungerechter Weise“; oder sie hätten die Strafe verdient.307 Nun sind solche Aussagen natürlich nicht als authentische Belege für die Einstellungen und Reaktionen der Schüler zu verstehen; schon zeitgenössisch sahen Staatsanwaltschaften und Gerichte die Gefahr der Beeinflussung der Kinder durch ihren Lehrer. Sie zeigen aber, dass die Schüler offensichtlich stark verinnerlicht hatten, welche Reaktion auf körperliche Strafen Erwachsene von ihnen erwarteten – nämlich die Akzeptanz als in ihrem eigenen Interesse liegendes Erziehungsmittel. Wie weit eine solche fast schon selbstverständliche Akzeptanz körperlicher Strafen verbreitet war, wird auch in anderen Situationen deutlich: Zum Beispiel, wenn ein unbeliebter Lehrer von seiner Schulgemeinde massiv kritisiert wurde, Beschwerden wegen wiederholter übermäßiger Körperstrafen gegen ihn vorlagen – und sich diese Misshandlungen dennoch nicht unter den zahlreichen 304 305
306 307
Rechtsanwalt Levie an LG Kassel, 30.7.1888, HStAM 274 Kassel, 149, Bl. 63. So berichtete etwa ein angeklagter Lehrer, der Vater des geschlagenen Jungen habe ihn „öfter aufgefordert seine Jungen tüchtig dranzunehmen, damit sie etwas lernten, und wenn sie unaufmerksam waren, sie zu züchtigen“ (AG Wildungen: Protokoll über Vernehmung Wiesemanns, 28.4.1899, HHStAM 274 Kassel, 796, Bl. 23–25). Ein anderer betonte, es seien „doch schon genug Eltern bei mir gewesen, die sogar eine strengere Bestrafung ihrer Kinder erwarten“ (Sturm an Regierung Wiesbaden, 19.8.1900, HHStAW 405, 18288). Sandner an Regierung Wiesbaden, 4.10.1900, HHStAW 405, 18288. AG Wildungen: Protokolle v. Zeugenaussagen, 13./14.4.1894, HStAM: 274 Kassel, 796, Bl. 12–14.
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Vorwürfen finden, die von den die Versetzung des Lehrers fordernden Gemeindemitgliedern aufgelistet wurden.308 Ähnlich ist die Situation, wenn Eltern ihre Anzeige mit weiteren Faktoren, zum Beispiel der Reaktion des Lehrers auf eine persönliche Beschwerde, begründeten und damit suggerierten, dass die Züchtigungsrechtsüberschreitung allein für sie eben kein Anlass zur Klage gewesen wäre.309 Selbst die in der Theorie nahezu einmütig abgelehnten – bzw. aufgrund der unklaren Abgrenzung zur Faulheit zumindest umstrittenen – Schläge wegen schlechter Leistungen stießen auf relativ breite Akzeptanz. Ein besonders deutliches Beispiel stammt von einem Bürgermeister, der sich als Vertreter des Staatsanwalts (!) in einer Gerichtsverhandlung gegen die Verurteilung eines Lehrers aussprach: Schließlich habe der Angeklagte mit seinen Ohrfeigen versucht, „ein Kind, das auf andere Zuchtmittel nicht reagiert, kräftig anzuspornen, damit es womöglich bis Ostern zur Versetzung reif werde“ – und dafür sei er nicht zu bestrafen.310 Auch wenn Eltern sich beim Schulvorstand über den örtlichen Lehrer beschwerten, der Schulkinder „trotz offenbar richtiger Antworten“ geschlagen habe, legt dies nahe, dass falsche Antworten als ein üblicher und anscheinend auch als legitim angesehener Grund für Schläge galten.311 2.5.5 Über Einzelfälle hinaus
Die Zusammenstellung und Auswertung von Einzelfällen, wie sie in diesem Kapitel versucht wurde, ließe sich nahezu beliebig fortsetzen – aufgrund des begrenzten Rahmens dieser Arbeit konnte sie jedoch nur an einer relativ kleinen Stichprobe erfolgen. Somit muss sie sich die entscheidende Frage gefallen lassen: Welche Repräsentativität besaßen die hier vorgestellten Fälle, was lässt sich über einzelne Anekdoten hinaus über die Strafpraxis in den Schulen des späten 19. Jahrhunderts – oder über den Umgang mit Überschreitungen des Züchtigungsrechts und über deren Häufigkeit – aussagen? So zentral diese Fragen sind, so schwer sind sie auch zu beantworten.312 Vergleichsweise klare Aussagen lassen sich, zumindest auf den ersten Blick, zur Häufigkeit von Fällen wie den hier vorgestellten treffen. So gab es etwa im Regierungsbezirk Wiesbaden von 1879 bis 1899 insgesamt 20 bis 22 Gerichtsverfahren gegen Lehrer wegen Körperverletzung im Amt (wovon eines
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Vgl. mehrere Unterzeichner an Regierung Wiesbaden, 23.7.1892, HHStAW 405, 15091. So beispielsweise Heinrich Schmidt an Regierung Wiesbaden, 10.10.1886, HHStAW 405, 15731. Rechtsschutz III, in: Pädagogische Zeitung 15 (1886), Nr. 14. Schulvorstand Wolfgruben: Protokoll, 29.4.1884, HHStAW 405, 13878, Bl. 36. Vgl. hierzu die methodischen Überlegungen am Anfang dieser Arbeit (S. 25 f.)
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mit Freispruch endete).313 Zur Einordnung dieser Zahl ist zu bedenken, dass der Bezirk im Jahr 1891 899 Schulen mit 125.691 Schülern umfasste.314 Im Regierungsbezirk Koblenz (111.748 Schüler an 1.011 Schulen) waren es im halb so langen Zeitraum von 1891 bis 1901 15 gerichtlich geahndete Fälle (neben 58 Fällen von anderen durch Lehrer begangenen Delikten), dazu kamen zwei zu Strafe führende Disziplinarverfahren.315 Deppisch und Meisinger kommen für den in der Provinz Posen gelegenen, in Bezug auf die Zahl von Schülern und Schulen etwas kleineren (106.523 Schüler, 914 Schulen) Regierungsbezirk Bromberg zwar zu höheren Zahlen, die sich aber immer noch in ähnlichen Größenordnungen bewegen.316 Die Frage nach der Aussagekraft solcher Zahlen war schon zeitgenössisch stark umstritten, zumal die Häufigkeit von Überschreitungen selbst Argument in der kontroversen Debatte zu körperlichen Strafen war: So meinte etwa ein SPD-Abgeordneter 1892 im sächsischen Landtag: „Wir können nicht jeden Fall unter Beweis stellen; denn sie sind so tausendfach im Laufe der Jahre zu verzeichnen, daß –“, woraufhin ihn „lebhafter Widerspruch“ unterbrach.317 Die gegenteilige Extremposition lieferte in einer ähnlichen Parlamentsdebatte ein konservativer Abgeordneter, der auf Regierungszahlen verwies, laut denen von 1884–1893 insgesamt nur acht Disziplinarfälle wegen Überschreitung des Züchtigungsrechts beim sächsischen Kultusministerium vorgekommen seien, was „die Seltenheit des Vorkommens mißbräuchlicher Ausübung“ beweise.318 Demgegenüber wandte bereits sein Gegner in der Debatte ein, was auch für heutige 313
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Bei zwei Fällen ließ sich nicht ermitteln, ob die verzeichnete „Körperverletzung“ an einem Schulkind oder außerhalb der Schule begangen wurde. Anklagen wegen Überschreitung des Züchtigungsrechts machten ca. 29 % der gesamten verzeichneten Strafverfahren gegen Lehrer aus (und waren damit das häufigste Delikt, gefolgt von Beleidigung mit ca. 20 und Sittlichkeitsverbrechen mit ca. 16 %). Der Anteil an Freisprüchen erscheint außergewöhnlich niedrig, was vermuten lässt, dass in vielen Jahren nur mit einer Verurteilung endende Verfahren eingetragen wurden, obwohl die Listen den Titel „Nachweisung über die [. . . ] geführten gerichtlichen Untersuchungen“ trugen. Vgl. HHStAW 405, 13153. Vgl. Preußische Statistik 120, S. 2–35. Dort auch die folgenden Größenangaben. Übersicht über disziplinarische und gerichtliche Untersuchungen, LHA Koblenz, 44131239. Hierbei ist zu beachten, dass hier nur diejenigen Verfahren berücksichtigt wurden, die tatsächlich zu einer Bestrafung des Lehrers führten. Auch sind nur förmliche Disziplinarverfahren erfasst, es fehlen also Verweise oder geringe Geldstrafen, die ohne ein solches Verfahren erteilt werden konnten. Sie zählen von 1879 bis 1899 insgesamt 68 gerichtlich untersuchte Fälle von Körperverletzung im Amt (Stand, S. 350). Allerdings sind hierin 29 Freisprüche bzw. Verfahrenseinstellungen enthalten, was einen Teil der Differenz zu den Zahlen für Wiesbaden und Koblenz erklären könnte. Abg. Goldstein, Sächsischer Landtag, II. Kammer, 47. Sitzung am 17.2.1892, Mittheilungen 1891/92, Bd. 1, S. 573. Abg. Dr. Schober, Sächsischer Landtag, II. Kammer, 37. Sitzung am 5.2.1894, Mittheilungen 1893/94, Bd. 1, S. 469.
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2. „Prügelpädagogik“ gegen „Humanitätsduselei“ – Debatten bis 1900
Rekonstruktionsversuche zu beachten ist: „In sehr vielen Fällen haben die Leute gar nicht das Geschick, eine Beschwerde an irgend eine höhere Instanz zu richten“319 , auch Furcht vor Nachteilen für die eigenen Kinder konnte vor einer Beschwerde abschrecken. Dies bedeutet, dass die Häufigkeit von Schlägen, die von Eltern oder anderen Beobachtern (möglicherweise auch von Schulbehörden oder Gerichten, wenn sie denn zu ihrer Kenntnis gelangt wären) als Misshandlung angesehen wurden, deutlich höher zu veranschlagen ist, als es die Zahlen von Strafprozessen oder Disziplinarverfahren suggerieren. Andererseits deuten die im vorigen Abschnitt dargestellten Befunde darauf hin, dass es auch die weitgehende Akzeptanz von körperlichen Strafen war, die zur verhältnismäßig geringen Anzahl von Beschwerden oder Anzeigen führte. Mit „weitgehende Akzeptanz“ könnte man zugespitzt auch die Reaktionen der Schulbehörden beschreiben – zumindest wenn man die dienstlichen Sanktionen bei körperlichen Strafen als Maßstab nimmt: Geldstrafen (in Höhe von 50 bzw. 10 Mark) wurden nur in zwei der untersuchten Fälle verhängt, wobei es sich in einem Fall um einen Wiederholungstäter handelte, dem wegen eines anderen Vorfalls körperliche Strafen im entsprechenden Schuljahr untersagt waren, im anderen Fall noch weitere Vorwürfe gegen den Lehrer vorlagen.320 In den anderen Fällen beließen es die Bezirksregierungen meist bei Ermahnungen, förmlichen Verweisen oder der Androhung von Konsequenzen (z. B. förmlichen Disziplinarverfahren oder Entzug des Züchtigungsrechts). Allerdings stimmten die Regierungen mehrfach einer strafrechtlichen Verfolgung des Falls zu.321 Diese konnte für den Lehrer deutlich schwerere Folgen haben, denn zu den im Fall einer Verurteilung verhängten Geldstrafen – Haftstrafen kamen in den untersuchten Fällen nicht vor – in Höhe von 10 bis 250 Mark kamen noch die nicht unerheblichen Gerichtskosten. Solche Strafsummen konnten gerade für Lehrer auf dem Land die Höhe mehrerer Monatsgehälter übersteigen. Insgesamt können jedoch die immer wieder geäußerten Klagen, die Rechtsprechung sei „für uns Lehrer zu einer großen Gefahr geworden“322 sowohl in Bezug auf die
319 320 321
322
Abg. Seifert, Sächsischer Landtag, II. Kammer, 37. Sitzung am 5.2.1894, Mittheilungen 1893/94, Bd. 1, S. 477. Vgl. die in HHStAW 405, 10574, und HHStAW 405, 15091, dokumentierten Fälle. In zwei Fällen lehnten sie sogar trotz ausdrücklicher Bitte von Lehrern und lokalen Schulinspektoren die Erhebung des Kompetenzkonflikts, also eines Einspruchs gegen die strafrechtliche Verfolgung, ab (vgl. HHStAW 405, 15534, und 405, 14137). Dies wiederlegt die These Folkert Meyers, das Verfahren des Kompetenzkonflikts habe „den Eltern die Möglichkeit der Strafverfolgung“ genommen, „indem es den Lehrern den fast unbeschränkten Schutz der vorgesetzten Behörden im Falle der Strafverfolgung wegen Überschreitung des Züchtigungsrechtes sicherte“ (Schule, S. 45). Das Züchtigungsrecht – eine Kalamität (Aus den Erfahrungen der RechtsschutzKommission des Deutschen Lehrervereins), in: Pädagogische Reform 25 (1901), Nr. 31, Rechtsbeilage.
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2.6 Zwischenfazit bis 1900: weitverbreitete Akzeptanz
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Häufigkeit von Verurteilungen als auch auf die Schwere der Strafen relativiert werden. Es lässt sich nicht erkennen, dass eine Gruppe von Akteuren grundsätzlich strengere oder mildere Maßstäbe angelegt hätte als eine andere: In den meisten Fällen waren sich die Schul-Abteilung der Bezirksregierung und die Strafjustiz in der Bewertung zumindest insoweit einig, dass die Regierung einer strafrechtlichen Verfolgung zustimmte – es gab jedoch auch Fälle, in denen die Regierung eine Züchtigung als legitim ansah, die von den Gerichten als Überschreitung gewertet wurde, oder umgekehrt. Auch die örtlichen Schulinspektoren verteidigten in manchen Fällen den Lehrer, in manchen bestätigten sie die Anklagepunkte, ohne dass sich eine bestimmte Tendenz feststellen ließe. Im Fall Burhenne wertete der begutachtende Arzt die Züchtigung, wie oben geschildert, als Misshandlung – im Gegensatz zu Gericht und Behörde. In anderen Fällen war es gerade der Arzt, dessen Einstufung der Schläge als ohne schwerwiegende Folgen zum Freispruch des Lehrers führte.323 Zusammenfassend lässt sich für das jeweilige Verhalten von Schulbehörden, Staatsanwaltschaften, Ärzten und Gerichten als einziges Muster ableiten, dass es eben kein eindeutiges Muster gibt. Die jeweilige Bewertung konnte von den unterschiedlichsten Faktoren abhängen, seien es die individuellen Einstellungen zu den Grenzen körperlicher Strafen oder aber auch der jeweilige Ruf, den züchtigender Lehrer bzw. bestrafter Schüler genossen.
2.6 Zwischenfazit bis 1900: weitverbreitete Akzeptanz Die Untersuchung der Einzelfälle zeigt einige übergreifende Tendenzen, die sich in ähnlicher Form in den allgemeinen Debatten zum Thema wiederfinden: Dies sind neben dem Akzeptieren von deutlichen Verletzungen wie etwa Blutergüssen als Züchtigungsfolgen vor allem der hohe Stellenwert von Autorität und von Gehorsam als Körperstrafen rechtfertigendes Erziehungsziel oder die Annahme, dass Vernachlässigung im Elternhaus durch besonders strenge Erziehung, insbesondere durch Strafen, ausgeglichen werden müsse. Diese Denkmuster erlaubten es, Körperstrafen als zum vermeintlich Besten des Kinds dienend zu werten und so aus dem Kontext der Gewalt herauszurücken. Ergänzt um den Verweis auf historische, religiöse und pädagogische Tradition war dies die zentrale Rechtfertigung in theoretischen pädagogischen Texten, die körperliche Strafen in der Schule als nicht nur notwendiges Übel, sondern sinnvolles Erziehungsmittel beschrieben – wobei sie sich gleichzeitig von einem exzessiven, von Wut geleiteten ‚Prügeln‘ distanzierten. Diese Bewertung wurde in Lehrerzeitschriften übernommen bzw. geteilt, wobei für die Lehrerschaft neben pädagogischen Überlegungen 323
Vgl. den in HStAM 274 Kassel, 242, dokumentierten Fall.
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2. „Prügelpädagogik“ gegen „Humanitätsduselei“ – Debatten bis 1900
vor allem die Furcht vor möglichen Verurteilungen wegen Überschreitungen des Züchtigungsrechts und die Forderung nach größerer Rechtssicherheit im Vordergrund stand. Zudem konnte diese Untersuchung zeigen, dass Lehrer das Thema nutzten, um durch Abgrenzung von einer vermeintlich sentimentalen ‚Humanitätsduselei‘ ihre professionelle Haltung zu unterstreichen und ihren Status als Experten nicht nur in dieser Frage zu beanspruchen. Dass sie damit Erfolg hatten, wurde spätestens 1899 deutlich, als in Preußen eine starke Einschränkung des Züchtigungsrechts durch das Kultusministerium nicht zuletzt aufgrund des Widerstands der Lehrerschaft zurückgenommen wurde und in den Landtags- und Pressedebatten rund um die Erlasse Lehrer durchgehend als die für diese Frage relevanten Experten behandelt wurden. Dies ist deshalb umso bemerkenswerter, als in der öffentlichen Diskussion eine grundsätzliche, auf eine vollständige Abschaffung zielende Kritik, die etwa mit dem Wertbegriff der „Humanität“ argumentierte, durchaus anzutreffen war und an prominenter Stelle, etwa in der Gartenlaube, geäußert wurde. Wie gezeigt sprachen sich auch einzelne Schuldirektoren oder Pfarrer leidenschaftlich gegen Körperstrafen aus. Entscheidend ist jedoch, dass sie damit trotz ihrer Nähe zur Schule eine Außenseiterposition im pädagogischen Diskurs einnahmen, die beispielweise in Lehrerzeitschriften kaum auf Resonanz stieß. Dass schließlich auch in den untersuchten Praxisfällen nie eine völlige Ablehnung körperlicher Strafen geäußert wurde, auch nicht von den beschwerdeführenden Eltern, zeigt deutlich, wie wenig verbreitet – oder zumindest akzeptiert – eine solche radikale Gegnerschaft vor 1900 noch war. Ob und wie sich dies mit dem Anbruch eines neuen Jahrhunderts ändern sollte, wird Gegenstand der folgenden Kapitel sein.
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3. Reform – aber auch Veränderung? 1900–1933 3.1 Aufbruch ins „Jahrhundert des Kindes“ Geschichte hält sich bekanntermaßen nicht immer an runde Jahreszahlen und Epochengrenzen. Und so stammt das Zitat, welches das veränderte Reden über Körperstrafen im 20. Jahrhundert am deutlichsten zusammenfasst, ausgerechnet aus dem Jahr 1899: Anlässlich der in diesem Jahr durch die Presse gehenden Misshandlungsskandale diagnostizierte Rudolf Penzig: „Was die öffentliche Meinung dabei erregt, ist vor Allem die, Kundigen leider nichts Neues sagende, Thatsache, daß in weiten Kreisen der mit der Jugenderziehung Betrauten noch immer der Stock, die brutale Gewalt und auch roheste Schimpfworte als unentbehrliche Erziehungsmittel angesehen werden.“1 Zu diesen „Kundigen“, die von der unter Erziehern verbreiteten Akzeptanz körperlicher Strafen nicht überrascht sind, können sich nach der Lektüre des vorigen Kapitels auch die Leser dieser Arbeit zählen. Für sie ist, nachdem sie Körperstrafenkritiker von Eduard Sack über Carl Klett bis hin zur Gartenlaube kennengelernt haben, auch die über die gewaltsame Erziehungspraxis ‚erregte‘ öffentliche Meinung nichts Neues (auch wenn sie angesichts der Pressereaktionen auf den preußischen Ministerialerlass von 1899 geneigt sein dürften, diese Diagnose auf Teile der öffentlichen Meinung zu beschränken). Wenn Penzig jedoch im nächsten Atemzug der Praxis die „von der wissenschaftlichen Pädagogik jetzt fast einstimmig ausgesprochen[e] Verurteilung körperlicher Züchtigung zu Erziehungszwecken“ gegenüberstellt, dürfte dies doch manche aufmerksame Leser überraschen: Hatte nicht noch 1897 Paul Natorp diagnostiziert, die „weit überwiegende Zahl der heute einflussreichen Theoretiker“ halte körperliche Strafen für ein zulässiges, in manchen Fällen gar unverzichtbares Erziehungsmittel?2 Konnte sich die Haltung der Pädagogik zu dieser Strafart innerhalb von zwei Jahren so grundlegend verändert haben? Nun war Penzig kein ganz neutraler Kommentator und er schrieb für ein nicht ganz unspezifisches Publikum: Der zitierte Artikel erschien in der Ethischen Kultur, einer freidenkerischen „Wochenschrift für sozial-ethische Reformen“, zu deren Herausgebern Penzig gehörte, gemeinsam mit Friedrich Wilhelm Foerster, einem bald noch ausführlicher vorzustellenden Philosophen, Pädagogen – und ausgesprochenem Körperstrafengegner.3 Es liegt also nahe, davon aus1 2 3
Penzig: Prügel, S. 129. Natorp: Frage, S. 277. Vgl. S. 50 dieser Arbeit. Vgl. zur Ausrichtung der Zeitschrift und der Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur, der sie nahestand, Enders: Moralunterricht, insb. S. 61 f., zu Rudolf Penzig ebd., S. 150–153.
https://doi.org/10.1515/9783111123783-003
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3. Reform – aber auch Veränderung? 1900–1933
zugehen, dass die von Penzig beschriebene „fast einstimmig ausgesprochene Verurteilung“ körperlicher Strafen in erster Linie für die spezifische pädagogischweltanschauliche Strömung galt, in der er und seine Leser sich bewegten. Auch wenn man deshalb die Betonung auf das „fast“ legen mag, bleibt es bemerkenswert, dass 1899 eine solche Aussage überhaupt getroffen werden konnte – zwei bis drei Jahrzehnte zuvor hätte die Behauptung absurd scheinen müssen. Penzig beschrieb diesen grundlegenden Wandel selbst: Schließlich sei „vor 30–40 Jahren die körperliche Bestrafung ganz allgemein als unumgänglicher Bestandteil aller Erziehung angesehen“ worden – wogegen nun gelte: „Mag auch das Bewußtsein von der doppelten Roheit körperlicher Züchtigung, die den Schlagenden wie den Geschlagenen entwürdigt, noch nicht allgemein sein, es ist da.“ Wer deshalb „heute noch die Zucht seiner eigenen Jugend einfach nachahmt, straft die ganze geistige Entwicklung des Volkes innerhalb 30 Jahren Lügen“.4 Was brachte Penzig zu dieser Diagnose einer tiefgreifenden Veränderung innerhalb recht kurzer Zeit? Und wie gerechtfertigt war seine Behauptung, dass in der wissenschaftlichen Pädagogik um die Jahrhundertwende körperliche Strafen fast einmütig abgelehnt würden? Diesen Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden. 3.1.1 Reformpädagogische Aufbruchsstimmung . . .
Das bei Penzig zwischen den Zeilen deutlich werdende Gefühl von Veränderung, Neubeginn und Reform alles Bisherigen einte verschiedene Strömungen und Ansätze der Pädagogik um die Jahrhundertwende, die deshalb trotz aller Heterogenität unter dem Begriff „Reformpädagogik“ zusammengefasst werden.5 Vielleicht am deutlichsten wurde diese Aufbruchstimmung von Ellen Key formuliert, als sie mit ihrem 1900 in Schweden erschienenen und 1902 auf Deutsch übersetzten Buch programmatisch das Jahrhundert des Kindes ausrief. Dort forderte sie: Wir brauchen neue Heime, neue Schulen – sowie neue Ehen und neue Gesellschaftsverhältnisse – für die neuen Seelen mit ihrer unendlich vielfältigen, noch nicht einmal nennbaren neuen Art zu fühlen, zu lieben, zu leiden, das Leben zu fassen, zu ahnen und zu hoffen, zu glauben und zu beten. Die Begriffe Religion, Liebe, Kunst – all dies
4 5
Penzig: Prügel, S. 129. Bei den folgenden Ausführungen ist zu beachten, dass diese nicht den Anspruch erheben, „die Reformpädagogik“ umfassend zu beschreiben. Sie konzentrieren sich bewusst nur auf einzelne, für die Debatte um körperliche Strafen relevante und dort rezipierte Teile dieser heterogenen, facettenreichen und in der Forschungsgeschichte sehr unterschiedlich bewerteten Strömung. Vgl. für einen (Literatur-)Überblick: Link: Reformpädagogik (insbesondere S. 16–20). Die umfassendste jüngere Darstellung der Reformpädagogik als historisches Phänomen stellt das von Keim/Schwerdt herausgegebene „Handbuch der Reformpädagogik in Deutschland“ dar.
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3.1 Aufbruch ins „Jahrhundert des Kindes“
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macht jetzt eine Umwandlung durch, so eingreifend, daß man schon ahnt, daß erst in späteren Generationen die neuen Begriffe auch neue Formen schaffen werden.6
Dieses Gefühl eines Umbruchs, einhergehend mit „hohe[n] Erwartungen an die Problemlösekompetenz der Pädagogik“,7 war genauso typisch für die Reformpädagogik wie die damit verbundene scharfe Kritik am bestehenden Schulwesen, das Neugier und „Selbsttätigkeit“ der Kinder zerstöre. Stattdessen forderte Key eine auf Individualisierung und selbstständiges Arbeiten ausgerichtete Schule, die den Lernstoff an die Erfahrungswelt und Entwicklungsphasen der Kinder anpasse.8 In diesen Forderungen finden sich die beiden Kernelemente, die nahezu allen Reformpädagogen gemeinsam waren: erstens ein verstärktes Eingehen auf das (individuelle) Kind und dessen Bedürfnisse – oder mit einem zeitgenössischen Schlagwort „Pädagogik vom Kinde aus“ – und zweitens das Ideal aktiven Lernens durch eigene Tätigkeit beziehungsweise „Arbeit“, wie die damals verbreitete „Chiffre für selbsttätiges Lernen“ lautete.9 Dass diese auf grundlegende Erziehungs- und Schulreform abzielende Bewegung häufig auch eine veränderte Einstellung zur Problematik von Schuldisziplin und Strafen mit sich brachte, ist naheliegend.10 Das Einnehmen der Perspektive des Kinds und das Ideal freier Entfaltung und Entwicklung führten etwa bei Ellen Key zu einer Ablehnung körperlicher Strafen, die deutlicher kaum sein könnte: „Das Naturwidrige, sowie das Unschöne in den unnötigen Leiden des Kindes ist in meinem Bewußtsein so stark gegenwärtig, daß es mir physischen Widerwillen verursacht, die Hand des Menschen zu berühren, von dem ich weiß, daß er Kinder schlägt.“11 Auch der Lehrer Wilhelm Paulsen bekannte 1908 in der Zeitschrift Pädagogische Reform, körperliche Schulstrafen zu „verabscheuen“ – stimmte aber erstaunlicherweise mit seinen Vorgängern aus den 1870er Jahren darin überein, dass einer völligen Abschaffung „fast unüberwindliche Hindernisse“ entgegenstünden.12 Freilich ging es ihm dabei weniger um eine Rechtfertigung körperlicher Strafen als um ein Anprangern ebenjener Hindernisse. Für ihn ergab sich die Notwendigkeit von Körperstrafen beinahe zwangsläufig 6 7 8 9 10
11 12
Key: Jahrhundert, S. 14. Link: Reformpädagogik, S. 17. Vgl. Key: Jahrhundert, S. 229–257. Link: Reformpädagogik, S. 18. Allerdings gibt es, wie bereits Scheibe (Strafe, S. 220) diagnostizierte, eine auffällige Diskrepanz zwischen der zeitgenössischen Bedeutung von Strafe als einem Thema, mit dem sich die Reformpädagogik „stärkstens beschäftigt“ hat, einerseits und der geringen Rezeption dieses Aspekts in späteren Darstellungen andererseits. Diese Beobachtung lässt sich bis in die Gegenwart fortsetzen: Weder in Oelkers „kritischer Dogmengeschichte“ der Reformpädagogik noch in den von Barz und von Keim/Schwerdt herausgegebenen Handbüchern findet sich „Strafe“ oder ein verwandter Eintrag im Schlagwortregister. Key: Jahrhundert, S. 152. Paulsen: Züchtigung, S. 24. Dort auch die folgenden Zitate.
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3. Reform – aber auch Veränderung? 1900–1933
aus dem gesamten Charakter der bisherigen Schule: Da „ihr eigentlich inneres Wesen Zwang ist gegenüber einer ganz andern psychologischen Veranlagung des Kindes, gegenüber der ursprünglichen Methode einer freien kindesgemäßen Arbeit“, könne die Schule in ihrer bestehenden Form auch nicht ohne Zwangsmittel bis hin zur Körperstrafe auskommen. Diese Sichtweise ist typisch für große Teile der reformpädagogischen Bewegung: Körperliche Strafen wurden klar abgelehnt, dies war jedoch Teil einer sehr viel umfassenderen, grundlegenden Schulkritik. Das Thema erschien eher als ein nach- und untergeordnetes Problem, das sich mit der Umgestaltung von Erziehung und Schule quasi von selbst lösen werde.13 Hier liegt ein struktureller Unterschied zu den Debatten der 1870er und 1880er Jahre: Zwar wurden auch damals Körperstrafen – beziehungsweise deren einstweilige Rechtfertigung als notwendiges Übel – mit Kritik an den Unterrichtsbedingungen und mit Reformforderungen verbunden. Dabei ging es aber stets um relativ konkrete Verbesserungen, beispielsweise kleinere Klassen oder reduzierte Lehrpläne, und nicht um einen grundlegenden pädagogischen Paradigmenwechsel. Vor allem richtete sich die frühere Kritik ausschließlich gegen die Art der Strafe, die pädagogische Berechtigung von Strafen an sich wurde dagegen kaum infrage gestellt. Für die Debatten ab der Jahrhundertwende gilt tendenziell das Gegenteil: Sie befassten sich weniger mit einzelnen Strafmitteln als mit der Frage (so die Formulierung eines Lehrers 1923), „wie wir unsere Schularbeit und unsere Schulzucht gestalten wollen, damit wir der Strafmittel möglichst nicht bedürfen“.14 Dabei lehnten nur die radikaleren Reformer Schulstrafen jeglicher Art auch für die Praxis ab.15 Aber auch die Autoren, die Strafen als Erziehungsmittel nicht ganz verwarfen, knüpften sie doch an vielfältige Einschränkungen und Bedingungen: Ellen Key und von ihr inspirierte Autoren ließen, in Anlehnung an Rousseau und den britischen Philosophen Herbert Spencer, möglichst nur „natürliche Strafen“ gelten, die sich als negative Folgen direkt aus der Tat selbst ergeben, etwa das Ersetzen oder Reparieren beschädigter Gegenstände.16 Andere Reformer forderten den Ausbau der „Selbstregierung“ 13
14 15
16
Vgl. beispielsweise folgende Beschreibung der Auswirkungen der „Arbeitsschule“ auf körperliche Strafen: „Sie wird die Ursache derselben aufheben! Denn Faulheit, Unaufmerksamkeit, Unruhe, was sind sie zumeist anders als brachliegende und darum Unkraut treibende Kraft? Arbeit ist das beste Erziehungsmittel, und darum wird die Arbeitsschule eo ipso Erziehungsschule.“, Clemens Pönitz: Prügelstrafe und Schularbeit, in: Neue Bahnen 18 (1906/07), S. 35–41, Zitat S. 40. Schumann: Schulzucht, S. 183. So etwa die Beiträge von Max Hodann („Ärztliches zu den Schulstrafen“, S. 91–94), Berta Lask („Erfahrungen über Erziehung ohne Schulstrafen“, S. 56), Margarete HoffmannGwinner („Das Leben wird bestraft!“, S. 52–54) in: Oestreich: Strafanstalt; von Bracken: Prügelstrafe, S. 189 f.; Elisabeth Rotten: Warum strafen wir?, in: Das werdende Zeitalter 6 (1927), S. 193–196. Vgl. auch Scheibe: Strafe, S. 230 f. Siehe Key: Jahrhundert, S. 137–139; Kiefer: Züchtigung, S. 187–190. Vgl. auch Scheibe: Strafe, S. 236.
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3.1 Aufbruch ins „Jahrhundert des Kindes“
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der Schüler, die einerseits durch das Übernehmen von Mitverantwortung im Schulleben Disziplinproblemen vorbeugen, andererseits die Schülergemeinschaft selbst (in größerem oder geringerem Ausmaß) an der Verhängung von Strafen beteiligen sollte.17 Einigkeit bestand darin, dass „‚Strafe‘ nur als Heilmittel diskutabel erscheinen“ könne18 (wogegen 1878 „Vergeltung, Sühne und Abschreckung“ sowie das schnelle Herstellen einer ruhigen Unterrichtsatmosphäre noch durchaus als legitime Strafzwecke gesehen werden konnten19 ). Insgesamt gehörte es, so Wolfgang Scheibes etwas pauschalisierende, aber in der Tendenz sicher richtige Zusammenfassung, „unter den Reformern im Grunde zu den Selbstverständlichkeiten, daß sie radikal gegen die Körperstrafe und kritisch zur Strafe überhaupt eingestellt waren“.20 Auch als nach dem Ersten Weltkrieg intensive Debatten über die Umgestaltung des Schulwesens in der jungen Republik geführt wurden, war die Reform der schulischen Strafpraxis zwar, verglichen mit strukturellen Fragen wie dem Verhältnis von Schule und Kirche oder der Forderung nach einer „Einheitsschule“,21 eher ein Randthema, sie geriet jedoch nicht in Vergessenheit. Aufgegriffen wurde sie etwa vom Bund Entschiedener Schulreformer. Dieser Verband hatte sich 1919 aus Opposition zu dessen konservativen bildungspolitischen Positionen vom Philologenverband abgespaltet und bestand somit zunächst aus akademisch gebildeten Oberlehrern, später jedoch auch Lehrern aller Schularten und pädagogisch interessierten Laien.22 Als trotz vieler sozialdemokratischer Mitglieder parteipolitisch neutrale Organisation trat er für eine grundlegende Reform des Bildungswesens, konkret beispielsweise für die Schaffung einer Einheitsschule, ein und kann als „zentrales Forum, in dem Ideen der Reformpädagogik und der reformsozialistischen Erziehungstheorie diskutiert und verbreitet wurden“, gesehen werden.23 1922 forderte er in einer Eingabe an die obersten Schulbehörden aller deutschen Länder „die Abschaffung bisheriger Strafmittel und -methoden“, worunter neben körperlichen Strafen auch Karzer, Strafarbeiten in Form stupider Schreibübungen oder das Nichtbestehen als Strafe für Betrugsversuche
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Vgl. Scheibe: Strafe, S. 238–253. Vorstand des Gesamtbundes Entschiedener Schulreformer: Eingabe, in Oestreich: Strafanstalt, S. 165–173, Zitat S. 166. Gesell: Körperliche Züchtigung, S. 14. Scheibe: Bewegung, S. 71. Auch Dudek (Züchtigung, S. 81) beschreibt Reformpädagogen als „in der Regel erklärte Gegner der Prügelstrafe“. Vgl. dazu etwa Zymek: Schulen, S. 161–181; Bernhard: Reformpädagogik, S. 88–97; Becker/ Kluchert: Bildung, S. 159–364; zur Intensität der öffentlichen Diskussion vgl. insbesondere Engelhardt: „Bildungskrise“; zu den schulreformerischen Aktivitäten der Lehrervereine vgl. Lamberti: Politics. Vgl. Bernhard: Reformpädagogik, S. 73–88. Ebd., S. 9.
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3. Reform – aber auch Veränderung? 1900–1933
bei Prüfungen verstanden wurden.24 Stattdessen vorgeschlagene Strafen waren beispielsweise Wiedergutmachung des angerichteten Schadens, Nachsitzen mit sinnvoller Beschäftigung oder zeitweises Ausschließen aus der Gemeinschaft, sei es durch einen Sitzplatz abseits der anderen Schüler oder durch Ausschluss von Festen, Ausflügen und Ähnlichem. Diese Eingabe wurde begleitet von einem Sammelband mit 38 kurzen Aufsätzen von Pädagogen, Lehrern, Medizinern und anderen, die unter dem Titel Strafanstalt oder Lebensschule persönliche Ansichten und Erfahrungen zu Schulstrafen äußerten. Dies war wohl der prominenteste direkte Versuch, auf überregionaler Ebene Schulbehörden und Lehrer zu einem veränderten Umgang mit (körperlichen) Strafen aufzufordern – ob er erfolgreich war beziehungsweise inwieweit die reformpädagogischen Ideen insgesamt die schulische Strafpraxis und die rechtlichen Vorgaben beeinflussten, wird in den späteren Kapiteln zu zeigen sein. Zunächst aber soll ein näherer Blick darauf geworfen werden, wie genau die sich um die Jahrhundertwende in der Pädagogik etablierende Ablehnung körperlicher Strafen begründet wurde. Lagen ihr grundlegend neue Argumente zugrunde oder handelte es sich um die Gründe, die bereits um 1870 von pädagogischen Außenseitern wie Klett, Mertens oder Sack vorgebracht worden waren? 3.1.2 . . . mit altbekannten Argumenten? Ellen Key: Einfühlung in die Perspektive des Kindes
Hier erscheint es gerechtfertigt, als erstes Ellen Keys Jahrhundert des Kindes näher vorzustellen: Schließlich findet sich darin nicht nur eine der frühesten und radikalsten Ablehnungen körperlicher Strafen durch „eine der entscheidenden Stichwortgeberinnen der Reformpädagogik“25 , sondern diese Schrift nimmt vor allem in Bezug auf ihre Rezeption eine Ausnahmestellung ein: Sie erreichte nicht nur eine beeindruckende Auflagenzahl und Öffentlichkeitswirkung26 , sondern wurde auch in den Debatten zu körperlichen Strafen breit rezipiert – teils zustimmend, teils äußerst negativ.27 24 25 26
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Vorstand des Gesamtbundes Entschiedener Schulreformer: Eingabe, in: Oestreich: Strafanstalt, S. 165–173, Zitat S. 168. Andresen/Baader: Wege, S. 111. Dräbing (Traum, S. 6) zählt bis 1911 insgesamt 17 Auflagen (zusammen 45.000 Exemplare) von zwei verschiedenen Ausgaben des Buchs und zwei weitere Auflagen 1921 und 1926. Auch weist er darauf hin, dass das Buch zu den in Leihbüchereien meistgelesenen zählte (vgl. S. 399). Vgl. beispielsweise: Pillf: Züchtigung, S. 239 f.; Ein Beitrag zur „Prügelmethode“ im allgemeinen, und über „Schläge“ in Schule und Haus im besonderen, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 20 (1903), S. 992–995, hier S. 992; Kiefer: Züchtigung, v. a. S. 186–194; kritischer: ders.: Psychologie, S. 172; äußerst negativ: Gottschalk: Auswüchse, S. 521.
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3.1 Aufbruch ins „Jahrhundert des Kindes“
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Das oben angeführte Zitat von Ellen Key, ihr bereite es physischen Widerwillen, die Hand eines Kinder schlagenden Menschen zu berühren, ist typisch für die ihren gesamten Text durchziehende Haltung: Körperliche Strafen erscheinen als roh und barbarisch, ihr Gewaltcharakter wird betont. Dies ähnelt stark der in den 1870er Jahren mit dem Schlagwort der „Humanität“ verknüpften Kritik, ist allerdings bei Key mit dem für ihre Zeit typischen Aufbruchs- und Fortschrittsgedanken verbunden: So beschreibt sie nicht nur die zunehmende Zurückdrängung von Gewalt im Strafrecht oder in der Ehe und leitet aus dieser Entwicklung den Verzicht auf gewaltsame Erziehungsmittel als logischen nächsten Schritt ab, sondern erklärt beides wiederum mit einem „in bezug auf ein zusammengesetzteres und verfeinerteres Vermögen des Leidens“ fortentwickelten „Seelenleben“, dessen Entwicklung sie mit ihrer Erwartung „neuer Seelen“ auch in die Zukunft projizierte.28 Die Betonung des gewaltsamen Charakters körperlicher Strafen geht bei Key einher mit einem Einfühlen in die Situation des Kindes, das wesentlich intensiver und für ihre Argumentation wichtiger ist als die Ansätze einer solchen Perspektivübernahme, die bei früheren Körperstrafenkritikern festgestellt wurden. So fordert sie ausdrücklich von Erziehern, „immer die eigenen Gefühle und Eindrücke ihrer Kindheit bei jedem Eingriff in das Dasein eines Kindes gegenwärtig zu haben“, und beschreibt ebenso empathisch wie emphatisch Beispiele für diese kindlichen Gefühle: „seine grenzenlose Verzweiflung, seine brennende Empörung, seine einsamen Tränen, sein gekränktes Rechtsgefühl, die entsetzlichen Ausgeburten seiner Phantasie, seine wahnwitzige Scham, seinen unbefriedigten Freude- oder Freiheits- und Zärtlichkeitsdurst“.29 Friedrich Wilhelm Foerster: Disziplin und Gehorsam neu definiert
Nur ein Autor übte einen mindestens ähnlich starken Einfluss auf die Debatten über Körperstrafen aus wie Ellen Key: Friedrich Wilhelm Foerster.30 Dabei waren die Positionen dieser beiden Vordenker keineswegs identisch, im Gegenteil: Laut einem Bericht über einen Vortrag Foersters im Berliner Lehrerverein „polemisierte er gegen Ellen Key“ und ihr Bild von der Natur des Kindes:31 Während für 28
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Key: Jahrhundert, S. 146. Zu Keys Konzept des ‚neuen Menschen‘ und ihrer quasireligiösen Überhöhung des Entwicklungsgedankens vgl. Andresen/Baader: Wege, S. 13–28; zu den darin enthaltenen eugenischen und darwinistischen Gedanken vgl. Benner/Kemper: Theorie, S. 57–61. Key: Jahrhundert, S. 151 f. Vgl. als Beispiele für stark von Foersters Positionen geprägte Äußerungen: Fuhrmann: Selbstverwaltung; Schumann: Schulzucht; Ritter: Nation; Patiens: Aufgeschoben. Zur großen Popularität von Foersters Erziehungsschriften im Allgemeinen vgl. Herrmann: Denken, S. 158, sowie Enders: Moralunterricht, S. 167 f. Flügel: Gesichtspunkte, S. 420. Vgl. auch Oelkers’ Charakterisierung Foersters als „christlicher Reformpädagoge von Rang“ mit „Affinität zu vielen Konzepten der internationalen
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Key (und einige andere Reformpädagogen) die freie Entfaltung der kindlichen Individualität zentral war, lehnte Foerster diesen Ansatz als „Kampf gegen das Prinzip des Gehorsams und der Autorität in der Erziehung“ massiv ab.32 Er widersprach „Rousseaus Aberglauben“ an eine grundsätzlich gute Kindesnatur und betonte die Notwendigkeit des Lernziels Gehorsam als Voraussetzung zur Entwicklung von Selbstdisziplin, zur „Erziehung zum Widerstande gegen das eigene Selbst“.33 Diese Betonung von Gehorsam und Selbstdisziplin als Erziehungsziele – bei einem Vortrag äußerte Foerster gar, „das Kind müsse dazu erzogen werden zu lernen, seinen Willen selbst zu brechen“34 – erinnert auf den ersten Blick auffällig an die Konzepte der „Schulzucht“, mit denen im 19. Jahrhundert Strafen, insbesondere körperliche, gerechtfertigt wurden.35 Foerster jedoch „bekennt sich als radikaler Gegner jeder körperlichen Züchtigung“36 und auch in Bezug auf das Erziehungsideal gibt es einen grundlegenden Unterschied: Foersters Ziel war ein freiwilliger Gehorsam, der einem demokratischen Geist (im Sinne des bewussten Einfügens in eine freiwillig akzeptierte, selbst mitgestaltete Ordnung) entspringen solle und vor allem die Menschenwürde des Gehorchenden wahren müsse.37 Für ihn war es Grundanforderung an die Schuldisziplin, dass „wir Bürger eines demokratischen Gemeinwesens heranziehen, statt gedrillte und verprügelte Untertanen“.38 Genau an diesem demokratischen Erziehungsziel setzt auch seine Ablehnung körperlicher Strafen an: Zum einen ist das Lernziel freiwilliger Selbstdisziplin und Selbstverantwortung für Foerster unvereinbar mit jeglicher rein auf äußerlichem Zwang und Abschreckung basierenden Disziplin, die nicht auf innere Einsicht des Kinds abzielt. Vor allem aber beschrieb er körperliche Züchtigung als die entehrende und erniedrigende Strafe schlechthin, da sie den Geschlagenen wie ein Tier behandle und ihm die geistige Ansprechbarkeit abspreche.39 Dies mache sie „absolut unvereinbar mit jenem Ehrgefühl und jener persönlichen Würde, welche zur moralischen Basis der Demokratie gehören“.40 Dass Körperstrafen „brutalisierend und entehrend“ wirken, dass mit ihnen der Erzieher „das Ehrgefühl tot schlägt“41 , ist Foersters zentraler Grund für die kom-
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Reformpädagogik, ohne dass Förster eine ‚kindzentrierte‘ Pädagogik vertreten hätte“ (Reformpädagogik, S. 254, Fn. 2). Foerster: Schule, S. 94. Ebd., S. 109. Flügel: Gesichtspunkte, S. 420. Vgl. S. 31. Foerster: Jugendlehre, S. 707. Vgl. Foerster: Schule, S. 82–84, S. 112–117. Foerster: Schule, S. 89. Vgl. Foerster: Jugendlehre, S. 708. Die gleiche Begründung für die Einstufung körperlicher Strafen als entehrend und entwürdigend findet sich z. B. auch bei Barth: Elemente, S. 70. Foerster: Schule, S. 180, Fn. 2. Ebd., S. 180.
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promisslose Ablehnung dieser Strafart – und gleichzeitig ein Gedanke, der ganz ähnlich schon von Carl Klett 1869 geäußert wurde. Beiden Autoren ist ebenfalls gemeinsam, dass sie „Ehrgefühl“ oder „Selbstachtung“ und „Menschenwürde“ in engem Zusammenhang, ja nahezu synonym verwendeten.42 Foerster fügt dieser Gleichung jedoch eine neue Komponente hinzu, indem er das so verstandene Ehrgefühl eng mit der Demokratie verbindet, als deren notwendige „moralische Basis“. Demokratische Erziehung ist auch der Leitgedanke bei Foersters alternativen Vorschlägen zur Gestaltung der Schuldisziplin: Er forderte eine „Selbstregierung“, bei der die Schüler bei der Festlegung von Regeln, vor allem aber bei der Überwachung von deren Einhaltung aktiv beteiligt sein sollten. Freilich zielten diese Ansätze weniger auf echte Selbstbestimmung denn auf organisatorische Mitwirkung und letztlich auf die Stärkung von schulischer Ordnung und Lehrerautorität ab – auch hier war freiwilliger Gehorsam das zentrale Erziehungsziel.43 Ein wichtiger Einfluss war für Foerster dabei die zeitgenössische amerikanische Pädagogik, insbesondere das von Wilson Gill seit 1897 in New Yorker Volksschulen eingeführte „School City“-System.44 Auch bei der konkreten Frage körperlicher Strafen verwies er mehrfach auf positive Erfahrungen, die in Nordamerika mit der Abschaffung dieses Strafmittels gemacht worden seien.45 Der Verweis auf das Beispiel der USA war in deutschen Debatten über Schulstrafen nichts Neues, sondern bereits in den 1870er Jahren mehrfach zu finden. Damals allerdings zeichneten nahezu alle Autoren ein äußerst negatives Bild der amerikanischen Schulverhältnisse und beschrieben sie als abschreckendes Beispiel extremer Undiszipliniertheit bis hin zur Jugendkriminalität, die durch fehlende bzw. zu weiche Schulstrafen entstanden sei.46 Foerster war dagegen 42
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So lobt Foerster unter der Abschnittsüberschrift „Die Menschenwürde des Kindes“ den „Respekt vor der Selbstachtung des Kindes“, der die amerikanische Pädagogik auszeichne (Schule, S. 177). Diesen Aspekt betont besonders stark – und etwas einseitig – Kamp, für den Foerster durch seine Versuche, durch Manipulation des Schülerwillens freiwilligen Gehorsam zu erzeugen und die vom Lehrer überwachte Selbstverwaltung zur Kontrolle in dessen Sinn zu nutzen, „als einer der klarsten und intelligentesten Vertreter der (auf Herrschaft und Unterdrückung zielenden) schwarzen Pädagogik“ erscheint (Kinderrepubliken, S. 97). Vgl. Enders: Moralunterricht, S. 179. Zu Gills „School City“ und der Rezeption der Schülermitverwaltung in Deutschland vgl. Kamp: Kinderrepubliken, S. 236–240. Zum breiteren Kontext der vor allem mit dem Namen John Deweys verbundenen US-amerikanischen Schulreformbestrebungen um die Jahrhundertwende und zu den Grenzen ihres Einflusses auf die Unterrichtspraxis vgl. Urban/Wagoner: American Education, S. 175–207. Vgl. Foerster; Jugendlehre, S. 173 f.; Foerster: Schule, S. 151–175. Dieses deutsche Bild amerikanischer Schuldisziplin brachte ein Lehrer 1905 auf den Punkt mit einem Satz, den er einem aus Amerika stammenden Schüler in den Mund legte: „In Amerika sind das Lehrer gut und die Buben bös und in Deutschland sind das Lehrer bös und das Buben brav“ (Mang: Körperstrafe, S. 312). Vgl. auch Strebel: Schulstrafen, S. 294; Gedanken über das Züchtigungsrecht der Schule, in: ADLZ 30 (1878), S. 214–215, hier
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einer der ersten, die das amerikanische Vorbild positiv bewerteten47 – wobei er es nicht nur als bestenfalls auf einzelne Anekdoten gestützte Projektionsfläche eigener Annahmen nutzte, sondern tatsächlich die Arbeiten amerikanischer Theoretiker und Reformprojekte rezipierte und so zu deren Bekanntwerden im deutschsprachigen Raum beitrug.48 Die gewachsene Sensibilität für das Ehrgefühl des Kindes
Neben den jeweils individuellen Schwerpunkten, die Foerster und Key setzten, etwa der Unvereinbarkeit körperlicher Strafen mit demokratischer Erziehung oder der Notwendigkeit neuer Erziehungsmittel für den „neuen Menschen“, lassen sich einige zentrale Argumente identifizieren, die bei beiden Autoren sowie auch vielen ihrer Zeitgenossen eine wichtige Rolle für die Ablehnung körperlicher Strafen spielten: Nahezu allgegenwärtig war insbesondere der schon bei Foerster beschriebene Aspekt des „Ehrgefühls“, auch wenn er von keinem anderen so explizit mit Menschenwürde und Demokratie verbunden wurde. Dass von einigen Pädagogen „gerade die Wirkung auf das Ehrgefühl als das eigentlich Bedenkliche an der körperlichen Strafe empfunden“ werde, konnte schon 1897 der Sozialpädagoge Paul Natorp zusammenfassen (und sich dabei auf noch frühere Autoren wie die Herbartianer Heinrich Kern und Theodor Waitz beziehen).49 Er lehnte die von vielen Lehrern beabsichtigte Wirkung, den Schüler durch körperliche Strafen zu beschämen, noch aus eher pragmatischen Erwägungen ab: „Ist das wahre Ehrgefühl im Zögling vorhanden, dass er sich erniedrigt, wenn er etwas thut, das Prügel verdient, so bedarf es schon gar nicht mehr der Prügel.“50 Fehle dieses Bewusstsein für das Beschämende der uner-
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S. 214; Gesell: Züchtigung, S. 15; G. M.: Öffentliche Urteile über die körperliche Züchtigung in unseren Schulen, in: Pädagogische Zeitung 33 (1904), S. 139–140, hier S. 140; Richard Natango: Die Prügelstrafe aus der Schule?, in: Pädagogische Warte (1911), S. 397–400. Eine frühere Ausnahme stellt Eduard Sack (Prügelpädagogen, S. 58 f.) dar, der bereits 1878 auf „amerikanische Pädagogen“ als Züchtigungsgegner verwies und die starke Einschränkung körperlicher Strafen an den Schulen von St. Louis als positives Vorbild anführte. Diese Rolle Foersters als Multiplikator amerikanischer Konzepte zur Schuldisziplin zeigt sich z. B. daran, dass in der Pädagogischen Zeitung 1909 ein Auszug aus Schule und Charakter über die Idee der „school city“ abgedruckt wurde (Disziplin, in: Pädagogische Zeitung 38 (1909), S. 999–1000). Auch ein Lehrer, der 1911 über seine Erfahrungen mit Versuchen zur „Selbstregierung“ der Schüler berichtete, machte schon im Titel seines Aufsatzes deutlich, dass sein Aufgreifen amerikanischer Methoden durch Foerster inspiriert war (Hubert: Über Schuldisziplin und ihre notwendige Reform. Praktische Erfahrungen und Ratschläge nach den in Dr. Försters Schriften gegebenen Anregungen, in: Sächsische Schulzeitung 78 (1911), S. 420–422, S. 459–460, S. 481–482, S. 619–622). Auch Enders (Moralunterricht, S. 179) und – trotz kritischer Bewertung Foersters – Kamp (Kinderrepubliken, S. 239 f.) betonen Foersters Vorreiterrolle bei der Verbreitung anglo-amerikanischer Modelle zur Schülerselbstregierung. Natorp: Frage, S. 281. Ebd., S. 283 f.
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laubten Tat dagegen, dann führe die Demütigung durch Schläge zur Empörung nicht über das eigene Fehlverhalten, sondern ausschließlich über den Strafenden. Auch Lucy Hoesch-Ernst beschrieb es als natürliche, angemessene Reaktion (und nicht, wie von Körperstrafenbefürwortern teils behauptet, als Zeichen von Verweichlichung oder übersteigertem Ehrgefühl), wenn ein Kind „jedwede Körperstrafe als etwas Entehrendes und Demütigendes empfindet“ und deshalb statt mit Einsicht mit Trotz auf die Strafe reagiert.51 Wenn sich also die Kritiker der Körperstrafe einig waren, dass diese immer entwürdigend und entehrend für das Kind sei,52 sahen sie dies nicht nur in Bezug auf die konkrete Wirkung der Strafe (Trotz statt Akzeptanz) als problematisch, sondern auch auf einer grundsätzlicheren Ebene: Der demütigende Charakter der Strafe widersprach der „Erziehung zur Persönlichkeit, zum freien, selbstbewußten Menschen!“53 , er wurde als tödlich für die „Feinfühligkeit des Selbstgefühls“54 empfunden – und diesen Erziehungszielen wurde nun offensichtlich eine höhere Priorität beigemessen als den traditionellen von Gehorsam und Einordnungsbereitschaft. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass auch Autoren, die Ellen Keys enthusiastische Erwartung eines „neuen Menschen“ nicht in diesem Ausmaß teilten, dennoch diagnostizierten, dass „das Schülerpublikum psychologisch ein ganz anderes sei, als dasjenige der früheren Generationen“ – und diesen Wandel in einem gestiegenen Wunsch nach Selbstständigkeit und vor allem einem empfindlicher gewordenen Ehrgefühl sahen.55 Solche Aussagen haben einerseits eine taktische argumentative Funktion: Sie verleihen der Forderung nach Veränderung der schulischen Strafen Dringlichkeit und Aktualität und immunisieren sie gleichzeitig gegen Versuche, die bisherige Praxis als bewährt und durch pädagogische Traditionen gestützt zu rechtfertigen. Andererseits sind sie aber ernst zu nehmen als Zeichen, dass das kindliche Selbstbewusstsein (ganz unabhängig davon, ob es tatsächlich ausgeprägter war als in früheren Jahren) nun verstärkt wahr- und ernst genommen wurde. Die vielleicht prägnanteste Formulierung eines weiteren zentralen Einwands stammt wieder einmal von Ellen Key: Körperliche Strafen machten „den Feigen feiger, den Trotzigen trotziger, den Harten härter“.56 Das sind genau die Folgen, die bereits in älteren Debatten zentrale Einwände gegen Körperstrafen darstellten – und nun erneut von nahezu allen Gegnern betont wurden: Angst, 51 52
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Hoesch-Ernst: Gedanken, S. 98. Vgl. beispielsweise: Bloh: Körperstrafen, S. 897; Pillf: Züchtigung; Olsen: Züchtigung; Alfred Andreesen: Erfahrungen in der Anwendung von Disziplinarstrafen, in: Oestreich: Strafanstalt, S. 132–138, hier S. 137. W. Paulsen: Züchtigung, S. 24. Hertha Beck: Lauschen und Schauen!, in: Oestreich: Strafanstalt, S. 23–25, Zitat S. 24. Foerster: Schule, S. 69 (dort das Zitat), vgl. auch Penzig: Prügel, S. 129; Fuhrmann: Selbstverwaltung, S. 300. Key: Jahrhundert, S. 157.
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Trotz und Hass gegen den Strafenden sowie Verrohung durch die Gewöhnung an Gewalt.57 Während letzterer Aspekt damals nur von Theodor Mertens wirklich ausformuliert worden war, nahm er nun eine zentralere Rolle ein – bis hin zu Ellen Keys Ausruf: „Der Grund zur Kriegslust wird weniger durch die Kriegsspiele als durch das spanische Rohr gelegt!“58 Insgesamt zeigt sich: Die Argumente der Züchtigungsgegner ab 1900 entsprechen zum großen Teil denen, die bereits um 1870 (und zuvor) geäußert wurden. In dieser Intensität neu war allerdings die beispielsweise bei Ellen Key zu findende Betonung der Individualität, der Bedürfnisse und der Perspektive des Kinds. Auch Foersters amerikanisch beeinflusste Versuche, demokratische, von Mitverantwortung der Schüler geprägte Formen der Schuldisziplin zu entwickeln, sind so in älteren Debatten nicht zu finden – auch wenn beispielsweise schon Eduard Sack Körperstrafen als Unterdrückungsmittel des Obrigkeitsstaats abgelehnt hatte. Vor allem aber liegt die entscheidende Veränderung im frühen 20. Jahrhundert darin, dass Argumente und Positionen, die zuvor nur von einzelnen, vom pädagogischen Mainstream weitgehend ignorierten Autoren geäußert wurden, nun wesentlich weiter verbreitet waren, offensiv mit der zeittypischen pädagogischen Aufbruchsstimmung vertreten wurden und auf größeres öffentliches Gehör stießen. 3.1.3 . . . und begrenztem Einfluss?
Das bisher Vorgestellte scheint Penzigs Einschätzung zu bestätigen, die theoretische Pädagogik hätte um 1900 – und erst recht in den folgenden Jahrzehnten – körperliche Strafen nahezu einmütig abgelehnt. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass schon innerhalb der pädagogischen Reformbewegung eine vollständige Ablehnung dieser Strafart keineswegs selbstverständlich war: Dabei muss man gar nicht das wohl nur begrenzt repräsentative Beispiel Otto Kiefers bemühen, der nach einem 1904 veröffentlichten flammenden Plädoyer gegen körperliche Strafen nur wenige Jahre später in mehreren Schriften „für die Rute“ eintrat.59 Dass sein Sinneswandel keine Abwendung von der Reformpädagogik 57
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Vgl. beispielsweise: Ein Beitrag zur „Prügelmethode“ im allgemeinen, und über „Schläge“ in Schule und Haus im besonderen, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 20 (1903), S. 992–995, hier S. 993; Friedrich Malikowski: Der Schultyrann, in: Oestreich: Strafanstalt, S. 80; Natorp: Frage, S. 277 f.; Foerster: Jugendlehre, S. 709; Sieber: Züchtigung, S. 546 f.; Pillf: Züchtigung, S. 243. Key: Jahrhundert, S. 159. Vgl. auch Kiefer: Züchtigung, S. 178–182; Foerster: Jugendlehre, S. 709. Vgl. Kiefer: Züchtigung; ders.: Bedenken. Mit entgegengesetzter Position ders.: Psychologie; ders.: Prügelstrafe; ders.: Für die Rute!, in: Sächsische Schulzeitung 74 (1907), S. 33–34; ders.: Erlebtes und Erdachtes aus dem Verkehr mit Knaben, in: Zeitschrift für experimentelle
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bedeutete, zeigt die Tatsache, dass Kiefer ab 1918 lange Zeit als Lehrer an der Odenwaldschule tätig war (wo allerdings seine unbeherrschte und ungerechte Strafpraxis auf Kritik von Eltern gestoßen sein soll).60 Aber auch die Psychologin Lucy Hoesch-Ernst sah trotz ihrer scharfen Kritik an der Selbstachtung und Ehrgefühl schädigenden Wirkung körperlicher Strafen diese für Kleinkinder als meist unverzichtbar – und selbst für ältere Kinder könnten sie bei Grausamkeit gegen Schwächere oder Tiere „das einzige abschreckende Mittel sein“, das sie „vielleicht noch zu sich zu bringen mag“.61 Erinnert sei zudem an Wilhelm Paulsen, der Körperstrafen zwar ablehnte, aber für kaum verzichtbar hielt, solange die geforderte grundlegende Schulreform ausblieb. Ein anderer Lehrer, Paul Gärtner, ging – ausgerechnet in der Sammlung „Strafanstalt oder Lebensschule“ des Bunds entschiedener Schulreformer – sogar noch weiter und erklärte, körperliche Strafen seien „auch schulreformerisch denkbar“, denn es gebe nun einmal „waschechte Rüpel, die erst auf das letzte Mittel reagieren“.62 Während diese Ansicht innerhalb des Sammelbandes eine Minderheitsposition darstellte und zudem von Gärtner selbst wieder relativiert wurde,63 sprachen sich andere (eher nicht der Reformbewegung zuzurechnende) Autoren offensiver für Körperstrafen aus: So räumte 1908 Ernst Niederhausen in der sich als „Zeitschrift für wissenschaftliche Pädagogik, Lehrerfortbildung, Konferenzwesen, Tagesfragen und pädagogische Kritik“ verstehenden Pädagogischen Warte zwar ein, dass körperliche Strafen möglichst selten angewendet werden sollten, aber: „Entbehren können wir sie nicht.“64 Dabei war diese Notwendigkeit für Niederhausen nicht, wie etwa für Wilhelm Paulsen, lediglich eine durch die noch herrschenden Schulbedingungen geschaffene und somit überwindbare, sondern eine grundsätzliche: Es könne immer Fälle geben, „wo der Lehrer gar nicht anders kann als zum Stock zu greifen“, denn: „Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.“65 Dass es im Interesse der Erzogenen selbst liege, diese bösartige Menschennatur mit körperlichen Strafen
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Pädagogik 7 (1908), S. 5–10. Vgl. für eine ausführlichere Darstellung von Kiefers Positionen Dudek: Züchtigung, S. 81–85. Vgl. Oelkers: Eros, S. 136–146. Auch der von Peter Dudek untersuchte Fall des Kurt-Lüder Freiherr von Lützow, der als Leiter eines Landerziehungsheims 1926 wegen Misshandlungen und sexueller Übergriffe gegen Schüler angeklagt war, stellt ein Beispiel dafür dar, dass körperliche Strafen nicht in allen Varianten reformpädagogischer Praxis ausgeschlossen waren: Lützow rechtfertigte Züchtigungen an sich als pädagogisch notwendig (vgl. Dudek: Züchtigung, S. 93). Hoesch-Ernst: Gedanken, S. 103. Paul Gärtner: Kein Strafenregiment!, in: Oestreich (Hrsg.): Strafanstalt, S. 81–85, Zitate S. 84 u. 85. „Eins aber will mir sicher erscheinen: die Arbeitsschule wird der Strafe kaum bedürfen“, S. 85. Niederhausen: Züchtigung, S. 343. Ebd., S. 346.
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zu bekämpfen, entspricht einer aus den vorherigen Kapiteln wohlbekannten traditionellen Rechtfertigung. Das Gleiche gilt für den von Niederhausen gezogenen Vergleich des Strafens mit schmerzhaften medizinischen Eingriffen, den er zudem um die Metapher des Gärtners, der bei jungen Bäumen schlechte Triebe abschneiden und durch Anbinden für geraden Wuchs sorgen müsse, ergänzte. Und nicht nur die Argumente von Autoren aus den vorigen Jahrzehnten lebten und wirkten im neuen Jahrhundert weiter, sondern auch ihre Texte selbst. So erlebte etwa Johannes Josef Sachses „Geschichte und Theorie der Erziehungsstrafe“ (Erstveröffentlichung 1879) mit seiner ausführlichen Verteidigung körperlicher Strafen im Jahr 1913 seine dritte Auflage. Ähnlich wie in den 1870er Jahren das gegen Körperstrafen vorgebrachte Schlagwort der Humanität von den Verteidigern der Züchtigung aufgegriffen und als Vorwurf des ‚Humanitätsdusels‘ gegen ihre Gegner gewendet wurde, stritten auch nach 1900 beide Lager um Bewertung und Deutungshoheit eines Begriffs: So zentral die das Ehrgefühl schädigende Wirkung körperlicher Strafen für deren Gegner war, so wenig glaubten die Befürworter an ihre Existenz. Einige Autoren sahen zwar durchaus die Gefahr, dass körperliche Strafen das Ehrgefühl abstumpfen könnten, hielten es jedoch für „falsche Empfindsamkeit“, diese für jede Züchtigung zu verabsolutieren.66 Andere führten an, dass die meisten Kinder „dieses sogenannte ‚Ehrgefühl‘ überhaupt noch gar nicht besitzen“.67 Eine Autorin ging sogar so weit, das Argument umzudrehen: Ihr zufolge war das Ehrgefühl, das sie als den „Sinn, das Gefühl für Recht und Pflicht überhaupt“ definierte, nicht nur bei Kindern zunächst nicht vorhanden und erst noch zu entwickeln. Diese Entwicklung sei zudem gerade durch Strafen – auch körperliche – voranzutreiben, wogegen „Humanitätsbestrebungen, welche dem Kinde die Qualität und damit die Rechte Erwachsener zusprechen [. . . ] den natürlichen Entwicklungsprozeß des Menschen“ hemmten.68 Hier wird deutlich, dass in den kontroversen Aussagen zur kindlichen „Ehre“ nicht nur die Definition dieses Wertes, sondern auch der Status und die Rechte, die Kindern zuzuschreiben seien, verhandelt wurden. Die Debatten um diesen Begriff werden deshalb gegen Ende dieser Arbeit in einem zeitlichen Längsschnitt zu untersuchen sein. Zunächst ist jedoch ein anderer Aspekt von Interesse: Das zuletzt angeführte Zitat stammt nicht aus dem pädagogisch-wissenschaftlichen Diskurs im engeren Sinne, auch nicht aus einer Lehrerzeitschrift, sondern von einer weitgehend unbekannten Autorin, die ihre Streitschrift zur Frage körperlicher Strafen als kleine Monographie veröffentlichte. Die gleiche Publikationsform
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Matthias: Pädagogik, S. 190. Vgl. auch Grünwald: Züchtigung, S. 450; Pötsch: Körperliche Züchtigung, Sp. 59. Kiefer: Prügelstrafe, S. 7. Wilhelm: Erziehungsfaktor, S. 65.
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wählten auch andere Autoren, um körperliche Strafen zu verteidigen.69 Sie erinnern darin an Theodor Mertens, Eduard Sack oder A. Freimund – nur vertraten sie eben die entgegengesetzte Position. Hatte sich also tatsächlich gegenüber den 1870er Jahren die Situation umgekehrt, sodass nun die Züchtigungsbefürworter die Außenseiter bildeten und die Gegner den pädagogischen Mainstream dominierten? Einen recht zuverlässigen Indikator für diese Frage stellen Handbücher und Lexika dar. Als repräsentativ gelten kann insbesondere der Artikel im von Wilhelm Rein herausgegebenen Encyklopädischen Handbuch der Pädagogik, einem „monumentalen Werk“, das bereits reformpädagogische Einflüsse aufnahm.70 In dessen zweiter Auflage von 1910 konstatierte Eduard Ackermann, man könne „die körperliche Züchtigung nicht unter allen Umständen für entbehrlich halten“ – insbesondere als Vergeltung für Gewalt gegen Menschen oder Tiere und bei böswilliger Sachbeschädigung müsse sie „nicht nur als zulässig, sondern auch als geboten bezeichnet werden“.71 Außerdem könne körperlicher Schmerz bei „großer Unbändigkeit, bei hohem Grade von Ungezogenheit, bei Frechheit und Unverschämtheit, bei Tücke und Bosheit, bei hartnäckigem Trotz [. . . ] ein kräftiger Willensbrecher sein“. Allerdings betonte Ackermann, dass die Züchtigung nur als „Abschreckungsstrafe“ wirken könne, die keine Einsicht und somit keine wirkliche Besserung erzeugen könne, weshalb sie auch vor allem für Kinder im Vorschulalter geeignet sei. Ein wirklich pädagogischer Wert im Interesse der Entwicklung des Kinds selbst, wie es in den großen Lexika des 19. Jahrhunderts Standard war, wurde der körperlichen Strafe nun also nicht mehr beigemessen. Auch der Berliner Philosophie- und Pädagogikprofessor Friedrich Paulsen, der nach Andresen/Baader „viel eher als die Ideen Ellen Keys – die pädagogischen Grundüberzeugungen und Hauptströmungen der Zeit“ repräsentiert,72 bewertete Schläge als ein nur bei Kleinkindern geeignetes Erziehungsmittel, das aus pädagogischer Sicht „nicht mehr in die Schule“ gehöre.73 Dennoch sei es in der Praxis zumindest in der Volksschule nicht ganz entbehrlich, weshalb Paulsen ein Verbot oder eine Einschränkung, „die einem Verbot ziemlich gleichkommt“ (womit er wohl auf den preußischen Erlass vom Mai 1899 anspielte) ablehnte.74
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Vgl. Schmidt-Heuert: Rute; Auch Kiefer: Prügelstrafe, kann als Beispiel für diese, wie Hagner (Hauslehrer, S. 176) es (nicht ohne eine gewisse Arroganz der rückblickenden Betrachtung) beschreibt, „armselige Broschürenprosa mit mehr schlecht als recht zusammengeklaubten Argumenten“ gesehen werden. Herrmann: Denken, S. 159 f. (Zitat S. 160). Vgl. auch Wininger: Steinbruch, S. 89–92. Ackermann: Strafe, S. 6. Dort auch die folgenden Zitate. Wege, S. 7. Auch nach Kraus (Kultur, S. 56) war Paulsen „der wohl einflussreichste deutsche Pädagoge am Ende des 19. Jahrhunderts“. Paulsen: Pädagogik, S. 89 f. (Zitat S. 90). Ebd., S. 91.
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Eine größere pädagogische Berechtigung wurde körperlichen Strafen 1917 im katholischen Lexikon der Pädagogik zugestanden: Sie seien durchaus geeignet, Einsicht beim Bestraften zu wecken – und das vom Verfasser als unverzichtbar angesehene Erziehungsziel des Gehorsams auch gegen den eigenen Willen zu erreichen.75 Ohne Züchtigungsrecht könne ein Lehrer „seiner Aufgabe, auch Erzieher zu sein, nicht gerecht werden“, denn bei im Schulleben unvermeidlichen Konflikten „muß der Lehrer das Recht haben, seiner Autorität eventuell mit Gewalt Achtung zu verschaffen“.76 Allerdings handelt es sich auch hier um keine uneingeschränkte Befürwortung: Mit der Mahnung „Das Ideal eines jeden Lehrers muß sein, ohne die Rute auszukommen“ plädierte der Autor für möglichst seltene Anwendung und warnte vor möglichen Verletzungsfolgen. Der Blick auf Lexika und Handbücher zeigt, dass eine so deutliche Ablehnung körperlicher Strafen, wie sie bei vielen (nicht allen!) Reformpädagogen zu erkennen ist, nicht für den gesamten pädagogischen Diskurs repräsentativ war. Andererseits wurden sie nicht mehr so offensiv als pädagogisch sinnvoll oder notwendig verteidigt, wie dies noch einige Jahrzehnte zuvor der Fall war, sondern eher als eine Art notwendiges Übel angesprochen. Eine vorbehaltlose Bejahung konnte nur noch in Broschüren einzelner Außenseiter vertreten werden. Wenn auch die eingangs zitierte Diagnose, die gesamte Erziehungswissenschaft lehne körperliche Strafen ab, übertrieben erscheinen muss, so ist doch ein deutlicher Wandel zu erkennen. Obwohl die Ablehnung körperlicher Strafen nicht allein dominierte, hatte sie ein deutlich größeres Gewicht als im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Um diese Veränderung zu erklären, ist ein bisher noch nicht angesprochener Faktor wichtig, der im nächsten Kapitel vorgestellt werden soll.
3.2 Neue Experten: Medizin und Psychologie Vom Bluterguss zur Neurasthenie: medizinische Einwände
Eine wichtige Ebene der Debatten über körperliche Strafen ist in der bisherigen Betrachtung weitgehend außen vor geblieben, nämlich der medizinische Diskurs. Zwar waren Ärzte schon allein deshalb wichtige Akteure, weil sie bei Beschwerden oder gar Anklagen wegen Überschreitung des Züchtigungsrechts als Gutachter gehört werden mussten und mit ihrer Beurteilung der Verletzungen den Ausgang des Verfahrens mitentscheiden konnten. Aber der Einfluss medizinischer Argumente war zunächst eher gering, zumal die Positionen innerhalb des Fachs wenig einheitlich erschienen. So konnte die Dresdner Direktorenkon75 76
Pötsch: Züchtigung, Sp. 59. Ebd., Sp. 60. Dort auch das folgende Zitat.
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ferenz 1874 medizinische Bedenken noch folgendermaßen abtun: „Es gibt Ärzte, die am ganzen Körper des Kindes kaum eine einzige Stelle für die strafende Ruthe als geeignet bezeichnen [. . . ] Aber man findet auch Ärzte, die eine derartige Ängstlichkeit nicht kennen.“77 Zudem bezogen sich medizinische Einwände fast ausschließlich auf mögliche Verletzungsfolgen bei zu harten oder empfindliche Stellen treffenden Schlägen. Befürworter körperlicher Strafen konnten sie somit meist recht leicht mit der Mahnung entkräften, dass ohnehin nur maßvoll, nur mit bestimmten Werkzeugen und nur auf bestimmte, als unempfindlicher geltende Körperteile wie Hintern, Rücken oder Handflächen geschlagen werden sollte.78 Grundsätzliche medizinische Gefahren unabhängig von unbeabsichtigten schweren äußeren Verletzungen wurden nur von Außenseitern gesehen, etwa von Carl Klett, der schon 1869 mahnte, schmerzhafte Strafen seien durch die mit ihnen verbundene „Erschütterung des Nervensystems“ stets gesundheitsschädlich.79 Auch 1894 nannte ein SPD-Abgeordneter im sächsischen Landtag die immer häufiger auftretenden Fälle von Epilepsie als mögliche Folge „von Nervenerschütterungen, die durch den Stock und durch Mißhandlungen herbeigeführt werden“.80 Diese beiden Äußerungen weisen voraus auf eine Entwicklung, die in den nächsten Jahrzehnten immer deutlicher werden sollte und die ein 1906 erschienener Aufsatz des Straßburger Schularztes Eugen Schlesinger beispielhaft verkörpert: Schon der Ort seiner Publikation, die 1888 begründete Zeitschrift für Schulgesundheitspflege, verweist auf den zunehmenden Einfluss, den Medizin und Hygiene auf Theorie und Praxis der Schule hatten81 und der sich auch durch häufiger werdende Stellungnahmen von Ärzten zur Frage körperlicher Strafen äußerte.82 Vor allem aber änderte sich der Inhalt medizinischer Bedenken: Wenn Schlesinger zunächst auf die Gefahr starker, anhaltender Schwellungen bei Schlä77 78 79 80 81
82
Direktorenkonferenz Dresden: Ausführungsmodalität, S. 119 Vgl. ebd.; Matthias: Pädagogik, S. 5 f.; Bezold: Züchtigungsrecht, S. 30. Klett: Lehrer, S. 16. Abg. Goldstein, Sächsischer Landtag, II. Kammer, 37. Sitzung am 5.2.1894, in: Mittheilungen 1893/94, Bd. 1, S. 471. Vgl. zu dieser Entwicklung, zu der etwa auch ein verstärktes Aufgreifen gesundheitsbezogener Themen in pädagogischen Lexika und die – allerdings umstrittene – Einstellung von Schulärzten gehörte, Stroß: Pädagogik. Dass diese „Medizinisierung“, die Stroß bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verortet (ebd., S. 348), in den hier untersuchten Diskursen erst etwas später Auswirkungen zeigte, ist nicht erstaunlich, gehörte die Frage körperlicher Strafen – anders als etwa Gesundheitserziehung oder die Prophylaxe von Infektionskrankheiten – nicht gerade zu den als am dringlichsten empfundenen Kernthemen der Schulgesundheitspflege. Vgl. neben Schlesinger: Folgen, auch den Aufsatz des Schularztes Julius Moses: Züchtigung. Dass Ärzte von Lehrern als Experten gehört wurden, zeigt beispielsweise der auch als Broschüre veröffentlichte Vortrag des Kreisarztes Dr. E. Vollmer („Ueber das Züchtigungsrecht der Lehrer“, 1910, LHAKo 467, 1706). Auch die Frankfurter Schuldeputation organisierte 1921 Vorträge von Ärzten, die Lehrer über die Gesundheitsgefahren bei Züchtigungen
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gen auf Oberschenkel, Rücken oder Schultern, auf die möglichen erheblichen Bewegungseinschränkungen bei Blutergüssen in der Handfläche und auf die mit Ohrfeigen verbundenen Risiken, etwa Trommelfellrisse oder Gehirnerschütterungen, hinwies, dann entsprach dies dem traditionellen Muster medizinischer Einwände. Neu war jedoch, dass er sodann als „vielleicht noch wichtiger, weil häufiger vorkommend [. . . ] jene Störungen allgemeiner und namentlich psychischer, seelischer Natur“ anführte, die zu beobachten seien, wenn in Schulklassen körperliche Strafen häufig vorkamen: Dies führe bei empfindlichen Schülern „zu Erscheinungen schwerer Neurasthenie oder psychischer Depression“.83 Wie einflussreich diese ärztlichen Einwände waren, zeigt ein 1907 von der städtischen Schulinspektion Berlin herausgegebenes Merkblatt für Lehrkräfte: Ganz ähnlich aufgebaut wie Schlesingers Artikel (und mit zum Teil wörtlich gleichen Formulierungen) verwies es zunächst auf Verletzungsgefahren von Blutergüssen bis hin zu Gehirnverletzungen mit Todesfolge. Aber es übernahm auch die Einschätzung, dass die möglichen seelischen Folgen „vielleicht noch wichtiger“ seien – als solche nannte es neben Neurasthenie, Depression und Melancholie „alle Grade und Formen der Nervenschwäche [. . . ]: Kopfschmerz, Schlaflosigkeit, Zittern, übertriebene Ängstlichkeit und Empfindsamkeit, bisweilen sogar Selbstmord“.84 Dass gerade diese seelischen und neurologischen Folgen eine ab 1900 immer prominenter werdende Rolle in der Debatte einnahmen, ist vor dem Hintergrund dessen zu sehen, was Joachim Radkau als „Nervendiskurs“ bezeichnet und untersucht hat:85 Die Beschäftigung mit „den Nerven“ und mit der nun häufig diagnostizierten, unterschiedliche (Erschöpfungs-)Symptome zusammenfassenden Krankheit Neurasthenie prägte um die Jahrhundertwende nicht nur die Medizin, sondern vor allem auch die breite Öffentlichkeit. Gleichzeitig verweist die Betonung der Folgen für das Nervensystem auf den fließenden Übergang zwischen Medizin und anderen zu der Zeit aufstrebenden Disziplinen, nämlich Psychologie bzw. Psychiatrie und Sexualwissenschaft. Körperstrafen und Sexualität
Für Mediziner wie für die Öffentlichkeit lagen um 1900 die Themen „Nerven“ und „Sexualität“ eng beieinander. Radkau weist darauf hin, dass der Begriff „Nerven“ als Chiffre verwendet werden konnte, weshalb der „Nervendiskurs [. . . ]
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aufklären sollten (vgl. Städt. Schuldeputation Frankfurt an Regierung Wiesbaden, 7.5.1921, HHStAW 405, 12903, Bl. 242). Schlesinger: Folgen, S. 779. Städt. Schulinspektion Berlin: Merkblatt „Warnung vor körperlichen Züchtigungen“, 20.3.1907, HHStAW 405, 12903, Bl. 211. Vgl. Radkau: Zeitalter, insb. S. 27–33.
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nicht zuletzt eine dezente Konversation über die Sexualität“ war.86 Auch in der Debatte über körperliche Strafen wurden die befürchteten Nervenschädigungen infolge körperlicher Strafen oft in einem Atemzug genannt mit sexuellen Auswirkungen, die hier allerdings durchaus offen angesprochen wurden: 1901 äußerte sich der Arzt und Psychiater Albert Moll „Über eine wenig beachtete Gefahr der Prügelstrafe bei Kindern“. Der Titel des Aufsatzes verrät, dass die von ihm erläuterten Aspekte zuvor noch kaum in die Debatte eingebracht worden waren – in den folgenden Jahren sollten sie jedoch alles andere als „wenig beachtet“ bleiben. Es handelte sich bei diesen neuartigen Bedenken Molls vor allem um die Gefahr, „dass durch die Prügelstrafe das Geschlechtsleben bei manchem Schüler vorzeitig geweckt wird“.87 Außerdem wies er auf zwei weitere, von ihm aber als weniger bedenklich bewertete Risiken hin: dass körperliche Strafen bei Schülern masochistische Lust auslösen oder aber Lehrer aus sadistischer Motivation schlagen könnten. Genau diese drei Varianten von befürchteten sexuellen Folgen wurden in den nächsten Jahren zu einem nicht nur von Medizinern und Psychologen immer wieder vorgebrachten wichtigen Argument in der Diskussion um körperliche Strafen. In den 1920er Jahren konnte es bereits als selbstverständliche, allgemeinbekannte Tatsache angesprochen werden, dass insbesondere Schläge auf den Hintern unerwünschte sexuelle Erregung hervorrufen könnten, „weil diese Region von Zweigen derselben Nerven versorgt wird wie die äußeren Geschlechtsteile“.88 Sogar Schlägen auf Hand und Finger konnte wegen der vielen dort vorhandenen Nerven, deren Eindrücke „sich dem gesamten Empfindungsleben“ mitteilten, die gleiche Wirkung zugeschrieben werden.89 Dabei galt schon die Gefahr der „frühzeitigen Erweckung sexueller Regungen“ an sich als äußerst problematisch.90 Gesteigert wurde sie noch dadurch, dass nicht nur das Hervorrufen verfrühter, sondern auch ‚falscher‘ Entwicklung der Sexualität, konkret: sadomasochistischer Neigungen, befürchtet wurde.91 Während die Gefahr des Masochismus sich auf den geschlagenen Schüler selbst bezog, konnten –
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Ebd., S. 32 f. Vgl. zum Zusammenhang zwischen „Diskurs über Nervenschwäche“ und „Entstehen einer neuen psychiatrisch dominierten Sexualwissenschaft“ (S. 109) Kaufmann: Nervenschwäche. Moll: Gefahr, S. 217. Bruno Saaler: Die Prügelstrafe, in: Oestreich (Hrsg.): Strafanstalt, S. 94–100, Zitat S. 97. Liefmann: Gedanken, S. 341. Vgl. etwa: Hirschberg: Rundfrage, S. 9; Bracken: Prügelstrafe, S. 155; Fritz Kohlfärber: Arzt und körperliche Züchtigung in der Schule, in: Pädagogische Warte (1926), S. 1156–1161, hier S. 1159; Höller: Beitrag, S. 113. Vgl. Moses: Züchtigung, S. 91; Max Hodann: Ärztliches zu den Schulstrafen, in: Oestreich (Hrsg.): Strafanstalt, S. 91–94, hier S. 92–93.
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so die Ansicht mehrerer Autoren – sadistische Neigungen auch bei den nur zuschauenden Schülern geweckt werden.92 Vor allem aber bezog sich die Gefahr des Sadismus auf die Lehrer: Zwar hatte bereits Molls oben genannter Aufsatz die Warnung enthalten, dass es Fälle gegeben habe, „wo Lehrer, resp. Erzieher lediglich um sich sinnliche Erregung zu schaffen, ihre Zöglinge schlugen“.93 Aber breite öffentliche Aufmerksamkeit erfuhr dieser Aspekt erst einige Jahre später: 1903 schlug der Jurastudent Andreas Dippold, den eine Berliner Bankiersfamilie als Hauslehrer für ihre beiden Söhne engagiert hatte, den älteren, 14-jährigen seiner Zöglinge so heftig, dass dieser an inneren Verletzungen verstarb. Nicht nur der Todesfall erregte öffentliches Aufsehen und Entsetzen, sondern auch die Tatsache, dass Dippold, der zuletzt zurückgezogen mit den beiden Jungen in einer Hütte gelebt hatte, die Brüder offensichtlich über lange Zeit massiv körperlich misshandelt hatte (was er als Teil eines Erziehungsprogramms zur Bekämpfung der Onanie rechtfertigte, das neben immer häufigeren körperlichen Strafen auch Abhärtung durch Sport und Arbeit sowie strikte Kontrolle enthielt). Die sich um diesem Fall rankenden öffentlichen, medizinischen, pädagogischen und juristischen Diskurse analysiert Michael Hagner detailliert – und kommt dabei unter anderem zu dem Ergebnis, dass durch den Fall Dippold erstmals „der Zusammenhang von Pädagogik, Prügelstrafe und Sadismus so deutlich ins öffentliche Bewußtsein“ gerückt sei.94 In diesem öffentlichen Bewusstsein blieb er lange präsent, der Verweis auf die Gefahr des Erziehersadismus gehörte in den folgenden drei Jahrzehnten zum festen Repertoire der Argumente gegen körperliche Strafen – teils mit direktem Bezug auf Dippold.95 Einige dieser späteren Autoren gingen über Moll hinaus, indem sie nicht nur fürchteten, sadistisch veranlagte Lehrer könnten körperliche Strafen zu ihrer sexuellen Befriedigung nutzen, sondern annahmen, das Schlagen zu Erziehungszwecken könne eine zuvor nicht oder zumindest nur latent vorhandene sadistische Tendenz gerade erst hervorrufen.96 Wie wirkmächtig diese Argumente waren, belegt die Tatsache, dass selbst Befürworter körperlicher Strafen sich genötigt fühlten, auf die Bedenken bezüglich unerwünschter Auswirkungen von Körperstrafen auf die Sexualität einzugehen und diese ausdrücklich zurückzuweisen. Dabei argumentierten sie hauptsächlich 92 93 94 95
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Vgl. Kiefer: Bedenken, S. 159; Bruno Saaler: Die Prügelstrafe, in: Oestreich (Hrsg.): Strafanstalt, S. 99; Bohner: Züchtigung, S. 1040–1041; Liefmann: Gedanken, S. 341. Moll: Gefahr, S. 216. Hagner: Hauslehrer, S. 178. Vgl. Ein Beitrag zur „Prügelmethode“ im allgemeinen, und über „Schläge“ in Schule und Haus im besonderen, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 20 (1903), S. 992–995 (hier S. 992); Kiefer: Züchtigung, S. 136, S. 159–160; Mader: Prügelstrafe, S. 851. Vgl. Moses: Züchtigung, S. 89; Graupner: Spezieller Teil, S. 29. Auch dieser Gedanke wurde erstmals im Zusammenhang mit dem Dippold-Prozess geäußert, vgl. Hagner: Hauslehrer, S. 174 f.
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mit persönlichen Erfahrungen, auch mit Erinnerungen an das eigene Erleben körperlicher Strafen als Kind.97 Diese Argumentationsebene allerdings kann für die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts als zunehmend unzeitgemäß gesehen werden – denn es war gerade der Versuch, auch seelische Vorgänge wissenschaftlich zu erklären, der in diesen Jahren eine Blütezeit erreichte. Psychologie
Dass die Reformpädagogik von der Psychologie beeinflusst wurde, legt schon deren zeitliches Aufeinandertreffen nahe: Wie Walter Herzog erläutert, erlangte die Psychologie „gegen Ende des 19. Jahrhunderts praktisch gleichzeitig mit dem Aufkommen der verschiedenen reformpädagogischen Strömungen den Status einer Wissenschaft“, und beide erlebten ihre „fruchtbarste Entwicklungsphase“ in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts.98 Zwar zeigt Herzog deutlich die Grenzen des Einflusses auf, den die Psychologie auf die Reformpädagogik ausübte, etwa weil das sich durchsetzende geisteswissenschaftliche Verständnis von Pädagogik experimentellen Ansätzen widersprach oder weil die Unterschiede zwischen der praxisbezogenen Pädagogik und der theoretischen Wissenschaft der Psychologie, bis hin zum Hintergrund und Habitus ihrer jeweiligen Protagonisten, zu groß waren.99 Für die konkrete Einzelfrage körperlicher Strafen sind jedoch Fragen des grundsätzlich-systematischen Verhältnisses der Disziplinen weniger entscheidend als die Wirkung entsprechender Erkenntnisse auf den öffentlichen Diskurs. Und hier lässt sich feststellen, dass die Aufbruchsstimmung der Reformpädagogik und die neuen Erkenntnisse, Begriffe und Konzepte einer sich etablierenden Wissenschaft sich gegenseitig förderten. In den Worten eines zeitgenössischen Beobachters: „Die Wissenschaft vom Seelenleben des Kindes und die Ergebnisse dieser Wissenschaft bedingten einen gewaltigen Umschwung in den pädagogischen Anschauungen.“100 Ein wichtiger Teil dieser neuen Wissenschaft „vom Seelenleben“ war die von Sigmund Freud begründete Psychoanalyse – obwohl sie sich ursprünglich gerade nicht auf Kinder bezog oder mit Erziehungsfragen beschäftigte.101 Doch ist es angesichts der wichtigen Rolle, die Erlebnisse und Phantasien der (frühen) Kindheit für psychoanalytische Theorien spielen, nicht erstaunlich, dass sich Freuds Schüler bald auch pädagogischen Fragen zuwandten. Ihre Blütezeit erreichte die 97 98 99 100 101
Vgl. Gottschalk: Auswüchse, S. 522; Kiefer: Prügelstrafe, S. 12 f.; Schmidt-Heuert: Rute, S. 14–15. Herzog: Psychologie, S. 329. Vgl. ebd., S. 334 und 350 f. Plecher: Züchtigung, S. 5. Vgl. hierzu und zum Folgenden: Herzog: Psychologie, S. 338–341; Scheibe: Strafe, S. 253– 258; Wininger: Steinbruch, S. 24 f.
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psychoanalytische Pädagogik Ende der 1920er Jahre, wie auch die Gründung der Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik 1927 signalisiert. Diese versammelte in einem 1931 veröffentlichten Sonderheft repräsentative Sichtweisen und Ergebnisse dieser Strömung zum Thema „Strafen“. Dabei wurden nicht zuletzt die Strafenden und deren unbewusste Motive in den Blick genommen: Die Psychoanalyse zeigte auf, dass neben relativ klar abgrenzbaren sexuell-sadistischen Motiven auch andere unbewusste Gründe, etwa das Ausleben von in der eigenen Kindheit erlittenen Gewalterfahrungen, Erzieher zu körperlichen Strafen motivieren können.102 So dekonstruierte sie den Topos von der vom Erzieher entgegen seinem eigentlichen Willen, aus vermeintlich objektiver Notwendigkeit zum Wohl des Kindes ausgeführten Strafe. Gleichzeitig betonte sie die Gefahr späterer seelischer Erkrankungen beim Kind, die Erziehungsfehlern (etwa zu großer Strenge, aber auch zu großer Nachgiebigkeit) innewohne.103 Strafen im Allgemeinen, und körperliche Strafen erst recht, wurden von der psychoanalytischen Pädagogik also äußerst kritisch gesehen – gerade deshalb setzten sich aber nur wenige Äußerungen konkret mit bestimmten Strafarten auseinander, die Ablehnung körperlicher Strafen erscheint eher wie eine implizit angenommene und angesichts der grundsätzlichen Ebene der Kritik fast unwichtige Selbstverständlichkeit. Die psychoanalytische Pädagogik im engeren Sinn lieferte deshalb, anders als etwa die Medizin, wenige konkrete Aussagen zu körperlichen Strafen, die direkt als Argumente in den allgemeinen Diskurs zum Thema eingingen.104 Dennoch war sie einflussreich, denn sie trug massiv zur Sensibilisierung für den Zusammenhang zwischen (körperlichen) Strafen 102
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Vgl. etwa Sibylle L. Yates: Zur Psychologie des Lehrers, der Schuldisziplin und des Strafens, in: Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik 5 (1931), S. 300–303. Ähnlich argumentierte die Psychologin Alice Rühle-Gerstel, Strafe und andere pädagogische Maßnahmen seien „weit eher Maßnahmen, mit denen der Erzieher seine vermeintlich bedrohte Geltung verteidigen, als solche, mit denen er das Wohl des Zöglings befördern will“ (Körperliche Züchtigung und neue Psychologie, in: Sächsische Schulzeitung 94 (1927), S. 37–39, Zitat S. 38). Dass diese für das Selbstbild der Lehrer potenziell erschütternde Diagnose in einer Lehrerzeitung veröffentlicht werden konnte, zeigt, wie stark der Einfluss der Psychologie in den 1920er Jahren war. Wie problematisch und störungsanfällig jegliche Erziehung aus psychoanalytischer Perspektive erscheinen konnte, zeigt etwa August Aichhorns Aussage: „Die Erziehbarkeit des Kindes basiert auf Angst vor Liebensentzug und auf Kastrationsangst. Eine Erziehung ohne Angst scheint es nicht zu geben.“ (Lohn oder Strafe als Erziehungsmittel?, in: Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik 5 (1931), S. 273–285, Zitat S. 280). Vgl. auch Herzog: Psychologie, S. 340 f. Dies hängt auch damit zusammen, dass die psychoanalytische Pädagogik im engeren Sinne, die bestehende Erziehungskonzepte massiv kritisierte, aber nur sehr begrenzt eigene theoretische Konzepte oder erfolgreiche praktische Ansätze entwickeln konnte, von vielen (Reform-)Pädagogen sehr kritisch gesehen wurde – zumal bereits ihre spezielle Terminologie eine gewisse Rezeptionshürde darstellte. Vgl. Herzog: Psychologie, S. 343–345. Zur pädagogischen Psychoanalyserezeption im Allgemeinen Wininger: Steinbruch.
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und möglichen seelischen Schäden bei – ganz unabhängig davon, ob man ihren Erklärungen dieses Zusammenhangs und den zugrunde liegenden theoretischen Konzepten im Einzelnen folgen wollte oder konnte.105 „Seit dreißig Jahren weisen Nervenärzte und Psychologen die unendliche Empfindsamkeit und Verletzbarkeit der kindlichen Seele nach an den unheilbaren Schäden, die frühe Demütigungen fürs ganze Leben zurücklassen“, so fasste die Schriftstellerin Gina Kaus diese weit über die Fachgrenze hinaus wirkende Botschaft (nicht nur) psychoanalytischer Forschung schon 1926 zusammen.106 Zwar hatten zuvor schon Kritiker immer wieder auf mögliche psychische Folgen körperlicher Strafen, wie Angst oder Brutalisierung, hingewiesen – sie konnten sich dabei aber nur auf anekdotische Überlieferungen und Behauptungen stützen, ihnen fehlte sowohl die wissenschaftliche Sprache als auch der damit verbundene Anspruch auf Allgemeingültigkeit: 1869 war es noch ein Pfarrer, der berichtete, dass Schüler bei häufig schlagenden Lehrern in „fieberhafte Angst geraten und am ganzen Körper zittern“ könnten, was sich zu einer bis ins Erwachsenenalter nachwirkenden „physisch-moralischen Krankheit“ auswachsen könne.107 1922 erklärte ein Mediziner, dass Symptome wie „nächtliches Aufschrecken, Angstträume, ferner körperlich nervöse Störungen, insbesondere die so häufige Nervosität des Herzens“ auf einen „Angstkomplex“ zurückzuführen seien, der Ursache für spätere „Angstneurosen der Erwachsenen“ sein könne.108 Die Autorität einer aufstrebenden Wissenschaft (oder genauer gesagt: mehrerer wissenschaftlicher Disziplinen, deren Grenzen jedoch in der öffentlichen Wahrnehmung verschwammen) verlieh den Warnungen vor seelischen Schäden durch Körperstrafen eine ganz neue argumentative Wirkkraft und Bedeutung. 1926 gingen auch viele Lehrer davon aus, man könne „kaum noch an den Erfahrungen, Beobachtungen, Deutungen vorüber, die eine neue Jugendpsychologie jetzt immer beachtlicher vorträgt“.109 Das „Neue“ an dieser Jugendpsychologie bestand nicht nur darin, dass sie zuvor höchstens anekdotisch begründete seelische Schäden durch körperliche Strafen mit wissenschaftlichem Anspruch benennen und erklären konnte oder dass sie einen Zusammenhang zwischen Körperstrafe und Sexualität betonte. Der 105
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Vgl. auch Wininger: Steinbruch, der die Frage körperlicher Strafen zu den „pädagogisch relevanten Phänomenen“ (S. 246) rechnet, für die sich in pädagogischen Lexika eine Rezeption psychoanalytischer Konzepte nachweisen lässt – was insofern bemerkenswert ist, als nach den Ergebnissen Winingers die Psychoanalyse insgesamt eben nicht systematisch in das gesamte pädagogische Denken einbezogen, sondern nur „thematisch isoliert“ rezipiert wurde (S. 261). Kaus: „Prügel“, S. 879. Klett: Lehrer, S. 18 f. Bruno Saaler: Die Prügelstrafe, in: Oestreich (Hrsg.): Strafanstalt, S. 94–100, Zitat S. 98. Erziehungsmaßnahmen in der allgemeinen Volksschule, in: Sächsische Schulzeitung 93 (1926), S. 707–710, Zitat S. 708.
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Aufschwung der Psychologie führte auch zu einem neuartigen methodischen Umgang mit pädagogischen Fragen, indem etwa die „experimentelle Pädagogik“ versuchte, durch empirische Methoden Erziehung und Unterricht sowie Verhalten und Entwicklung von Schulkindern wissenschaftlich zu untersuchen.110 In diesem Sinne wurden in den 1920er Jahren Schüler zu ihrer Wahrnehmung verschiedener Schulstrafen befragt. Eine solche Befragung kam beispielsweise zu dem Schluss, dass körperliche Strafen von den meisten Schülern nicht als schwerste Strafe gesehen wurden – was der Autor als Widerlegung der häufig propagierten Idee von körperlichen Strafen als ultima ratio und als einen Grund „für die Tatsache, daß körperliche Züchtigung sehr oft ihren Zweck vollkommen verfehlt“ wertete.111 Entscheidender als die Ergebnisse dieser Befragungen ist allerdings die Tatsache, dass die Perspektive der Schulkinder überhaupt als untersuchenswerte Fragestellung gesehen werden konnte.112 So sehr sich der wissenschaftlich-sachliche Ton dieser empirischen Studien von den mitfühlenden Äußerungen Ellen Keys und anderer Reformpädagogen unterscheiden mochte, war ihnen doch eines gemeinsam: Sie gingen nicht von der Perspektive des Lehrers oder von äußerlichen Verhaltensnormen aus, sondern von den konkreten Gefühlen und Wahrnehmungen des Kinds. Das Gleiche gilt für Helmut von Brackens „soziologische, psychologische und pädagogische Untersuchungen“ zur Prügelstrafe in der Erziehung, die mit einer Befragung von ca. 40 Erwachsenen und 150 Jugendlichen zu deren Erfahrungen des Geschlagenwerdens wissenschaftlichen Anspruch und empathische Darstellung verbanden.113 „Wir haben uns gewöhnt, unsere Erziehungsmaßnahmen nicht mehr bloß vom Standpunkt des Erwachsenen zurecht zu legen“, bilanzierte die Sächsische Schulzeitung 1926 – und forderte, diese neue, die Schülerperspektive einbeziehende Denkweise auch auf die Frage körperlicher Strafen anzuwenden.114 110 111
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Vgl. Herzog: Psychologie, S. 332–334. Julius Wagner: Die Schulstrafe im Urteil des Schülers, in: Deutsche Blätter für erziehenden Unterricht 48 (1920/21), S. 153–156 (Zitat S. 162). Vgl. auch die ähnlich angelegte Untersuchung von Joseph Droege: Die Strafe im Urteil der Schüler. Eine experimentelle pädagogische Untersuchung, in: Zeitschrift für pädagogische Psychologie und Jugendkunde 27 (1926), S. 393–407, sowie die auf Wagner basierende Folgestudie: Erich Augenreich: Kontrollversuche nach 10 Jahren, in: Zeitschrift für pädagogische Psychologie und Jugendkunde 32 (1931), S. 440–448. Dass diese Studie auch in Lehrerkreisen ernst genommen wurde, belegt der Artikel: Erziehungsmaßnahmen in der allgemeinen Volksschule, in: Sächsische Schulzeitung 93 (1926), S. 707–710, hier S. 709. Von Bracken: Prügelstrafe, S. 109–154. Als häufigste Gefühle identifizierte von Bracken dabei Angst, Schmerz und nach der Bestrafung Wut und Trotz. Mit ähnlichen Ergebnissen untersuchte auch Karl Pipal die kindliche Sicht auf erlittene Körperstrafen (Du Menschenquäler!, in: Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik 5 (1931), S. 340–359). Zur Frage der körperlichen Züchtigung, in: Sächsische Schulzeitung 93 (1926), S. 192–193, Zitat S. 193.
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Dass es zuvor eben keine Selbstverständlichkeit war, Erziehung nicht „bloß vom Standpunkt des Erwachsenen“ zu denken, ist am deutlichsten bei der Analyse beispielhafter Fälle von Züchtigungsrechtsüberschreitung vor 1900 hervorgetreten. Dort fiel vor allem die Tendenz vieler Lehrer, aber auch anderer Akteure, auf, Fehlverhalten oder mangelnde Leistungen von Schulkindern mit Kategorien wie Faulheit oder Trotz zu erklären, statt nach möglichen anderen Ursachen zu fragen. Zwar gab es, sowohl auf der Ebene der konkreten Praxis als auch in den Debatten, Einzelstimmen, die sich dafür aussprachen, nach Gründen wie etwa lähmender Angst oder den häuslichen Lebensbedingungen des Kinds zu suchen – ihre Bedeutung blieb jedoch eher marginal. Das änderte sich, nachdem „das ‚Jahrhundert des Kindes‘ mit seinem Aufschwung der Kinderpsychologie [. . . ] seine Wirkung getan“ hatte, wie es eine Broschüre zu körperlichen Strafen in der Volksschule schon 1913 beschrieb.115 Obwohl ihr Autor Hans Plecher diese Strafart an sich nicht ablehnte und sie als unter den herrschenden Schulbedingungen unverzichtbar beschrieb, forderte er nachdrücklich dazu auf, zunächst die Ursachen des Schülerverhaltens zu überprüfen. Er illustrierte diese Forderung mit einer Reihe von denkbaren Erklärungen für unerwünschtes Verhalten, durch die sich Strafe verbiete: Sei es, dass ein Kind die Hausaufgaben nicht machen könne, weil es während der Arbeitszeit der Eltern seine kleineren Geschwister betreuen müsse, seien es durch eine Sehschwäche verursachte Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben. Auch ein lügender und stehlender Schüler sei nicht einfach ein körperlich zu strafender „verkommener Junge“, sondern „ein psychopathisch minderwertiges Kind, das in einer entsprechenden Heilanstalt vielleicht gebessert werden kann“.116 Die Mahnung, vor dem Strafen die Lebensverhältnisse des Kindes oder etwaige Krankheiten (zu denen nun aber neben körperlichen auch psychische gezählt wurden) zu beachten, war nicht völlig neu.117 Aber erst die Rezeption der Psychologie förderte in zuvor kaum denkbarem Ausmaß das Bestreben, auch komplexere psychische Motive für Schülerverhalten nachzuvollziehen – und bei der Erziehung an diesen Ursachen anzusetzen, statt das problematische Verhalten durch Strafen zu hemmen. In diesem Sinne wurde besonders die Individualpsychologie nach Alfred Adler (die insgesamt mehr Einfluss auf die Pädagogik hatte als die Freud’sche Psychoanalyse) breit rezipiert.118 So druckte etwa die Pädagogische Warte 1926 einen längeren Aufsatz des Psychologen und Pädagogen Erich Stern ab, der Trotz, Frechheit und ähnliche Verhaltensweisen, die nach zuvor gängiger Anschauung
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Plecher: Züchtigung, S. 11. Ebd., S. 9–11. Vgl. auch H. Franzmeyer: Die körperliche Züchtigung in der Schule, in: Berliner Lehrerzeitung 7 (1926), S. 162–164, hier S. 164. Vgl. etwa Schumann: Unsere Schulzucht, S. 97; Gedanken über das Züchtigungsrecht der Schule, in: ADLZ 30 (1878), S. 214–215. Vgl. Herzog: Psychologie, S. 345–349.
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durch Strafe zu bekämpfen waren, mit Adlers Konzept des Minderwertigkeitsgefühls erklärte: Dieses ist laut der Individualpsychologie einerseits notwendige und positive Motivation zur Entwicklung, kann aber auch in einen übertriebenen Minderwertigkeitskomplex umschlagen, der dann Überkompensation etwa in Form von Machtstreben und Neurosen zur Folge hat. Diese Idee aufgreifend, wertete Stern Aufsässigkeit des Kinds als einen Versuch, seine durch repressive Erziehung gesteigerten Minderwertigkeitsgefühle zu kompensieren. Viele Verhaltensprobleme hätten also „in einer Überspannung der Autorität, in der Unterdrückung der kindlichen Persönlichkeit, in einer Vernachlässigung ihres Geltungsbedürfnisses ihre Wurzel“.119 (Körperliche) Strafe wurde in dieser Sichtweise zur Ursache statt wie zuvor Lösung des Problems. Auch der Oberschulrat Heinrich Deiters griff diese Ideen auf und mahnte bei einem mehrfach auf Freud und Adler verweisenden Vortrag vor der Direktorenversammlung der Provinz Hessen-Nassau: „Alle Erkenntnisse der Jugendpsychologie sowie der Betrachtung unserer sozialen Zustände enthalten die Aufforderung für den Erzieher, den Gedanken der Strafe bei allen jugendlichen Verirrungen entschieden zurückzustellen.“120 (Individual-)psychologische Ansätze verfolgten auch viele der sich in den 1920er Jahren ausbreitenden Erziehungsberatungsstellen.121 Auch wenn sich diese natürlich in erster Linie an Eltern richteten, trugen sie auch zur Verbreitung psychologischer Ergebnisse zu körperlichen Strafen unter Lehrern bei.122 Einfluss von Medizin und Psychologie auf die pädagogischen Debatten
Vom reformpädagogischen Grundsatz der Pädagogik „vom Kinde aus“ über das wissenschaftlich-empirische Interesse an kindlichen Wahrnehmungen bis hin zum tiefenpsychologischen Ziel des Vorbeugens, Erkennens und Therapierens individueller psychischer Störungen – all diese sehr unterschiedlichen Strömungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten eine gemeinsame Tendenz: 119 120 121 122
Erich Stern: Zur Frage der körperlichen Züchtigung in der Schule, in: Pädagogische Warte (1926), S. 1094–1103, Zitat S. 1097. Deiters: Schulstrafen, S. 635. Vgl. Abel: Geschichte, S. 23 f. Vgl. etwa den „Leitfaden für Eltern und Lehrer“ der Wiener Individualpsychologin Sofie Lazarsfeld und den darin enthaltenen Beitrag des Lehrers Oskar Spiel zur „Schulzucht“ (S. 104–115). Dass nicht nur in Wien (wo die von der sozialdemokratischen Schulpolitik geförderte individualpsychologische Pädagogik in der Zwischenkriegszeit eine Blüte erlebte, vgl. Herzog: Psychologie, S. 348 f.) Teile der Lehrerschaft der psychologischen Erziehungsberatung gegenüber aufgeschlossen waren, zeigt z. B. die auf der Versammlung des Sächsischen Lehrervereins 1927 geäußerte Forderung nach Einrichtung psychologischer Beratungsstellen (vgl. Vorstand des Sächsischen Lehrervereins: Bericht 1927, S. 20).
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3.2 Neue Experten: Medizin und Psychologie
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eine Hinwendung zur Perspektive des Kindes. Ihr Zusammenwirken bereitete den Weg für eine „neuere pädagogische Grundhaltung [. . . ], die ausschließlicher als früher vom Kinde aus bestimmt ist, die nicht so sehr fragt nach ‚den Schwierigkeiten, die das Kind macht, als nach denen, die das Kind hat‘“.123 Dieses Zitat stellt nicht nur eine treffende Zusammenfassung der ‚neueren‘ pädagogischen Perspektive dar, sondern es demonstriert gleichzeitig auch, wie dominant diese Sichtweise im pädagogischen Fachdiskurs geworden war, stammt es doch aus dem renommierten und einflussreichen Pädagogischen Lexikon. Dort ist es Teil des von einem Hildesheimer Mittelschullehrer verfassten Artikels „körperliche Züchtigung“, der diese Strafart kritischer bewertete, als es vergleichbare Lexika anderthalb Jahrzehnte früher getan hatten. Zwar sah er körperliche Strafen als ein nicht völlig abzulehnendes, in Einzelfällen auch aus pädagogischer Sicht notwendiges „Ausnahmemittel“, er warnte jedoch intensiv vor den mit ihnen verbundenen „große[n] pädagogische[n] Gefahren“.124 Bemerkenswert ist aber vor allem, dass seine Argumentation „sich über weite Strecken auf Ergebnisse der Psychoanalyse bzw. Tiefenpsychologie“ stützt und er deren Rezeption ausdrücklich als die wichtigste Ursache für den von ihm diagnostizierten Wandel in der pädagogischen Grundhaltung anführte.125 Noch deutlicher änderte sich die Bewertung körperlicher Strafen in einem anderen Lexikonwerk aus den frühen 1930er Jahren: Während 1917 das katholische Lexikon der Pädagogik (Hrsg. Ernst Roloff) körperliche Strafen im gleichnamigen Artikel noch als unverzichtbar zum Erhalt der Autorität des Lehrers in Konfliktfällen beschrieben hatte, zeigte sich im ebenfalls katholischen Lexikon der Pädagogik der Gegenwart (Hrsg. Josef Spieler) von 1932 eine bedeutende Veränderung. Es enthielt nur noch einen allgemeinen Artikel zur „Strafe“, die „abhängig von der päd. und jugendpsycholog. Einsicht des Erziehers“ gewählt werden solle. Dabei stand der Verfasser Ludwig Sniehotta (ein schlesischer Oberschulrat) körperlichen Strafen sehr viel kritischer gegenüber als sein Vorgänger 1917: Sie dürften bei Mädchen wegen der „Verletzung des Schamgefühls“ niemals angewandt werden. Bei Jungen seien die Meinungen zwar geteilt, „doch gewinnt die Auffassung ständig an Boden, daß sie als Erziehungsmittel auszuschalten sind“ – und angesichts der in den 1920er Jahren in Preußen erlassenen Einschränkungen sei „zu hoffen [. . . ], sie werde ganz verschwinden“.126 Anhand der Lexika wird deutlich, dass die 1899 noch einseitig-übertriebene Diagnose Rudolf Penzigs, körperliche Strafen würden in der wissenschaftlichen
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Glöckler: Züchtigung (pädagogisch), Sp. 119. Der von Glöckler ohne Quellenangabe zitierte Satzteil ist (leicht abgewandelt) von Hermann Nohl übernommen (Gedanken, S. 157). Glöckler: Züchtigung (pädagogisch), Sp. 120 f. Wininger: Steinbruch, S. 153 f. (Zitat S. 153). Sniehotta: Strafe, Sp. 1042.
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Pädagogik „fast einstimmig“ verurteilt, für 1930 tatsächlich als zutreffend gesehen werden kann – auch wenn die grundsätzliche Ablehnung durchaus noch mit einer für bestimmte Ausnahmefälle angenommenen Notwendigkeit relativiert werden konnte. Dieser Wandel wurde in großem Maße von den breit rezipierten Erkenntnissen der Medizin, Sexualwissenschaft und Psychologie verursacht. Doch hatte er auch bei den von Penzig 1899 noch kritisierten Praktikern stattgefunden?
3.3 Die gespaltene Lehrerschaft Die berufsgeschichtliche Forschung hat festgestellt, dass „weite Kreise der Lehrerschaft zu Anfang des 20. Jahrhunderts in den Bann der reformpädagogischen Bewegung gezogen“ wurden127 und spätestens gegen Ende der Weimarer Republik Reformpädagogik auch für Lehrer „zum Synonym für moderne Pädagogik und Didaktik geworden“ war.128 Doch galt diese bereitwillige Aufnahme der neuen Ansätze auch für die Frage körperlicher Strafen? 3.3.1 Lehrer gegen das Züchtigungsrecht? Fallbeispiel Sachsen 1907
Ein erstes Beispiel, das schlaglichtartig die Position der Lehrerschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts beleuchten kann, sind die 1907 im Sächsischen Lehrerverein geführten Debatten. In Sachsen hatte 1906 die Petition eines Bürgers aus Halle, der alle deutschen Länderparlamente zu einem Verbot körperlicher Schulstrafen aufforderte, für eine Landtagsdebatte zum Thema gesorgt. Auch wenn dort der Verbotsantrag mit nur vier Gegenstimmen (von sozialdemokratischen und freisinnigen Abgeordneten) abgelehnt wurde,129 wirkte die Debatte noch lange nach: Insbesondere eine dort gemachte Aussage des Kultusministers von Schlieben, seiner Erfahrung nach machten „die besten Lehrer überhaupt von der körperlichen Züchtigung keinen Gebrauch“ mehr,130 stieß bei Lehrern auf Aufmerksamkeit und vielfachen Widerspruch. Sie bildete zusammen mit einzelnen Fällen von Überschreitungen des Züchtigungsrechts den Anlass für eine verstärkte Diskussion des Themas in der sächsischen Lehrerschaft, die auf der Ver127 128 129
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Enzelberger: Sozialgeschichte, S. 77. Link: Reformpädagogik, S. 22. Vgl. Prügelstrafe in der Schule, in: Kommunale Praxis 6 (1906), Heft 15, Sp. 348; Sächsischer Landtag, II. Kammer: 84. Sitzung am 26.3.1906, in: Mittheilungen 1905/06, Bd. 2, S. 2115– 2157. Ebd., S. 2134.
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treterversammlung des Sächsischen Lehrervereins ihren Höhepunkt erreichte. Bereits in deren Vorfeld fanden zur Meinungsbildung in lokalen Lehrervereinen Vorträge und Debatten zum Thema statt, die zum Teil auch in weiter verbreiteten Lehrerzeitschriften wie der Sächsischen oder der Leipziger Lehrerzeitung veröffentlicht wurden.131 Auf der Versammlung selbst standen sich dann zwei Lager gegenüber, die jeweils von einem Referenten vertreten wurden: Zunächst stellte der Leipziger Lehrer Clemens Pönitz seine Thesen vor, laut denen körperliche Strafen zumindest unter bestimmten Voraussetzungen verzichtbar seien. Als diese Voraussetzungen benannte und forderte er eine stärkere Orientierung des Lehrplans an kindlichen Interessen und Fähigkeiten sowie pädagogische Freiheit für Lehrer, die das Eingehen auf die Individualität der Schüler ermögliche. Außerdem sollte die erzieherische Funktion des Elternhauses gestärkt werden und die Möglichkeit geschaffen werden, durch „besondere Zwangsmittel“ (womit insbesondere zeitweiser oder dauerhafter Schulausschluss gemeint war) gegen die „Schularbeit“ anhaltend störende Schüler vorzugehen.132 Während diese Forderungen sich als weitgehend konsensfähig erweisen sollten, war der zweite Teil von Pönitz’ Thesen deutlich kontroverser: Er empfahl den völligen Verzicht auf körperliche Strafen in der Schule, und zwar nicht nur aus pädagogischen und humanitären Gründen, sondern auch „im Interesse des Lehrerstandes“. Dabei verwies er einerseits auf die Rechtsunsicherheit und die Gefahr unbeabsichtigter Verletzungen von Schülern, andererseits auf die „in den weitesten Kreisen des Volkes beliebt[e] häßlich[e] Beurteilung unseres ganzen Standes“, die vor allem durch das Züchtigungsrecht begründet sei.133 Gemeinsames Ideal – verschiedene Taktiken?
Bemerkenswert ist, dass der Referent für die Gegenposition, Lehrer Bräutigam aus Reichenbach im Vogtland, selbst betonte, er stehe „in vieler Beziehung ganz auf demselben Standpunkte wie der Herr Vorredner“.134 Tatsächlich beschrieb einer der von ihm zur Annahme durch die Versammlung vorgeschlagenen „Leitsätze“ die Entfernung körperlicher Strafen aus der Volksschule als „ein Ideal, dessen Verwirklichung besonders auch im Interesse des Lehrerstandes zu wünschen wäre“.135 Allerdings sah er es als seine Aufgabe, „die in diesem Falle grüne Theorie mit der grauen Wirklichkeit anfechten und die dem Gemüte so widersprechenden nackten Tatsachen aufzählen zu müssen, die uns heute noch zur handgreiflichen Pädagogik zwingen“, statt „für die Verwirklichung von Idealen, 131 132 133 134 135
Vgl. Dresdner Lehrerverein, in: Leipziger Lehrerzeitung 14 (1907), Heft 45, S. 808 f.; Chemnitz. Pädagogischer Verein, in: Leipziger Lehrerzeitung 14 (1907), Heft 42. Vgl. Sächsischer Lehrerverein: Protokoll der Vertreterversammlung (1907), S. 647. Ebd., S. 650. Ebd., S. 651. Sächsischer Lehrerverein: Vertreterversammlung (Sonderbeilage), S. 2.
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wenn sie auch noch so hoch in den Sternen hängen, kämpfen zu dürfen“.136 Der hier anklingende Gegensatz zog sich auch durch die lebhafte Diskussion, die beiden Vorträgen folgte: Mehrere Redner hielten die Abschaffung körperlicher Strafen für anstrebenswert, aber (noch) nicht praktisch umsetzbar.137 Dabei wurde den Züchtigungsgegnern mehr oder weniger explizit Realitätsferne vorgeworfen – bis hin zur Behauptung eines Delegierten, die sich gegen körperliche Strafen aussprechenden Lehrer würden in der Praxis selbst schlagen.138 Auf der anderen Seite stand die Position, die der Dresdner Delegierte Rudolf Sieber folgendermaßen zusammenfasste: „Ideale sind nicht dazu da, daß wir sie in den Glasschrank stellen, sondern zum täglichen Gebrauch.“139 Hier wurde also weniger um das theoretisch-pädagogische Ideal des Verzichts auf körperliche Strafen selbst gestritten als darum, ob es ein handlungsleitender Wert sein sollte oder lediglich ein wünschenswertes, aber praktischen Erwägungen untergeordnetes Fernziel. Diese Frage hing auch mit taktischen Erwägungen zusammen: Für den einen Teil der Lehrervertreter stand fest, dass das Züchtigungsrecht erhalten bleiben müsse, „solange wir kein Ersatzmittel dafür haben“ – und solange nicht die Erziehung im Elternhaus sowie die Unterrichtsbedingungen (reduzierte Lehrpläne, kleinere Klassen) verbessert worden seien.140 Für den anderen Teil war diese Reihenfolge dagegen falsch: Zwar stimmte beispielsweise auch der Dresdner Lehrer Bezkocka zu, dass „der Stock“ bei Klassen von 35 Schülern bereits als „ultima ratio“ sinnvoll sein könne und bei 50–60 Schülern „zur unbedingten Notwendigkeit“ werde. Er zog daraus aber gerade den Schluss, dass körperliche Strafen verboten werden müssten, um kleinere Klassen zu erzwingen und das Kalkül unmöglich zu machen, das er den kommunalen Schulträgern zuschrieb: „Die Finanzminister der Städte und Dörfer sagen: Je mehr die Lehrer schlagen, desto mehr können wir die Klassen vollstopfen.“141 Ob nun Reformen als Voraussetzung für einen Verzicht auf Körperstrafen gefordert wurden oder umgekehrt deren Abschaffung als erster Schritt weitere Reformen erzwingen sollte – in beiden Argumentationen, und somit von der großen Mehrzahl der Redner, wurden körperliche Strafen in engem Zusammenhang mit den schulischen Rahmenbedingungen gedacht.
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Sächsischer Lehrerverein: Protokoll der Vertreterversammlung (1907), S. 651. Vgl. ebd., S. 667 (Lehrer Ulrich, Dresden), S. 668 (Lehrer Laube, Dresden), S. 678 (Lehrer Bader, Schönfeld). Vgl. ebd., S. 675 (Lehrer Richter, Dresden). Ebd., S. 677. Ebd., S. 667 (Lehrer Ulrich, Dresden). Ebd., S. 666. Die Position, dass gerade die Abschaffung körperlicher Strafen die Notwendigkeit von Reformen verdeutlichen und diese somit erzwingen würde, wurde auch vom Leipziger Lehrer Hiemann geäußert (vgl. ebd., S. 672).
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Trennendes: Erziehungsideale
Es könnte also scheinen, als hätten die Delegierten der sächsischen Lehrerversammlung nur über die praktische Umsetzbarkeit eines von allen geteilten Ideals der Erziehung ohne körperliche Strafen gestritten. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass die Meinungsverschiedenheiten sich auch auf eine viel tiefere, grundsätzlich-theoretische Ebene ausdehnten. Trotz der immer wieder geäußerten Ablehnung von Körperstrafen, sei es als verzichtbares oder noch notwendiges Übel, war die traditionelle Vorstellung von körperlicher Züchtigung als pädagogisch sinnvollem Erziehungsmittel keinesfalls verschwunden. Der Referent Bräutigam beispielsweise betonte, auch durch Verbesserungen der Unterrichtsbedingungen würde die Notwendigkeit körperlicher Strafen „nicht beseitigt, denn dadurch allein werden Trotz und Frechheit, auch Roheit und wie die Dinge alle heißen, nicht verschwinden, auch nicht in der ‚Arbeitsschule‘“142 – dass Trotz, Frechheit und Rohheit nicht ohne körperliche Gewalt bekämpft werden könnten, setzte er offensichtlich als selbstverständlich voraus. Diese Grundannahme scheint auch durch, wenn ein anderer Redner forderte, der Lehrer müsse, gerade bei Kindern von alleinerziehenden Müttern, in erzieherischer Hinsicht den Vater vertreten und somit auch das „Erziehungsrecht des Vaters“, zu dem eben unverzichtbar das Züchtigungsrecht gehöre.143 Diese Gleichsetzung von strenger Erziehung mit der Möglichkeit körperlicher Strafen konnte sich auf eine lange, den Lesern dieser Arbeit bereits bekannte Tradition theoretischer und praktischer Pädagogen stützen, auf die sich auch Bräutigam 1907 in Leipzig ausdrücklich berief.144 Das Gegenstück zur Tradition war das Beschwören „einer modernen Weltanschauung“, mit der körperliche Strafen für den Züchtigungsgegner Pönitz nicht vereinbar waren.145 Diese Bewertung ist aus heutiger Sicht nicht erstaunlich, bemerkenswert wird sie jedoch im Vergleich zum Allgemeinen Lehrertag 1876: Dort hatte der Leipziger (!) Lehrer Julius Beeger die Ablehnung körperlicher Strafen als unpädagogischen, inzwischen überholten Irrtum beschrieben, den Status des Modernen, Zeitgemäßen also gerade für die Verteidigung körperlicher Strafen, nicht für deren Ablehnung beansprucht.146 1907 konnte Pönitz diese Zuschreibung dagegen umkehren. Als Kennzeichen der „modernen Welt142 143 144
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Ebd., S. 653. Ebd., S. 666 (Ulrich, Dresden). Vgl. ebd., S. 651. Hier ist in erster Linie die bereits an anderer Stelle besprochene Passage einer Pestalozzi-Rede zu nennen (vgl. S. 42 dieser Arbeit), außerdem berief Bräutigam sich auf Äußerungen F. W. Diesterwegs und Friedrich Dittes. Ebd., S. 646, Pönitz. Vgl. Verhandlungen des Allgemeinen Deutschen Lehrertages zu Erfurt, S. 231–243; siehe auch S. 75 dieser Arbeit. Dass Beeger in Leipzig tätig war, ist deshalb bemerkenswert, weil dieser Lehrerverein nicht nur dreißig Jahre später am radikalsten gegen körperliche Strafen eintrat, sondern sich auch in den 1870er Jahren schon durch liberale standespo-
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3. Reform – aber auch Veränderung? 1900–1933
anschauung“ beschrieb er dabei insbesondere die Prinzipien Liberalität und Humanität, denen körperliche Strafen widersprächen. Während dies für Pönitz eher allgemeine Ideale waren, formulierte ein anderer Züchtigungsgegner ein konkreteres Erziehungsziel: „Wenn wir unsere Kinder nicht zu selbständigen Leuten mit starkem Rechtsempfinden und dem Willen, das Recht durchzusetzen, erziehen, nützt unsere ganze Arbeit nichts.“147 Ein ganz anderes Erziehungsideal wird dagegen deutlich, wenn ein Chemnitzer Delegierter seine Verteidigung körperlicher Strafen auch damit begründete, dass „wir zurzeit für die Erziehung zum Gehorsam als der unentbehrlichen Grundlage für alle weitere Erziehungstätigkeit ein einfacheres, rascher wirkendes, letztes Mittel nicht kennen“.148 Komplementär zum Gehorsam als Erziehungsziel bezog ein anderer Delegierter sich auf das traditionelle Verständnis von der Autorität des Lehrers, die „besonders kleine Kinder [. . . ] dann erst achten, wenn sie mit Gewalt dazu gezwungen werden“.149 Indem die Gegner körperlicher Strafen Liberalität, Humanität und Rechtsgefühl betonten, die Befürworter dagegen Gehorsam und Autorität, deutet sich zumindest an, dass die gegensätzlichen Positionen nicht zuletzt aus unterschiedlichen Erziehungszielen resultierten. Dass solche wertbezogenen Aussagen allerdings niemals auf offenen Widerspruch stießen, zeigt, dass weder Gehorsam noch Selbstständigkeit als Erziehungsziele grundsätzlich infrage gestellt wurden, sondern es sich vielmehr um verschiedene Prioritäten handelte, die den jeweiligen Wertbegriffen beigemessen wurden. Veränderungen im 20. Jahrhundert
Bei näherem Hinsehen zeigt sich also, dass auch unter den sächsischen Lehrervertretern die Befürwortung körperlicher Strafen noch weiter verbreitet und tiefer verwurzelt war, als es auf den ersten Blick scheinen könnte. Die Forderung nach einer sofortigen Abschaffung, die sowohl mit der pädagogischen Ablehnung dieser Strafart als auch mit taktischen Erwägungen zur Durchsetzung schulreformerischer Forderungen begründet wurde, war bei Weitem nicht mehrheitsfähig: Ein Antrag des Dresdner Lehrers Bezkocka, die gesetzliche Aufhebung des Züchtigungsrechts zu fordern, wurde „mit großer Majorität“ abgelehnt.150 Dennoch bleibt bemerkenswert, dass ein solcher Antrag überhaupt auf einer Lehrerversammlung gestellt und ernsthaft debattiert werden konnte.
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litische Forderungen und besonders intensive pädagogische Fortbildungsbemühungen auszeichnete. Vgl. Taubert-Striese: Leipziger, S. 32–36. Vgl. Sächsischer Lehrerverein: Protokoll der Vertreterversammlung (1907), S. 669 (Lehrer Berthold, Leipzig). Ebd., S. 670. Vgl. zum Erziehungsziel Gehorsam auch die Aussage des Delegierten Ulrich, für den körperliche Strafen erst entbehrlich waren, wenn alle Kinder „anders erzogen, mit der Gewöhnung, zu gehorchen“ in die Schule kämen (S. 667). Ebd., S. 652. Ebd., S. 679.
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Dies wird besonders deutlich, wenn man sich zum Vergleich vor Augen führt, dass gerade dreißig Jahre zuvor Beegers Verteidigung körperlicher Strafen als Erziehungsmittel auf dem Lehrertag auf keinerlei Widerspruch gestoßen war. Wie lässt sich diese deutliche Verschiebung erklären? Ähnlich wie es für die eher theoretisch-(reform-)pädagogischen Debatten festgestellt wurde, beriefen sich auch in der sächsischen Lehrerschaft die Gegner körperlicher Strafen größtenteils auf ältere, schon aus den Debatten des 19. Jahrhunderts bekannte Argumente. So, wie diese ehemaligen Außenseitermeinungen von der Reformpädagogik aufgegriffen wurden, stießen sie nun auch in der Lehrerschaft auf breitere Resonanz. Außerdem fällt in den sächsischen Debatten auf, dass die Lehrer immer wieder die öffentliche Beurteilung ihres Berufs thematisierten. Der Leipziger Delegierte Hiemann verwies zudem auf politische Initiativen gegen das Züchtigungsrecht (die insbesondere von der, von ihm allerdings nicht namentlich benannten, SPD ausgingen), die belegten, dass bereits „weite Kreise sich mit dieser Frage ernstlich und durchdringend befaßt haben“.151 Ein anderer Leipziger Lehrer berichtete von einem lokalen Beispiel für öffentlichen Druck: Dort habe der Reformpädagoge Ludwig Gurlitt Vorträge in den Schrebervereinen gehalten, woraufhin „eine ganze Anzahl Eltern“ erklärt habe, zukünftig „den Lehrern ganz genau auf die Finger sehen“ zu wollen.152 Hier beeinflussten also reformpädagogische Ideen über den Umweg der öffentlichen Debatte die Diskussion der praktischen Erzieher. Bemerkenswerterweise wiesen all diese Redner die geschilderten öffentlichen Reaktionen nicht etwa als „Humanitätsduselei“ oder als Angriffe unqualifizierter Laien auf den Lehrerstand zurück, sondern führten sie als Beleg für die Reformbedürftigkeit der schulischen Strafpraxis an. Dass öffentliche Kritik an Körperstrafen in den sächsischen Debatten zumindest von einigen Rednern so ernst genommen wurde, bildet einen starken Kontrast zum 19. Jahrhundert, als sich die Lehrerschaft weitgehend geschlossen sehr offensiv als Experten positioniert und Nichtschulpraktikern die Fähigkeit zur Beurteilung dieser Frage abgesprochen hatte. Eine so starke Abgrenzung gegenüber (vermeintlichen) pädagogischen Laien war im 20. Jahrhundert schon allein deshalb schwerer aufrechtzuerhalten, weil nun auch eine starke Strömung innerhalb der Pädagogik die bisherige Strafpraxis massiv, und zum Teil mit den Argumenten der früheren pädagogischen Außenseiter, kritisierte. Diese Kritik ließ sich zudem nicht pauschal als rein theoretisch abtun, schließlich wirkten viele Reformpädagogen gerade in der pädagogischen Praxis, sei es an Versuchsschulen, Internaten oder in der außerschulischen Bildung. Gleichzeitig etablierten sich neue Konkurrenten um den Expertenstatus der Lehrer, nämlich die Psychologie und die sich verstärkt neurologischen und sexuellen Fragen zuwendende Medizin. Dass die Beiträge 151 152
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dieser Wissenschaften in der Lehrerschaft rezipiert wurden, zeigt sich auch in den sächsischen Debatten: So führte etwa Pönitz als einen Grund für seine Ablehnung körperlicher Strafen an, es sei „der Beweis klipp und klar erbracht, daß leichte Schläge auf das Gesäß bei Knaben sehr leicht Geschlechtsempfindungen auslösen“153 – und stieß damit nicht auf Widerspruch. Als weniger eindeutig galten 1907 noch die Ergebnisse der Psychologie: So betonte etwa ein Delegierter, dass es in der psychologisch-hygienischen Literatur sowohl Gegner als auch Befürworter gebe und dass „hervorragende moderne Kinderpsychologen die Körperstrafen durchaus zulassen“.154 Für den Züchtigungsgegner Pönitz eignete sich die wissenschaftliche Psychologie noch nicht als Maßstab zur Beurteilung körperlicher Strafen, denn deren Erleiden erzeuge „so ganz komplizierte seelische Vorgänge, daß unsere exakte Forschung gar nicht nachkommen kann“.155 Trotz der vorhandenen Skepsis: Dass sowohl Befürworter als auch Gegner körperlicher Strafen auf die psychologische Forschung eingingen, zeigt, dass diese schon 1907 von Lehrern rezipiert und als zumindest potenziell relevanter Faktor in der Bewertung von Erziehungsfragen angesehen wurde. Es war also die Kombination aus Rezeption reformpädagogischer Ideen, stärkerer Offenheit gegenüber öffentlich-politischer Kritik am Züchtigungsrecht und neuen psychologischen und medizinischen Erkenntnissen, die für eine entscheidende Verschiebung in der Debatte sorgte: Die traditionelle Vorstellung von Körperstrafen als pädagogisch sinnvollem Erziehungsmittel und nicht nur durch die Rahmenbedingungen erzwungenem notwendigem Übel war, wie oben gezeigt, 1907 in Sachsen nicht verschwunden; sie konnte jedoch nur noch mit Einschränkungen geäußert werden. Mehrheitsfähig war sie genauso wenig wie das gegenteilige Extrem, also die Forderung nach einer sofortigen vollständigen Abschaffung. Dominant war auf dem Sächsischen Lehrertag dagegen eine mittlere Position, die zwar von einer Notwendigkeit körperlicher Strafen ausging, diese aber mit den schulischen Rahmenbedingungen begründete, sie also als veränderlich und nicht als naturgegeben bewertete. Den Verzicht auf körperliche Strafen sah sie als wünschenswertes, aber noch nicht erreichbares Ziel. Es hatte für die meisten Lehrer, anders als für die radikaleren Züchtigungsgegner, keine absolute Priorität, sondern war durch die praktischen Schwierigkeiten relativierbar. Diese Position hatte außerdem den Vorteil, dass sie eine Kompromissformel bildete, mit der sich sowohl Gegner als auch Befürworter körperlicher Strafen arrangieren konnten: Erstere legten dabei die Betonung auf das gewünschte Ziel 153 154 155
Ebd., S. 646. Auf dieses Argument berief sich bereits vor der Versammlung: Sieber: Züchtigung, S. 562. Sächsischer Lehrerverein: Protokoll der Vertreterversammlung (1907), S. 672 (Lehrer Gaupner, Dresden). Ebd., S. 646.
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3.3 Die gespaltene Lehrerschaft
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der Abschaffung, zweitere auf dessen noch fehlende Umsetzbarkeit. So stand am Ende der Debatte eine mit nur 12 Gegenstimmen angenommene Resolution: „Die Volksschule kann auf das ihr durch das Volksschulgesetz gewährte Recht der körperlichen Züchtigung verzichten, wenn schulorganisatorische und pädagogische Einrichtungen getroffen werden, die die Anwendung der körperlichen Züchtigung entbehrlich machen und wenn ihr anderweit ausreichende Zuchtmittel eingeräumt werden.“156 Diese enge Verknüpfung der Frage körperlicher Strafen mit der Forderung nach besseren Unterrichtsbedingungen sollte für die Lehrerdebatten auch der nächsten beiden Jahrzehnte prägend bleiben. 3.3.2 Nur ein „Auswuchs der Frauenpädagogik“? Überregionale Lehrerdebatten
Mochte die Erklärung des Sächsischen Lehrervereins auch kaum praktische Bedeutung haben, da sie an Bedingungen geknüpft war, deren Erfüllung in absehbarer Zeit nicht zu erwarten war: Dass zum ersten Mal überhaupt eine Lehrerorganisation körperliche Strafen offiziell für zumindest unter bestimmten Umständen verzichtbar erklärte, stellt eine bemerkenswerte Veränderung gegenüber den Lehrerdebatten der vorigen Jahrzehnte dar. Es ist kein Zufall, dass diese Erklärung ausgerechnet vom Sächsischen Lehrerverein stammte, gehörte dieser Verband doch „zum linken Flügel der organisierten Volksschullehrerschaft“ und vertrat im Vergleich zu anderen Lehrerverbänden besonders reformfreudige Positionen.157 Besonders der Leipziger Lehrerverein, dessen Delegierten sich auf der Lehrerversammlung 1907 am stärksten gegen das Züchtigungsrecht aussprachen, griff früh reformpädagogische Konzepte auf, gründete 1906 ein „Institut für experimentelle Pädagogik und Psychologie“ und initiierte 1910 einen reformpädagogischen Schulversuch, für den eigens Lehrbücher entwickelt wurden.158 Die Leipziger Volksschullehrer stammten zu einem überdurchschnittlich großen Anteil (14 %) aus der Arbeiterschaft und auch politisch kam es dort, aber auch in ganz Sachsen, zu – vor 1918 noch begrenzten, dann intensiveren – Annäherungen der Lehrerschaft an die Arbeiterbewegung.159 Diese Besonderheit ist auch für die Haltung zum Züchtigungsrecht relevant, denn dessen Aufhebung gehörte zu den bildungspolitischen Zielen der SPD, wie später noch ausführlicher zu untersuchen sein wird. Handelte es sich bei dem vorgestellten Beispiel also um einen regionalen Ausnahmefall oder war die körperstrafenkritische Haltung der sächsischen Lehrer repräsentativ? 156 157 158 159
Ebd., S. 680. Poste: Schulreform, S. 134. Vgl. Uhlig: Berufsverbände, S. 267; Taubert-Striese: Leipziger Lehrerverein. Vgl. Poste: Schulreform, S. 132–160, die Prozentangabe S. 133.
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3. Reform – aber auch Veränderung? 1900–1933
Auch in der überregionalen bzw. nichtsächsischen Lehrerpresse finden sich in den 1900er Jahren erstmals Stimmen, die für eine vollständige Abschaffung körperlicher Strafen plädierten, auch wenn viele von ihnen ein Verbot ablehnten, sondern einen freiwilligen Verzicht der Lehrerschaft erreichen wollten. Interessant sind dabei weniger die Begründungen – die Autoren schöpften aus dem gleichen Reservoir an Argumenten, das bereits im Kapitel zur reformpädagogischen Kritik vorgestellt wurde, zum großen Teil bis ins 19. Jahrhundert (oder noch weiter) zurückreicht und auch die ausführlich geschilderten sächsischen Debatten 1907 speiste – als die Veröffentlichungsorte dieser ablehnenden Stellungnahmen: Sie erschienen eben nicht nur in der Reformpädagogik nahestehenden Zeitschriften wie der Pädagogischen Reform, sondern auch in reichsweiten oder regionalen Verbandsorganen wie der Pädagogischen Zeitung des Deutschen Lehrervereins oder in der Bayerischen oder der Pfälzischen Lehrerzeitung.160 Die Ablehnung körperlicher Strafen war also im „Mainstream“ der Lehreröffentlichkeit angekommen – allgemein akzeptiert war sie dort aber noch keineswegs. Dies zeigen beispielsweise die von brüsker Zurückweisung und heftigem Widerspruch geprägten Reaktionen der Lehrerpresse, als 1911 der Pfarrer und Ortsschulinspektor Wilhelm Mader in der nationalkonservativen Kulturzeitschrift Der Türmer forderte, „daß doch endlich das mittelalterlich barbarische und gänzlich wertlose Züchtigungsrecht der Lehrer abgeschafft werde“.161 Allerdings zeigt sich bei näherem Hinsehen, dass zwar alle in Lehrerzeitungen erschienenen Repliken Mader scharf widersprachen, aber zumindest ein Teil sich dabei weniger auf die eigentliche Frage des Züchtigungsrechts als auf einzelne für die Lehrerschaft provokant wirkende Formulierungen und Vorwürfe Maders bezog.162 Andere Lehrer verteidigten körperliche Strafen aber auch 160
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Vgl. Körperliche Züchtigung in der Volksschule, in: Pädagogische Zeitung 33 (1904), S. 249; Herrmann Wilker: Körperliche Züchtigung, in: Pfälzische Lehrerzeitung 32 (1906), S. 93–94; ders.: Das Züchtigungsrecht an der bayerischen Volksschule, in: Pfälzische Lehrerzeitung 36 (1910), S. 141–142; Das Züchtigungsrecht an den bayerischen Volksschulen, in: Bayerische Lehrerzeitung 44 (1910), S. 200–201; Matthäus Conrad: Stock und Zensur. Nachgedanken zu einem Vortrag, ebd., S. 224. Die Bayerische Lehrerzeitung wurde allen Mitgliedern des bayerischen Volksschullehrervereins zugestellt und hatte deshalb mit 16.000 Exemplaren (Stand 1914) die „weitaus stärkste“ Auflage aller pädagogischen Zeitschriften (Buchheit: Tagespresse, S. 57). Die Pfälzische Lehrerzeitung war das Blatt des Pfälzischen Kreislehrervereins und erreichte trotz ihres regionalen Charakters mit immerhin 2.350 Exemplaren (Stand 1910) eine im Vergleich zu vielen anderen Lehrerzeitschriften recht hohe Auflage. Mader: Prügelstrafe, S. 845–852. Zahlreiche Pressereaktionen auf diesen Aufsatz sind in Maders einige Jahre später veröffentlichtem Buch (Tiefstand) abgedruckt (und von Mader kommentiert). So hatte Mader etwa beklagt, dass unbegabte Schüler wegen ihrer schlechten Leistungen besonders häufig geschlagen würden – was auf realen Fakten beruhen mochte, aber vehement dem über lange Jahre gepflegten Selbstbild der sich immer wieder von „Lernschlägen“ distanzierenden Lehrerschaft widersprach. Ebenso provokant war Maders Aussage „in
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recht offensiv als notwendiges Erziehungsmittel. Diese Position, die auf der sächsischen Lehrerversammlung 1907 nur noch eingeschränkt und zwischen den Zeilen vertreten werden konnte, war in den Lehrerdebatten insgesamt vor dem Ersten Weltkrieg noch weit verbreitet, wenn nicht gar dominant. In den Verbandszeitschriften waren entsprechende Aufsätze etwas häufiger als die bereits genannten züchtigungskritischen.163 Eine auffällige Ausnahme bildet allerdings Die Lehrerin in Schule und Haus, die als bedeutendste Lehrerinnenzeitschrift und offizielles Organ des Allgemeinen Deutschen Lehrerinnen-Vereins zwischen 1903 und 1908 insgesamt vier Aufsätze zu körperlichen Strafen abdruckte. Davon stammten zwei von der Rechtsschutzstelle und informierten neutral über die geltende Rechtslage,164 die anderen beiden lehnten Körperstrafen massiv ab.165 Aus der züchtigungskritischeren Position der organisierten Lehrerinnenschaft pauschal abzuleiten, dass insgesamt Frauen, die ab der Jahrhundertwende einen wachsenden Anteil der Lehrkräfte ausmachten,166 körperliche Strafen ablehnten, wäre natürlich vermessen (und das nicht nur, weil einer der genannten Artikel von einem männlichen Oberlehrer verfasst wurde). Aus der zeitgenössischen Perspektive derjenigen Lehrer, die das Vordringen von Frauen in den Beruf aufgrund tradierter Geschlechterrollen, aber auch aus dem pragmatischen Aspekt der Konkurrenz um Arbeitsplätze heraus ablehnten,167 konnte diese Verbindung jedoch durchaus gezogen werden: So war für einen Lehrer die radikale Ablehnung körperlicher
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jedem Menschen steckt ein Stück Dippoldsnatur“, die schlagenden Lehrern zumindest indirekt Sadismus vorwarf, und die Tatsache, dass er auch Konflikte mit Lehrern aus seiner Berufskarriere schilderte, in denen es gar nicht um körperliche Strafen ging. Die Erwiderungen auf Maders Artikel sind also nur begrenzt aussagekräftig für die Position der Lehrerschaft zu körperlichen Strafen, was Peter Dudek („Liebevolle Züchtigung“, S. 71–76) nicht ausreichend berücksichtigt, wenn er vor allem diese Reaktionen als Beispiele für die Debatten um körperliche Strafen der Zeit heranzieht – obwohl er selbst den provokanten Charakter von Maders Aussagen betont (vgl. ebd., S. 73). Vgl. W.: Mehr Eisen, in: Pädagogische Zeitung 35 (1906), S. 368; Das Merkblatt über die körperliche Züchtigung in der Schule, in: Pädagogische Zeitung 36 (1907), S. 443– 444; Mang: Körperstrafe; Zur Frage der körperlichen Züchtigung in der Volksschule, in: Bayerische Lehrerzeitung 38 (1904), S. 157–159; D. M.: Schulstrafen in Volks- und Fortbildungsschulen, in: Bayerische Lehrerzeitung 43 (1909), S. 745. Das Züchtigungsrecht, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 15 (1898), S. 318–320, und: Bereich des Züchtigungsrechts, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 25 (1908), S. 252–254. Bloh: Körperstrafen; Ein Beitrag zur „Prügelmethode“ im allgemeinen, und über „Schläge“ in Schule und Haus im besonderen, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 20 (1903), Heft 37, S. 992–995. So war 1911 ca. ein Fünftel aller Volksschullehrkräfte weiblich, an den höheren Schulen ca. ein Viertel und im (allerdings zahlenmäßig weniger bedeutenden) Mittelschulwesen sogar fast die Hälfte (vgl. Titze: Lehrerbildung, S. 364). Zur „Feminisierung des Lehrerberufs“ ausführlich Enzelberger: Sozialgeschichte, S. 81–140. Vgl. Enzelberger: Sozialgeschichte, S. 86–100; Bölling: Volksschullehrer, S. 59 f.
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Strafen (gemeinsam mit der Forderung nach sexueller Aufklärung für Kinder bzw. Jugendliche) einer der „Auswüchse der Frauenpädagogik“, die sentimental sei und Kinder fälschlicherweise wie Erwachsene behandeln wolle.168 Dass diese Aussagen immerhin in der Pädagogischen Zeitung, dem Organ des Deutschen Lehrervereins, getätigt werden konnten, deutet darauf hin, dass der Verfasser mit seiner Meinung nicht ganz alleine stand. Insgesamt spielte aber für die Debatten um körperliche Strafen der wachsende Frauenanteil im Lehrerberuf nur eine marginale Rolle. 3.3.3 Entwicklung in den 1920er Jahren
In den vorigen Kapiteln wurde deutlich, dass sich erst in den 1920er Jahren vor dem Hintergrund der nun beispielsweise im Bund entschiedener Schulreformer institutionalisierten Reformbewegung, vor allem aber durch den Einfluss der Psychologie die Ablehnung körperlicher Strafen in der theoretischen Pädagogik weitgehend durchsetzen konnte. Gilt Ähnliches auch für die Debatten der Lehrerschaft? Körperstrafen als zu überwindendes Übel . . .
Untersucht man die Lehrerpresse, so finden sich tatsächlich in der ersten Hälfte der 1920er Jahre viele Stimmen, die gegen Körperstrafen argumentierten und zum Teil sogar vollständige Verbote begrüßten bzw. forderten.169 Ein deutlicher Wandel zeigt sich etwa in den Äußerungen der Rechtsschutzabteilungen der Lehrervereine: Noch 1915 hatte der Vorsitzende der Rechtsschutz-Kommission des Deutschen Lehrervereins die Abschaffung einer sächsischen Vorschrift, die Körperstrafen erst nach erfolgloser Anwendung anderer Zuchtmittel erlaubte, gefordert, da sie zwar pädagogisch sinnvoll sei, aber in Bezug auf die Rechtssicherheit „eine besonders gefährliche Klippe für die Lehrerschaft“ darstelle.170 1923 beklagte derselbe Autor immer noch die „Schutzlosigkeit“ der Lehrer vor strafrechtlicher Verfolgung, schlug nun aber eine ganz andere Lösung des Problems vor: Da eine klare gesetzliche Regelung wohl nicht zu erreichen sei, könne man „der Lehrerschaft nur raten, Abschaffung des Züchtigungsrechtes zu 168 169
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Gottschalk: Auswüchse. Vgl. neben den unten genannten: Die Prügelstrafe, in: ADLZ 51 (1922), S. 513; G. Winkler: Die körperliche Züchtigung in der Volksschule, in: ADLZ 52 (1923), S. 51–53; Kutzner: Frage. F. A. Müller: Das Züchtigungsrecht im Königreich Sachsen, in: Blätter für Schulrecht – Beilage zur Pädagogischen Zeitung 18 (1915), Heft 6, S. 21–22. Auch hatte es noch 1910/11 eine erneute (erfolglose) Initiative für eine Änderung des Strafgesetzbuchs gegeben, durch die Überschreitungen des Züchtigungsrechts nur bei Verletzungsfolge und auf Antrag der Eltern strafrechtlich zu verfolgen sein sollten. Vgl. Müller: Regelung.
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fordern“ (wobei diese Abschaffung allerdings mit der Möglichkeit des Schulausschlusses auch für Volksschulen einhergehen müsse).171 Auch die Rechtsschutzkommission des Bayerischen Lehrervereins wiederholte 1923 „[u]nsere alte Forderung: Fort mit dem Stocke, wenigstens so lange man uns gesetzlich nicht besser schützt“.172 Dass diese Forderung in Wahrheit so alt nicht war – auch die Bayerische Lehrerzeitung hatte 1910 den Ruf nach einer großzügigeren gesetzlichen Regelung des Züchtigungsrechts unterstützt173 – macht den Wandel nur umso deutlicher. Allerdings hängt er nicht nur mit pädagogischen Überzeugungen, sondern wohl auch mit taktischen Überlegungen zusammen: Eine Lockerung der strafrechtlichen Regelungen wurde in den 1920er Jahren als kaum erreichbar eingeschätzt, Verbote körperlicher Strafen mussten dagegen deutlich wahrscheinlicher scheinen – zumal sie in einzelnen Ländern, insbesondere Sachsen 1922, tatsächlich erfolgten.174 Als sich die Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung als Hauptorgan des Deutschen Lehrervereins175 1922 positiv über dieses sächsische Verbot äußerte und die Lehrer zu einem freiwilligen Verzicht auf Körperstrafen aufrief, berichtete die Redaktion von vielen Leserreaktionen, deren „weitaus größere Zahl“ ihrer Position zugestimmt habe. Auch die beiden abgedruckten Zuschriften der „Gegenseite“ gestanden zu, dass „die Abschaffung der Prügelstrafe als eines unterwertigen Erziehungsmittels das Ideal sein“ solle, das aber angesichts zu großer Klassen, schwieriger Schüler und fehlender anderer Strafmittel in absehbarer Zeit noch nicht umsetzbar sei.176 Diese Position wurde in den 1920er Jahren zum typischen, von der Lehrerschaft am häufigsten nach außen vertretenen Standpunkt.177 Dabei wurde als Voraussetzung des Verzichts auf körperliche 171
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F. A. Müller: Soll die Lehrerschaft Abschaffung des Züchtigungsrechts fordern?, in: ADLZ 52 (1923), S. 13–14; vgl. auch Bericht der Rechtsschutzkommission in: Jahrbuch des Deutschen Lehrervereins 48 (1923/24), S. 129. Bericht über die Tätigkeit des Rechtsschutzes für 1921/22, in: Bayerische Lehrerzeitung 57 (1923), S. 106 f., Zitat S. 106. Strafprozeßreform und Lehrerstand, in: Bayerische Lehrerzeitung 44 (1910), S. 203–204. Allerdings lehnte Müllers Nachfolger als Rechtsschutzbeauftragter des DLV einige Jahre später, nach Erfahrungen mit Verboten in einzelnen Staaten wie Sachsen oder Thüringen, ein Verbot ab. Er plädierte dennoch für eine vollständige Abschaffung, die allerdings in Form eines freiwilligen Verzichts von der Lehrerschaft selbst ausgehen müsse. Vgl. O. Bechstein: Die körperliche Züchtigung in der Volksschule im Hinblick auf ihre strafrechtlichen Gefahren, in: Berliner Lehrerzeitung 7 (1926), S. 172–173. Durch ihre recht hohe Auflage von bis zu 18.000 Exemplaren 1930 und ihre Rolle als „Sprachrohr der Verbandsführung“ des DLV (Bölling: Volksschullehrer, S. 74), in dem in der Weimarer Republik über die Hälfte der Volksschullehrer organisiert war (vgl. ebd., S. 59), kann sie als eine der einflussreichsten Lehrerzeitschriften gesehen werden. Rundschau: Prügelstrafe, in: ADLZ 51 (1922), S. 585 f. (Zitate S. 585). Vgl. die von Liefmann zitierte Entschließung des Mannheimer Bezirkslehrervereins (Gedanken, S. 331 f., Anm. 2); Deutscher Volksschullehrerverein: Entschließung gefaßt auf der Vertreterversammlung zu Köln am 12. April 1927, in: Der Volksschullehrer 23 (1929),
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Strafen oft eine Möglichkeit gefordert, besonders schwer erziehbare Kinder aus der regulären Volksschule auszuschließen – sei es temporär oder dauerhaft, etwa durch die Einrichtung besonderer Klassen oder Ausweitung der Fürsorgeerziehung.178 Weitere wichtige Forderungen waren reduzierte Lehrpläne bzw. weniger Leistungsdruck auf die Lehrer, ein bestimmtes Stoffpensum zu erreichen,179 und allen voran Reduktion der Klassengrößen, die beispielsweise in Preußen auch 1921 mit durchschnittlich ca. 44 (1929: ca. 37) Schülern noch deutlich über dem von Lehrern erwünschten Niveau lagen.180 Auch wenn natürlich ein echter, offensichtlicher Zusammenhang zwischen Unterrichtsbedingungen und Verzichtbarkeit von Strafen besteht, gewann hier die Frage körperlicher Strafen auch eine standespolitisch-taktische Dimension, indem sie bildungspolitischen Forderungen der Lehrerschaft Nachdruck verleihen konnte. Dieses Phänomen ist uns bereits in den Debatten des 19. Jahrhunderts begegnet, auch wenn die an Reformen geknüpfte Verzichtbarkeit körperlicher Strafen damals nur von einer Minderheit vertreten wurde. Als Mehrheitsposition zeigte sie sich erstmals auf der Sächsischen Lehrerversammlung 1907 – dort konnte ein Delegierter es sogar explizit als den wichtigsten Zweck der Debatte beschreiben, „auf die außerordentlichen Mängel in unserer Volksschule hinzuweisen“ (wogegen er eine „Klärung der Frage, ob die körperliche Züchtigung notwendig oder nicht notwendig ist“ gar nicht erwartete oder anstrebte).181 Auch ein weiterer Mechanismus, der in Sachsen bereits 1907 zu beobachten war, wiederholte sich in den 1920er Jahren auf überregionaler Ebene: Die Position, dass körperliche Strafen zwar grundsätzlich problematisch, aber erst nach einer Verbesserung der Rahmenbedingungen verzichtbar seien, konnte als Kompromiss zwischen Züchtigungsgegnern und -befürwortern fungieren.
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S. 17.; Bezirkslehrerrat Köln: Zum Ministerialerlaß über die körperliche Züchtigung, in: Der Volksschullehrer 23 (1929), S. 18. Vgl. auch Dudek: „Liebevolle Züchtigung“, S. 77. Vgl. etwa R.: Zur Frage der körperlichen Züchtigung, in: Der Volksschullehrer 20 (1926), S. 314–315; Oskar Kutzner: Frage, S. 3; Kalb: Züchtigung; Von der 8. ordentlichen Vertreterversammlung des Preußischen Lehrervereins in Görlitz, in: Der Volksschullehrer 21 (1927), S. 37–40. Der potenziell problematische Charakter einer solchen Ausweitung staatlicher Fürsorgeerziehung (vgl. Peukert: Sozialdisziplinierung) wurde dabei nicht als solcher wahrgenommen bzw. angesprochen. Vgl. beispielsweise Patiens: Aufgeschoben, S. 307. Diese Durchschnittszahlen verschleiern allerdings, dass es noch eine beachtliche, wenn auch schnell sinkende, Anzahl deutlich größerer Klassen gab: So bestanden 1921 noch 30 % der Schulklassen aus über 50 Kindern, 1926 ca. 11 % (vgl. Preußische Statistik 295: Schulwesen 1926, S. 12 f.). Sächsischer Lehrerverein: Protokoll der Vertreterversammlung (1907), S. 668 (Lehrer Beck, Dresden).
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. . . oder als erzieherische Notwendigkeit angesichts einer verrohenden Jugend?
Auch in den 1920er Jahren waren diejenigen Stimmen nicht verschwunden, die körperliche Strafen aus grundsätzlichen pädagogischen, von Rahmenbedingungen unabhängigen Gründen bejahten. Ein besonders bedeutendes Beispiel hierfür ist das Handbuch „Der Führer im Lehramte“. Sein Verfasser Karl Otto Beetz berichtete in der achten Auflage von 1923 zwar über „eine sehr starke, auf Beseitigung der Prügelstrafe gerichtete Bewegung“ in der Lehrerschaft, setzte dieser aber die Aussagen berühmter Volksschulpädagogen und praktische Erfahrungen entgegen, die eine durch die Natur des Kindes begründete Notwendigkeit körperlicher Strafen belegen sollten.182 Ganz von der Überzeugung dieser Notwendigkeit geprägt ist auch die Forderung eines Lehrers, „daß wir uns auch diesen so unangenehmen Pflichten nicht entziehen zum künftigen Wohle des Kindes, zum Heile der Gesamtheit“.183 Dass körperliche Strafen dem Nutzen des Kindes wie der Gesellschaft dienten, begründete er vor allem damit, „daß Erziehung ohne unbedingten Gehorsam der Kinder nicht möglich ist“ und dieser Gehorsam wiederum teilweise nur durch körperliche Gewalt zu erreichen sei. Hier wird wieder deutlich, dass hinter der Frage körperlicher Strafen nicht zuletzt die Frage der Erziehungsziele steckte – und dass zumindest Teile der Lehrerschaft auch noch in den 1920er Jahren nicht nur dem Erziehungsziel „Gehorsam“ hohe Priorität beimaßen, sondern dieses auch eng mit körperlichen Strafen verbanden.184 In engem Zusammenhang mit Gehorsam als Erziehungsziel steht der Wunsch nach „Zucht und Ordnung“ in der Schule, der von vielen Lehrern in den 1920er Jahren als besonders dringlich empfunden wurde. So hieß es etwa 1923 in der Thüringer Lehrerzeitung: „Zumal in unserer Zeit, da jedes Autoritätsgefühl erstorben zu sein scheint, und der Geist der Revolution auf allen Gassen herumgeht, das Familienleben untergräbt und an den Grundpfeilern der staatlichen Ordnung rüttelt, wäre die Aufhebung der Züchtigungspflicht[!] eine verhängnisvolle Maßnahme.“185 Dass solche Bewertungen recht weit verbreitet waren, zeigt sich daran, dass sie auch auf der Ebene der Schulaufsicht geäußert wurden – so hieß es in den von der Regierung des Bezirks Wiesbaden 182 183 184 185
Beetz: Führer, S. 420–423 (Zitat S. 420). Beetz verwies dabei auf frühere Auflagen seines 1902 erstmals erschienenen Handbuchs. Linde: Züchtigungsrecht, S. 17. Dort auch die folgenden Zitate. Vgl. etwa Ulbrich: Züchtigung, S. 29; E. Fröhlich: Noch einmal: Zucht und Ordnung in der Schule, in: Berliner Lehrerzeitung 13 (1932), S. 578–579 (hier S. 579). Linde: Züchtigungsrecht?, S. 17. Ähnlich bewertete etwa auch der Kreislehrerrat BerlinWilmersdorf ein Züchtigungsverbot als „ernste Gefahr für die Aufrechterhaltung von Zucht und Ordnung in der Volksschule, die durch die Kriegs- und Nachkriegszeit aufs schwerste untergraben sind“ (Grundsätze für die Besprechung der Züchtigungsfrage, in: ADLZ 53 (1924), S. 524). Vgl. auch Schwarz: Rechtsschutz, in: Bayerische Lehrerzeitung 61 (1927), S. 296 f. (hier S. 296); Droege: Juristisches, S. 763.
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zusammengefassten Berichten verschiedener Lokalschulinspektoren von 1921: „Widerspenstigkeit, Auflehnung gegen jede Autorität und die erschreckend um sich greifende sittliche Verwilderung erschweren die pädagogische Behandlung der Schüler und die Handhabung der Schulzucht immer mehr. Hier muß schnell und scharf – nötigenfalls mit dem Stock – zugegriffen werden, sonst ist der weitere Rückschritt unvermeidlich.“186 Hier zeigt sich der alte Topos der zunehmend verrohten, unbotmäßigen Jugend, der offensichtlich nach dem Ersten Weltkrieg eine Phase besonderer Relevanz erlebte. Die neuere Forschung diagnostiziert für diese Zeit einen Generationenkonflikt, bei dem das wachsende Selbstbewusstsein der Jugend von der älteren Generation als „Bedrohung und Infragestellung der hergebrachten Werte und Autoritäten“ empfunden wurde.187 Dahinter stand nicht zuletzt die Verunsicherung durch gesellschaftliche und politische Veränderungen: So warnte der Referent K. Gaul in einem Vortrag vor dem Frankfurter MittelschullehrerVerein, dass die „Disziplinlosigkeit der unreifen Jugend, jenes Sichfreimachen von notwendigen Bindungen an Zucht und Sitte, jenes Sichausleben, ehe man ins Leben eintritt“ durch Aufhebung des Züchtigungsrechts verschlimmert würden.188 Er beklagte den Bedeutungsverlust der Religion, den „materialistische[n] Zeitgeist“ und die „das Triebhafte“ nährenden „verderblichen Einflüsse in Wort, Schrift und Bild“ – und verwies als konkrete Beispiele auf den Mordfall Helmut Daube, in dem ein 19-Jähriger angeklagt war, und auf die „Steglitzer Schülertragödie“, einen Selbstmordpakt zwischen Jugendlichen. Beide Fälle hatten Ende der 1920er Jahre große mediale Aufmerksamkeit und Debatten über eine „Krankheit der Jugend“ ausgelöst.189 Außerdem ging er auf die „Vorgänge am Werner-Siemens-Gymnasium“ in Berlin ein, wo Schüler aus Protest gegen die wenig republikanische schulische Verfassungsfeier eine eigene Feier inszeniert hatten, was wiederum auf scharfe Kritik etwa von Stadtverordneten der DVP und DNVP stieß.190 Ganz unabhängig von der politischen Dimension – der Fall berührte mit der symbolischen Repräsentation der umstrittenen Republik eine 186
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Regierung Wiesbaden, Abt. f. Kirchen- u. Schulwesen: Bericht an MWKV, 29.5.1921, in HHStAW 405, 12903, Bl. 221. Neben der hier deutlich werdenden Ansicht, dass Kriegsbzw. Nachkriegszeit zu einer nun größere Strenge erfordernden ‚Verwilderung‘ der Jugend geführt habe, finden sich auch einzelne Stimmen, die gerade die bei Kindern und Lehrern nachwirkende „Kriegsnervosität“ als Argument gegen Körperstrafen anführten (Kalb: Züchtigung, S. 155; vgl. auch die Aussage des bayerischen SPD-Landtagsabgeordneten Käfer: Bayerischer Landtag, 62. Sitzung am 12.5.1921, Stenographischer Bericht, Wahlperiode 1920–24, Bd. 3, S. 67). Insgesamt wurden das Kriegserlebnis und seine (emotionalen) Folgen in den Debatten um Körperstrafen jedoch selten thematisiert. Sack: Moderne Jugend, S. 76. Gaul: Stellungnahme, S. 42 f. (dort auch die folgenden Zitate). Vgl. Bischoff/Siemens: Class, S. 211 f. Vgl. „Die Schüler auf den Protestweg gedrängt“, in: Berliner Volkszeitung Nr. 483 vom 12.10.1928, S. 3.
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sensible Frage der politischen Kultur Weimars – zeigt sich hier eine bestimmte Sicht des Lehrer-Schüler-Verhältnisses: Gaul zitierte empört die Empfehlung eines Mitglieds des zuständigen Provinzialschulkollegiums, Schüler sollten, „wenn einmal ein Lehrer politisch entgleist“, diesen „in tadelloser Form unter vier Augen“ ansprechen und um den Verzicht auf entsprechende Bemerkungen bitten.191 Für den Referenten war das ein Schritt zur Umkehr der bisherigen Ordnung: „der Schüler – der Erzieher; der Lehrer – der Geohrfeigte. Wenn man diesen Weg beschreitet, den der Herr Oberschulrat empfiehlt, können wir es noch erleben, daß man den Lehrern das Züchtigungsrecht entzieht und es den Schülern – erteilt“. Hier zeigt sich wieder die klassische Vorstellung vom Lehrer-Schüler-Verhältnis als Nullsummenspiel, bei dem Wahrnehmen von Schülerrechten und Kritik am Lehrer dessen Autorität gefährlich angriffen.192 Allerdings war diese Vorstellung in den 1920er Jahren eben nicht allgemein akzeptiert, in den theoretischen Debatten nicht einmal mehr mehrheitsfähig. Das zeigt nicht nur die ursprüngliche Aussage des Schulrats, sondern vor allem eine Replik, die kurz nach der Veröffentlichung des Vortrags in der Zeitschrift Die Mittelschule erschien: Deren Verfasserinnen kritisierten gerade Gauls „Gesamtauffassung [. . . ] vom Schüler und der Schule“, die noch die „des vorigen Jahrhunderts, des Jahrhunderts des Erwachsenen mit seiner Geringschätzung des Kindes und des Jugendlichen“ sei. Eine in höflicher Form angebrachte Kritik am Lehrer als ‚Ohrfeige‘ zu werten, sei nur in der „Subordinationsschule mit brutaler Autorität“ verständlich, die im 20. Jahrhundert überwunden werden müsse.193 So unterschiedlich die drei vom Referenten Gaul angeführten Fälle – politische Auseinandersetzungen um Schülerproteste, eine private ‚Schülertragödie‘ und ein brutaler Mord – waren, einte sie doch eines: Mit dem schulischen Züchtigungsrecht, dem eigentlichen Thema des Vortrags, hatten sie sehr wenig zu tun, zumal alle Akteure als ältere Gymnasiasten zumindest in der Theorie von körperlichen Schulstrafen nicht betroffen sein konnten. Eine noch weniger naheliegende Verbindung wurde in der katholischen Lehrerzeitschrift Pädagogische Post gezogen: Dort suchte der Verfasser den Einwand, körperliche Strafen seien mit der Würde von Erzieher wie Zögling nicht vereinbar, mit dem Hinweis zu entkräften, dass die „zivilisierte Menschheit unserer Tage ihre Seele mehr und mehr preisgibt und damit auch ihre Würde“ – und führte dafür Fließbandarbeit und Jazzmusik als Belege an.194 Dieser Artikel und der Vortrag Gauls zeigen beispielhaft, dass die Befürwortung körperlicher Strafen eng verbunden sein 191 192
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Gaul: Stellungnahme, S. 43 (dort auch die folgenden Zitate). Die Schülerproteste und die Reaktionen darauf lassen sich auch als Beleg für einen in der Forschung diagnostizierten Generationenkonflikt sehen, bei dem das wachsende Selbstbewusstsein der Jugend von der älteren Generation als „Bedrohung und Infragestellung der hergebrachten Werte und Autoritäten“ empfunden wurde (Sack: Moderne Jugend, S. 76). Trebs/Loose: Bemerkungen, S. 232. Mönkehues: Thema, S. 640.
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konnte mit eher diffusen Gefühlen der Bedrohung durch eine alte Ordnungen missachtende Jugend oder durch soziale und kulturelle Veränderungen. Die Vorstellung einer „Krise der (modernen) Jugend“ beschreibt Heidi Sack als ein für die Weimarer Republik typisches Wahrnehmungsmuster, das eng mit weit verbreiteten Empfindungen der Moderne als krisenhaft verbunden war.195 In den Worten Detlev Peukerts wurde Jugend „auffällig und dabei zur Chiffre für den Zusammenbruch der traditionellen Bindungen und Aufsicht.“196 Auch wenn sich diese Problemwahrnehmung, soweit sie konkret wurde, in erster Linie auf die Lebensphase nach dem Schulbesuch bezog, konnte sie offensichtlich auch auf die ‚Schuljugend‘ vorprojiziert werden. Daneben gab es deutlich konkretere Ängste vor einem Verlust der Lehrerautorität und der Kontrolle über die Schülerschaft, die vor allem in Reaktion auf die in einzelnen Ländern erlassenen Verbote verstärkt geäußert wurden. Sie dürften nicht ohne realen Kern gewesen sein, denn dass schulische Disziplinprobleme zunächst zunehmen konnten, wenn das zuvor übliche Drohmittel körperlicher Strafen plötzlich wegfiel, ist naheliegend. Solche Erfahrungen oder auch nur Befürchtungen führten zu dem Eindruck, Lehrer seien ohne die Möglichkeit, sich gegebenenfalls mit Gewalt oder zumindest deren Androhung durchsetzen zu können (und ohne Ersatzmittel wie etwa den Ausschluss aus der Schule), „gegen Unbotmäßigkeit geradezu wehrlos“197 , sie würden „zum völlig machtlosen Popanz“ herabgewürdigt.198 Oder in den Worten der konservativen Neuen Sächsischen Schulzeitung, die einem anderen Autor trotz oder gerade wegen ihrer pathetischen Übertreibung so treffend erschienen, dass er sie zustimmend übernahm: „Auch wir wollen kein zerprügeltes, zerbrochenes Geschlecht großziehen. Aber wir wollen auch nicht der Amboß sein, den der grausame Hammer Kind in wenigen Jahren zerschlägt.“199 Hier mischten sich klassische Vorstellungen von Lehrerautorität als Fähigkeit zum Durchsetzen gegen den Willen des Kinds mit Gefühlen der Hilflosigkeit und Bedrohung angesichts von teils tatsächlich, teils gefühlt zunehmenden Disziplinproblemen. Letztere steigerten sich in der Debatte zu düsteren Zukunftsvisionen wie diesem Bild des Lehrers „in ein paar 195
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Vgl. Sack: Moderne Jugend, S. 68–71. Dabei ist, wie Sack betont, der Krisenbegriff der Weimarer Zeit zu beachten, der weniger ein Niedergangsszenario meinte denn einen Wendepunkt, an dem sich die weitere Richtung der Entwicklung entscheidet (vgl. ebd., S. 68). Insofern ist es weniger widersprüchlich, als es scheinen könnte, wenn mit der Betonung des Krisenhaften andererseits eine Aufwertung von Jugend und Jugendlichkeit als Metaphern für Aufbruch und Vitalität im Sinne eines „Mythos Jugend“ einherging (vgl. ebd., S. 57–63). Peukert: Republik, S. 94. Martin Ulbrich: Körperliche Züchtigung als Ausnahmestrafe, in: Der Volksschullehrer 21 (1927), S. 183. Bonolsen: Züchtigungserlaß, S. 410. Zitierte nach R.: Zur Frage der körperlichen Züchtigung, in: Der Volksschullehrer 20 (1926), S. 315.
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Jahren“, das ein sächsischer Lehrer zeichnete: „Er wird in der Mitte stehen, die Kinder werden ihn von allen Seiten an dem Rocke ziehen, und er kann nichts machen. Er wird hilflos dastehen.“200 Lehrerverbände: für Verzicht, aber gegen ein Verbot
Das letzte Zitat fiel auf der Vertreterversammlung des Sächsischen Lehrervereins – also ausgerechnet desjenigen Verbands, der sich schon 1907 und mit seiner Zustimmung zum sächsischen Verbot 1922 deutlicher als andere gegen Körperstrafen positioniert hatte. Und tatsächlich rief es laut dem Versammlungsprotokoll „starke Unruhe, starke[n] Widerspruch“ hervor. Überhaupt waren die Debatten um Körperstrafen auf der sächsischen Vertreterversammlung 1926 äußerst kontrovers: Einige Delegierte hatten beantragt, die Vereinsmitglieder in einer Urabstimmung entscheiden zu lassen, ob der Lehrerverein sich für die Wiedereinführung des in Sachsen seit 1922 abgeschafften Züchtigungsrechts einsetzen solle – denn sie gingen davon aus, „daß die Meinungen der Lehrerschaft anders gehen, als sie bisher in den Vertreterversammlungen zum Ausdruck gekommen sind“.201 Sie verwiesen dazu auf eine Abstimmung im Bezirk Grimma, wo von 112 sich äußernden Lehrern 96 körperliche Strafen als „unentbehrlich“ werteten, sowie auf eine Umfrage unter den Lehrerkollegien von 48 Chemnitzer Schulen, bei der über die Hälfte die Forderung nach dem Züchtigungsrecht bejahte.202 Diese von Verbotsgegnern initiierten Befragungen sind natürlich mit Vorsicht zu bewerten (so beteiligten sich etwa in Grimma 45 befragte Lehrer nicht an der Abstimmung, von denen die meisten Züchtigungsgegner gewesen sein dürften); die Tendenz, dass viele, wohl sogar eine Mehrheit der sächsischen Volksschullehrer das Züchtigungsverbot ablehnten, erscheint dennoch plausibel.203 200 201 202 203
Türke (Colditz), Vorstand des Sächsischen Lehrervereins: Bericht über die 51. Vertreterversammlung, S. 238. Ebd., S. 239. Dort auch die folgenden Zahlen. Zum sächsischen Züchtigungsverbot siehe Kap. 3.6.2. Vgl. ebd., S. 209. Dabei forderten 32 Schulen das Züchtigungsrecht „für Zuchtfälle“, 16 „auch für Unterrichtsfälle“ und 25 Schulen „unbedingt“. Hierbei ist auch zu bedenken, dass längst nicht alle sächsischen Volksschullehrer im Sächsischen Lehrerverein organisiert waren (ca. 18.000 Mitglieder). Der 1924 als konservative, D(N)VP-nahe Konkurrenzorganisation gegründete „Neue Sächsische Lehrerverein“, der 1926 etwa 1.700 Mitglieder umfasste, lehnte ein Züchtigungsverbot klar ab (vgl. Bölling: Volksschullehrer, S. 57; zur Position dieses Vereins vgl. Abg. Grellmann, Sächsischer Landtag, 28. Sitzung am 3.5.1927, Verhandlungen, 3. Wahlper. 1926/29, 1. Bd., S. 910). Auch gegenüber dem Kultusministerium beklagte ein Lehrer, dass „unsere Vertreter (SLV) niemals in der Züchtigungsfrage das Urteil der einzelnen Kollegen in der Vertreterversammlung kund tun, sondern lediglich ihre eigene Meinung zur Aussprache bringen“ und schätzte, dass 90 % der Lehrer mit ihm das Verbot ablehnten (A. S. an Mf V, 7.8.1926, SächsStA-D, 11125, Nr. 13872, Bl. 205 f.). Ein Vertreter des Vorstands des Sächsischen
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Auf der Vertreterversammlung sahen die Mehrheitsverhältnisse jedoch anders aus: Der Antrag auf Urabstimmung wurde mit „sehr großer Mehrheit“ abgelehnt. Stattdessen nahm die Versammlung „gegen wenige Stimmen“ eine Entschließung des Vorstands an, die alte Forderungen der Lehrerschaft erneuerte (bessere außerschulische Betreuung von Schwererziehbaren, Möglichkeit des Schulausschlusses und strafrechtliche Verfolgung erst auf Entscheidung des Bezirksschulamts), dabei aber die grundsätzliche Ablehnung körperlicher Strafen aufrechterhielt.204 Bemerkenswert ist nicht nur die Mehrheitsverteilung auf der Vertreterversammlung, sondern auch, dass grundsätzliche Argumente für körperliche Strafen, die 1907 nicht nur zwischen den Zeilen erkennbar waren, nun fehlten. Körperstrafen ließen sich auch von ihren Befürwortern nur als eine Art wider bessere Absicht angewendete Notwehr rechtfertigen: Unsere Not ist außerordentlich groß. Ich bin ein begeisterter Verfechter einer Erziehung ohne körperliche Strafe gewesen, aber durch meine Erfahrungen der letzten Jahre zur Überzeugung gekommen: Wir brauchen, solange die Voraussetzungen, die wir forderten, von der Regierung nicht erfüllt sind, noch einmal den Stock. [. . . ] Wir haben nicht mehr Lust, in der Schule vor den Jungen dazustehen wie Hampelmänner.205
Die Vorstellung von Schlägen als sinnvollem Erziehungsmittel war im Sächsischen Lehrerverein 1926 nicht mehr zu vertreten. Dies ist nicht für die gesamte Lehrerschaft zu verallgemeinern: Wie die obigen Beispiele zeigen, konnte sie durchaus noch recht deutlich geäußert werden, vor allem in konservativen und konfessionellen Lehrerzeitschriften oder von lokalen Lehrervereinen.206 Aber auf der höheren Ebene der dem Allgemeinen Deutschen Lehrerverein angehö-
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Lehrervereins gestand zu: „Es bestehen in weiten Kreisen der Lehrerschaft Zweifel, ob der Zustand so bestehen bleiben kann. Es besteht viel Unzufriedenheit.“ (Lehrer Wehner, Vorstand des Sächsischen Lehrervereins: Bericht über die 51. Vertreterversammlung, S. 224). Vgl. ebd., S. 218 f.; Abstimmungsergebnis S. 259. Ebd., S. 249. Fast durchgängig für körperliche Strafen argumentierten etwa die (im Einzelnen bereits oben zitierten) Artikel in der Zeitschrift Der Volksschullehrer, dem Organ des Deutschen Volksschullehrervereins (vor 1917: Dt. Klassenlehrerverein). Dieser Verband, der dezidiert die Interessen der Volksschullehrer gegen die Rektoren und andere Lehrergruppen vertrat, hatte einen Schwerpunkt im Rheinland und in Westfalen, blieb insgesamt, vor allem nach 1919, jedoch wesentlich weniger bedeutend, als sein Name vermuten lassen könnte (vgl. Bölling: Politik, S. 41). Auch in der Pädagogischen Post, die zu dieser Zeit als führendes Organ des katholischen Lehrerverbands gelten kann (vgl. Bölling: Politik, S. 36 f.), erschienen in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre mehrere die Notwendigkeit körperlicher Strafen betonende Aufsätze (neben den bereits zitierten: Die körperliche Züchtigung, 6 (1927), S. 475, und Zum Züchtigungserlaß, 6 (1928), S. 595–596). Ein Ortsverband des Katholischen Lehrerverbands im Bezirk Koblenz beschloss 1926: „Die vernünftig [Hervorhebung im Original durch Sperren] gehandhabte körperliche Züchtigung ist ihrem Wesen nach ganz zweifellos ein wirksames Erziehungsmittel.“ (Zur Frage der körperlichen Züchtigung, in: Pädagogische Post 5 (1926), S. 1093–1094, Zitat S. 1094). Auch in
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rigen Verbände dominierte eine Perspektive, die die (reform-)pädagogische Ablehnung körperlicher Strafen und das Wünschenswerte eines Verzichts betonte, auch wenn sie ein Verbot im Gegensatz zum besonders reformfreudigen Sächsischen Lehrerverein für nicht praktikabel hielt. Dies zeigt auch die Vertretersammlung des Preußischen Lehrervereins 1927: Sie rief in einem Beschluss alle Vereinsmitglieder zum Verzicht auf Körperstrafen auf. Diese seien „mit den neuen Erziehungsformen und Erziehungswegen [. . . ] unvereinbar“ – und „angesichts der Entschlossenheit der Vertreterversammlung des Preußischen Lehrervereins, die neue Erziehungsgesinnung der neuen Schule aus eigenem Wollen und Wirken schaffen zu helfen, muß es sich jedes Mitglied zur Pflicht machen, ohne körperliche Züchtigung auszukommen und Schule und Kinder von allen Machtmitteln äußerer Autorität zu befreien“. Allerdings betonte der Lehrerverein auch, er halte es „nicht für zweckmäßig, diese Frage gesetzlich zu regeln, bevor Staat, Elternschaft und Oeffentlichkeit die hierfür erforderlichen Voraussetzungen geschaffen haben“.207 Während in Bezug auf die pädagogische Bewertung die Ablehnung körperlicher Strafen in den 1920er Jahren auch in den Lehrerdebatten dominant geworden war, blieb die Frage der praktischen Umsetzung dieser Position also umstritten. Sie führt uns auf die öffentlich-politische Ebene der Debatte und zum Agieren der Schulbehörden. Um die Diskussionen und Entscheidungsprozesse der 1910er und 1920er Jahre besser verstehen zu können, ist es jedoch zunächst nötig, eine Akteursgruppe vorzustellen, die in der öffentlichen Debatte über das Züchtigungsrecht eine besonders wichtige Rolle spielte.
3.4 Arbeiterbewegung und Körperstrafen In der öffentlich-politischen Debatte über körperliche Strafen nimmt die Arbeiterbewegung eine besondere Rolle ein: Sie kann als die einzige politische Strömung gelten, die sich seit dem Kaiserreich nicht nur immer wieder konsequent gegen körperliche Schulstrafen aussprach, sondern deren Abschaffung sogar ausdrücklich zum Teil ihres bildungspolitischen Programms machte.208 Ein frühes Beispiel für die Ablehnung körperlicher Strafen aus der Perspektive der Arbeiterbewegung wurde in dieser Arbeit bereits vorgestellt: Eduard Sacks
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der evangelischen „Deutschen Lehrerzeitung“ wurden Körperstrafen verteidigt (Johanna Pachali: Vom Strafen in der Schule, in: Deutsche Lehrerzeitung 42 (1929), S. 443–444). Gesamtvorstand des Preußischen Lehrervereins: Verzichtet auf körperliche Züchtigungen!, in: Preußische Lehrer-Zeitung vom 28.6.1927, S. 1. Vgl. beispielsweise: Parteitag der Sozialdemokratie Preußens: Leitsätze der Verwaltungsreform in Preußen, in: Vorwärts Nr. 3 vom 5.1.1910, 2. Beilage.
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Gegen die Prügelpädagogen ist zwar nicht als parteioffizielle bildungspolitische Stellungnahme zu verstehen, aber die Streitschrift erschien im Verlag des sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Wilhelm Bracke (Braunschweig) und wurde beispielsweise im Vorwärts äußerst zustimmend besprochen.209 Auch als ab den 1890er Jahren die SPD verstärkt ein vollständiges, eigenes Bildungsverständnis und -programm formulierte,210 war die Abschaffung körperlicher Strafen ein durchgängig vertretenes Ziel. So veröffentlichte beispielsweise Otto Rühle 1903 die Broschüre „Die Volksschule, wie sie sein soll“ mit dem Anspruch, „die sozialdemokratischen Volksschulforderungen ihrem Inhalte, ihrer Berechtigung und ihrer voraussichtlichen Wirkung nach darzulegen“.211 Eine der Forderungen, denen darin eigene Kapitel gewidmet waren, lautete: „Fort mit der Prügelstrafe“. Diese sei aus sozialdemokratischer Sicht „eine der Vernunft und Humanität Hohn sprechende Strafart“, deren „vollständige, unbedingte Beseitigung“ gefordert werden müsse. Diese Forderung begründete Rühle zunächst mit einer grundsätzlichen Ablehnung von Strafen: Das Kind könne für unerwünschtes Verhalten wie etwa Faulheit, Unordentlichkeit, Unaufmerksamkeit oder Ungehorsam nicht verantwortlich gemacht werden, da diese „die notwendigen Folgen seiner körperlichen und geistigen Beschaffenheit und unabhängig vom Willen“ seien.212 Körperliche Strafen seien darüber hinaus „direkt als ein Verbrechen zu bezeichnen“, da sie statt Einsicht nur Angst auslösten und verrohend wirkten. Hierzu zitierte Rühle ausführlich aus Ellen Keys Jahrhundert des Kindes, das gerade ein Jahr zuvor erstmals auf Deutsch erschienen war. Keys Schriften stießen insgesamt auf große, meist positive Resonanz in den Bildungsdebatten der Arbeiterbewegung – allerdings wurden viele ihrer pädagogischer Aussagen dabei eher als Bestätigung von (zumindest in der Theorie) bereits seit Längerem geteilten Positionen empfunden.213 Dies gilt auch für die Ablehnung körperlicher Strafen, die durch die Rezeption reformpädagogischer Ansätze eine Bestätigung und Verstärkung erfuhr. Auch als 1911 Heinrich Schulz, der als einer der entscheidenden Weichensteller sozialistischer Bildungspolitik im Kaiserreich gelten kann, „Die Schulreform der Sozialdemokratie“ zusammenfasste,214 spielte die Abschaffung körperlicher Strafen eine nicht unwichtige Rolle. Während Rühle die Ablehnung körperlicher 209 210 211 212 213
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Gegen die Prügel-Pädagogen, in: Vorwärts Nr. 4 vom 11.1.1878, S. 3. Vgl. Uhlig: Arbeiterbewegung, S. 86–88; dies.: Reformpädagogik, S. 38; Becker/Kluchert: Bildung, S. 94–107. Rühle: Volksschule, S. 4. Ebd., S. 41. Vgl. Uhlig: Reformpädagogik, S. 159. In Bezug auf körperliche Strafen konnte Julian Borchardt bereits 1905 für sein sozialdemokratisches Zielpublikum selbstverständlich formulieren: „Daß in der Schule geprügelt wird, empfinden wir alle als ein schweres Unrecht.“ (Wie, S. 5). Laut Christa Uhlig (Arbeiterbewegung, S. 93) kann diese Schrift „als eine Zusammenfas-
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Strafen mit eher allgemeinen reformpädagogischen Grundsätzen begründet hatte, findet sich bei Schulz eine stärker spezifisch sozialistische Argumentation: Er wertete Schläge, auch und gerade in der Schule, als ein Mittel der herrschenden Klasse, „sich Respekt zu verschaffen und die Unterdrückten zum Gehorsam und zur Demut zu erziehen. Eine Gesellschaftsordnung, die Herren und Knechte kennt, kann sich auch nicht von knechtischen Mitteln trennen.“215 Auch dieser Gedanke war 1911 nicht neu, sondern war ganz ähnlich schon 1878 von Eduard Sack geäußert worden. Das von Schulz stattdessen aufgestellte Erziehungsideal erinnert stark an das von Friedrich Wilhelm Foerster: Genau wie dieser setzte auch Schulz dem gewaltsam erzwungenen Gehorsam das Ziel freiwilliger Unterordnung „unter freigewählte Führer und selbstgegebene Gesetze“ gegenüber, die die Würde des Einzelnen wahre, statt „sklavischen Gehorsam“ zu verlangen.216 Und auch für Schulz war dieses Erziehungsziel nicht mit Gewaltanwendung vereinbar: „Der rohe körperliche Zwang ist unwürdig dessen, der ihn anwendet, und dessen, auf den er angewendet wird, er verroht und verhärtet beide und erreicht den Zweck nicht, dem er dienen soll.“217 Diese grundsätzlichen Einwände standen für Schulz über den praktischen Schwierigkeiten eines Züchtigungsverzichts, die er durchaus anerkannte: Zu große Klassen, schlechte Unterrichtsbedingungen und Überlastung der Lehrer könnten Körperstrafen zwar nicht rechtfertigen, aber „den einzelnen prügelnden Lehrer entschuldigen, dafür allerdings um so schärfer das heutige Schulsystem anklagen.“218 Zu solchen möglichen Entschuldigungen für körperlich strafende Lehrer zählte Schulz auch den Einwand, dass viele Kinder schließlich auch im Elternhaus geschlagen würden und aufgrund dieser Gewöhnung auf Erziehungsmittel ohne körperliche Gewalt nicht mehr reagierten. Er appellierte daher an die Eltern: „Wer verlangt, daß in der Schule die Prügelstrafe abgeschafft wird, darf nicht selbst ein Prügelpädagoge sein.“ Solche Versuche, auch Eltern zum Verzicht auf körperliche Strafen zu bewegen, gab es in der sozialdemokratischen Pädagogik schon früh, beispielsweise mit dem 1905 von dem Journalisten Julian Borchardt verfassten Ratgeber „Wie sollen wir unsere Kinder ohne Prügel erziehen?“.219
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sung des sozialdemokratischen Bildungs- und Schulverständnisses gelten“. Vgl. zu Schulz’ Bedeutung auch Uhlig: Reformpädagogik, S. 61 f. Schulz: Schulreform, S. 173. Ebd., S. 174. Ebd., S. 175. Ebd., S. 177. Dort auch das folgende Zitat. So etwa auch Kanitz: Kind, S. 80–84. Auch Rühle und Schulz argumentierten jeweils in Elternratgebern gegen Körperstrafen (vgl. Höffer-Mehlmer: Elternratgeber, S. 149– 168). Zur sozialistischen Kritik an autoritärem Erziehungsstil und körperlichen Strafen in der Familie vgl. auch Castell-Rüdenhausen: Familie, S. 81. Dass diese Kritik nicht ohne Wirkung blieb, zeigt die Tatsache, dass nach Erich Fromms Untersuchungen Ende der 1920er Jahre im sozialistischen Milieu Körperstrafen in der familiären Erziehung
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Auch Helmut von Brackens Monographie „Die Prügelstrafe in der Erziehung“ appellierte 1926 gleichermaßen an Lehrer wie an Eltern, auf Körperstrafen zu verzichten. Sie wurde bereits als Beispiel für den in den 1920er Jahren aufkommenden psychologischen, die Kinderperspektive einbeziehenden Blick aufs Thema genannt. Gleichzeitig enthält sie aber auch die ausgereifteste Formulierung der bereits bei Sack und Schulz angeklungenen sozialistischen Erklärung von Erziehungsgewalt: So formuliert Bracken neben zahlreichen pädagogischen, psychologischen und medizinischen Argumenten gegen Körperstrafen eine zentrale soziologische These, die er aus einem Vergleich verschiedener Naturvölker ableitet: „Wo klassenlose Gesellschaft, da keine Prügel.“220 Die aus seiner Sicht typischen Folgen körperlicher Strafen, nämlich „Einschüchterung, Gedrücktheit, Machtstreben und Gehässigkeit“ seien „in einer Klassengesellschaft sehr erwünscht“, da sie zur Akzeptanz der herrschenden Verhältnisse führten und eine Solidarisierung der Beherrschten verhinderten.221 „Unsere Kinder müssen heutzutage geschlagen werden, damit Sklavengesinnung in ihnen erzeugt wird. Die Erzeugung dieser Geisteshaltung ist es, durch die sich die Prügelstrafe bewährt hat.“222 Dabei betonte Bracken, dass es sich hierbei um einen gesellschaftlichen Zusammenhang handle, der den einzelnen Erziehern nicht bewusst sei, aber durch die jeweils eigenen Erfahrungen der Kindheit tradiert werde: „Es ist die tiefe Tragik des heutigen Erziehers, daß er selbst die Frucht einer Erziehung ist, deren häufigstes Besserungsmittel die körperliche Züchtigung bildete [. . . ]. Mit dem Prügeln zusammen ist ihm auch das Herrschenwollen und der Autoritätsdünkel eingeprügelt.“223 „Züchtigungsschnüffler“ gegen die „Prügelpädagogik“
Die Ablehnung körperlicher Erziehungsstrafen wurde von sozialdemokratischen Pädagogen nicht nur in theoretischen und programmatischen Stellungnahmen geäußert, sondern auch auf verschiedenen Wegen popularisiert. So hielt etwa Heinrich Schulz in den 1890er Jahren Vorträge, in denen er sich gegen die „Prügelpädagogik“ in Schule wie Elternhaus wandte.224 Das wichtigste Medium, um
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mehrheitlich – und damit signifikant häufiger als bei anderen Eltern – abgelehnt wurden (vgl. ebd., S. 82; Fromm: Arbeiter, S. 191). Von Bracken: Prügelstrafe, S. 27. Ebd., S. 167. Ebd., S. 169. Ebd., S. 187. So z. B. 1894 bei der Generalversammlung der Berliner Arbeiter-Bildungsschule (vgl. Versammlungen, in: Vorwärts Nr. 263 vom 10.11.1894, S. 10) oder 1897 vor dem Sozialdemokratischen Wahlverein eines Berliner Reichstagswahlbezirks (vgl. Anzeige, in: Vorwärts Nr. 39 vom 16.2.1897, S. 7).
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die Argumentation gegen Körperstrafen zu verbreiten, war jedoch die Arbeiterpresse. Als ein repräsentatives Beispiel für die Behandlung des Themas in sozialdemokratischen Zeitungen soll hier ein Artikel aus der Pfälzischen Post 1905 dienen. Dieser berichtete von einer Frau, die in der Redaktion ihren achtjährigen Sohn vorstellte, der von seinem Lehrer wegen nicht richtig gelöster Rechenaufgaben so heftig geschlagen worden sei, dass sein Hintern, Rücken und Arme „voll grüner, blauer und schwarzer Flecken“ waren. Der Artikel unterstrich den „geradezu barbarischen“ Charakter der Misshandlung, indem er sie mit einem Idealbild des Volksschullehrers kontrastierte, der „dazu berufen ist, die Kinderseele zu formen, sie empfänglich zu machen für das Gute, das Schöne, das Edle, ihr Mitgefühl für die Leiden anderer zu wecken und sie zu warmherzigen Menschen heranzubilden“.225 Dabei wurde der schlagende Lehrer samt der betroffenen Schule mehrfach namentlich genannt. Dieses öffentliche Anprangern kann als eine alternative Form des Protests gegen als unangemessen empfundene Strafen gesehen werden, die auch solchen Eltern offenstand, die den Weg einer offiziellen Beschwerde oder gar Anklage scheuten, beispielsweise aus Sorge, dass sie nicht ernst genommen würden oder ihr Kind danach erst recht schlecht behandelt würde.226 Für solche Versuche, jenseits des gerichtlichen oder dienstlichen Beschwerdewegs gegen schlagende Lehrer vorzugehen, finden sich ab der Jahrhundertwende immer wieder einzelne Hinweise. So berichtete ein SPD-Abgeordneter im sächsischen Landtag von einer „Protestversammlung [. . . ] gegen den Mißbrauch des Züchtigungsrechts“ in der örtlichen Schule, die Einwohner eines Dorfs bei Dresden veranstaltet hatten.227 Eine Zuschrift an die Pädagogische Zeitung beschrieb ähnliche Elternproteste aus Lehrersicht: Der Verfasser berichtete, dass ihm 1910 als Lehrer in Adlershof (einem heutigen Stadtteil von Berlin) ein „Bildungsausschuß der sozialdemokratischen Partei“ Beleidigungen und Misshandlungen von Schulkindern vorwarf. Nachdem er die Aufforderung des Bildungsausschusses zu einem Gespräch im Beisein des Schulrektors mehrfach ignoriert hatte, erstattete der Ausschuss Beschwerde beim Kreisschulinspektor – dieser lehnte, so der Lehrer, „in der Sache selbst [. . . ] eine Verhandlung mit dem Bildungsausschuß ab“. Der Betroffene berichtete von einem Artikel im Vorwärts, Flugblättern und einer Versammlung, die mit Bezug auf seinen Fall angekündigt worden war, auch wenn der Referent schließlich lediglich allgemeine Themen wie die Lehrerbildung aufgriff. Der Lehrer habe im Nachhinein erfahren, dass der Ausschuss Listen über jeden einzelnen Lehrer füh-
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Alle Zitate: Prügel statt Belehrung, in: Pfälzische Post Nr. 224 vom 27.9.1905, 1. Blatt. Dass solche Befürchtungen nicht ganz unberechtigt waren und Schulbehörden teilweise dazu neigten, insbesondere Beschwerden von sozialdemokratischen Eltern wenig ernst zu nehmen, zeigte sich bereits bei der Betrachtung einzelner Fallbeispiele (siehe oben, S. 109). Vgl. Abg. Nitzsche, Sächsischer Landtag, II. Kammer, 27. Sitzung am 25.1.1910, Mittheilungen 1909/10, Bd. 1, S. 929.
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re und Schüler auffordere, ihm alle Beleidigungen und Körperstrafen zu melden. Er ging davon aus, dass ähnliche Organisationen auch in Berlin und anderen Orten existierten. Glaubt man der Pädagogischen Zeitung, wurde tatsächlich auch in Berlin in ähnlicher Weise „von einer Zentralstelle aus systematisch gearbeitet“.228 Sie berichtete nicht nur von Protestbriefen an Lehrer und Schulen, sondern auch von Mitteilungen an Eltern, dass ihre Kinder vom Lehrer verprügelt würden, und von Aufforderungen zu Beschwerden an die Schuldeputation. Kinder seien nach der Schule angesprochen, nach erlittenen Züchtigungen gefragt und ermuntert worden, sich nicht schlagen zu lassen. Unterzeichnet seien die Briefe, die ähnlich zuvor bereits in Hamburg aufgetreten seien, von einer „Geheimen Privat-Vereinigung Kinderfreunde“.229 Eine Bewertung dieser Vorfälle ist problematisch, sind sie doch nur vonseiten der Lehrer überliefert, die sich als zu Unrecht angegriffen sahen. Es dürfte sich bei solchen Formen des Protests gegen einzelne Lehrer um eher seltene Einzelfälle von stark lokalem Charakter und entsprechend begrenzter Wirkung handeln. Allerdings illustrieren sie, dass gerade in größeren Städten nicht nur ein Teil der Elternschaft die körperliche Bestrafung ihrer Kinder in der Schule ablehnte, sondern diese Ablehnung auch mit zunehmendem Selbstbewusstsein geäußert werden konnte. Gleichzeitig zeigen sie deutlich, wie körperliche Strafen Konflikte zwischen Schule und Eltern hervorrufen oder verschärfen konnten. Dabei war ein öffentliches Anprangern von „Prügelpädagogen“ auch für die Ankläger nicht ohne Gefahr, denn vor allem Zeitungen konnten von den beschuldigten Lehrern (oft erfolgreich) wegen Beleidigung verklagt werden.230 Vom Einzelfall zum Grundsätzlichen
Es würde dem anfangs zitierten Artikel in der Pfälzischen Post allerdings nicht gerecht, ihn nur als Anklage gegen einen einzelnen Lehrer zu sehen. Vielmehr diente dort der Einzelfall gleichermaßen als Aufhänger für eine grundsätzliche Kritik an körperlichen Strafen: Schläge seien „unpädagogisch, sie führen den 228 229
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Züchtigungsschnüffler, in: Pädagogische Zeitung 40 (1911), S. 385–386; Die Züchtigungsspitzel von Berlin, ebd., S. 310–311. Ob außer der auffälligen, aber auch durch Zufall erklärbaren Namensähnlichkeit ein Bezug zur späteren sozialistischen Jugendorganisation der Kinderfreunde bestand, ist nicht eindeutig zu klären. Über (als deren Vorläufer anzusehende) sozialdemokratische „Kinderschutzkommissionen“ des Kaiserreichs ist bekannt, dass sie versuchten, durch private Kontrollen und sozialen Druck auf Arbeitgeber und Eltern gegen Kinderarbeit und auch gegen familiäre Misshandlungen vorzugehen (vgl. Spillner: Kindern). Ähnliche Initiativen gegen schulische Körperstrafen wären somit denkbar, sind aber nicht zu belegen. Vgl. etwa: Polizeiliches, Gerichtliches usw., in: Vorwärts Nr. 129 v. 27.5.1913; Wie in den Volksschulen geprügelt wird, in: Vorwärts Nr. 38 v. 14.2.1907.
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Menschen zur Feigheit, Unterwürfigkeit, Willens- und Charakterlosigkeit, [. . . ] und ertöten Scham, Ehrgefühl, Wahrhaftigkeit und Selbstvertrauen; jeder Schlag vernichtet etwas Edles, Reines, Gutes im Menschengemüte“.231 Schläge seien auch in der elterlichen Erziehung nur eine Form, die eigene Wut an den Kindern auszulassen, „ein schändlicher Mißbrauch der Rechte des Stärkeren“. Dass wie hier in der Pfälzischen Post lokale Einzelfälle genutzt wurden, um gegen körperliche Strafen zu argumentieren, war wiederum selbst kein Einzelfall: Entsprechende Artikel wurden beispielsweise auch im Vorwärts immer wieder veröffentlicht.232 Auch bei anderen Anlässen, etwa aufsehenerregenden Prozessen oder (lokal-)politischen Initiativen zur Einschränkung des Züchtigungsrechts, vertrat der Vorwärts ausnahmslos (und schon in den 1870er Jahren233 ) eine vollständige Ablehnung körperlicher Strafen. Diese wurde oft eher beiläufig ausgesprochen und quasi als selbstverständlich vorausgesetzt,234 manchmal aber auch ausführlicher und mit Rückgriff auf pädagogische Traditionen begründet.235 Auch in Bezug auf die familiäre Erziehung versuchte der Vorwärts, seine Leser von der Untauglichkeit körperlicher Strafen zu überzeugen.236 Die Position, dass ein sofort aufs Vergehen folgender ‚Klaps‘ in der elterlichen Erziehung richtig und unproblematisch sei, wurde dagegen bezeichnenderweise nur in einer Leserzuschrift vertreten.237
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Prügel statt Belehrung, in: Pfälzische Post Nr. 224 vom 27.9.1905, 1. Blatt. Vgl. etwa neben vielen anderen: Lokales, in: Vorwärts Nr. 28 vom 2.2.1896, S. 6; Aus den Nachbarorten, in: Vorwärts Nr. 281 vom 1.12.1896; Prügelpädagogik, in: Vorwärts Nr. 249 vom 24.10.1897, 1. Beiblatt; Aus den Nachbarorten, in: Vorwärts Nr. 32 vom 8.2.1898, S. 7; Prügelpädagogik, in: Vorwärts Nr. 127 vom 3.6.1898, Beilage; Die leidige Prügelpädagogik, in: Vorwärts Nr. 148 vom 26.6.1904, S. 6; Früchte der Prügelpädagogik, in: Vorwärts Nr. 137 v. 14.6.1908, S. 14; Du sollst nicht prügeln!, in: Vorwärts Nr. 40 vom 17.2.1910, 3. Beilage. In der USPD-nahen Freiheit: Der Rektor als Prügelpädagoge, in: Freiheit Nr. 242 vom 24.6.1920, S. 6. Vgl. etwa den Bericht über die 1878 auf dem Deutschen Lehrertag diskutierten Anträge zu einer Strafrechtsreform im Sinne der Lehrerschaft, der mit dem Satz begann „Die Prügelpädagogen haben es trotz der glänzenden Abfertigung, die ihnen durch Sack zu Theil wurde, abermals gewagt, mit ihren Knutenthesen hervorzutreten.“ (Sozialpolitische Übersicht, in: Vorwärts Nr. 48 vom 26.4.1878, S. 1). Vgl. etwa: Die Osterferien sind vorüber, in: Vorwärts Nr. 94 vom 23.4.1895, 1. Beilage; Vermischtes. Eine Strafreform in der Schule, in: Vorwärts Nr. 28 vom 2.2.1896, S. 7; Fort mit der Prügelpädagogik!, in: Vorwärts Nr. 107 vom 9.5.1907, 3. Beilage; Vom Prügelrecht der Pädagogen, in: Vorwärts Nr. 166 vom 18.7.1896, S. 7; Folgen einer Schülermißhandlung, in: Vorwärts Nr. 271 vom 18.11.1908, S. 7. Vgl. beispielsweise: Prügel für die Kinder des Volks?, in: Vorwärts Nr. 81 vom 7.4.1899, 2. Beilage. L. Faubel, Soll man Kinder schlagen?, in: Frauenstimme. Beilage zum Vorwärts, Nr. 9 v. 30.4.1925, S. 3. Der prügelnde Lehrer, in: Vorwärts Nr. 433 vom 13.9.1924, Abendausgabe Nr. B 217.
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Parlamente
Auch in den Landesparlamenten nutzte die SPD regelmäßig Debatten zum Volksschuletat, um ein Verbot oder zumindest eine starke Einschränkung körperlicher Strafen zu fordern.238 Dabei folgten die Äußerungen sozialdemokratischer Abgeordneter einem ganz ähnlichen Muster wie die Behandlung des Themas in der Presse: Zum einen prangerten sie einzelne Misshandlungsfälle an, zum anderen betonten sie, dass ein disziplinarisches Vorgehen gegen die jeweils verantwortlichen Lehrer eben nicht ausreichend sei: „So lange das Züchtigungsrecht dem Lehrerstande gegeben ist, werden einzelne excentrische Charaktere sich immer zu Überschreitungen hinreißen lassen“, weshalb nur eine vollständige Abschaffung dieses Rechts das Problem lösen könne.239 Hiermit war die Brücke zur grundsätzlichen Kritik an körperlichen Strafen geschlagen. Dabei schlossen sich die sozialdemokratischen Abgeordneten einerseits „den humanen, [. . . ] den ärztlichen, [. . . ] den pädagogischen“ Argumenten anderer Züchtigungsgegner an, wollten aber andererseits diesen Standpunkten „noch den sozialen hinzufügen“.240 Diese sozialen Argumente bestanden im Verweis auf die besonders schwierige Lage von Arbeiterkindern, die, durch schlechte Ernährung und Kinderarbeit geschwächt, oft nur sehr eingeschränkt Lernleistungen erbringen könnten und deshalb „größte Nachsicht“ und besonders vorsichtige Behandlung in der Schule verdienten.241 Genau das Gegenteil war aber der Fall, wenn, wie in Sachsen, an den von Arbeiterkindern hauptsächlich besuchten Volksschulen körperliche Strafen erlaubt, an Gymnasien dagegen verboten waren. Der SPDAbgeordnete Hermann Goldstein spitzte es im sächsischen Landtag 1894 so zu: „Der arme Junge kriegt Prügel, der wohlhabende Junge aber ist aus besserem Stoffe – à la bonheur, vor dem muß der Bakel Halt machen.“242 Dagegen müsse man, so Goldstein, wenn man körperliche Strafen tatsächlich als notwendig ansehe, auch „gleiches Recht für alle gelten“ lassen und sie auch an Gymnasien einführen. Diese Aussagen wiederum konnten die Abgeordneten anderer Frak-
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Vgl. Abg. Kaden, Sächsischer Landtag, II. Kammer, 47. Sitzung am 17.2.1892, in: Mittheilungen 1891/92, Bd. 1, S. 568–570; Abg. Seifert, Sächsischer Landtag, II. Kammer, 46. Sitzung am 18.2.1898, Mittheilungen, 1897/98, Bd. 2, S. 751 f.; Abg. Segitz, Bayerischer Landtag, 546. Sitzung vom 9.7.1904, Verhandlungen 1903/04, Bd. 15, S. 355. Abg. Geyer, Sächsischer Landtag, II. Kammer, 47. Sitzung am 17.2.1892, Mittheilungen 1891/92, Bd. 1, S. 570 f.; Vgl. auch ders., in: Sächsischer Landtag, II. Kammer, 37. Sitzung am 5.2.1894, Mittheilungen 1893/94, Bd. 1, S. 479 f. Abg. Goldstein, Sächsischer Landtag, II. Kammer, 37. Sitzung am 5.2.1894, Mittheilungen, 1893/1894, Bd. 1, S. 471. Ebd., S. 472. Ebd., S. 471.
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3.4 Arbeiterbewegung und Körperstrafen
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tionen, die sich in jener Debatte alle für die Beibehaltung des Züchtigungsrechts aussprachen, als Beleg anführen, „daß die Herren sich von dem Klassenhaß nicht trennen können“.243 Noch schärfer hatten konservative Abgeordnete zwei Jahre zuvor die von der SPD im Rahmen der Volksschuletatsdebatte angestoßene Diskussion über das Züchtigungsrecht und Fälle von dessen Überschreitung „als eine agitatorische Demonstration“ zurückgewiesen, die dazu diene, „an der Autorität, die ihre Wurzel in der Schule haben soll, anzusetzen, zu wuchten, damit nun endlich einmal die großen Dinge vor sich gehen können.“244 Die SPD versuche, nachdem sie „die Unbotmäßigkeit und den Ungehorsam gegenüber dem gegenwärtigen Staate in einer ganz schlimmen Weise geschürt“ habe, nun „diese Unbotmäßigkeit und den Ungehorsam gewissermaßen in die Schule hineinzutragen“ und „gegen die Autorität des Staates, gegen die Autorität der Lehrerschaft zu hetzen“.245 Hier wurde das Anprangern einzelner Züchtigungsrechtsüberschreitungen, verbunden mit grundsätzlicher Kritik am Züchtigungsrecht, als Bedrohung nicht nur für die Autorität der betroffenen Lehrer, sondern der Schule überhaupt und sogar des Staates bewertet. Es war also nicht zuletzt das auch nach Aufhebung der Sozialistengesetze verbreitete Misstrauen gegenüber der als staatsgefährdend empfundenen SPD, das eine so empfindliche Verteidigung der Schulautorität begünstigte. Solche Reaktionen auf Kritik am Züchtigungsrecht finden sich in späteren Jahren nicht mehr. Das grundlegende Muster aber, dass SPD-Abgeordnete mit den oben beschriebenen Argumenten für ein Verbot körperlicher Strafen plädierten und dabei fast durchgängig auf Ablehnung bei den anderen Fraktionen stießen, wiederholte sich folgenden beiden Jahrzehnten mit nur geringen Variationen in verschiedenen Landesparlamenten. Eine gewisse Verschiebung der Fronten gab es erst nach dem Ersten Weltkrieg, als beispielsweise in Sachsen und Preußen die SPD nicht mehr Oppositionspartei, sondern selbst an der Regierung beteiligt war, teilweise sogar den Kultusminister stellte – und zudem innerhalb der Arbeiterbewegung Konkurrenz durch USPD und KPD bekam. Doch bevor diese Entwicklung vorgestellt wird, lohnt ein in der Argumentation der SPD immer wieder anklingender Aspekt einen genaueren Blick: Welche Unterschiede bestanden zwischen Gymnasien und Volksschulen in Bezug auf das Züchtigungsrecht tatsächlich?
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Abg. Minckwitz (Fortschritt), ebd., S. 475. Abg. Klemm, Sächsischer Landtag, II. Kammer, 47. Sitzung am 17.2.1892, Mittheilungen 1891/92, Bd. 1, S. 574. Ebd., S. 579 (Abg. Mehnert).
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3.5 Exkurs: Gymnasien und Volksschulen Die (nicht nur, aber vor allem) von sozialdemokratischen Abgeordneten immer wieder beklagte Ungleichbehandlung von Volksschülern und Gymnasiasten246 hatte verschiedene Ebenen: Am offensichtlichsten waren die Unterschiede in den für die jeweiligen Schulformen geltenden Bestimmungen zum Züchtigungsrecht – so waren in Bayern seit 1903 und in Sachsen schon seit 1877 Körperstrafen an höheren Schulen verboten.247 In Preußen galt für höhere Mädchenschulen ab 1912 ein vollständiges Verbot,248 für Jungen dagegen blieben Körperstrafen erlaubt, wenn auch in engen Grenzen: So besagte eine 1910 erlassene landeseinheitliche Regelung: „Die körperliche Züchtigung ist nur in außerordentlichen Fällen zulässig und im wesentlichen auf die unteren Klassen zu beschränken. Schläge an den Kopf sind zu vermeiden.“249 Zuvor hatte es ähnliche Einschränkungen nur durch einzelne Provinzialschulkollegien oder auf lokaler Ebene gegeben.250 Nicht nur dienstrechtlich waren körperliche Strafen an höheren Schulen also keineswegs überall verboten, auch bei der strafrechtlichen Bewertung konnten Juristen noch 1918 davon ausgehen, dass auch an Gymnasien diese Strafart 246
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Im Folgenden ist der Einfachheit halber meist nur von Volksschulen einerseits und höheren Schulen andererseits die Rede. Letzterer Begriff wird dabei hier synonym mit „Gymnasium“ für alle zur Hochschulzugangsberechtigung führenden Schulen verwendet, auch wenn hierzu zumindest im 20. Jahrhundert nicht mehr nur das klassische humanistische Gymnasium, sondern auch Realgymnasien und (zunächst nur in Preußen) auch lateinlose Oberrealschulen zählten (vgl. Geißler: Schulgeschichte, S. 263 f.). Für die zusammenfassend als „Mittelschulen“ bezeichneten über die Volksschule hinausgehenden, aber nicht zum Abitur führenden Schultypen (vgl. ebd., S. 242–244) konnten je nach Land, Schultyp und Region unterschiedliche Regelungen zum Züchtigungsrecht bestehen. In Bayern etwa waren an den dort oft privaten „Mittelschulen“ körperliche Strafen normalerweise verboten, sie spielten in der Debatte eine ähnliche Rolle wie Gymnasien als Kontrastfolie zum erlaubten Schlagen an der Volksschule (vgl. beispielsweise: Zur Frage der körperlichen Züchtigung in der Volksschule, in: Bayerische Lehrerzeitung 38 (1904), S. 157–159). Vgl. für Bayern: Deutscher Bundestag: Drucksache 7/3318 (4.3.1975); für Sachsen: Züchtigungsrecht, in: Blätter für Schulrecht – Beilage zur ADLZ 32 (1931), S. 98. Vgl. Dienstanweisung für die Direktoren (Direktorinnen) und Lehrer (Lehrerinnen) an den höheren Lehranstalten für die weibliche Jugend, in: Zentralblatt 54 (1912), S. 360–382, hier S. 372. Dienstanweisung für die Direktoren und Lehrer an den höheren Lehranstalten für die männliche Jugend, in: Zentralblatt 52 (1910), S. 887–909, Zitat S. 899. Zudem musste vor oder unmittelbar nach einer körperlichen Strafe eine Mitteilung an den Direktor erfolgen. So bestimmte das Berliner Provinzialschulkollegium 1896, dass das Züchtigungsrecht vom Direktor ausdrücklich nur an geeignete Lehrer übertragen werden dürfe (vgl. Zum Züchtigungsrecht an höheren Schulen, in: Blätter für höheres Schulwesen 13 (1896), S. 4– 5). In einer anderen Provinz durften Lehrer gemäß einer Disziplinarordnung von 1879 nur in den drei unteren Klassen „ausnahmsweise“ schlagen (vgl. K.: Ein paar Ohrfeigen und ihre Folgen, in: Korrespondenzblatt für den akademisch gebildeten Lehrerstand 10 (1902), S. 194–196, hier S. 196).
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dann „gerecht und gewohnheitsrechtlich begründet“ sei, wenn der Lehrer sie für (pädagogisch) notwendig halte.251 Auch in der schulischen Praxis, die ja nicht zwangsläufig mit der Gesetzlage übereinstimmen muss, kamen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Körperstrafen an Gymnasien durchaus vor. 1907 galt es als „wohl offnes Geheimnis, daß hier und da auch eine körperliche Züchtigung in aller Form erfolgt“252 und noch in den 1920er Jahren berichteten Eltern von häufigen Schlägen nicht nur an Real- bzw. Mittelschulen, sondern auch an Gymnasien.253 Andererseits bezeichnete Friedrich Paulsen 1911 den Stock als an höheren Schulen „beinahe verschwunden, wenigstens im Norden Deutschlands“254 – eine Aussage, die er für Volksschulen ausdrücklich nicht machte. Körperliche Strafen waren also an Gymnasien sowohl rechtlich als auch praktisch nicht ausgeschlossen, aber doch wesentlich stärker eingeschränkt und seltener als an Volksschulen. Dies war allerdings bis in die 1910er Jahre keine allgemein akzeptierte Selbstverständlichkeit: Wenn es auch einerseits gerade Gymnasiallehrer waren, die zumindest für ihre eigene Schulform schon recht früh einen vollständigen Verzicht auf körperliche Strafen befürworteten,255 gab es andererseits auch Stimmen, die im Gegenteil eine Rücknahme der für höhere Schulen bestehenden Einschränkungen forderten.256 Spätestens nach dem Ersten Weltkrieg wurden körperliche Strafen dagegen kaum noch als Problem höherer Schulen diskutiert. So konnte beispielsweise in 251 252
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Hennig: Schulzuchtrecht, S. 52. Plauderei am Schulherde. Vom Züchtigungsrecht, in: Deutsche Schulpraxis 27 (1907), S. 297–299, hier S. 298. Vgl. auch Foerster: Jugendlehre, S. 710; M. Glück, Der deutsche Lehrerstand und die Körperstrafe, in: Die deutsche Schule 15 (1911), S. 238–243, hier S. 241. Vgl. H. C. an MWKV, 20.12.1919, GStAPK I. HA Rep. 76 VI Sekt. 1 Gen. Z, Nr. 10, Bd. 8, Bl. 350, sowie Neue Berliner Zeitung an KM, 13.12.1920, ebd., Bl. 530; A. A. Friedländer: Prügel in der Schule, in: Frankfurter Zeitung vom 10.8.1925 (Ausschnitt in: GStAPK I. HA Rep. 76, IV Sekt. 1 Gen. Z, Nr. 10, Bd. 9). Auch der Pädagoge Karl Wilker berichtete aus seiner Gymnasialzeit um 1900, dass Schläge mit dem Rohrstock in den niedrigeren, Ohrfeigen in den höheren Klassen üblich gewesen seien (Fragmente über die körperliche Züchtigung, in: Das werdende Zeitalter 6 (1927), S. 249–256, hier S. 255 f.). Paulsen: Pädagogik, S. 91. Vgl. Olsen: Züchtigung, S. 174; Grünwald: Züchtigung, S. 448 f., M.: Die körperliche Züchtigung an höheren Lehranstalten, in: Blätter für höheres Schulwesen 22 (1905), S. 54– 55, hier S. 54. Vgl. K: Ein paar Ohrfeigen und ihre Folgen, in: Korrespondenzblatt für den akademisch gebildeten Lehrerstand 10 (1902), S. 194–196, hier S. 196; Kiefer: Prügelstrafe, S. 22; Plauderei am Schulherde. Vom Züchtigungsrecht, in: Deutsche Schulpraxis 27 (1907), S. 297–299, hier S. 298. 1899 meinte ein Schuldirektor sogar, dass Körperstrafen in Volksschulen nur ausnahmsweise, in höheren Schulen dagegen häufiger nötig seien, da nur in letzteren der „Geist der Frechheit, der rohen Widersetzlichkeit“ zu finden sei, da sie „von den verzogenen und verwahrlosten Sprösslingen der vornehmern und reichern Familien besucht werden“ – hier dürfte es sich allerdings eher um eine Einzelmeinung handeln (Goerth: Behandlung, S. 352).
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3. Reform – aber auch Veränderung? 1900–1933
Preußen die für diese Schulformen zuständige Abteilung des Kultusministeriums im Landtag gestellte Anträge auf Abschaffung bzw. sehr starke Einschränkung des Züchtigungsrechts als für sie nicht relevant abtun: „Hier [. . . ] ist nichts zu veranlassen, da die Dienstanweisungen die nötigen Vorschriften enthalten.“257 Kontroverse Diskussionen über das Züchtigungsrecht an Gymnasien, wie es sie noch vor dem Ersten Weltkrieg gegeben hatte, lassen sich in den 1920er Jahren kaum mehr finden. Dass körperliche Strafen für zukünftige Abiturienten höchstens in seltenen Ausnahmefällen infrage kamen, war in der Weimarer Republik zumindest in der Theorie breiter Konsens. Insgesamt lässt sich festhalten, dass Körperstrafen in jeglicher Hinsicht – dienst- und strafrechtliche Lage, schulische Praxis sowie öffentliche und pädagogische Bewertung – in höheren Schulen stets weniger akzeptiert waren, als dies gleichzeitig in Volksschulen der Fall war. Wie lässt sich dieser Unterschied erklären? Dass an den höheren Gymnasialklassen Schläge verboten waren (wie in Preußen zumindest seit 1910 der Fall), hängt zunächst einmal mit dem Alter der Schüler zusammen: Dass Jugendliche ab einem gewissen Alter nicht mehr geschlagen werden sollten, war ein auf breite Zustimmung stoßender pädagogischer Grundsatz, der meist damit begründet wurde, dass das Ehrgefühl mit zunehmenden Alter steige.258 Wenn auch die genaue Altersgrenze oft nicht definiert wurde bzw. als nicht festlegbar, da individuell verschieden, galt, lag es doch nahe, sie spätestens mit dem Ende der Schulpflichtigkeit zu ziehen, wie es im juristischen Diskurs üblich war.259 Dementsprechend waren Körperstrafen auch an Fortbildungsschulen in vielen Ländern nicht erlaubt.260 Dass das Alter jedoch schon für die höheren Klassenstufen nicht der einzige Faktor war, zeigt ein Urteil des Reichsgerichts von 1909, das erläuterte: „Es wäre auch mit den Aufgaben einer vernünftigen Erziehung nicht in Einklang zu bringen, gegen junge Leute von Bildung, welche sich in reiferem Alter befinden, eine Strafart anzuwenden, die geeignet ist, ihr Ehrgefühl zu ertöten sowie Haß und Erbitterung gegen ihre Lehrer zu wecken. Was für Kinder in den niederen Schulen paßt, ist auf solche Jünglinge nicht ohne weiteres anzuwenden.“261 Zwar bezogen
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Randnotiz auf: Antrag Nr. 1379 der SPD-Fraktion, 6.12.1919, GStAPK, I. HA Rep. 76 VI Sekt. 1 Gen. Z, Nr. 10, Bd. 8, Bl. 395. Vgl. Stengel: Würdigung, S. 122; Plauderei am Schulherde. Vom Züchtigungsrecht, in: Deutsche Schulpraxis 27 (1907), S. 297–299, hier S. 298; Kaufmann: Züchtigungsrecht, S. 134. Vgl. Janissek: Recht, S. 38; etwas vager dagegen Schwartz: Strafgesetzbuch, für den das Züchtigungsrecht in dem Alter endete, „in welchem die Erziehung vollständig hinter dem Unterricht zurücktritt“ (S. 497). Vgl. G.: Schulstrafen und Gesetz, in: Sächsische Schulzeitung 89 (1922), S. 317–318; Kölling: Disziplin, S. 1046. Zu den von unter 18-Jährigen nach der Volksschule zu besuchenden Fortbildungsschulen vgl. Geißler: Schulgeschichte, S. 244–247. Reichsgericht: Urteil vom 2.3.1909, RGSt, Bd. 42, S. 221 f.
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sich diese Sätze ausdrücklich auf Schüler der Untersekunda und zielten damit auch auf deren Alter ab262 – dass in der Formulierung soziale Zuschreibungen mehr als nur mitschwangen, ist jedoch offensichtlich. Noch deutlicher wurde ein 1905 in den Blättern für höheres Schulwesen erschienener Artikel: Dort hieß es, Körperstrafen dürften nur in den „allerseltensten Fällen an höheren Schulen stattfinden, da sich an diesen Schulen doch ganz andere Elemente als an den Elementarschulen befinden. An letzteren dürfte sich das Recht der körperlichen Züchtigung nicht entbehren lassen, da man es hier mit den Kindern der untersten Volksklassen zu tun hat.“263 Worin genau die Körperstrafen erforderlich oder entbehrlich machenden Unterschiede zwischen Gymnasiasten und Volksschülern bestanden, erläuterte er dabei nicht. Die Formulierung des Reichsgerichts deutet an, dass zumindest älteren Gymnasiasten ein stärker ausgeprägtes, empfindlicheres „Ehrgefühl“ zugeschrieben wurde, auf das Rücksicht zu nehmen sei. Außerdem galt es weitgehend als selbstverständlich, dass an höheren Schulen (so die Formulierung eines Fortschritts-Abgeordneten im sächsischen Landtag) „faktisch meist etwas besser erzogene Kinder“ seien, die „viel mehr der Autorität des Lehrers zugänglich“ seien.264 Dass umgekehrt ‚schlechte‘ Erziehung oder gar Verwahrlosung von aus schlechten materiellen Verhältnissen stammenden Kindern nicht selten mit der Notwendigkeit strenger Erziehung inklusive körperlicher Strafen in der Schule gleichgesetzt wurde, zeigte sich bereits bei der Untersuchung der Praxisfälle vom Ende des 19. Jahrhunderts. Solche Zuschreibungen dürften den Hintergrund der Formulierung in den Blättern für höheres Schulwesen gebildet haben – dass der Autor sie nicht näher erläutern musste, zeigt, dass die von den SPD-Abgeordneten so heftig angegriffene Annahme, körperliche Strafen seien vor allem gegenüber Kindern der „untersten Volksklassen“ notwendig, tatsächlich recht weit verbreitet und akzeptiert war. Allerdings wurde sie zunehmend auch von nicht sozialdemokratischer Seite kritisiert: So wies etwa der Pädagoge Wilhelm Rein 1909 die Ansicht, „daß das, was für niedere Schulen paßt, in höheren nicht angewendet werden dürfte“, massiv zurück – und sah sie als nicht mehr zeitgemäß: „Wer wagt es, heute noch einer so umenschlichen, unsozialen und antinationalen Auffassung das Wort zu reden.“265 Diejenigen, die dies tatsächlich nicht wagten, konnten sich stattdessen auf einen anderen Unterschied zwischen Volks- und höheren Schulen berufen: 262
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Dass sie tatsächlich nicht auf die niedrigeren Gymnasialklassen übertragbar seien, bestätigte ein anderes Urteil des Reichsgerichts wenig später ausdrücklich (Urteil vom 16.11.1909, RGSt, Bd. 43, S. 277–280). M.: Die körperliche Züchtigung an höheren Lehranstalten, in: Blätter für höheres Schulwesen 22 (1905), S. 54–55, Zitat S. 54. Abg. Minckwitz, Sächsischer Landtag, II. Kammer, 37. Sitzung am 5.2.1894, Mittheilungen 1893/94, Bd. 1, S. 475. Wilhelm Rein: Zur Frage des Züchtigungsrechts, in: Die Woche 11 (1909), S. 433–435, hier S. 434.
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Letztere hatten die Möglichkeit, Schüler bei schweren Verstößen gegen die Schulordnung aus der Schule, im äußersten Fall gar aus allen höheren Schulen der Provinz oder des Staats auszuschließen. Diesen Faktor führte beispielsweise der sächsische Kultusminister 1894 als entscheidenden Grund für die unterschiedliche Anwendung körperlicher Strafen an.266 Nach 1900 wurde er allerdings allmählich weniger als Erklärung denn als Missstand wahrgenommen: Volksschullehrer forderten auch für ihre Schulform die Möglichkeit des Ausschlusses besonders problematischer Schüler, die sie als Voraussetzung sahen, um ebenso wie höhere Schulen auf Körperstrafen (weitgehend) verzichten zu können.267 Diese Feststellung führt zurück zu den Debatten über Körperstrafen in der Weimarer Republik, die bisher vor allem aus der Perspektive der Lehrer behandelt wurden. Nun ist es an der Zeit, auch die öffentlich-politische Ebene in den Blick zu nehmen.
3.6 Drei Länder – drei Wege I 3.6.1 Bayern: keine Veränderung
Während Bayern, wie im vorigen Kapitel geschildert, als eines der ersten Länder Körperstrafen an Gymnasien vollständig verbot, existierten dort für Volksschulen zu Beginn des 20. Jahrhunderts geringere Einschränkungen als beispielsweise in Preußen.268 Auf parlamentarische Kritik stieß diese Tatsache erstmals 1904, als der Landtag über den Volksschuletat beriet. Gemäß dem aus dem vorherigen Kapitel bekannten typischen Muster verwiesen vor allem SPD-Abgeordnete auf einzelne Misshandlungsfälle sowie auf die hohe Dunkelziffer und forderten eine Aufhebung oder zumindest starke Einschränkung des Züchtigungsrechts. Die große Mehrheit der Redner war sich jedoch einig, dass körperliche Schulstrafen unverzichtbar seien – auch ein Abgeordneter der liberalen Vereinigung stieß auf Zustimmung bei seiner Fraktion, als er die Behandlung des Themas „in einem übertrieben humanen Sinne“ kritisierte und forderte, man müsse „es unserer Lehrerwelt zugeben, daß sie sich ebenso wie das Elternhaus auf den
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Sächsischer Landtag, II. Kammer, 37. Sitzung am 5.2.1894, Mittheilungen 1893/1894, Bd. 1, S. 474. Vgl. Sächsischer Lehrerverein: Protokoll der Vertreterversammlung 1907, S. 650; Plecher: Züchtigung, S. 13. Das bis dahin gemäß einer Verordnung von 1815 auf Lokal- bzw. Bezirksschulinspektoren begrenzte Züchtigungsrecht war in den 1860er Jahren auf Lehrer ausgedehnt worden. Vgl. Ministerial-Entschließung, 8.1.1866, in: Ministerialblatt für Kirchen- und SchulAngelegenheiten im Königreich Bayern 2 (1866), S. 13–17.
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Standpunkt stellt: Wer sein Kind lieb hat, der züchtigt es.“269 Der Kultusminister Anton von Wehner stimmte der Ansicht, körperliche Strafen seien notwendige Voraussetzung von „Zucht und Ordnung in der Volksschule“ zu, erkannte aber gleichzeitig an, dass Kinder vor gesundheitsgefährdenden Überschreitungen des Züchtigungsrechts geschützt werden müssten.270 Er versprach eine beide Seiten berücksichtigende Revision der in Bayern gültigen Bestimmungen. Tatsächlich legte das Kultusministerium 1905 einen Entwurf vor, der alle bisherigen Erlasse ersetzen sollte und vorsah, dass Lehrer nach erfolgloser Anwendung anderer Strafen oder bei schweren Verfehlungen wie „freche[r] Widersetzlichkeit, grobe[r] Unsittlichkeit“ körperlich strafen durften. Allerdings sollte Lehrern, die wegen Überschreitung des Züchtigungsrechts dienst- oder strafrechtlich belangt worden waren, dieses Recht durch die jeweilige Kreisregierung zeitweise oder dauerhaft entzogen werden können.271 Diese Bestimmung stieß bei der Regierung der Pfalz jedoch auf „ernste Bedenken“, denn „nimmt man dem Lehrer dieses Recht [. . . ] so ist eine weitere ersprießliche Tätigkeit desselben so gut wie ausgeschlossen“.272 Hier wird eindrucksvoll deutlich, wie selbstverständlich die Notwendigkeit körperlicher Strafen auch in den 1900er Jahren noch für Schulaufsichtsbehörden sein konnte. Sowohl das Kultusministerium als auch die pfälzische Regierung, die zur Entscheidung der Frage eine Besprechung mit Kreis- und Lokalschulinspektoren, Volksschullehrern sowie Lehrerseminarsvertretern einberufen hatte, gingen ausschließlich auf die Gefahr von gesundheitsschädlichen Überschreitungen des Züchtigungsrechts ein, grundsätzliche Argumente gegen körperliche Strafen finden sich in diesen Überlegungen noch nicht. Erst 1910, nachdem der 1905 entworfene Erlass nicht zustande gekommen und der Plan einer alle bisherigen Verordnungen aufhebenden Neuregelung im Hinblick auf eine erwartete Strafgesetzbuchreform zunächst aufgegeben worden war, veröffentlichte das Kultusministerium neun (juristisch nicht verbindliche) „Pädagogische Merksätze über die Anwendung der körperlichen Züchtigung“.273 Diese griffen gleich zu Beginn das veränderte pädagogische Klima auf, denn der erste Satz betonte: „Zweck dieser Merksätze ist, die körperliche Züchtigung aus der Schule allmählich zu verdrängen.“ Direkt danach wurde allerdings zugesichert: „2. Das Recht der körperlichen Züchtigung soll dem Lehrer nicht genommen werden.“ 269 270 271 272 273
Abg. Schmidt, 546. Sitzung vom 9.7.1904, Kammer der Abgeordneten des Bayerischen Landtags, Stenographische Berichte, 1903/04, Bd. 15, S. 358. Staatsminister von Wehner, 547. Sitzung vom 11.7.1904, Kammer der Abgeordneten des Bayerischen Landtags, Stenographische Berichte, 1903/04, Bd. 15, S. 378. StMIKS an Regierung der Pfalz, Kammer des Innern; 4.9.1905, LASp H3, 7062, Bl. 57–60. Regierung der Pfalz an StMIKS, 2.10.1905, LASp H3, 7062, Bl. 73–75. Ministerialentschließung vom 20.2.1910, die Handhabung des Züchtigungsrechts an den Volksschulen betreffend, in: Ministerialblatt für Kirchen- und Schul-Angelegenheiten im Königreich Bayern, 46 (1910), S. 123–125. Dort auch die folgenden Zitate.
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3. Reform – aber auch Veränderung? 1900–1933
Dass erstmals die Abschaffung körperlicher Strafen überhaupt als – wenn auch in undefinierter Ferne liegendes und „allmählich“ zu erreichendes – Ziel beschrieben wurde, war eine Neuerung in Bayern. Auch wenn Lehrern geraten wurde, vor dem Strafen stets den „etwaige[n] Einfluß häuslicher oder physiologischer Verhältnisse auf das Verhalten des Schülers“ zu würdigen, schlug sich der zeittypische pädagogische Trend nieder, verstärkt die Ursachen von Fehlverhalten zu beachten. Die weiteren Merksätze wiederholten dagegen eher Altbekanntes, wenn sie beispielsweise Körperstrafen als „Mittel zur Beförderung des Lernens“ ungeeignet erklärten, vor Schlägen im Affekt warnten und den Lehrer zu gut vorbereitetem, anregendem Unterricht und „Selbstzucht“ aufforderten, um Strafanlässen vorzubeugen. So bemängelte die Redaktion der Bayerischen Lehrerzeitung dann auch, „daß man es für notwendig hielt, der Ministerialentschließung ‚pädagogische Merksätze‘ beizufügen, die die elementarste Voraussetzung erziehlicher Tätigkeit bilden“ und deshalb von vielen Lehrern als beleidigend empfunden würden.274 Gleichzeitig forderte ein anonymer Kommentator „aus pädagogischen, moralischen und hygienischen Gründen“ die möglichst vollständige Beseitigung körperlicher Strafen – samt der dazu nötigen Verbesserung der Unterrichtsbedingungen. Noch sechs Jahre zuvor hatte die gleiche Zeitschrift vor dem „Humanitätsdusel“ der Körperstrafengegner im Landtag gewarnt und das Züchtigungsrecht als „sowohl im Interesse der Schule als insbesondere auch der großen staatlichen Gemeinschaft liegend“ bezeichnet.275 Hier wird deutlich, wie rasch sich die Lehrerschaft für züchtigungskritischere Positionen geöffnet hatte. Auch von Nichtpädagogen wurde die Ablehnung körperlicher Strafen nun selbstbewusster geäußert. So legte die Speyerer protestantische Bezirksschulinspektion 1913 den ihr unterstellten Volksschullehrern ein bei einer Schulinspektion eingegangenes Schreiben zur Kenntnisnahme vor, das die Absicht hatte, „diejenigen, in deren Hand die Erziehung der Kinder [. . . ] gegeben ist, zu bitten, dringend zu bitten, erzieht nicht durch Schläge“.276 Der anonyme Verfasser verwies auf die verhärtende Wirkung von Schlägen („aus dem Prügelknaben wird schließlich ein Menschenhasser und noch schlimmeres“) und beklagte, dass vor allem Kinder aus armen Familien mit Schwierigkeiten im Lernen geschlagen würden. Er bezeichnete seine Zeit zwar als das „Jahrhundert des Kindes“, bezog sich ansonsten aber nicht auf Ellen Key, sondern vor allem auf den theologischen Schriftsteller Heinrich Lhotzky, aus dessen Erziehungsratgeber „Die Seele deines
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Das Züchtigungsrecht an den bayerischen Volksschulen, in: Bayerische Lehrerzeitung 44 (1910), S. 200–201, Zitat S. 201 (Hervorhebung im Original durch Sperrsatz). Umschau, in: Bayerische Lehrerzeitung 38 (1904), S. 520. Kgl. Prot. Distrikts-Schulinspektion Speyer an das Lehrpersonal der prot. Volksschulen, 8.12.1913, LASp H 45, 2891.
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Kindes“ er zitierte: „Ein Kind ist ein selbstständiger Geist gerade so wie du und was würdest du wohl sagen, wenn man dich schlagen würde?“277 Die „neuerdings wieder ausdrücklicher vertretene Forderung der Abschaffung jeder körperlichen Züchtigung in den Volksschulen“ nahm dann 1920 das (zu diesem Zeitpunkt noch vom Sozialdemokraten Johannes Hoffmann geführte) bayerische Kultusministerium zum Anlass, die Stellungnahmen von Kreislehrerräten und -regierungen zum Thema einzuholen.278 Auch wurden die Regierungen befragt, ob sie das von Kritikern beklagte Überhandnehmen von Überschreitungen des Züchtigungsrechts bestätigen könnten. Die Antwort der pfälzischen Regierung spiegelt einerseits die Veränderungen der letzten Jahrzehnte wider, denn sie betonte, dass „es sehr wünschenswert wäre, daß die körperliche Züchtigung aus der Volksschule verschwindet“. Es seien zwar nur „wenige Fälle“ von Überschreitungen des Züchtigungsrechts bekannt geworden, die Regierung räumte jedoch ein, dass diese in Wahrheit häufiger sein könnten, als sie angezeigt würden. Andererseits sprach sie sich dennoch dafür aus, die geltenden Bestimmungen beizubehalten.279 Dies taten auch die Kreislehrerräte und die anderen Kreisregierungen, sodass es zu keiner Veränderung der ministeriellen Vorschriften kam. Es wurde lediglich angeordnet, die „Merksätze“ von 1910 im Pädagogikunterricht der Lehrerseminare, auf Fortbildungskonferenzen und bei ähnlichen Gelegenheiten zu erörtern.280 Auf die Ablehnung eines Verbots durch die Lehrervertretungen berief sich das nun von Franz Matt (BVP) geführte Kultusministerium auch, als ein Jahr später erneut die SPD-Landtagsfraktion die Abschaffung des Züchtigungsrechts beantragte. Der Minister betonte, „daß zweifellos der bessere Pädagoge der ist, der solche Disziplinarmittel nicht braucht, aber daß es doch auch in der Schule Fälle gibt, bei denen wohl ohne den Stock nicht ausgekommen werden kann“.281 Entsprechende Forderungen tauchten im Landtag immer wieder auf282 – und wurden ebenso regelmäßig von der Mehrheit der Abgeordneten zurückgewiesen.283 Dabei wurde die Befürwortung des Züchtigungsrechts 1929/30 zwar 277
278 279 280 281 282
283
Im Original lautet das Zitat: „Kinder sind ebenbürtige Geister. Wolltest du wohl Schläge bekommen?“, Lhotzky: Seele, S. 33. Vgl. zu Lhotzkys Ratgeber: Höffer-Mehlmer: Elternratgeber, S. 125–129. StMUK an Regierungen, Kammern des Innern, 10.2.1920, LASp H3, 7062, Bl. 153. Regierung der Pfalz an StMUK, 30.4.1920, LASp H3, 7062, Bl. 154. Vgl. StMUK an Regierungen, 6. Juni 1920, LASp H3, 7062, Bl. 156. Bayerischer Landtag, 62. Sitzung vom 12.5.1921, Stenographischer Bericht 1920–1924, Bd. 3, S. 96. Allein zwischen 1929 und 1932 gab es drei Anträge der KPD-Fraktion auf ein vollständiges Verbot sowie einen der SPD-Fraktion auf ein Verbot zumindest für Mädchen und die ersten beiden Volksschulklassen. Vgl. Abschriften der Anträge in: BHStAM, MK 61940. Vgl. Bayerischer Landtag, 43. Sitzung vom 13.6.1929, Stenographischer Bericht 1928–32, Bd. 2, S. 646–667; 88. Sitzung vom 31.7.1930, Stenographischer Bericht 1928–32, Bd. 4, S. 430–453; 112. Sitzung vom 23.4.1930, Stenographischer Bericht 1928–32, Bd. 5, S. 512.
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zurückhaltender formuliert als ein Jahrzehnt zuvor, indem beispielsweise die „möglichste Einschränkung der körperlichen Züchtigung“ als Ziel genannt und die Notwendigkeit körperlicher Strafen eher indirekt mit ihrer verbreiteten Anwendung im Elternhaus (die Kinder für andere Strafen abstumpfe) begründet wurde.284 Dennoch blieb auch 1930 die Aussage eines BVP-Abgeordneten typisch für die Landtagsmehrheit: Seine Fraktion könne „ganz selbstverständlich“ dem Verbotsantrag nicht zustimmen, „denn es ist doch eine alte Erfahrungssache, daß es trotz allen guten Willens bei der Erziehung der Kinder ohne die Möglichkeit der Züchtigung nicht geht“.285 Da die BVP zwischen 1921 und 1933 in den bayerischen Landesregierungen dominierte und durchgängig den Kultusminister stellte, erstaunt es nicht, dass während der gesamten Zeit der Weimarer Republik der Erlass von 1910 nicht mehr verändert wurde. 3.6.2 Sachsen: ein vollständiges Verbot
Dass Sachsen in Bezug auf die Position der Lehrerschaft zu pädagogischen Reformansätzen auch in der Frage körperlicher Strafen nach 1900 eine Besonderheit darstellte, wurde bereits geschildert. Die Rechtslage unterschied sich bis zum Ersten Weltkrieg allerdings nicht grundlegend von der anderer Länder: Gemäß der seit 1874 gültigen Ausführungsverordnung zum Volksschulgesetz waren körperliche Strafen nach mehrfacher erfolgloser Anwendung anderer Strafmittel oder „wegen frecher Widersetzlichkeit oder grober Unsittlichkeit“ erlaubt.286 Nach dem Krieg entwickelte sich Sachsen dagegen in mehrfacher Hinsicht zum Ausnahmefall: Erstens herrschte hier eine besondere schulpolitische Situation, in welcher der überdurchschnittlich reformorientierte Sächsische Lehrerverein auf eine besonders reformfreudige Regierung traf.287 Zweitens führte diese Konstellation in Sachsen 1922 zu einem vollständigen Verbot körperlicher Schulstrafen, wie es bis dahin – abgesehen von Mecklenburg-Schwerin – in keinem anderen Land der Weimarer Republik existierte. Und schließlich war drittens auch die Form dieses Verbots außergewöhnlich: Während in den anderen Ländern Vorschriften zu Schulstrafen meist in Form ministerieller Erlasse ergangen waren, war das sächsische Verbot Teil eines Gesetzes. Dieses „Schulbedarfsgesetz“ machte endgültig den Staat anstelle der Gemeinden zum Träger der Lehrerbesoldung 284 285 286 287
Abg. Wohlmuth, Bayerischer Landtag, 43. Sitzung vom 13.6.1929, Stenographischer Bericht 1928–32, Bd. 2, S. 661–662. Abg. Schmölz, Bayerischer Landtag, 88. Sitzung vom 31.7.1930, Stenographischer Bericht 1928–32, Bd. 4, S. 430. Ausführungsverordnung zum Volksschulgesetz vom 26.4.1873 (vom 25.8.1874), § 47, in: Seydewitz: Volksschulgesetz, S. 209. Vgl. zur sächsischen Schulreformpolitik nach 1918: Poste: Schulreform; Reichel: Schulreform.
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für Volks- und Fortbildungsschulen und legte zudem Details der „Anstellungsund Rechtsverhältnisse“ der Lehrer (beispielsweise eine Pflichtstundenzahl von 28) und der Schuleinrichtungen (etwa eine maximale Klassengröße von 35) fest. Sein § 28 Abs. 1 besagte zudem: „Bei Handhabung der Schulzucht ist jedes Mittel zu vermeiden, das den Zwecken der Erziehung zuwiderläuft. Körperliche Züchtigung der Schüler ist unzulässig.“288 Diese Bestimmung wirkt gegenüber den anderen Gesetzesinhalten thematisch etwas unpassend, und tatsächlich war sie nicht ursprünglich für die Gesetzesvorlage vorgesehen, sondern erst im Laufe ihrer Ausarbeitung eingefügt worden. Die Begründung hierfür war recht knapp und (soweit aus der Überlieferung erkennbar) innerhalb des Ministeriums nicht umstritten: „Der Minister wünscht, daß bestimmt wird, daß jede körperliche Züchtigung überhaupt verboten wird. Die Lehrerschaft in ihrer Gesamtheit vertritt ebenfalls diese Forderung. Das Bedenken, daß der Lehrer, der eine Züchtigung vornimmt, dann sich disziplinarisch und strafrechtlich verantwortlich macht, kann nicht stichhaltig sein“, zumal an höheren Schulen schon seit Langem nicht geschlagen werden dürfe.289 Die Zustimmung der Lehrerschaft zu einem Verbot war auch in der schriftlichen und in der mündlichen Begründung des Gesetzesentwurfs gegenüber dem Landtag ein entscheidendes Argument der Regierung.290 Das Schulbedarfsgesetz wurde am 31. Juli vom Landtag angenommen, mit einigen Änderungen gegenüber der Regierungsvorlage, die aber nicht das Züchtigungsverbot betrafen. Dieses hatte in den Diskussionen über das Gesetz überhaupt eine sehr untergeordnete Rolle gespielt; die kontroversen Debatten über andere Inhalte wie etwa Pflichtstundenzahl, Klassengröße und Finanzierungsfragen hatten die Einzelfrage des Züchtigungsrechts sozusagen in den Schatten gestellt.291 Das bedeutet nicht, dass gar kein Widerspruch geäußert worden wäre: Ein DNVP-Abgeordneter sprach sich gegen ein Verbot aus und warnte davor, „daß mit diesem Gesetzesparagraphen Mißbrauch getrieben wird“ (womit wohl ungerechtfertigte Anzeigen gegen Lehrer gemeint waren). Selbst er stimmte aber zu, „daß es unbedingt nötig ist, daß man in der Handhabung der Schulzucht 288 289
290
291
Schulbedarfsgesetz vom 31.7.1922, in: Sächsisches Gesetzblatt 1922, S. 405–412, hier S. 410. Protokoll „Vortrag bei Minister Fleißner“, 25.1.1922, SächsStA-D, 11125, Nr. 13864, Bl. 138 f. Erstmals erscheint eine Bestimmung zu Schulstrafen im 3. Entwurf vom 17.1.1922, ebd., Bl. 125–136. Diese enthielt aber nur den ersten Satz der späteren Formulierung, körperliche Strafen wurden nicht ausdrücklich genannt. Im Landtag verwies der Unterrichtsminister zudem auf die Gefahr von Überschreitungen des Züchtigungsrechts. Vgl. Fleißner, Sächsischer Landtag, 98. Sitzung am 2.3.1922, Verhandlungen, 1. Wahlper. 1920/22, Bd. 4, S. 3372, sowie Landtags-Vorlage Nr. 007, SächsStA-D, 11125, Nr. 13864, Bl. 221–235, S. 27 (Bl. 234). Der Mitberichterstatter über die Beratungen im Rechtsausschuss des Landtags formulierte beispielsweise: „Kaum ein anderer Entwurf, der uns vorgelegt worden ist, hat von Anfang an so starke Gegensätze ausgelöst [. . . ] wie dieses Gesetz.“ (Abg. Dr. Hermann, Sächsischer Landtag, 115. Sitzung am 5.7.1922, Verhandlungen, 1. Wahlper. 1920/22, Bd. 5, S. 4337).
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das äußerste Mittel unbedingt vermeidet“.292 Für die Befürworter des Verbots bestand ohnehin kein Diskussionsbedarf – wie es im Bericht über die Beratung im Rechtsausschuss hieß: „Pädagogisch sei die Sache aber so geklärt, daß man kein Wort mehr darüber zu verlieren brauche.“293 Im April 1923 trat das Gesetz und somit das Verbot in Kraft. Vielleicht noch bemerkenswerter als das Zustandekommen des sächsischen Verbots ist, dass es so lange Bestand hatte. In den beiden anderen Ländern der Weimarer Republik, in denen Züchtigungsverbote erlassen worden waren (nämlich 1918 von der DDP/SPD-Regierung in Mecklenburg-Schwerin und 1923 von der SPD/KPD-Regierung in Thüringen), führten spätere Regierungswechsel jeweils zur Wiedereinführung körperlicher Strafen.294 Auch in Sachsen kam 1924 nach der Reichsexekution gegen die SPD/KPD-Regierung mit dem Juristen Dr. Fritz Kaiser (DVP) ein Kultusminister ins Amt, der den schulreformerischen Kurs seiner Vorgänger ablehnte und zum Teil rückgängig zu machen versuchte.295 In der öffentlichen Debatte äußerten konservative und konfessionelle Kräfte ihre Ablehnung der Schulreform nun immer offensiver, und eine wichtige Rolle in dieser Kritik spielte die angeblich in besorgniserregendem Maß gesunkene „Schulzucht“. Man mag entsprechende Äußerungen mit Andreas Reichel als Teil „einer systematischen Kampagne gegen die Volksschule, die sich auf ungeprüfte Vorwürfe, Entstellungen und Unwahrheiten stützte, mit dem Ziel, die Ergebnisse der sozialistischen Schulreform herabzusetzen“ sehen296 – zumindest das subjektive Empfinden einer immer undisziplinierter und bedrohlicher wirkenden Schülerschaft war jedoch tatsächlich weit verbreitet. Es zeigt sich beispielhaft in Zuschriften von Einzelpersonen an den neuen Kultusminister. So klagten 13 Bürger in einem gemeinsamen Brief: „Die Kinder hören einfach gar nicht mehr auf uns alte Leute und selbst auch aus dem Lehrer machen sie sich nichts mehr draus“ – und sahen das einzig wirksame Mittel gegen diesen Missstand in erweiterten Strafbefugnissen für Lehrer: „Bitte erlassen Sie doch eine Anordnung, das [sic] wenigstens die Lehrer wieder zuschlagen dürfen.“297 Auch für einen Bautzener Schularzt gab es „bei groben Ungehörigkeiten und
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Abg. Grellmann, Sächsischer Landtag, 98. Sitzung am 2.3.1922, Verhandlungen, Wahlperiode 1920/22, Bd. 4, S. 3379. Im Rechtsausschuss beantragte die DDP die Streichung des Verbotsparagraphen, begründete dies aber nicht inhaltlich, sondern damit, dass die Thematik im Schulbedarfsgesetz fehl am Platze sei. Berichte des Landtags Nr. 759: Bericht des Rechtsausschusses über Vorlage Nr. 104, eingegangen am 22.6.1922, SächsStA-D, 11125, Nr. 13864, Bl. 158 (Zitat S. 17). Wiedereinführung in Mecklenburg-Schwerin 1926, Thüringen 1925. Vgl. Geißler: Verbot, S. 208. Vgl. Poste: Schulreform, S. 240–251. Reichel: Schulreform, S. 206. 13 Unterzeichner an Mf V, 21.7.1924, SächsStA-D, 11125, Nr. 13872, Bl. 174.
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Roheiten, die ja leider Gottes heute überall an der Tagesordnung sind, [. . . ] unserer verwahrlosten Jugend gegenüber kein anderes und besseres Mittel als den Stock“.298 Diesem Schularzt erwiderte das Ministerium, es sei bereits „in Erörterung darüber eingetreten, wie die Zucht in den Schulen gefördert werden kann“, und wies darauf hin: „Das Verbot der körperlichen Züchtigung könnte übrigens nur durch Gesetzesänderung beseitigt werden.“299 Für eine solche bestanden aber im Landtag geringe Erfolgsaussichten, denn dort gab es „bildungspolitisch gesehen eine alternative Mehrheit von der KPD über die gesamte SPD bis hin zur DDP“.300 Tatsächlich beantragte die DNVP 1925 die Wiedereinführung des Züchtigungsrechts und blieb damit ebenso erfolglos wie mit einem ähnlichen Versuch zwei Jahre später. Dass das sächsische Züchtigungsverbot auch nach dem Wechsel zu einem konservativen Unterrichtsminister und trotz der ab Mitte der 1920er Jahre immer wieder geäußerten Forderungen nach seiner Aufhebung bestehen blieb, lag also vor allem an seiner Form als nur per Landtagsmehrheit zu änderndem Gesetz. Ein wichtiger Faktor war zudem – wie bereits beim Zustandekommen des Verbots – dessen konsequente Befürwortung durch den Sächsischen Lehrerverein, der trotz des vor allem 1926 von der eigenen Basis geäußerten Widerspruchs nicht von seiner nach außen vertretenen Position abwich.301 Nicht zu vernachlässigen ist aber auch, dass in den Schulbehörden die Ablehnung körperlicher Strafen weiterhin dominierte: Als 1925/26 in Chemnitz Lehrer und Elternvertreter über zunehmende Disziplinprobleme an den Schulen klagten, erweiterte Strafbefugnisse und eben auch die Wiedereinführung körperlicher Strafen forderten,302 nahm das Bezirksschulamt diese Beschwerden durchaus ernst. Es prüfte bzw. beantragte beim Ministerium etwa die Erhöhung der vorgesehenen „Arbeitsstunden“ (in die Schulkinder geschickt werden konnten, um nach Schulschluss unter Aufsicht Zusatzaufgaben zu erledigen) sowie die Versetzung in eine andere Klasse, Ausschluss von Veranstaltungen oder Vergünstigungen oder auch den zeitweisen Ausschluss vom Unterricht als zusätzliche Strafmöglichkeiten.303 Die Rückkehr zu körperlichen Strafen zog es jedoch nie in Erwägung, sie wurde auch vom Bezirkslehrerausschuss ausdrücklich zurückgewiesen.304 Auch das Kultusministerium selbst äußerte 1926 zwar „Zweifel an der restlosen 298 299 300 301 302
303 304
Schularzt Dr. T. an Mf V, 25.7.1924, in SächsStA-D, 11125, Nr. 13872, Bl. 176. Mf V an Schularzt Dr. T. (Entwurf mit handschriftlichen Korrekturen), 16.8.1924, in SächsStA-D, 11125, Nr. 13872, Bl. 178. Poste: Schulreform, S. 247. Vgl. hierzu ausführlich S. 161 f. dieser Arbeit. Vgl. Lehrerversammlung der Humboldtschule-Knaben an Bezirksschulamt Chemnitz I, 18.5.1926 (Bl. 250); Beschluss des Hauptelternrats für die Chemnitzer Volksschulen [o. D.] (Bl. 267–271), beide SächsStA-D, 11125, Nr. 13872. Bezirksschulamt Chemnitz I an Mf V, 2.9.1926, SächsStA-D, 11125, Nr. 13872, Bl. 255–258. Abschrift: Stellungnahme des Schulbeirats, 16.6.1926 (Bl. 260); Bezirksschulamt Chemnitz
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Durchführbarkeit dieses grundsätzlich berechtigten Verbotes“, die sich vor allem auf die strafrechtliche Bewertung von Verbotsüberschreitungen bezogen und auf die zunehmenden Forderungen der Lehrer, körperliche Strafen als „Notbehelf “ zu erlauben, „bis die gesonderte Beschulung der schwer erziehbaren Schüler und Schülerinnen durchgeführt ist“. Gleichzeitig betonte das Ministerium aber, es stehe „sachlich auch heute noch zu diesem Verbot“.305 Diese kritische, aber von einer völligen Ablehnung doch weit entfernte Bewertung des Verbots war die Antwort des sächsischen Kultusministeriums auf eine Anfrage seines preußischen Pendants, das ebenfalls ein vollständiges Verbot in Erwägung zog und dafür die sächsischen Erfahrungen erfragen wollte. Wie kam es zu diesen Überlegungen – und zu welchem Ergebnis führten sie? 3.6.3 Preußen: das lange Ringen ums Verbot Erziehung statt Strafen – auch gegenüber den züchtigenden Lehrkräften?
In Preußen war bekanntlich 1900 der Versuch einer massiven Einschränkung des Züchtigungsrechts hauptsächlich am Widerstand der Lehrkräfte gescheitert. Die damals geschaffene Rechtslage blieb zwei Jahrzehnte nahezu unverändert bestehen, nur die Pflicht zur Führung eines Strafbuchs wurde 1918 auf noch nicht endgültig angestellte oder wegen Züchtigungsrechtsüberschreitungen vorbestrafte Lehrer beschränkt.306 1919 beantragte in der Verfassungsgebenden Preußischen Landesversammlung die USPD die Abschaffung des Lehrerzüchtigungsrechts. Der Redner der DVP gestand zwar „diesen Anträgen ein hohes sittliches Ziel“ zu, teilte den Wunsch, „daß die Prügelstrafe in der Volksschule entbehrlich werden möge“, und betonte, dass sie nur als letztes Mittel „höchstens bei Disziplinarfällen und sittlichen Verfehlungen angewandt werden soll“.307 Dennoch sei sie unter den bestehenden Verhältnissen unverzichtbar – und den Lehrern müsse die Kompetenz zugestanden werden, frei über die Wahl der Strafmittel zu entscheiden. Die DVP wollte deshalb gar „keinem Antrage zustimmen, der in dieser Beziehung auch nur etwas die freie Erzieherpersönlichkeit beeinträchtigt“. Und auch die Fraktion der MSPD lehnte ein Verbot als zwar wünschenswert, aber nicht umsetzbar ab: „Wir können den Lehrern und Lehrerinnen nicht jede Möglichkeit einer Züchtigung
305 306 307
I an Mf V: Bericht über Äußerung des Schulbeirats, 9.3.1927 (Bl. 273), beide SächsStA-D, 11125, Nr. 13872. KM an preußisches KM, 23.10.1926, SächsStA-D, 11125, Nr. 13872, Bl. 211. Vgl. MdgUM an königl. Regierungen, 30.10.1918, in HHStAW 405, 12903, Bl. 204. Abg. Hollmann, Verfassungsgebende Preußische Landesversammlung, 91. Sitzung am 5.12.1919, in: Sitzungsberichte, 1919/21, Bd. 6, S. 7522. Dort auch die folgenden Zitate.
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aus der Hand nehmen.“308 Stattdessen solle das Züchtigungsrecht „aufs Äußerste“ beschränkt werden. Angesichts der bis dahin durchgängig von der gesamten SPD vertretenen absoluten Ablehnung körperlicher Strafen ist diese gemäßigte Position erstaunlich – was auch ein USPD-Abgeordneter prompt feststellte und seinen ehemaligen Parteigenossen die Aufgabe ihrer bildungspolitischen Ideale aus Rücksicht auf die Koalitionspartner vorwarf.309 Auch der bis 1921 amtierende sozialdemokratische Kultusminister Konrad Haenisch verzichtete darauf, die alte Forderung seiner Partei nach einer Abschaffung schulischer Züchtigung durch ein Verbot durchzusetzen. Allerdings unternahm er im April 1920 den bis dahin wohl ambitioniertesten Versuch, von ministerieller Seite eine Einschränkung körperlicher Strafen zu erreichen: In einem Erlass stellte er bedauernd fest, dass noch nicht alle Lehrer Körperstrafen tatsächlich nur als letztes Mittel anwendeten, wie es als theoretischer Grundsatz allgemein anerkannt war. Davon ausgehend äußerte er die Absicht, „die gesamte Lehrerschaft nicht nur für diesen Grundsatz, sondern darüber hinaus für den Gedanken zu gewinnen, daß die körperliche Züchtigung ein Strafmittel darstellt, dessen Anwendung mit dem Geiste unserer Zeit nicht mehr vereinbar ist und das daher aus der Schule ganz beseitigt werden müßte“.310 Bemerkenswert ist, dass dieser Erlass keinerlei Änderung der Rechtslage herbeiführte. Stattdessen wurden die Schulaufsichtsbehörden angewiesen, „ihren ganzen Einfluß dafür einzusetzen, daß der von mir gewünschte Zustand eintritt“. Dazu gehöre auch, „daß sie an die äußere Schulzucht und an die unterrichtlichen Leistungen keine Anforderungen stellen, die die Lehrer und Lehrerinnen nur mit Hilfe von körperlichen Strafen glauben erfüllen zu können“ – hiermit griff das Ministerium einen von Lehrern immer wieder als Hindernis für den Verzicht auf das Züchtigungsrecht genannten Kritikpunkt auf. Neuartig war auch die Ankündigung, dass bei Beförderungen diejenigen Lehrer bevorzugt würden, „die es verstehen, ohne Anwendung körperlicher Züchtigungen gute Schulzucht zu halten und befriedigende Unterrichtserfolge zu erzielen“. Der Erlass schloss mit einem Appell: Noch mehr aber setze ich mein Vertrauen darauf, daß die Lehrenden selbst mehr und mehr zu der Überzeugung kommen werden, die Anwendung der körperlichen Züchtigung sei des Erziehers wie des Zöglings gleich unwürdig, und daß sie es als eine Ehrensache betrachten lernen, bei ihrer unterrichtlichen und erziehlichen Tätigkeit ganz ohne ein solches Strafmittel auszukommen.
Das Ministerium beließ es jedoch nicht bei Apellen: Die Bezirksregierungen wurden angewiesen, ein Merkblatt für die ihnen unterstellten Lehrkräfte aus308 309 310
Abg. Runge, ebd., S. 7452. Abg. Hennig, ebd., S. 7502. Der nicht im Zentralblatt abgedruckte Erlass wird hier und im Folgenden zitiert nach: MWKV an sämtliche Regierungen, 24.4.1920, HHStAW 405, 12903, Bl. 210.
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zuarbeiten, das nach dem Vorbild einer Veröffentlichung der Berliner Schuldeputation die gesundheitlichen Gefahren bei Körperstrafen aufzeigen sollte. Darin sollte insbesondere vor der Züchtigung von Mädchen („die nach dem übereinstimmenden Urteil nahezu aller Erziehungsexperten unter allen Umständen unterbleiben sollte“) oder bei mangelnder Aufmerksamkeit und schlechten Leistungen gewarnt werden. Um die Umsetzung des Erlasses zu kontrollieren, sollten die Bezirksregierungen nach drei Monaten das von ihnen herausgegebene Merkblatt vorlegen und über den Erfolg der Maßnahmen Bericht erstatten. Es ist aufschlussreich, die für diesen Bericht eingeholten Gutachten der einzelnen Kreisschulinspektoren am Beispiel des Bezirks Wiesbadens genauer zu betrachten, denn sie geben einen Eindruck davon, inwieweit die Vorstellungen des Kultusministeriums auf der niederen Ebene der Schulverwaltung geteilt und umgesetzt wurden. Nahezu alle Kreisschulinspektionen berichteten von einem mehr oder weniger deutlichen Erfolg des Erlasses: Nur aus dem Landkreis Dillenburg kam eine offen skeptische Antwort, bei der zwischen den Zeilen auch die Begrenztheit des Einflusses der Schulaufsichtsbehörden durchscheint: „Die Lehrerschaft bemüht sich angeblich, den Forderungen der Verfügung [. . . ] möglichst nachzukommen. Ob ein wesentlicher Fortschritt im Sinne der Bekanntmachung zu verzeichnen ist, erscheint mir nach meinen Beobachtungen zweifelhaft.“311 Viele andere Schulinspektoren berichteten jedoch, die Zahl körperlicher Strafen sei zurückgegangen und Lehrer bemühten sich, sie so weit wie möglich einzuschränken oder sogar vollständig auf den Stock zu verzichten. Aber die meisten betonten auch, dass „es Fälle gibt [. . . ] in denen die körperliche Züchtigung nicht ganz entbehrt werden kann“ und hielten deren „völlige Ausschaltung aus der Schule im Interesse der Schulzucht für verhängnisvoll“.312 Die Bewertung körperlicher Strafen als unvereinbar „mit dem Geiste unserer Zeit“, von der das Kultusministerium die Lehrer überzeugen wollte, war also schon auf den unteren bzw. mittleren Ebenen der Schulaufsicht keinesfalls allgemein akzeptiert. Ein Schulinspektor für Wiesbaden-Stadt berichtete sogar von der expliziten Ablehnung dieses Satzes durch viele Lehrer, die er durchaus zu teilen schien. Die von ihm angegebenen Begründungen fassen die zeittypischen Argumente so gut zusammen, dass es sich lohnt, sie hier ausführlich zu zitieren: 1) weil auch die Familienerziehung erfahrungsgemäß nicht immer ohne körperliche Strafen auskommt,
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Kreisschulinspektion Dillenburg an Reg. Wiesbaden, 9.5.1921, HHStAW 405, 12903, Bl. 226. Kreisschulinspektion Braubach an Reg. Wiesbaden, 10.5.1921, ebd., Bl. 237 f. Ein anderer Schulinspektor bilanzierte lapidar: „Manche Lehrer hofften ganz ohne diese auszukommen; bei der maßlosen Roheit unserer Jugend geht das aber nicht.“ (Kath. Pfarramt Oberlahnstein an Regierung Wiesbaden, 2.5.1921, ebd., Bl. 243).
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2.) die Autorität des Lehrers erfahrungsgemäß notleidet, wenn die Kinder wissen, daß der Lehrer den Stock nicht mehr gebrauchen darf, 3) weil bei Roheitsvergehen, schweren sittlichen Verfehlungen, hartnäckigen Lügen, Diebstählen, Widerspenstigkeit, Schulschwänzerei und andauernder Faulheit die körperliche Züchtigung als ultima ratio unentbehrlich ist, zumal wenn die häusliche Erziehung in solchen Fällen versagt, 4.) weil gerade die Nachkriegszeit eine straffere Zucht in und außerhalb der Schule mit zwingender Notwendigkeit erfordert.313
Die im letzten Punkt anklingende Furcht vor einer nach dem Ersten Weltkrieg besonders rohen, ‚straffer Zucht‘ bedürftigen Jugend erwies sich bereits bei der Betrachtung der Lehrerdebatten der 1920er Jahre als verbreitetes Wahrnehmungsmuster, das auch von einigen Schulaufsichtsbehörden geteilt wurde. Zumindest in Teilen der örtlichen Schulaufsicht lebten zudem traditionelle Erziehungsvorstellungen fort: Das war neben der vom Wiesbadener Schulinspektor genannten Ansicht, dass bei Rohheit und schweren Verfehlungen Körperstrafen ein wirksames ‚letztes Mittel‘ seien, vor allem das Konzept einer auch durch absoluten Gehorsam des Kindes (mit-)definierten und sich gegebenenfalls auf dessen gewaltsame Durchsetzung stützenden Lehrerautorität. Dies wird beispielsweise in der Stellungnahme der Kreisschulinspektion Nastätten deutlich: „Die Schule verlangt einen Gehorsam aufs Wort, wo das Haus oft schwächliche Nachgiebigkeit zeigt. Gelingt es der Schule aber in allen Fällen sich den Gehorsam mit Winken, Ermahnungen und Drohungen zu erzwingen? Nein – und darum muß der Stock in Bereitschaft stehen.“314 Zurückscheuen vorm Verbot
Hier wird deutlich, dass radikalere Maßnahmen wie eine Aufhebung des Züchtigungsrechts auch nach dem Ersten Weltkrieg in Preußen noch mit Widerstand nicht nur vonseiten vieler Lehrer, sondern auch aus den Schulaufsichtsbehörden selbst rechnen mussten. Gleichzeitig erlebte das Kultusministerium zunehmenden Druck in die andere Richtung, indem in der Öffentlichkeit von (linken) Politikern und Intellektuellen, Psychologen und Pädagogen immer lautere Kritik am schulischen Züchtigungsrecht geäußert wurde. Diese erreichte im Jahr 1926 einen Höhepunkt, als der Internatsleiter Kurt-Lüder Freiherr von Lützow wegen mehrfacher Misshandlungen und Missbrauchs von Schülern vor Gericht stand.315 Der im Februar eröffnete Prozess erregte nicht zuletzt wegen der Lützow vorgeworfenen sexuellen Übergriffe sehr großes mediales Interesse, er rückte aber auch die Frage nichtsexueller Erziehungsgewalt verstärkt ins öffentliche 313 314 315
Städt. Schuldeputation Wiesbaden an Regierung Wiesbaden, 9.5.1921, HHStAW 405, 12903, Bl. 240. Kreisschulinspektion Nastätten an Regierung Wiesbaden, 6.5.1921, HHStAW 405, 12903, Bl. 236. Vgl. Dudek: Züchtigung, zu den öffentlichen Reaktionen insbesondere S. 163–175.
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Bewusstsein. So kritisierte beispielsweise die Schriftstellerin Gina Kaus in der Wochenschrift Das Tage-Buch massiv „die nüchterne bornierte Annahme des Gerichtshofes, daß es verdiente Prügel gäbe“, ließ die traditionelle Trennung von legitimer Erziehungsgewalt und verwerflicher Überschreitung also nicht mehr gelten.316 Dass auch sozialdemokratische oder kommunistische Zeitungen die Forderung „Hinweg mit der Prügelstrafe an den Schulen“ immer wieder erneuerten, ist nicht erstaunlich317 – doch 1926 blieben sie nicht die einzigen deutlichen Kritiker des Züchtigungsrechts. Der linksliberale Berliner Börsen-Courier etwa stellte anlässlich des Lützow-Prozesses dem Pädagogen Paul Oestreich, dem ehemaligen Kultusminister Otto Boelitz (DVP), dem Vorsitzenden des Berliner Lehrervereins, dem Leiter des Berliner Waisenhauses, verschiedenen Ärzten und anderen Experten die Frage „Soll man Kinder prügeln“ – und verstand diese ganzseitige Umfrage selbst als „bewußten Angriff auf die veralteten Bestimmungen“.318 Tatsächlich äußerten sich mit Ausnahme eines Gerichtsarztes alle Befragten sehr kritisch zu körperlichen Schulstrafen, auch wenn nicht alle ein vollständiges Verbot befürworteten. Selbst in der konservativen Deutschen Allgemeinen Zeitung stieß ein körperliche Strafen verteidigender Artikel auf Widerspruch in gleich zwei Leserbriefen.319 Auch im preußischen Landtag herrschte 1926 ein züchtigungskritischeres Meinungsklima. So sprachen sich im Unterrichtsausschuss die „Redner aller Parteien [. . . ] gegen die Brauchbarkeit der körperlichen Züchtigung als Erziehungsmittel aus“320 und auch in den Plenumssitzungen des Landtags wurden körperliche Strafen nicht mehr offensiv verteidigt.321 Wenn es jedoch um eine konkrete Änderung der Vorschriften ging, waren die Mehrheitsverhältnisse andere: Nachdem das ursprünglich von der SPD angestrebte vollständige Verbot in den Ausschüssen abgelehnt worden war, beantragte die Fraktion als „Min316 317
318 319 320
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Kaus: „Prügel“. Vgl. Hinweg mit der Prügelstrafe in den Schulen, in: Die Rote Fahne vom 29.5.1926; Freud: Sollen wir?; Karsig: Kind und Prügel. Eine pädagogische Betrachtung, in: Die Rote Fahne vom 30.5.1926. Hirschberg: Rundfrage, S. 9. Vgl. H. F. Schlüter und v. Homeyer: Leserbriefe zu „Prügel in der Schule“, in: Deutsche Allgemeine Zeitung Nr. 148 vom 29.3.1926, S. 6. Ministerialrat Landé: Bericht über die Verhandlung im Unterrichtsausschuß des Preußischen Landtags am 28.6.1926 (Abschrift), GStAPK, I. HA Rep. 76, IV Sekt. 1 Gen. Z, Nr. 10, Bd. 9, Bl. 336. Vgl. Preußischer Landtag, 198. Sitzung am 6.7.1926, Verhandlungen, 2. Wahlper. 1924/28, 9. Bd, Sp. 13708–13728. Dagegen hatte ein Jahr zuvor ein Redner der „Wirtschaftlichen Vereinigung“ noch offen erklärt, „daß es für manchen Buben noch sehr gut ist, wenn er unter Umständen sein Ehrgefühl und seinen Gehorsam und Fleiß auf dem Teil des Rückens aufgeweckt bekommt, wo er aufhört, seinen ehrlichen Namen zu behalten.“ (Preußischer Landtag, 91. Sitzung am 3.11.1925, Verhandlungen, 2. Wahlper. 1924/28, 4. Bd., Sp. 5754).
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destforderung, die jeder Pädagoge unterstützen kann und muß“ ein Verbot von Schlägen wegen schlechter Leistungen oder Unaufmerksamkeit.322 Doch obwohl diese Forderung in der Theorie schon seit Jahrzehnten nahezu allgemein akzeptiert war, lehnte die Mehrheit des Landtags ab, sie in ein verbindliches Verbot umzuwandeln: Für den Antrag stimmten neben der SPD-Fraktion selbst nur die Abgeordneten der KPD, der DDP (die zuvor gegen ein vollständiges Verbot gestimmt hatte) und der Polnischen Partei, die anderen Parteien lehnten ihn ab.323 Zuvor waren bereits im Unterrichtsausschuss alle Anträge auf eine Einschränkung des Züchtigungsrechts „mit den Stimmen der Rechtspartei und des Zentrums“ abgelehnt worden – allerdings hatte der Ausschuss einstimmig den (vom Ministeriumsvertreter vorgeschlagenen) Beschluss gefasst, das Kultusministerium zur erneuten Prüfung der Frage aufzufordern.324 Tatsächlich wurde im Ministerium ein Erlass entworfen, der körperliche Strafen bei Mädchen jedes Alters sowie bei Jungen in der Grundschule verbot. Außerdem sollten sie als Strafe für Unaufmerksamkeit oder schlechte Leistungen untersagt sein und nur, wenn der Lehrer sie „nach reiflicher Überlegung als unvermeidbar und pädagogisch notwendig erkannt hat“ bei Fällen von Rohheit oder Widersetzlichkeit vorkommen.325 Dieser Entwurf, der für alle Schulformen gültig sein sollte, stieß bei der für höhere Schulen zuständigen Abteilung UII des Ministeriums jedoch auf Widerspruch: Für sie war es „nicht tragbar, daß der Übertritt von der Grundschule in die höhere Schule zusammenfällt mit dem Eintritt in eine Schule mit Prügelstrafe“; auch erschien ihr die Begrenzung der erlaubten Anlässe für körperliche Strafen nicht ausreichend.326 Die Abteilung war „einmütig“ der Meinung, „daß nur ein allgemeines Verbot der Prügelstrafe den Notstand beheben kann, unter dem die Jugend jetzt leidet“ – zog aber durchaus in Betracht, dass „aus äußeren Gründen ein solches Verbot jetzt nicht zu erreichen sein“ könnte. Tatsächlich führten die ministeriumsinternen Überlegungen, in deren Kontext auch das oben genannte Erkundigen nach den sächsischen Erfahrungen gehört, 1926 noch zu keinem neuen Erlass – sie zeigen jedoch 322 323
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Abg. König, Preußischer Landtag, 198. Sitzung am 6.7.1926, Verhandlungen, 2. Wahlper. 1924/28, 9. Bd., Sp. 13728. Lediglich ein Zentrumsabgeordneter stimmte für den Antrag, drei weitere gaben keine Stimme ab, obwohl sie sich an den unmittelbar davor und danach liegenden Abstimmungen jeweils beteiligten – ein Phänomen, das auch bei anderen Parteien, vor allem der DVP, anzutreffen ist und darauf hindeuten könnte, dass einzelne Abgeordnete anders zum Verbotsantrag standen als die Mehrheit ihrer Fraktion. Vgl. Preußischer Landtag, 200. Sitzung am 7.7.1926, Verhandlungen, 2. Wahlper. 1924–28, 9. Bd., Sp. 13882, 13899–13910. Ministerialrat Landé, Bericht über die Verhandlung im Unterrichtsausschuß des Preußischen Landtags am 28.6.1926 (Abschrift), GStAPK, I. HA Rep. 76, IV Sekt. 1 Gen. Z, Nr. 10, Bd. 9, Bl. 336. Entwurf, 27.7.1926, Bl. 326. Ministerialdirektor Jahnke (Abt. U II) an Abteilung U III, 12.11.1926, GStAPK, I. HA Rep. 76, IV Sekt. 1 Gen. Z, Nr. 10, Bd. 9, Bl. 329.
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schlaglichtartig, dass innerhalb des Kultusministeriums durchaus weitgehende Einschränkungen des Züchtigungsrechts befürwortet wurden und es sogar Stimmen für ein vollständiges Verbot gab, die sich jedoch nicht durchsetzen konnten. Dies dürfte nicht zuletzt an den erwähnten „äußeren Gründen“ gelegen haben, etwa der Ablehnung solcher Vorschriften durch die Parlamentsmehrheit (und durch an der Regierung beteiligte Parteien) oder den befürchteten Reaktionen aus der Lehrerschaft. Dass ein absolutes Verbot „zu strafrechtlichen Folgen führen würde, die für die Lehrerschaft unerträglich sind“, führte zwei Jahre später der Ministerialdirektor Kaestner im Landtag an, um zu erklären, warum der neue Erlass des Kultusministeriums das Züchtigungsrecht nicht vollständig aufhob.327 Stattdessen setzte er erneut auf einen Appell: „Die Berichte der Schulbehörden lassen erkennen, daß ebenso wie in der pädagogischen Theorie in der pädagogischen Praxis die Strafe der körperlichen Züchtigung immer mehr verworfen wird. Ich wünsche, daß diese Strafe entsprechend solcher Einsicht noch mehr zurücktritt und tatsächlich verschwindet.“328 Vor allem aber sprach der Erlass eine ausdrückliche Missbilligung (also kein Verbot, das strafrechtlich hätte bedeutsam werden können329 ) von körperlichen Strafen bei Mädchen, bei Jungen des 1. und 2. Schuljahres und bei schlechten Leistungen aus. Wenn Lehrer diese Schülergruppen bzw. aus diesen Gründen schlugen, sollten sie disziplinarisch bestraft werden. Kritik von allen Seiten
Mit dem Erlass von 1928 war den kontroversen öffentlichen Debatten kein Ende gesetzt, im Gegenteil: Trotz des Verzichts auf ein Verbot lehnten Teile der Lehrerschaft den Erlass ab, weil er ohne Rücksprache mit Lehrervertretern zustande gekommen sei, Rechtsunsicherheiten verschärfe und in der Praxis nicht durchführbare Einschränkungen enthalte.330 Alle beim Kultusministerium eingegangenen Stellungnahmen von Lehrerverbänden und Bezirkslehrerräten kritisierten den Erlass mehr oder weniger deutlich in diesem Sinne.331 Allerdings 327 328
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Preußischer Landtag, 355. Sitzung am 14.3.1928, Verhandlungen, 2. Wahlper. 1924/28, Bd. 17, Sp. 25431. Erlass vom 29.3.1928 U III C Nr. 710, 1. U II. Der nicht im Zentralblatt veröffentlichte Erlass ist beispielsweise abgedruckt in: Zur Frage der körperlichen Züchtigung, in: ADLZ 57 (1928), S. 381. Vgl. hierzu Friebe: Die Strafrechtliche Verantwortlichkeit des Lehrers bei Überschreitung des Züchtigungsrechts, in: ADLZ 57 (1928), S. 673 f. Vgl. Bonolsen: Züchtigungserlaß; D.: Zum Züchtigungserlaß, in: Pädagogische Post 6 (1928), S. 595–596; O. Droege: Juristisches; J.: Der Züchtigungserlaß des Ministers und die Schulpraxis, in: Der Volksschullehrer 22 (1928), S. 445–446. Preußischer Lehrerverein, geschäftsführender Ausschuss an MWKV, 1.9.1928 (Bl. 8); Bezirkslehrerrat Magdeburg (über Regierung Magdeburg) an MWKV, 12.9.1928 (Bl. 13);
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betonten sie größtenteils ihre Zustimmung zum Ziel des Ministers. Lediglich der Vorstand der Preußischen Abteilung des (wenig mitgliederstarken) Verbands Deutscher Evangelischer Lehrer- und Lehrerinnenvereine sah im körperlichen Strafen „weniger ein zu wahrendes Recht als eine auch im Sinne der Heiligen Schrift unter gegebenen Umständen aus Liebe zu erfüllende schwere Pflicht“.332 Bemerkenswert – gerade im Vergleich zu 1920/21 – ist, dass die Bezirksregierungen teilweise die von den Lehrern vorgebrachte Kritik relativierten beziehungsweise ihr ausdrücklich widersprachen, der Erlass also in der Schulaufsicht auf mehr Zustimmung stieß als in der Lehrerschaft.333 Nicht nur Lehrer, auch einzelne Eltern kritisierten die Einschränkungen des Züchtigungsrechts – sei es öffentlich, wie etwa in einem Gehorsam als Erziehungsziel und die Notwendigkeit von Schlägen betonenden Aufsatz,334 oder mit einer direkten Zuschrift an das Kultusministerium, wie in der Postkarte eines Malers, der bat, „den Lehrern mehr Züchtungsrecht [sic] zu gewähren da die Kinder den Erwachsenen Menschen über die Ohren wachsen“.335
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Bezirkslehrerrat Koblenz an Regierung Koblenz, Abt. Kirchen- u. Schulwesen, 10.10.1928 (Bl. 16–18); Bezirks-Lehrerrat Bezirk Merseburg an Reg. Merseburg, Abt. II, 5.11.1928 (Bl. 49); Bezirkslehrerkammer Schleswig-Holstein an MWKV, 9.4.1929 (Bl. 103); Oberlehrerrat Frankfurt a. M.: Beschluss, 29.10.1929 (Abschrift) (Bl. 121), alle in: GStAPK I HA Rep. 76 Nr. 1411. Vorstand d. Preußischen Abteilung des Verbandes deutscher evangelischer Lehrer- und Lehrerinnenvereine an MWKV, 4.5.1927 (Abschrift), GStAPK I HA Rep. 76 Nr. 1411, Bl. 24 f. Dieser 1890 aus einem Zusammenschluss orthodoxer protestantischer Vereine hervorgegangene Verband zählte maximal 4.000 Mitglieder, kann also keinesfalls als repräsentativ für die gesamte protestantische Lehrerschaft gesehen werden (vgl. Bölling: Politik, S. 39 f.) Die Regierung Koblenz bemerkte, sie teile die Kritik des Bezirkslehrerrats „durchaus nicht, halten den Erlass vielmehr für zeitgemäss und wirksam“ (Reg. Koblenz, Abt. f. Kirchenund Schulwesen an MWKV, GStAPK I HA Rep. 76 Nr. 1411, Bl. 16 v.); die Regierung Schleswig bezeichnete die außergewöhnliche Disziplinschwierigkeiten beklagende Kritik des schleswig-holsteinischen Lehrerrats als „nach unserer Kenntnis zu Unrecht“ verallgemeinert und sah keinen Grund für eine Veränderung des Erlasses (die Bezirkslehrerkammer hatte beantragt, diesen zumindest so lange auszusetzen, bis die Klassengröße gesenkt und Sonderklassen für Schwererziehbare eingerichtet seien). Vgl. Regierung Schleswig, Abt. f. Kirchen- u. Schulwesen an KM, 21.5.1929, ebd., Bl. 101. Vgl. für einen Überblick über die von den einzelnen Bezirksregierungen eingegangenen Berichte (von denen mehrere die noch verbreitete Ablehnung in der Lehrerschaft beschrieben und sich einer gegen ein etwaiges Verbot aussprach) den Vermerk v. 15.8.1929, GStAPK 1. HA Rep 76 Nr. 1411, Bl. 110. Einer Mutter Ansicht über das Prügeln und die Zucht in Schule und Haus. Antwort auf „Soll das Kind geschlagen werden?“, in: Elternhaus und Schule [hrsg. ev. Presseverband für die Provinz Schlesien], Nr. 3 v. 17.3.1929, Ausschnitt in: GStAPK I HA Rep. 76 Nr. 1411, Bl. 99 (dort mit handschriftlichem Vermerk „Ein recht bedauerlicher Aufsatz!“). Postkarte B. T. an MWKV, 2.7.1932, GStAPK I HA Rep. 76 Nr. 1411, Bl. 147.
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Mochten die Einschränkungen des Züchtigungsrechts im Erlass von 1928 auch vielen Lehrern bereits zu weitgehend erscheinen – für die Gegner körperlicher Strafen blieben sie weit hinter dem Geforderten zurück. In der öffentlichpolitischen Debatte verstummten Forderungen nach einem vollständigen Verbot körperlicher Strafen nicht, im Gegenteil:336 In Berlin und in Frankfurt sprachen sich 1929 jeweils die Stadtverordnetenversammlungen für ein vollständiges Züchtigungsverbot (sowie für eine Senkung der Klassengrößen) aus, was zwar keine rechtliche Bedeutung hatte, aber öffentliche Aufmerksamkeit auf das Thema zog und den Druck auf das Ministerium erhöhte.337 Auch Organisationen wie Kinderschutzvereine und besonders intensiv der deutsche Zweig der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit setzten sich für ein Verbot körperlicher Strafen ein.338 Kinderschützer hatten schon früher darauf hingewiesen, dass sich Kindesmisshandlungen häufig aus dem Züchtigungsrecht bzw. dessen Überschreitung ergaben. Doch während zu Beginn des Jahrhunderts solche Warnungen durchaus noch mit der Bejahung gemäßigter Körperstrafen einhergehen konnten,339 wurde nun immer häufiger das Problem im Züchtigungsrecht an sich und nicht in der Missachtung seiner Grenzen gesehen – und gefordert, dass die Schule mit einem Züchtigungsverbot vorangehen sollte, um damit „auch in der häuslichen Erziehung die Prügelstrafe
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Vgl. etwa: Oestreich: Prügelverbot; Schulprügel bleiben!, in: Acht-Uhr-Abendblatt Nr. 36 vom 12.2.1931 (Ausschnitt in GStAPK I. HA Rep. 76 Nr. 1411, Bl. 130); Heinz Krauß: Die Prügelpädagogen, in: Die Weltbühne 28,1 (1932), S. 851–853. Vgl. Stadtverordneten-Beschluss Frankfurt a. M., 29.10.1929 (Abschrift), GStAPK I HA Rep. 76 Nr. 1411, Bl. 120; Provinzial-Schulkollegium d. Provinz Brandenburg u. Berlin an MWKV, 15.7.1930, ebd., Bl. 123; Rundschau: Stadtparlament gegen körperliche Züchtigungen, in: Berliner Lehrerzeitung 10 (1929), S. 315. Vgl. Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit, Deutscher Zweig an MWKV, 17.10.1929, Bl. 116; dies., Ortsgruppe Frankfurt/Main an MWKV, 14.8.1930, Bl. 125; dies., Ortsgruppe Breslau an KM, 10.9.1931, Bl. 141, alle in: GStAPK I HA Rep. 76 Nr. 1411. Bereits 1920 hatte die Hauptversammlung der Frauenliga Kultusministerien zu einem Züchtigungsverbot aufgefordert (vgl. Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit, Deutscher Zweig, an MKöU, 19.10.1920, SächsStA-D, 11125, Nr. 13872, Bl. 125). Auch in der verbandsnahen Zeitschrift Die Frau im Staate erschienen mehrfach Artikel, die sich in scharfen Worten gegen Schläge in der Schule wandten (vgl. etwa: Zur Prügelstrafe, 11 (1929), Heft 6/7, S. 22 f.; L. G. Heymann: Höher geht es nimmer, 11 (1929), Heft 9, S. 7 f.). Die aus den Frauenkongressen von Den Haag 1915 und Zürich 1919 hervorgegangene „Women’s International League for Peace and Freedom“ (so der international gebräuchliche Name) kann als die in Bezug auf ihren Pazifismus radikalste der internationalen Frauenorganisationen der Zwischenkriegszeit gelten. Ihre Bedeutung lag eher in der Konsequenz, mit der sie ihre pazifistische Position vertrat, als in den recht niedrigen Mitgliederzahlen (deren genaue Höhe unbekannt ist). Vgl. Rupp: Worlds, S. 26–33, insb. S. 30 f. Vgl. Hagner: Hauslehrer, S. 179 f.; Elder: Maß, S. 304. Zur Ende des 19. Jahrhunderts an Bedeutung gewinnenden Kinderschutzbewegung vgl. Baader: Kindheit der sozialen Bewegungen, S. 162–167.
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in Misskredit“ zu bringen.340 Diese Vorbildfunktion der Schule wurde Ende der 1920er Jahre zunehmend dem umgekehrten Argument vieler Lehrer, solange Kinder Schläge aus dem Elternhaus gewohnt seien, könne die Schule nicht auf sie verzichten, entgegengestellt.341 Eltern sollten durch die Lehrer, in Elternabenden oder Flugblättern von der Schädlichkeit körperlicher Strafen überzeugt werden: „Erzieht Eure Kinder mit Kopf und Herz, mit Güte und Geduld durch Gewaltlosigkeit zur Gewaltlosigkeit, zu gütigen, aufrechten Menschen“, appellierte etwa die Frauenliga in einem Flugblatt.342 Gleichzeitig forderte sie die Eltern auf, es nicht zu dulden, wenn ihre Kinder in der Schule geschlagen würden. Solche Aufrufe und Hinweise zum elterlichen Protest gegen Körperstrafen finden sich in den 1920er Jahren immer häufiger, sie zeigen die wachsende Zahl, aber vor allem auch das zunehmende Selbstbewusstsein der diese Strafart ablehnenden Eltern. So hieß es etwa 1926 in der Berliner Montagspost (einer Sport und Unterhaltung betonenden Montagszeitung des Ullstein-Verlags mit „allgemein demokratisch republikanische[r] Tendenz“343 ), die Eltern müssten „sich endlich entschließen, ihren ganzen Einfluß geltend zu machen, diese Verordnungen, die veraltet sind, abzuschaffen“.344 Dazu empfahl der Artikel Eltern etwa, sich in strittigen Bestrafungsfällen direkt oder über den Elternrat mit dem Lehrer in Verbindung zu setzen und gegebenenfalls Beschwerde beim Provinzialschulkollegium einzulegen – aber auch der Schule Unterstützung in Erziehungsfragen zuzusichern und den Verzicht auf körperliche Schulstrafen durch eigene gewaltfreie Erziehung zu erleichtern. Eine deutlich konfrontativere Haltung gegenüber der Schule lag dem „revolutionären Kampf [. . . ] gegen das Schulprügeln“ zugrunde, den nun vor allem kommunistische Züchtigungsgegner vereinzelt mit ähnlichen Mitteln führten, wie sie bereits für die SPD im Kaiserreich geschildert wurden:345 Sie 340
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Mit diesen Worten wurde bei der Sitzung der Deutschen Zentrale für freie Jugendwohlfahrt am 6.11.1928 ein Vortrag des Stadtrats Hans Muthesius vor dem Berliner Kinderschutzverein zusammengefasst. In ähnlichem Sinne äußerten sich auf der Sitzung ein Vertreter des Hauptausschusses für Arbeiterwohlfahrt und ein Schularzt; die Vertreter des Jugendpflegeausschuss des Lehrerverbands Groß-Berlin und des katholischen Lehrerinnen-Vereins sprachen sich dagegen für die Notwendigkeit körperlicher Strafen als „letztes Mittel für schwierige Kinder“ und somit gegen ein Verbot aus (Protokoll, GStAPK I HA Rep. 76 Nr. 1411, Bl. 28–31). Vgl. etwa Bohner: Züchtigung, S. 1040; Liefmann: Gedanken, S. 344 f.; Neumann: Problem, S. 48; Trebs/Loose: Bemerkungen, S. 232. Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit, Deutscher Zweig: Flugblatt „Mütter, Väter, Lehrer, Erzieher und Kinderfreunde“, in: GStAPK I HA Rep. 76 Nr. 1411, Bl. 76–78. So die Charakterisierung durch Schilling: Erbe, S. 190. Es wird weiter geschlagen, in: Montagspost Nr. 5 vom 1.2.1926. (Ausschnitt in GStAPK I. HA Rep. 76, IV Sekt. 1 Gen. Z, Nr. 10, Bd. 9.). A. B.: Die Schmach der Zeit, in: Die Welt am Abend Nr. 75 v. 30.3.1929 (Ausschnitt in GStAPK I HA Rep. 76 Nr. 1411, Bl. 63); in Frankfurt beklagte ein Lehrer, in einem Vorort sei ein Flugblatt mit dem Titel „Schulgranate“ verteilt worden, „in dem alle Lehrer, die noch vom Züchtigungsrecht Gebrauch machen, in gröblicher Weise angegriffen und die
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sammelten – teils durchaus systematisch – Informationen über Züchtigungsfälle, richteten Beschwerden an Lehrer, Schulleiter und Schulbehörden und prangerten schlagende Lehrer öffentlich an. Nicht nur in der Presse, sondern auch im preußischen Landtag hielten die Debatten um Körperstrafen auch nach dem Erlass von 1928 an. 1930 beantragte die KPD-Fraktion ein Verbot körperlicher Strafen unter Androhung der Entlassung ohne Pensionsansprüche bei mehrfachem Verstoß – und konnte wieder darauf verweisen, dass es seit Anfang des Jahres ein sozialdemokratischer Kultusminister (Adolf Grimme) war, der die alte SPD-Forderung nach einer Abschaffung nicht umsetzte.346 Doch schon eine abgemilderte Version des Verbotsantrags ohne die scharfe Strafandrohung wurde klar abgelehnt – und als im nächsten Jahr der Landtag erneut über das Züchtigungsrecht debattierte, wurde dieses sogar deutlich offensiver verteidigt als in den vorangegangenen Jahren.347 Wenn auch die Züchtigungsgegner in der öffentlichen Debatte lauter denn je zuvor geworden waren, im preußischen Landtag blieben sie klar in der Minderheit.
3.7 Die juristische Bewertung In den vorangegangenen Kapiteln wurde deutlich, wie stark sich die pädagogische Bewertung körperlicher Strafen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gewandelt hatte – und dass dieser Wandel auch Lehrer und Öffentlichkeit beeinflusste. Er führte dazu, dass Schulbehörden körperliche Strafen immer stärker einschränkten oder gar vollständig verboten. Doch bildeten solche behördlichen Vorschriften nur einen Teil der Rechtslage in Bezug auf körperliche Strafen. Wichtig war daneben die strafrechtliche Bewertung durch die Justiz, die darüber zu entscheiden hatte, wann Schläge eines Lehrers als berechtigte Züchtigung oder aber als verbotene Körperverletzung zu gelten hatten. Nun ist es an der Zeit, auch diese Teildebatte näher zu beleuchten: Lässt sich hier in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ebenfalls eine Veränderung in der Bewertung körperlicher Strafen feststellen?
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Schüler aufgefordert werden, jeden Fall körperlicher Züchtigung an einer bestimmten Stelle zu melden, damit ihn die Schulgranate brandmarken kann“ (Gaul: Stellungnahme, S. 43). Abg. Ausländer, Preußischer Landtag, 189. Sitzung am 15.12.1930, Verhandlungen, 3. Wahlperiode, 12. Bd, Sp. 16265 f. Vgl. Preußischer Landtag: 219. Sitzung am 19.3.1931, Verhandlungen, 3. Wahlperiode, 13. Bd., als Beispiel etwa die Aussagen des Abg. Grüter, Sp. 19041.
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Die Begründung des „Züchtigungsrechts“
Wie am Anfang dieser Arbeit erläutert, stellten körperliche Strafen aus strafrechtlicher Sicht eine Körperverletzung dar, die jedoch nicht strafbar war, wenn ein sogenannter Rechtfertigungsgrund vorlag.348 Dass ein solcher Rechtfertigungsgrund in Form eines Züchtigungsrechts für Lehrer existierte, war kaum umstritten – problematisch war aber die Frage, wie sich dieses Züchtigungsrecht juristisch begründen ließ. Das Reichsgericht verzichtete noch weitgehend auf ausführliche Herleitungen, sondern ging davon aus, dass ein solches Recht des Lehrers mehr oder weniger automatisch aus seinem Erziehungsauftrag folge: So urteilte es 1902, dass ein Züchtigungsrecht auch dann bestünde, wenn es in einem Verwaltungsgebiet in keiner Vorschrift geregelt oder explizit erwähnt war, denn: „Die Befugnis eines Lehrers zur Anwendung von Zuchtmitteln einschließlich der körperlichen Züchtigung, welche die von der Schule verfolgten Erziehungszwecke zu ihrer Verwirklichung notwendig erheischen, folgt vielmehr aus dessen Recht und Pflicht zur Erziehung ganz von selbst.“349 Neben dieser vom Reichsgericht vertretenen direkten Ableitung aus dem Erziehungsrecht war insbesondere in der juristischen Literatur eine weitere, verwandte Herleitung verbreitet, die sich in besonders zugespitzter (und viel zitierter) Form bereits in einem Aufsatz aus dem Jahr 1888 findet: Dessen Autor, der ehemalige Landgerichtsrat Karl Joseph Seitz, ging davon aus, das Züchtigungsrecht sei „uralt, wohl so alt, wie das Menschengeschlecht überhaupt, und hat daher von jeher ohne Gesetzgebung bestanden. Schon der erste Lehrer seit Adam wird gezüchtigt und sich dabei wohl berechtigt gefühlt haben; noch lange bevor eine Reichsgesetzgebung oder Regierungsverordnung ihn hierzu autorisieret haben könnten!“.350 Übersetzt in juristische Fachsprache bedeutete diese Begründung durch Tradition für Seitz wie für einige ihm nachfolgende Autoren, dass ein „Gewohnheitsrecht“ Lehrern erlaube, ihre Schüler körperlich zu züchtigen.351 Beide Herleitungsmöglichkeiten – aus dem Erziehungsauftrag und aus 348 349
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Vgl. S. 37 dieser Arbeit. Reichsgericht: Urteil vom 10.4.1902, RGSt, Bd. 35, S. 182. Auch laut dem Urteil vom 1.2.1890 war das Züchtigungsrecht „das selbstverständliche Attribut der Eltern und aller derjenigen Personen [. . . ], denen nach dem Gesetze neben den Eltern oder anstelle derselben ein Erziehungsrecht zusteht, sei es daß dieses Erziehungsrecht, wie das der Lehrherren, im Gesetze eine ausdrückliche Anerkennung gefunden hat oder als selbstverständlicher Ausfluß des gesetzlich geregelten Amtes des Schullehrers sich ergiebt“ (RGSt, Bd. 20, S. 371). Seitz: Züchtigungsrecht, S. 293. Vgl. als Beispiele für spätere zustimmende Verweise auf diese Deutung: Kaufmann: Züchtigungsrecht, S. 50; Kettner: Bedeutung, S. 12 f. Vgl. als weitere Vertreter dieser Position etwa Kaufmann: Züchtigungsrecht, S. 48–50; Hennig: Schulzuchtrecht, S. 40 f.; Janissek: Recht, S. 53. Gewohnheitsrecht lässt sich als das „durch langdauernde Übung in der Überzeugung, damit recht zu handeln, von den Beteiligten geschaffene Recht“ definieren (Tilch: Rechtslexikon, S. 248).
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dem Gewohnheitsrecht – widersprechen sich nicht zwangsläufig, sondern können durchaus ineinander übergehen.352 Vor allem haben sie eine entscheidende Gemeinsamkeit: Hinter beiden steht die Annahme, dass körperliche Strafen selbstverständlicher Teil der Erziehung seien. In einer juristischen Dissertation aus dem Jahr 1918 wurde dies folgendermaßen formuliert: Seit alters her besteht wohl die Rechtsüberzeugung in allen Kulturstaaten der Erde, daß sich Kinder nicht anders als durch Anwendung von Zwangs- und Strafmitteln erziehen lassen, und daß jeder Erzieher deswegen auch berechtigt sein muß, von solchen Gebrauch zu machen. [. . . ] sollte es wirklich Musterkinder gegeben haben, die auch ohne Anwendung von körperlichen Züchtigungen erzogen werden konnten, so möchte ich sehr bezweifeln, daß schon irgendein Lehrer mit einer Erziehung ohne irgendein Zuchtmittel überhaupt Erfolge erzielt hat. Aber solche Musterkinder sind Ausnahmen: in der Regel zeigt der Mensch, seiner Sinnlichkeit folgend, von Jugend auf schlechte Eigenschaften, und diese lassen sich nicht anders bekämpfen, als daß der Lehrer straft.353
Zwar bezieht sich diese Passage ganz allgemein auf alle Schulstrafen, die Rechtsgüter der Kinder beeinträchtigen (also beispielsweise auch das die Freiheit einschränkende „Nachsitzen“ oder einen die Ehre angreifenden Tadel). Allerdings hält der Autor selbst diese Begriffsdefinition nicht konsequent ein, spricht er doch von „ohne Anwendung von körperlichen Züchtigungen“ erziehbaren „Musterkindern“ und bezeichnet dann genau diese „Musterkinder“ als Ausnahmen, um die Notwendigkeit von Strafen im Allgemeinen zu betonen. Schon diese sprachliche Vermischung verrät, dass körperliche Gewalt nicht etwa als qualitativ verschieden von anderen Strafformen, sondern als selbstverständlicher Teil der schulischen „Zuchtmittel“ gedacht wurde. Noch deutlicher bezeichnete 1904 der Berliner Kammergerichtsrat Havenstein körperliche Strafen als die „scheinbar einfachsten und alltäglichsten Erziehungshandlungen des Vaters oder des Lehrers“.354 Für ihn gehörten körperliche Strafen ähnlich wie eine ärztliche Operation oder das gewaltsame Hindern eines Lebensmüden am Selbstmord zu den Handlungen, die „sich nicht gegen den Betroffenen richten, sondern zu seinem Nutzen, zu seinem Schutze, zu seinem Heile geschehen“ – und deshalb gar nicht erst als Körperverletzungen zu sehen seien.355 352
353 354 355
So erwähnte auch das Reichsgericht in einer Entscheidung aus dem Jahr 1898 (RGSt, Bd. 31, S. 271) ein Gewohnheitsrecht, was zumindest einem späteren Kommentator Anlass zu der Annahme gibt, das vom Reichsgericht angenommene Züchtigungsrecht sei auch in anderen Fällen „in Wirklichkeit Gewohnheitsrecht“ (Kaiser: Züchtigungsrecht, S. 79). Andere Autoren zogen dagegen eine deutliche Trennlinie zwischen der direkten Herleitung aus dem Erziehungsauftrag und der gewohnheitsrechtlichen Begründung (vgl. Janissek: Recht, S. 22; Hennig: Schulzuchtrecht, S. 30/40; Kettner: Bedeutung, S. 4). Hennig: Schulzuchtrecht, S. 41. Noch deutlicher formulierte Seitz (Züchtigungsrecht, S. 255), körperliche Strafen würden sich „wohl ewig als eine Naturnotwendigkeit erweisen“. Havenstein: Züchtigungsrecht, S. 242. Ebd., S. 252. Diese Ansicht, dass Körperstrafen durch Lehrer gar nicht erst unter den Straftatbestand der Körperverletzung fielen (die ähnlich auch Alexander Graf zu Dohna vertrat,
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Der hier gezogene Vergleich mit dem ärztlichen Heileingriff ist uns bereits in pädagogischen bzw. Lehrerdebatten des 19. Jahrhunderts begegnet. Im juristischen Diskurs war er ebenso verbreitet – und dort war die Einordnung von Körperstrafen unter den ‚heilenden‘, dem Betroffenen trotz kurzfristigen Schadens langfristig helfenden Maßnahmen selbstverständlich akzeptiert. Dies zeigt sich besonders deutlich, wenn etwa ein eigentlich über die rechtliche Lage des Arztes schreibender Juraprofessor 1909 bei der Erläuterung, dass medizinische Eingriffe keine Körperverletzungen seien, den „Schulmeister“ als Vergleich heranzog: „Er mißhandelt, wenn er den Schuljungen gegen das gesetzlich zulässige Maß körperlich angreift, daher Körperverletzung. Er behandelt erzieherisch, wenn er in den Schranken der Ordnung ihn mit dem Stock auf dem von der Natur dazu bestimmten Körperteil traktiert. Eine Verletzung des Körpers gewiß, aber keine Körperverletzung.“356 Die Grenzen des Züchtigungsrechts
Angesichts der Tatsache, dass die Existenz eines Lehrerzüchtigungsrechts nicht verneint wurde, war dessen Begründung eine eher theoretische Frage der Rechtswissenschaft. Ganz praktisch relevant und von Gerichten immer wieder zu klären war dagegen, wie weit dieses Recht reichte und in welchen Fällen es zum Tragen kam. Die Frage nach den Grenzen des Züchtigungsrechts war dann juristisch einfach zu beantworten, wenn detaillierte Bestimmungen durch Landes- oder Bezirksregierungen oder lokale Schulaufsichtsbehörden erlassen worden waren – denn diese sah das Reichsgericht zunächst auch für die strafrechtliche Bewertung als bindend an: Wenn ein Lehrer gegen eine solche Vorschrift verstieß, indem er beispielsweise ein nicht erlaubtes Werkzeug zum Schlagen benutzte, handelte es sich nicht um eine legale Züchtigung, sondern um eine strafbare Körperverletzung. Problematisch war dabei allerdings die Frage, welche Äußerungen von Schulbehörden als eine solche rechtlich bindende Vorschrift gesehen werden sollten: Anfangs schrieb das Reichsgericht diesen Status noch recht vielen Anordnungen zu und bewertete beispielsweise eine württembergische Ministerialverfügung als bindend, obwohl das Ministerium selbst in einer Note erklärt hatte, dass mit dieser Verordnung keine Änderung der Rechtslage beabsichtigt gewesen sei (was das Reichsgericht jedoch nicht als verbindliche Auslegung vgl. Rechtswidrigkeit, S. 88–90) konnte sich allerdings weder in Rechtsprechung noch -wissenschaft durchsetzen. Die Gegenargumente waren jedoch eher juristisch-formaler Natur und widersprachen nicht der dahinterliegenden Auffassung von Körperstrafen als dem Wohl des Betroffenen dienend (vgl. Kaufmann: Züchtigungsrecht, S. 208). 356 Wilhelm Kahl: Der Arzt im Strafrecht, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 29 (1909), S. 351–371, Zitat S. 469.
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ansah).357 Diese Rechtsprechung stieß allerdings immer wieder auf Kritik in der rechtswissenschaftlichen Literatur, und tatsächlich zog das Reichsgericht im Laufe der Zeit die Grenzen der als strafrechtlich relevant anerkannten Vorschriften immer enger358 – und damit die des Züchtigungsrechts tendenziell weiter. Denn wenn keine im jeweiligen Fall gültigen konkreten schulgesetzlichen Vorschriften zu identifizieren waren, mussten die Grenzen des Züchtigungsrechts, so ein führender Kommentar des Strafgesetzbuchs 1911, „durch vernünftiges Ermessen bestimmt werden“.359 Für diese Ermessensfrage fand die Rechtsprechung verschiedene Formulierungen, die jedoch allesamt eher vage blieben: So seien körperliche Strafen etwa dann legitim, wenn sie dem Zweck der Erziehung, „die körperliche und geistige Entwicklung des Zöglings [zu] fördern“, dienten360 oder solange sie im Rahmen dessen blieben, „was eine maßvolle und vernünftige Schulzucht erfordert und zuläßt“.361 Die durch diese Formulierungen implizierte selbstverständliche Annahme, dass körperliche Strafen grundsätzlich in der Lage seien, die Entwicklung des Zöglings zu fördern, ist bereits aus der juristischen Begründung des Züchtigungsrechts bekannt und daher wenig überraschend. Zumindest aus heutiger Sicht ist jedoch durchaus bemerkenswert, wie weit solche ‚maßvolle und vernünftige‘, dem Erziehungszweck dienliche Bestrafungen aus Sicht der juristischen Literatur gehen konnten: Selbst Ernst Hennig, der in seiner Dissertation 1918 die Grenzen des Züchtigungsrechts theoretisch recht eng definierte, indem er verlangte, dass ein Strafmittel nicht nur dem Erziehungszweck dienlich, sondern für diesen auch notwendig sein müsse, gestand gleichzeitig zu, dass „eine ernsthafte Züchtigung unbedingt Striemen, leichte Blutunterlaufungen, Hautabschürfungen, oder Anschwellungen nach sich zieht“.362 Havenstein ging sogar davon aus, dass, wenn 357 358
359 360 361 362
Vgl. Reichsgericht: Urteil v. 10.12.1891, RGSt, Bd. 22, S. 264–267. So unterschied das RG Anfang des 20. Jahrhunderts zwischen strafrechtlich bindenden Rechtsverordnungen und rein innerdienstlich geltenden Verwaltungsanordnungen, deren Überschreitung nur von der vorgesetzten Behörde bestraft werden konnte (vgl. Frank: Strafgesetzbuch, S. 371 f. (17. Abschn., II.1.), Hennig: Schulzuchtrecht, S. 67–75). Diese Trennung war alles andere als eindeutig, sodass eine juristische Dissertation von 1910 einwandte, angesichts der unklaren Unterscheidungskriterien sei es „richtiger“, alle Verordnungen zu ignorieren, die „nicht ausdrücklich durch Gesetzesvorschrift Gesetzeskraft haben“ (Kaufmann: Züchtigungsrecht, S. 184). Als weitere, frühere Beispiele für Kritik an der Position des RG vgl. Keßler: Reichsgericht; Seitz: Züchtigungsrecht; Dohna: Rechtswidrigkeit. Das RG hielt dennoch bis in die 1940er Jahre grundsätzlich daran fest, dass auch nicht gesetzliche Verwaltungsanordnungen bindend sein konnten, allerdings nur unter ganz bestimmten Bedingungen, beispielsweise wenn sie ausdrücklich als Verbot formuliert seien (vgl. Urteil v. 1.3.1943, in: Deutsches Recht 13 (1943), S. 580 f.). Frank: Strafgesetzbuch, S. 372. Reichsgericht: Urteil v. 14.4.1880, RGSt, Bd. 2, S. 10–15, S. 13. Vgl. Olshausen: Strafgesetzbuch 1901, S. 804. Reichsgericht: Urteil v. 3.3.1887, RGSt, Bd. 9, S. 165–168, hier S. 167. Hennig: Schulzuchtrecht, S. 15. Zur Notwendigkeit als Kriterium vgl. ebd., S. 62–64.
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„eine nachdrückliche Einwirkung auf das Gemüt des Kindes“ notwendig erscheine, dazu auch das Verursachen nachhaltigerer Schmerzen nötig sei. „Sind dazu Stockschläge nötig von solcher Stärke, daß Striemen und geschwollene Stellen entstehen, das Kind einige Zeit nicht sitzen kann und beim Gehen Schmerzen empfindet, so darf darin noch keine verbotene ‚Gesundheitsschädigung‘ oder ‚Körperverletzung‘ erblickt werden.“363 Die am Ende angesprochene Frage der Gesundheitsschädigung ist deshalb besonders relevant, weil gesundheitsschädliche Bestrafungen nicht nur einhellig als mit dem Erziehungszweck unvereinbar gedeutet wurden, sondern auch durch das preußische Allgemeine Landrecht als eine der wenigen Vorschriften, deren Gesetzesrang unstrittig war, verboten waren.364 Aber auch dessen Formulierung, schulische Körperstrafen dürften keinesfalls „der Gesundheit der Kinder auch nur auf entfernte Art schädlich werden“, war keinesfalls eindeutig. Wie unterschiedlich sie ausgelegt werden konnte, wurde bereits bei der Betrachtung verschiedener Einzelfälle deutlich. Dass sie auch nach Ansicht des Reichsgerichts recht brutale Bestrafungen abdecken konnte, zeigt eine Entscheidung aus dem Jahr 1913, in der ein Urteil des Landgerichts Stade bestätigt wurde. Dieses hatte einen Lehrer freigesprochen, der einen Schüler wegen des Nichtbeantwortens von Fragen (was der Lehrer als Trotz bewertete) innerhalb einer Schulstunde mehrfach gezüchtigt und insgesamt ca. 25- bis 30-mal geschlagen hatte. Obwohl das Gericht selbst diese Züchtigung als unangemessen bezeichnete, sah es darin keine Überschreitung des Züchtigungsrechts, denn ein ärztliches Gutachten hatte festgestellt, die Schläge seien nicht geeignet gewesen, die Gesundheit des Schülers zu schädigen.365 Das Reichsgericht stimmte dieser Sichtweise zu: Solange keine Gesundheitsgefährdung vorliege und der Lehrer nur den Zweck der Schulzucht verfolgt habe, sei die Bewertung der Schläge als „außerordentlich streng, höchst unangebracht, ja fast roh und brutal“ strafrechtlich nicht relevant. Denn hierbei gehe es „um Fragen der Erziehungskunst und um die Überwachung und Leitung des Lehrers in diesem Punkte“, und für diese seien allein die Dienstaufsichtsbehörden zuständig, Verfehlungen in dieser Hinsicht könnten also disziplinarisch, nicht aber strafrechtlich geahndet werden. Dass sich Gerichte für Fragen, die sie als rein pädagogische ansahen, nicht zuständig erklärten, ist typisch für die gesamte Zeit bis 1945. Dies bedeutete beispielsweise, dass laut einem Reichsgerichtsurteil von 1883 ein Lehrer, der zwar nicht die landesrechtlichen Grenzen bezüglich der Art der Züchtigung überschritt, „aber in seinem Urteile darüber, ob ein Anlaß zur Züchtigung überhaupt oder in dem angewendeten Maße vorlag, fehlgegriffen hat, nur im Disziplinarwege zur Verantwortung gezogen werden“ solle. Begründet wurde dies damit, 363 364 365
Havenstein: Züchtigungsrecht, S. 257. § 50 PrALR II, 12. Reichsgericht: Urteil vom 24.1.1913, Az. 5 D 1204, zitiert nach Beetz: Führer, S. 427–428.
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dass „diese Fragen nur von den Schulorganen entschieden werden können“.366 Auch der sächsische Generalstaatsanwalt (und Mitarbeiter am Reichsstrafgesetzbuch) Friedrich Oskar von Schwarze wies darauf hin, „daß die Frage, ob in pädagogischer Beziehung die Züchtigung durch den Vorgang gerechtfertigt werde, nicht zur Cognition der Justizbehörde gehöret“. Er empfahl Richtern zwar, „aus eigener Erfahrung und Anschauung“ zu entscheiden, im Zweifelsfall aber „das Gutachten der Schulbehörde einzuholen oder der Versicherung des Lehrers Glauben zu schenken“.367 In juristischer Literatur und Rechtsprechung dominierte bis in den Zweiten Weltkrieg hinein die Ansicht, dass die Frage, ob in der jeweiligen Situation körperliche Strafen angemessen seien, im Ermessen des Lehrers liege und als pädagogische Frage nicht strafrechtlich relevant sei, sodass Strafgerichte „sich daher auf eine Erörterung dieser Fragen nicht einlassen“ dürften.368 Die ausbleibende Rezeption veränderter pädagogischer Ideen
Die von Gerichten bei der Beurteilung einzelner Fälle gezeigte Abneigung, pädagogische Erwägungen aufzugreifen, lässt sich auf den gesamten juristischen Diskurs zu körperlichen Strafen übertragen. Dass in den obigen Schilderungen zu Begründung und Umfang des Züchtigungsrechts Beispiele aus den 1880er, 1910er und sogar 1940er Jahren nebeneinander zitiert werden konnten, zeigt, wie wenig sich die grundsätzliche juristische Bewertung von körperlichen Strafen in diesen Jahrzehnten veränderte.369 Just in den ersten Jahren des „Jahrhunderts des Kindes“, als (Reform-)Pädagogen ihre vollständige Ablehnung körperlicher Strafen formulierten, diskutierten Juristen darüber, ob die körperliche Züch366 367 368
369
Reichsgericht: Urteil v. 18.12.1883, RGSt, Bd. 9, S. 303. Schwarze: Das Züchtigungsrecht des Lehrers und das Strafgesetzbuch, in: Der Gerichtssaal 29 (1878), S. 597–618, hier S. 605. Oppenhoff/Delius: Strafgesetzbuch, S. 528. Vgl. auch Kaufmann: Züchtigungsrecht, S. 165. Beispiele für die Entscheidungen des Reichsgerichts: Urteil v. 24.11.1881, RGSt, Bd. 5, S. 193–199, hier S. 198; Urteil v. 18.12.1883, RGSt, Bd. 9, S. 302, Urteil v. 1.3.1943, in: Deutsches Recht 13 (1943), S. 581. Allerdings hob im zuletzt genannten Fall das RG ein Urteil der Vorinstanz auf, die gerade im nicht ausreichenden Anlass einen Verstoß gegen die gültige Verordnung und somit Grund für die Strafbarkeit sah – niedere Instanzen teilten also nicht zwangsläufig die Zurückhaltung des RGs in ‚pädagogischen‘ Fragen. Auch für den Frank’schen Kommentar lag die Beurteilung, ob ein ausreichender Anlass für eine Körperstrafe gegeben sei, „in entsprechender Weise“ zu der nach den Grenzen des Rechts durchaus in Händen des Gerichts (vgl. Frank: Strafgesetzbuch, S. 372). Dies zeigt sich auch beim Vergleich verschiedener Auflagen des gleichen Strafgesetzbuchkommentars: So unterscheiden sich etwa die relevanten Stellen des Frank’schen Kommentars in der 8.–10. Auflage von 1911 (S. 371 f.) und der 16. Auflage von 1925 (S. 443 f.) nur unwesentlich voneinander.
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tigung den Tatbestand der Körperverletzung überhaupt erfülle. Noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zeigt sich hinter den juristischen Äußerungen zum Thema ein Bild von körperlichen Strafen als einem notwendigen und heilsamen Erziehungsmittel, wie es in den 1870er und 1880er Jahren auch unter Pädagogen und Lehrern dominiert hatte. Während sich dieses Bild aber in Pädagogik, Lehrerschaft und zumindest Teilen der Öffentlichkeit in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts grundlegend wandelte, blieb es im juristischen Diskurs erstaunlich stabil. Dass Rechtswissenschaft und Rechtsprechung vor dem Zweiten Weltkrieg relativ abgeschlossen gegenüber pädagogischen Einflüssen waren, verdeutlichen juristische Dissertationen zum Züchtigungsrecht des Lehrers: Diese gingen typischerweise zwar auch auf außerjuristische Aspekte ein, indem sie neben der Entwicklung und Definition des Begriffs „Züchtigung“ einführend auch die Geschichte von Erziehungsstrafen seit der Antike oder gar der biblischen Zeit darstellten.370 Die pädagogischen Entwicklungen der vorangegangenen Jahrzehnte oder die Argumente einzelner Pädagogen wurden dabei aber, wenn überhaupt, nur sehr knapp erwähnt.371 Lediglich Josef Kaufmann vermerkte in seiner 1910 erschienenen Dissertation: „In der pädagogischen Literatur gewinnen die Gegner der Prügelpädagogik immer mehr die Oberhand über deren Anhänger“ – und verwies dabei insbesondere auf Friedrich Wilhelm Foerster und auf das Beispiel eines sich gegen Körperstrafen aussprechenden bernischen Erziehungsdirektors.372 Doch seien solche theoretischen Anschauungen „rechtlich belanglos“, sie könnten nichts am Gewohnheitsrecht des Lehrers ändern. Denn dieses habe „seine Wurzeln in der Rechtsüberzeugung des ganzen Volkes, in der gewohnheitsmäßigen konstanten Übung und Sitte. Die gegenteilige pädagogische Doktrin vermag gegen sie noch lange nicht aufzukommen.“373 Aus der gleichen Überlegung sprach er sich gegen ein gesetzliches Verbot körperlicher Strafen aus: Der Gesetzgeber müsse auf die bisher übliche Praxis Rücksicht nehmen und könne nur durch zunehmende Einschränkungen eine allmähliche Änderung dieser Praxis herbeiführen. Ein Verbot sei erst denkbar, wenn eine 370 371
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373
Vgl. Janissek: Recht, S. 1–7; Kaufmann: Züchtigungsrecht, S. 1–9; Hennig: Schulzuchtrecht, S. 5–12. Beispielhaft für dieses Phänomen kann das Literaturverzeichnis in Hennig: Schulzuchtrecht (S. XI), stehen: Hier werden in der Kategorie „Kulturhistorische und pädagogische Literatur“ insgesamt sechs Titel genannt, von denen fünf rein historisch-rückblickenden Charakter haben. Das sechste Werk (Kiefer: Körperliche Züchtigung) kann zwar als Beitrag zur zeitgenössischen pädagogischen Debatte gesehen werden, Hennig zitiert aber nur dessen historische Abschnitte. Kaufmann: Züchtigungsrecht, S. 121 f. Kaufmann lebte und promovierte zwar in Zürich, kann aber dennoch als Teil der deutschen juristischen Debatte gesehen werden, da sich seine Arbeit mit den deutschen rechtlichen Gegebenheiten befasste (und in einem Stuttgarter Verlag erschien). Ebd., S. 122.
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neue Lehrergeneration im Geist einer Erziehung ohne körperliche Gewalt ausgebildet worden sei. Hier wird deutlich, warum sich die juristische Bewertung körperlicher Strafen so wenig von den immer lauter werdenden Gegenstimmen beeinflussen ließ: Als entscheidender Maßstab für die Frage, ob körperliche Strafen notwendig seien, galten eben nicht die Ansichten pädagogischer (oder psychologischer, medizinischer und anderer) Experten, sondern in erster Linie die von Kaufmann genannte „gewohnheitsmäßig[e] konstant[e] Übung und Sitte“. Diese änderte sich naturgemäß langsam und war zudem schwer objektiv zu fassen, sodass es für Juristen nahelag, auf Alltagserfahrungen, möglicherweise auch Erinnerungen an die eigene Kindheit, zurückzugreifen. So kann Alfons Janisseks lapidare Begründung der Notwendigkeit körperlicher Strafen durchaus als typisch gelten: „Die Erfahrung lehrt, daß da [in der Schule, S. H.] nicht immer mit liebevoller Behandlung auszukommen, daß vielmehr oftmals eine zwangsweise Einwirkung, als deren strengste sich die körperliche Züchtigung darstellt, angebracht ist.“374 Es waren jedoch nicht nur die pädagogischen und Lehrerdebatten, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts wandelten. In den 1920er Jahren gab es zudem erstmals seit Gelten des Strafgesetzbuchs in einigen Ländern, allen voran Sachsen, gesetzliche Bestimmungen, die körperliche Schulstrafen insgesamt verbaten. Wie reagierten Juristen auf diese neuartige Situation, in der die Rechtslage im Widerspruch zu ihrer bisherigen Wahrnehmung von „Übung und Sitte“ und erzieherischer Notwendigkeit stand? Diese Frage wurde in Sachsen 1926 in einem besonders aufsehenerregenden Gerichtsfall akut: Ein Lehrer hatte im Sportunterricht zwei Schülern, die seinen Anweisungen keine Folge geleistet hatten, zwei Stockschläge auf die Hand bzw. eine Ohrfeige gegeben. Da das in Sachsen gültige Verbot körperlicher Schulstrafen ein gesetzliches war, konnte der Lehrer sich nicht auf ein Züchtigungsrecht berufen und diese Handlung wäre nach der bisher üblichen Rechtsprechung als Körperverletzung strafbar gewesen. Das Landgericht ging jedoch davon aus, die Jungen hätten „sich in ungehöriger, frecher Weise gegen die Anordnungen des Lehrers aufgelehnt und dabei durch die Art ihres Verhaltens zu erkennen gegeben, daß sie ihren Lehrer bei den Mitschülern lächerlich machen und ihn verhöhnen wollten.“375 Dies sei ein Angriff auf die Ehre des Lehrers gewesen – und diesen Angriff abzuwehren, falle deshalb unter dessen Recht auf Notwehr. Die Schläge seien dabei ein angemessenes und notwendiges Mittel gewesen, „denn es war anzunehmen, daß eine andere Art der Abwehr bei den beiden frechen Jungen doch nichts nützen würde“. Das sächsische Oberlandesgericht bestätigte diese Sichtweise. Dieses Urteil war bemerkenswert, denn zuvor war bei der rechtlichen Bewertung 374 375
Janissek: Recht, S. 1. Zitiert nach P[eter] P[eetz]: Verletzung der Ehre des Lehrers war 1927 noch ein erlaubter Grund zur Züchtigung, in: Wirtschaft und Recht (Beilage zur ADLZ) 5 (1955), S. 53.
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von körperlichen Schulstrafen die Möglichkeit der Notwehr nicht in Betracht gezogen worden – schon gar nicht für einen derart passiven „Angriff “. So lag der Vorwurf durchaus nahe, dass die „Notwehr in dieses Urteil hineinkonstruiert“ worden sei und bei der Entscheidung nicht allein die Gesetzeslage, sondern „in erster Linie das Gefühl der Richter mitgesprochen“ habe – so formulierte es etwa ein SPD-Abgeordneter in der Landtagsdebatte, die auf eine Anfrage der das Urteil scharf angreifenden KPD-Fraktion folgte.376 Dieser Eindruck konnte auch bei einem Reichsgerichtsurteil aus dem folgenden Jahr entstehen: Dort ging es um einen sächsischen Fall aus dem Jahr 1924, bei dem ein Zeichenlehrer einem Jungen, der ihn mehrmals mit Brotkrumen beworfen hatte, zwei Ohrfeigen gegeben hatte. Das Landgericht hatte ihn wegen Körperverletzung im Amt zu einer Geldstrafe verurteilt, das Reichsgericht hob das Urteil jedoch auf, da zu prüfen sei, ob der Lehrer davon ausgehen konnte, dass der Vater des Schülers ihm sein elterliches Züchtigungsrecht übertragen wolle. Eine solche Übertragung des elterlichen Züchtigungsrechts auf den Lehrer sei grundsätzlich möglich und könne durch das sächsische Schulbedarfsgesetz nicht verboten werden.377 Auch diese Konstruktion war vor dem Züchtigungsverbot noch nicht angewendet worden und zumindest für spätere juristische Kommentatoren stand fest, dass sich das Reichsgericht hier „seltsamer und der Justiz unwürdiger Umwege bedienen“ musste, um eine aus seiner Sicht nicht wünschenswerte Verurteilung zu verhindern.378 Dass Gerichte zurückhaltend bei der Verurteilung gegen das Verbot verstoßender Lehrer waren, zeigen auch die sächsischen Fälle, die der Jurist Heinrich Schott in seiner Dissertation zusammenstellte (ohne damit Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben): Von 27 Prozessen aus den Jahren 1925–28 endeten (teilweise erst nach Berufung) 17 mit Freispruch und 10 mit Verurteilung zu Geldstrafen, die mit meist zwischen 3 und 50 Reichsmark eher niedrig ausfielen.379 Diese Zahlen und vor allem die Begründungen der Urteile von 1926 und 1927 zeigen, dass es auch in den 1920er Jahren Juristen mehrheitlich ablehnten, maßvolle Erziehungsschläge als Körperverletzung zu werten – und dass somit die
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379
Sächsischer Landtag, 167. Sitzung am 4.2.1926, Verhandlungen, Wahlperiode 1922/26, Bd. 6, S. 5721–5754 (Zitat: Abg. Kautzsch, S. 5727). Urteil v. 8.2.1927, RGSt, Bd. 61, S. 191. Mayer: Züchtigungsrecht, S. 471. Dabei ist zu beachten, dass Mayer die Entscheidung des RG grundsätzlich befürwortet, denn sie sei notwendig gewesen, „um dies Verbotsgesetz zu umgehen und dem Lehrer wenigstens eine Gegenwirkung gegen unmittelbare körperliche Angriffe zu ermöglichen“ (ebd.). Ähnlich auch Redelberger: Züchtigungsrecht (1955), S. 1306, und Friebe: Züchtigungsrecht, S. 694. Vgl. Schott, Züchtigungshandlungen, S. 107 und S. 10–36. Nur bei einem Lehrer, der in drei Fällen verurteilt wurde, weil er Schüler mit einem Rohrstock geschlagen, mit der Hand in die Seite gestoßen und ins Genick geschlagen hatte, lag die Geldstrafe mit insgesamt 175 RM höher (S. 32).
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Ablehnung körperlicher Strafen auch dann kaum Einfluss auf den juristischen Diskurs hatte, als sie begann, sich in Politik, Schulbehörden und auch Lehrervertretungen durchzusetzen. Das heißt nicht, dass die Rechtswissenschaft keine zeitgenössischen Debatten zum Züchtigungsrecht aufgriff, sie tat dies jedoch sehr selektiv: Wenn ein Kommentator das Urteil lobte, da es beweise, „daß die restlose Beseitigung der Prügelstrafe in der Schule sich in der Praxis nicht durchführen läßt, wenn man den Lehrer nicht völlig wehrlos machen will gegenüber der mehr und mehr verrohenden Schuljugend“, spiegelt das einerseits die zeittypischen Klagen über eine zunehmend problematische Jugend. Gleichzeitig übernahm der Autor Wortwahl und Argumentation der Züchtigungsbefürworter unter den Lehrern, wenn er fortfuhr, ein Lehrer könne „Roheiten, die sich gegen seine Person richten, [. . . ] doch nicht wehrlos preisgegeben sein“.380 Schutz des Kindes oder Schutz des Lehrers?
Die sächsischen Urteile von 1926 und 1927 zeigen eine Tendenz, den Rechten und Interessen des Lehrers einen hohen Wert beizumessen: Ihm wurde zugestanden, seine „Ehre“ zu verteidigen, auch wenn dies die körperliche Unversehrtheit des Schülers verletzte. Zudem sah es, so der das Urteil gegen seine Kritiker verteidigende Justizminister, das Gericht als seine Aufgabe zu verhindern, dass „ein Lehrer, der sonst tadellos in seiner Führung gewesen ist, auf Grund des vorliegenden Falles sein ganzes Leben lang mit dem Makel einer Verurteilung aus § 340 StGB [. . . ] belastet sein sollte.“381 Bereits in den 1880er Jahren hatten Juristen gefordert, dass Lehrer vor der „Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung selbst wegen gutgläubiger Pflichterfüllung“382 zu schützen seien, und es als Missstand beschrieben, wenn „das Criminalverfahren mit dem ganzen modernen Lärmapparat der öffentlichen Verhandlung und des Reporterunwesens in die alltäglichen Interna der Schule“ eindringe.383 Quasi institutionalisiert wurde diese Rücksichtnahme auf Lehrer und Schulfrieden, wenn Justizministerien die Staatsanwaltschaften anwiesen, im Fall von Anklagen gegen Lehrer zwar durchaus gründlich, aber diskret, unter Rücksprache mit den Schulbehörden und, solange irgend möglich, ohne direkte Befragung von Schulkindern durch Polizisten zu ermitteln.384 380 381 382 383 384
V. Lilienthal: Anmerkung zum Urteil des OLG Dresden vom 4.1.1926, in: Juristische Wochenschrift 55 (1926), S. 1477. Sächsischer Landtag, 167. Sitzung am 4.2.1926, Verhandlungen, Wahlperiode 1922/26, Bd. 6, S. 5721–5754, hier: Min. Bünger, S. 5730. Seitz: Züchtigungsrecht, S. 272. Keßler: Reichsgericht, S. 163. So für Bayern: Entschließung des Kgl. Staatsministeriums der Justiz vom 3. Dezember 1899, zitiert nach Bezold: Züchtigungsrecht, S. 107–109. Für Preußen: Behandlung der
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Trotz aller Rücksichtnahme auf die Interessen des Lehrers erkannte zumindest die Mehrheit der Juristen auch die Rechte des Kindes als zu schützend an. Bereits 1877 betonte ein juristischer Kommentator das Recht, „das jeder Mensch, auch der unmündige, auf Gesundheit, Integrität seines Körpers u. dgl. hat“385 , und ein gutes Jahrzehnt später warf der Reichsgerichtsrat Melchior Stenglein einem Kritiker der engen Züchtigungsrechtsauslegung des Reichsgerichts vor, „Kinder als rechtlich indifferente Gegenstände zu betrachten“.386 Eine nicht eindeutig durch ein von Schulbehörden verliehenes Züchtigungsrecht gedeckte Körperstrafe müsse als Eingriff in die Rechte anderer strafrechtlich (und eben nicht nur disziplinarisch) verfolgt werden. Auch Kaufmann wies 1910 die noch „vereinzelt“ anzutreffende „alte Auffassung, das Kind sei gar nicht Träger von Rechtsgütern“, zurück: „Das Kind hat prinzipiell den vollen Anspruch auf Schutz aller seiner Rechtsgüter und Lebensinteressen, insbesondere der Ehre, der Freiheit und der Gesundheit.“387 Ernst Hennig sprach 1918 von einer „Interessenskollision“: Zwar sei das Interesse des Kinds an seiner körperlichen Integrität, Freiheit und Ehre durch das Strafgesetz geschützt, „andererseits hat der Staat aber das Interesse, daß das Kind zu einem sittlichen Menschen und brauchbaren Bürger erzogen wird, und kann dieses Interesse mit den erforderlichen Zwangsmitteln durchsetzen“.388 Dieses hier anklingende Interesse der Allgemeinheit wurde in den 1910er und 1920er Jahren zu einem immer wichtigeren Faktor in der Debatte um das Züchtigungsrecht. So gewann in dieser Zeit die Auffassung an Boden, dass nicht nur Eltern oder Lehrer, sondern auch Dritte, die ein fremdes Kind bei einem Fehlverhalten ertappten bzw. von diesem belästigt wurden, ein Züchtigungsrecht hätten.389 „Das ausschließliche Recht der Eltern auf Züchtigung muß zurücktreten gegen das Recht der Allgemeinheit auf Zucht und Ordnung“, hieß
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Strafanzeigen gegen Lehrer wegen Überschreitung des Züchtigungsrechts, 21.9.1907, in: Zentralblatt 49 (1907), S. 864 f. Ähnlich auch: Oberstaatsanwalt Frankfurt an Erste Staatsanwälte d. Bezirks, 23.9.1904 (Abschrift), HHStAW 405, 12903, Bl. 163. R. K.: Zur Frage der Schulstrafe der körperlichen Züchtigung, in: Württembergisches Gerichtsblatt 13 (1877), S. 419–430, hier S. 420. [Melchior] Stenglein: Das Reichsgericht und das Züchtigungsrecht der Lehrer, in: Der Gerichtsaal 42 (1889), S. 1–34, Zitat S. 30. Kaufmann: Züchtigungsrecht, S. 19 f. Hennig: Schulzuchtrecht, S. 23. Am deutlichsten lässt sich diese Entwicklung anhand der verschiedenen Auflagen des Olshausen’schen Strafgesetzbuchkommentars erkennen: Dieser lehnte 1906 ein generelles Züchtigungsrecht Erwachsener ab, obwohl dieses „nicht selten [. . . ] behauptet“ werde (7. Aufl., S. 832). 1916 verneinte er ohne weitere Erklärung die Existenz dieses Rechts (10. Aufl., S. 864). In der nächsten (von Karl Lorenz neu bearbeiteten) Auflage von 1927 hieß es jedoch, die Frage sei „streitig“: Nach der durch den Krieg verursachten „Verwilderung der Jugend“ sei „in wachsendem Maße“ ein solches Recht anerkannt worden; dagegen spreche jedoch, dass das Züchtigungsrecht so eng mit dem Erziehungsrecht verbunden sei, „daß es nur von dem für die Erziehung verantwortlichen Berechtigten ausgeübt werden kann“ (11. Aufl., S. 1015).
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es beispielsweise 1913 in der Zeitschrift Das Recht.390 Die Rechte des Kindes dagegen wurden als Faktor in dieser Abwägung gar nicht erst angesprochen. Sace Elder weist bei ihrer Analyse dieser Debatten zum Züchtigungsrecht Dritter darauf hin, dass dieses „Recht der Allgemeinheit“ nicht nur das alleinige Züchtigungsrecht der Eltern, sondern auch das Gewaltmonopol des Staats infrage stellte und sich gemeinsam mit zur gleichen Zeit geäußerten Forderungen nach Wiedereinführung körperlicher Kriminalstrafen als Tendenzen einer „Entprivatisierung“ von Gewalt deuten lässt.391 Für diese Arbeit ist jedoch ein anderer Aspekt der Begründungen für das „Züchtigungsrecht Dritter“ relevant: Sie beruhten wieder einmal auf der Annahme, dass eine unmittelbare körperliche Bestrafung nicht nur die richtige, sondern sogar die notwendige Reaktion auf kindliche Ungezogenheiten sei. So begründete das Oberlandesgericht Hamm 1922 seine (dem Reichsgericht widersprechende) Annahme eines Züchtigungsrechts damit, dass „ein seiner Erziehungspflicht bewußter Vater“ damit einverstanden sein müsse, dass eine von seinem Kind belästigte dritte Person „in seiner Vertretung die gebotene sofortige Züchtigung in den gehörigen Grenzen ausübt“.392 Hier wird deutlich, dass die Auffassung, körperliche Strafen seien in bestimmten Situationen als Teil der Erziehungspflicht „geboten“, auch in den 1920er Jahren in juristischen Entscheidungen als selbstverständlich und nicht diskussionswürdig vorausgesetzt werden konnte.393 Insgesamt lassen sich für den juristischen Diskurs einige von 1870 bis in die 1930er Jahre weitgehend unveränderte Charakteristika festhalten: Juristen lehnten es ab, über (vermeintlich) rein pädagogische Fragen zu entscheiden, also im konkreten Einzelfall etwa darüber, ob die vom Lehrer gewählte körperliche Bestrafung angemessen war. Auf einer grundsätzlicheren Ebene führte diese Distanz zum pädagogischen Diskurs dazu, dass Juristen mit bemerkenswerter Konstanz einem aus „Sitte“, Tradition und Alltagserfahrung hergeleitetem Erziehungsverständnis folgten, demzufolge körperliche Strafen angemessener, grundsätzlich notwendiger Teil der Erziehung seien – dass dies im Grunde selbst eine pädagogische Positionierung darstellte, wurde dabei nicht reflektiert. Körperstrafen konnten somit als im langfristigen Interesse des Kindes selbst liegend 390 391 392 393
Buchmann: Züchtigung fremder Kinder, in: Das Recht 17 (1913), S. 61. Vgl. Elder: Right, S. 57, zur „deprivatization of violence“: S. 72–75. OLG Hamm: Urteil v. 4.11.1922, in: Preußisches Volksschularchiv 21 (1922), S. 142–143, Zitat S. 143. Dieser Befund ist vor allem im Kontrast zur pädagogischen Perspektive auf die gleiche Frage bemerkenswert: So argumentierte der Pädagoge Erich Lehmensick, dass Körperstrafen eben nicht mehr selbstverständlich als das einzig angemessene Erziehungsmittel gesehen werden könnten, sodass der Erziehungsberechtigte „geradezu einen Rechtsanspruch darauf [. . . ], daß er von Fremden in seinem Erziehungsgeschäfte nicht gestört werde“, habe. (Ernst Nemnich/Erich Lehmensick: Züchtigungsrecht an einem fremden Kinde?, in: Die Erziehung 6 (1931), S. 714–720, Zitat S. 718).
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gedeutet werden. Vor diesem Hintergrund wurden die Rechte des Kindes auf Schutz seiner körperlichen Unversehrtheit und seiner Ehre durchaus anerkannt, traten aber hinter dem staatlichen bzw. gesellschaftlichen Erziehungsinteresse und den Interessen des Lehrers zurück.
3.8 Soziale Praxis 3.8.1 Neue Quellen, gewohntes Bild?
Für das 20. Jahrhundert gibt es zumindest für die preußischen Gebiete im Vergleich zu den Vorjahren neuartige Quellen, die den Einblick in den schulischen Alltag erleichtern: Schließlich verpflichtete der preußische Ministerialerlass von 1900 Lehrer, alle körperlichen Bestrafungen in einem „Strafbuch“ zu dokumentieren. Diese Strafbücher sind für einige Schulen erhalten – allerdings sind sie sehr unzuverlässige Quellen: Die vom Lehrer selbst geführten Bücher wurden zwar regelmäßig vom Ortsschulinspektor kontrolliert. Da dieser aber normalerweise nicht dem Unterricht beiwohnte und somit von Züchtigungen (solange sie nicht Anlass zu Beschwerden waren) nichts erfuhr, konnte er kaum nachprüfen, ob die Eintragungen vollständig bzw. wahrheitsgemäß waren. Für Lehrer war es also leicht möglich, die von ihnen vorgenommenen Strafen nur unvollständig zu dokumentieren – sei es aus Nachlässigkeit oder bewusst, um dem Ruf übermäßigen Schlagens und möglichen unangenehmen Nachfragen der Vorgesetzten zu entgehen. Tatsächlich gibt es Beispiele dafür, dass Lehrer erwiesenermaßen Straflisten bewusst oder versehentlich verfälschten: So wies beispielsweise 1907 ein Ortsschulinspektor bei der Untersuchung eines Züchtigungsfalls darauf hin, dass der entsprechende Eintrag im Strafverzeichnis drei Tage nach der Bestrafung noch gefehlt hatte und erst im Nachhinein hinzugefügt worden war.394 Dem gleichen Lehrer wurde im Abstand von einigen Jahren noch zweimal eine sehr unvollständige Führung des Strafbuchs vorgeworfen. Auffällig ist seine Rechtfertigung gegenüber der letzten entsprechenden Anschuldigung: Der Lehrer gab offen zu, nicht alle Strafen eingetragen zu haben, aus „Furcht, ich würde nach Ansicht der Behörde zu viel strafen und deshalb zur Rechenschaft gezogen werden“.395 Das Strafen tatsächlich einzuschränken sei dagegen, zumindest in seiner oberen Knabenklasse, nicht möglich, ohne Erziehung und Unterricht zu gefährden. Deshalb 394 395
Ortsschulinspektor Müller an Kreisschulinspektion Marxheim, 25.6.1907, HHStAW 405, 18288. Lehrer Sturm an Regierung Wiesbaden, 10.2.1917, HHStAW 405, 18288. Dort auch das folgende Zitat.
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verführen seiner Wahrnehmung nach die Lehrer „allgemein in der von mir angegebenen Weise“. Die letzte Aussage ist natürlich mit Vorsicht zu genießen, war der Lehrer doch sehr interessiert daran, seine Verfehlung als allgemein üblich zu entschuldigen. Trotzdem kann man mit hoher Wahrscheinlichkeit annehmen, dass seine großzügige Handhabung der Dokumentationspflicht kein Einzelfall war.396 Schon die Strafbücher selbst legen diesen Verdacht nahe, zeigen sie doch auffällige Lücken und zum Teil starke Schwankungen in der Zahl der erfassten Fälle, für die eine teilweise unvollständige Dokumentation durch die Lehrer die wahrscheinlichste Erklärung ist. Da somit quantitative, verschiedene Schulen oder Regionen vergleichende Aussagen ohnehin kaum valide sein könnten, verzichtet diese Arbeit auf eine systematische Auswertung von Strafbüchern verschiedener Bezirke, die aufgrund der verstreuten, oft bruchstückhaften Überlieferung von Volksschularchiven mit erheblichem Aufwand verbunden wäre. Stattdessen soll eine Stichprobe von sechs Schulen im Taunus untersucht werden.397 Sie kann trotz aller genannten Einschränkungen einige gewinnbringende beispielhafte Einblicke in den Schulalltag bieten: Da es sehr unwahrscheinlich ist, dass ein Lehrer eine Bestrafung in die Liste eintrug, die in Wahrheit nicht stattgefunden hatte, liefern die Bücher zumindest eine gesicherte Mindestanzahl. Vor allem zeigt die geforderte Angabe der Züchtigungsanlässe, welche Gründe aus Sicht des Lehrers eine körperliche Bestrafung rechtfertigten. Hier ergibt sich bei allen untersuchten Beispielen ein deutliches Bild: Der am häufigsten genannte einzelne Anlass war stets Faulheit (in Blessenbach erfolgte 1903 und 1904 mindestens die Hälfte aller körperlichen Strafen deswegen; in Langenbach waren es 1910 sogar alle 13 verzeichneten Strafen).398 Somit bestätigen die Strafbücher, was bereits anhand der Einzelfälle aus dem 19. Jahrhundert festgestellt wurde: In der Praxis waren körperliche Züchtigungen meist eben nicht eine Ausnahmestrafe für besonders schwere Vergehen, sondern wurden meist in Routinesituationen des Unterrichts angewandt, die den Lehrern höchstens aufgrund ihrer häufigen Wiederholung als schwerwiegend erschienen. Genau dies wurde nun allerdings zum Teil auch 396
397
398
Vgl. auch die Aussage eines in der „Pädagogischen Zeitung“ abgedruckten Artikels des Berliner Tageblatts: „Na, wenn das Buch als Urkunde gälte, so würden wohl nie so viel Urkundenfälschungen auf engem Raum vorgenommen werden wie in diesem ‚Buch der Hiebe‘.“ (Der ‚gelbe Onkel‘ als Erzieher, in: Pädagogische Zeitung 36 (1907), S. 530). Es handelt sich um die später in der Gesamtschule Weilmünster (heute Landkreis LimburgWeilburg) aufgegangenen Volksschulen Altenkirchen (HHStAW 814/3, 9), Blessenbach (HHStAW 814/3, 23), Langenbach (HHStAW 814/3, 46) und Weilmünster (HHStAW, 814/3, 71) sowie die Volksschulen in Görsroth (HHStAW 360/170, 108) und Rückershausen (HHStAW 1247, 33) im heutigen Rheingau-Taunus-Kreis. Vgl. HHStAW 814/3, 46 und HHStAW 814/3, 23. In Altenkirchen wurden in den Jahren 1900 bis 1903 ca. 36 % der Körperstrafen mit „Faulheit“ begründet, ca. 16 % mit „Unaufmerksamkeit“ und weitere 12 % mit schlecht angefertigten Aufgaben oder schlechtem Lesen (eigene Zählung/Berechnung anhand von HHStAW 814/3, 9).
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von Lehrern selbst kritisiert,399 während andere Lehrer den Vorwurf genauso vehement zurückwiesen. Angesichts dieser Kritik ist es bemerkenswert, dass sich nur in einer Schule eine Verschiebung der Züchtigungsanlässe im Laufe der Zeit zeigt: Während in Rückershausen im Untertaunus im Zeitraum von 1900 bis 1909 noch ca. 33 % aller eingetragenen körperlichen Strafen auf „Faulheit“, Unaufmerksamkeit, unordentlich oder nicht erledigte Aufgaben zurückzuführen waren – was im Vergleich zu den anderen betrachteten Schulen schon einen sehr niedrigen Wert darstellt – waren es in den Jahren 1910 bis 1918 nur noch 11 %.400 In den anderen Schulen ist eine vergleichbare Entwicklung dagegen nicht zu erkennen: So erfolgten beispielsweise in Weilmünster noch im Zeitraum 1909–18 ca. 56 % der Strafen wegen Faulheit, vergessenen Hausaufgaben, schlechtem Lesen und ähnlichen Gründen; in Blessenbach waren es 62 %.401 In Langenbach, wo das Strafbuch auch in den 1920er Jahren fortgeführt wurde, wurden sogar zwischen 1919 und 1928 noch über zwei Drittel der Strafen mit Faulheit oder mit Nichterledigen der Hausaufgaben bzw. darauf zurückgeführten schlechten Lernleistungen begründet (beispielsweise „liest zu Hause nicht“ oder „lernt biblische Geschichte nicht“).402 Auch die vor allem nach 1900 immer breitere Anerkennung findende theoretische Norm, dass körperliche Strafen nur als letzte, schwerste Strafe zulässig seien, galt zumindest in der Praxis der Blessenbacher Volksschule nicht: Hier wurden neben körperlichen Züchtigungen auch Fälle von „Arrest“ (wahrscheinlich im Klassensaal nach Schulschluss) im Strafbuch dokumentiert. Dabei war in der gesamten Zeit von 1903 bis 1919 die Zahl reiner Arreststrafen sehr viel niedriger als die der Fälle, in denen auch körperlich gestraft wurde (häufig wurden beide Strafformen kombiniert).403
399
400 401 402 403
So berichtete etwa der Leipziger Lehrer Berthold bei der Sächsischen Lehrerversammlung 1907 aus seiner eigenen Schulzeit, „daß mindestens 90 Prozent aller Schläge für das Memorieren, von den übrigen 10 Prozent wieder 9 für andere Kleinigkeiten aufgewendet worden sind, so für ordentlich geführte Schreibhefte, korrekt geführte Beihefte in Geometrie usw“ – und ging nicht davon aus, dass sich an diesem Befund etwas geändert hätte (Sächsischer Lehrerverein: Protokoll der Vertreterversammlung 1907, S. 669). Eigene Zählung/Berechnung anhand von: HHStAW 1247, 33. Eigene Zählung/Berechnung anhand von HHStAW 814/3, 23, und HHStA Wi 814/3, 71. Die Zahlen für Blessenbach beziehen sich auf den Zeitraum 1910–1919. Vgl. HHStAW 814/3, 46. So etwa 1903: 272 Fälle körperlicher Strafen, 67 reiner Arreststrafen. In den nächsten Jahren sank die absolute Zahl beider Strafarten stark, Körperstrafen blieben jedoch häufiger: 1918: 18 körperliche, 8 reine Arreststrafen (HHStAW 814/3, 23). Allerdings ist bei diesen Zahlen zu bedenken, dass möglicherweise Lehrer bei der ministeriell vorgeschriebenen Dokumentation körperlicher Züchtigungen gründlicher waren als bei der freiwilligen von Arreststrafen.
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Schlüsselt man die Listen nach Namen auf, so zeigt sich, dass im Laufe des Schuljahres die meisten Schüler mindestens einmal bestraft wurden. In der Schule Blessenbach mit 140 Schülern finden sich über hundert verschiedene Namen in der Strafliste des Jahres 1903. Dass ein Kind im Laufe seiner Schulkarriere gar keine (offiziell vermerkten) Schläge erhielt, war hier also auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch eine Ausnahme. Dies galt geschlechtsübergreifend: In Langenbach wurden Mädchen insgesamt zwar sehr viel seltener bestraft als Jungen, in den Jahren 1920–22 war das Verhältnis aber ausgeglichen oder Mädchen sogar leicht in der Mehrzahl. Auch in Weilmünster und Rückershausen wurden Jungen zwar deutlich häufiger geschlagen, aber es finden sich durchgängig auch Mädchen unter den eingetragenen Namen. In allen sechs betrachteten Schulen reduzierten sich die in den Strafbüchern eingetragenen Fälle deutlich im Laufe der Jahre.404 Trotz aller gebotenen Vorsicht – es ist durchaus denkbar, dass Lehrer im Laufe der Zeit die Dokumentationspflicht weniger gewissenhaft einhielten als in den ersten Jahren nach dem Erlass – legt die Deutlichkeit des Trends über verschiedene Schulen hinweg nahe, dass sich im Laufe der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts die Häufigkeit körperlicher Strafen reduzierte. Im Strafbuch der II. Schule Altenkirchen heißt es zum Neujahr 1904 sogar: „Es werden körperliche Züchtigungen überhaupt nicht mehr vorgenommen (der Riemen ist aus der Schule verbannt.) Durch Arrest- und andere Strafen, welche an das Ehrgefühl der Kinder appellieren, wurden die Vergehungen der Kinder geahndet.“405 Dahinter findet sich tatsächlich nur noch ein einziger Eintrag ohne Datumsangabe. Natürlich lässt sich nicht überprüfen, ob die „Verbannung“ des Stocks so konsequent durchgehalten wurde, wie das Strafbuch suggeriert. Doch da mit einer Kontrolle der Aufzeichnungen durch die Schulaufsichtsbehörden gerechnet werden musste, belegt der Eintrag zumindest eines sicher: Ein völliger Verzicht auf körperliche Strafen konnte an einzelnen Schulen bereits 1904 als wünschenswert und glaubwürdig angesehen werden. Relativ zuverlässige Auskunft geben die Strafbücher über Art und Maß der Körperstrafen. Hier zeigt sich recht große Ähnlichkeit zwischen den Schulen: 404
405
So wurden in Langenbach etwa von 1908 bis 1915 insgesamt 341 Fälle verzeichnet (also im Durchschnitt jährlich ca. 43), 1920–27 nur noch 109 (d. h. durchschnittlich ca. 14 jährlich). Das bereits vor dem Erlass von 1900 geführte Strafbuch in Altenkirchen weist zwischen 1891 und 1897 im Schnitt rund 45 Einträge jährlich auf, in den Jahren 1900–1903 waren es durchschnittlich nur ca. 29. In Blessenbach lag die jährliche Anzahl körperlicher Bestrafungen von 1903 bis 1905 mit 272, 286 und 118 sehr hoch; in den Jahren danach (bis zum Ende der Aufzeichnung 1919) dagegen höchstens bei 53 (im Durchschnitt ca. 32 jährlich). In Rückershausen finden sich im Zeitraum 1900–1909 durchschnittlich ca. 50 Bestrafungen jährlich, 1910–1918 ca. 35. Die Strafbücher in Görsroth und Weilmünster weisen teils mehrjährige Lücken auf, die einen Vergleich über die Zeit hinweg erschweren, auch dort liegen die höchsten jährlichen Zahlen aber durchgängig am Anfang des Zeitraums. HHStAW 814/3, 9.
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Geschlagen wurde meist mit dem Lederriemen auf die Hände, teilweise auch mit dem Stock auf den Hintern oder Rücken.406 Im Laufe der Zeit löste der Stock häufig den Riemen ab, zudem wurden zumindest Jungen seltener auf die Hände, häufiger dagegen auf Hintern, Oberarm und/oder Rücken geschlagen. Die eingetragene Zahl der Schläge bewegte sich meist zwischen zwei und sechs, konnte an allen Schulen aber darüber hinausgehen. In Görsroth sind in einem Fall (mit „Faulheit“ als genanntem Grund) sogar zwölf Schläge vermerkt. Das ist insofern bemerkenswert, als die Zahl der Schläge den wohl am schwierigsten durch die Schulaufsicht zu überprüfenden Aspekt einer körperlichen Züchtigung darstellt – der Eintrag ins Strafbuch bedeutet also, dass der Lehrer davon ausging, diese recht hohe Zahl von Schlägen bei einer etwaigen Kontrolle rechtfertigen zu können. Einzelfälle
Die aus den Strafbüchern abgeleiteten Tendenzen – alltägliche Unterrichtssituationen, insbesondere (vermeintliche) Faulheit als häufiger Anlass für Körperstrafen, Akzeptanz von Schlägen auch in höherer Anzahl und gegen Mädchen – finden sich für die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg durch Einzelfälle aus verschiedenen Regionen bestätigt. So erhielt etwa 1902 ein Schüler in Schwalbach im Taunus vier Schläge auf die Hand, weil er sich bei einer Rechenaufgabe versprochen und statt „Maurer“ fälschlich „Arbeiter“ gesagt hatte. Die Beschwerde des Vaters wurde zurückgewiesen, wohl vor allem wegen des Berichts des Ortsschulinspektors, dem zufolge der Schüler wegen Unaufmerksamkeit geschlagen worden sei. Da der Junge zudem trotz Verbots durch die Schule ungeeigneten Umgang mit Metzgersgesellen pflege und bei Tierschlachtungen zusehe, hielt es der Inspektor für „sehr empfehlenswert, dem Beschwerdeführer [. . . ] begreiflich zu machen, daß die Schule verpflichtet und berechtigt ist, die Kinder nicht nur zu unterrichten, sondern auch zu erziehen“.407 Erst auf eine erneute Beschwerde des Vaters hin untersuchte der Kreisschulinspektor den Fall noch einmal. Dabei begründete der Lehrer zwar weiterhin die Schläge mit der häufigen Unaufmerksamkeit des 406
407
Das Schlagen mit dem Riemen war eine Besonderheit Hessen-Nassaus und ging auf eine 1817 von der nassauischen Landesregierung erlassene Dienstinstruktion für Schulinspektoren zurück, die körperliche Strafen nur in dieser Form erlaubte. Obwohl diese Bestimmung 1888 ihre Gültigkeit verlor, blieb die Strafform auch darüber hinaus „thatsächlich noch in fast allen Schulen erhalten“ – und zwar, wie die Strafbücher zeigen, bis ins 20. Jahrhundert hinein (Regierung Wiesbaden an Staatsanwaltschaft Frankfurt, 29.5.1893, HHStAW 461, 39005, Bl. 70). 1924 wurde der entsprechende Passus endgültig aus der Dienstinstruktion gestrichen (vgl. MWKV an Regierung Wiesbaden, 10.7.1924, HHStAW 405, 12903, Bl. 275). Ortsschulinspektor Hartleib an Kreisschulinspektion Bommersheim, 6.5.1902, HHStAW 405, 15537.
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Jungen, gab aber zu, dass der unmittelbare Anlass tatsächlich der (vom Lehrer auf diese Unaufmerksamkeit zurückgeführte) Versprecher gewesen sei. Angesichts dessen änderte sich die Bewertung durch die Regierung: Sie erteilte dem Lehrer nun einen Verweis mit dem Hinweis: „Der Vorfall dürfte Ihnen durchaus keinen Anlaß bieten, den genannten Knaben überhaupt in irgendeiner Weise zu bestrafen, geschweige denn körperlich zu züchtigen.“408 Hier zeigt sich deutlich, wo die Regierung die Grenze angemessener Strafanlässe zog: Ein Versprecher im Unterricht war zu geringfügig; Unaufmerksamkeit an sich, vor allem wenn sie mit einer insgesamt negativen Bewertung des Verhaltens des jeweiligen Schülers verbunden war, konnte dagegen durchaus als legitimer Anlass körperlicher Strafen gelten. Auch als 1914 ein junger Lehrer im Dillkreis einen Schüler wegen Fehlern beim Lesen mit einem zentimeterdicken Stock beworfen (und dabei eine kleine blutende Kopfwunde verursacht) hatte, sah die Wiesbadener Bezirksregierung schon in der Art der Bestrafung eine grobe Überschreitung des Züchtigungsrechts und erteilte dem Lehrer einen Verweis mit der Mahnung: „Sie hätten wissen müssen, daß, wenn überhaupt eine körperliche Züchtigung angebracht war, dieselbe in anderer Form zu vollziehen war.“ Auffällig ist hier, dass die Regierung zwar bezweifelte, dass das falsche Lesen eine körperliche Strafe rechtfertigte, dies aber eben auch nicht klar verneinte.409 Gleichzeitig illustrieren dieser Fall und die Tatsache, dass das Amtsgericht Wetzlar den Lehrer zudem zu 20 Mark Geldstrafe verurteilte, was bereits für das 19. Jahrhundert festgestellt wurde: Körperstrafen galten vor allem dann als unrechtmäßig und auch strafrechtlich zu ahnden, wenn sie auf außergewöhnliche und potenziell besonders gefährliche Art und Weise ausgeführt wurden, etwa mit einem unüblichen Werkzeug oder gegen den Kopf. So wurde auch 1910 ein Lehrer, der einen vor den Schlägen ausweichenden Schüler mit dem Stock auf den Kopf getroffen hatte, vom Landgericht Limburg zu 20 Mark Geldstrafe verurteilt – allerdings nur wegen fahrlässiger Körperverletzung, da der Lehrer aussagte, er habe nur auf den Rücken schlagen wollen und den Kopf versehentlich getroffen.410 Schläge auf Hintern, Rücken oder Hand wurden dagegen in teils auffällig großem Ausmaß akzeptiert. Das gilt vor allem für die Strafgerichte: Beispielsweise sprach das Landgericht Berlin 1905 einen Lehrer frei, der einen sechsjährigen Jungen laut ärztlichem Attest mindestens neunmal mit dem Stock so stark geschlagen hatte, dass sich auf Hintern, Oberschenkeln, Rücken, Schulterblatt und einem Oberarm „zahlreiche, blutunterlaufene Striemen“ fanden. 408
409 410
Entwurf Regierung Wiesbaden an Hauptlehrer Schwab, 25.6.1902, auf dem Rand von: Kreis-Schulinspektion Bommersheim an Regierung Wiesbaden, 20.6.1902, HHStAW 405, 15537. Regierung Wiesbaden an Lehrer Lieber, 13.5.1914, HHStAW 405, 15035. Urteil des LG Limburg vom 10.4.1911 (Abschrift), HHStAW 405, 18351.
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Außerdem trat bei dem Jungen Erbrechen auf, das laut dem Arzt auf den Schreck zurückzuführen sein könnte, er konnte „einige Zeit“ beim Essen nur knien statt sitzen. Für das Gericht war diese Züchtigung zwar „eine recht erhebliche“, aber da sie keine schweren gesundheitlichen Folgen gehabt habe, handle es sich nicht um eine strafbare Körperverletzung: „Striemen, wie sie konstatiert worden sind, sind die unausbleibliche Folge jeder Züchtigung, die ihren Zweck erreichen soll: durch Zufügung körperlicher Schmerzen abschreckend und nachhaltig bessernd auf den Gezüchtigten einzuwirken.“411 Ahndung durch Schulbehörden
Angesichts der bereits festgestellten starken Kontinuität im juristischen Diskurs ist es nicht erstaunlich, dass sich auch im konkreten Einzelfall die Bewertungsmaßstäbe der Rechtsprechung Anfang des 20. Jahrhunderts wenig von denen früherer Jahrzehnte unterschieden. Bei den Schulbehörden wäre dagegen eher zu erwarten, dass sie, die sich verändernde pädagogische Bewertung körperlicher Strafen reflektierend, im Laufe der Zeit (mögliche) Überschreitungen des Züchtigungsrechts strenger ahndeten. Tatsächlich ist unter den zehn untersuchten Fällen, die sich im preußischen Regierungsbezirk Wiesbaden nach 1900 zutrugen, kein einziger, in dem nicht zumindest eine Ermahnung, meist auch ein förmlicher Verweis gegen den schlagenden Lehrer ausgesprochen wurde. Zum Teil geschah dies sogar dann, wenn – wie etwa im eingangs vorgestellten Fall der mit vier Schlägen geahndeten Wortverwechslung – der Ortsschulinspektor sich auf die Seite des Lehrers stellte und die Ablehnung der Beschwerde empfahl.412 Auch dass die lokale Schulaufsicht die Perspektive des Lehrers übernahm, war bei Weitem nicht immer der Fall. So kommentierte, als sich 1905 ein Vater über Misshandlung seines Kinds durch eine Lehrerin beschwerte, der Ortsschulinspektor lapidar: „‚Es ist nicht das erstemal, daß Klagen wegen Mißhandlung kommen. Anstatt zu prügeln, sollte [die Lehrerin] lieber fleißig arbeiten.“413 Die Lehrerin hatte ein sechsjähriges Mädchen wegen fortgesetzter Unaufmerksamkeit mit einem Stock so auf den Rücken geschlagen, dass mehrere blutunterlaufene Striemen zurückblieben. Sie erhielt eine Ordnungsstrafe von fünf Mark, da sie aus Sicht der Wiesbadener Regierung „in gröblichster Weise“ gegen die Vorschrift, dass körperliche Strafen nur in Ausnahmefällen als letztes Mittel anzuwenden seien, verstoßen hatte.414 Diese Begründung legt zumindest nahe, dass nicht 411 412 413 414
Urteil des LG Berlin vom 27.2.1905, zitiert nach Müller: Lehrer, S. 80. Vgl. als weiteres Beispiel: Ortsschulinspektor Löhr an Kreisschulinspektion Marxheim, 21.8.1909, HHStAW 405, 18288. Kreisschulinspektor Brühl: Randvermerk auf: Diehl an Kreisschulinspektion (17.2.1905), 23.2.1905, HHStAW 405, 14300. Briefentwurf Regierung Wiesbaden an Lehrerin C. D., 31.8.1905 (auf Schreiben d. Reg. an Landrat Höchst am 5.8.1905), HHStAW 405, 14300.
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nur die Folgen der Schläge und die Tatsache, dass sie ein Mädchen im ersten Schuljahr trafen, sondern auch der geringfügige Anlass zur Einstufung als Misshandlung führte. Dass die Bezirksregierung versuchte, häufiges, routinemäßiges Schlagen einzudämmen, zeigt ein Fall aus Kamp am Rhein bei St. Goarshausen: Dort hatte sich ein Apotheker beschwert, dass seine Söhne in der Schule wegen geringfügiger Vergehen mit Schlägen in die Hand bestraft würden. Außerdem müssten Schüler als Strafe auf der Kathederbank knien. Die Regierung verbat dem Lehrer für die Zukunft beide Bestrafungsformen, da sie „ungehörig“ seien415 – was im Fall der Schläge mit einem dünnen Stock auf die Handflächen insofern bemerkenswert ist, als diese Praxis, wie die Strafbücher zeigen, an sich nicht außergewöhnlich war. Da außerdem kein Strafverzeichnis in der Klasse vorhanden war und einige Wochen später auf eine erneute Beschwerde des Vaters hin festgestellt wurde, dass der Lehrer trotz der Ermahnung weiterhin auf die Hände schlug, ohne dies zu dokumentieren, erhielt er eine Geldstrafe von 10 Mark. Lehrer, die wegen übermäßiger Körperstrafen auffielen, wurden also durchaus von ihrer vorgesetzten Behörde belangt. Dennoch blieb es in den hier betrachteten Fällen stets bei reinen Verweisen oder recht niedrigen Geldstrafen. Zwar wurden gegen einen Lehrer 1914 und 1917 jeweils 75 bzw. 90 Mark Geldstrafe verhängt, jedoch entpuppt sich gerade dieser Fall trotz der relativ hohen Strafen bei näherem Hinsehen eher als ein Beispiel für das zurückhaltende Eingreifen der Schulbehörden: Gegen den betreffenden Hauptlehrer Sturm lagen im Laufe seiner Karriere an zwei verschiedenen Orten seit 1896 bereits mindestens neun Beschwerden verschiedener Eltern wegen körperlicher Strafen vor, einmal war er aus dem gleichen Grund vor dem Landgericht Wiesbaden angeklagt gewesen, jedoch freigesprochen worden. Bezeichnend ist die Einschätzung des Kreisschulinspektors, der sich 1908 dagegen aussprach, Sturm (wie von ihm beantragt) eine Mädchenklasse unterrichten zu lassen, da dieser „wegen seiner Roheit für eine Mädchenklasse ganz ungeeignet ist“.416 Bereits 1900 war dem Lehrer ein ernster Verweis erteilt und für den Fall weiterer Beschwerden „empfindlich[e] Ordnungsstrafen“ und der Entzug des Züchtigungsrechts angedroht worden.417 Dennoch beließ die Regierung es bei mehreren ähnlichen Vorfällen in den folgenden Jahren stets bei Warnungen und Mahnungen, obwohl sie Sturm wegen anderer Vergehen (nämlich der Annahme von Geschenken und der unerlaubten Rückversetzung zweier Schüler) mit Geldstrafen in Höhe von 10 bzw. 30 Mark bestrafte.418 Erst als Ende 1913 bei einer Schulrevision festgestellt wurde, dass 415 416 417 418
Regierung Wiesbaden an Lehrer Löhr, 22.2.1902, Bl. 235 v., HHStAW 405, 12887. Stellungnahme Kreisschulinspektor Brühl, 8.4.1908, auf dem Rand von Sturm an Regierung Wiesbaden, 4.4.1908, HHStAW 405, 18288. Regierung Wiesbaden an Lehrer Sturm, 6.9.1900, HHStAW 405, 18288. Vgl. Regierung Wiesbaden an Lehrer Sturm, 9.11.1909, HHStAW 405, 18288.
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Sturm sehr häufig körperlich strafte – von den 37 Schülern seiner Klasse gaben 17 an, allein in der laufenden Woche bereits von ihm geschlagen worden zu sein – ohne dies ins Strafbuch einzutragen, verhängte die Bezirksregierung die bereits erwähnte Geldstrafe von 75 Mark. Während bei einer Beschwerde 1904 der Landrat in Höchst noch zu Sturms Gunsten zu bedenken gab, „daß die Stellung des Lehrers bei der Bevölkerung in Sindlingen und bei den oft recht rohen und unerzogenen Jungen eine sehr schwierige ist, und daß daher ohne kräftige Strafen nicht gut auszukommen ist“,419 gab 1913 der Kreisschulinspektor ein vernichtendes Urteil über den Lehrer ab: „Der große Fleiß des Hauptlehrers liegt m.M. hauptsächlich im ‚Handgelenk‘; er ist ein Prügelpädagoge, aber kein Lehrer.“420 Auch wenn die zweite Einschätzung auch durch den seit 1904 noch einmal angewachsenen Stapel von Beschwerden in Sturms Personalakte beeinflusst gewesen sein dürfte, liegt es doch nahe, in den entgegengesetzten Reaktionen der beiden Amtsträger ein Indiz für eine sich verschiebende Bewertung körperlicher Strafen in der Schulaufsicht zu sehen. Dafür spricht auch die zweite Geldstrafe, die Sturm 1917 erhielt, weil bei der Revision festgestellt wurde, dass er seine Schüler immer noch häufig mit (zwei bis vier) Riemenschlägen auf die Hand bestrafte, ohne dies im Strafbuch zu dokumentieren. Drei Jahre später wurde er dann im Alter von 67 Jahren pensioniert, wobei er trotz aller Beschwerden Hauptlehrer geblieben war. Ein weniger drastisches Beispiel dafür, dass Beschwerden wegen Überschreitung des Züchtigungsrechts in den 1900er Jahren für die Karriere eines Lehrers kaum langfristige Konsequenzen hatten, ist der hier als Erstes vorgestellte Fall des Hauptlehrers Schwab, der einen förmlichen Verweis der Bezirksregierung erhalten hatte, weil er einen Jungen wegen eines Versprechers gezüchtigt hatte. Sechs Jahre nach diesem Vorfall (dem immerhin drei weitere, allerdings als unbegründet abgewiesene, Beschwerden wegen körperlicher Strafen 1885, 1888 und 1898 vorausgegangen waren) stellten ihm Kreis- und Ortsschulinspektor bei der Bewerbung auf eine Rektorenstelle jeweils ein äußerst positives Zeugnis aus, zwei Jahre später wurde Schwab tatsächlich Rektor.421 Insgesamt ergibt sich aus den untersuchten Einzelfällen für den Umgang der Wiesbadener Regierung mit (möglichen) Überschreitungen des Züchtigungsrechts bis in die 1910er Jahre der Eindruck, dass zwar einerseits durchaus versucht wurde, die ministeriellen Bestimmungen, inklusive der Norm, dass körperliche Strafen nur letztes Ausnahmemittel sein sollten, durchzusetzen. Andererseits blieben die Sanktionen in entsprechenden Fällen stets vergleichsweise milde. Dies zeigt auch die Tatsache, dass in den Jahren 1900–1922 im Regierungsbezirk 419 420 421
Landrat in Höchst an Regierung Wiesbaden, 13.1.1905, HHStAW 405, 18288. Randbemerkung Kreisschulinspektor in Höchst, 10.1.1914, auf: Sturm an Regierung, 9.1.1914, ebd. Kreisschulinspektion Bommersheim: Gutachten, 14.5.1908, HHStAW 405, 15537.
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Wiesbaden von insgesamt zehn förmlichen Disziplinarverfahren kein einziges wegen einer Überschreitung des Züchtigungsrechts geführt wurden.422 Dem standen im gleichen Zeitraum insgesamt 14 strafrechtliche Verurteilungen aus diesem Grund gegenüber, die zu Geldstrafen in Höhe von meist 20–100 Mark, in einem Fall im Jahr 1902 aber auch 400 Mark führten.423 Den betroffenen Lehrern wurde meist zusätzlich ein Verweis erteilt, der wohl die Funktion hatte, die behördliche Missbilligung zu verdeutlichen, ohne die konkrete Belastung des Lehrers durch die Geldstrafe zu erhöhen. Repräsentativ für die Bewertung durch Schulbehörden erscheint somit die Einschätzung eines Kreisschulinspektors, der zu einem ärztlich bescheinigten Vorwurf der Züchtigungsrechtsüberschreitung anmerkte, gegen den Lehrer schwebe zudem „eine andere, viel schlimmere Klage“, nämlich der Vorwurf, er habe eine Frau „zum Ehebruch verleitet“.424 Das zulässige Maß überschreitende körperliche Strafen wurden als zwar zu ahndendes, aber doch im Vergleich zu anderen Vergehen (gerade auch solchen, die den persönlichen Lebenswandel betrafen) eher harmloses Delikt behandelt.425 Weitgehende Akzeptanz auch in Sachsen
Die vergleichsweise milde Ahndung von übermäßigen körperlichen Schulstrafen durch die Wiesbadener Regierung deutet bereits darauf hin, dass Schläge zu Erziehungszwecken trotz ihrer zunehmenden Ablehnung in der Pädagogik in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bei vielen noch relativ selbstverständlich und in weitem Ausmaß akzeptiert wurden. Auch Einzelfälle aus anderen Regionen bestätigen dieses Bild: Im sächsischen Schirgiswalde bei Bautzen beispielsweise stellte sich der Ortsschulinspektor (der auch der Pfarrer des Dorfs war) 1911 klar auf die die Seite des Lehrers, der einen Schüler wegen trotz Ermahnung wiederholter Unterrichtsstörung durch Scherzen mit dem Nachbarn körperlich bestrafen wollte. Der Junge habe, so die Schilderung des Ortsschulinspektors, „statt eine ihm reichlich gebührende Ohrfeige einzustecken, sich gewehrt, sich 422 423
424 425
Vgl. die Übersichten in HHStAW 405, 18372. Vgl. ebd. Die Angabe von 14 Fällen stellt die mögliche Höchstzahl dar, da teilweise nicht eindeutig erkennbar ist, ob es sich tatsächlich um eine schulische Züchtigung oder um eine in anderem Zusammenhang begangene Körperverletzung handelte (die 400 M Geldstrafe wurden jedoch ausdrücklich wegen Überschreitung des Züchtigungsrechts verhängt). Kreisschulinspektor Pfarrer Ludwig an Regierung Wiesbaden, 14.11.1904, HHStAW 405, 14754. Dies wird beispielsweise auch daran deutlich, dass 1908 ein Lehrer wegen eines von ihm verfassten Artikels in einer sozialdemokratischen Zeitung mit verleumderischen Behauptungen gegen den Rektor ohne Anspruch auf Ruhegehalt aus dem Dienst entlassen wurde. Vgl. Nachweisung über die im Jahre 1908 gegen Elementarlehrer im Regierungsbezirk Wiesbaden geführten Disziplinaruntersuchungen, HHStAW 405, 18372, Bl. 129 f.
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hintenübergelegt und dabei sich die Hand verstaucht“.426 Er glaube nicht, dass der Lehrer zu stark, beispielsweise mit der Faust, zugeschlagen habe. „Zu verwundern wäre es übrigens nicht, wenn er bei dem sehr großen und kräftigen Jungen auch einmal etwas härter zufassen muß.“ Dass eine Ohrfeige die passende Reaktion auf das Verhalten des Schülers sei, der häufig auf diese Weise den Unterricht störe, stand für den Pfarrer außer Frage. Er betonte, „daß unsere beiden Herrn Lehrer im Strafen stets überaus maßvoll gewesen sind“ und dass es nicht dem Lehrer anzulasten sei, wenn Schüler „sich bei einer Bestrafung, die jedenfalls milde genug ist“, wehren und dadurch verletzten. Zudem berichtete der Inspektor, dass der betroffene Schüler und ein Mitschüler wegen ihres undisziplinierten Verhaltens eine förmliche Ermahnung mit Mitteilung an die Eltern erhalten hätten in der Hoffnung, dass die Väter „daraus die einzig richtige Folgerung ziehen und ihren Söhnen einmal in höchst eigener Person einen gebührenden Denkzettel geben würden“. Hier liegt die Annahme zumindest nahe, dass mit diesem „gebührenden Denkzettel“ eine körperliche Bestrafung gemeint war. Auch in diesem Fall zeigt sich wieder die häufig anzutreffende Vorstellung, dass eine Bestrafung des Lehrers wegen körperlicher Strafen dessen Autorität irreversibel schädige: Der Ortsschulinspektor war sich mit dem örtlichen Schulvorstandsvorsitzenden einig, dass wenn der Lehrer „von der Bezirksschulinspektion desavouiert würde und die Beschwerde H.s nicht auf das allerentschiedenste zurückgewiesen würde, das geradezu eine Untergrabung der Schulzucht sein würde“. Dass die Vorstellung, die Lehrerautorität beruhe auf der Fähigkeit, Anordnungen gegebenenfalls mit Gewalt gegen den Willen der Schüler durchsetzen zu können, aus Lehrersicht durch konkrete Erfahrung bestätigt werden konnte, zeigt ein weiterer sächsischer Fall: Ein Lehrer aus Commerau war im Januar 1912 vom Amtsgericht Bautzen zu zweimal 5 Mark Geldstrafe verurteilt worden, weil er 1908 einem Mädchen und zwei Jahre später einem Jungen jeweils wegen Fehlern bzw. Unaufmerksamkeit eine Ohrfeige gegeben hatte, die im einen Fall Kopfschmerzen, im anderen Fall Nasenbluten ausgelöst hatte. Aufgrund dieser Erfahrung habe der Lehrer, wie er anlässlich einer anderen Beschwerde gegen ihn 1913 beteuerte, nach allmählicher Beschränkung dieser Strafform in der Tat versucht, im Jahre 1912 ohne dieselbe auszukommen. Nachdem ich aber in Fällen von Ungehorsam und andauernder Trägheit Verwarnungen und Nachsitzen zu viele Male ohne Erfolg versucht hatte, nachdem auch das Elternhaus völlig versagt hatte, war ich genötigt zur Aufrechterhaltung der Disziplin die körperliche Züchtigung anzuwenden.427
426 427
Ortsschulinspektor Sorge an Bezirksschulinspektion Bautzen, 11.3.1911, SächsStAFilA-BZ, 50013, Nr. 2223. Dort auch die folgenden Zitate. Lehrer A. Schneider an Bezirksschulinspektion Bautzen, 3.12.1913, SächsStAFilA-BZ, 50013, Nr. 2223.
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Die ernsthafte Absicht des Lehrers, auf körperliche Strafen zu verzichten, ist durchaus glaubwürdig, schließlich erfolgte sie auch im eigenen Interesse, aus Angst vor weiteren Anklagen aus der wegen eines Konflikts um den sorbischen Sprachunterricht teilweise gegen ihn eingenommenen Elternschaft. Tatsächlich findet sich in den Akten ein Schreiben des Lehrers vom November 1912, in dem er der Bezirksschulinspektion von großen Disziplinproblemen berichtete, da er „nach den Erfahrungen der letzten Jahre“ nicht körperlich strafen könne, aber Schüler beispielsweise Anweisungen zum Nachsitzen einfach ignorierten.428 Hier zeigt sich beispielhaft: Waren sowohl Lehrer als auch Schüler daran gewöhnt, dass sich die Autorität des Lehrers in letzter Konsequenz auf die Möglichkeit der Gewaltanwendung stützte, dann konnte deren Wegfall in einer Art selbsterfüllenden Prophezeiung tatsächlich zu massiven schulischen Disziplinproblemen führen – was dann wiederum die grundsätzliche Unverzichtbarkeit körperlicher Strafen zu belegen schien. Wenn Lehrer ebendiese Unverzichtbarkeit als Argument gegen ein Züchtigungsverbot anführten, ist dies also durchaus ernst zu nehmen und nicht in allen Fällen als argumentativer Vorwand abzutun. Der genannte Lehrer war zudem wegen einer weiteren Züchtigung angeklagt, wurde in diesem Fall aber freigesprochen, da er – anders als in den beiden anderen Fällen – zuvor mehrmals andere Strafmittel erfolglos angewendet hatte, wie es das sächsische Volksschulgesetz als Voraussetzung für eine Züchtigung forderte. Nur bei „frecher Widersetzlichkeit und grober Unsittlichkeit“ durften Lehrer direkt zum Rohrstock greifen.429 In der Praxis bedeuteten diese Bestimmungen jedoch eine geringere Einschränkung, als es scheinen könnte: So konnte ein Lehrer auch wegen relativ alltäglicher Anlässe, Unaufmerksamkeit oder schlecht ausgeführter Aufgaben körperlich strafen, wenn er das Kind zuvor mehrfach aus dem gleichen Grund ermahnt hatte. So finden sich auch unter den untersuchten Fällen mehrere, in denen nach Aussage der betroffenen Kinder bzw. Eltern Fehler beim Rechnen oder Lesen, aus Sicht des Lehrers aber die dahinterliegende Unaufmerksamkeit oder häusliche Faulheit der Grund für die körperliche Bestrafung war – und dies von der örtlichen Schulaufsicht nicht beanstandet wurde.430 Auch die sächsischen Fälle erwecken also den Eindruck, dass die Bezirksschulinspektionen zögerten, wegen unangemessener Züchtigungen härtere Sanktionen gegen Lehrer auszusprechen431 – und auch hier wird dieser Anschein 428 429 430
431
Lehrer A. Schneider an Bezirksschulinspektion Bautzen, 20.11.1913, SächsStAFilA-BZ, 50013, Nr. 2223. Ausführungsverordnung zum Sächsischen Volksschulgesetz, § 47, Seydewitz: Volksschulgesetz, S. 209. Vgl. Klemens Pietsch an Bezirksschulinspektion Bautzen, 13.11.1911, und Schuldirektor Wolf an Bezirksschulinspektion Bautzen, 20.11.1911; Hilfslehrer Johannes Katzer: Stellungnahme, 15.5.1912, alle in: SächsStAFilA-BZ, 50013, Nr. 2223. In allen drei von insgesamt acht untersuchten Fällen, die nicht mit Zurücknahme oder Ablehnung der Beschwerde endeten, ermahnte die Bezirksschulinspektion lediglich
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durch landesweite Zahlen bestätigt: In den vier Jahren 1907 bis 1910 wurden beim sächsischen Kultusministerium insgesamt 69 Fälle von Überschreitung des Züchtigungsrechts angezeigt. Davon führten 25 zu einem Freispruch (bzw. Verfahrenseinstellung) und 38 zu einer Geldstrafe durch das Strafgericht; in den sechs Fällen, die nicht strafrechtlich, sondern nur disziplinarisch erledigt wurden, wurde maximal eine „ernsteste Mißbilligung der Bezirksschulinspektion“ ausgesprochen.432 Akzeptanz durch Eltern
Einzelfälle aus der Zeit vor 1900 zeigten eine breite Akzeptanz körperlicher Strafen unter Eltern. Daran änderte sich auch nach der Jahrhundertwende zunächst wenig, auch wenn bei manchen Beschwerdeführern nun eine grundsätzliche Ablehnung, wenn nicht körperlicher Strafen an sich, so doch zumindest häufigen, routinemäßigen Schlagens zwischen den Zeilen hervorscheint: So berichtete etwa ein Vater, dass nach seiner ersten Beschwerde zwar seine eigenen Söhne nicht gezüchtigt worden seien, Mitschüler aber immer noch mit dem Stock in die Hand geschlagen würden, was nach Angabe der Kinder im Schnitt etwa fünfmal täglich vorkomme. „Sicher trägt derartige Versetzung der Kinder in Angst nicht dazu bei, daß sie ihre Aufmerksamkeit ausschließlich dem Lehrgegenstand zuwenden und etwas lernen, denn eigentlich schicke ich meine Kinder doch lediglich zu diesem Zwecke in die Schule.“433 Es ist vielleicht bezeichnend, dass dieser Vater in seinem Ort „als ein recht empfindlicher Mann“ galt.434 Dennoch betonte auch er, dass er Strafe grundsätzlich als notwendig sehe – und es weist nichts darauf hin, dass er damit ausschließlich nicht körperliche Strafen meinte. Die meisten Beschwerden deuten auch nach 1900 darauf hin, dass viele Eltern Körperstrafen nach wie vor für grundsätzlich legitim hielten und nur mit Anlass und/oder Form der Strafe im konkreten Fall nicht einverstanden waren.435 So
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den Lehrer und drohte im Wiederholungsfall ein Disziplinarverfahren an (vgl. Amtshauptmannschaft Bautzen an Schulrat Bach, 23.1.1913; Bezirksschulinspektion Bautzen: Beschluss vom 24.6.1911; Bezirksschulinspektion Bautzen: Protokoll der Aussage Lehrer Jubischs, 24.6.1911, alle in: SächsStAFilA-BZ, 50013, Nr. 2223). Vgl. die Zusammenstellungen in SächsStA-D 11146 Bezirksschulamt Großenhain, Nr. 84. In den Jahren 1910 bis 1915 wurden insgesamt 379 „Disziplinaranzeigen“ (hier wohl ohne strafgerichtlich geahndete Fälle) verzeichnet, von denen nur eine körperliche Strafen betraf (die große Mehrheit erfolgte wegen „Sittlichkeitsvergehen“, außerehelichem Geschlechtsverkehr u. ä.). Z. an Regierung Wiesbaden, 17.3.1902, HHStAW 405, 12887, Bl. 250. Hervorhebung im Original. Schulvorstand Camp, 3.2.1902, HHStAW 405, 12887, Bl. 238. Vgl. die Aussage einer Mutter: „Wenn mein Kind Strafe verdient, möge die Lehrerin strafen. Aber ich protestiere gegen Mißhandlung meines Kindes und ferner auch, daß mein Kind geschlagen wird, weil es sich über die schwere Mißhandlung beschwert.“
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beschwerte sich etwa 1907 ein Vater bei der Schulinspektion im pfälzischen Speyer, dass sein achtjähriger Sohn vom Lehrer aus geringfügigem Anlass (nämlich wegen eines gar nicht vom Kind selbst, sondern von seiner Mutter unsauber auf das Heft geklebten Etiketts) verbotenerweise aufs Ohr geschlagen worden sei – und fügte hinzu: „Wenn das Kind wirklich Schläge verdient, soll er ihm mit Maaß [sic] auf das Gesäß geben.“436 Eine Lehrerin berichtete sogar, als sie einem Jungen, den sie „für geistig unzurechnungsfähig hielt“ und deshalb zuvor nie körperlich gestraft hatte, vier Schläge auf den Rücken gab, sei dies „nur auf ausdrücklichen, wiederholt mir geäußerten Wunsch der Großmutter des Knaben, wonach ich ohne irgendwelche Rücksichten zu gebrauchen, den Knaben körperlich züchtigen sollte, nur damit er in der Schule bliebe“, geschehen.437 Solche Aussagen, Eltern wollten selbst strengere Bestrafungen, sind natürlich mit Vorsicht zu bewerten, konnte es sich doch auch um Schutzbehauptungen der Lehrer halten. Das Gleiche gilt für den Vorwurf, eine Beschwerde wegen körperlicher Strafen sei nicht in der Sache, sondern nur durch persönliche Feindschaften mit dem Lehrer begründet. Dennoch gibt es Beispiele, in denen die erhaltenen Akten belegen, dass ein grundsätzlicher Konflikt zwischen dem Lehrer und den Eltern des gestraften Kindes bestand – und nahelegen, dass diese Differenzen tatsächlich der Grund waren, warum die Eltern den Schritt einer offiziellen Beschwerde unternahmen. So schwelte etwa im sächsischen Commerau zwischen dem Lehrer und einem Teil der größtenteils sorbischen Elternschaft ein Streit um den Unterricht in der sorbischen Muttersprache, den der Lehrer aus Sicht der Eltern einschränken wolle, indem er ihn in Zusatzstunden nach der Schule verlegte. Kurz nachdem dieser Konflikt (in dessen Verlauf der Lehrer Privatklage gegen einen negativ über ihn berichtenden Zeitungsredakteur erhoben hatte) ausgebrochen war, erfolgte die Strafanzeige und schließlich das Gerichtsurteil gegen den Lehrer wegen zweier ein bis drei Jahre zurückliegender Überschreitungen des Züchtigungsrechts, denen (so die Urteilsbegründung) „die Eltern der in Frage kommenden Kinder [. . . ] damals keine Bedeutung beigemessen haben“.438
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(Ortsschulinspektion Nied: Protokoll der Aussage von Fr. H., 1.8.1905, HHStAW 405, 14300). Jean [. . . ] an Schul-Inspektor in Speyer, 14.2.1907, LASp H45, 2981. Die Ansicht des Vaters, dass „Ohrenschlagen gesetzlich verboten“ sei, dürfte daher rühren, dass Schläge an den Kopf häufig von Gerichten wegen der mit ihnen verbundenen Gesundheitsgefahr als Überschreitung des Züchtigungsrechts gewertet wurden. Tatsächlich waren sie in vielen bayerischen Regierungsbezirken verboten, es existierte jedoch weder eine für ganz Bayern noch für den Regierungsbezirk der Pfalz gültige entsprechende Vorschrift (vgl. „Die Bestimmungen der einzelnen Kreis-Schul- und Lehrordnungen über das Züchtigungsrecht des Lehrpersonals an den Volksschulen“, LASp H3, 7062, Bl. 67–70). Protokoll der Aussage von Elise Eberz, 30.5.1902, HHStAW 405, 12887, Bl. 262. Amtsgericht Bautzen, Urteil v. 19.1.1912 (A v 209/11) (Abschrift), SächsStAFilA-BZ, 50013, Nr. 2223.
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Welche politischen und sozialen Konflikte im Hintergrund einer Beschwerde wegen Züchtigungsrechtsüberschreitung stehen konnten, verdeutlicht auch ein Fall aus dem südpfälzischen Ingenheim: Dort hatte der katholische Pfarrer und Lokalschulinspektor einige Kinder in der Schule mit je ein bis zwei „Handtatzen“ bestraft, weil sie am Sonntag den Gottesdienst nicht besucht hatten. Der Vater zweier Schülerinnen sah sowohl im Anlass als auch in der Stärke der Schläge (die nach Bescheinigung des Arztes einen roten Striemen auf dem Unterarm bzw. eine schmerzhafte Stelle am Ellbogen hinterlassen hatten) eine Überschreitung der Befugnisse des Pfarrers. Dieser dagegen erklärte, „hinter der ganzen Geschichte steht die hiesige Socialdemokratische Parteileitung“ und der Beschwerdeführer habe „trotz wiederholter Mahnung seine Kinder wiederholt zum Ungehorsam gegen Vorgesetzte veranlaßt [. . . ], wo es sich um die pflichtgemäße religiöse Erziehung der Kinder handelte“.439 Der Pfarrer betonte, seine übliche Praxis, Kinder für das Versäumen des Gottesdienstes auf diese Art zu bestrafen, sei bisher nicht auf Widerspruch gestoßen: „Ordentliche Eltern, denen an der religiösen Erziehung ihrer Kinder gelegen ist, haben mich sogar wiederholt darum ersucht, doch ja ihre Kinder nicht zu schonen, wenn sie Strafe verdient haben in dieser Hinsicht, da ja die Schulzucht u. Kirchenzucht so arg darnieder lag hier.“ Die Regierung der Pfalz ging davon aus, dass der Pfarrer grundsätzlich zur Züchtigung aus diesem Grund berechtigt sei – allerdings nicht in seiner Eigenschaft als Geistlicher, sondern als Ortsschulinspektor, als der er „für Schulzucht im allgemeinen zu sorgen hat“ – und diese umfasste die Pflicht der Schüler zum sonntäglichen Gottesdienstbesuch.440 Diese aus heutiger Sicht weitreichende Kontrolle der Schulkinder sorgte für hohes Konfliktpotenzial mit Eltern, deren politische oder (a-)religiöse Haltung von der durch die Schule gesetzten Norm abwich. Dieses Konfliktpotenzial konnte sich in der Frage körperlicher Züchtigungen entladen und gleichzeitig verstärken. Differenzen zwischen Schule und Elternhaus konnten ein Grund für eine Beschwerde wegen körperlicher Strafen sein; die Furcht vor einem Konflikt mit dem Lehrer und vor daraus entstehenden Nachteilen für das eigene Kind konnte Eltern umgekehrt aber auch davon abhalten, gegen Überschreitungen des Züchtigungsrechts vorzugehen. Dies wurde nicht nur in öffentlichen Debatten
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Stellungnahme A. Kuntz [Juli/August 1913], LASp H3, 7011, Bl. 13v.–14. Dort auch das folgende Zitat. Allerdings war diese Pflicht streng begrenzt: Der Besuch des Abendgottesdiensts galt im Gegensatz zur Messe am Vormittag als freiwillig und somit nicht vom Schulaufseher zu kontrollieren. Die Regierung verwarnte den Pfarrer deshalb, da sie ihm zwar glaubte, dass die Schläge im strittigen Fall, anders als vom Vater angegeben, wegen der morgendlichen Messe erfolgt seien, es aber als erwiesen sah, dass er andere Kinder wegen Versäumens des Abendgottesdiensts, also zu Unrecht, gestraft hatte.
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immer wieder angeführt,441 sondern bestätigt sich zum Teil auch in den hier betrachteten Fällen.442 3.8.2 Sachsen nach dem Verbot
Dass Schulbehörden bei der Ahndung von Überschreitungen des Züchtigungsrechts oft zurückhaltend waren und Eltern nur in außergewöhnlichen Fällen eine Anzeige für notwendig oder erfolgsversprechend hielten, hat neben der verbreiteten sozialen Legitimität körperlicher Strafen einen weiteren, noch naheliegenderen Grund, nämlich deren grundsätzliche schulrechtliche Legalität. Die Problematik, dass die bestehenden Einschränkungen unterschiedlich auslegbar waren und eine recht große Grauzone bildeten, wenn es etwa um die Grenzen einer „angemessenen“ Züchtigung oder die Definition „frecher Widersetzlichkeit“ ging, ist schon mehrfach angesprochen worden. Dass in Bezug auf den genauen Hergang einer Züchtigung die Aussage des betroffenen Kindes bzw. die seiner sich beschwerenden Eltern oft gegen die des Lehrers stand und Zeugenaussagen anderer Kinder als problematisch galten, erschwerte eine eindeutige Beurteilung des Falls weiter. Diese Problematik war für die Schulbehörden noch kritischer als für die Gerichte, denn von ersteren wurde erwartet, dass sie eben nicht nur die Disziplinargewalt über die ihnen unterstellten Lehrkräfte ausübten, sondern diese auch im Falle unberechtigter Anschuldigungen schützten. Vor diesem Hintergrund ist die Frage interessant, wie Schulbehörden dann agierten, wenn eine eindeutige Rechtslage in Form eines Verbots jeglicher körperlicher Strafen bestand. Die Frage nach der Umsetzung der rechtlichen Norm in der sozialen Praxis ist zudem zentral für das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit. Deshalb konzentriert sich die Betrachtung von Einzelfällen für die 1920er Jahre auf Beispiele aus Sachsen, die stichprobenartig die Durchsetzung des Verbots auf lokaler Ebene illustrieren können.443 441 442
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Vgl. beispielsweise Freud: Sollen wir? So berichtete etwa im Fall Sturm ein Vater, der Pfarrer habe ihm von einer Beschwerde abgeraten, da er „meinte, wenn ich die Sache anzeige, würde es der Junge noch schlimmer bekommen bei Herrn Sturm“. Der Vater stellte dies als den Grund dar, warum gegen Sturm nicht noch mehr Anzeigen vorlägen (F. J. C. an Regierung Wiesbaden, 30.7.1909). Dass sich die Auswahl der Einzelfälle nach dem Ersten Weltkrieg auf ein Land beschränkt, während zuvor Beispiele aus unterschiedlichen Regionen herangezogen wurden, hat auch den Hintergrund, dass bis ca. 1920 die Rechtslage in allen Ländern sehr ähnlich war und sich die Einschränkungen des dem Lehrer zugestandenen Züchtigungsrechts nur in Details unterschieden. Ab den 1920er Jahren gab es in dieser Hinsicht jedoch so große Unterschiede zwischen den Ländern (bis hin zum völligen Verbot), dass nur ein diese Unterschiede einbeziehender systematischer Vergleich sinnvoll wäre, der jedoch den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Untersucht wurden für die folgenden Ausführungen (neben einem anhand des archivalischen „Enthält“-Vermerks identifizierten beim Bezirksschul-
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Dass unmittelbar vor Inkrafttreten des Verbots körperliche Strafen in der Schule noch relativ breit akzeptiert wurden, zeigt beispielhaft ein Fall aus der Stadt Lichtenstein aus dem Jahr 1922: Dort hatte der Kantor in der schulischen Chorstunde einen Schüler viermal mit seinem Dirigierstock auf den Kopf geschlagen, weil er sich trotz mehrfacher Ermahnung beim Singen umgedreht hatte. Die Züchtigung hinterließ zwar nach Attest des Arztes keine am nächsten Tag sichtbaren Spuren, der Vater zeigte den Fall jedoch beim Bezirksschulamt an und ließ seinen Sohn bis auf Weiteres nicht am Chorsingen teilnehmen, „da ich keine Gewähr habe, daß derartige Züchtigungen, die die Gesundheit der Schüler gefährten [sic], sich [. . . ] nicht wiederholen“.444 Der Bezirksschulrat rügte die Form der Strafe („Schläge an den Kopf sind in jedem Falle zu unterlassen“), aber nicht etwa deren geringfügigen Anlass, worin er sich offensichtlich mit dem Stadtrat einig war.445 Für den Entschluss des Vaters, seinen Sohn aus der Chorstunde fernzuhalten, hatten beide wenig Verständnis und ahndeten ihn mit einer Geldstrafe. Auch in diesem Fall bestand bereits vor dem Vorfall ein Konflikt zwischen dem Vater und der Lehrerschaft. Dies erklärt auch, warum der Angeklagte zunächst mit einem Gegenangriff reagierte: „Wie beurteilt denn Herr Dr. [H.] seine eigenen vorgenommenen Züchtigungen?“ Der offensichtlich ebenfalls im Schuldienst tätige Beschwerdeführer habe einen Fortbildungsschüler so heftig geohrfeigt, dass dessen Glasauge herausgefallen sei, und einen anderen mit Schlägen durch den Flur getrieben. Dass diese Schilderungen eine große Portion Übertreibung enthielten, ist wahrscheinlich – ebenso aber auch, dass sie einen wahren Kern hatten. Zumindest muss es plausibel erschienen sein, dass ein Lehrer Fortbildungsschüler wiederholt geohrfeigt hatte, ohne dass dies aktenkundig geworden wäre. Bezüglich der Schläge selbst gestand der Kantor zu, dass er in seiner „Verärgerung nicht richtig gehandelt habe“, was er mit der nervlichen Belastung, in der Chorstunde 80 bis 90 Kinder allein beaufsichtigen zu müssen, entschuldigte und mit seinem Eindruck relativierte, „daß dem Schüler [. . . ] die fier [sic] leichten Schläge auf den Kopf kaum Schmerzen verursacht haben dürften, zum mindesten weniger als irgend eine andere körperliche Züchtigung“.446 Diese Formulierung impliziert, dass der Kantor eine körperliche
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amt Schwarzenberg angezeigten Fall) hauptsächlich die Akten der Amtshauptmannschaft Bautzen zu „Beschwerden und Disziplinarverfahren gegen Lehrer“ 1923–25. Sie enthalten insgesamt ca. 30 Fälle, von denen nur drei körperliche Züchtigungen zum Inhalt haben – eine Quote, die die relative Seltenheit von Beschwerden aus diesem Grund belegt. O. H. an Lehrerrat der Diesterwegschule Lichtenstein, 22.5.1922, SächsStA-C 30360, Nr. 260. In Sachsen setzten sich die Bezirksschulämter (vor 1919: Bezirksschulinspektionen) als unmittelbar dem Kultusministerium untergeordnete Schulaufsichtsbehörden aus dem Amtshauptmann (der dem heutigen Landrat vergleichbar ist) oder in Städten, wie hier in Lichtenstein, dem Stadtrat sowie dem Bezirksschulrat (vor 1919: Bezirksschulinspektor) zusammen. Vgl. Reichel, S. 32–43. Kantor Schulze an Bezirksschulamt Lichtenstein, 22.5.1922; vgl. auch Schulleitung Lich-
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Bestrafung an sich nicht als problematisch sah. Insgesamt deuten die Reaktionen aller Beteiligten darauf hin, dass zumindest in dieser sächsischen Kleinstadt körperliche Züchtigungen 1922 im Schulalltag noch recht üblich und akzeptiert waren. Davon ausgehend ist anzunehmen, dass das ab April 1923 gültige Verbot nur schwer in der tatsächlichen schulischen Praxis durchzusetzen war. So betonten auch das Verbot ablehnende Lehrer 1926, Verstöße seien häufig und kämen nur nicht an die Öffentlichkeit, „weil weite Elternkreise in dieser Beziehung eine andere Einsicht haben als der Gesetzgeber“.447 Eltern hätten zum Teil Lehrer sogar ausdrücklich aufgefordert, ihr Kind bei Fehlverhalten zu schlagen, um die Schulzucht zu verbessern.448 Tatsächlich finden sich für beide Behauptungen Belege unter den untersuchten Fällen: So berichtete 1927 ein Mitglied des Schulausschusses von Schönheide im Erzgebirge, dass ein Lehrer regelmäßig Schüler misshandle – und erklärte, die Eltern eines betroffenen Mädchens hätten den Lehrer nur deshalb nicht angezeigt, weil sie fürchteten, er würde dadurch seine Stelle verlieren.449 Die Berufung auf die ausdrückliche Zustimmung der Eltern zu Körperstrafen wurde in einem anderen Fall juristisch relevant: 1924 klagte ein Vater aus einem Dorf bei Bautzen, der Lehrer habe seinen Sohn schon seit einigen Wochen „in der Schule körperlich gezüchtigt und [. . . ] mißhandelt“, zuletzt mit mehreren Schlägen mit der Hand aufs Ohr, das danach schmerzhaft angeschwollen war.450 Der Lehrer gab die Schläge zu, verwies zu seiner Rechtfertigung aber auf die Größe seiner Klasse mit 52 Kindern und betonte, „daß es sich beim Schlagen nie um den Unterricht, sondern entweder um die Pause oder ums Dableiben gehandelt hat“. Vor allem aber führte er an, der Vater des Jungen habe ihn im Vorjahr (also wohl nach Inkrafttreten, sicher nach Beschluss des Züchtigungsverbots) „gebeten, seinen Sohn [. . . ] sehr streng zu halten und ihn zu schlagen, wenn es auf gute Art nicht geht“.451 Dies führte dazu, dass der kurz darauf beim Schöffengericht Bautzen angeklagte Lehrer freigesprochen wurde, was das Amtsgericht in der Berufung bestätigte: Aus dessen Sicht war zwar eine privatrechtlich durchaus mögliche Übertragung des Züchtigungsrecht vom Vater an den Lehrer in diesem Fall nicht
447 448 449 450 451
tenstein: Protokoll der Aussage von Kantor Schulze, 22.5.1922, beide in: SächsStA-C 30360, Nr. 260. Sächsischer Lehrerverein: Bericht über die 51. Vertreterversammlung, S. 232 (Voigtmann, Großbothen). Vgl. ebd., S. 216 (Barth, Chemnitz). K. S. an Bezirksschulamt Schwarzenberg, 3.12.1927 (Abschrift), SächsStA-C 30364, Nr. 982. Amtshauptmannschaft Bautzen: Protokoll der Aussage von S., 23.2.1924, SächsStAFilA-BZ 50013, Nr. 2199. Lehrer H. an Bezirksschulamt Bautzen, März 1924, ebd. Die Aussage des Lehrers ist in diesem Fall besonders glaubhaft, da sie im späteren Gerichtsverfahren (siehe unten) durch Zeugen bestätigt wurde.
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gültig, da Letzterer „in der Schule nicht als Vertreter des Vaters, sondern als Lehrer“ und somit dem öffentlichen Recht unterworfener Amtsträger auftrete.452 Da der Lehrer jedoch überzeugt gewesen sei, dass er durch die Aussage des Vaters zu körperlichen Strafen berechtigt gewesen sei, und somit nicht bewusst widerrechtlich geschlagen habe, fehle eine notwendige Voraussetzung der Strafbarkeit. Diese mögliche Verteidigung bestand freilich nur so lange, wie Lehrer glaubhaft versichern konnten, eine Übertragung des elterlichen Züchtigungsrechts für rechtlich gültig gehalten zu haben. Deshalb schlug die Staatsanwaltschaft vor, das Urteil in der Lehrerschaft möglichst bekannt zu machen. Der Bezirksschulrat sprach sich dafür aus, zu diesem Zweck die Urteilsbegründung dem Bezirkslehrerverein zukommen zu lassen – war also offensichtlich bestrebt, das juristische Schlupfloch zu schließen.453 Der Lehrer wurde mit einem Verweis bestraft. Dass Schulaufsichtsbehörden aktiv versuchten, gegen schlagende Lehrer vorzugehen, zeigt ein Fall aus Rothnauslitz, wo das Bautzener Bezirksschulamt offensichtlich einen Artikel einer lokalen Zeitung, der dem Lehrer und Schulleiter Richter Misshandlung vorwarf, ernst genug und zum Anlass nahm, den geschilderten Fall zu untersuchen.454 Nach Richters Aussage sei der Zeitungsartikel, laut dem er die Schülerin geschlagen und mit dem Kopf auf die Schulbank gestoßen habe, weil sie sich beim Essen verschluckt habe, stark übertrieben gewesen: Das 14-jährige Mädchen habe, nachdem es am gleichen Tag schon mehrmals wegen Störungen ermahnt worden war, beim Essen einen lauten „Jauchzer“ (der laut dem Lehrer auf keinen Fall von einem Verschlucken herrühren konnte) von sich gegeben. Darauf habe Richter dem Mädchen „links und rechts einige Klapse mit der Hand“ gegeben, dabei aber nur die schützend vor das Gesicht gehaltenen Hände getroffen.455 Laut ärztlichem Attest waren bei der Schülerin nur leichte Hautabschürfungen zu sehen. Auch wenn man die Version des Lehrers zugrunde legt, waren die Schläge doch eindeutig ein Verstoß gegen das Schulbedarfsgesetz – so sah es auch das Amtsgericht Bischofswerda und erließ einen Strafbefehl über 20 Mark Geldstrafe. Zusätzlich erteilte das Bezirksschulamt dem Lehrer einen Verweis. Richter akzeptierte den Strafbefehl ohne Einspruch, seine ursprüngliche Stellungnahme zu dem Vorfall erweckt jedoch den Eindruck, als habe er selbst die Körperstrafe als, wenn nicht legal, so doch legitim gesehen: Er betonte, es sei gerade als Schulleiter immer sein „Bestreben gewesen, auf Ordnung in der Schule zu halten [sic]; denn ohne Disziplin ist kein Unterrichten möglich. [. . . ] In der jetzigen Zeit läßt die Erziehung der Kinder seitens der Eltern oft viel zu wünschen übrig.“ Ohne dass sie explizit ausgesprochen wird, ist hier 452 453 454 455
LG Bautzen: Urteil vom 19.6.1924 (Abschrift), ebd. Vgl. Bezirksschulrat an Amtshauptmannschaft Bautzen, 11.12.1924, SächsStAFilA-BZ, 50013, Nr. 2199. Vgl. Ausschnitt aus der Volkszeitung vom 1.11.1924, SächsStAFilA-BZ, 50013, Nr. 2199. Richter an Bezirksschulamt Bautzen, 3.11.1924, ebd. Dort auch das folgende Zitat.
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wieder die traditionelle Gleichsetzung ‚strenger‘ Erziehung mit der Möglichkeit körperlicher Strafen zu erkennen – und die hohe, auch ein gewisses Maß an Gewaltanwendung rechtfertigende, Priorität, die den Werten Ordnung und Disziplin eingeräumt wird. Die Stellungnahme Richters weckt zumindest den Eindruck, dass der zur Anklage führende Vorfall keine einmalige Ausnahmesituation war. In anderen Fällen ist sogar eindeutig überliefert, dass der Lehrer im Unterricht noch regelmäßig körperlich strafte: Beim bereits vorgestellten Fall des vom väterlichen Einverständnis ausgehenden Lehrers war zumindest ein Junge immer wieder gezüchtigt worden. Über einen Lehrer in Schönheide hieß es in der Beschwerde eines Schulausschussmitglieds sogar, „daß dieser Herr seine 7–8 jährigen Klassenkinder bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit schlägt, das [sic] tagelang die Spuren davon zu sehen sind“, wobei drei konkrete Fälle beispielhaft angeführt wurden. Das Bezirksschulamt übergab die Anzeige an die Staatsanwaltschaft und erteilte selbst dem Lehrer einen Verweis. Leider sind die Akten des Strafverfahrens nicht überliefert, sodass offenbleiben muss, wie der Lehrer die Körperstrafen rechtfertigte. Dennoch ist der Fall aufschlussreich: Obwohl nachweislich mehrere Kinder mehrfach geschlagen worden waren, hatte kein Elternteil eine offizielle Beschwerde erstattet – erst durch die Initiative eines Mitglieds des Schulausschusses gelangte der Fall zur Kenntnis der Schulaufsichtsbehörden. In Verbindung mit den anderen Fällen und den anfangs zitierten Lehreräußerungen legt dieses Beispiel nahe, dass auch in den 1920er Jahren von einer hohen Dunkelziffer nicht angezeigter Verbotsverstöße auszugehen ist. Vieles deutet darauf hin, dass trotz des vollständigen Verbots – und obwohl in den betrachteten Fällen bekannt werdende Verstöße von der Schulbehörde stets zumindest mit einem Verweis geahndet wurden und auch Gerichte bereits bei recht geringfügigen Züchtigungen Geldstrafen aussprachen456 – Körperstrafen auch nach dem Verbot im sächsischen Schulalltag noch in nennenswerter Zahl vorkamen. 3.8.3 Überregionale Entwicklung
Wie häufig Prozesse gegen Lehrer wegen körperlicher Züchtigungen waren und vor allem zu welchem Strafmaß sie typischerweise führten, lässt sich recht gut anhand der beim Deutschen Lehrerverein bearbeiteten Rechtsschutzfälle er456
So wurde 1929 beispielsweise ein leichter Schlag an den Kopf eines Schülers, der versuchte heimzulaufen, statt die verhängte ‚Strafstunde‘ abzusitzen, mit 10 RM Geldstrafe geahndet. Ein Lehrer, der einem Jungen und einem Mädchen je einen Stockschlag auf den Rücken gegeben hatte, musste 50 RM Strafe zahlen. Vgl. Bericht über den Rechtsschutz des D.L.V., in: Jahrbuch des Deutschen Lehrervereins 55 (1930), S. 136–169, hier S. 139 f.
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kennen: Zwar sind hier naturgemäß nur Mitglieder des DLV berücksichtigt, diese umfassten nach Rainer Böllings Berechnungen in den 1920er Jahren aber immerhin rund drei Fünftel aller Volksschullehrer.457 Hier wurden für die Jahre 1917 bis 1924 im Schnitt jährlich fünf Verurteilungen zu Geldstrafen verzeichnet, erst ab 1925 erhöhte sich diese Zahl auf 14.458 Dieser Anstieg dürfte vor allem darauf zurückzuführen sein, dass mit dem sächsischen Verbot und den zunehmenden Einschränkungen beispielsweise in Preußen Körperstrafen häufiger als illegal gesehen werden konnten – und vielleicht auch darauf, dass mit einer stärker werdenden öffentlichen Kritik an dieser Strafform die Bereitschaft, gegen schlagende Lehrer Anzeige zu erstatten, wuchs. Dennoch galt auch für die 1920er Jahre noch, dass die von den Lehrern immer wieder betonte Gefahr strafrechtlicher Verfolgung statistisch gesehen zwar wuchs, aber auf einem relativ niedrigen Niveau blieb. Dies illustrieren auch die Zahlen aus dem Regierungsbezirk Koblenz, wo es von 1927 bis 1933 insgesamt nur vier Gerichtsverfahren wegen Körperverletzung im Amt gab, von denen drei eingestellt wurden und das andere in zweiter Instanz zum Freispruch führte. Von den neun dort in dieser Zeit geführten Disziplinarverfahren betraf nur eines einen Züchtigungsfall und endete mit einem Verweis, also einer vergleichsweise milden Strafe.459 Während die Zahl der strafrechtlich geahndeten Fälle (auf niedrigem Niveau) stieg, deutet vieles darauf hin, dass die tatsächliche Häufigkeit körperlicher Strafen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zurückging: Dies legen nicht nur punktuell die eingangs vorgestellten Strafbücher aus dem Taunus nahe, sondern auch die Auswertung der Wirkung des Erlasses von 1928 im preußischen Kultusministerium: So berichteten „mehrere“ Bezirksregierungen, „daß die körperliche Züchtigung in den Schulen in erfreulichem Maße zurückgehe“.460 Trotz aller Widerstände in großen Teilen der Lehrerschaft zeigten die Versuche der Kultusministerien, Körperstrafen zurückzudrängen, zwar begrenzte und allmähliche, aber offenbar doch vorhandene Wirkung. Auch wenn die untersuchten Einzelfälle auf eine immer noch recht weite Akzeptanz körperlicher Strafen hindeuten und eine hohe Dunkelziffer von Verstößen vor allem gegen das vollständige Verbot in Sachsen nahelegen, zeigen sie andererseits für die 1920er Jahre im Vergleich zum Beginn des Jahrhunderts intensivere Bemühungen von Schulbehörden, die Einschränkungen durchzusetzen. Insgesamt ergibt sich der 457 458 459 460
Vgl. Bölling: Politik, S. 59. Vgl. Jahrbuch des Deutschen Lehrervereins 43 (1918) bis 53 (1928). Vgl. die zur Meldung ans Kultusministerium zusammengestellten Übersichten in LHAKo, 441, 31357. Außerdem berichteten alle bis auf zwei Bezirke, dass im vergangenen Jahr Bestrafungen von Lehrern wegen Missbrauchs des Züchtigungsrechts „in mäßigem Umfange“ (die höchsten Zahlen lagen bei 11 Fällen im Regierungsbezirk Liegnitz und 17 im Bezirk Magdeburg) vorgekommen seien. Vermerk v. 15.8.1929, GStAPK 1.HA Rep 76, Nr. 1411, Bl. 110.
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Eindruck, dass mit der zunehmenden pädagogischen und öffentlichen Kritik an körperlichen Schulstrafen auch ein, allerdings zögerlicher und hinter den normativen Entwicklungen zurückbleibender, Wandel in der sozialen Praxis einherging.
3.9 Zwischenfazit 1900–1930: Reform und begrenzte Veränderung Mochten auch die Erwartungen einer völligen Neuerung, wie sie von Vertretern der Reformpädagogik um 1900 geäußert wurden, überschwänglich und übertrieben gewesen sein – in Bezug auf Schulstrafen brachten die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts tatsächlich tiefgreifende Veränderungen: Seit der Jahrhundertwende etablierte sich die vorher nur von Außenseitern vertretene Ablehnung körperlicher Strafen immer mehr, sowohl im theoretisch-pädagogischen Diskurs als auch in der Lehrerschaft. Um 1930 hatte sie sich schließlich so weit durchgesetzt, dass auch konservativere pädagogische Lexika Schläge nur noch als in Ausnahmefällen notwendiges Übel, nicht mehr jedoch als grundsätzlich akzeptables oder sinnvolles Erziehungsmittel beschrieben. Auch die großen Lehrerverbände sahen eine Abschaffung körperlicher Strafen zumindest als wünschenswertes Ziel, auch wenn sie dessen vollständige Umsetzung erst nach einer Verbesserung der Unterrichtsbedingungen für möglich hielten – mit Ausnahme des Sächsischen Lehrervereins, der sogar das dort 1922 verabschiedete vollständige Verbot unterstützte. Zwar wird bei näherem Hinsehen deutlich, dass auch dessen eindeutige Position keinesfalls von allen Mitgliedern geteilt wurde und dass in der Lehrerschaft eine grundsätzliche Befürwortung von körperlichen Strafen als Erziehungsmittel (und nicht etwa nur noch notwendiges Übel) durchaus noch verbreitet war. Entscheidend ist aber, dass diese Befürwortung – zumindest in den großen nichtkonfessionellen Lehrerzeitschriften und -verbänden – eben kaum noch offen geäußert wurde, sondern meist die Formel von der wünschenswerten, aber noch nicht möglichen Abschaffung als Kompromiss diente. Diese Verschiebung im Diskurs ist einerseits auf die Rezeption reformpädagogischer Kritik an Strafen in der Erziehung zurückzuführen, wobei die Schriften Ellen Keys und Friedrich Wilhelm Foersters besonders einflussreich waren, mindestens ebenso wichtig war aber die Sensibilisierung für medizinische und sexuelle Gefahren durch den ‚Nervendiskurs‘ nach der Jahrhundertwende und vor allem das Aufkommen von Psychologie und psychoanalytischer Pädagogik. Sie schärften den Blick für die Gründe unerwünschten Schülerverhaltens und ließen Erziehungsstrafen als mögliche Ursache statt Lösung erscheinen. Somit brachten sie einerseits neue Perspektiven in die Debatte ein und verliehen andererseits älteren Argumenten zu den seelischen Folgen von Schlägen durch ihren wissenschaftlichen Anspruch neue Bedeutung und Autorität.
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3.9 Zwischenfazit 1900–1930: Reform und begrenzte Veränderung
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In den öffentlichen Debatten führte dies dazu, dass die Lehrerschaft ihren 1899 noch eindrucksvoll demonstrierten Expertenstatus immer mehr verlor. Dies war ein Grund, warum vor allem in den 1920er Jahren in der öffentlichen Debatte Forderungen nach einem Züchtigungsverbot immer lauter wurden. Hinzu kamen politische Veränderungen: Der Verzicht auf gewaltsame Schulstrafen konnte nicht nur in der neu begründeten Weimarer Republik als Schritt zur Demokratisierung und Teil umfassender Schulreform erscheinen – er war auch eine bis vor die Jahrhundertwende zurückreichende bildungspolitische Forderung der Arbeiterbewegung gewesen, die nun in mehreren Ländern an der Regierung beteiligt war. In Sachsen führte dies 1922 zum gesetzlichen Züchtigungsverbot, das nicht zuletzt aufgrund der Zustimmung der Lehrerschaft zustande kommen und Bestand haben konnte. Das preußische Beispiel zeigt allerdings, dass ein (zeitweise) sozialdemokratisch geführtes Kultusministerium allein keinesfalls zur Abschaffung körperlicher Strafen führte: Zwar versuchte auch hier das Kultusministerium durch mehrere Erlasse, Körperstrafen einzuschränken und sowohl die Lehrerschaft als auch die niederen Schulaufsichtsbehörden von deren erzieherischer Schädlichkeit zu überzeugen. Ein Verbot wurde aber nur zwischenzeitlich überhaupt in Erwägung gezogen und erschien offenbar zu keinem Zeitpunkt durchsetzbar – so, wie auch im Landesparlament entsprechende Anträge stets scheiterten. Letzteres galt auch in Bayern, wo zudem auch im Kultusministerium keine Einschränkungen befürwortet wurden, die über die rechtlich unverbindlichen, Lehrer zum weitestmöglichen Verzicht auf Köperstrafen auffordernden pädagogischen ‚Merksätze‘ von 1910 hinausgingen. Schon diese Mehrheitsverhältnisse in den Landtagen verdeutlichen, dass die beschriebenen Veränderungen im öffentlichen Diskurs keinesfalls mit einer quantitativen Dominanz der Züchtigungsgegner zu verwechseln sind. Auch die untersuchten Einzelfälle aus Sachsen zeigten eine eher zögerliche Umsetzung des Verbots und warnen so vor einer Überbewertung von normativen Veränderungen im Hinblick auf den Schulalltag. Gerade am Beispiel des Umgangs mit dem sächsischen Verbot wird auch deutlich, wie sehr Gerichte noch am Züchtigungsrecht festhielten. Im gesamten juristischen Diskurs wurden die pädagogischen und psychologischen Diskussionen der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts kaum aufgegriffen, sondern unverändert an der Vorstellung von Körperstrafen als notwendigem und weitgehend selbstverständlichem Teil der Erziehung festgehalten. Doch auch wenn der Wandel vielleicht langsamer vonstattenging, als es auf den ersten Blick scheinen könnte, schien seine Richtung um 1930 eindeutig: Die fast durchgängige Ablehnung in der pädagogischen Theorie und die, je nach Land mehr oder weniger intensiven, aber doch überall vorhandenen Zurückdrängungsversuche der Schulbehörden ließen eine endgültige Abschaffung nur noch als eine Frage der Zeit erscheinen.
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4. Rückkehr zur Prügelpädagogik? Die Zeit des Nationalsozialismus Wie das letzte Kapitel gezeigt hat, schienen sich zum Ende der Weimarer Republik in den – noch – kontrovers geführten Debatten um körperliche Schulstrafen deren Gegner immer mehr durchzusetzen, und vieles deutete auf eine bevorstehende Ächtung dieser Strafform hin. „Die Zeit des Nationalsozialismus unterbricht diese Entwicklung und stellt ein Zurückfallen in längst überwundene Zeiten dar“, so lautet das eindeutige Urteil eines rückblickenden Kommentators aus den 1950er Jahren.1 Die Annahme, dass körperliche Schulstrafen in der Härte und Disziplin betonenden nationalsozialistischen Schulerziehung eine Renaissance erlebten, liegt nahe. Sie galt bereits zeitgenössisch als selbstverständlich, wenn etwa der im Exil erscheinende Neue Vorwärts 1936 von „der nationalsozialistischen Prügelpädagogik“ sprach.2 Und sie schwingt mit, wenn beispielsweise ein heutiger Forscher es bei der Untersuchung der Erziehungspraxis eines Internats für unwahrscheinlich hält, „dass auf dieses Disziplinierungsmittel ausgerechnet in der Zeit des Nationalsozialismus verzichtet worden wäre“.3 Den hier eher impliziten Zusammenhang zwischen körperlichen Strafen, dem Prinzip der Härte gegen sich selbst und andere und nationalsozialistischen Erziehungszielen formuliert die Hamburger Arbeitsgruppe Pädagogisches Museum 1983 folgendermaßen: „Dies war – beispielsweise in Gestalt der Prügelstrafe, eines autoritären Befehlstons, des Verbots, Schwächeren zu helfen – in vielen Klassen tägliche Unterrichtspraxis. Eine solche Lebens- und Lernform senkte zugleich die Hemmschwelle gegen die Übernahme inhumaner Inhalte.“4 Doch fällt auf, dass sich solche Aussagen über körperliche Strafen als Teil nationalsozialistischer Schulerziehung meist wenig auf konkrete Quellen stützen. Tatsächlich gibt es – von wenigen weiter unten behandelten Ausnahmen abgesehen – kaum Erlasse oder andere Dokumente, aus denen eine ‚offizielle‘ Linie der NS-Schulpolitik zum Thema zu entnehmen wäre. Die 1939 erlassenen reichsweit gültigen Richtlinien für „Erziehung und Unterricht in der Volksschule“ beispielsweise, die neben Lehrplaninhalten der einzelnen Fächer auch allgemeine Vorgaben zu Zielen und Aufgaben der Volksschule enthielten, machten keine Aussage zur Aufrechterhaltung der Schuldisziplin bzw. zu erlaubten 1 2 3 4
Schumacher: Bedeutung, S. 22. Vgl. ganz ähnlich auch Rohrbach: Züchtigung, S. 19. Schicksal der deutschen Reformschulen, in: Neuer Vorwärts Nr. 139 v. 9.2.1936. Liedtke: Züchtigung, S. 207. Arbeitsgruppe Pädagogisches Museum: Heil, S. 121. Allgemein zu Härte als nationalsozialistischem Erziehungsziel vgl. Kössler: Kindheit, S. 303–308. Vgl. zur Verbreitung des „Mythos“, im Nationalsozialismus seien schulische Körperstrafen wiedereingeführt worden, auch Levsen: Autorität, S. 291.
https://doi.org/10.1515/9783111123783-004
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4. Rückkehr zur Prügelpädagogik? Die Zeit des Nationalsozialismus
Strafmitteln.5 Diese Abwesenheit konkreter Veränderungen der Rechtslage lässt für einige Autoren den „Einwand, das Dritte Reich sei mit dem Wiederaufleben alter Prügelpädagogik verbunden, nicht zutreffend“ erscheinen.6 Sie können zudem auf das durch die Konkurrenz von Schule und Hitlerjugend verkomplizierte und je nach Konstellation verschobene Machtverhältnis von Schülern und Lehrern verweisen, das sich auch auf die Strafpraxis auswirkte: „Zwar wird die hinsichtlich der körperlichen Züchtigung vor 1933 bestehende Rechtslage beibehalten, doch Lehrer tun gut daran, sich angesichts von Konfliktlagen mit der HJ mit Strafen überhaupt zurückzuhalten.“7 Die Erforschung des Schulwesens im Nationalsozialismus, die seit den 1980er Jahren verstärkt den tatsächlichen Schulalltag jenseits rein normativer Quellen wie Erlassen in den Blick genommen hat,8 scheint allerdings zunächst das Bild einer besonders handgreiflichen Strafpraxis zu bestätigen. In Heidi Rosenbaums Zeitzeugenbefragungen zum „Kinderalltag im Nationalsozialismus“ beispielsweise erinnert sich in jedem der vier von ihr untersuchten Fallbeispiele (der Stadt Göttingen, der Kleinstadt Hann. Münden, einem protestantischen Industriedorf und einem katholischen Dorf im Eichsfeld) zumindest ein Teil der Interviewpartner an regelmäßige und zum Teil heftige Schläge in der Schule. Berichtet wurde dabei auch von Strafen, die gegen alle in den vorigen Jahrzehnten erlassenen, in den Debatten allgemein anerkannten und nach 1933 rechtlich gesehen an sich weiterhin gültigen Einschränkungen verstießen: Schläge mit dem Rohrstock auch in höheren Schulen, Prügel wegen schlechter Leistungen und wegen geringfügiger Anlässe, bis hin zum berichteten Ritual eines Lehrers, jedem Schüler an dessen Geburtstag pro Lebensjahr einen Schlag zu verabreichen, „mit einer Intensität, die seinem Verhalten in der Schule korrespondierte“.9 Auch 5
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„Richtlinien für Volksschulen“, Runderlass vom 15.12.1939, in: Kluger: Volksschule, S. 107– 142. Vgl. zum Zustandekommen und Inhalt der Richtlinien: Ottweiler: Volksschule, S. 148– 174. Serwe: Entwicklung, S. 113. Auch für Benjamin Ortmeyer gehört es „zu den großen fundamentalen Fehlern, sich die NS-Pädagogik als Prügelpädagogik vorzustellen“ (NS-Ideologie, S. 76). Dabei stellt er klar, dass Züchtigung nicht „ganz ausgeschlossen“ war, aber im Gegensatz zu „Psychoterror“ eben kein zentrales Erziehungsmittel darstellte. Geißler: Schulgeschichte, S. 527. Vgl. zum „Dauerkonflikt“ der HJ mit Lehrern, Schule und Schulbehörden auch Breyvogel/Lohmann: Schulalltag, S. 210. Auch sie weisen darauf hin, dass „ein distanzierter, versteckt republikanisch gesonnener Lehrer [. . . ] gegenüber einem faschistisch gesonnenen Schüler teilweise entmachtet“ sein konnte (aber selbstverständlich auch bei umgekehrter Konstellation in der Partei organisierte Lehrer eine „Doppelgewalt“ gegenüber ihren Schülern – oder, so könnte man ergänzen, gegenüber mit Schulstrafen nicht einverstandenen Eltern – haben konnten), S. 202. Vgl. etwa Breyvogel/Lohmann: Schulalltag, S. 199–201. Rosenbaum: Trotzdem, S. 114. Zur Züchtigung an höheren Schulen vgl. ebd., S. 124, zu den anderen Beispielen S. 473 f., S. 583. Allerdings wird auch von Beschwerden von Eltern gegen zu häufige Strafen berichtet (vgl. S. 372). Zur Relativierung solcher Zeitzeugenberichte über besonders häufige Körperstrafen in der NS-Zeit ließe sich die Befragung von Pipping
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von politisch motivierten Schlägenberichten Zeitzeugen, etwa dass überzeugt nationalsozialistische Lehrer katholische Schüler schlugen, weil sie nicht der HJ beigetreten waren.10 Auch Jörg-W. Link verweist in seiner Darstellung der Volksschule im Nationalsozialismus einerseits auf Zeitzeugenberichte über einen von militärischen Formen geprägten Unterricht, in dem äußerliche Disziplin und drillhaftes Auswendiglernen ideologisch bestimmter Unterrichtsinhalte vor allem durch körperliche Strafen durchgesetzt wurden. Andererseits betont Link: „Stumpfsinnige Prügelpädagogik gab es indes vor 1933 schon und auch nach 1945 noch.“ Er legt überzeugend dar, dass eine den NS-Bildungszielen entsprechende Ideologisierung der Unterrichtsinhalte genauso mit reformpädagogischen Methoden und didaktischen Idealen wie Alltagsnähe und Selbsttätigkeit der Schüler vereinbar war.11 War die von Zeitzeugen überlieferte ‚Prügelpädagogik‘ also tatsächlich eine spezifisch nationalsozialistische? Oder handelte es sich nur um weitere Fälle des genauso in früheren (und, so viel kann vorweggenommen werden, späteren) Jahren zu findenden Phänomens, dass in der alltäglichen Praxis Körperstrafen in einem Ausmaß vorkamen, das klar über das in der theoretischen Norm akzeptierte hinausging? Bedeutete die NS-Zeit tatsächlich einen vollständigen Abbruch einer Entwicklung hin zur zunehmenden Ablehnung körperlicher Strafen? Oder zeigen sich doch eher Kontinuitäten: die der über das theoretisch Legitimierte hinausgehenden Anwendung in der Praxis; die der bei vielen Lehrern und Eltern noch verbreiteten Befürwortung körperlicher Strafen unter bestimmten Umstän-
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u. a. aus den 1950er Jahren anführen: Dort berichteten von 444 befragten Jugendlichen aus Niedersachsen, Baden und Bayern, die 1950 zwischen 18 und 22 Jahren alt waren, also ihre Volksschulzeit zum größten Teil oder vollständig unter dem Nationalsozialismus erlebt hatten, immerhin 58,8 % nicht von körperlichen Strafen in ihrer Schulzeit, etwa 36,5 % erwähnten diese und 4,7 % erinnerten sich an „besonders brutale oder harte körperliche Züchtigung“. Allerdings wurde die Befragung in Form relativ freier Interviews durchgeführt, bei denen nicht durchgängig ausdrücklich nach Körperstrafen gefragt wurde, sodass eine Nichterwähnung nicht mit deren Nichtvorhandensein gleichzusetzen ist. Die Ergebnisse deuten aber zumindest darauf hin, dass eine Mehrheit der Jugendlichen Körperstrafen nicht als charakteristisches Merkmal ihrer Schulzeit (im Vergleich zu ihrer Gegenwart um 1950) empfand (vgl. Pipping u. a.: Gespräche, S. 208). Trapp: Kölner Schulen, S. 69. Link: Erziehungsstätte, S. 95–104, Zitat S. 96. Auf theoretisch-normativer Ebene galt dies ohnehin, so forderten etwa die „Richtlinien für Volksschulen“ von 1939 in ihren Allgemeinen Bestimmungen, dass „Dem natürlichen Drängen der kindlichen Kräfte nach selbsttätiger und selbstständiger Arbeit [. . . ] entsprechend den Erfordernissen der einzelnen Wachstumsstufen Rechnung zu tragen“ sei, z. B. durch Einzel- und Gruppenarbeit (zitiert nach Kluger: Volksschule, S. 112). Vgl. auch Keims Beschreibung der in den Richtlinien genannten Arbeitsformen als „Mischung von Weimarer Tradition mit spezifisch nationalsozialistischen Elementen“ (Erziehung, Bd. II, S. 46) und sein Verweis auf Beispiele dafür, dass der Unterricht „weithin in traditionellen Bahnen, teilweise sogar in reformpädagogischem Geist“ verlief (ebd., S. 50).
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den – und auch die der pädagogisch-psychologischen Kritik an dieser Strafform? Diesen Fragen soll im Folgenden zunächst auf der normativen Ebene nachgegangen werden, erst in pädagogischer, dann in schulrechtlicher Hinsicht, bevor dann anhand von Einzelfällen aus Sachsen der Bogen zurück zur schulischen Praxis geschlagen wird.
4.1 Die kaum noch vorhandene theoretische Debatte Die auffälligste Veränderung nach 1933 ist das weitgehende Abbrechen der Debatten über körperliche Strafen: Während das Thema Ende der 1920er Jahre nicht nur in pädagogischen, psychologischen und Lehrerzeitschriften, sondern immer wieder auch in öffentlichen Debatten präsent war, verlor es bereits ab 1930 offensichtlich an Aufmerksamkeit, um dann ab 1933 nahezu vollständig aus der fachlichen und öffentlichen Diskussion zu verschwinden. Diese Entwicklung ist einerseits wenig erstaunlich: Ganz abgesehen davon, dass ein totalitäres Regime grundsätzlich nicht gerade förderlich für kontroverse Diskussionen ist und dass in der gelenkten Fachöffentlichkeit der Pädagogik spezifisch NS-ideologische Themen nach 1933 Aufmerksamkeit absorbierten,12 erklärt sich dies vor allem mit einem Blick darauf, von welchen Akteuren die Debatten in den Jahren vor 1933 in erster Linie ausgegangen waren: Zwar hatten sich vereinzelt auch Kritiker der aus ihrer Sicht zu weitgehenden Einschränkung körperlicher Strafen etwa durch den preußischen Erlass von 1928 zu Wort gemeldet, aber gerade in der Öffentlichkeit waren es vor allem die Züchtigungsgegner gewesen, die ihre unerfüllte Forderung nach einem Verbot immer wieder auf die Tagesordnung von Parlamenten und in die Schlagzeilen der Presse gebracht hatten. Und auch wenn die individuelle Positionierung zu körperlichen Strafen keineswegs automatisch mit parteipolitischen Zuordnungen deckungsgleich war, war die politische Forderung eines vollständigen Verbots nur von der Linken vertreten worden. Im wissenschaftlichen Diskurs waren die entscheidenden Impulse zu einer (Neu-)Beschäftigung mit der Frage der Schulstrafen zuletzt vor allem von der pädagogischen Psychologie, Psychoanalyse und Individualpsychologie ausgegangen – allesamt Fachrichtungen, die im Nationalsozialismus weitgehend
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Dies zeigt bereits ein Blick auf die Inhaltsverzeichnisse von Lehrerzeitschriften in den Jahren ab 1933, die dominiert waren von Artikeln zur Einbindung nationalsozialistischer Inhalte wie etwa des „Rassegedankens“ in verschiedenen Fächern oder zur Umsetzung der „völkischen Schule“ (vgl. beispielsweise Inhaltsverzeichnis, in: Die Mittelschule 48 (1934); Inhaltsverzeichnis, in: Die deutsche Schule 37 (1933)). Zu den ideologischen Inhalten von NS-Lehrerzeitschriften vgl. ausführlich Ortmeyer: NS-Ideologie.
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4.1 Die kaum noch vorhandene theoretische Debatte
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unterdrückt wurden oder zumindest an Bedeutung verloren.13 Viele der Psychologen und Pädagogen, die sich vor 1933 gegen körperliche Strafen ausgesprochen hatten, wurden nun aus antisemitischen und/oder politischen Gründen verfolgt, verloren ihre Stellen bzw. Publikationsmöglichkeiten und mussten emigrieren – Helmut von Bracken, Paul Oestreich, Alice Rühle-Gerstel, Elisabeth Rotten, Friedrich Wilhelm Foerster oder Erich Stern sind nur einige der uns in den vorherigen Kapiteln als lautstarke Körperstrafenkritiker begegneten Namen, die sich hier nennen ließen. Dass die Debatte um das Thema zum Erliegen kam, lässt sich also schon damit erklären, dass ihr eine große Zahl an Teilnehmern genommen worden war. Wenn auch das Fehlen einer offenen, kontroversen Debatte nicht erstaunt, ist doch frappierend, wie wenig die Frage zulässiger Schulstrafen überhaupt thematisiert wurde, sei es auf wissenschaftlicher, berufspraktischer, öffentlicher oder schulrechtlicher Ebene. Dies zeigt sich exemplarisch in der äußerst umfangreichen und umfassenden Bibliographie der 1938 im Archiv für die gesamte Psychologie veröffentlichten Dissertation von Franz Bohl zum „Problem der körperlichen Strafe in der Erziehung“: Sie enthält lediglich zwei ab 1933 erschienene Titel, von denen nur einer ausdrücklich körperliche Strafen als Hauptthema behandelt.14 Der andere Beitrag zur wissenschaftlichen Debatte um Körperstrafen aus dieser Zeit wäre natürlich Bohls Dissertation selbst. Diese war laut einer späteren Auflage von den praktischen Erfahrungen des Verfassers als Erzieher in Fürsorgeerziehungsanstalten und Lehrlingsheimen inspiriert und wurde betreut von dem 1937 wegen seiner jüdischen Ehefrau zwangsemeritierten und im gleichen Jahr verstorbenen Professor Aloys Fischer, der sowohl das pädagogische als auch das psychologische Institut der Universität München geleitet hatte.15 Sie steht – wie schon anhand der Bibliographie zu vermuten – durchaus noch in der Tradition (psychologischer) Kritik an Körperstrafen, wie sie aus den 1920er Jahren bekannt ist, auch wenn Bohl, nicht überraschend, auf ein ausdrückliches Zitieren psychoanalytischer Argumente verzichtet. Stattdessen betont er die medizinischen Gefahren und, mit Verweis auf Albert Moll, auch das für Bohl zwar minimale, aber doch vorhandene Risiko, dass Schläge sexuelle Fehlentwicklungen auslösen könnten. Vor allem aber argumentiert Bohl entwicklungspsychologisch: Aus13
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Vgl. für die pädagogische Psychologie Ewert: Stern, insb. S. 216 (mit Bezug v. a. auf die Lehrerbildung), sowie Lück: Geschichte, S. 190. Zu Individualpsychologie und Psychoanalyse vgl. Lück: Geschichte, S. 18 f. und 125 f. (wobei Lück darauf hinweist, dass die Behauptung einer vollständigen ‚Zerschlagung‘ der Psychoanalyse als „Legende“ zu bewerten ist). Nämlich der unten ausführlich vorgestellte Aufsatz Georg Usadels. Allerdings zeigt die Bibliographie auch, dass das Interesse am Thema schon in den letzten Jahren der Republik nachgelassen hatte: So stammen aus den Jahren 1927–29 ungefähr viermal so viele Titel wie aus dem Zeitraum 1930–32. Bohl: Problem, 1949, S. 5.
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4. Rückkehr zur Prügelpädagogik? Die Zeit des Nationalsozialismus
gehend von dem Konzept, dass sich Fähigkeiten und Verhalten von Kindern in bestimmten aufeinanderfolgenden Phasen entwickeln, begründet er für verschiedene Entwicklungsstufen jeweils die Unangemessenheit körperlicher Strafen. Dabei betont er, dass die typischerweise mit (Körper-)Strafen unterdrückten Verhaltensweisen, etwa Trotz, Lügen oder die verschiedenen Begleiterscheinungen der Pubertät in Wahrheit „nachgewiesenermaßen voll und ganz naturgemäß, entwicklungsnotwendig sind“. Bohls Fazit lautet somit, dass das Anwenden von Körperstrafen und das Wissen um die Entwicklungsstufen des Kindes „einander ausschließende, unvereinbare Gegensätze“ seien, weshalb es auf dem Boden psychologischer Erkenntnis stehend undenkbar sei, „der körperlichen Strafe das Prädikat einer Erziehungsmaßnahme zuzusprechen“.16 Erst die Fußnote zu dem zitierten Satz lässt erkennen, dass die Dissertation im nationalsozialistischen Deutschland veröffentlicht wurde: „In dieser Richtung bewegt sich naturgemäß die Auffassung der körperlichen Strafe in der neuesten Zeit, die, aus der großen Sicht nationaler Gegebenheiten fließend, den Anschauungen unserer Vorfahren wieder gerecht wird.“17 Hiermit spielt Bohl auf eine aus dem 19. Jahrhundert stammende und schon in den 1900er Jahren recht beliebte Deutung an, nach der körperliche Strafen bei den alten Germanen noch nicht üblich gewesen seien und sich erst mit der Dominanz der christlichen Kirche im Mittelalter als Erziehungsmittel etabliert hätten – somit also eine „urgermanische Abneigung gegen diese Strafe“ bestehe.18 Während Bohls Verweis auf die völkisch-nationale Tradition der „Anschauungen unserer Vorfahren“ eher als oberflächliche Konzession an die herrschende Ideologie erscheint, zeigt ein anderer der wenigen Debattenbeiträge zum Thema nach 1933, dass auch aus einer dezidiert ideologisch-nationalsozialistischen Perspektive heraus eine vollständige Ablehnung körperlicher Strafen vertreten werden konnte: 1935 erschien im Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt ein Aufsatz namens „Erziehung und körperliche Züchtigung“. Sein Verfasser Georg Usadel war seit 1930 NSDAP-Reichstagsabgeordneter, HJ-Gauführer und seit 1934 Ministerialrat im Reichserziehungsministerium, wo er ab 1935
16 17
18
Bohl: Problem, S. 53. Ebd., S. 53, Anm. 1. Der Wegfall dieser Fußnote ist bezeichnenderweise auch eine der wenigen Veränderungen in der 1949 unter gleichem Titel als Monographie erschienenen Fassung (vgl. dort S. 56). So die Formulierung Otto Kiefers (Züchtigung, S. 81), der sich dabei bezog auf: E. L. Rochholz: Die Ruthe küssen, in: Germania 1 (1856), S. 134–155. Auch Ellen Key ging davon aus, dass der Verzicht auf Körperstrafen „den energischen Individualismus und die Männlichkeit der Völker des Nordens“ gefördert habe (Jahrhundert, S. 170). Die Verbreitung dieser Geschichtsdeutung zeigt sich daran, dass sie auch von Delegierten auf der Vertreterversammlung des Sächsischen Lehrervereins 1907 (vgl. Protokoll, S. 645 und S. 675) und einem Arzt (Pillf: Züchtigung, S. 246) vertreten wurde.
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4.1 Die kaum noch vorhandene theoretische Debatte
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die Abteilung für körperliche Erziehung der Jugend leitete.19 Usadels einleitende Worte lassen sich quasi als Kommentar zur Frage nach einer spezifischen NS-„Prügelpädagogik“ lesen, wenn er bedauerte, dass verschiedene Kreise den Nationalsozialismus so falsch verstehen, daß sie die durch ihn geforderte Einordnung und Zucht mit ihrer Auffassung von Strenge und Härte gegenüber zu erziehender Jugend verwechseln. Diese Herrschaften gehen von der Annahme aus, daß, weil Liberalismus und Marxismus gegen Disziplin und Strenge in der Erziehung gewesen seien, der Nationalsozialismus als Feind dieser Anschauungen ihnen nunmehr das Recht gäbe, unerbittlich und munter draufloszuprügeln.20
Diese Worte widerlegen offensichtlich die allzu selbstverständliche Gleichsetzung der nationalsozialistischen Erziehungsziele von Disziplin und Unterordnungsbereitschaft mit der häufigen Anwendung körperlicher Strafen – und bestätigen sie zum Teil eben doch, denn offensichtlich gab es nach Usadels Beobachtung tatsächlich Erzieher, die sich durch diese Erziehungsgrundsätze berechtigt sahen, „unerbittlich und munter draufloszuprügeln“. Diesen hielt Usadel entgegen, dass der nationalsozialistische „Führergrundsatz [. . . ] nicht mit Tyrannei oder Diktatur verwechselt werden darf “, sondern auch ein „Erziehungsführer“ seinen Anspruch auf Gehorsam durch Können, nicht durch „Härte und Grausamkeit“ zu legitimieren habe. Zudem ging Usadel davon aus, dass „Jugendliche mit Ehrgefühl“ auf Schläge nicht mit Einsicht, sondern „verletzte[r] Ehre“ reagierten, somit trotzig und abgehärtet würden.21 Dabei war Ehre für ihn aber weniger ein zu schützendes individuelles Gut als ein Hebel zur Sicherstellung des vom Erzieher (und Staat) erwünschten Verhaltens: „Erziehung zur Ehrenhaftigkeit ist das beste Mittel, die Prügelstrafe überflüssig zu machen.“22 Furcht vor körperlichem Schmerz war mit diesem Ehrbegriff nicht vereinbar, doch „das Gefühl, daß ihr Erzieher sie auf unnützes Verhalten hin verachten könnte, sollen sie fürchten lernen“.23 Der besondere Ehrbegriff, der hier zum Ausdruck kommt, wird an späterer Stelle noch ausführlicher zu analysieren sein. Hier ist zunächst nur eine weitere, für den Nationalsozialismus typische Besonderheit von Usadels Verständnis von Ehre festzuhalten: Er gestand diese nämlich nicht jedem Kind zu, sondern betonte, „daß es Jugendliche mit schlechten Erbanlagen gibt, in denen die Ehre zu wecken unmöglich ist“. Diesen gegenüber war für Usadel Gewaltanwendung nicht nur notwendig, da bei ihnen andere Erziehungsmittel kaum erfolgversprechend seien, sondern auch legitim. Schläge als Strafmittel 19 20 21
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Vgl. Lilla: Statisten, S. 680. Usadel: Erziehung, S. 241. Vgl. mit ganz ähnlicher Argumentation auch: Möhring: Züchtigung, S. 59. Vgl. Usadel: Erziehung, S. 242. Die Abhärtung gegen körperliche Schmerzen sah Usadel dabei an sich als durchaus wünschenswert an, sie sei aber besser durch Sport und Geländeübungen zu erreichen. Ebd., S. 243. Ebd., S. 242.
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4. Rückkehr zur Prügelpädagogik? Die Zeit des Nationalsozialismus
lehnte er dennoch ab – da sie „für den, der sie auf Befehl zu bestimmter Zeit und mit bestimmter Auflage zu erteilen hat, zumindest peinlich und eines wirklichen Erziehers nicht würdig“ seien. Dass die Ablehnung körperlicher Strafen in diesen Fällen nicht durch Rücksichtnahme auf die für Usadel „minderwertige[n] Bursche[n]“ motiviert war, verdeutlicht die stattdessen vorgeschlagene „Strafe durch Einzelhaft mit gleichzeitigem Entzug eines Teiles der Nahrungsmittel und gewisser Bequemlichkeiten“. Hier wird zudem deutlich, dass Usadels Aufsatz sich eben nicht konkret auf die schulische Situation, sondern eher auf die Anstaltserziehung bezog, auch wenn er – offensichtlich bewusst – so allgemein und grundsätzlich gehalten war, dass seine Aussagen zu körperlichen Strafen auf andere Erziehungskontexte übertragbar waren (was auch seine Berücksichtigung in dieser Arbeit rechtfertigt).24 Dies wirft die Frage auf, wie Schulpraktiker, insbesondere Volksschullehrer, im Dritten Reich über körperliche Strafen sprachen. Auch hier gilt, dass das Thema nur selten angesprochen wurde. Nur 1937 widmete sich eine Nummer der von der Reichsfachschaft Volksschule des Nationalsozialistischen Lehrerbunds herausgegebenen Zeitschrift Der deutsche Volkserzieher dem Thema „Schulhygiene und Schulzucht“. Darin beklagte Ferdinand Hörner, dass in Schulen „zu häufig gestraft“ werde, da zu viele und teils kaum erfüllbare Forderungen an die Kinder gestellt würden, zum Beispiel in Bezug auf langes Stillsitzen.25 Hörner verwies unter anderem auf Julius Wagner und Joseph Droege, die in den 1920er Jahren die Wahrnehmung von Schulstrafen durch Schüler untersucht hatten, und betonte, dass die Wirkung einer Strafe vor allem vom Verhältnis zwischen Kind und Erzieher abhänge: „Es muß so fest und innig sein, daß angemessene und gerechte Strafen das Vertrauen, die Kameradschaft, die Achtung und die Liebe nicht erschüttern können.“26 Wenn er zudem empfahl, Strafen möglichst dem Vergehen anzupassen, insgesamt die Wirksamkeit von Lohn und Strafe skeptisch bewertete und beispielsweise Besprechungen mit dem Kind und die Vorbildwirkung des Erwachsenen als Erziehungsmittel bevorzugte, zeigt sich eine reformpädagogisch geprägte, zwar nicht radikal ablehnende, aber doch kritische Position zu Schulstrafen insgesamt, wie sie typischerweise auch aus den 1910er und 1920er Jahren stammen könnte. Konkret zu körperlichen Strafen nahm Hörner aber nicht Stellung. 24
25 26
Dass Usadel seine Ausführungen selbst als allgemeine, nicht allein für die Anstaltserziehung gültige Erziehungsgrundsätze sah, zeigt sich auch daran, dass er auch für die elterliche Erziehung Schläge nur als „letztes Mittel, das als schimpflich erachtet werden muß, weil der Ruf an die Ehre versagte“, empfahl (Zucht, S. 65). Für Kinder im Vorschulalter sah er Körperstrafen dagegen als unentbehrliches und noch unproblematisches Abschreckungsmittel (vgl. Erziehung, S. 242). Ferdinand Hörner: Durch Strafe erziehen, in: Der deutsche Volkserzieher 2 (1937), S. 546– 553, Zitat S. 548. Ebd., S. 551.
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4.1 Die kaum noch vorhandene theoretische Debatte
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Dies taten jedoch zwei andere Autoren im gleichen Heft, Gustav Franke und die Schulärztin Emmi Drexel. Beide äußerten sich durchaus sehr kritisch zu körperlichen Strafen und führten dabei traditionelle Argumente an, etwa dass zu häufiges Schlagen zu Furcht, Trotz und innerer Ablehnung aufseiten des Kinds führe.27 Die Schulärztin verwies zudem auf die Notwendigkeit kleinerer Klassengrößen und forderte, dass Lehrer besser über mögliche Ursachen von Fehlverhalten, von körperlicher Schwäche bis zu „Trotz- und Angstneurosen“, informiert sein müssten. Vor allem aber wandten sich beide gegen eine „Behandlung, die das Ehrgefühl unserer Kinder und damit ein gesundes Selbstbewußtsein untergräbt“, denn, so Drexel: „Gewiß fordert eine harte Zeit starke Menschen, aber die Ehre des Kindes ist ein wichtiger Teil seiner Stärke.“28 Allerdings ist bei beiden Autoren mehr oder weniger deutlich zu erkennen, dass die Rücksichtnahme auf Ehre, Selbstbewusstsein und Stärke nicht für alle Kinder gleichermaßen galt: So kritisierte Drexel das sächsische Züchtigungsverbot sei „starr und unlebendig“ geworden, weil dessen Urheber „sich von liberalistischen Ideen leiten ließen, wonach alle Kinder gleiche Anlagen und gleiche Rechte besaßen“.29 Dass er diese Vorstellungen von gleichen Anlagen und Rechten aller Kinder nicht teilte, machte auch Franke deutlich, wenn er ausdrücklich betonte, der Stock dürfe „nicht das Symbol einer Schulstube sein“, sondern „lediglich ein Hilfsmittel zur Erziehung asozialer Elemente“.30 Die Vorstellung, manche Kinder verstünden eben nur Schläge, war auch zuvor ein häufig geäußertes Argument gegen die vollständige Abschaffung dieser Strafe.31 Es ist jedoch sicher kein Zufall, dass die nationalsozialistischen Autoren gerade diese Erklärung aufgriffen und nicht etwa die noch weiter verbreitete, dass in manchen Situationen Körperstrafen unvermeidbar seien: In der Einteilung der Schülerschaft in ‚normale‘ und „asozial[e] Elemente“, wobei gegenüber letzteren Gewalt legitim und notwendig sei, verbanden sich traditionelle dem Unterrichtsalltag entnommene Argumente mit typisch nationalsozialistischen Mechanismen der Ausgrenzung. Gustav Franke kam zum Schluss, dass Körperstrafen zwar problematisch und deshalb möglichst einzuschränken, aber „in Ausnahmefällen – ich denke an schwere sittliche, soziale oder moralische Verfehlungen – [. . . ] bei manchen eine gute Medizin“, also nicht etwa nur eine Notlösung, sondern sinnvoll und angemessen seien. Damit teilte er eine Position, die zu Anfang des 20. Jahrhunderts dominant gewesen und auch in den 1920er Jahren unter Praktikern noch weit
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Franke: Gedanken, S. 545. Emmi Drexel: Zwiesprache. Wie stellt sich der Arzt zur Frage der körperlichen Züchtigung in der Schule?, in: Der deutsche Volkserzieher 2 (1937), S. 568–574, Zitat S. 570. Ebd., S. 568. Franke: Gedanken, S. 546. Vgl. etwa bereits 1876: Dienstbier: Ausübung, S. 51; Kölling: Disziplin, S. 1046; noch 1928: P. Asmussen, Schulzucht, in: Pädagogische Warte 35 (1928), S. 646–649, S. 647.
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4. Rückkehr zur Prügelpädagogik? Die Zeit des Nationalsozialismus
verbreitet war, obwohl sie in der theoretischen Pädagogik und in den offiziellen Stellungnahmen der Lehrervereine kaum noch vertreten werden konnte. Somit zeigt sich, dass trotz des Fehlens einer offenen Debatte auch in der NS-Zeit eine gewisse Bandbreite an Positionen zu körperlichen Strafen zu finden ist. Mit explizit nationalsozialistischer Ideologie und den ihr entsprechenden Erziehungszielen konnte in verschiedene Richtungen argumentiert werden: einerseits gegen körperliche Strafen, denen dann eine Erziehung zum und durch das „Ehrgefühl“, zu Stärke und Selbstbewusstsein entgegengestellt wurde.32 Andererseits konnte die geforderte „straffe und aller Verweichlichung abholde Jugenderziehung“ durchaus als Legitimierung harter, auch körperlicher Strafen (miss-)verstanden werden,33 und durch die Vorstellung von erblicher Ehrlosigkeit oder „Asozialität“ ließ sich Gewaltanwendung gegenüber bestimmten Schülern rechtfertigen. In den zitierten Artikeln aus der Zeitschrift des NSLehrerbunds verbanden sich diese Einflüsse mit traditionellen Argumenten aus den Lehrerdebatten zu einer von früheren Jahrzehnten bekannten mittleren Position, gemäß der körperliche Strafen als äußerst problematisches, aber in bestimmten Fällen nicht nur unvermeidliches, sondern auch sinnvolles Erziehungsmittel galten.34 Daneben konnte, wie Bohls Dissertation zeigt, auch eine in der Tradition der 1920er Jahre stehende, auf psychologisch-medizinische Argumente gestützte vollständige Ablehnung durchaus noch geäußert werden. Sie spielte jedoch nur noch eine marginale Rolle, weil viele der sie in der fachlichen und öffentlichen Diskussion vertretenden Akteure ausgeschaltet worden waren. Insgesamt erscheint die Zusammenfassung eines Juristen, der 1938 erklärte, dass im Nationalsozialismus „eine Hinwendung zur körperlichen Züchtigung als 32
33
34
Vgl. neben den bereits genannten Beispielen auch die Aussage des NSDAP-Abgeordneten (und späteren bayerischen Kultusministers) Hans Schemm im bayerischen Landtag 1929, es verstehe sich „aus unserer Weltanschauung heraus von selbst, daß wir das Züchtigungsrecht in der Schule mit Rücksicht auf die Tatsache ablehnen müssen, daß vielfach der Lehrer durch eine zu scharfe Züchtigung sich selbst das Eindringen in die Kinderpsyche verrammelt“ (Bayerischer Landtag, 44. Sitzung vom 14.6.1929, Stenographischer Bericht, 1928/29, Bd. 2., S. 303). Auch ein Bürger wollte seine Beschwerde über einen Lehrer, den er beim Schlagen seiner Schüler auf einem Schulausflug beobachtet hatte, als Beitrag zum „Aufbauwerk nationalsozialistischen Geistestums“ verstanden wissen (H. B. an Landrat Montabaur, 27.8.1936 LHAKo, 443, 3802). Zitat: Möhring: Züchtigung, S. 59. Genau wie Usadel sah Möhring in diesem Erziehungsideal gerade keine Ermächtigung zum körperlichen Strafen – aber schon die Tatsache, dass beide dies so deutlich betonen mussten, zeigt, dass diese Deutung eben nicht überall selbstverständlich geteilt wurde. Auch ein nationalsozialistischer „Praktiker der behördlichen Jugendarbeit“ (Kersten: Schule, S. 3), Otto Kersten, kam zu einer ähnlichen Mittelposition, wenn er dafür plädierte, „daß in den Schulen weniger geprügelt werden sollte“ – wobei die Formulierung „weniger“ (und eben nicht „gar nicht“) bezeichnend ist, denn er ging beispielsweise davon aus, dass von zu Hause an grobe Behandlung und Schläge gewohnte Kinder auch von ihren Lehrern nicht wesentlich anders behandelt werden könnten (ebd., S. 93).
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4.2 Normative Veränderungen
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Erziehungsmittel durchaus nicht erfolgt ist“,35 auf der theoretisch-normativen Ebene recht treffend. Vielleicht entscheidender ist aber, dass es umgekehrt auch kaum noch zu deutlichen Versuchen einer Abkehr von diesem Strafmittel kam, wie es sie noch einige Jahre zuvor mit den auf Abschaffung zielenden Erlassen in Preußen oder Forderungen nach einem vollständigen Verzicht in den öffentlichen Debatten gegeben hatte. Dieser Befund – kein aktives Rückgängigmachen, aber gewissermaßen eine Stagnation der vorherigen Abschaffungsbemühungen – zeigt sich auch auf der Ebene der Schulverwaltung, wie im Folgenden deutlich werden wird.
4.2 Normative Veränderungen 4.2.1 Preußen
Bereits 1932 hatte der Reichsinnenminister Wilhelm Freiherr von Gayl (DNVP) in einem Rundschreiben an die Unterrichtsminister der Länder gefordert, die „Erziehung zum Volk und Staat“, das heißt „zum Dienst, zur Verantwortung und Opferfähigkeit gegenüber dem Ganzen“ zum Ziel aller Schulen zu machen. Von seinen verschiedenen programmatischen Forderungen zur Schulerziehung ist hier vor allem ein Satz relevant: Die Jugend sei nur dann für den „Dienst an Volk und Staat“ ausreichend vorbereitet, „wenn sie auch daran gewöhnt worden ist, sich in Zucht und Gehorsam den Ordnungen der Erziehungsgemeinschaft einzufügen und sich willig echter Autorität unterzuordnen“.36 Auf diesen Satz berief sich das preußische Kultusministerium in einem Erlass, der im Januar 1933, also noch unter Reichskommissar Wilhelm Kähler, entstanden war:37 Kähler war Mitglied und bis 1928 Landtagsabgeordneter der DNVP, die sich durchgängig gegen stärkere Einschränkungen oder gar ein Verbot körperlicher Strafen ausgesprochen hatte. Nun betonte er zwar ausdrücklich, das Ziel seines Vorgängers, mit dem Erlass von 1928 Körperstrafen „nach Möglichkeit aus der Erziehungsar-
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Möhring: Züchtigung, S. 60. Schreiben des Reichsministers des Innern an die Unterrichtsminister der deutschen Länder, 28.7.1932, in: Zentralblatt 74 (1932), S. 223 f., Zitat S. 223. Nachdem die demokratische preußische Regierung (zuletzt mit Adolf Grimme als Kultusminister) im sogenannten Preußenschlag vom Juli 1932 entmachtet worden war, übernahmen Reichskommissare die Leitung des Ministeriums: bis Ende Oktober der vorherige Ministerialrat Aloys Lammers (Zentrum), dann der Jurist Wilhelm Kähler, auf den im Februar 1933 schließlich Bernhard Rust (NSDAP) folgte, unter dem das preußische Kultusministerium 1934 gleichzeitig „Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung“ (im Folgenden kurz: RMWEV) wurde. Vgl. Zilch: Ressortleitung, S. 268 f.
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4. Rückkehr zur Prügelpädagogik? Die Zeit des Nationalsozialismus
beit der Schule auszuschalten“, sei auch sein „ernstlicher Wunsch“.38 Aber um die gewünschte „echte Autorität“, zu deren Anerkennung die Kinder erzogen werden sollten, ausüben zu können, müssten die Lehrer „das Bewußtsein der persönlichen Verantwortung“ haben, wofür ihnen aber „eine ausreichende Selbständigkeit des Handelns gelassen“ werden müsse.39 Der Lehrer brauche die Gewissheit, „bei seiner vorgesetzten Behörde den für die Wahrung seiner Autorität notwendigen Schutz zu finden“. Mit dieser Begründung wurden die Schulbehörden angewiesen, den Ministerialerlass von 1928 den Lehrern gegenüber großzügig auszulegen: Sie sollten prüfen, ob ein Lehrer im Einzelfall „aus allgemeiner gewissenhafter pädagogischer Haltung gehandelt“ habe.40 Selbst wenn „der Lehrer sich in einen erziehlichen Maßnahmen in dieser Richtung vergriffen hat“, sollten die Regierungen mit Disziplinarstrafen zurückhaltend sein und jeden Fall „unter menschlich-erzieherischen Gesichtspunkten“ beurteilen statt „in erster Linie durch beamtenrechtliche Erwägungen“. Ohnehin seien Strafandrohungen gegen züchtigende Lehrer nicht das richtige Mittel, solange die Schuldisziplin noch durch unzureichende Rahmenbedingungen erschwert werde. Der Verweis auf schlechte Rahmenbedingungen, die Forderung, Lehrer nicht vorschnell wegen (vermeintlicher) Verstöße gegen den Erlass zu verurteilen, sondern die Umstände des jeweiligen Falls genau zu prüfen und zu berücksichtigen – all dies waren alte, von nahezu der gesamten Lehrerschaft inklusive Befürwortern eines Züchtigungsverbots geteilte Anliegen.41 So gesehen war Kählers Erlass auch ein Zugeständnis an große Teile der Lehrerschaft. Und doch wurden ihre Forderungen nun unter stark veränderten Vorzeichen aufgegriffen, wie die mehrfache Betonung der Autorität – sowohl des Lehrers als auch der Schulaufsichtsbehörden – zeigt.42 Zusammen mit der Zusicherung des Schutzes durch die vorgesetzte Behörde liest sich der Erlass beinahe wie eine direkte Antwort auf eine Eingabe des Bunds völkischer Lehrer Deutschlands vom September 1932: Dieser hatte nicht nur beklagt, die Bestimmungen von 1928 hätten „vielfach dazu beigetragen, die Autorität des Lehrers zu untergraben und in der Lehrerschaft ein großes Maß von Unsicherheit zu erzeugen, die nicht zuletzt in dem Gefühl der Bespitzelung durch aufgehetzte Kinder begründet ist“.43 Er hatte zudem auch 38 39 40 41 42
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Erlass vom 31.1.1933, in: Zentralblatt 75 (1933), S. 60–61, Zitat S. 61. Ebd., S. 60. Ebd., S. 61. Vgl. etwa Oestreich: Prügelverbot. Um die Bedeutung dieser Betonung – und der weiter unten zitierten Kritik der Preußischen Lehrerzeitung am „Autoritätstaumel“ – ganz zu erfassen, ist die zeitgenössische politische Bedeutung des Autoritätsbegriffs zu bedenken, der „zu einem Zentralbegriff im Kampf der antidemokratischen Konservativen gegen die Weimarer Republik“ geworden war (Kertscher: „Autorität“, S. 137). Bund der völkischen Lehrer Deutschlands an Staatskommissar Bracht, 10.9.1932, GStAPK I HA Rep. 76 Nr. 1411, Bl. 148–151.
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4.2 Normative Veränderungen
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manchen „neupreußischen Vorgesetzten“ vorgeworfen, bei Konflikten wegen Körperstrafen stets die Partei der Eltern zu ergreifen, und mehr Schutz für Lehrer durch die Schulbehörden gefordert. Genau diesen geforderten Schutz sicherte der Erlass von 1933 nun zu – wogegen allerdings die Preußische Lehrerzeitung betonte, sie hätte „nicht den Eindruck, als hätte die Lehrerschaft nicht auch bisher schon in Konfliktfällen diesen Schutz bei allen verantwortlichen Stellen gefunden.“44 Deshalb war es auch für die Sächsische Lehrerzeitung „sehr ungewiß, ob dieser Erlaß dem Lehrer eine wirkliche Hilfe garantiert oder ob in seinen Wendungen andre Tendenzen verborgen liegen“. Welche „andren Tendenzen“ dies waren, konkretisierte die Zeitung zwar nicht. Sie hob aber hervor, dass der Erlass den zugesicherten Schutz von „der Feststellung, ob der Lehrer in ‚pädagogischem Ernst und innerer Pflichttreue‘ gearbeitet hat“, abhängig mache und dass er „verklausulierend[e] Erörterungen über Autorität, persönliche Verantwortung, pädagogische Führung des Lehrers durch den Schulaufsichtsbeamten“ enthalte. Die von beiden Zeitungen nahegelegte, aber nicht offen ausgesprochene Befürchtung scheint also gewesen zu sein, dass der im Erlass versprochene behördliche Schutz nicht allen Lehrern gleichermaßen gewährt würde – und somit einerseits zur (politischen) Disziplinierung der Lehrerschaft, andererseits im Einzelfall eben doch zu einer deutlichen Ausweitung des Züchtigungsrechts genutzt werden sollte. Die Preußische Lehrerzeitung setzte dem ihre Zuversicht gegenüber, die Lehrerschaft werde „der Versuchung nicht erliegen, den sich heute leider viel zu viel in äußerliche Formen verlierenden Autoritätstaumel auch auf dieses empfindliche Gebiet der Beziehungen zwischen Erzieher und Zögling zu übertragen“. Hinter der Frage der Schulstrafen steckte hier also nicht zuletzt die (politische) Frage nach dem Stellenwert von Autorität in der Erziehung. Auch Kähler selbst sah als ein zentrales Ziel des Erlasses die „Erweckung des Sinnes für Autorität in der Schuljugend“. Das Bedeutende an diesem und zwei weiteren Erlassen, die den Führungsanspruch des Rektors gegenüber dem Lehrerkollegium betonten und Kriterien für die Ernennung von Rektoren festlegten, sei, „daß unter Aufhebung früherer Bestimmungen der alte Weg der Schuldemokratie und der weichlichen Behandlung der Schüler verlassen wurde“.45 Bemerkenswert ist aber, dass im Fall der körperlichen Züchtigung eben keine „Aufhebung früherer Bestimmungen“ erfolgte, sondern der Erlass von 1928, abgesehen von der veränderten Anwendung bzw. Auslegung, an sich unverändert in Kraft blieb. Eine ausdrückliche Rücknahme schon bestehender Einschränkungen oder eine offene Abkehr vom offiziellen Ziel des Verzichts
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Zitiert nach: Zeugnisse der ‚grundsätzlich neuen‘ Staatsführung in Preußen, in: Sächsische Schulzeitung 101 (1933), S. 129–130, Zitat S. 130. Dort auch die folgenden Zitate. Oberdörfer: Hundert Tage, S. 91.
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auf Körperstrafen war anscheinend mit Rücksicht auf die erwartete öffentliche Reaktion nicht umzusetzen. Dies galt offensichtlich auch in den folgenden Jahren, nachdem Kähler von dem Nationalsozialisten Bernhard Rust abgelöst worden und das preußische Kultusministerium ab 1934 gleichzeitig zum „Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung“ ausgebaut worden war. Noch 1938 lehnte das Ministerium eine neue reichseinheitliche Regelung der Frage ab und verwies für die preußische Rechtslage auf beide Erlasse, den von 1928 und den von 1933.46 Die Gratwanderung zwischen einem offensichtlich vorhandenen Interesse, Körperstrafen weiterhin zuzulassen, und der befürchteten Öffentlichkeitswirkung einer expliziten Erlaubnis zeigte sich auch 1941, als sich der Reichsstatthalter des Gaus Niederdonau mit einer Bitte um Klärung der Rechtslage an das Reichserziehungsministerium wandte: In Österreich waren zuvor körperliche Schulstrafen verboten gewesen, sodass nach dem „Anschluss“ ans Deutsche Reich Unklarheit herrschte, ob diese Rechtslage bestehen blieb oder ob nun auch dort die (fälschlich für reichsweit gültig gehaltenen) preußischen Bestimmungen mit ihrer eingeschränkten Erlaubnis gelten sollten. Das Erziehungsministerium hielt eine einheitliche Regelung der Frage für das ganze Reich „unter den augenblicklichen Verhältnissen nicht für durchführbar“, befürwortete jedoch eine Aufhebung des österreichischen Verbots.47 Zu diesem Zweck schlug es die Regelung vor: „Der Reichsmin. f. W.E.V. bestimmt, welche Schulstrafen verhängt werden können und unter welchen Voraussetzungen die Strafe der körperlichen Züchtigung zulässig ist.“ Das Innenministerium war damit in der Sache einverstanden, nicht jedoch mit der zweiten Hälfte der vorgeschlagenen Formulierung, denn die explizite Nennung von körperlichen Strafen könne „propagandistisch ungünstig wirken“.48 Dass ein offenes Befürworten körperlicher Strafen auch außerhalb Österreichs „propagandistisch ungünstig wirken“ konnte und bei Teilen der Öffentlichkeit auf Ablehnung gestoßen wäre, zeigen mehrere Zuschriften an das Kultusministerium, in denen sich jeweils Privatleute gegen körperliche Schulstrafen aussprachen.49 Forderungen nach einer Lockerung der Beschränkungen des Züchtigungsrechts oder Klagen über eine unzureichende ‚Schulzucht‘, wie sie in ähnlichen Eingaben vor 1933 geäußert worden waren, finden sich nun dagegen nicht mehr. Dies belegt einerseits, dass auch in der NS-Zeit die grundsätzliche Ablehnung körperlicher Strafen in der Öffentlichkeit präsent und äußerbar war. Andererseits könnten die
46 47 48 49
Vgl. handschriftliche Notiz auf: Minister für Kirchen und Schulen Oldenburg an RMWEV, 23.6.1938, GStAPK I HA Rep. 76 Nr. 1411, Bl. 160. RMWEV an Reichsministerium des Innern, o. D., GStAPK I HA Rep. 76 Nr. 1411, Bl. 196. Reichsminister des Innern an RMWEV, 21.2.1942, ebd., Bl. 206. C. T. M. an RMWEV, 9.9.1938 (Bl. 162); A. S. an RMWEV, 21.3.1939 (Bl. 166); F. D. an Hermann Göring, 17.1.1940 (Bl. 172), alle ebd.
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4.2 Normative Veränderungen
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zunehmenden Beschwerden auch darauf hindeuten, dass im schulischen Alltag harte und häufige körperliche Strafen tatsächlich weiter verbreitet waren, als dies zuvor der Fall war. In Bayern allerdings wurden in den 1940er Jahren die Einschränkungen körperlicher Strafen gegenüber der seit 1910 gültigen Rechtslage sogar leicht verschärft: Die Ende 1942 erlassene Landesschulordnung für Volksschulen ließ körperliche Strafe erstmals nur für Jungen zu. Diesen gegenüber sei sie „als härteste Strafe nur bei Roheitsakten und bei grober Unbotmäßigkeit oder andauernder Faulheit“ erlaubt.50 Zwar ließ der Anlass der „Faulheit“ einen recht weiten Interpretationsspielraum, aber die Landesschulordnung war keine Abkehr von der als wünschenswert gesehenen zunehmenden Zurückdrängung körperlicher Strafen. Sie formulierte, es sei „dem Lehrer und Erzieher unserer Zeit vorbehalten, zu beweisen, daß die Anwendung dieser schwersten aller Ehrenstrafen durch engste Zusammenarbeit mit Eltern und HJ völlig oder nahezu ausgeschaltet werden kann“. 4.2.2 Aufhebung des sächsischen Verbots
Während in Preußen 1933 die bestehenden Einschränkungen körperlicher Strafen formell nicht aufgehoben wurden, gab es in Sachsen eine grundlegende Veränderung der Rechtslage: Mit einem Erlass vom 17.3.1933 wurde das Verbot aus dem Schulbedarfsgesetz „zur Wahrung der nötigen Jugendzucht mit sofortiger Wirkung und bis zur neuen gesetzlichen Regelung in folgender Weise eingeschränkt: Maßvolle Züchtigung ist nicht als Dienstpflichtverletzung des Lehrers anzusehen, wenn sie unvermeidlich war, um Zucht und Ordnung gegenüber bewußter und gewollter Auflehnung zu wahren.“51 Allerdings mussten Anlass, Art und Maß jeder körperlichen Bestrafung am Ende der Stunde schriftlich dokumentiert werden, und Strafen wegen „bloßer Nachlässigkeit, Vergeßlichkeit, mangelnder Leistung u. ä.“ blieben verboten. Die Aufhebung des absoluten Verbots erfüllte eine Forderung, die, wie bereits gezeigt, in den 1920er Jahren immer wieder erhoben worden war. Ganz in der Tradition dieser Kritik am Verbot erklärte auch eine im Herbst 1933 erschienene, sich an Studenten, Lehrer und Schulleiter richtende Darstellung die neuen sächsischen Bestimmungen: „Die Schulzucht der letzten Vergangenheit war mangelhaft“, was „mit Recht“ auch auf das Züchtigungsverbot zurückge-
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Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus: Landesschulordnung, S. 49 (Hervorhebung im Original durch Sperrsatz). Dort auch das folgende Zitat. Sächsisches Ministerium für Volksbildung: Erlass: Einschränkung des Verbots der körperlichen Züchtigung vom 17.3.1933, zitiert nach: Blätter für Schulrecht 34 (1933), S. 31.
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führt worden sei.52 „Immer mehr war aber auch von der Lehrerschaft erkannt worden, wie verhängnisvoll diese Bestimmung dem Lehrer werden konnte, so daß der einstmals so begeistert verteidigte Gesetzesparagraph zuletzt in den weitesten Kreisen fast überall Ablehnung erfuhr.“ Diese Behauptung dürfte nicht frei von Übertreibung sein – sicher gilt dies für die Schilderung der „verhängnisvollen“ Folgen für die Lehrer, die beispielsweise die für Körperverletzung im Amt möglichen Gefängnisstrafen betonte, obwohl diese in der Praxis (wie im vorigen Kapitel gezeigt) fast nie vorkamen. Trotzdem kann man davon ausgehen, dass zwar nicht „fast überall“, aber doch von vielen Lehrern die Verbotsaufhebung tatsächlich „mit größter Zustimmung begrüßt“ wurde.53 Der Erlass war also nicht nur Umsetzung einer seit Jahren von konservativer Seite im Interesse der „Schulzucht“ erhobenen Forderung, sondern auch ein Zugeständnis an die Interessen eines Teils der Lehrerschaft. Mit dem Erlass von 1933 galt auch in Sachsen wieder die grundsätzlich gleiche Rechtslage wie im übrigen Reich – und die gleiche Mittelposition zwischen einer schulrechtlichen Erlaubnis körperlicher Züchtigung und der Zusicherung, dass sie pädagogisch unerwünscht bleibe: „Es bleibt also dabei, daß körperliche Züchtigung grundsätzlich kein Mittel der öffentlichen Jugenderziehung ist“, betonte der sächsische Erlass. Galt diese normative Feststellung auch in der Praxis oder wurde von der wieder geschaffenen Möglichkeit legaler Körperstrafen über Ausnahmefälle hinaus Gebrauch gemacht? Was verstanden Lehrer und Schulbehörden konkret unter einer zur Wahrung von Zucht und Ordnung „unvermeidlichen“ Strafe, wie sie der Erlass forderte? Diesen Fragen soll im Folgenden anhand einiger stichprobenartig ausgewählter Einzelfälle nachgegangen werden.
4.3 Praxisfälle nach 1933 Eine fast folgenlose Grenzüberschreitung
Ein in mehrfacher Hinsicht aufschlussreicher Fall trug sich in einem Dorf bei Schwarzenberg im Erzgebirge zu: Dort stellte eine Mutter beim Bezirksschulamt ihren 11-jährigen Sohn vor, der einige Tage zuvor von seinem Lehrer mit einem Stock auf den Hintern geschlagen worden war. Der Amtsarzt stellte „ausgedehnte zusammenhängende Blutergüsse von einer Länge von 15–20 cm“ auf beiden Gesäßhälften fest und bestätigte, dass der Junge „wegen objektiv festgestellter Schmerzhaftigkeit“ nicht sitzen könne, dieser Zustand „dürfte schätzungsweise 52 53
Schröbler/Schmidt-Breitung: Sachsens Volksschule, S. 40 (dort auch das folgende Zitat). Ebd., S. 41.
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sicherlich noch eine Woche andauern, während die Resorption der Blutergüsse mehrere Wochen in Anspruch nehmen wird“.54 Eine dauerhafte Schädigung sei bei solchen Blutergüssen „meistens“ nicht zu befürchten, aber nicht mit Sicherheit auszuschließen. Nicht nur die Folgen der Misshandlung waren außergewöhnlich schwer, sondern auch ihre Brutalität: Der Lehrer berichtete, er habe dem Jungen mit der Erklärung „Du hast die Ehre der Klasse verletzt“ für jeden der 36 Schüler der Klasse je einen Schlag gegeben. Da der Junge direkt nach dieser Bestrafung „ein dummes Gesicht“ gemacht und die Zunge herausgestreckt habe, was der Lehrer auf sich bezog, gab er ihm 12 weitere Schläge – insgesamt war der Schüler also 48-mal mit dem Rohrstock auf den Hintern geschlagen worden.55 Was war der Anlass dieser außergewöhnlich harten Bestrafung? Die Mutter nannte in ihrer ursprünglichen Beschwerde als Grund, dass ihr Sohn „in einer Turnstunde zu Fall gekommen sei und im Fallen ein vor ihm marschierendes Mädchen umfaßt habe“.56 Der Lehrer dagegen beschrieb eine andere Version der Ereignisse: Schülerinnen hätten ihm berichtet, dass der Junge am Sonntag beim Spielen einem anderen Mädchen „unter die Röcke gegriffen habe“. Als der Lehrer daraufhin die Mutter zu einem Gespräch bestellte, habe diese ihn gebeten, den Vorfall nicht bekannt werden zu lassen, da sie Angst hatte, der Sohn könnte wie bereits seine Schwester in Fürsorgeerziehung eingewiesen werden. Der Lehrer war einverstanden unter der Bedingung, dass er dann dem Sohn einen „Denkzettel“ geben müsse, „daß er sich sagt: Einmal und nie wieder“, sonst bestünde Gefahr, „daß der Junge mir die ganze Klasse verdirbt. Ich weiß, daß diese Unsittlichkeitsfälle überhand nehmen“.57 Die Mutter habe sich mit einer Züchtigung ihres Sohns einverstanden erklärt. Der Lehrer betonte: „Ich habe nur so gehandelt, weil ich die Unsittlichkeit im Keim ersticken wollte u. auch glaubte, im Einverständnis der Mutter zu handeln.“ Diese Argumentation war für das Bezirksschulamt offensichtlich überzeugend, denn es sah, wie es dem Lehrer mitteilte, „in Würdigung der Gründe, die Sie für Ihr Verhalten vorgebracht haben“ von einem Dienststrafverfahren ab, obwohl es die Bestrafung als „erheblich über das zulässige Maß“ hinausgehend bewertete.58 Für diese Entscheidung war vor allem die Bewertung des Falls und des Lehrers durch den Rektor der Schule verantwortlich: Dieser stellte seinem Untergebenen ein äußerst positives Zeugnis aus und betonte, dass er „wegen seines Geschickes im Umgang mit Kindern“ 1933 sofort nach seinem Eintritt in die SA zum örtlichen HJ-Führer bestellt worden
54 55 56 57 58
Staatliches Gesundheitsamt an Bezirksschulrat Schwarzenberg, 14.11.1936, SächsStA-C, 30364, Nr. 982. Aussageprotokoll T., 24.11.1936, SächsStA-C, 30364, Nr. 982. Aussageprotokoll B., 13.11.1936, SächsStA-C, 30364, Nr. 982. Aussageprotokoll T., 24.11.1936, SächsStA-C, 30364, Nr. 982. Bezirksschulamt Schwarzenberg an T., 15.4.1937, SächsStA-C, 30364, Nr. 982.
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sei.59 Umgekehrt beschrieb er die Familie des geschlagenen Jungen sehr negativ: Sie erfreue „sich keinen guten Rufes [. . . ] Politisch links. Mutter schwatzhaft und unwahr. Beim Sohn vermutlich vererbte Veranlagung zur Unsittlichkeit“. Zwar wurde der Verzicht auf ein Strafverfahren nur mit der positiven Beurteilung des Lehrers ausdrücklich begründet.60 Dennoch lässt sich mutmaßen, dass auch diese negativen Zuschreibungen ein Grund für die Milde der Schulbehörde gegenüber dem Lehrer waren. Auch der Anlass der Bestrafung dürfte eine Rolle gespielt haben: „Unsittlichkeit“ war traditionell eine der Verfehlungen, die immer wieder als Körperstrafen rechtfertigend bzw. sogar erforderlich machend genannt wurden. Ein repressiver Umgang mit weitgehend tabuisierter jugendlicher Sexualität, der sich beispielsweise auch im intensiven, oft gewaltsamen Vorgehen gegen Onanie äußerte, war trotz der in der Weimarer Republik verstärkt aufkommenden sexualpädagogischen Bemühungen und Aufklärungsliteratur auch in den 1930er Jahren noch üblich.61 Das Zusammentreffen all dieser Faktoren – ein in der HJ aktiver, von seinen Vorgesetzten positiv bewerteter Lehrer, ein Junge aus sozial randständiger und politisch regimeferner Familie als Opfer und ein traditionell anerkannter Anlass zur Züchtigung – dürfte der Grund gewesen sein, warum das Bezirksschulamt das Verhalten des Lehrers zwar missbilligte, aber nur mit einer Ermahnung sanktionierte. Dass es anscheinend zu keiner strafrechtlichen Verfolgung kam, könnte damit zu erklären sein, dass die Mutter aufgrund ihrer Angst, dass auch für ihren Sohn Fürsorgeerziehung angeordnet werden könnte, davor zurückschreckte, mit einer Anklage weitere behördliche Aufmerksamkeit auf den Fall und damit auf die angebliche „Unsittlichkeit“ zu ziehen. Dieser Fall wäre dann ein weiteres Beispiel für Faktoren, die Eltern davon abhalten konnten, von einer Beschwerde über eine eigentlich nicht gebilligte Bestrafung ihres Kinds abzusehen – und somit eine weitere Mahnung, die Dunkelziffer von Züchtigungen, die über das schulrechtlich erlaubte bzw. elterlich akzeptierte Maß hinausgingen, ohne jemals aktenkundig zu werden, nicht zu niedrig anzusetzen. Dass im geschilderten Fall die Bestrafung an sich weit über das in der öffentlichen Meinung Gebilligte hinausging, zeigt die Tatsache, dass sich der örtliche NSDAP-Ortsgruppenleiter an das Bezirksschulamt wandte, um zu berichten, dass sich „die Sache [. . . ] bereits im ganzen Ort herumgesprochen und größte Empörung gegen den Lehrer [. . . ] hervorgerufen“ habe. Er empfahl die Versetzung des Lehrers als einzige
59 60 61
Rektor der Volksschule Lauter an Bezirksschulamt Schwarzenberg, 1.12.1936, SächsStA-C, 30364, Nr. 982. Beschluss des Bezirksschulamts, 13.4.1937 (auf der Rückseite von: Rektor der Volksschule Lauter an Bezirksschulamt Schwarzenberg, 1.12.1936), SächsStA-C, 30364, Nr. 982. Vgl. Castell Rüdenhausen: Familie, S. 81–83.
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Möglichkeit der Milderung dieser Empörung.62 Diese Eingabe blieb zwar ohne Konsequenzen. Sie zeigt aber, dass es bei Konflikten wegen übermäßiger Züchtigung nicht zwangsläufig ein Vorteil für den beschuldigten Lehrer sein musste, wenn er in NS-Organisationen aktiv war, denn aus Sicht des Ortsgruppenleiters erforderte gerade das „Ansehen der Partei [. . . ] daß gegen diesen Lehrer mit aller Schärfe vorgegangen wird“. Glaubt man dem Lehrer, so waren die Schläge nicht nur wegen ihres Ausmaßes ein außergewöhnlicher Einzelfall, denn er führte zu seiner Rechtfertigung an: „Ich habe solche Züchtigungen bisher nicht nötig gehabt u. war mir daher über die Wirkung der einzelnen Stockschläge nicht klar.“63 Offenbar bestand an seiner Schule zudem die Regelung, dass einzelne Lehrer keinen Rohrstock bei sich haben durften, sondern dieser zentral beim Rektor aufbewahrt wurde. Hier gab es also durchaus das Bemühen, häufiges, routinemäßiges Schlagen zu verhindern – auch wenn dessen praktische Wirksamkeit offensichtlich begrenzt war, denn der Lehrer sagte aus, dass ihm diese Vorschrift nicht bekannt gewesen sei. Schläge als akzeptiertes Erziehungsmittel?
Andere Fälle einige Jahre später erwecken dagegen den Eindruck, dass Schläge in der jeweiligen Schule häufiger an der Tagesordnung waren. So äußerte etwa ein Lehrer, der 1939 einen Jungen so heftig auf den Hintern geschlagen hatte, dass dieser blutunterlaufen war und der Schüler nicht sitzen konnte, „daß er einsehe, daß die Schläge eine zu starke Wirkung ausgelöst hätten. Es mag daran zum Teil liegen, daß der Knabe kurz vorher von einem anderen Lehrer auch Schläge bekommen habe“.64 Der Lehrer versprach in Zukunft bei Körperstrafen „mäßig vorgehen“ zu wollen und versicherte, dass er sie „sowieso als letztes Mittel ansehe u. anwende“. Allerdings bezog sich dieser Grundsatz offensichtlich allein auf die Häufigkeit vorangegangener Ermahnungen oder anderer Strafarten, denn der Anlass für die Züchtigung war ein durchaus alltäglicher: Der Schüler hatte wiederholt keine Hausaufgaben erledigt. Dass dieser Anlass ein legitimer Strafgrund sein könne, stellte keiner der Vorgesetzten des Lehrers infrage. Dies zeigt, dass der sächsische Erlass, der körperliche Strafen wegen „bloßer Nachlässigkeit, Vergeßlichkeit, mangelnder Leistung u. ä.“ ausdrücklich verbat, Ende der 1930er Jahre zumindest großzügig ausgelegt wurde. In Bezug auf die geforderte schriftliche Dokumentation der Strafe scheint er sogar weitgehend ignoriert worden zu sein, denn nur in einem einzigen der untersuchten Fälle, der 1933 kurz nach 62 63 64
Leiter der NSDAP-Ortsgruppe Lauter an Schulrat P., Schwarzenberg, 17.11.1936, SächsStAC, 30364, Nr. 982. Aussageprotokoll T., 24.11.1936, SächsStA-C, 30364, Nr. 982. Protokoll der Stellungnahme B.s, 13.6.1939, SächsStA-C, 30364, Nr. 982.
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Inkrafttreten der neuen Regelung geschehen war, wurde auf diese Aufzeichnung verwiesen.65 In einem Fall aus dem Jahr 1940 erläuterte der Lehrer in seiner Stellungnahme nicht einmal den konkreten Anlass der Züchtigung, sondern erklärte lapidar, das Mädchen habe „einen Klaps ins Gesicht bekommen, weil es ungezogen war. Er war vollkommen belanglos“.66 Das Bezirksschulamt hinterfragte weder, worin diese ‚Ungezogenheit‘ bestand und ob sie die Bedingungen des Erlasses von 1933 erfüllte, noch ging es auf die Version der Eltern ein, laut denen eine Mitschülerin „über das Verhalten des Lehrers gefeixt“ habe, woraufhin dieser „in blinder Wut“ das falsche Mädchen geschlagen habe.67 Stattdessen wies es die Beschwerde ab, weil angesichts der kriegsbedingten hohen Schülerzahl von bis zu 70 Kindern pro Klasse „der Lehrer zur Aufrechterhaltung der Schuldisziplin mit den schärfsten Mitteln durchgreifen“ müsse. Diese Begründung war nahezu wörtlich aus der Stellungnahme des Schulleiters entnommen.68 Schläge „zur Wiederherstellung der Ordnung und zur Wahrung der Lehrerautorität“
Diese beiden Fälle erwecken den Eindruck, als seien Beschwerden wegen körperlicher Strafen um 1940 eher als Bagatellsachen und unter großzügiger Auslegung der im Erlass von 1933 festgelegten Bedingungen behandelt worden. Dagegen ist es wohl kein Zufall, dass der einzige unter den untersuchten Fällen, der zu einer Gerichtsverhandlung führte (nachdem der Lehrer den Strafbefehl der Staatsanwaltschaft über 50 RM angefochten hatte), sich nur wenige Monate nach der Wiedereinführung körperlicher Strafen zutrug: Der Lehrer N. hatte den 13-jährigen Schüler Herbert körperlich bestraft, den er zwar zu diesem Zeitpunkt nicht selbst unterrichtete, dem er aber offensichtlich seit längerer Zeit in gegenseitiger Abneigung verbunden war. So klagte der Lehrer, Herbert habe sich ihm gegenüber bereits seit dem Vorjahr „auflehnend/widerspenstig/gemein“ benommen, bei jeder Gelegenheit versucht, ihn lächerlich zu machen, und seine eigene „an sich gutmütige Klasse bewußt und gewollt“ gegen ihn aufgehetzt und zum Ungehorsam verleitet.69 Der Schüler selbst gab zu, dass er den Lehrer „öfter 65
66 67 68 69
Nämlich im Fall in: SächsStAFilA-BZ, 500015, Nr. 859, in dem nicht nur der Lehrer unaufgefordert die entsprechende Aufzeichnung einreichte, sondern auch das Kultusministerium, nachdem es vom strafrechtlichen Freispruch des Lehrers erfahren hatte, das Bezirksschulamt anwies, die korrekte Dokumentation der Bestrafung zu prüfen und den Lehrer gegebenenfalls dafür zur Verantwortung zu ziehen. Oberlehrer T. an Bezirksschulamt Glauchau-Land-Süd, 18.11.1940, SächsStA-C, 30360, Nr. 380. Eheleute S. an Bezirksschulrat Glauchau, 29.10.1940, SächsStA-C, 30360, Nr. 380. Bezirksschulamt Glauchau-Land-Süd an M. S., 22.11.1940, SächsStA-C, 30360, Nr. 380. G. N. an Bezirksschulrat, 13.11.1933, SächsStAFilA-BZ, 500015, Nr. 859.
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geärgert“ habe, weil er diesem beleidigende Äußerungen gegen Schüler und häufiges Nachsitzenlassen nachtrug.70 Als der Lehrer ihn zu sich in die Klasse rief, um ihn wegen seines Verhaltens zur Rede zu stellen, habe Herbert seine Fragen unwahr und „in anmaßend trotzigem Ton“ beantwortet, weshalb ihm N. nicht nur nach jeder Frage ohrfeigte, sondern ihm danach vier bis sieben Stockschläge auf den Hintern gab.71 Dabei inszenierte der Lehrer offensichtlich eine Art „Gericht“, wie er selbst im Nachhinein beschrieb: „Nach Verlesen meiner Anklage mache ich den Burschen darauf aufmerksam, daß ich unter diesen Voraussetzungen berechtigt und als Ehrenmann zur Wiederherstellung der Ordnung und zur Wahrung der Lehrerautorität zur weiteren körperlichen Züchtigung gezwungen bin.“72 Hier und in der mehrfachen Betonung des Lehrers, er habe „ohne jedweden Affekt“ geschlagen, spiegelt sich das aus dem 19. Jahrhundert bekannte Ideal des kontrollierten, nicht mit Wut einhergehenden Strafens, das in den 1930er Jahren offenbar noch sehr lebendig sein konnte. Vor allem zeigt dieses formale Vorgehen, dass der Lehrer sehr bewusst gezüchtigt hatte, von der Rechtmäßigkeit und von der pädagogischen Angemessenheit der Schläge also überzeugt gewesen war. Tatsächlich stimmte auch der Bezirksschulrat im Prozess zu, die Bestrafung sei „in erzieherischer Hinsicht nicht zu Bedenken Anlass gebend“: Es sei „durchaus möglich, dass die Züchtigung [. . . ] durch den Angeklagten unvermeidlich war, um Zucht und Ordnung gegenüber der bewussten und gewollten Auflehnung [. . . ] zu wahren“, und auch die Tatsache, dass der Junge „zur Erhöhung der Wirkung“ vor Schülern einer fremden Klasse bestraft worden war, sei pädagogisch zu rechtfertigen.73 Wenn auch nach dieser Bewertung der Anlass der Züchtigung den Erlassbestimmungen entsprach, kam in Bezug auf die Intensität das Gericht zu dem Schluss, dass „ein nicht unerheblicher Verdacht zurückbleibt, dass er das zulässige Mass der Züchtigung [. . . ]
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72 73
Amtshauptmannschaft Löbau: Aussageprotokolle der Lehrer N., H. und W. N., 16.11.1933, ebd. Zitat: G. N. an Bezirksschulrat, 13.11.1933, SächsStAFilA-BZ, 500015, Nr. 859. Die Zahl der Schläge ist nicht eindeutig zu ermitteln, da der Schüler von deutlich mehr Ohrfeigen (ca. 20–25) bzw. Schlägen (insgesamt sieben, von denen die letzten beiden „außerordentlich stark und schmerzhaft“ gewesen seien) berichtete, als der Lehrer zugestand (vgl. Amtshauptmannschaft Löbau: Aussagenprotokolle der Lehrer N., H. und W. N., 16.11.1933, ebd.). Das Gericht bewertete die Zeugenaussagen der zusehenden Schüler äußerst kritisch, da es von einer Beeinflussung durch den Lehrer ausging, weil mehrere Kinder in der Gerichtsverhandlung ihrer ursprünglichen, die Version des Lehrers stützenden Aussage widersprochen hatten (AG Löbau: Urteil vom 16.5.1934, Abschrift, ebd.). Der Fall zeigt somit beispielhaft die großen Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion des Tathergangs bei Züchtigungsfällen. G. N. an Bezirksschulrat, 13.11.1933, SächsStAFilA-BZ, 500015, Nr. 859. Dort auch das folgende Zitat. AG Löbau: Urteil vom 16.5.1934 (Abschrift), SächsStAFilA-BZ, 500015, Nr. 859. Dort auch das folgende Zitat.
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überschritten“ habe – da dies jedoch nicht eindeutig zu belegen war, wurde der Lehrer aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Bemerkenswert an diesem Fall ist vor allem die – weder vom Gericht noch von den Schulbehörden infrage gestellte – Begründung der Züchtigung: Sie diente, wie es der Lehrer selbst seinen Schülern gegenüber formuliert hatte, „zur Wiederherstellung der Ordnung und zur Wahrung der Lehrerautorität“. Diese Autorität war im vorliegenden Fall offenbar nicht nur durch Herberts Verhalten bedroht: Der Bezirksschulrat kam in seiner Befragung von N.s Schülern zum Ergebnis, der Lehrer habe sich durch sein teilweise etwas exzentrisches Benehmen und durch von den Schülern als ungerecht empfundene (allerdings größtenteils nicht körperliche) Strafen „seine Autorität [. . . ] vollkommen verscherzt“.74 Hier zeigt sich eine leichte Verschiebung gegenüber den noch im 19. Jahrhundert üblichen Vorstellungen von Lehrerautorität: Der Lehrer hatte nicht qua Amt Anspruch auf Anerkennung seiner Autorität, sondern diese hing auch von seinem Verhalten ab, das nun mit Verständnis für die Perspektive der Schüler bewertet wurde. Dennoch widersprachen die Schulbehörden nicht der Auffassung des Lehrers, für den gerade die bedrohte Autorität nur durch Gewaltanwendung zu verteidigen schien. Im Fall N. wurde weniger ein einzelnes konkretes Fehlverhalten des Schülers als dessen grundsätzliche Haltung dem Lehrer gegenüber bestraft. Aber auch einzelne Gesten konnten von Lehrern als respektlose Missachtung ihrer Autorität und somit im Sinne des Erlasses als ‚Auflehnung gegen Zucht und Ordnung‘ gedeutet werden. Dies gilt etwa für einen Fall aus dem Jahr 1933. Dort hatte der Lehrer einem Jungen als Strafe für „Albereien“ befohlen, nach dem Unterricht länger in der Schule zu bleiben. Der Schüler empfand dies als ungerecht, schlug vor Wut mit seinem Zeichenblock auf die Bank und rief (nach Aussage des Lehrers): „Ich bleib eben nicht da, ich sag’s meinem Vater, der kommt in die Schule!“75 Daraufhin habe er „einen mäßigen Schlag in den Nacken“ bekommen – so zumindest die Version des Lehrers, der Stiefvater dagegen sprach von mehreren Ohrfeigen, mit denen der Junge zusätzlich zu einer halben Stunde Arrest und einer weiteren „Strafstunde“ bestraft worden sei. Diese Kombination von Strafen erschien dem Stiefvater, der sich zudem durch Äußerungen des Lehrers über die Brüder des bestraften Jungen beleidigt sah, als „ungerechtfertigt, roh und krass“.76 Die Mitschüler dagegen versicherten ihrem Lehrer „am Ende der Stunde unaufgefordert, daß sie für ein derartiges Benehmen von ihrem Vater
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Bezirksschulrat L.: Vernehmung der Schulkinder in der Volksschule zu Sohland, 17.11.1933, ebd. Lehrer H.: Bericht, 1.6.1933, SächsStA-C, 30356, Nr. 373. Vgl. H. M. an Bezirksschulrat Annaberg, 17.5.[1933], SächsStA-C, 30356, Nr. 373.
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eine ordentliche Tracht Prügel bekämen und als gerechte Strafe ansähen“.77 Diese Äußerungen zeigen nicht nur eine selbstverständliche Akzeptanz und offenbar nach wie vor weite Verbreitung von Körperstrafen als (elterliches) Erziehungsmittel. Sie belegen auch, dass körperliche Strafen gemäß den von den Kindern internalisierten Bewertungsmaßstäben durchaus als übliche, angemessene Reaktion auf einen wütenden Protest gegen eine Lehreranweisung gesehen werden konnten. Respektlos wirkende Umgangsformen gegenüber dem Lehrer waren auch in einem anderen Fall Anlass zu mehreren Ohrfeigen. Als ein Lehrer einen Schüler wegen eines Fehlverhaltens zur Rede stellen wollte, habe sich der Junge mit den Händen in den Taschen vor ihn gestellt. „Ich nahm ihm selbstverständlich nicht ganz zart die Hände aus den Hosentaschen. Daraufhin stellt er sich schräg vor mich hin, guckt auf die Seite und lacht, oder besser gesagt, feixt. Ich kann sagen und fragen, was ich will, ich werde von dem Schüler nicht beachtet. Nun sah ich mich gezwungen, ihn durch einige wohlgemeinte Fingerzeige etwas Benehmen beizubringen und seinem Gesicht die richtige Blickrichtung zu geben.“78 Das Bezirksschulamt wies die Beschwerde der Mutter zurück, da die Züchtigung innerhalb der erlaubten Grenzen geblieben sei und wegen des „unehrerbietigem Verhalten Ihres Sohnes gegenüber dem Lehrer“ erfolgt sei. Gleichzeitig wies es darauf hin, dass der Sohn „sehr widerhaarig“ sei, sich nicht „in die Ordnung der Schule einfügen“ wolle und öfters den Unterricht störe.79 Auch im letzten der untersuchten Fälle war es letztlich ein Konflikt um die Anerkennung der Autorität des Lehrers, der zu den körperlichen Strafen führte. Er gewährt außerdem einen Einblick in die Grauzone einer Form von Strafen, die zwar nicht zu den in dieser Arbeit untersuchten Körperstrafen im engeren Sinne gehört, aber dennoch auf dem Erzeugen körperlichen Unbehagens beruhte. Die Annahme liegt nahe, dass solche Strafformen, auch als eine Art Ersatzmittel für Körperstrafen im engeren Sinne, im Schulalltag durchaus üblich waren, auch wenn sie kaum diskutiert wurden und zumindest laut den untersuchten Akten in keinem Fall zu einer Beschwerde Anlass gaben. Auch im folgenden Fall war die in erzwungener sportlicher Anstrengung bestehende Strafe anscheinend selbst unumstritten und wurde nur aktenkundig als Anlass des eigentlichen Vorfalls: Ein Lehrer hatte mehrere Schüler, die sich beim Turnen in der Pause nicht beteiligt oder anderweitig seinen Anweisungen widersetzt hatten, zur Strafe 15bis 20-mal eine Treppe hinauf- und herunterlaufen lassen. Ein Mitschüler, Kurt, machte dazu Bemerkungen, „die geeignet waren, den Charakter der Strafe in den Augen der Kinder abzuschwächen, wenn nicht gar zu untergraben“. Deshalb ließ 77 78 79
Ebd. Zu beachten ist, dass diese Aussagen nur indirekt durch die in Rechtfertigungsabsicht getätigte Aussage des Lehrers überliefert sind. Lehrer E. O. an Bezirksschulamt Schwarzenberg, 7.5.1934, SächsStA-C, 30364, Nr. 984. Bezirksschulamt Schwarzenberg an H. K., 12.5.1934, SächsStA-C, 30364, Nr. 984.
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der Lehrer ihn ebenfalls die Treppen laufen, was Kurt allerdings sehr langsam ausführte, sich darauf berufend, dass der Lehrer zuvor zu einem der bestraften Jungen gesagt hatte, er müsse nicht ganz so schnell rennen. Der Lehrer wollte den „widerspenstigen“ Kurt auf den Kopf schlagen, wovor dieser aber flüchtete. Als der Lehrer ihn eingeholt hatte und ihm einen Schlag auf den Hintern geben wollte, wehrte Kurt sich erneut, weshalb der Lehrer ihn stattdessen in die Waden schlug und ins Schulhaus zog, um ihn zum Schulleiter, der auch sein Klassenlehrer war, zu bringen. Kurz darauf erschien der von Zeugen benachrichtigte Vater des Jungen in der Schule, um sich über die Misshandlung seines Sohnes zu beschweren. Dabei habe er sich vor allem gegen das Schlagen auf die Ohren und in die Waden ausgesprochen und dabei gesagt, „Sie können meinen Jungen schlagen, aber schlagen sie ihn auf den Arsch“, und selbst betont, „daß er keineswegs seinem Jungen alles durchlasse, daß er vielmehr oft sehr hart zufasse“.80 Diese Aussagen sind zwar nur durch den Bericht des Lehrers über den Fall überliefert, aber die Beschwerde des Vaters selbst lässt sie zumindest nicht unplausibel erscheinen, denn auch sie ging nur auf die Art und nicht auf die Tatsache der körperlichen Bestrafung ein. Der Vater betonte, der Lehrer habe seinen Sohn nicht etwa „nur etwas hart gezüchtigt [. . . ], er hat ihn vielmehr direkt mißhandelt“, und verwies auf die am nächsten Tag sichtbaren Spuren: geschwollene und rot unterlaufene Kniekehlen sowie vier am Oberarm sichtbare Fingerabdrücke. Außerdem habe der Sohn Kopfschmerzen und Ausfluss aus einem (durch eine Mittelohrentzündung vorgeschädigtem) Ohr gehabt, die aber nach Aussage des Arztes auch durch eine Erkältung verursacht gewesen sein könnten und sich inzwischen gebessert hätten. Angesichts dessen war der Vater bereit, seine Beschwerde beim Bezirksschulamt zurückzuziehen, wenn der Lehrer ihm seinen Verdienstausfall am Vormittag des Vorfalls sowie die Arztkosten erstatte und zusätzlich 10 RM Buße an die NS-Volkswohlfahrt zahle.81 Da sich der Lehrer mit diesem Vorschlag einverstanden erklärte, verzichtete das Bezirksschulamt auf eine Übergabe des Falls an die Staatsanwaltschaft. Dass der Lehrer selbst die Bestrafung im Nachhinein als das zulässige Maß überschreitend bewertete, sieht man daran, dass er sie mit seiner erhöhten Reizbarkeit infolge von Schlafmangel und Krankheit entschuldigte, über die er sogar ein ärztliches Attest vorlegte.82 Dass er den Jungen zunächst durch das Treppensteigen, dann mit Schlägen bestraft hatte, schien er dagegen auch rückblickend noch als gerechtfertigt zu empfinden: „Wenn ich als Aufsichtsführender eine Strafe diktiere, so lasse ich dieser nicht durch flache Bemerkungen der Kinder ihren Char. als solche neh80 81 82
R.: Protokoll der Züchtigung des Schülers S., o. D., SächsStAFilA-BZ 500015, Nr. 859. Bezirksschulamt Löbau: Aussageprotokoll R. S., 30.5.1934, SächsStAFilA-BZ 500015, Nr. 859. Bezirksschulamt Löbau: Aussageprotokoll G. R., 16.5.1934, SächsStAFilA-BZ 500015, Nr. 859.
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4.3 Praxisfälle nach 1933
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men.“ Hätte der Schüler sich beim Versuch des Lehrers, ihn auf den Hintern zu schlagen, nicht gewehrt, „dann wäre die Sache erledig [sic] gewesen“. Hier zeigt sich ein Mechanismus, der bereits in früheren Fällen festgestellt wurde, nämlich dass das „Funktionieren“ einer Strafe immer auf einer Wechselwirkung beruht:83 Wenn ein Schüler die Strafe nicht als solche anerkennt oder sich versucht, ihr zu entziehen, kann diese die ihr zugedachte Funktion – etwa den Anspruch des Lehrers auf Befolgen seiner Anordnungen durchzusetzen – nicht erfüllen. Aus Sicht des körperlich Strafenden kann somit aus relativ geringfügigen Anlässen ein Machtkampf entstehen, in dem die Steigerung der Gewalt als einzige Möglichkeit erscheint, die Anerkennung der Strafe durch den Gestraften zu erzwingen und so den eigenen Anspruch auf Gehorsam aufrechtzuerhalten – auch und gerade den zusehenden Schülern gegenüber. Im geschilderten Fall führte dieser Mechanismus zu einer Gewaltanwendung, die offensichtlich auch aus Sicht des Lehrers selbst das Erlaubte und ursprünglich Beabsichtigte überschritt, ihm aber gleichzeitig „durch die Widerspenstigkeit des Knaben“ verursacht, für ihn also kaum vermeidbar erschien. Insgesamt ergibt sich aus den in Sachsen untersuchten Fällen folgendes Bild: Kurz nach dem körperliche Strafen wieder einführenden Erlass bemühten sich Lehrer und Schulbehörden offensichtlich noch, dessen Bestimmungen im Detail zu befolgen und Körperstrafen nur als zu dokumentierende Ausnahme in bestimmten Fällen einzusetzen. In dieser Zeit wurden als Körperstrafen rechtfertigende Anlässe, also im Sinne des Erlasses als ‚Auflehnung gegen Zucht und Ordnung‘, vor allem (vermeintliche) Angriffe auf die Autorität des Lehrers, etwa Widerspruch gegen Anweisungen, gewertet. Die behördlichen Reaktionen auf spätere Beschwerden deuten dagegen darauf hin, dass zumindest mäßige körperliche Strafen im Laufe der Zeit, vor allem nach Kriegsbeginn, zunehmend auch unabhängig von den Bestimmungen des Erlasses bezüglich Anlass und Dokumentationspflicht akzeptiert wurden. Eine extrem harte Bestrafung wie im Fall der nahezu 50 Stockschläge dagegen war auch im Sachsen der NS-Zeit eine Aufsehen und Empörung erregende Ausnahme. Dass sie durch die konkrete Konstellation von Anlass der Bestrafung und jeweiligem Status der Beteiligten dennoch ohne ernstere Konsequenzen für den Lehrer bleiben konnte, zeigt aber, dass sich das Maß legitimierbarer Gewalt auch im schulischen Kontext verschoben hatte.
83
Vgl. oben, S. 81.
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4. Rückkehr zur Prügelpädagogik? Die Zeit des Nationalsozialismus
4.4 Zwischenfazit 1933–1945: keine abrupte Richtungsänderung, aber Unterbrechung der Abschaffungsbestrebungen Auch nach der Untersuchung auf verschiedenen Ebenen bleibt das Bild, das sich von der Rolle körperlicher Schulstrafen im Nationalsozialismus ergibt, ambivalent: Eine klare Richtungsänderung zurück zu einer „Prügelpädagogik“ hat es – anders, als es häufig angenommen wird und angesichts der Rolle von Härte und Gewalt in NS-Ideologie und -Pädagogik auch durchaus zu erwarten wäre – nicht gegeben. Dies zeigen schon die wenigen Beiträge zur theoretischen pädagogischen bzw. schulpraktischen Debatte aus jener Zeit, in denen eine vollständige Ablehnung von Körperstrafen nicht nur weiterhin geäußert wurde, sondern sogar ausdrücklich aus der nationalsozialistischen Ideologie heraus begründet werden konnte. Hierbei spielte vor allem die kindliche Ehre als schützenswertes Gut, aber auch alternatives Mittel zur Beeinflussung des Verhaltens eine zentrale Rolle. Da ebendiese Ehre bzw. die Fähigkeit zu ihrer Erlangung allerdings sowohl einzelnen Kindern als auch ganzen Gruppen pauschal abgesprochen wurde, sind auch bei diesem Thema die typischen nationalsozialistischen Exklusionsmechanismen zu erkennen. Innerhalb der so definierten Volksgemeinschaft aber wurden schulische Körperstrafen auch in NS-Lehrerzeitschriften höchstens für seltene Ausnahmefälle befürwortet und als problematisches, möglichst zu vermeidendes Mittel angesprochen. Auch die schulrechtliche Entwicklung widerspricht dem Bild eines klaren Bruchs um 1933 – mit Ausnahme Sachsens, wo das Verbot körperlicher Strafen von 1922 aufgehoben wurde. Im übrigen Reich, vor allem im einflussreichen Preußen, blieben die bisherigen Einschränkungen des Züchtigungsrechts jedoch prinzipiell bestehen, und in Bayern wurden sie 1942 mit der Einführung einer neuen Landesschulordnung sogar leicht verschärft. Andererseits wäre es naiv, aus diesen normativen Quellen automatisch zu folgern, dass im nationalsozialistischen Schulalltag körperliche Strafen nicht häufiger vorgekommen seien als vor 1933. So deuten etwa die sächsischen Fallbeispiele daraufhin, dass im Laufe der Zeit nicht nur Lehrer, sondern auch Schulbehörden die Bestimmungen des Erlasses, der Körperstrafen in theoretisch sehr engen Grenzen wieder erlaubt hatte, immer weniger beachteten. Eine solche Diskrepanz zwischen theoretischen oder rechtlichen Normen und der Praxis des Schulalltags ist zunächst natürlich nichts, was für die Zeit des Nationalsozialismus spezifisch wäre. Allerdings deutet einiges darauf hin, dass diese stets vorhandene Diskrepanz hier noch etwas größer war und vor allem bewusster in Kauf genommen wurde als zu anderen Zeiten – was dann auch helfen könnte, den scheinbar unversöhnlichen Widerspruch von Zeitzeugenerinnerungen und zeitgenössischen Wahrnehmungen einer NS-„Prügelpädagogik“ einerseits und
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4.4 Zwischenfazit 1933–1945
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den konstatierten Kontinuitäten in den normativen Positionen andererseits aufzulösen. Schon der Erlass, mit dem der preußische Reichskommissar Wilhelm Kähler im Januar 1933 die „weichlich[e] Behandlung der Schüler“ zu beenden gesucht hatte, war ja ausdrücklich keine Rücknahme der bestehenden Einschränkungen gewesen, sondern nur eine Aufforderung, sie im Einzelfall mit mehr Ermessensspielraum zugunsten der Lehrer auszulegen. Auch die eingangs beschriebene Verschiebung der Machtverhältnisse zwischen Schülern und Lehrern durch die Bedingungen einer Diktatur und durch die Konkurrenz zwischen HJ und Schule legt es nahe, dass der Rahmen von akzeptierten Überschreitungen des Züchtigungsrechts im Einzelfall deutlich vergrößert sein konnte. Dass es auf der normativen Ebene dagegen kaum zur Ausweitung des Züchtigungsrechts kam, dürfte, soweit sich dies anhand der spärlichen Quellenlage beurteilen lässt, nicht zuletzt an der erwarteten negativen Außenwirkung eines solchen Schrittes gelegen haben. Dies hängt mit der Tatsache zusammen, dass sich zumindest für manche Nationalsozialisten eine Ablehnung des schulischen Züchtigungsrechts „aus unserer Weltanschauung heraus von selbst“ ergab.84 Es bestätigt aber auch, dass die Bewertung von Schlägen in der Schule als rückschrittliches, ungeeignetes und unzeitgemäßes Erziehungsmittel in der öffentlichen Meinung offenbar schon recht weit verbreitet war. Dies war das Resultat eines allmählichen Ächtungsprozesses, der in den vorherigen Jahrzehnten sowohl durch die noch kontroversen, aber immer züchtigungskritischeren Debatten zum Thema als auch durch die zunehmenden schulrechtlichen Einschränkungen immer weiter vorangetrieben worden war. Beides kam im Nationalsozialismus vollständig zum Erliegen.
84
Zitat v. Hans Schemm, Bayerischer Landtag, 44. Sitzung vom 14.6.1929, Stenographischer Bericht, 1928/29, Bd. 2., S. 303 (siehe oben, Fn. 32).
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5. Zwischen Menschenwürde und Halbstarken: 1945–1968 5.1 Pädagogische Debatten ab 1945 Wiederaufnahme züchtigungskritischer Traditionen
Wenn der Umgang mit körperlichen Schulstrafen im Dritten Reich weniger durch eine bewusste, offene Rückkehr zu überholten Strafpraktiken gekennzeichnet war als durch den weitgehenden Abbruch der Debatte und das (erzwungene) Verstummen der absoluten Züchtigungsgegner, dann stellt sich die Frage, ob und wie nach 1945 an diese abgeschnittene Tradition wieder angeknüpft werden konnte. Tatsächlich erschienen in der zweiten Hälfte der 1940er und Anfang der 1950er Jahre eine ganze Reihe von pädagogischen und psychologischen Stellungnahmen und griffen mit verschiedenen Schwerpunktsetzungen Argumente gegen Körperstrafen wieder auf, die uns bereits aus älteren Debatten bekannt sind. Aus psychologisch-wissenschaftlicher Perspektive war dies etwa die bereits vorgestellte Dissertation Franz Bohls, die 1949 als Monographie erschien – ohne direkten Hinweis auf ihre Erstveröffentlichung 1938, aber mit umso deutlicherer normativer Position: In einem neu verfassten Vorwort kündigte Bohl nicht nur an, seine Arbeit führe „in unwiderleglicher wissenschaftlicher Beweisführung zur Ablehnung der Körperstrafe als Erziehungsmaßnahme“, sondern ergänzte dies mit dem Appell: „Die Erziehung der Zukunft wird frei sein von dem Kulturschandfleck der Körper- und Prügelstrafe!“1 In der Tradition der Reformpädagogik und mit Bezug auf Ellen Key äußerte sich Liselotte Wettig, Lehrerin an Landerziehungsheimen und Versuchsschulen,2 in einer kurzen Abhandlung zum „Problem der Strafe in der Erziehung“. Sie lehnte Körperstrafen darin vollständig ab und warnte vor allem vor deren negativen Auswirkungen auf Selbst- und Ehrgefühl des Kindes, die zu Wut, Ängstlichkeit und Brutalisierung führen könnten.3 Auch Friedrich Schneider, bis zu seiner Zwangsemeritierung 1934 Professor für Pädagogik und Psychologie an der Pädagogischen Akademie Bonn und nach dem Krieg zunächst an der Universität Salzburg, ab 1949 an 1 2
3
Bohl: Problem (1949), S. 6. Wettig war vor 1933 am von Minna Specht nach den Prinzipien des Philosophen Leonard Nelson geleiteten Landerziehungsheim Walkemühle tätig, dann Lehrerin an dessen Fortsetzung als „sozialistischer Schulversuch im dänischen Exil“ (so Nielsens Beschreibung). Vgl. zu diesen Schulen und zu Wettigs Biografie Nielsen: Erziehung. Vgl. Wettig: Problem, S. 40 f.
https://doi.org/10.1515/9783111123783-005
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5. Zwischen Menschenwürde und Halbstarken: 1945–1968
der Ludwig-Maximilians-Universität München Professor für Pädagogik, veröffentlichte 1948 eine Einführung in die Erziehungswissenschaft aus katholischer Perspektive, in der er ausführlich auf die Frage körperlicher Strafen einging. Er sah eine Auseinandersetzung mit dieser Strafform in diesem Zusammenhang als besonders notwendig an, weil „ihre theoretischen Verfechter leider gerade in den Kreisen gläubiger Christen, der Katholiken wie Protestanten, zahlreich vertreten sind“.4 Ihnen setzte er unter anderem die Schädlichkeit körperlicher Strafen für das kindliche Ehrgefühl und für das Vertrauensverhältnis zum Erzieher, die mögliche Förderung von Trotz, Rohheit und Ängstlichkeit sowie die unvermeidliche Gefahr von Schlägen im Affekt und somit Überschreitungen des vertretbaren Maßes entgegen.5 Auch in pädagogischen Zeitschriften führten (hauptsächlich) Lehrer ab 1949 eine intensive Diskussion zu körperlichen Strafen, vor allem in den Monatsschriften Die Schulwarte (herausgegeben von der württembergischen Landesanstalt für Erziehung und Unterricht) und Schola. Dabei sprach sich die große Mehrheit der Aufsätze gegen körperliche Strafen aus.6 Einige gaben allerdings an, zwar die pädagogische Forderung einer vollständigen Abschaffung zu teilen, hielten diese aber angesichts der aktuellen Schulbedingungen für noch nicht umsetzbar.7 Nur wenige Autoren, bezeichnenderweise vor allem Leserbriefschreiber, ließen eine grundsätzlichere Bejahung körperlicher Strafen erkennen.8
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Schneider: Einführung, S. 194. Vgl. Schneider: Einführung, S. 190–193. Eine ähnliche Position, hier allerdings speziell auf die elterliche Erziehung bezogen, hatte Schneider bereits in seinem 1935 erschienen und bis in die 1960er Jahre mehrfach aufgelegten Erziehungsratgeber Katholische Familienerziehung (vgl. S. 129) vertreten. Vgl. Stauß: Gedanken; Kubiena: Erziehung; Herbert Otterstädt: Unser Punktsystem, in: Die Schulwarte 2 (1949), S. 491–494; Valentin Weidemann: Ein Straffall aus meiner jetzigen Klasse, in: Schola 5 (1950), S. 153–156; J. S. H.: Was eine Mutter zur körperlichen Züchtigung sagt, in: Die Schulwarte 2 (1949), S. 483–485; Die körperliche Züchtigung in der Schule, eine straf- und disziplinarrechtliche Betrachtung, in: Die Schulwarte 2 (1949), S. 494–497; Paul Schmid: So wirkt der Stock auf andere, in: Die Schulwarte 3 (1950), S. 51; Eduard Lehmann: Die Strafe – das umstrittenste Erziehungsmittel, in: Die Schulwarte 3 (1950), S. 143–148. Auch in der vor allem an Gymnasiallehrer gerichteten Pädagogischen Provinz wurden Körperstrafen 1950 abgelehnt – was angesichts der Tatsache, dass ihr Herausgeber der 1946 als Kultusminister für das hessische Züchtigungsverbot verantwortliche Franz Schramm war, nicht erstaunt (vgl. zum Charakter der Zeitschrift Dudek: Rückblick, S. 165). Vgl. Stein: Dürfen?; Heinrich Büttner: Schon 1911, in: Pädagogische Provinz 4 (1950), S. 715– 716 (mit Auszügen aus Maders züchtigungskritischem Aufsatz von 1911). Vgl. R. Conrad: Für oder gegen die Prügelstrafe?, in: Schola 4 (1949), S. 478–480; Scherwinsky: Prügeln. Vgl. den Leserbrief von Friedrich Steiner, der Körperstrafen in bestimmten Fällen für pädagogisch vertretbar hielt und forderte, dass bei Jungen ab dem dritten Schuljahr Lehrer frei über die Anwendung körperlicher Strafen entscheiden können müssten (in: Schola 4 (1949), S. 877); ähnlich auch: Die Meinung eines Landlehrers, in: Die
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5.1 Pädagogische Debatten ab 1945
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Solche praktischen Bedenken wies der SchweizerLehrerseminar-Direktor Willi Schohaus als „Argument des Kleinmuts“ zurück: In seinem Artikel für das 1951 in Bern erschienene Lexikon der Pädagogik lehnte er körperliche Strafen als „Mittel der Dressur und nicht der Erziehung“ ab und äußerte die Hoffnung, dass die theoretisch „heute von den allermeisten Erziehern anerkannt[e]“ Ablehnung dieser Strafart sich auch praktisch durchsetzen werde.9 Auch wenn es sich um ein Schweizer Lexikon handelte und Schohaus sich ausdrücklich auf die dortigen Verhältnisse bezog, wurde dieses Nachschlagewerk – und seine Haltung zu körperlichen Strafen – auch in Deutschland rezipiert.10 Dort erschien der erste Artikel zum Thema in einem bedeutenderen pädagogischen Lexikon nach dem Zweiten Weltkrieg erst 1955: Im von Heinrich Rombach herausgegebenen Lexikon der Pädagogik galt das Ziel des vollständigen Verzichts auf körperliche Strafen als Teil „einer (im guten Sinne) modernen päd. Haltung“, Lehrern sollten sie sich „prinzipiell [. . . ] in jeder Form verbieten“.11 Allerdings sah der Verfasser des Lexikonartikels äußere Voraussetzungen wie kleine Klassen oder Fachkräfte zur Betreuung schwieriger Schüler als notwendige Voraussetzungen für einen vollständigen Verzicht. Bei deren Fehlen müsse „der Lehrer die Möglichkeit haben, in bes. Notfällen Forderungen der Schuldisziplin mit den leichteren Formen der k. Z. durchzusetzen“.12 Auch in diesem in der katholischen Tradition stehenden Lexikon konnten körperliche Strafen also nicht mehr positiv bewertet und nur noch stark eingeschränkt, begrenzt auf von den Rahmenbedingungen abhängige „Notfälle“, überhaupt gerechtfertigt werden. Insgesamt scheint für die pädagogische Haltung zu körperlichen Strafen im ersten Nachkriegsjahrzehnt folgende Zusammenfassung eines zeitgenössischen Kommentatoren treffend: „Kein Zweifel: es ist undenkbar, daß heute ein namhafter Erzieher oder pädagogischer Schriftsteller mit pädagogischen, psychologischen oder didaktisch-methodischen Argumenten für die körperliche Züchtigung in irgendeiner Form einzutreten vermöchte. Er würde in einem Antiquitätenladen verschwinden.“13 Diese Analyse hätte zumindest in etwas abgeschwächter Form ähnlich schon um 1930 formuliert werden können, wie insbesondere der Blick auf pädagogische Lexika jener Zeit gezeigt hat. Doch während damals Körperstrafen noch ein vieldiskutiertes Thema auch in der pädagogisch-wissenschaftlichen Literatur waren, wurden sie in der frühen Bun-
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Schulwarte 2 (1949), S. 490–491; mit Verweis auf in einer Befragung in seiner Klasse geäußerte Zustimmung zu Körperstrafen: Oesterle: Ergebnis. Schohaus: Strafe, S. 218 f. Dies belegt neben der Verbreitung in deutschen (Hochschul-)Bibliotheken beispielsweise auch die Rezeption dieses Lexikons in juristischen Texten der 1950er (vgl. Bohnes: Züchtigungsrecht; Kaiser: Züchtigungsrecht). Esterhues: Züchtigung, Sp. 1080. Ebd., Sp. 1081. Stauß: Gedanken, S. 629.
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5. Zwischen Menschenwürde und Halbstarken: 1945–1968
desrepublik außerhalb des Kreises der Schulpraktiker nur wenig thematisiert. Dies bemerkte auch der eben zitierte Beobachter: Für ihn erklärte sich das Ausbleiben größerer erziehungswissenschaftlicher Debatten damit, dass die Frage „als überholt gelten“ müsse – „vielleicht aber auch aus dem unangenehmen Gefühl heraus, das uns einem entfernten, aber mißratenen Verwandten aus dem Wege gehen läßt, weil er zur Situation des Augenblicks so gar nicht paßt.“14 Tatsächlich war die „Situation des Augenblicks“ nach 1945 eine besondere – was genau bedeutete dies für die Debatten um körperliche Strafen? . . . und ein neuer Aspekt
Die Ablehnung körperlicher Strafen, die in der zweiten Hälfte der 1940er und der ersten der 1950er die theoretischen Debatten dominierte, wurde größtenteils mit Argumenten begründet, die ganz ähnlich schon in der Weimarer Republik oder sogar im 19. Jahrhundert geäußert worden waren. Gleichzeitig war nach 1945 die Perspektive auf dieses Thema eine grundlegend andere. So beschrieb der Psychoanalytiker Heinrich Meng den Entstehungsprozess seines zum Jahreswechsel 1944/45 abgeschlossenen Buchs Zwang und Freiheit in der Erziehung mit den Worten: „Auch die Erfahrungen, die zwei Weltkriege gebracht haben, waren Mitarbeiter.“15 Die Folgen der „Mitarbeit“ insbesondere des zweiten der beiden Weltkriege bzw. des Nationalsozialismus werden deutlich, wenn man Mengs 1935 in der Schweiz veröffentlichtes Buch Strafen und Erziehen mit dem zehn Jahre später erschienenen (und 1953 wiederaufgelegten), auch in Deutschland breit rezipierten Zwang und Freiheit vergleicht: Bereits im ersten Buch hatte Meng in der Tradition der aus den 1920er Jahren bekannten tiefenpsychologischen Kritik auf die Gefahren hingewiesen, die Körperstrafen aus psychoanalytischer Sicht für die seelische Entwicklung bergen. Auch im späteren Werk warnte er etwa vor Störungen der Sexualentwicklung, Sadismus oder Masochismus und Neurosen als möglichen Folgen und griff dabei Gedanken (und zum Teil wörtliche Zitate) aus Strafen und Erziehen wieder auf. Er trug damit dazu bei, den 1933 in Deutschland abgebrochenen psychoanalytischen Diskurs zum Thema aus dem Exil in die Bundesrepublik zu ‚reimportieren‘. Allerdings wurde diese traditionelle psychologische Perspektive nun aber durch einen neuen Aspekt ergänzt, den Meng als kennzeichnend für seine „von 14 15
Ebd., S. 630. Meng: Zwang, S. 7. Meng (1887–1972) war zunächst als Arzt tätig gewesen, bevor er sich in den 1920er Jahren der Psychoanalyse zuwandte und diese ab 1929 in Frankfurt lehrte, bis er 1933 nach Basel emigrierte. Dort war er zunächst Dozent, von 1945 bis 1956 Professor für Psychohygiene. Vgl. Biermann: Meng.
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5.1 Pädagogische Debatten ab 1945
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den Erfahrungen der beiden Weltkriege“ geprägte Generation beschrieb: die Befürchtung, dass eine sich auf Gewalt stützende Erziehung „besonders geeignet ist, einen ganz bestimmten, recht unerwünschten Charaktertypus zu züchten, der einerseits ein heftiges Bedürfnis nach Leiden, nach Unterwerfung, nach Beherrschtwerden zeigt, mit dem aber auch unlöslich die entgegengesetzten Züge verbunden sind: der Wunsch nämlich, anderen Leid zuzufügen, sie zu beherrschen und auszubeuten“.16 Mit dieser Beschreibung bezog sich Meng ausdrücklich auf Erich Fromms Konzept vom autoritären Charakter.17 Im Gegensatz zum autoritären Charakter beschrieb Meng die „Charakterstruktur, deren die Demokratie bedarf “: Auch dieser Persönlichkeitstyp könne zwar einem Befehl gehorchen, aber „nicht deshalb, weil er von außen kommt und dem Individuum seine Verantwortlichkeit abnimmt, sondern weil der Wille, der sich im Befehl auswirkt, Teil seines eigenen Willens ist. Die äußere Autorität ist damit in Wahrheit seine eigene, an deren Willensbildung er teilnimmt und für die er sich verantwortlich fühlt, wie für sich selber.“18 Das entscheidende Erziehungsziel war also nicht Gehorsam, sondern „vor allem selbst zu wollen und recht zu wollen“. Dass ganz ähnliche Gedanken auch in den Debatten der Lehrerschaft aufgegriffen wurden, belegt beispielsweise ein Artikel in der Hessischen Lehrerzeitung: „Wir entschieden uns für die Demokratie, damit gleichzeitig als Erziehungsziel für den freiwillig mit der Gemeinschaft zusammenarbeitenden unabhängigen Bürger und gegen den Gehorsamsmenschen des autoritären Staates; als Erziehungsmethode: für die Freiheit und gegen den Zwang.“19 Trotz dieser allgemein gehaltenen Formulierungen verstand der Autor seine Überlegungen ganz konkret als „Beitrag zum Anti-Prügelerlaß des Hess. Kultusministers“. Dies ist ein typisches Merkmal der Debatte in der frühen Bundesrepublik: Anders, als es beispielsweise für viele Reformpädagogen der Fall 16 17
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Meng: Zwang, S. 16 f. Vgl. Fromm: Sozialpsychologischer Teil. Zwar erklärte Fromm die Entstehung dieses Charaktertyps weniger mit konkreten Erziehungsmitteln wie etwa Körperstrafen, sondern mit der gesamten Charakteristik der Familienstruktur und der Eltern-Kind-Beziehungen, die für ihn wiederum durch die ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Bedingungen bestimmt waren. Dennoch waren Körperstrafen von Anfang an eng mit dem „autoritären Charakter“ assoziiert. So diente etwa in Fromms 1929/30 durchgeführter großangelegter Befragung von Arbeitern und Angestellten die Einstellung zu Körperstrafen als Indikator für die Haltung zur Autorität: „Grundsätzlich kann man davon ausgehen, daß eine antiautoritäre Haltung, bei der die Freiheit und Unabhängigkeit des Individuums im Mittelpunkt des Interesses steht, zu einer Ablehnung der Prügelstrafe führen dürfte. Die umgekehrte Tendenz ist hingegen für Personen mit autoritären Charakterzügen zu erwarten, denn hier steht die Notwendigkeit einer strengen und disziplinierten Erziehung außer Frage, so daß auch eine positive Beurteilung der Prügelstrafe naheliegt“ (Fromm: Arbeiter, S. 189). Siehe auch Walter-Busch: Geschichte, S. 118–123; Wiggershaus: Frankfurter Schule, S. 173–178. Meng: Zwang, S. 17. Thaetner: Erziehung, S. 36.
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gewesen war, wurde die Frage körperlicher Schulstrafen nun nicht als untergeordnetes Detailproblem einer grundlegenden Schulreform angesprochen, sondern als zentraler Faktor für eine demokratische Neuausrichtung der Erziehung. Dies hängt sicher auch damit zusammen, dass die Abschaffung körperlicher Strafen eine politisch recht einfach durchführbare Geste mit hoher Signalwirkung für einen pädagogischen Neuanfang sein konnte.20 Allerdings würde es zu kurz greifen, die dem Thema zugemessene Bedeutung ausschließlich auf diesen Symbolwert zu reduzieren: Sie resultierte vielmehr auch aus der Rezeption psychologischer Ansätze, die die Prägekraft kindlicher Erfahrungen betonten. Für Heinrich Meng hatte die Problematik der Erziehungsstrafen „einschneidende Wirkung auf die Charakterbildung des Bestraften und des Strafenden und [. . . ] groß[e] Bedeutung für die gesamte Lebenshaltung eines Volkes und der Gemeinschaft der Völker“.21 Diese Ausführungen galten zwar hauptsächlich für die familiäre Erziehung, die man als entscheidender für die Entwicklung des Kindes ansehen kann, sie wurden aber auch auf schulische Strafen übertragen, wie die Aufsätze aus schulpädagogischen Zeitschriften zeigen. Auch wenn dort nicht explizit auf Fromms Theorie des „autoritären Charakters“ eingegangen wurde, finden sich sehr ähnliche Argumente:22 Ein Lehrer sah in körperlichen Erziehungsstrafen „die Wurzeln der Knechtsgesinnung, die man dem Deutschen schlechthin zuschreibt und die ihn für ein autoritäres Regime so geneigt machte“.23 Mit dieser Position war er keinesfalls alleine, auch andere Autoren warnten vor dem durch Körperstrafen erzeugten „knechtigen [sic] Geist der heuchlerischen Unterwerfung aus Furcht“, der „der Todfeind jeden demokratischen Staatsaufbaus und der Völkerversöhnung“ sei.24 Solche Diagnosen einer typisch deutschen „Knechtsgesinnung“, die es beim Aufbau einer demokratischen Gesellschaft zu überwinden gelte, waren typisch nicht nur für die alliierte, insbesondere britische und amerikanische, Sicht auf 20 21 22
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Hierauf weist Dirk Schumann (vgl. Legislation, S. 198) hin. Meng: Zwang, S. 17. Vgl. auch Levsen: Authority, S. 820. Levsens Aussage, „the theory on the authoritarian personality had an influence on some postwar German scholars [. . . ], but was largely unknown in wider educational debates until the late 1950s“, muss für die Debatten um körperliche Strafen zumindest relativiert werden: Meng popularisierte dieses Konzept (wenn auch in seiner älteren von Fromm formulierten Variante) nicht nur in seinem Buch, sondern auch in einem Artikel in der Frankfurter Rundschau (Zum Problem der Prügelstrafe, FR Nr. 296 v. 20.12.1949, S. 3), der beispielsweise im hessischen Kultusministerium nachweislich rezipiert wurde (vgl. S. 271 dieser Arbeit). Ein ausdrücklicher Bezug auf Fromm findet sich allerdings nur bei Meng selbst, sodass insgesamt Levsens Einschätzung, dass sich die Nachkriegskritik am „Autoritären“ weitgehend unabhängig von der Theorie der Frankfurter Schule entwickelte, dennoch zutreffend sein dürfte. Kubiena: Erziehung, S. 692. Müller: Leserbrief, S. 236 f. Vgl. auch J. S. H.: Was eine Mutter zur körperlichen Züchtigung sagt, in: Die Schulwarte 2 (1949), S. 483–485.
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5.2 Drei Länder – drei Wege II
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Deutschland, sondern auch für innerdeutsche intellektuelle Debatten der Nachkriegszeit.25 Sie verliehen der Frage körperlicher Strafen eine besondere Relevanz in öffentlichen Debatten und sie erweiterten die Gründe für deren Ablehnung, die sich in der Erziehungswissenschaft nun nahezu unwidersprochen (wenn auch zum Teil noch mit Einschränkungen hinsichtlich ihrer praktischen Umsetzbarkeit) durchgesetzt hatte. Inwieweit diese pädagogische und öffentliche Kritik auch in eine stärkere Einschränkung oder gar eine Abschaffung des Züchtigungsrechts umgesetzt wurde, hing jedoch von den schulpolitischen Entscheidungen der einzelnen Bundesländer ab. Diese sollen im Folgenden an drei besonders aufschlussreichen Beispielen untersucht werden.
5.2 Drei Länder – drei Wege II 5.2.1 Hessen: ein absolutes Verbot im Namen der Menschlichkeit
Der im letzten Kapitel beschriebene Ruf nach einer Abschaffung körperlicher Strafen im Zeichen einer neuen demokratischen Erziehung fand im hessischen Kultusministerium bereits 1946 ein Echo.26 In einem Runderlass vom 13.5.1946 bestimmte der neue Minister für Kultus und Unterricht Franz Schramm (CDU), ehemaliger Gymnasiallehrer: „In allen Schulen Großhessens sind nur Erziehungsmittel zulässig, die auf dem Grundsatz der Menschlichkeit aufbauen!“ Konkret hieß dies, so der letzte der acht Punkte des Erlasses: „Alle entehrenden Strafen, insbesondere jede Art körperlicher Züchtigung und Beschimpfung, sind ausdrücklich untersagt.“27 In dieser Formulierung klingt zumindest implizit eine Distanzierung von den entehrenden Gewaltpraktiken und der Missachtung der Menschlichkeit der unmittelbaren nationalsozialistischen Vergangenheit an. Man könnte versucht sein, diese auf den Einfluss der US-amerikanischen Besatzungsmacht zurückzuführen. Schließlich spielte nicht nur das Bildungswesen eine zentrale Rolle in den alliierten „Reeducation“-Bemühungen, sondern die USA konnten zudem auf eine eigene starke (auch in Deutschland rezipierte) Tradition des vollständigen Verzichts auf körperliche Strafen im Zuge demokratischer 25 26 27
Vgl. Levsen: Autorität, S. 42–51; S. 55–57. Die in Kapitel 5.2.1 und 5.2.3 geschilderten Befunde wurden zum Teil schon veröffentlicht in Hoff: Ende. Erlass des großhessischen Ministers für Kultus und Unterricht, 13.5.1946, in: Amtsblatt HMUK 2 (1949), S. 373. Als erlaubte Sanktionsmöglichkeiten nannte der Erlass Ermahnung, „stärkere Heranziehung zur Arbeit“, Einträge ins Klassenbuch und Mitteilung an die Eltern, Ausschluss von Sport, Spiel oder Ausflügen, bei „schwersten Verstößen“ auch Vorladung der Eltern, Versetzung an eine andere Schule und bei „vollkommen verwahrlosten Kindern“ Einschaltung des Jugendamts zur Beantragung der Fürsorgeerziehung.
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Pädagogik zurückblicken.28 Doch entgegen anderslautender späterer Vermutungen betonte Schramm stets, der Erlass sei von ihm und den Schulreferenten aller Schularten gemeinsam entwickelt worden, „ohne daß Außenstehende etwas davon hörten oder gar Einfluß darauf nehmen konnten“.29 Die erhaltenen Akten des Kultusministeriums zum Thema unterstützen diese Behauptung, enthalten sie doch kaum Hinweise auf amerikanischen Einfluss: Zwar hatte sich ein Ministeriumsmitarbeiter im März 1946 erkundigt, ob durch die US-Militärregierung bereits ein Verbot ergangen sei, darauf aber keine klare Antwort erhalten.30 Die Initiative zur Abschaffung ging eindeutig vom hessischen Kultusministerium selbst aus. Seine Motivation erklärte Schramm rückblickend damit, das Verbot sei als Grundlage zum Erreichen der in der hessischen Verfassung in Art. 56, Abs. 4, festgelegten Erziehungsziele gedacht gewesen. Laut diesen soll die Schule „zum selbständigen und verantwortlichen Dienst am Volk und der Menschheit durch Ehrfurcht und Nächstenliebe, Achtung und Duldsamkeit, Rechtlichkeit und Wahrhaftigkeit“ erziehen.31 Auch Schramms Nachfolger, der Jurist Erwin Stein (ebenfalls CDU), stellte in seinem Kommentar zur hessischen Verfassung in Bezug auf diesen Artikel ausdrücklich fest: „Dieses Erziehungsziel schließt eine körperliche Züchtigung in den Schulen aus.“32 Dabei erläuterten beide die zwischen diesen Erziehungszielen und dem Verzicht auf Gewalt gezogene Verbindung nicht näher, sie erschien ihnen offenbar als selbstverständlich.33 Diese Position Steins erklärt, warum er, der 1947 das Amt des Kultusministers übernahm, den von seinem Vorgänger eingeschlagenen Kurs weiter verfolgte. Unter ihm wurde das Verbot im Oktober 1949 erneuert34 – und erlangte erst dadurch 28
29 30 31 32 33
34
So hatten beispielsweise mehrere bedeutende Städte in den USA schon um 1900 körperliche Schulstrafen vollständig verboten oder zumindest stark eingeschränkt (vgl. Kandel/Montmorency: Punishment, S. 88). Dennoch wurden, wie Levsen (Autorität, S. 290–292) betont, Körperstrafen in den USA (wie auch in Großbritannien) keinesfalls generell abgelehnt und nicht als unvereinbar mit einer demokratischen Erziehung gesehen. Zum Verhältnis von Kultusministerium und amerikanischer Militärregierung in Hessen vgl. Tent: Mission, S. 167–200. Tent erwähnt zwar das Verbot körperlicher Strafen, deutet aber ebenfalls nicht an, dass es auf direkten amerikanischen Einfluss hin entstanden sei (vgl. S. 171). Zu den amerikanischen Reeducation-Bemühungen allgemein vgl. Gerund/Paul: Reeducation-Politik. Schramm: Verbot, S. 546. Zur Annahme eines amerikanischen Einflusses vgl. etwa Trost: Hinweg, S. 124. Vgl. Notiz vom 2.3.1946, HHStAW 504, 4210. Vgl. Schramm: Verbot, S. 546. Stein: Art. 56, S. 284. Dass diese Position aus zeitgenössischer Sicht eben nicht selbstverständlich sein musste, zeigt das BGH-Urteil von 1957, das einen Widerspruch zwischen den Erziehungszielen der hessischen Verfassung und körperlichen Strafen bestritt. Vgl. S. 313 dieser Arbeit. Stein verschärfte das Verbot sogar, indem er es ausdrücklich als „rechtlich bindende Anordnung“ bezeichnete, die das Züchtigungsrecht der Lehrer aufhebe und so körperliche Schulstrafen selbst bei Zustimmung der Eltern zu strafbaren Körperverletzungen mache
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größere öffentliche Aufmerksamkeit: Während der ursprüngliche Erlass noch nicht im Amtsblatt oder einem ähnlichen Organ veröffentlicht und somit in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen worden war, löste seine Erneuerung Aufsehen und Debatten weit über die Lehrerschaft hinaus aus. . . . das auf massive Proteste stieß . . .
Dieses Aufsehen war größtenteils ein negatives: „Es dürfte kein Zweifel darüber bestehen, daß mehr als 90 Prozent der gesamten Lehrerschaft das generelle Verbot der körperlichen Züchtigung ablehnt [sic]“, mutmaßte die Hessische Lehrerzeitung Anfang 1950.35 Der Kreisverband Bergstraße der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft belegte diese Annahme mit dem Ergebnis einer Abstimmung bei seiner Hauptversammlung im Juni 1950: Demnach bejahten von 196 Lehrern nur acht ein bedingungsloses Verbot körperlicher Strafen, 112 erklärten, sie seien „bedingungslos für die Beibehaltung des Rechtes der körperlichen Züchtigung“ und 76 sprachen sich für ein Verbot „erst nach wesentlicher Herabsetzung der Klassenstärke“ aus.36 Ob das Ergebnis in dieser Überdeutlichkeit auf die gesamte hessische Lehrerschaft übertragbar war, ist fraglich, aber dass eine Mehrheit das Verbot ablehnte, dürfte nicht nur für die Bergstraße gegolten haben. Die letzte zur Abstimmung gestellte Option zeigt die wichtige Rolle, welche die häufig noch unzureichenden Unterrichtsbedingungen, hohe Klassengrößen, Raummangel und mangelhafte Ausstattung der Schulen in der Debatte spielten. Auf diese Faktoren verwiesen nicht nur viele Lehrer, die ihre grundsätzliche Ablehnung körperlicher Strafen betonten, diese aber vorläufig für nicht ganz verzichtbar hielten. Auch im Kultusministerium galten sie als Hauptgrund für Verstöße gegen das Züchtigungsverbot.37 Bemerkenswert an der Abstimmung des GEW-Kreisverbands ist aber, dass die Zahl derjenigen Lehrer, die ein Züchtigungsverbot selbst bei kleineren Klassen noch ablehnten, deutlich größer war als die jener, die in körperlichen Strafen nur eine Notmaßnahme bei außergewöhnlich schlechten Unterrichtsbedingungen sahen. Angesichts dessen wirken die im vorigen Kapitel dargestellten züchtigungskritischen Artikel, etwa aus der Hessischen Lehrerzeitung oder der in Frankfurt erscheinenden Pädagogischen Provinz, weniger als repräsentativer Ausdruck der unter Lehrern vorherrschenden Ansichten denn als Versuch einer Minderheit von Verbotsbefürwortern, ihre Kollegen zu überzeugen. Auch aus seiner eigenen Partei wurde der Kultusminister für das Verbot kritisiert: Bereits 1948 hatte in einer CDU-Versammlung in Kassel eine Lehrerin
35 36 37
(diese Rechtsauffassung wurde allerdings von späteren Gerichten meist nicht geteilt). Vgl. Erlass vom 10.10.1949, in: Amtsblatt HMUK 2 (1949), S. 372 f. „Nachschrift“ zu Schmidt: Zustand, S. 68. GEW-Kreisverband Bergstraße an MEV, 25.6.1950, HHStAW 504, 4210, Bl. 24. „In manchen Schulen herrschen noch immer Zustände, die es gewissenhaften Lehrern fast unmöglich machen, ohne körperliche Strafe einen erziehenden Unterricht zu erteilen.“ Notiz vom 16.9.1949, HHStAW 504, 113, Bl. 74.
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die Wiedereinführung körperlicher Strafen gefordert, was Stein knapp und klar abgelehnt hatte.38 Anlässlich eines aufsehenerregenden Falls, in dem ein Lehrer im Mai 1950 zu über 5 Monaten Gefängnis wegen mehrfacher Züchtigungen verurteilt worden, aber aufgrund des Straffreiheitsgesetzes vom 31.12.1949 straffrei geblieben war, wandte sich der Vorsitzende des CDU-Kreisverbands Fulda an das Ministerium, um sich für eine Wiederanstellung des Lehrers einzusetzen. Gleichzeitig äußerte er seine grundsätzliche Ablehnung des Züchtigungsverbots und seine „Überzeugung, daß wenn in unserem Kreis darüber eine interne Abstimmung stattgefunden hätte, Sie nicht die Zustimmung Ihrer politischen Freunde gefunden hätten“.39 Dabei kritisierte er das Zustandekommen des Erlasses ohne vorherige Absprache mit Eltern oder Lehrern. Dass Stein in seiner Wiederholung des Verbots ausdrücklich angemerkt hatte, dass auch eine vorliegende Zustimmung der Eltern körperlichen Schulstrafen nicht die Illegalität nehme, wertete der Kreisvorsitzende als „Eingriff in das natürliche Elternrecht“ – und sprach mit der Mitsprache von Eltern bei der Schulerziehung ihrer Kinder einen nach dem Zweiten Weltkrieg an Gewicht gewinnenden Faktor an.40 Gleichzeitig war die Kritik am Verbot offensichtlich auch durch traditionelle Vorstellungen von der Notwendigkeit körperlicher Strafen in der Erziehung motiviert: So seien die Eltern, die „den Lehrer in seiner Erziehungsarbeit zu stützen gewillt“ seien, dazu nicht in der Lage, „weil das einzig zweckmäßige Züchtigungsmittel verboten ist“. Die Kinder, deren Eltern eine körperliche Bestrafung ihrer Kinder in der Schule grundsätzlich ablehnten, „obwohl die häuslichen Erziehungsmittel oft völlig unzulänglich sind“, müssten „dann aber notwendigerweise sittlich und charakterlich absinken, während zu gleicher Zeit der Staat mit gebundenen Händen daneben steht und einer fortschreitenden Verwahrlosung der Jugend zusieht“.41 Hinter diesen Aussagen steckt eine bereits aus dem 19. Jahrhundert bekannte Gleichsetzung strenger, erfolgreicher Erziehung mit der zumindest möglichen Anwendung körperlicher Gewalt. Sie basieren auf der Vorstellung, dass Körperstrafen nicht etwa nur ein Notbehelf zum Ermöglichen geordneten Unterrichts in überfüllten Klassen seien, sondern ein im Interesse der ‚sittlichen und charakterlichen‘ Entwicklung des Kinds notwendiges Erziehungsmittel. Allerdings ist es bezeichnend, dass diese Position im Schreiben des Kreisvorstands eher indirekt geäußert und durch die Zusicherung „Selbstverständlich ist es nicht ein erstrebenswertes Ziel, die Jugenderziehung mit dem Stock durchzuführen“ relativiert wurde.
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Vgl. Tent: Mission, S. 197. CDU-Kreisverband Fulda an Kultusminister Stein, 19.5.1950, HHStAW 1178, 149. Vgl. Schumann: Asserting, insb. S. 215; ders.: Authority, S. 69, sowie S. 279 dieser Arbeit. CDU-Kreisverband Fulda an Stein, 19.5.1950, HHStAW 1178, 149. Dort auch das folgende Zitat.
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Eine solche nicht mehr uneingeschränkt geäußerte, aber doch noch erkennbare grundsätzliche Bejahung körperlicher Strafen als zwar möglichst selten und maßvoll anzuwendendes, aber unabhängig von den äußeren Unterrichtsbedingungen notwendiges und sinnvolles Erziehungsmittel zeigt sich auch in Zuschriften von Elternbeiräten bzw. -versammlungen. So versicherte beispielsweise der Elternbeirat Storndorf zwar, „durchaus keiner Erziehung durch Prügel das Wort“ reden zu wollen, und forderte eine sehr seltene Anwendung körperlicher Strafen. Gleichzeitig deutete er aber mit dem Bibelzitat „Wer seine Rute schonet, der hasset seinen Sohn, wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn bald“ (Sprüche 13:24) und der Formulierung, das Verbot körperlicher Strafen sei „mehr als bedenklich für die Schule und das Wohl unserer Kinder“ an, dass Körperstrafen letztlich für das Kind selbst vorteilhaft seien.42 Auch die Elternschaft einer Volksschule im Bezirk Kassel war „davon überzeugt, dass die körperliche Züchtigung mit Maß und Grenzen angewandt nicht zu entbehren ist“.43 Der Elternbeirat einer Hanauer Schule erklärte dagegen, dass er den Grundsatz der Menschlichkeit als Maßstab für Erziehungsmittel teile und körperliche Strafen an sich ablehne – sprach sich aber dennoch gegen das Verbot aus, für das die Voraussetzungen noch fehlen würden.44 . . . aber auch auf Zustimmung
Die Proteste aus Lehrer- und Elternschaft bedeuten allerdings nicht, dass das Verbot in der Öffentlichkeit durchweg abgelehnt worden wäre. Unter der eher städtischen, linksliberalen Leserschaft der Frankfurter Rundschau beispielsweise dominierten seine Befürworter klar: Hier berichtete im Dezember 1949 ein Leser, dass Elternvertreter einer Schule im Kreis Wetzlar die Schulleitung gebeten hätten, Körperstrafen wieder einzuführen (und äußerte gleichzeitig seine entschiedene Ablehnung dieses Antrags). Daraufhin entwickelte sich eine über mehrere Wochen intensiv geführte Leserbriefdiskussion zur „Prügelstrafe“ – von der allerdings zumindest laut einem Leser „nicht die Rede sein kann, sondern nur von körperlichen Züchtigungen mittels eines spanischen Rohrstöckchens oder eines Haselstocks“.45 Das Beharren auf dieser begrifflichen Unterscheidung ist ein typisches Phänomen der Debatten nach 1945, das später noch ausführlicher zu analysieren sein wird.46 Egal, wie man sie nannte – für den Leserbriefschreiber jedenfalls war diese Strafart gemäß seiner langjährigen Erfahrung als Lehrer in 42 43 44 45 46
Elternbeirat Storndorf an MEV, 6.12.1949, HHStAW 504, 3384, Bl. 35. Resolution der Elternversammlung der Volksschule Volkmarsen am 19.7.1950, HHStAW 504, 3384, Bl. 51. Elternbeirat der Bezirksschule 4, Hanau, an MEV, 9.12.1949, HHStAW 504, 3384, Bl. 31. Emil Giro: „Prügelstrafe“ (Leserbrief), FR Nr. 287 vom 9.12.1949, S. 2. Dort auch das folgende Zitat. Vgl. Kapitel 7.6.
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Knabenoberklassen unentbehrlich. Dabei befürwortete er körperliche Strafen nicht nur in Ausnahmefällen, sondern nach erfolglos gebliebener Verwarnung auch bei „Ungehorsam, anhaltender Faulheit, Unterlassung von Hausaufgaben, schlechter Anfertigung derselben usw.“. Mit dieser Position befand sich der pensionierte Schulrektor allerdings klar in der Minderheit – lediglich ein weiterer Leserbriefschreiber verwies darauf, dass ihm die als Junge von Eltern und Lehrern erhaltenen Schläge „nichts geschadet“ hätten und kam zum diplomatischen Schluss: „Wenn [. . . ] Eltern und Lehrer vernünftig sind, dann geht es mit und ohne Stock.“47 Diesen zwei Züchtigungsbefürwortern (die beide im Rentenalter waren) standen insgesamt acht Leserbriefe von sieben verschiedenen Verfassern gegenüber, in denen körperliche Strafen vollständig abgelehnt wurden. Die meisten verwiesen auf eigene Erfahrungen als Eltern, die ihre Kinder erfolgreich ohne Schläge erzogen hatten, und auf traditionelle Argumente wie etwa Angst, Trotz und Verrohung als Folge körperlicher Strafen. Immerhin vier Leserbriefe nahmen daneben ausdrücklich auf Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg Bezug. Der Lehrer Theodor Zimmermann etwa verwies auf „die Erfahrungen aus den Kz-Lagern“ und fragte: Wie wäre es sonst möglich gewesen, daß so viele Deutsche, denen Gewalt über wehrlose Menschen gegeben wurde, sich so brutal und bestialisch benommen hatten? Doch nur deshalb, weil diese Art Menschen in ihrer Jugend – in der Schule, Lehre oder im Elternhaus – körperlich gezüchtigt wurden und dadurch seelische und moralische Erniedrigungen erlitten hatten. Zumindest werden in vielen Fällen derartige Erlebnisse als infantile Fixationen oder – oft unterbewußte – Zwangsvorstellungen aus der frühen Jugend Ursache zu solchen Entgleisungen gewesen sein.48
Die Formulierungen des letzten Satzes sind ein weiteres Beispiel für den Einfluss psychoanalytischer Argumente gegen Körperstrafen. Ein anderer Leser zielte weniger auf die tiefenpsychologische denn auf die Vorbildwirkung ab, kam damit aber zu ähnlichen Schlüssen: Man dürfe „Kindern gar nicht erst den Weg, durch Prügel und Gewalt etwas zu erreichen, zeigen [. . . ], sonst erzieht man Wachmannschaften für Kz und nicht freie Menschen mit Ehrgefühl.“49 Auch den „Kadavergehorsam“, dem „wir Deutsche so unendlich viel Leid verdanken“ (wofür das Festhalten an sinnlosen Kriegshandlungen und Erschießungen von Deserteuren in den letzten Kriegsmonaten als Beispiele genannt wurden), führte ein anderer Leser auf eine auf Strafandrohungen basierende Erziehung zurück.50 47 48 49 50
Franz Gärnter: Für und gegen die Prügelstrafe (Leserbrief), FR Nr. 296 vom 20.12.1949, S. 2. Theodor Zimmermann: Prügelstrafe (Leserbrief), FR Nr. 285 vom 7.12.1949, S. 2. Max Schlechta: Leserbrief, FR Nr. 291 vom 14.12.1949, S. 2. L. G. Hoffmann: Noch immer Prügelstrafe (Leserbrief), FR Nr. 293 v. 16.12.1949, S. 2. Eine andere Leserin verwies zwar nicht direkt auf die NS-Zeit, betonte aber ebenfalls: „Kadavergehorsam ist die unvermeidbare Folge der als Erziehungsmittel angewandten Prügelstrafe.“ (Irma Birkenstock: Leserbrief, ebd.).
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Auch die beiden in diesen Wochen außerhalb der Leserbriefspalten erschienenen Artikel zum Thema bezogen klar gegen körperliche Strafen Position: Zunächst betonte Gottfried Stein, der bereits in der Pädagogischen Provinz das hessische Züchtigungsverbot verteidigt hatte, dass Schläge weder mit einer demokratischen Erziehung noch mit den Erkenntnissen „der modernen Seelenforschung“ vereinbar seien.51 Wenige Tage später druckte die Zeitung (in der gleichen Nummer, in der sie die Leserbriefdiskussion für geschlossen erklärte) zudem einen Aufsatz von Heinrich Meng zum Thema ab. Dieser fasste die zentralen Gedanken aus dem bereits vorgestellten Zwang und Freiheit zusammen, stellte also die aus psychoanalytischer Sicht zu befürchtenden negativen Auswirkungen körperlicher Strafen auf die seelische und sexuelle Entwicklung des Kindes dar. Auch den Hinweis auf Fromms Untersuchungen zum „authoritarian character“ übernahm Meng dabei nahezu wörtlich aus seinem Buch und erklärte: „Die Untersuchung der Entwicklungsphasen dieser Menschen zeigt: die Art, wie sie gestraft, ermutigt, entmutigt, seelisch gelähmt oder übermäßig aggressiv gemacht wurden, wurde zu einem wesentlichen Faktor im Aufbau ihrer Charakterstruktur.“52 Dieser Aufsatz Mengs muss dem hessischen Kultusminister offenbar als überzeugende Zusammenfassung seiner Beweggründe für das Körperstrafenverbot erschienen sein: So bat er die Redaktion der Hessischen Lehrerzeitung, den Artikel gemeinsam mit seinem Erlass vom Oktober 1949 abzudrucken.53 Auch in seiner Antwort an einen Geistlichen, der in einem ausführlichen Schreiben an den Minister das Verbot kritisiert hatte, empfahl er Mengs Aufsatz zur Lektüre.54 Hier wird deutlich, dass die im hessischen Kultusministerium vorherrschende Position einer absoluten Unvereinbarkeit von körperlichen Strafen und einer demokratischen Erziehung ganz direkt von psychoanalytischen Theorien beeinflusst war. Dies hilft auch zu erklären, warum das Ministerium dem Thema so hohe Bedeutung beimaß. Beispielsweise bezeichnete Ministerialdirektor Willy Viehweg 1950 intern den Erlass als „eine der wichtigsten Maßnahmen auf dem Gebiete zur Schul- bzw. Erziehungsreform“, die dazu angetan sei, „den Untertanen in einen freien Menschen zu wandeln“.55 Dieses Zitat lässt sich in zwei Richtungen deuten: Zum einen könnte man den ‚Untertan‘ mit dem ‚autoritären Charakter‘ nach Fromm bzw. Meng gleichsetzen und das Zitat auf die Wirkung der Erziehung mit oder ohne körperliche Strafen auf 51 52 53
54 55
Gottfried Stein: Von der Prügelstrafe und noch etwas mehr, FR 294 v. 17.12.1949. Heinrich Meng: Zum Problem der Prügelstrafe, FR Nr. 296 vom 20.12.1949, S. 3. Vgl. Stein an Redaktion der Hessischen Lehrer-Zeitung, 2.1.1950, HHStAW 1178, 149. Die Lehrerzeitung wies ihre Leser auf den Artikel hin und kündigte den Abdruck an, „sobald uns die Erlaubnis zum Nachdruck erteilt wird“ (Hessische Lehrerzeitung 3 (1950), S. 26), er scheint jedoch nicht zustande gekommen zu sein. Stein an A. I., 3.1.1950, HHStAW 1178, 149. Bemerkungen zum Protokoll der 1. Sitzung des Ausschusses für Schulstrafen, 18.10.1950, HHStAW 1178, 149.
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die charakterliche Entwicklung beziehen. Anderseits kann die Behandlung der Schüler gemeint sein, deren Rechte als ‚freie Menschen‘ nun verstärkt respektiert werden sollten. Tatsächlich dürften beide Deutungen den Intentionen des Kultusministeriums – diese kollektivierende Formulierung ist hier übrigens insofern gerechtfertigt, als sich in dieser Zeit keine Anzeichen für Meinungsunterschiede innerhalb des Ministeriums in dieser Frage finden lassen – entsprochen haben. Denn ein weiteres zentrales Argument zur Verteidigung des Züchtigungsverbots war, dass nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus besonders darauf zu achten sei, dass „die Menschenwürde und die Menschenrechte in der Schule gewahrt werden“ – und ebendiese stelle der Erlass „unter ganz besonderen Schutz“.56 Neben der in dieser Intensität neuen Betonung von Demokratie und Menschenrechten knüpfte das Ministerium aber auch an Traditionen der Körperstrafenkritik aus den 1920er Jahren an: So verwies etwa Viehweg auf Helmut von Brackens Die Prügelstrafe in der Erziehung, das zwar „in einigen Teilen überholt, aber [. . . ] auch heute noch in seinem Grundsätzlichen“ gültig sei.57 Auch in der Antwort auf das Protestschreiben eines Elternbeirats wurde das hessische Verbot in die Tradition des preußischen Erlasses von 1920 gestellt.58 Die Diskussion im „Ausschuss für Schulstrafen“
Wie intensiv sich das Kultusministerium bemühte, um Anerkennung seiner Position zu werben, zeigt auch die Tatsache, dass ungefähr ein Jahr nach dem das Verbot erneuernden Erlass ein „Ausschuss für Schulstrafen“ ins Leben gerufen wurde, dem Vertreter der verschiedenen Schularten, der Kirchen, der Eltern, ein Arzt und Mitarbeiter des Ministeriums angehörten. Auch in diesem „Ausschuss für Schulstrafen“ dominierte die Kritik am Erlass. Mehrere Mitglieder erneuerten am Ende der Sitzung ihre Forderung, „daß der Erlaß in seiner heutigen Formulierung nicht bleiben kann“.59 Ministerialdirektor Viehweg folgerte in seinen Kommentaren zum Protokoll daraus, man müsse sich intensiver für eine Senkung der Klassengrößen einsetzen, die Beweggründe für den Erlass in der Öffentlichkeit stärker erläutern und Schulstrafen zu einem zentralen Thema der Lehrerfortbildung machen. Eine Abschwächung des Verbots kam für ihn aber offenbar nicht infrage. Letztlich blieb der Ausschuss ohne erkennbaren Einfluss auf die Politik des Ministeriums, aus den überlieferten Akten geht nicht hervor, 56 57 58 59
MEV an Elternbeirat Usingen, 13.12.1950, HHStAW 504, 3384, Bl. 72. Bemerkungen zum Protokoll der 1. Sitzung des Ausschusses für Schulstrafen, 18.10.1950, HHStAW 1178, 149. MEV an Elternbeirat Usingen, 13.12.1950, HHStAW 504, 3384, Bl. 72. Protokoll der 1. Sitzung des Ausschusses für Schulstrafen, 18.10.1950, HHStAW 1178, 149, S. 10.
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ob er bzw. eine der in der ersten Sitzung gebildeten Arbeitsgruppen überhaupt noch einmal zusammentrat. So gering seine praktische Bedeutung war, so aufschlussreich ist das Treffen des Ausschusses für die Bandbreite der Positionen, die von Lehrern, Rektoren und anderen mit der Schule Befassten um 1950 vertreten wurden. Wenig überraschend ist, dass die meisten Lehrervertreter auf die schlechten Unterrichtsbedingungen und insbesondere auf die großen Klassen mit über 50 oder gar an die 70 Schülern verwiesen. Selbst ein Lehrer, der körperliche Strafen absolut ablehnte und betonte, dass er selbst in seiner Klasse mit 67 Kindern nicht schlage, äußerte Verständnis für seine Kollegen, denen angesichts der „Belastung, die die Kräfte des Lehrers übersteigt“, des Öfteren „die Nerven durchgehen“.60 Zumindest ein Lehrer klagte allerdings nicht nur über praktisch-äußerliche Arbeitsbedingungen, sondern vor allem über ein grundsätzlicheres Gefühl mangelnder Anerkennung: Man hat diesen Erlass herausgebracht zu einer Zeit, als der Lehrer Prügelknabe der Öffentlichkeit war [. . . ] Jetzt hat der Mob diese Situation ausgenutzt. Als Presse und Rundfunk die Sache ausschlachteten, da hieß es: Jetzt wollen wir den Lehrern eins auswischen. Die Degradierung des Lehrers, der nichts mehr gilt und nichts mehr zu sagen hat, ist der Anlass, dass er zur Strafe greift.61
Andere Ausschussmitglieder diagnostizierten eine grundlegende Krise, ein „Zerbrechen der alten gesellschaftlichen Ordnungen“ und damit auch der „sittlichen Ordnungen“, wodurch „auch das normale Kind anfälliger gegenüber dem Bösen“ werde.62 Das letzte Zitat stammt von einem Pfarrer, der die Notwendigkeit von Gewalt zur Eindämmung des im Menschen liegenden „radikal Bösen“ betonte und daraus unter anderem folgerte: „Ein Staat, der die Todesstrafe grundsätzlich aufhebt, hebt sich selbst auf.“ Dementsprechend gebe es auch in der Schule Situationen, in denen körperliche Gewalt unverzichtbar sei. Er forderte, „daß wir unsere Grundsätze, unsere Ideen nicht vergöttern dürfen. Die Praxis kann dazu zwingen, die schönsten Grundsätze zu durchbrechen.“ Diese „Grundsätze“ dagegen waren für andere Teilnehmer der Diskussion eben nicht relativierbar: Ungefähr die Hälfte der Redner sprach sich mehr oder weniger ausdrücklich für das Verbot aus – auch wenn in ihren Äußerungen eher Frustration denn Enthusiasmus zu spüren war. Ein Lehrer berichtete, er erwäge, sich pensionieren zu lassen, da er für seinen absoluten Verzicht auf Körperstrafen bei den Eltern, die „noch 100 % für die Prügelstrafe“ seien, aber auch bei vielen Kollegen auf Unverständnis stoße.63 Auch andere Ausschussmitglieder beklagten die breite Akzeptanz von Körperstrafen unter der Elternschaft, einen verbreite60 61 62 63
Ebd., S. 2. Ebd., S. 3. Ebd., S. 5. Dort auch die folgenden Zitate. Ebd., S. 2. Dort auch die folgenden, von anderen Ausschussmitgliedern stammenden Zitate.
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ten „falschen Autoritätsbegriff “ mit Betonung äußerlicher Disziplin oder sahen Schulstrafen als „kleine[n] Ausdruck des deutschen Gesamtcharakters“ und als Teil der „Tradition des frederizianischen Feldwebels“. Das Protokoll der Ausschusssitzung zeigt, welch unterschiedliche standespolitischen Forderungen und Befindlichkeiten, Zeitdiagnosen und Menschenbilder, politisch-gesellschaftliche Kontroversen und Verunsicherungen 1950 mit der Frage körperlicher Strafen verbunden werden konnten. Dennoch lassen sich einige übergreifende Tendenzen der hessischen Debatte zusammenfassen: Die Befürworter eines Verbots argumentierten durchgehend sehr idealistisch und auf einer wertbezogenen Ebene. Die Gegner widersprachen diesen Argumenten nicht direkt, sondern betonten normalerweise, das Ideal einer Abschaffung als wünschenswertes Ziel zu teilen. Zwar lassen viele Aussagen durchaus noch die Vorstellung von Körperstrafen als grundsätzlich notwendigem Erziehungsmittel erkennen, diese wurde jedoch, ähnlich wie Ende der 1920er Jahre, nur eingeschränkt oder indirekt geäußert – der oben zitierte Pfarrer stellt hier eher eine Ausnahme dar. Die meisten Gegner eines Verbots wechselten stattdessen die Argumentationsebene, indem sie auf die praktischen Schwierigkeiten der konkreten Unterrichtssituation hinwiesen. Ganz ähnlich wie bereits im Sächsischen Lehrerverein 1907 war zumindest vordergründig die Streitfrage also, ob die Frage körperlicher Schulstrafen im Kontext von Idealen wie Menschenwürde und Demokratie zu bewerten war oder anhand der praktischen Schwierigkeiten des Schulalltags. Der absolute Anspruch des ersten Gesichtspunkts machte dabei den anderen zweitrangig: „Für wen aber die Prügelstrafe mit der Würde des jungen Menschen wie mit der menschlichen Würde des Lehrers unvereinbar ist, der wird sich von der menschlich-sittlichen Fragwürdigkeit der Prügelstrafe her entscheiden und nicht von den verbesserungsbedürftigen Umständen her.“64 Diese idealistische Position war in Teilen der öffentlichen Debatte, etwa in den pädagogischen Zeitschriften oder der Frankfurter Rundschau, dominant. Die empörten Reaktionen auf die Wiederholung des Verbots 1949 zeigen jedoch, dass sie eben nur von einem Teil, wahrscheinlich einer Minderheit der Eltern und Lehrer geteilt wurde. Es war also vor allem die feste persönliche Überzeugung zweier aufeinanderfolgender Kultusminister und ihrer entscheidenden Mitarbeiter, die zum hessischen Verbot körperlicher Strafen führte.
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5.2.2 Bayern: ein kurzlebiges Verbot Innere Schulreform trotz und gerade wegen schwerer Rahmenbedingungen
Auch in Bayern wurde mit einem Erlass vom 5.6.1946 „jede Form der körperlichen Züchtigung an den Volksschulen“ verboten.65 Die Abschaffung war wie in Hessen durch das Ziel einer inneren Schulreform im Geiste von Demokratie und Abkehr von der NS-Vergangenheit motiviert – gleichzeitig aber auch durch sehr viel praktischere Überlegungen: Im Mai 1946 berichtete der die Abteilung „Volksschulwesen“ leitende Ministerialrat, dass man „überallher“ von einer zunehmenden Anwendung körperlicher Strafen höre, an der „offenbar die Unbildung und gesamte Geistesverfassung der Lehrerschaft der Neuzeit schuld“ sei.66 Tatsächlich wurden in der Nachkriegszeit in Bayern angesichts des massiven Lehrermangels in der Volksschule viele nur unzureichend oder gar nicht pädagogisch ausgebildete „Aushilfs- und Ersatzlehrkräfte“ eingesetzt, die zudem mit äußerst schwierigen Unterrichtsbedingungen konfrontiert waren.67 Diese Bedingungen konnten allerdings für den Ministerialrat keine Rechtfertigung sein, „die Jugend entwürdigender als Verbrecher“ zu behandeln und „die Autorität des Lehrers gegenüber der Jugend in der Schule zur körperlichen Brutalisierung der Jugend zu mißbrauchen“.68 Zeitgleich argumentierte auch der vertretungsweise ins Ministerium berufene Hauptlehrer Alfons Simon für eine Abschaffung von Körperstrafen als einen Schritt zur „innere[n] Erneuerung der Volksschule“.69 Für ihn war dies, ähnlich wie für das hessische Kultusministerium, eine Frage der grundsätzlichen Ausrichtung der Schule: „Die Schule des sozialen Humanismus mit Prügelpraxis ist ein Widerspruch in sich.“ Gleichzeitig sah er ein Verbot nicht nur als symbolische Geste, sondern auch als „eine der ganz wenigen Möglichkeiten“, die Erziehungspraxis in der Volksschule zu beeinflussen. Sie sollte die reformwilligen Lehrer „zu einer Auflockerung, vielleicht sogar Erneuerung“ ihrer pädagogischen Arbeit motivieren, die anderen zur Suche nach alternativen Erziehungsmitteln zwingen. Ein sofortiges Verbot sei sinnvoll, um die herrschende Auf- und Umbruchsstimmung zu nutzen – und auch aus ganz pragmatischen Gründen, die mit der parteipolitischen Machtkonstellation zusammenhingen: Dank der von der
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Amtsblatt StMUK 1946, S. 39. Vogelhuber: „Körperliche Züchtigung“, 16.5.1946, BayHStA MK 61940. Vgl. Müller: Schulpolitik, S. 78 f., zu den Unterrichtsbedingungen (große Klassen, fehlende Schul- und Heizmaterialien usw.) S. 91–93. Vogelhuber: Notiz „Körperliche Züchtigung“, 16.5.1946, BayHStA MK 61940. Alfons Simon: Bericht „Innere Erneuerung der Volksschule – hier: Abschaffung der Prügelstrafe an den Volksschulen“, 15.5.1946, BayHStA MK 61940. Dort auch die folgenden Zitate.
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amerikanischen Besatzungsmacht eingesetzten Landesregierung unter Wilhelm Hoegner (SPD) war mit Franz Fendt seit Herbst 1945 ein Sozialdemokrat Kultusminister70 – und hatte somit Gelegenheit, die jahrzehntelang von seiner Partei geforderte Abschaffung des schulischen Züchtigungsrechts umzusetzen. Über die Lebensdauer dieser Konstellation hegte man im Ministerium offenbar wenig Illusionen. So warnte Simon vor dem zu erwartenden Machtwechsel nach den Landtagswahlen im September 1946: „Ein katholischer Minister wird an dem jahrhundertealten Zustand schon aus weltanschaulichen Gründen (Erbsünde und daraus folgende Straftheorie) nichts ändern.“71 Die Rücksichtnahme auf die schulpolitischen Vorstellungen der Besatzungsvertreter, die das Verbot nach Simons Erwartung als „Abkehr von autoritären Methoden und Hinneigung zu demokratischen Prinzipien nehmen“ würden, war ein zusätzliches Argument, aber offenbar genauso wenig wie in Hessen eine entscheidende Motivation für das Verbot.72 Der Kultusminister war mit der Idee eines Verbots einverstanden, nicht jedoch mit dem von Simon vorgeschlagenen Weg dorthin, der in einer vorherigen Abstimmung mit den Regierungsschulräten und einer ausführlichen öffentlichen Begründung und Erläuterung des Verbots mit flankierenden Lehrerfortbildungsveranstaltungen bestand. Fendt ordnete stattdessen an: „Kurz ministeriell, ohne Begründung, abschaffen. ‚Lapidar‘! Presse informieren, auch lapidar, soll selbst Stellung dazu nehmen.“73 Offenbar sollte, so die Deutung Winfried Müllers, die Abschaffung als „außerhalb jeder Diskussion stehende Selbstverständlichkeit“ erscheinen.74 Anscheinend ging Fendt davon aus, dass eine intensive öffentliche Debatte erst recht Ablehnung für das Verbot fördern würde. Tatsächlich erklärte er in einem trotz dieser Bedenken zustande gekommenen Interview in der Neuen Zeitung, „daß er sich darüber klar sei, welchen Widerspruch dieses Verbot der Prügelstrafe in den Kreisen sowohl der Elternschaft als auch der Lehrerschaft
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Vgl. zur Geschichte des bayerischen Kultusministeriums nach 1945 Müller: Schulpolitik (zum Kabinett Hoegner und zu Fendts Ernennung und Biographie insb. S. 27–29). Alfons Simon: Bericht v. 15.5.1946, BayHStA MK 61940. „Katholisch“ war hier im Sinne eines politischen Milieus gemeint, denn rein konfessionell war Fendt selbst Katholik. Auch ein von amerikanischer Seite ausgehender Einfluss auf die Verbotsüberlegungen ist in Bayern nicht zu erkennen. Dies kann erstaunlich wirken, schließlich konzentrierten sich die schulpolitischen Reeducation-Bemühungen in Bayern, nachdem das frühere Ziel einer strukturellen Veränderung des dreigliedrigen Schulsystems auf massiven Widerstand gestoßen war, stattdessen auf „innere“ Schulreform, die aber vor allem im Bereich der Lehrpläne, insbesondere der Etablierung des Fachs Sozialkunde, umgesetzt wurde (vgl. Ruisz: Social Education). Handschriftlicher Vermerk auf: Alfons Simon: Bericht „Innere Erneuerung der Volksschule – hier: Abschaffung der Prügelstrafe an den Volksschulen“, 15.5.1946, BayHStA MK 61940. Müller: Schulpolitik, S. 227.
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hervorrufen werde“.75 Dagegen führte Fendt die „allgemeinen Auffassungen von den Menschenrechten und der Menschenwürde“ an, aber auch die Sorge, dass angesichts der schlechten Unterrichtsbedingungen und der schlecht ausgebildeten Lehrkräfte „das System des Prügelns [. . . ] überhand nehmen“ könnte. Auch verwies er auf die positive Auswirkung, die der Verzicht auf Körperstrafen auf das Ansehen der Lehrerschaft haben werde, und auf die Tatsache, dass man in vielen anderen Ländern schon erfolgreich „ohne Prügeln auskomme.“ Der von Fendt erwartete Widerspruch gegen das Verbot blieb nicht aus – er kam allerdings auch von eher unerwarteter Seite, nämlich von der eigenen Parteibasis: So wandte sich ein Oberlehrer und SPD-Mitglied an den Bezirksvorsitzenden seiner Partei, um in erster Linie „als Sozialdemokrat, nicht als Lehrer“ Stellung zum Körperstrafenverbot zu nehmen.76 Er wies darauf hin, dass der Großteil des Klerus und „viele, vielleicht sehr viele“ Lehrkräfte den Erlass ablehnten, und äußerte die Befürchtung, dass das Verbot seine Partei bei der Volksschullehrerschaft dauerhaft unbeliebt machen könne. Auch er selbst teilte die „Auffassung, der an und für sich berechtigte Erlass möge so lange noch zurückgestellt werden, bis bessere Zeiten bessere Schulbedingungen bringen“ – und stand offenbar körperlichen Strafen weniger ablehnend gegenüber, als dies seine Partei traditionell tat: Er erklärte, die Körperstrafe sei zwar „kein Erziehungsmittel von Dauerwirkung, sie kann aber ein Abschreckungsmittel für Ruhestörer im Unterricht sein, ebenso für notorisch schlampige Aufgabenmacher und für Rohlinge“. Aufhebung des Verbots als Mittel gegen den „sittlichen Notstand“
Auch wenn der sozialdemokratische Lehrer mit seiner Diagnose, viele seiner Kollegen lehnten das Verbot ab, nicht Unrecht gehabt haben dürfte, hielten sich Reaktionen der Öffentlichkeit, sei es in der Presse oder in direkten Schreiben ans Kultusministerium, zunächst noch sehr in Grenzen. Möglicherweise zahlte sich hier Fendts Taktik des ‚lapidaren‘ Erlasses aus, vor allem aber ließen die zahlreichen existenziellen Probleme des Nachkriegs-(Schul-)Alltags vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit für dieses Thema übrig. Dies änderte sich erst allmählich, nachdem – wie von Alfons Simon vorausgesehen – 1947 nach den Wahlen tatsächlich ein neuer, (äußerst) „katholischer“ Kultusminister ins Amt gekommen war: Alois Hundhammer war tief religiös, „von Grund auf konservativ und traditionsverbunden“ und dank des offensiven Selbstbewusstseins, mit dem er seine Ansichten vertrat, von „polarisierender Wirkung“ auch innerhalb 75 76
Das Ende des „Tatzenstocks“, Neue Zeitung Nr. 45 v. 17.6.1946, S. 3. Dort auch die folgenden Zitate. F. S. an SPD-Bezirksvorsitzenden Kreis Miesbach, 23.6.1946, BayHStA MK 61940. Dort die folgenden Zitate.
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der eigenen Partei.77 Insofern ist es nicht erstaunlich, dass sich nun insbesondere kirchennahe Gegner des Züchtigungsverbots an den neuen Ministerpräsidenten wandten und ihn baten, den „unzeitgemässen Fendterlass im Interesse einer starken Erziehung wie zu Väters Zeiten“ rückgängig zu machen.78 So formulierte es ein oberbayerischer Pfarrer, der im Auftrag „von Lehrkräften und von geistlichen Amtsbrüdern“ für eine Aufhebung des Verbots plädierte. Dabei sprach er sich ganz offen grundsätzlich für Körperstrafen aus: „Denn alle mit jahrelanger Praxis in der Schule sind davon überzeugt, dass der Stock, vernünftig angewandt, in der Reihe der Erziehungsmittel nicht fehlen darf, wenn er auch nicht an erster Stelle stehen darf.“ Diese grundsätzliche Notwendigkeit bestehe „jetzt erst recht“, da infolge des Kriegs, des eingeschränkten Unterrichtsbetriebs der letzten Jahre und die Abwesenheit vieler Väter „Disziplinlosigkeit in und ausserhalb der Schule“ zugenommen habe. Diese „Disziplinlosigkeit“ wurde auch im Ministerium wahrgenommen und offensichtlich in Verbindung mit der Frage der Schulstrafen gebracht, denn in den Akten zur körperlichen Züchtigung findet sich auch ein Auszug aus dem Monatsbericht der unterfränkischen Regierung, in dem mehrere lokale Schulämter von Klagen über das Verhalten Jugendlicher berichteten. Sofern die Berichte über „Zuchtlosigkeit“ konkret wurden, betrafen sie größtenteils das Besuchen von Tanzveranstaltungen durch Jugendliche, in einem Fall wurde auch von einer Affäre eines noch berufsschulpflichtigen Mädchens mit einem amerikanischen Besatzungssoldaten berichtet. In Kitzingen klagten laut dem Schulamt vor allem Geistliche über „die Teilnahme von Jugendlichen (14 und 15jährigen Schulentlassenen) an Tanzvergnügungen und ihr Herumtreiben nach Einbruch der Dunkelheit“. Die Polizei habe ihr Nichteinschreiten „sonderbarerweise“ damit begründet, dass die „Nazigesetze doch aufgehoben“ seien.79 Hier zeigt sich, dass zuvor weitgehend anerkannte Verhaltensnormen nun nicht mehr selbstverständlich akzeptiert wurden, was den Eindruck eines bedrohlichen Kontrollverlusts über ‚die Jugend‘ bestärkte. Aus dem Landkreis Hofheim hieß es, „die Hilferufe, daß Lehrkräfte disziplinär nicht zurechtkommen, häufen sich direkt“. In einem Dorf bestünden große Konflikte zwischen der Schule und dem Gemeinderat, der einen bestimmten Lehrer ablehnte. Bei diesem Lehrer sei ein Junge wochenlang in Mädchenkleidern in die Schule gegangen, „um keine Prügel zu bekommen“. Diese Anekdote illustriert einerseits die chaotischen Schulverhältnisse (der Lehrer habe zwar Zweifel gehegt, diese aber mangels Schülerliste nicht verifizieren 77
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Müller: Schulpolitik, S. 33. Zu den Auseinandersetzungen um Hundhammers Kultur- und Schulpolitik, die „insgesamt den Ruf eines gegenreformatorischen Unternehmens“ hatte (S. 350) vgl. Braun: Existenz, S. 349–380. Kath. Pfarramt Bodenwöhr an Hundhammer, 13.2.1947, BayHStA MK 61940. Dort auch die folgenden Zitate. Auszug aus dem Monatsbericht der Regierung von Unterfranken in Würzburg v. 20.2.1947, BayHStA MK 61940. Dort auch die folgenden Zitate.
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können), andererseits die Tatsache, dass das Verbot nur begrenzte Wirkung zeigte. Auch der evangelische Pfarrer im gleichen Dorf habe im Religionsunterricht nur mithilfe körperlicher Strafen „halbwegs Ruhe“ erzielt. Glaubt man den von Albin Dannhäuser gesammelten Erinnerungen, waren solche Berichte keinesfalls auf das gesamte bayerische Schulwesen der Nachkriegsjahre übertragbar. Rückblickend berichteten mehrere Lehrer vielmehr, dass trotz der großen Klassen die Kinder diszipliniert und besonders lernbegierig gewesen seien.80 Massive Disziplinprobleme waren also nur eine, keinesfalls überall eingetretene Folge der Nachkriegsbedingungen. Doch reichte schon ihr vereinzeltes Vorhandensein aus, um einerseits echte Bedrohungsgefühle auszulösen, andererseits den grundsätzlichen Körperstrafenbefürwortern argumentative Munition zu liefern. So diagnostizierte das Kultusministerium einen „sittlichen Notstand [. . . ], der vielfach in eine glatte Verrohung ausgeartet ist“ und der durch „das Fehlen einer geregelten häuslichen Führung, die oftmals bewußte Loslösung von einem sittlichen Verantwortungsbewußtsein, de[n] allgemeine[n] Kampf ums tägliche Brot“ verursacht worden sei.81 Wegen dieser „Verrohung“ in Verbindung mit der Überfüllung der Schulen sei dem Ministerium „wiederholt und von den verschiedensten Seiten nahegelegt“ worden, eine Aufhebung des Verbots zu prüfen. Dass Hundhammer persönlich der Ansicht war, „daß gerade auch den jungen Lausbuben ein Dienst erwiesen ist, wenn man ihnen rechtzeitig eine herunterhaut“, hatte er bereits im März im Landtag geäußert.82 Dennoch ordnete er die Wiedereinführung der aus seiner Sicht als (Droh-)Mittel „zur Aufrechterhaltung der Disziplin“ nötigen Körperstrafe nicht direkt an, sondern wählte einen in diesem Zusammenhang neuartigen Weg: Im Mai 1947 fand eine Befragung statt, bei der die Eltern von Volksschulkindern wählen konnten, ob körperliche Strafen absolut verboten bleiben sollten oder ob sie „zur Aufrechterhaltung der Schuldisziplin bei schweren Verfehlungen, wie grober Unbotmäßigkeit oder Roheit, in maßvollem und vernünftigem Umfang zulässig“ sein sollten, ausgenommen bei Mädchen oder wegen schlechter Leistungen.83 Die Eltern über diese Frage entscheiden zu lassen, war eine dem Zeitgeist angemessene Lösung: Schließlich wurde der Wiederherstellung und Stärkung des Elternrechts nach dem totalitären, sich über elterliche Rechte erhebenden Erziehungsanspruch des NS-Staats besonders hohe Bedeutung beigemessen.84 Dies zeigt sich etwa in der bayerischen Verfassung, die nicht nur in Artikel 126 festlegte, dass „in persönlichen Erziehungsfragen [. . . ] der 80 81 82 83 84
Vgl. Dannhäuser: Schulgeschichte, S. 310. Aufruf, in: Amtsblatt StMUK 1947, S. 66 f. Bayerischer Landtag, 10. Sitzung vom 21.3.1947, Stenographischer Bericht 1946–1950, Bd. 1, S. 262. Dort auch das folgende Zitat. Vgl. Muster-Stimmzettel, BayHStA BLLV 917, Nr. 770. Vgl. Schumann: Authority, S. 74. Zur Entwicklung von Elternrecht und -mitsprache vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg vgl. ders.: Asserting.
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Wille der Eltern den Ausschlag“ zu geben habe, sondern die auch in Art. 135 erstmals ein Elternrecht auf Mitwirkung an der Gestaltung des Schulwesens festschrieb.85 Die Form der Abstimmung war allerdings bemerkenswert: Eltern bekamen für jedes die Volksschule besuchende Kind einen Stimmzettel, der mit Namen und Klasse des Kinds gekennzeichnet war und nach dem Ankreuzen der gewählten Option von den Eltern unterschrieben und an den Lehrer zurückgegeben werden musste.86 Dieses Vorgehen wies offensichtliche demokratische Defizite auf, vor allem die Überrepräsentation von Eltern mehrerer Schulkinder und die Tatsache, dass die namentlich gekennzeichneten Antworten von Lehrern einsehbar waren. Die Annahme, dass manche Eltern aus Furcht vor Nachteilen für ihre Kinder ihr Abstimmungsverhalten an die (angenommene) Ansicht der Lehrer anpassten, ist naheliegend. „Da hat Zwang und Furcht bei der Abstimmung mitgeherrscht“,87 so die drastische Formulierung eines Landtagsabgeordneten der FDP-Fraktion. Er behauptete sogar, dass Kinder die Antworten ihrer Eltern im Sinne einer Verbotsablehnung gefälscht hätten, aus Angst, sonst vom Lehrer bestraft zu werden.88 Wie häufig solche Fälle tatsächlich waren, muss offenbleiben, aber dass das Abstimmungsergebnis gerade auf dem Land durch die soziale Kontrolle durch die Lehrerschaft beeinflusst war, erscheint plausibel. Eine (scheinbar) eindeutige Elternbefragung und kontroverse Debatten
Die Elternbefragung brachte, wie im Kultusministerium wohl erwartet, eine deutliche Mehrheit für die Wiedereinführung des Züchtigungsrechts: Das offizielle Ergebnis verzeichnete 1.170.511 abgegebene Stimmzettel, was einer Beteiligung von 94,5 % entsprach.89 Knapp 6 % der abgegebenen Stimmen waren ungültig oder Enthaltungen. Von den übrigen sprachen sich 61,2 % für die Wiedereinführung der körperlichen Züchtigung, 38,8 % dagegen aus. Interessanter als dieses relativ eindeutige Ergebnis ist jedoch seine regionale Differenzierung: Während in Schwaben, Niederbayern und der Oberpfalz die Züchtigungsbefürworter eine 85
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Vgl. Buchinger: Wiederaufbau, S. 559. Konkret ermöglichte es dieser Artikel Eltern, in konfessionell gemischten Gemeinden die Einrichtung von Gemeinschaftsschulen zu beantragen. Vgl. Elternbefragung zur körperlichen Züchtigung, in: Amtsblatt StMUK 1947, S. 42 f. Abg. Korff, Bayerischer Landtag, 25. Sitzung am 17.7.1947, Stenographischer Bericht 1946– 1950, Bd. 1, S. 805. Auch laut einem Artikel der Neuen Zeitung (Die „verfassungswidrige“ Elternbefragung, Nr. 45 vom 6.6.1947, S. 2) hätten „alle Schulen und Sammelstellen“ von solchen Fällen berichtet. Auch hätten zum Teil Geistliche bei den Eltern für eine Entscheidung zugunsten des Züchtigungsrechts geworben. Diese und die folgenden Zahlen nach: Gesamtergebnis der Elternbefragung, in: Amtsblatt StMUK 1947, S. 66.
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Mehrheit von um die 70 % erreichten, waren sie in Ober- und Mittelfranken sogar knapp in der Minderheit: Hier votierten 50,5 % gegen eine Aufhebung des Verbots. Diese Verteilung korreliert auffällig mit der konfessionellen Struktur, denn Ober- und Mittelfranken waren 1946 die einzigen beiden Regierungsbezirke mit einer klaren evangelischen Mehrheit.90 Mindestens ebenso auffällig wie die konfessionelle Verteilung ist jedoch der Unterschied zwischen Stadt und Land: Nahezu überall, wo zwischen Stadt- und Landkreisen differenzierte Ergebnisse vorliegen, zeigt sich mehr oder weniger deutlich die Tendenz, dass städtische Eltern Körperstrafen kritischer gegenüber standen als auf dem Land wohnende. In den Landkreisen Landshut und Regensburg beispielsweise war die Zahl der Züchtigungsbefürworter jeweils mehr als doppelt so hoch wie die der Gegner, in den beiden Städten lagen dagegen die Gegner körperlicher Strafen fast gleichauf mit den Befürwortern (ca. 48 % zu 52 % der Stimmen).91 Die Ergebnisse verdeutlichen, dass die bayerische Elternschaft in der Frage körperlicher Strafen gespalten war, wobei die Trennlinien teilweise mit konfessionellen, regionalen und Stadt-Land-Gegensätzen zusammenfielen.92 Nur wenige standen dem Thema neutral gegenüber, wie die hohe Beteiligung und die relativ niedrige Zahl an Enthaltungen zeigt. Ähnliches gilt für die öffentliche Diskussion: Wie grundsätzlich gegensätzliche, auf unterschiedlichen Weltanschauungen beruhende Perspektiven hier aufeinandertrafen, verdeutlicht eine
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In Oberfranken waren 1946 54,6 % der Bevölkerung evangelisch, in Mittelfranken 61,8 %. Auch beim Blick auf die Ergebnisse der einzelnen Landkreise zeigt sich, dass alle drei Kreise mit einer katholischen Mehrheit von über 75 % (Bamberg-Stadt, Bamberg-Land und Eichstätt) für das Züchtigungsrecht entschieden hatten. Allerdings votierten auch fünf Kreise mit zu mehr als 75 % protestantischer Bevölkerung für die Wiedereinführung körperlicher Strafen, und umgekehrt dominierten in immerhin drei Landkreisen mit (weniger deutlicher) katholischer Mehrheit die Züchtigungsgegner. Es wäre also trotz einer unbestreitbaren Tendenz zu vereinfacht, Konfessionszugehörigkeit und Position zu körperlichen Strafen gleichzusetzen. Vgl. zu den Konfessionsanteilen: Bayerisches Landesamt für Statistik: Religionszugehörigkeit, S. 234 f. Vgl. Tabelle „Elternbefragung zur körperlichen Züchtigung“, BayHStA MK 61940. Auch in Ober- und Mittelfranken, wo die Gegner der Wiedereinführung knapp gesiegt hatten, fanden sich deutliche Mehrheiten gegen das Züchtigungsrecht vor allem bei den Stadtschulämtern (insbesondere Coburg, Hof und Nürnberg; Mehrheiten für die Wiedereinführung in Städten gab es ausschließlich in Ansbach und Bamberg), in mehr als der Hälfte der Landkreise waren dagegen die Züchtigungsbefürworter in der Mehrheit. Diesen Eindruck vermittelt auch eine Umfrage des amerikanischen Office of Military Government in Germany aus dem Herbst 1947, in der Einwohner der amerikanischen Besatzungszone nach ihrer Einstellung zu körperlichen Schulstrafen befragt wurden, wobei 65 % sich für deren Erlaubnis aussprachen (in West-Berlin nur 51 %). Auch hier wurde für Katholiken und „small town people“ eine vergleichsweise höhere Zustimmung zu Körperstrafen festgestellt, außerdem für CDU/CSU-Anhänger, Befragte mit geringer Schulbildung, Frauen und „those who were never affiliated with the NSDAP“ (Merritt/Merritt: Opinion, S. 169 f.).
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von Hundhammer sowohl im Landtag als auch im Staatsanzeiger vorgebrachte Begründung der Notwendigkeit körperlicher Schulstrafen: Es erscheine ihm „nicht ohne weiteres als selbstverständlich, daß man bei der Jugend auf schärfere Mittel zur Aufrechterhaltung der Disziplin ganz verzichte in einer Zeit, in der bei Erwachsenen die schwerste Form der körperlichen Züchtigung, nämlich die Todesstrafe, ganz allgemein als selbstverständliche Notwendigkeit anerkannt wird“.93 Gerade diese Akzeptanz der Todesstrafe war für Hundhammers Gegner aber alles andere als selbstverständlich94 – ganz abgesehen von ihrer Kritik an der fragwürdigen Parallele zwischen Erwachsenenstrafrecht und Jugenderziehung, durch die die Thematik auf eine „gefühlsmäßige“ Ebene gebracht und damit „in unbegründeter Weise bagatellisiert“ werde.95 Die mangelnde sachliche Erörterung, pädagogische Begründung und Kontextualisierung des Themas vor der Elternabstimmung kritisierte auch ein anderer Artikel in der Neuen Zeitung, für den die Befragung damit weniger den Charakter eines demokratischen Volksentscheids als den einer „sehr undemokratische[n] Suggestivfrage“ bekam.96 Hier wurde ein Charakteristikum der Debatten selbst zum Argument, nämlich die unterschiedlichen Argumentationsebenen: Züchtigungsbefürworter verwiesen vor allem auf ihre Erfahrungen als Lehrer oder Eltern und gingen von der weitgehend selbstverständlichen Annahme aus, dass der empfundenen „Verrohung“ der Nachkriegszeit nur durch strengere, nötigenfalls auch gewaltsame Erziehung begegnet werden könne. Züchtigungsgegner dagegen argumentierten mit theoretischen pädagogischen und psychologischen Erkenntnissen – und mit der meist ebenso selbstverständlichen Annahme, dass Körperstrafen mit demokratischer Erziehung nicht vereinbar seien.97 93
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Zur Frage der körperlichen Züchtigung, in: Bayerischer Staatsanzeiger Nr. 13 v. 29.3.1947, S. 3. Vgl. auch: Bayerischer Landtag, 10. Sitzung am 21.3.1947, Stenographischer Bericht 1946–1950, Bd. 1, S. 262. Zwar wurde die Ablehnung der Todesstrafe unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg nur von einer relativ schwachen Minderheit geäußert, sie konnte jedoch auf eine lange Tradition zurückblicken und sich bei der Formulierung des Grundgesetzes durchsetzen, wenn auch unerwartet und in den nächsten Jahren noch umstritten. Vgl. hierzu umfassend: Evans: Rituale, insb. S. 923–949. Schulzüchtigung und Todesstrafe, in: Neue Zeitung Nr. 40 v. 19.5.1947, S. 1. Der Bakel, in: Neue Zeitung Nr. 40 v. 19.5.1947, S. 3. Auch auf der Seite der Gegner der Wiedereinführung wurde das Thema in der Presse nicht frei von Emotionen behandelt, wenn etwa Hundhammers Befürwortung körperlicher Strafen zur Diffamierung des Kultusministers als rückständig, von übertriebener Frömmigkeit geprägt und brutal genutzt wurde (vgl. Tent: Mission, S. 134 f., als Beispiel die Interpellation der FDP-Fraktion im bayerischen Landtag, 25. Sitzung v. 17.7.1947, Stenographischer Bericht 1946–1950, Bd. 1, S. 801–811). Beispielsweise verband der FDP-Abgeordnete Korff beide Argumentationslinien, indem er auf die „in den letzten Jahren“ entdeckte Bedeutung des Unterbewussten und der lebenslangen Nachwirkung von Kindheitseindrücken verwies und betonte: „Es ist gar nicht so abwegig, daß man den Untertanengeist unseres Volkes darauf zurückführt, daß
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Die bayerische Lehrervertretung zwischen Ablehnung und Verteidigung
An der Schnittstelle zwischen Alltagserfahrung und Rezeption pädagogischpsychologischer Erkenntnisse lag der Bayerische Lehrerverein – und dessen Stellungnahme schien zunächst eindeutig: So hieß es in einer Sendung des „Frauenfunks“ am 20.5.1947, der Lehrerverein spreche sich „unter Berufung auf grosse Erzieher aller Zeiten [. . . ] gegen die Wiedereinführung der körperlichen Züchtigung in der Schule aus“. Diese sei entwürdigend für Lehrer und Schüler, diene nicht „der Erziehung zur inneren Freiheit“, zur „Selbstverantwortung, zur Selbstzucht“, sondern wirke nur äußerlich, und es bestehe die Gefahr schädlicher Nebenwirkungen.98 Der Vorsitzende des Lehrervereins, Franz Xaver Hartmann, war mit dieser Zusammenfassung seiner Position jedoch alles andere als einverstanden, sondern bewertete sie als „irreführend, verstümmelt, Hauptsache fehlend“.99 Was hier aus Hartmanns Sicht sinnentstellend herausgekürzt worden war, holte er einige Tage später bei einer ausführlichen Rede im Radio München nach. Dabei betonte er die aus seiner Sicht notwendigen Voraussetzungen für den gewünschten Verzicht auf körperliche Strafen: „Positive Erziehung kann nicht gedeihen in Lebensnot, Raumnot, Wohnungsnot, Nahrungsnot und Lehrernot“.100 Neben kleineren Klassen und besseren Bedingungen forderte er eine bessere, psychologische Kenntnisse vermittelnde Lehrerbildung – ein Beispiel dafür, dass, wie Dirk Schumann feststellt, auch nach 1945 Lehrer die Problematik körperlicher Strafen als Teil ihrer „strategy of professionalization“ nutzten.101 Vor allem aber ist Hartmanns Ansprache geprägt von dem Spagat, einerseits die Ablehnung körperlicher Strafen zu begründen, andererseits jedoch Verständnis für diejenigen Lehrer zu zeigen und zu wecken, die noch nicht auf Schläge in der Schule verzichten wollten. So wandte er sich etwa gegen das in der Diskussion immer wieder verwendete Wort „Prügelstrafe“, das unangemessen sei für die nur in begrenztem Maß erlaubte, dem „Zweck der Zucht und Besserung“ dienende schulische „körperliche Züchtigung“.102 Die Gegner eines Verbots seien „keineswegs mittelalterliche Finsterlinge oder gar Sadisten, sondern sie sehen durch das Überhandnehmen von Roheit, Frechheit, Unbotmässigkeit, Unmoral, Diebstahl,
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wir seit den Zeiten Friedrich Wilhelms I. [. . . ] das Prügelsystem in Bayern hatten [. . . ] Daß der Lehrer der Stockknecht des Staates war, ist nicht ohne Zusammenhang mit dem Untertanengeist unseres Volkes. Wir sollten uns deshalb davor hüten, diese preußischfriderizianische Methode bei uns wieder einzuführen.“ (Bayerischer Landtag, 25. Sitzung v. 17.7.1947, Stenographischer Bericht 1946–1950, Bd. 1, S. 806). „Frauenfunk, 20. V.“, BayHStA BLLV 917, Nr. 775. Handschriftliche Notiz auf: „Frauenfunk, 20. V.“, BayHStA BLLV 917, Nr. 775. Typoskript der Rundfunkrede, o. D., BlayHStA BLLV 917, Nr. 773. Schumann: Legislation, S. 204. Typoskript der Rundfunkrede, o. D., BayHStA BLLV 917, Nr. 773. Dort auch die folgenden Zitate.
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Arbeitsscheu, Schwarzhandel bei vielen Jugendlichen ihre ganze Erziehungsund Aufbauarbeit gefährdet“ und hätten deshalb „Bedenken, ein letztes Mittel aus der Hand zu geben, bevor sie nicht mit anderen Mitteln ausgestattet werden“. Dennoch bekannte er sich auch in dieser Rede mehrmals im Namen des Verbands zu einer grundsätzlichen Ablehnung körperlicher Strafen.103 Diese vorsichtig-diplomatische mittlere Position war offensichtlich ein Zugeständnis an die Basis des Lehrervereins: Wenn im Rundfunk berichtet wurde, dass 89 % der Lehrer gegen das Züchtigungsverbot seien, dann bezog sich diese Zahl zwar nur auf die ca. 30–40 von Lehrern stammenden Hörerzuschriften, die zum Thema eingegangen waren.104 Aber auch die beim BLV eingehenden Stellungnahmen von Mitgliedern zeigen eine ähnliche Tendenz: Bereits im Oktober 1946 hatte ein oberpfälzischer Kreislehrerverein erklärt, dass ein vollständiger Verzicht auf körperliche Strafen nur unter besonders günstigen Voraussetzungen bezüglich Klassengröße, Talent des Lehrers, Lehr-/Lernmitteln und „Säuberung der Klassen von schwachsinnigen, schwer erziehbaren Kindern“ möglich sei – und diese Voraussetzungen seien nicht gegeben.105 Bei einer Umfrage unter allen Volksschullehrern des Landkreises hatten zwar nur 46 bejaht, dass sich seit dem Verbot körperlicher Strafen die Schwierigkeiten in Erziehung und Unterricht vermehrt hätten (immerhin 35 verneinten dies, 9 waren unentschlossen), dennoch waren 58 der Meinung, dass körperliche Strafen in der Erziehung grundsätzlich nicht entbehrlich seien.106 21 stimmten einer Verzichtbarkeit „unter gewissen Voraussetzungen (z. B. bei Wegfall zeitbedingter Umstände, die einen normalen Schulbetrieb erschweren)“ zu, lediglich drei hielten sie für grundsätzlich entbehrlich. Zudem berichteten die Lehrer des Landkreises, dass sich die Eltern nahezu durchgängig gegen das Verbot ausgesprochen hätten. Auch nach Hartmanns Radioansprachen und dem Abschluss der Elternbefragung gingen beim BLV zwar Briefe ein, welche die ablehnende Haltung zum Züchtigungsrecht lobten und bestätigten – diejenigen Zuschriften, die ausdrücklich von Lehrern bzw. Verbandsmitgliedern stammen, sprachen sich aber durchgängig für körperliche Strafen aus.107 Ein das Züchtigungsrecht klar bejahendes BLV- und SPD-Mitglied 103
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„Wir lehnen die körperliche Züchtigung ab, nicht deswegen, weil wir nicht den Mut haben, auch schwierige und umstrittene Erziehungsprobleme in die Hand zu nehmen, sondern weil wir als aufbauende Erzieher soviel als möglich mit positiven Mitteln arbeiten wollen.“ (Ebd.) Vgl. Franz Hartmann an J. H., 2.6.1947, BayHStA BLLV 917, Nr. 791. Kreislehrerverein Miesbach an BLV, 14.10.1946, BayHStA BLLV 917, Nr. 577. Vgl. ebd. Aus dem Schreiben des Kreislehrervereins geht nicht hervor, wie viele Lehrer insgesamt befragt wurden und wie sich die unterschiedlichen Summen der Stimmen erklären lassen. Vgl. für Körperstrafen ablehnende Eltern: J. H. an BLV, 24.5.1947, Nr. 791; L. M. an BLV, 24.5.1947, Nr. 967; sie befürwortende Lehrer: 930: E. S. an BLV, 11.7.1947; „Die Prügelstrafe“, o. D., Nr. 816; „Grundsätzliche Gedanken zu einer Bekanntmachung über die körperliche Züchtigung“ (eingg. 12.12.1949), alle BayHStA BLLV 917.
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warf dem Verbandsvorsitzenden gar diktatorisches Verhalten vor, da dieser sich eigenmächtig im Namen der Lehrerschaft gegen Körperstrafen ausgesprochen habe, obwohl die Mehrheit der Verbandsmitglieder anderer Ansicht sei.108 Im Bayerischen Lehrerverein zeigt sich also 1946/47 das bereits aus der Weimarer Republik bekannte Muster, dass die Führungsebene nach außen eine grundsätzliche pädagogische Ablehnung vertrat, die aber relativiert werden konnte durch den Verweis auf unzureichende Unterrichtsbedingungen – der gleichzeitig dem Werben für traditionelle standespolitische Forderungen diente. Dagegen war an der Basis eine grundsätzliche Bejahung körperlicher Strafen noch weit verbreitet. Die Wiedereinführung des Züchtigungsrechts – Notmaßnahme oder langfristige Weichenstellung?
Die Elternbefragung hatte zwar eine Mehrheit für das Züchtigungsrecht ergeben, in den durch sie ausgelösten Diskussionen hatte sich aber auch eine starke, auf pädagogischen, psychologischen und wertbezogenen Argumenten basierende Ablehnung gezeigt. Auch innerhalb der Landesregierung waren die Meinungen geteilt: So erklärte der Justizminister und stellvertretende Ministerpräsident Wilhelm Hoegner (SPD), dass er persönlich „eindeutig gegen die Prügelstrafe“ sei, die für ihn „mit der Auffassung der Verfassung über die Würde des Menschen nicht in Einklang zu bringen sei“.109 Er bat deshalb seinen Ministerkollegen Hundhammer, „die Angelegenheit etwas locker zu behandeln, indem man z. B. in Franken einen gewissen Spielraum lasse“. Für den Kultusminister aber war die „doch [. . . ] ziemlich klare“ Mehrheit der Elternbefragung Legitimation genug für eine vollständige Rücknahme des Verbots: Mit einem Erlass vom 30.6.1947 wurde die körperliche Züchtigung „zur Aufrechterhaltung der Schuldisziplin bei schweren Verfehlungen, insbesondere bei grober Unbotmäßigkeit oder Roheit“, nicht jedoch bei schlechten Leistungen erlaubt.110 Bei Mädchen blieb sie verboten. Lehrkräfte ohne pädagogische Vorbildung wurden verpflichtet, ein Strafverzeichnis zu führen, in das alle körperlichen Strafen mit einer kurzen Begründung ihrer Notwendigkeit eingetragen werden mussten. Damit war der vor 1946 gültige Rechtsstand weitgehend wiederhergestellt – mit einem Unterschied: Anders als in der Landesschulordnung von 1942 war „andauernde Faulheit“ nun kein erlaubter Anlass für körperliche Strafen mehr. Zusammen mit dem ausdrücklichen Verbot von Schlägen wegen schlechter Leistungen waren somit 108 109 110
J. S. an BLV, 4.6.1947, BayHStA BLLV 916. Ministerratssitzung vom 13.6.1947, Protokolle Ehard I, S. 515. Dort auch die beiden folgenden Zitate. Handhabung des Züchtigungsrechts an den Volksschulen, in: Amtsblatt StMUK 1947, S. 66 f.
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nun die pädagogisch seit Langem verpönten „Lernschläge“ schulrechtlich klarer ausgeschlossen. Wie bereits 1910 wurden die Vorschriften zu körperlichen Strafen von einer Reihe „pädagogischer Merksätze“ begleitet. Die meisten dieser Hinweise entsprachen inhaltlich und zum Teil auch wörtlich ihren knapp vierzig Jahre älteren Vorgängern, beispielsweise, wenn Lehrer aufgefordert wurden, vor Anwendung körperlicher Strafen mögliche häusliche oder physiologische Gründe für das Verhalten des Schülers zu prüfen oder zum Vorbeugen von unüberlegten Überschreitungen des Züchtigungsrechts „immer in angemessener Entfernung vom Schüler zu bleiben“.111 Neu waren die Hinweise auf die Notwendigkeit eines Vertrauensverhältnisses zwischen Lehrer und Schülern, auf die wünschenswerte „Hinleitung der Schüler zur selbstgeführten Klassenordnung“ und auf die Bedeutung der Zusammenarbeit mit dem Elternhaus. Einerseits legten die neuen „Merksätze“ also einen größeren Fokus auf die Vermeidung von Schulstrafen durch alternative Erziehungsmittel. Andererseits bestärkten sie aber gerade die Vorstellung von der Unverzichtbarkeit körperlicher Strafen als Drohmittel gegen Ungehorsam und Rohheit, wenn sie die schon von 1910 bekannte Aufforderung, Züchtigungen „auf ein Mindestmaß“ zu beschränken, um einen neuen Hinweis ergänzten: „Der Verzicht auf die Strafe soll jedoch in keinem Fall einen Freibrief für grobe Widersetzlichkeit und Roheitsvergehen unbotmäßiger Schüler bedeuten.“ Auch die Formulierung, die „möglichst weitgehende Verdrängung der körperlichen Züchtigung aus der Schule“ müsse „das erstrebenswerte Ziel“ sein, ist eher noch vorsichtiger als der erklärte Zweck der älteren Merksätze „die körperliche Züchtigung aus der Schule allmählich zu verdrängen“.112 Die Wiedereinführung der körperlichen Züchtigung war mit dem „sittlichen Notstand“ der unmittelbaren Nachkriegsjahre begründet worden. Handelte es sich also tatsächlich nur eine situationsbezogene und somit zeitlich begrenzte Notmaßnahme? Das sollte sich 1951 zeigen, als die FDP-Fraktion im Landtag ein gesetzliches Verbot körperlicher Strafen beantragte, hauptsächlich mit der Begründung, dass sich inzwischen „die Verhältnisse in den Schulen [. . . ] einigermaßen normalisiert“ hätten, nur noch voll ausgebildete Lehrer angestellt seien und somit die 1947 genannten Gründe für die Wiedereinführung hinfällig geworden seien.113 Bei der Diskussion im kulturpolitischen Ausschuss verwies die Abgeordnete Hildegard Brücher als Mitinitiatorin des Antrags darauf, dass sich 1947 der
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Pädagogische Merksätze für die Anwendung der körperlichen Züchtigung, in: Amtsblatt StMUK 1947, S. 67. Dort auch das folgende Zitat. Ministerialblatt für Kirchen- und Schul-Angelegenheiten im Königreich Bayern 46 (1910), S. 125. Antrag Dr. Brücher, Bezold und Fraktion v. 27.4.1951, Bayerischer Landtag, Drucksache 2/611.
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„Bayerische Lehrerverein [. . . ] ganz entschieden gegen die Wiedereinführung der Prügelstrafe ausgesprochen“ habe. Die Stellungnahme des BLV-Vorsitzenden Hartmann von 1947 wird man zumindest in ihrer ausführlicheren Version kaum als „ganz entschieden“ beschreiben können – doch trotz ihrer vorsichtigrelativierenden Form war die Gesamtbotschaft tatsächlich eine Ablehnung körperlicher Strafen gewesen. Nun sah sich Hartmann allerdings gezwungen, sich – oder zumindest seinen Verband – von seinen damaligen Äußerungen zu distanzieren: Er wandte sich an den Ausschussvorsitzenden, um klarzustellen, dass die von Brücher zitierten Argumente lediglich seine persönliche Auffassung seien und nicht die offizielle Position des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (wie der Verband seit 1951 hieß).114 Stattdessen gab der BLLV im August 1951 eine neue Stellungnahme heraus, in der er zwar betonte, immer noch „grundsätzlich gegen die Anwendung der körperlichen Züchtigung im öffentlichen Erziehungsbereich“ zu sein, sich aber ausdrücklich gegen eine Änderung des bestehenden Züchtigungsrechts aussprach: Ohne eine Verbesserung der familiären Verhältnisse, der Unterrichtsbedingungen („Raumnot, Einrichtung, Schülerzahl, Auslese, Differenzierung“) und der Lehrerbildung könne auf „diese, von uns selbst abgelehnte Ultima Ratio im Interesse der besseren und größeren Hälfte der Lehrer und Schüler nicht verzichtet werden.“115 Hier bestätigt sich, was schon die Zuschriften nach Hartmanns Äußerungen 1947 angedeutet hatten: Eine Abschaffung körperlicher Schulstrafen war für die breite Basis der Lehrerschaft nicht akzeptabel, 1951 offenbar noch weniger als 1947. So stieß Brüchers Verbotsinitiative auch innerhalb ihrer Partei auf heftige Ablehnung: Der FDP-Bezirksvorstand Unterfranken etwa betonte, dass er den Antrag „eindeutig ablehnt und für die Beibehaltung des Züchtigungsrechts eintritt und sich an die Seite der Lehrerschaft stellt, die die Kulturpolitik auf dem Lande treibt und das Wählerreservoir für uns freie Demokraten ist und bleiben muß“.116 Er verwies zudem auf das Beispiel eines lokalen Lehrervereins, der sich in geheimer Abstimmung mit 26 zu 0 Stimmen für die Beibehaltung des Züchtigungsrechts ausgesprochen habe. Die Ablehnung durch die Mehrheit der Lehrer war auch in der Landtagsdebatte über den Verbotsantrag ein von mehreren Rednern vorgebrachtes Argument.117 Dabei stimmten zwar einerseits alle Gegner der auch vom Kultusminister Josef Schwalber (CSU) vertretenen Position zu, dass die Abschaffung körperlicher Schulstrafen erstrebenswert, aber noch nicht möglich sei. Den hier 114 115 116 117
Hartmann an Vorsitzenden des kulturpol. Ausschusses im Bayerischen Landtag, 3.9.1951, BayHStA BLLV 917. BLLV an Mitglieder des Landtags: „Recht der körperlichen Züchtigung – nicht ‚Prügelstrafe‘“, o. D., BayHStA BLLV 916. FDP Kreisverband Unterfranken an mehrere Empfänger, 17.9.1951, BayHStA BLLV 917. Vgl. Abg. Meixner, Bayerischer Landtag, 55. Sitzung am 11.12.1951, Stenographischer Bericht 1951/52, S. 863.
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geweckten Anschein, Meinungsverschiedenheiten bestünden nur bezüglich der Umsetzbarkeit eines gemeinsamen Ideals, widerlegen aber mehrere Reden und Zwischenrufe, in denen eine grundsätzliche Bejahung körperlicher Strafen deutlich wird.118 Angesichts der klaren Ablehnung einer Abschaffung durch den Lehrerverband und des Ergebnisses der Elternbefragung vier Jahre zuvor ist nicht überraschend, dass der Verbotsantrag scheiterte. Allerdings tat er dies äußerst knapp: Der Kulturausschuss lehnte ihn mit 14 zu 13 Stimmen (bei einer Enthaltung) ab. Auch im Landtagsplenum fiel das Ergebnis mit 95 zu 90 Stimmen nicht gerade eindeutig aus.119 Dennoch zementierte das Scheitern der Anträge die durch den Hundhammer’schen Erlass 1947 geschaffene Rechtslage, die auch von der 1959 eingeführten Volksschulordnung im Wesentlichen bestätigt wurde.120 Die Landtagsdebatte und die Verschiebung in der Position des Lehrerverbands deuten an, dass sich in den 1950er Jahren die Befürwortung körperlicher Strafen im Vergleich zur unmittelbaren Nachkriegszeit wieder stärker etablierte. Doch bevor dieser Entwicklung weiter nachgegangen wird, soll zunächst ein Blick darauf geworfen werden, welche Weichenstellungen nach 1945 in anderen Bundesländern in der Frage körperlicher Schulstrafen getroffen wurden. 5.2.3 Rheinland-Pfalz: ein in Vergessenheit geratendes Verbot
In den bayerischen Debatten um die Abschaffung und Wiedereinführung des Züchtigungsrechts spielte auch der Vergleich mit anderen Teilen (West-)Deutschlands eine wichtige Rolle: Während Hundhammers Kritiker ihm vorwarfen, „die Prügelstrafe als Kennzeichen Bayerns in Deutschland, in der Welt“ etabliert und somit „Bayerns Regierungspolitik in den Ruf der Rückständigkeit und Eigenbrötelei gebracht“ zu haben121 , betonten die Befürworter des Züchtigungsrechts immer wieder, dass die eingeschränkte Wiedererlaubnis von 1947 nicht über das
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So etwa, wenn Abg. Meixner anführte, „viele vernünftige Väter und Mütter“ stünden auf dem Standpunkt: „Es ist nur schade für jeden Streich, der nebenhin gegangen ist. (Sehr gut! und Ausgezeichnet! bei der CSU)“ (Ebd., S. 864), Abg. Dr. Schubert von der „Tatsache der Erziehungserfahrung, daß Schläge in den ersten Jahren später zehnfach eingespart werden können“ sprach (S. 878) und als „positiven Kern“ der Züchtigung beschrieb, „daß sie nicht nur einen Zwang darstellt, sondern daß sie eine Hilfe ist für die notwendige Anpassung des Individuums an die Gemeinschaft“ (S. 878). Vgl. ebd., S. 883. Vgl. Schulordnung für die bayerischen Volksschulen, in: Amtsblatt StMUK 1959, S. 207– 275, hier S. 228 f. (Satz 526–529). Abg. Korff, Bayerischer Landtag, 25. Sitzung vom 17.7.1947, Stenographischer Bericht 1946–1950, Bd. 1, Zitate S. 806 und 802.
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in anderen Ländern Übliche hinausgehe.122 Tatsächlich existierte ein absolutes Verbot nur in Hessen und Berlin.123 Viele Bundesländer übernahmen die Einschränkungen des preußischen Ministerialerlasses von 1928, also die (nun meist nicht nur als rechtlich unverbindliche Missbilligung, sondern als ausdrückliches Verbot formulierte) Untersagung von Schlägen in den ersten beiden Schuljahren, bei Mädchen jedes Alters und bei schlechten Leistungen. Entsprechende Bestimmungen wurden etwa in Nordrhein-Westfalen 1947, Niedersachsen 1946, Schleswig-Holstein 1947124 und Baden-Württemberg 1953125 getroffen. Auch in Hamburg ging man vom Weitergelten der preußischen Bestimmungen aus und wiederholte diese in einer Dienstanweisung von 1951. In Bremen waren Körperstrafen für keine Schülergruppe vollständig ausgeschlossen, sie durften aber nur „in Sonderfällen“ angewendet werden, was durch ein beim Schulleiter zu führendes Strafbuch kontrolliert werden sollte.126 Tatsächlich konnten also die Verteidiger des Hundhammer’schen Erlasses nicht zu Unrecht darauf verweisen, dass die darin getroffenen Bestimmungen das Züchtigungsrecht stärker einschränkten, als dies in einigen anderen Bundesländern der Fall war. Auch die pädagogischen Erörterungen und die grundsätzliche Ablehnung körperlicher Strafen, die in den Erlassen aller Bundesländer ausgedrückt wurde,127 unterschieden sich nicht grundsätzlich vom bayerischen Erlass von 1947. Andererseits aber wiesen Hundhammers Kritiker ebenso zu Recht darauf hin, dass unabhängig von den Details der neuen Vorschriften die symbolische Bedeutung der Elternbefragung und der Verbotsaufhebung eine ganz andere war als die einer Verordnung, die ältere Einschränkungen wiederholte oder sogar verschärfte – zugespitzt formuliert: dass in Bayern „aus einem tief bedauerlichen Notstand, der anderswo
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Vgl. etwa Abg. Gaßner, Bayerischer Landtag, 55. Sitzung vom 11.12.1951, Stenographischer Bericht, 2. Wahlperiode 1950–54, S. 880. Vgl. Rohrbach: Züchtigung, S. 41. Zwar waren auch im Saarland körperliche Strafen „grundsätzlich nicht anzuwenden“ (Knorr: Züchtigung, S. 135), jedoch ließ diese Formulierung ein Abweichen von der Regel in Ausnahmefällen eben doch zu. Dort wurde in der Dienstordnung vom 17.2.1950 außerdem die körperliche Bestrafung von Jungen nach dem achten Schuljahr verboten, vgl. Rohrbach: Züchtigung, S. 43. Vgl. Erlass vom 16.1.1953, in: Kultus und Unterricht. Amtsblatt des Kultusministeriums Baden-Württemberg 2 (1953), S. 62. Zuvor waren in Württemberg-Baden seit 1950 körperliche Strafen ausschließlich in Form von Stockschlägen auf die Hand erlaubt und auf Jungen vom dritten bis achten Schuljahr beschränkt; Südbaden und Württemberg-Hohenzollern hatten nach 1945 jeweils keine neuen Vorschriften erlassen (vgl. Knorr, S. 126). Vgl. Knorr: Züchtigung, S. 157 f. Vgl. beispielsweise den baden-württembergischen Erlass, der besagte, dieses Strafmittel sei „mit den heute maßgeblichen Grundsätzen der Pädagogik nicht zu vereinbaren. Unter normalen Verhältnissen müssen daher Körperstrafen ganz entbehrlich werden“ (Kultus und Unterricht. Amtsblatt des Kultusministeriums Baden-Württemberg 2 (1953), S. 62).
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mit Schweigen übergangen wird, geradezu ein Programm“ gemacht worden sei.128 Somit können die beiden bisher untersuchten Länder, Hessen mit seinem absoluten Verbot und Bayern mit der symbolträchtigen Wiedereinführung, sozusagen als die zwei entgegengesetzten Enden des Spektrums im Umgang mit der Frage körperlicher Strafen angesehen werden – so wie sie auch in Bezug auf die gesamte Kultuspolitik jeweils als Beispiele einer betont reformfreudigen bzw. einer konservativen Ausrichtung gelten können.129 Zur Ergänzung dieser Beispiele soll nun ein Land aus der Mitte dieses Spektrums in den Blick genommen werden, dessen Umgang mit der Problematik körperlicher Strafen eine dritte Variante darstellt und bisher noch kaum von der Forschung zum Thema untersucht wurde: Rheinland-Pfalz. Dieses aus dem nördlichen Teil der französischen Besatzungszone nach dem Zweiten Weltkrieg neu hervorgegangene Land ist nicht zuletzt deshalb interessant, weil es das linksrheinische Rheinhessen, ehemals preußische Gebiete sowie die zuvor bayerische Pfalz in sich vereinigte. Es trafen also unterschiedliche Verwaltungstraditionen aufeinander – und damit unterschiedliche schulbehördliche Regelungen im Bereich der körperlichen Strafen. Die Annahme wäre naheliegend, dass diese Situation es für das Kultusministerium des neuen Landes umso nötiger machte, neue einheitliche Vorschriften zu erlassen. Außerdem wäre ein Einfluss der französischen Besatzungsmacht auf dieses nicht ganz unwichtige Detail der Schulpolitik zu erwarten, denn auch in französischen Schulen waren Körperstrafen zumindest theoretisch seit Langem abgeschafft.130 Tatsächlich verbot die französische Militärregierung im März 1947 „körperliche Züchtigungen irgendwelcher Art“ und forderte die Schulaufsicht auf, bei Verstößen „strenge Strafmaßnahmen“ zu ergreifen.131 Wie das hessische und das bayerische Verbot stieß auch dieses auf Protest insbesondere von Lehrerseite: So sprach sich der Vorsitzende der CDU Pfalz 1947 mit dem Hinweis, dass „bei dem Großteil der Lehrer eine gegenteilige Ansicht [. . . ] herrscht“ beim Kultusministerium gegen das französische Züchtigungsverbot aus.132 Zur Begründung und Bekräftigung führte er das Bibelzitat an: „Entziehe dem Kinde die Züchtigung nicht. . . “ – und 128 129 130 131
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Das Streiflicht, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 52 vom 14.6.1947, S. 1. Vgl. Schumann: Legislation, S. 195. Vgl. Levsen: Autorität, S. 326; zur zumindest zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch recht häufigen Missachtung dieser Verbote im schulischen Alltag vgl. Krop: Punitions. Verfügung der Provinzialregierung der Pfalz v. 18.3.1949 [richtig: 1947], in: Amtsblatt für die vereinigte protestantische Kirche der Pfalz 29 (1949), S. 45–46. Die Verfügung wurde aufgrund eines Abschreibfehlers auf das Jahr 1949 datiert und im kirchlichen Amtsblatt abgedruckt, stammt aber aus dem Jahr 1947 (vgl. Provinzialregierung Pfalz an MUK, 27.7.1949, LHAKo 910, 1217). Erster Vorsitzender d. CDU Pfalz an MUK, 12.4.1947, LHAKo 910, 1217. Dort auch der im Folgenden zitierte handschriftliche Antwortentwurf.
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lieferte damit, auch wenn er die Fortsetzung133 nur andeutete und nicht ausschrieb, einen weiteren Beleg für das Fortleben einer grundsätzlichen Bejahung körperlicher Strafen als Erziehungsmittel auch nach 1945. Inwieweit diese im Ministerium auf Sympathie stieß, lässt sich nicht nachvollziehen: Es antwortete lapidar, dass angesichts eines Verbots durch die Militärregierung persönliche Ansichten über die Zweckhaftigkeit körperlicher Strafen irrelevant seien, und verwies im Übrigen auf die Möglichkeit einer Behandlung des Themas im Parlament. Dass es hierzu oder überhaupt zu einer öffentlichen Debatte über das Verbot nicht kam, dürfte mit dem geringen Bekanntheitsgrad dieser Anordnung der Militärregierung zusammenhängen: Sie ist nur für die Pfalz eindeutig belegt134 und wurde offenbar auch von französischer Seite nicht intensiv verfolgt.135 Das nach den ersten Landtagswahlen 1947 gegründete Ministerium für Justiz und Kultus unter Adolf Süsterhenn (CDU) nahm das französische Verbot allerdings offensichtlich zunächst als landesweit gültig ernst, denn es antwortete es im Herbst 1947 auf Anfragen nach der rechtlichen Lage im Land, körperliche Züchtigungen seien in seinem Zuständigkeitsbereich verboten.136 Knapp drei Jahre später sahen die Antworten auf solche Anfragen jedoch anders aus: Nun verwies das Ministerium zwar auf die im März 1949 erlassene Schulordnung für höhere Schulen, die körperliche Strafen verbat, nannte aber keinerlei Regelung für die anderen Schulformen.137 Zwar erwähnte das pfälzische Regierungspräsidium noch die Anordnung der französischen Militärregierung von 1947, als das Kultusministerium sich nach den in den einzelnen Bezirken geltenden Erlassen erkundigte – davon abgesehen wurde aber das französische Verbot spätestens 1950 offensichtlich ignoriert. Stattdessen blieb die rechtliche Lage unübersichtlich: Einerseits wurde regelmäßig auf hessische und vor allem preußische Erlasse aus der Zeit der Weimarer 133 134
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„[W]enn du ihn mit der Rute schlägst, wird er nicht sterben. Du schlägst ihn mit der Rute, und du errettest seine Seele vom Tode“, Sprüche 23, 13–14. Vgl. die Antworten der Regierungspräsidien Koblenz, Montabaur, Trier und Mainz auf eine Anfrage des Kultusministeriums im Oktober 1950, die bei ihrer Auskunft zu den für den jeweiligen Bezirk geltenden Bestimmungen das französische Verbot nicht erwähnten, teilweise auch ausdrücklich die Existenz von Anordnungen der Militärregierung verneinten (LHAKo 910, 1218). Die pfälzische Regierung berichtete im März 1949: „In der Zwischenzeit ist die französische Militärregierung auf diese Angelegenheit nicht mehr zurückgekommen.“ (Provinzialregierung Pfalz an MUK, 27.7.1949, LHAKo 910, 1217). Vgl. Redaktion der Zeitschrift „Jugend“ an MUK, 17.9.1947, mit handschriftlichem Antwortentwurf v. 26.9.1947, LHAKo 910, 1217; sowie eine weitere Anfrage einer Privatperson v. 5.10.1947, ebd. Vgl. die in LHAKo 910, 1218, enthaltenen Anfragen und Antworten. Zum Verbot in höheren Schulen vgl. Schulordnung für die öffentlichen und höheren Schulen in RheinlandPfalz, Amtsblatt des Ministeriums für Unterricht und Kultus von Rheinland-Pfalz 1 (1949), Sonderdruck, Abschnitt II.1.
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Republik, insbesondere die preußischen Einschränkungen von 1928, verwiesen. Allerdings herrschten selbst innerhalb des Ministeriums Unklarheit und Meinungsverschiedenheiten, inwieweit (und für welche Landesteile) diese Vorschriften noch Gültigkeit besaßen.138 Eine eigene landeseinheitliche Vorschrift wurde dennoch nicht erlassen. Lediglich zwei der fünf Bezirksregierungen stellten nach 1945 Richtlinien zum Züchtigungsrecht auf: Die Trierer Regierung forderte in einer Verfügung vom Mai 1947 die Lehrer auf, körperliche Strafen „möglichst ganz“ zu unterlassen mit der Begründung, diese widersprächen „vollends dem humanen und demokratischen Ideal unserer Zeit“.139 Auch der Koblenzer Regierungspräsident betonte 1948, wie psychologisch zweifelhaft und erzieherisch ungeeignet körperliche Strafen seien und erlaubte ihre Anwendung „nur bei Verfehlungen schwerer Art“ und nur mit (nachträglicher) schriftlicher Begründung beim Schulleiter.140 Diese Erlasse waren einerseits durch die auch das hessische Verbot motivierende Distanzierung von der nationalsozialistischen Vergangenheit geprägt, etwa wenn die Regierung Trier warnte, körperliche Züchtigung verstärke durch negative Vorbildwirkung „Anlagen zur Roheit und Gewalttätigkeit, Auswüchse, die den Namen unseres Volkes in den vergangenen Jahren schwer belastet haben und umsomehr bekämpft werden müssen, gerade in der Schule“.141 Gleichzeitig stellten sich beide Verfügungen ausdrücklich in die Tradition der preußischen Ministerialerlasse von 1920 und 1928. Dass es gerade zwei der drei ehemals preußischen Bezirke waren, in denen die dort 1899 begonnene und in der Weimarer Republik verstärkte Tradition zunehmender schulbehördlicher Missbilligung und Einschränkung fortgesetzt wurde, dürfte kein Zufall sein.142 Schließlich hatte das preußische Ministerium mit den Erlas138 139 140 141 142
Vgl. etwa die verschiedenen Entwürfe einer Antwort auf: Fr.-C. Z. an MUK, 27.10.1954, LHAKo 910, 959. Abschrift der Verfügung vom 17.5.1947, LHAKo 910, 1218. Abschrift der Verfügung vom 10.4.1948, LHAKo 910, 1218. Abschrift der Verfügung vom 17.5.1947, LHAKo 910, 1218. In diesem Zusammenhang ist auch ein Einzelfall bemerkenswert: 1946 beschwerte sich eine Mutter aus dem Kreis Daun über einen Lehrer, der ihren Sohn brutal geschlagen habe, weil dieser eine als Strafe für Nichtmitsingen in der Kirche aufgegebene Lernaufgabe nicht ausreichend beherrscht hatte. Während der örtliche Schulrat empfahl, den Lehrer nicht zu bestrafen, da seine Versetzung ohnehin geplant war, und auch das Trierer Regierungspräsidium zwar eine ernste Missbilligung, aber keine Dienststrafe für angemessen hielt, erschien dem Oberpräsidenten der Provinz Rheinland-Hessen-Nassau diese Ahndung zu gering; er setzte durch, dass der Lehrer mit einem Verweis bestraft und die vorgesehene Versetzung als Strafversetzung erfolgte (vgl. LHA Koblenz 910, 1217). Ein vergleichbares Eingreifen der höheren Behörde, um eine strengere Ahndung einer Überschreitung des Züchtigungsrechts durchzusetzen, ist aus den ehemals bayerischen oder hessischen Gebieten nicht belegt; dies ist zwar kein eindeutiger Beleg, aber doch ein weiteres Indiz dafür, dass in den (ex-)preußischen Schulbehörden tendenziell eine Verwaltungskultur herrschte, die der Durchsetzung von Einschränkungen körperlicher Schulstrafen höhere Priorität beimaß, als dies etwa in der bayerischen Pfalz der Fall war.
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sen der 1920er Jahre stets auch den Versuch verbunden, die Bezirksregierungen durch die Aufforderung zu Berichten oder zum Herausgeben eigener Erlasse bzw. Merkblätter zu einer aktiveren Zurückdrängung körperlicher Schulstrafen zu ‚erziehen‘. Das Beispiel der Bezirke Trier und Koblenz deutet darauf hin, dass diese Politik tatsächlich einen gewissen langfristig nachwirkenden Erfolg hatte. Auf Landesebene entsprach der rheinland-pfälzische Umgang mit körperlichen Schulstrafen dagegen eher der pfälzisch-bayerischen Tradition der vergleichsweise sehr begrenzten schulrechtlichen Regulierung:143 Verbindliche Vorschriften zum Thema gab es in Rheinland-Pfalz bis in die 1960er Jahre hinein nicht.
5.3 Eine (nicht nur) juristische Kehrtwende: die 1950er Jahre So unterschiedlich die im vorherigen Kapitel vorgestellten Regelungen der einzelnen Länder zum Züchtigungsrecht auch waren, war doch den meisten gemeinsam, dass sie körperliche Strafen zumindest für bestimmte Schülergruppen untersagten. Sie warfen somit die Frage auf, wie ein solches (teilweises) Verbot durchzusetzen war: Verstöße konnten natürlich auf disziplinarischem Weg geahndet werden – außenwirksamer und in den Folgen für betroffene Lehrer potenziell bedrohlicher war jedoch ihre mögliche strafrechtliche Verfolgung. „Überschreitung des Züchtigungsrechts ist immer strafbar, auch wenn sie im Eifer, in der Aufregung oder aus Entrüstung geschieht“, warnten die bayerischen „pädagogischen Merksätze“. Die hessische Wiederholung des Verbots von 1949 wurde sogar noch deutlicher und betonte, dass das Züchtigungsrecht eine reine Amtsbefugnis sei. „Ein allgemeines dienstliches Verbot nimmt daher jeder körperlichen Züchtigung, auch wenn Erziehungsberechtigte ausdrücklich zugestimmt haben sollten, die Berechtigung und macht sie zu einer strafbaren Körperverletzung.“144 Diese Auslegung entsprach der alten Rechtsprechung des Reichsgerichts, laut der ministerielle Verordnungen zum Züchtigungsrecht auch für die strafrechtli143
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Um 1900 bestanden im Regierungsbezirk Pfalz, anders als in den anderen bayerischen Regierungsbezirken, keine konkreten Vorschriften zum Züchtigungsrecht (vgl. „Die Bestimmungen der einzelnen Kreis-Schul- und Lehrordnungen über das Züchtigungsrecht des Lehrpersonals an den Volksschulen“, LASp H3, 7062, Bl. 67–70). Noch 1928 galten, abgesehen von den strafrechtlich nicht relevanten Merksätzen von 1910, in der Pfalz keine verbindlichen Regelungen (vgl. Dr. Oehrlein: Das Züchtigungsrecht des Lehrers in der Pfalz, BayHStA MK 61940), sodass erst die bayerische Landesschulordnung von 1942 (kurzlebige) bindende Richtlinien brachte. Vgl. Erlass vom 10.10.1949, in: Amtsblatt des hessischen Ministeriums für Kultus und Unterricht 2 (1949), S. 372 f.
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che Bewertung maßgeblich sein konnten, sofern sie als verbindliche Anweisung formuliert waren – was beim hessischen Verbot eindeutig der Fall war und größtenteils auch für die in anderen Ländern formulierten Einschränkungen galt. Tatsächlich sprach 1950 das Hessische Oberlandesgericht dem Verbotserlass von 1946 „den Charakter einer Rechtsverordnung“ zu, weshalb er auch in Bezug auf die strafrechtliche Bewertung das Züchtigungsrecht der Lehrer aufhebe.145 Jedoch war diese Ansicht nach 1945 juristisch nicht mehr allgemein anerkannt: Wie beschrieben hatte schon das Reichsgericht den Kreis der als verbindlich zu wertenden Vorschriften immer enger gezogen.146 In der Bundesrepublik setzte sich nun zunehmend die Position durch, dass kultusministerielle Vorschriften, mochten sie auch noch so verbindlich formuliert sein, lediglich dienstrechtlich relevant seien. Dass „eine ministerielle Anordnung niemals in der Lage sein wird, eine an sich nicht strafbare körperliche Verletzung [. . . ] zu einer strafbaren kriminellen Handlung zu machen und den Strafrichter zu binden“, galt schon 1947 im bayerischen Kultusministerium als selbstverständlich (während man im hessischen Ministerium genauso selbstverständlich vom Gegenteil ausging).147 1952 entschied das Oberlandesgericht Köln, dass das nordrhein-westfälische Verbot körperlicher Strafen bei Mädchen keine strafrechtliche Bedeutung habe und die Grenzen des Zulässigen stattdessen „in den allgemeinen Grundsätzen des Sittengesetzes und im Erziehungszweck“ lägen.148 In der juristischen Literatur dominierten schon seit den 1930er Jahren die Stimmen, die ministeriellen Vorschriften keine strafrechtliche Relevanz zugestehen wollten, vereinzelt wurde aber auch noch die Ansicht des Reichsgerichts vertreten.149 Nicht nur bei dieser eher formalen Frage war die juristische Position zu körperlichen Strafen in der frühen Bundesrepublik uneinheitlich, sondern auch in 145
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Beschluss des OLG Hessen, Strafsenat Kassel, vom 8.3.1950, WS. 32/50, auszugsweise abgedruckt in: Amtsblatt des hessischen Ministers für Erziehung und Volksbildung 3 (1950), S. 509–511. Vgl. auch zwei weitere der Interpretation des OLG folgende Urteile (LG Kassel vom 26.6.1950, KMs 2/50, LG Fulda vom 5.5.1950) ebd., S. 511–517. Dass der Erlass einer Rechtsverordnung gleichkam, obwohl keine konkrete gesetzliche Grundlage das Ministerium zum Erlass rechtlich verbindlicher Regelungen autorisierte, begründete das Gericht mit dem aus langer Zeit bestehender Übung resultierenden Gewohnheitsrecht des Kultusministeriums, alle Angelegenheiten des Schulwesens in verbindlicher Weise im Verordnungsweg zu regeln. Vgl. S. 198 dieser Arbeit. Bemerkung zum Entwurf einer Bekanntmachung über Handhabung des Züchtigungsrechts an den Volksschulen, Juni 1947, BayHStA MK 61940. OLG Köln: Die Grenzen der Züchtigung durch den Lehrer, in: NJW 1952, S. 479–480. In der Kommission, die 1936 einen neuen Strafgesetzbuchentwurf ausarbeitete (ohne Bestimmungen zum Züchtigungsrecht aufzunehmen), bestand Einigkeit, dass die der RG-Rechtsprechung „zugrunde liegende Verwechslung strafrechtlicher und dienststrafrechtlicher Maßstäbe nicht haltbar“ sei (Mezger: Körperverletzung). Vgl. außerdem: Kettner: Bedeutung; Friebe: Züchtigungsrecht; Würtenberger: Bedeutung; Redelberger: Züchtigungsrecht (1952). Abweichend jedoch Knorr: Züchtigung, S. 97.
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Bezug auf die grundsätzliche Bewertung: Einerseits lebte die für den juristischen Diskurs vor 1945 typische traditionelle Vorstellung von körperlichen Strafen als selbstverständlich notwendigem Teil der Erziehung fort, wenn etwa der von Otto Schwarz herausgegebene weit verbreitete Beck’sche Kurzkommentar zum Strafgesetzbuch auch in seiner Auflage von 1951 noch knapp feststellte: „Die Schule soll erziehen, daher steht im Zweifel dem Lehrer das Züchtigungsrecht zu.“150 Auch ein 1952 in der renommierten Neuen Juristischen Wochenschrift erschienener Aufsatz des Anwalts Oskar Redelberger, der vor allem auf die sich durch uneinheitliche Rechtsprechung ergebende Rechtsunsicherheit für Lehrer abhob, warnte: „Zwingt man in der jetzigen Situation den Lehrer, wegen der Gefahr eines Strafverfahrens auf das Züchtigungsrecht ganz zu verzichten, dann könnte sich dies nur zum Nachteil der Kinder auswirken, denn die Züchtigung ist nicht eine Mißhandlung, sondern ein Teil der Erziehung, eine Fürsorgehandlung für den Zögling.“151 Allerdings räumte Redelberger andererseits ein, dass der Verzicht auf körperliche Strafen „ein erstrebenswertes Ziel“ sei, das aber erst erreichbar sein würde, wenn die Nachkriegsbedingungen überwunden seien und auch im Elternhaus ohne Schläge erzogen werde. Zwar wirkt dieser Verweis auf den „Wunschtraum“ einer Abschaffung eher wie ein Zugeständnis an den Zeitgeist, denn Redelbergers Aufsatz zielte vor allem darauf ab, durch eine einheitliche Regelung des Züchtigungsrechts die Belastung der Lehrer „durch unbegründete Anzeigen, Anklagen und Verfahren“ wegen der für ihn auf unbestimmte Zeit noch unverzichtbaren „Erziehung mit körperlichen Mitteln“ zu reduzieren. Dennoch: Dass eine vollständige Abschaffung körperlicher Strafen überhaupt ausdrücklich als wünschenswert und in (wenn auch ferner) Zukunft möglich angesprochen wurde, hatte es in den juristischen Stellungnahmen vor 1945 kaum gegeben. Auch eine 1950 erschienene juristische Dissertation zum Züchtigungsrecht wies einen grundsätzlichen Unterschied gegenüber ihren Vorgängern aus den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts auf: Während damals pädagogische Stellungnahmen und Forschungen kaum rezipiert worden waren, erschienen sie nun sogar im Titel: „Die körperliche Züchtigung in der Volksschule, ihre rechtliche und pädagogische Bedeutung in der Gegenwart“. Davon ausgehend, dass „eine einseitige Betrachtung, entweder vom Standpunkt des Richters oder von dem des Lehrers aus, [. . . ] notwendigerweise unvollkommen sein“ müsse, stellte der Verfasser Hans-Joachim Knorr ausführlich die Entwicklung der pädagogischen Debatte bis in seine Gegenwart dar.152 Er kam zu dem Ergebnis, dass von drei 150 151 152
Schwarz: Strafgesetzbuch, 14. Aufl., 1951, S. 379. Redelberger: Züchtigungsrecht (1952), S. 1161. Dort auch die folgenden Zitate. Knorr: Züchtigung, S. 4. Knorrs Offenheit für die pädagogischen Debatten dürfte auch damit zusammenhängen, dass er in der Nachkriegszeit als Schulhelfer an einer mittelfränkischen Dorfschule tätig war.
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grundlegenden Positionen – grundsätzliche Bejahung, weitgehende Ablehnung mit Befürwortung in Ausnahmefällen, absolute Ablehnung – „die Vertreter der dritten Richtung [. . . ] heute entschieden die meisten Anhänger“ zählten, und verwies dazu unter anderem auf Friedrich Wilhelm Foerster, Paul Barth und Heinrich Meng. Allerdings bedeutete Knorrs Kenntnisnahme der aus seiner Sicht dominierenden pädagogischen Position nicht, dass er diese auch als Bewertungsmaßstab übernahm: Stattdessen wertete er die von Züchtigungsgegnern geschilderten Nachteile körperlicher Strafen als bei richtigem Vorgehen des Lehrers vermeidbare Gefahren, verwies auf die materiellen, sozialen und moralischen Kriegsfolgen, die einen Verzicht auf diese Strafart in der Praxis unmöglich machten, und schrieb ihr unter Berufung auf Pestalozzi in Ausnahmefällen einen erzieherischen Wert zu.153 Knorrs teilweise widersprüchliche Argumentation mündete in den Vorschlag, das Lehrerzüchtigungsrecht in der Form im Strafgesetzbuch zu verankern, dass körperliche Strafen zu Erziehungszwecken nur dann strafbar sein sollten, wenn sie eine tatsächliche Gesundheitsgefährdung zur Folge hätten.154 Damit übernahm Knorr einen 1941 gemachten Vorschlag Günther Friebes,155 und auch ansonsten entsprachen seine Ergebnisse traditionellen juristischen Positionen. Obwohl Knorrs Wahrnehmung der pädagogischen Argumentation also schließlich ohne Einfluss auf seine rechtliche Bewertung blieb und obwohl seine Arbeit wenig Gewicht innerhalb des juristischen Diskurses hatte, stellt sie ein bemerkenswertes Beispiel für das 1945 gewandelte Verhältnis von Erziehungsund Rechtswissenschaft dar. Ein verstärktes Aufgreifen pädagogischer Überlegungen sollte in den folgenden Jahren die juristische Diskussion wie auch die Rechtsprechung beeinflussen. Zwar kein direkter Bezug auf neuere pädagogische Debatten, aber ein offensichtlich durch diese beeinflusstes verändertes Verständnis vom erzieherischen Wert körperlicher Strafen zeigt sich, wenn ein Lehrbuch des Strafrechts 1949 erklärte, dass „das leibliche Züchtigen in pädagogischer, kulturell-ethischer und hygienischer Hinsicht von sehr fragwürdigem Werte ist“ und deshalb ein Züchtigungsrecht nur in sehr engen Grenzen anzuerkennen sei.156 1954 führte ein Aufsatz in der jungen Zeitschrift Recht der Jugend unter dem ebenso programmatischen wie provokanten Titel „Körperliche Züchtigung ist eine eingebürgerte Unsitte ohne Rechtsgrundlage“ einen bis dahin nicht beachteten Gesichtspunkt in die juristische Diskussion um das Züchtigungsrecht ein: Anders als die meis-
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Vgl. ebd., S. 68, 74–78. Vgl. ebd., S. 144–149. Vgl. Friebe: Züchtigungsrecht. Knorr wollte den Lehrern sogar ein weitergehendes Züchtigungsrecht zugestehen als Friebe, der gemäß der Formulierung des ALR bereits die Gefährdung der Gesundheit als Kriterium der Strafbarkeit vorgeschlagen hatte. Sauer: Strafrechtslehre, S. 119.
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ten seiner Kollegen, die die Perspektive der Lehrer weitgehend übernommen und deren Interesse an Rechtssicherheit vor strafrechtlicher Verfolgung hohe Priorität beigemessen hatten, kritisierte der Jurist Manfred Mielke gerade diejenigen Erzieher, die „sich selbst in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen“ stellten.157 Stattdessen plädierte er für eine kindzentrierte Perspektive: „Ausgangspunkt und Ziel jeder gerechten Beurteilung kann aber nur das Kind, der kleine Mensch sein, dessen Würde unantastbar ist.“ Mit der Menschenwürde aber sei „eine Geißelung, wie sie das Prügeln nun einmal darstellt, niemals vereinbar“.158 Daneben verwies er auf das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit, das auch Kindern in vollem Maße zustehe. Die Grundrechte des Kindes stellte auch die Redaktion der Zeitschrift in den Mittelpunkt, wenn sie in ihrer Einleitung zu Mielkes Aufsatz kritisierte, dass man bisher in der Debatte „vielfach so tut, als ob Artikel 2 Abs. 2 des Grundgesetzes nicht existiere“, wenn man körperliche Schulstrafen selbstverständlich rechtfertigte, obwohl sie ein nicht durch ein Gesetz legitimierter Eingriff in die körperliche Unversehrtheit der Schüler seien. „Erzieht man durch ein solches Verhalten den Schüler – der so etwas eines Tages natürlich merkt – nicht gerade zum Gegenteil dessen, was die Schule ihm vermitteln soll, nämlich zu der Auffassung, daß Recht und Gesetz nicht allzu ernst genommen werden müßten?“159 Zwischen der scharfen Verurteilung durch Mielke und der selbstverständlichen Annahme eines Züchtigungsrechts im nur drei Jahre älteren Beck’schen Kommentar erstreckte sich die bemerkenswerte Bandbreite von traditionellen und neuartigen Positionen im juristischen Diskurs Anfang der 1950er Jahre. Angesichts dessen und angesichts der in der Rechtsprechung herrschenden Uneinheitlichkeit, beispielsweise was die strafrechtliche Bedeutung von ministeriellen Verordnungen anging, war die Frage besonders bedeutsam, welche Weichen die erste höchstrichterliche Entscheidung der Bundesrepublik zum Thema stellen würde. 5.3.1 Das BGH-Urteil von 1954 . . .
Zur ersten Entscheidung des Bundesgerichtshofes in der Frage des schulischen Züchtigungsrechts kam es 1954, als ein niedersächsischer Lehrer Revision gegen seine Verurteilung zu Geldstrafen wegen Körperverletzung in acht Fällen und Nötigung einlegte. Er hatte Jungen und Mädchen im Alter von sieben bis 13 Jahren teils mit einem Stock, teils mit den Händen geschlagen und einem Mädchen zudem Schläge angedroht, falls es zu Hause von dem in der Schule 157 158 159
Mielke: Züchtigung, S. 180 (dort auch das folgende Zitat). Ebd., S. 181. Ebd., S. 180.
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Vorgefallenen berichtete.160 Dass der fünfte Strafsenat des BGH in allen Fällen die Verurteilung bestätigte, ist an sich kaum bemerkenswert. Einige Handlungen des Lehrers wären wohl schon im 19. Jahrhundert von den meisten Gerichten als irreguläre, gesundheitsgefährdende Überschreitung des Züchtigungsrechts bewertet worden: So hatte der Lehrer einen Jungen, der sich gegen seine Schläge wehrte, am Kopf gepackt und auf eine Tischplatte gestoßen, sodass dieser eine Beule bekam und über dem Auge blutete. Einem siebenjährigen Schüler hatte er als Strafe für Unaufmerksamkeit das Ohr so weit herumgedreht, dass das Ohrläppchen einriss und blutete. In anderen Fällen war es weniger die Art als der äußerst geringfügige Anlass der Bestrafungen, der sie als brutal und illegitim erscheinen ließ: Beispielsweise hatte der Lehrer ein zwölfjähriges Mädchen mit einem Zeigestock mehrfach auf Rücken und Gesäß geschlagen, weil es ein der Klasse zum Auswendiglernen aufgegebenes Gedicht nicht beherrschte, nachdem es wegen Krankheit mehrere Tage in der Schule gefehlt hatte. Andere Mädchen hatten Stockschläge erhalten, weil sie ein Wort nicht mit dem Lineal, sondern freihändig unterstrichen hatten oder Fragen im Unterricht nicht beantworten konnten. In all diesen Fällen hatte das Landgericht die Verurteilung des Lehrers mit dem niedersächsischen Ministerialerlass von 1946 begründet, der körperliche Strafen nur bei schwerer Widersetzlichkeit oder Rohheit erlaubte und gegenüber Mädchen vollständig verbat. Für den BGH war es allerdings ein Irrtum, dem Ministerialerlass eine strafrechtliche Bedeutung zuzugestehen, „die er nicht hat und nicht haben will“161 . Der Senat schloss sich der Position an, dass Kultusministerien keine strafrechtlich bindenden Regeln zum Züchtigungsrecht erlassen könnten, da dies zu einem uneinheitlichen Strafrecht führen würde.162 Stattdessen begründete das BGH-Urteil die Unrechtmäßigkeit der einzelnen Züchtigungen direkt mit deren erzieherischer Unangemessenheit: So betonte es etwa, dass „bloße Unaufmerksamkeit kaum jemals ein Grund zu Schlägen sein“ könne oder dass Schwätzen im Unterricht als „sehr alltägliches Vorkommnis“ keine Züchtigung rechtfertige.163 Dies war eine Abkehr von der vor 1945 in Rechtsprechung und juristischer Literatur vertretenen Linie, dass die Angemessenheit einer körperlichen Strafe als pädagogische Frage im Ermessen des Lehrers liege und vom Gericht nicht beurteilt werden könne. Dieser Wandel resultierte natürlich auch daraus, dass nach dem Wegfall der für strafrechtlich irrelevant erklärten Ministerialerlässe neue Bewertungsmaßstäbe gefunden wer160 161
162 163
Vgl. BGH, 5. Strafsenat: Urteil vom 17.7.1954, in: BGHSt Bd. 6, S. 263–276, hier S. 270–276. Ebd., S. 272. Der Erlass sprach davon, dass körperliche Züchtigungen bei Mädchen „gemißbilligt“ würde und disziplinarisch zu ahnden seien (vgl. Knorr: Züchtigung, S. 132). Dass damit keine strafrechtliche Regelung beabsichtigt gewesen sei, hatte das niedersächsische Kultusministerium zudem ausdrücklich selbst erklärt. Vgl. ebd., S. 268. Ebd., S. 272 und S. 274.
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den mussten. Vor allem aber ist er im Zusammenhang mit der schon für die juristische Literatur festgestellten stärkeren Öffnung des juristischen Diskurses gegenüber pädagogischen Einflüssen zu sehen. Allerdings ist zu beachten, dass der Bundesgerichtshof 1954 zwar über erzieherische Fragen urteilte, sich dabei aber (noch) nicht auf die Erziehungswissenschaft im engeren Sinne oder auf verwandte Wissenschaften wie die Psychologie berief. Statt auf pädagogischen Theorien basierte die Bewertung des Lehrerhandelns eher auf Alltagserfahrung und ‚gesundem Menschenverstand‘, zum Teil auch auf dem Vergleich mit der Praxis anderer Lehrer.164 Der Bruch mit der Tradition des Verzichts auf jegliche Beurteilung der Angemessenheit körperlicher Strafen und die endgültige Abkehr von der bereits zuvor umstrittenen strafrechtlichen Berücksichtigung ministerieller Erlasse waren schon für sich durchaus bemerkenswerte Weichenstellungen für die zukünftige bundesdeutsche Rechtsprechung. Doch die eigentliche Bedeutung des BGH-Urteils von 1954 lag in Aussagen, die paradoxerweise für die konkrete Entscheidung im vorliegenden Fall gar keine Bedeutung hatten: Der Senat äußerte nämlich grundlegende Zweifel an der bis dahin herrschenden Herleitung des Züchtigungsrechts aus dem Erziehungszweck. Das zentrale Argument war dabei ein historisches, denn der Strafsenat verwies darauf, wie in anderen Bereichen seit dem 19. Jahrhundert körperliche Strafen immer weiter zurückgegangen waren: Im preußischen Militär waren sie bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts für bestimmte Soldatengruppen, in der zweiten Jahrhunderthälfte vollständig abgeschafft worden, in Gefängnissen waren spätestens seit der Weimarer Republik Schläge kein offizielles Disziplinierungsmittel mehr, um die Jahrhundertwende hatte zudem das Bürgerliche Gesetzbuch ein Züchtigungsrecht gegenüber dem Gesinde ausgeschlossen. Zuletzt hatte 1951 die Reform der Gewerbeordnung das Züchtigungsrecht gegenüber Lehrlingen abgeschafft. Angesichts dieser langfristigen Entwicklung der zunehmenden Zurückdrängung von Gewalt war es, so das Urteil, „völlig unmöglich [. . . ], die dem § 50 II 12 ALR zugrunde liegenden Anschauungen von vor 160 Jahren über die Angemessenheit körperlicher Züchtigungen noch für die heutige Beurteilung zu verwerten“.165 Dies erschütterte die gesamte bis dahin übliche Begründung eines Lehrerzüchtigungsrechts: Wie etwa im oben zitierten Schwarz’schen Kommentar ging die Mehrheit der juristischen Literatur auch in den 1950er Jahren noch, wie das Reichsgericht, von einem selbstverständlichen Zusammenhang von Erziehungsaufgabe und Recht zum körperlichen Strafen aus.166 Wenn der Bundesgerichtshof nun die Wandelbar164 165 166
So hieß es im Urteil etwa über Reden im Unterricht als geringfügiges Vergehen: „Es gibt Lehrer, die es nicht grundsätzlich unterdrücken“ (S. 272). Ebd., S. 266. Als Beispiele etwa Schwarz: Strafgesetzbuch, 14. Aufl., 1951, S. 379; W. Ruhs: Bemerkungen zum Züchtigungsrecht, in: Hessische Lehrerzeitung 3 (1950), S. 26–27. Vgl. auch die
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keit der Auffassungen von Gewalt und Erziehung betonte, behandelte er diesen Zusammenhang nicht mehr als eine solche gegebene Konstante, sondern als eine von pädagogischen und gesellschaftlichen Entwicklungen abhängige Annahme, deren weitere Gültigkeit zu überprüfen sei. Dass das schulische Züchtigungsrecht dieser Überprüfung im Jahr 1954 seiner Meinung nach nicht mehr standhalten würde, ließ der Senat deutlich durchblicken: So zitierte er zustimmend den Erlass des niedersächsischen Kultusministeriums von 1946, laut dem Lehrer durch „überlegene menschliche Führung“ den freiwilligen Gehorsam ihrer Schüler erreichen müssten, wogegen der Rückgriff auf körperliche Strafen gerade ein Versagen dieser Überlegenheit und der pädagogischen Haltung sei. Dem Senat schien es „kaum folgerichtig, von einer mit dieser Begründung aufgestellten Regel Ausnahmen zuzulassen“.167 Außerdem verwies das Urteil auf die problematische Vorbildwirkung eines sich mit Gewalt durchsetzenden Lehrers und auf die dem Züchtigungsrecht innewohnende Gefahr des Missbrauchs. All diese Argumente machten es für die Richter „zweifelhaft, ob die Erziehung in der Schule überhaupt jemals die körperliche Züchtigung eines Schülers notwendig macht“.168 Auf eine endgültige Entscheidung dieser Frage verzichtete der Senat aber noch – sie war für das Urteil auch nicht nötig, da in den vorliegenden Fällen auch ein angenommenes Züchtigungsrecht klar als überschritten gelten konnte. Stattdessen formulierte er mit spürbarer Skepsis: „Es kann unterstellt werden, daß in seltenen Ausnahmefällen eine maßvolle körperliche Züchtigung durch den Lehrer am Platze sein mag.“169 Doch ergebe sich auch dann aus der Herleitung durch den Erziehungszweck eine Einschränkung: Eine körperliche Züchtigung könne „wenn überhaupt, allenfalls dadurch gerechtfertigt werden, daß die Sorge für die sittliche und charakterliche Entwicklung des Kindes selbst sie zwingend gebietet.“ Dies bedeutete insbesondere, dass die Aufrechterhaltung der Schulzucht durch Unterdrückung von Unterrichtsstörungen oder gar Abschreckung anderer Kinder für sich alleine niemals ausreichender Grund für Körperstrafen sein könne. Eine solch enge Begrenzung erinnerte an eine Forderung, die schon der Bund entschiedener Schulreformer 1922 für Schulstrafen allgemein vorgebracht hatte,170 sie widersprach aber der bis dahin gängigen
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zusammenfassende Bewertung Jens-Michael Priesters (Ende, S. 55 f.), dass bei dieser Herleitung aus dem Erziehungsrecht „die eigentliche Begründungsleistung, nämlich die argumentative Verkettung des Begriffs Erziehung mit dem Begriff Züchtigung“ nicht erbracht wurde. BGHSt Bd. 6, S. 263–276, S. 269. Ebd., S. 268. Ebd., S. 269. Vgl. Vorstand des deutschen Gesamtbundes entschiedener Schulreformer, Eingabe, in: Oestreich: Strafanstalt, S. 166. Dort hieß es: „Die Schulstrafe darf also nie erziehungsfremde Ziele anstreben: Aufrechterhaltung der ‚Autorität‘ (unbedingte ‚Disziplin‘, ‚Rechtbehalten‘
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juristischen Definition des Züchtigungsrechts.171 Konsequent zu Ende gedacht, schuf sie eine zusätzliche Problematik: In den späten 1940er und 1950er Jahren argumentierten Lehrer und Schulbehörden, die eine vollständige Abschaffung ablehnten, ja gerade, dass körperliche Strafen erzieherisch fragwürdig seien, aber die Schuldisziplin unter den aktuellen Umständen ohne sie nicht aufrechterhalten werden könne. Der bayerische Erlass von 1947 etwa erlaubte Körperstrafen nur „zur Aufrechterhaltung der Schuldisziplin bei schweren Verfehlungen“.172 Wenn aber Pädagogen und Lehrer körperliche Strafen nicht mehr offensiv als im Interesse des einzelnen Kinds erzieherisch notwendig verteidigten, sie andererseits aber nur unter dieser Prämisse juristisch zu rechtfertigen waren, lief dies auf eine Abschaffung des Züchtigungsrechts hinaus. Ob der BGH mit seiner Formulierung diese Konsequenz tatsächlich beabsichtigte, ist allerdings unklar – genauso wie die Frage, wie im konkreten Einzelfall nachzuweisen wäre, ob eine Körperstrafe im Erziehungsinteresse „zwingend“ geboten war. 5.3.2 . . . und seine Rezeption
Die Entscheidung von 1954 bedeutete keine grundlegende Änderung der Rechtslage, schließlich hatte der Strafsenat die Frage, ob körperliche Strafen zu Erziehungszwecken gerechtfertigt seien, noch offengelassen – doch die Tendenz des Urteils war eindeutig: Man konnte es, so die rückblickende Einschätzung eines Juristen, „nur dahin verstehen [. . . ], daß es mit seiner Begründung das Züchtigungsrecht des Lehrers für die Zukunft beseitigt sehen wollte“.173 So war 1954, wie Manfred Mielke in seinem zustimmenden Kommentar zum Urteil in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erläuterte, eine endgültige Entscheidung über die Zukunft des Züchtigungsrecht „in Kürze“ durch ein weiteres BGH-Urteil (sowie möglicherweise durch den in Konfliktfällen entscheidenden Großen Strafsenat) zu erwarten.174
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des Lehrers um jeden Preis, ‚Zerbrechen des Schülertrotzes‘), ‚Sühne‘ [. . . ], Abschreckung (‚ein Exempel statuieren‘)“. Diese Einschränkung war nicht nur, wie das BGH-Urteil selbst feststellte, „bisher von der Rechtsprechung und im Schrifttum durchweg übersehen worden“, sondern Juristen hatten sie zum Teil sogar ausdrücklich zurückgewiesen, so etwa Janissek: Recht, S. 8; Kaufmann: Züchtigungsrecht, S. 80. Handhabung des Züchtigungsrechts an den Volksschulen, in: Amtsblatt StMUK 1947, S. 66 f. Serwe: Entwicklung, S. 23. Vgl. auch zeitgenössisch (und das Urteil ablehnend) Redelberger: Züchtigungsrecht (1955), S. 1304. Manfred Mielke: Schlagen von Kindern ist Körperverletzung, in: FAZ vom 2.11.1954, S. 2. Ein weiteres Beispiel für eine von einem Juristen stammende, aber an die breite Öffentlichkeit gerichtete positive Bewertung des Urteils ist der Radiovortrag des Münchner Juristen Dr. Otto Gritschneder in der Sendung „Wirtschaftsfunk“, in der er erklärte, der
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Nicht nur für Mielke, der auf das drei Jahre zuvor erfolgte Verbot der körperlichen Bestrafung von Lehrlingen hinwies, schien es wünschenswert und durchaus wahrscheinlich, dass diese endgültige Entscheidung zu Ungunsten des Züchtigungsrechts ausfallen würde. Auch der Züricher Professor für Rechtgeschichte Karl Bader äußerte in der JuristenZeitung die Hoffnung, dass die Rechtsprechung „den vom BGH hier eingeschlagenen Weg ruhig und mutig weiter [. . . ] gehen“ würde.175 Er lobte den Senat dafür, dass er die „Wandlung des gesamten Wissens um die Erziehung“ seit den Zeiten des Allgemeinen Landrechts berücksichtigt habe und für die „Folgerung, daß körperliche Züchtigungen in aller Regel nicht als brauchbare Erziehungsmittel anzusehen sind“. Dass Bader die einhellige Ablehnung körperlicher Strafen durch die „moderne Pädagogik und Psychologie“ betonte und sich dabei auf das „ausgezeichnete Buch“ Zwang und Freiheit in der Erziehung von Heinrich Meng berief, ist ein weiterer eindrucksvoller Beleg für die zunehmende Rezeption pädagogisch-psychologischer Debatten unter Juristen. Wenn Bader in seiner Anmerkung außerdem die Entscheidung des Senats, schulbehördlichen Erlassen grundsätzlich strafrechtliche Relevanz abzusprechen, mit der Bemerkung lobte, dass kein Kultusministerium eine Strafart erlauben oder verbieten könne, die sich „aus dem Wesen der Erziehung“ selbst verbiete, dann wird vollends deutlich, wie grundlegend sich die Positionen zumindest in einem Teil der Rechtswissenschaft gewandelt hatten: Schließlich handelte es sich bei der Vorstellung, dass die Illegitimität körperlicher Strafen unabhängig von behördlichen Regelungen automatisch aus dem Erziehungszweck folgt, um eine exakte Umkehr der alten reichsgerichtlichen Position, gemäß der sich aus dem Erziehungsauftrag des Lehrers automatisch ein Züchtigungsrecht ergebe, selbst wenn keine Vorschriften existierten, die ihm dies ausdrücklich gewährten. Zudem wies Bader damit auf eine wichtige Konsequenz des Urteils hin: Wenn zu Zeiten des Reichsgerichts eine schulbehördliche Vorschrift für unverbindlich erklärt worden war, hatte dies normalerweise eine Ausweitung der Grenzen des Züchtigungsrechts und somit einen wahrscheinlicheren Freispruch des Lehrers bedeutet. Wenn sich aber in der Rechtsprechung tatsächlich die Abkehr vom Züchtigungsrecht durchsetzen sollte, würde der umgekehrte Effekt eintreten: Dann könnten Lehrer selbst dann wegen Körperverletzung verurteilt werden, wenn sie innerhalb der Grenzen der jeweiligen landesrechtlichen Vorschrift geblieben waren. Genau diese Befürchtung führte im bayerischen Kultusministerium zur Überlegung, ob das Urteil „nicht dazu zwingt, dienstrechtlich dem Lehrer kein Züch-
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BGH habe die Rechtsfragen rund um körperliche Schulstrafen in einer „höchst erfreulichen Weise beantwortet“ (vgl. „Aus dem Gerichtssaal – Prügel in der Schule“, Mitschrift der Sendung Wirtschaftsfunk 62 am 12.11.1954, BayHStA MK 61941). Bader: Anmerkung, S. 756. Dort auch die folgenden Zitate.
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tigungsrecht mehr zuzuerkennen. Es ist auf die Dauer wohl nicht zu vertreten, den Lehrer durch die dienstrechtliche Züchtigungserlaubnis der Gefahr einer strafgerichtlichen Ahndung auch in den Fällen auszusetzen, in denen er sich an die Bestimmungen hält.“176 Dass im Dezember 1954 als Teil der von SPD, FDP, Bayernpartei und Bund der Heimatvertriebenen getragenen Regierung ein neuer Kultusminister – der parteilose Hochschullehrer August Rucker – ins Amt kam, begünstigte außerdem eine Reform im Bereich des Züchtigungsrechts. Zwar beließ es das Ministerium zunächst bei der Anweisung, „von der Möglichkeit der körperlichen Züchtigung [. . . ] bis auf weiteres nur dann Gebrauch zu machen, wenn es die Sorge für die sittliche und charakterliche Entwicklung des Kindes selbst zwingend gebietet“.177 Allerdings kündigte es gleichzeitig an, dass das Thema vom neu gebildeten Landesschulbeirat behandelt und entschieden werden sollte. Auch die obersten Schulbehörden von Schleswig-Holstein, Bremen und Hamburg sahen das Urteil als Anlass, die Bestimmungen zu körperlichen Strafen zu überprüfen – wobei sowohl Bremen als auch Hamburg angaben, bereits unabhängig von der BGH-Entscheidung ein Verbot in Erwägung gezogen zu haben.178 Unmittelbar nach dem BGH-Urteil von 1954 schien es also durchaus wahrscheinlich, dass der Paradigmenwechsel in der Rechtsprechung schließlich den Züchtigungsgegnern in allen Bundesländern zum Durchbruch verhelfen könnte. Doch der fünfte Strafsenat des Bundesgerichtshofs hatte diese Wende nur eingeleitet, vollzogen war sie noch nicht. Die endgültige höchstrichterliche Klärung der Frage des Züchtigungsrechts stand noch aus – und wie sie ausfallen würde hing, so ein Kommentator des Urteils, auch von der Stellungnahme der Lehrerschaft ab. „Darum“, so forderte er auf, „mögen nun die Pädagogen das Wort haben.“179 Reaktion der Lehrerschaft
Die Worte, die die praktischen Pädagogen für die Entscheidung des Bundesgerichtshofs fanden, waren nicht gerade lobend: Im Namen der Rechtsschutzabteilung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft kritisierte Peter Peetz vehement den Vergleich mit körperlichen Strafen beim Militär oder für Verbrecher, die als „barbarische Mittel, die der Abschreckung dienten“ nichts mit der schulischen Züchtigung als (wenn auch „im allgemeinen [. . . ] schlechtes“) Erzie176 177 178
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Referat 16b an 16a, 15.11.1954, BayHStA MK 61941. Bekanntmachung vom 20.1.1955, in: Amtsblatt StMUK 1955, Nr. 1, S. 8. Senator für Bildungswesen Bremen an StMUK, 10.2.1955, Schulbehörde Hamburg an StMUK, 10.2.1955, Kultusministerium Schleswig-Holstein an StMUK, 7.2.1955, alle BayHStA MK 61941. A. Schumacher: Der Bundesgerichtshof zum Züchtigungsrecht des Lehrers, in: Der katholische Erzieher (1955), S. 23–26, Zitat S. 26.
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hungsmittel gemeinsam hätten.180 Er teilte Überschreitungen der Vorschriften in drei Gruppen ein: Erstens gebe es Fälle, in denen die nervliche Belastung durch Disziplinschwierigkeiten Lehrer zu Kurzschlusshandlungen entgegen ihrer eigentlichen Absicht führe („die Hand rutscht aus“). Zweitens könnten bei „Roheit und Widersetzlichkeit“, etwa Gewalt gegen Mitschüler, „Frechheit“ gegen Lehrer oder Tierquälerei, nach erfolglosen Ermahnungen, Rücksprache mit Eltern und anderen Maßnahmen körperliche Strafen als „letztes Mittel“ erscheinen und gelegentlich auch Erfolg zeigen. Als dritte Variante wurden Fälle angeführt, in denen Körperstrafen „völlig unberechtigt und nicht am Platze sind“, weil sie etwa „wegen ungenügender Leistungen oder kleiner Ungehörigkeiten“ angewendet würden. Zu dieser Gruppe rechnete Peetz auch die dem BGH-Urteil zugrunde liegenden Vorkommnisse, deren konkrete Ahndung „nach unserer Meinung sogar milde“ gewesen sei. Aber die grundsätzlichen Überlegungen des BGH-Strafsenats liefen darauf hinaus, auch in den Fällen der ersten beiden Kategorien schlagende Lehrer wegen Körperverletzung zu verurteilen – und dies war für Peetz nicht akzeptabel. Dabei bekannte er sich im Namen der Lehrerschaft weiterhin zur grundsätzlichen Ablehnung körperlicher Strafen, die jedoch erst nach „Schaffung normaler Schulverhältnisse“, der Senkung der Klassengrößen und der Einrichtung von Sonderschulen für schwer Erziehbare möglich sei. Das Vorgehen des Bundesgerichtshofs oder des hessischen Kultusministeriums sei dagegen der falsche Weg: „Mit Verboten und Strafen wird die innere Bereitschaft nicht erhöht.“ Peetz betonte, dass bei einer Besprechung des Landesvorstands seiner Gewerkschaft, an der neben Lehrern auch Heimerzieher teilgenommen hatten, sich nicht eine einzige Person für eine absolute Abschaffung des Züchtigungsrechts ausgesprochen habe. Auch sein Artikel in Wirtschaft und Recht stieß – so zumindest Peetz’ eigene Angabe – nur auf zustimmende Leserzuschriften.181 Hier zeigt sich, welche Veränderung sich zur Mitte der 1950er Jahre in den Diskussionen der Lehrerschaft zum Züchtigungsrecht vollzogen hatte: Sie lässt sich schon an den Erscheinungsorten von Stellungnahmen zum Thema in der Lehrerpresse ablesen, denn die Diskussion über körperliche Strafen verlagerte sich von den pädagogischen Leitartikeln in die Rechtsbeilagen. Statt grundsätzlichidealistischer Argumentationen wurden nun pragmatische Überlegungen und die alte Sorge der Rechtsunsicherheit zum entscheidenden Bewertungsmaßstab. In der von der GEW herausgegebenen Allgemeinen Deutschen Lehrerzeitung beispielsweise hatte 1951 noch der Schriftleiter Karl Bungardt unter Hinweis 180
181
Peter Peetz: Stellungnahme zum Bundesgerichtsurteil über das Züchtigungsrecht des Lehrers, in: Wirtschaft und Recht (Beilage zur ADLZ) 5 (1955), S. 9–10, dieses und die folgenden Zitate S. 10. Peter Peetz: Körperliche Züchtigung in der Schule, in: Wirtschaft und Recht 5 (1955), Heft 3, S. 17.
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auf den ersten Artikel des Grundgesetzes gefordert: „Da wir die Würde des Kindes und Jugendlichen – des Staatsbürgers von morgen – entdeckt haben, muß die Prügelstrafe aus den Schulen und Lehrstätten verschwinden!“182 Vier Jahre später dagegen hieß es in der Beilage Wirtschaft und Recht: „Der Lehrerschaft kann aber nicht ewig zugemutet werden, gegenüber hemmungslosen Elementen ohne wirksame und heilsame Sofortmaßnahmen dazustehen.“183 Um sich „vor Beleidigungen seiner Person und seines Standes durch Schüler“ zu schützen, brauche deshalb jeder Lehrer „wieder das Recht, zügellosen Elementen in der Münze heimzuzahlen, die auch Wilhelm Busch für die beste hielt, um Paul und Peter zu charmanten Burschen zu erziehen“. Hier klingt ein um 1955 in nahezu allen Lehreräußerungen zum Thema zu findendes Leitmotiv an: Immer wieder klagten Lehrer, sie seien „vogelfrei gegenüber entarteten Jugendlichen, vogelfrei gegenüber uneinsichtigen, oft böswilligen Eltern, vogelfrei in der vielfach sachunkundigen Tagespresse, vogelfrei auch vor Gericht!“184 Die Kritik an der Presse bezog sich darauf, dass (lokale) Zeitungen in von den Lehrern als sensationalistisch empfundener Weise über Gerichtsprozesse wegen Körperverletzungen berichteten, statt unzulängliche Unterrichtsbedingungen zu thematisieren. Sie weist darauf hin, dass in den 1950ern das Verständnis für schlagende Lehrer in der Öffentlichkeit begrenzt war. In diese Gefühle der Schutzlosigkeit und des mangelnden Verstandenwerdens mischten sich traditionelle Vorstellungen von der Legitimität, ja Notwendigkeit körperlicher Strafen zum Aufrechterhalten einer als unbedingtes Durchsetzen von Anweisungen verstandenen Lehrerautorität. Direkt neben dem eben zitierten „Notschrei“ der Berliner Lehrerzeitung und einem Bericht über tätliche Angriffe von Eltern auf Lehrer druckte das Gewerkschaftsblatt die Zuschrift eines Lehrers ab. Er berichtete über seine Bestrafung eines Schülers, der in Abwesenheit des Lehrers seinen Ranzen aus dem Fenster geworfen hatte und später, als er aufgrund des fehlenden Materials nicht mitarbeiten konnte, laut über Bauchschmerzen geklagt hatte. Davon ausgehend, dass der Schüler simuliere, und mit dem Gedanken: „Jetzt gilt’s, entweder du bist hier der Lehrer – oder du hast für alle Zeiten ausgespielt, bist eine Jammerfigur und kannst diesen Kindern nichts mehr beibringen“, schlug der Lehrer den „herzergreifend“ jammernden und sich nach dem ersten Schlag auf den Boden windenden Schüler mehrfach.185 Zur Reaktion des Schülers bei späteren Begegnungen berichtete der Verfasser abschließend: „Und sehe: Den ich so schwer verprügelt hatte, wie 182 183 184
185
Bungardt: Thema, S. 238. Andreas: Auswirkungen, S. 32. Dort auch das folgende Zitat. Berliner Verband der Lehrer und Erzieher: Die Berliner Lehrerschaft erwartet endlich Schutz durch den Senat, Berliner Lehrerzeitung v. 15.12.1955, abgedruckt in: Wirtschaft und Recht 5 (1955), Heft 3, S. 18. R. K.: Ein Simulant wird bestraft, in: Wirtschaft und Recht (Beilage zur ADLZ) 5 (1955), S. 18.
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noch keinen anderen Schüler, der grüßte immer freundlich und mit Hochachtung. Die anderen aber grinsten und brachten nicht die Mütze vom Kopf.“ Dass die Rechtsschutzabteilung diese ursprünglich in der Neuen Deutschen Schule (der Zeitschrift des GEW-Landesverbands Nordrhein-Westfalen) erschienene Zuschrift kommentarlos abdruckte, impliziert zumindest eine gewisse Billigung des Handelns dieses Lehrers. In einem anderen Fall bescheinigte Peetz einem Lehrer, der einen sich einer Anweisung widersetzenden Schüler aus Sorge vor möglichen rechtlichen Folgen nicht geschlagen, sondern nach Hause geschickt hatte, er habe aus Sicht des Rechtsschutzes richtig gehandelt – aber: „Pädagogisch wirksamer wäre wahrscheinlich eine kleine körperliche Züchtigung gewesen.“186 In dieser Atmosphäre flammte auch die Kritik an den inzwischen bereits über rund Jahre bestehenden Verboten körperlicher Strafen in Berlin und Hessen wieder auf: Der „Berliner Verband der Lehrer und Erzieher“ startete 1955 anlässlich der Verurteilung eines Lehrers zu 30 Mark Geldstrafe wegen einer einzelnen Ohrfeige eine Anzeigenkampagne in der Presse, in der der Fall geschildert und Eltern zur Stellungnahme aufgefordert wurden. Die Resonanz bewertete er als großen Erfolg: Die Kampagne habe eine nachhaltige Diskussion über Disziplinarschwierigkeiten an Berliner Schulen ausgelöst, die gezeigt habe, dass „die Berliner Öffentlichkeit den Schwierigkeiten, die der Lehrerschaft in ihrer täglichen Berufsarbeit erwachsen, weitgehendes Verständnis entgegenbringt und durchaus nicht bereit ist, die Berechtigung sachfremder juristischer Konstruktionen anzuerkennen.“187 Von den ca. 2.000 eingegangenen Zuschriften hätten 83 % körperliche Strafen als Erziehungsmittel im Allgemeinen abgelehnt, aber in Einzelfällen für gerechtfertigt erklärt, 13 % sich für ihr „unumschränkte Wiedereinführung“ ausgesprochen und nur 2 % sie „in jedem Falle und jeder Form“ abgelehnt.188 Bemerkenswert ist, dass zu den vom Berliner Lehrerverein verzeichneten Erfolgen nicht nur die Einstellung von Verfahren gegen schlagende Erzieher ge186 187
188
P[eter] P[eetz]: Körperliche Züchtigung in der Schule, in: Wirtschaft und Recht (Beilage zur ADLZ) 5 (1955), S. 67. E. Fr.: Eine Ohrfeige . . . und ihr Erfolg, in: Wirtschaft und Recht (Beilage zur ADLZ) 6 (1956), S. 3–4. Obwohl die Kampagne vor allem auf die Lokalpresse ausgerichtet war, zeigte sie auch überregionale Wirkung: So berichtete etwa der Spiegel ausführlich über den zugrunde liegenden Fall, die Initiative des Berliner Lehrerverbands und die Reaktionen des Westberliner Kultursenats (Mein Bruder ist Boxer, in: Der Spiegel 23 (1955), S. 39–40). Auch wenn das Magazin dabei nicht direkt Stellung bezog, ist auffällig, dass zum Einstieg in den Artikel der Züchtigungsvorfall und seine Vorgeschichte aus der Sicht des Lehrers geschildert wurde, während vorherige Reportagen über einzelne Züchtigungsfälle von der Perspektive der geschlagenen Kinder bzw. der Ankläger ausgegangen waren (vgl. Machen Sie was, in: Der Spiegel 40 (1953), S. 12–14; Den Staatsanwalt bemüht, in: Der Spiegel 4 (1951), S. 24). E. Fr.: Eine Ohrfeige . . . und ihr Erfolg, in: Wirtschaft und Recht (Beilage zur ADLZ) 6 (1956), S. 4.
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hörte, sondern auch die Tatsache, dass sich das Abgeordnetenhaus daraufhin mit der Verbesserung der Schulbedingungen beschäftigt und der Landeselternausschuss eine bessere Lehrerbesoldung gefordert habe. Ganz ähnlich wie schon in den 1920er Jahren wurde die Thematik körperlicher Strafen also bewusst genutzt, um zentrale standespolitische Forderungen der Lehrerschaft vorzubringen und ihnen Nachdruck zu verleihen. Die Ablehnung eines absoluten Züchtigungsverbots war auch durch die verbreitete Enttäuschung über die nur langsam voranschreitende Verbesserung der Unterrichtsbedingungen und die fehlende Einlösung versprochener Reformen mitverursacht: So beklagte etwa der GEW-Kreisverband Gießen-Stadt 1957 den „erbarmungswürdigen Zustand“ der hessischen Schulen:189 Noch immer überschritten 43,3 % der Klassen die „pädagogisch vertretbare“ Zahl von 40 Schülern, wobei sich dieser Anteil gegenüber dem Vorjahr kaum reduziert habe. Die Zahl der Klassen mit mehr als 60 Schülern sei sogar angestiegen auf nun 138. Während hier die Möglichkeit, dass „die Lehrerschaft sich gezwungen sieht, zur Selbsthilfe zu greifen und sich den für Massenunterricht bewährten autoritativen Methoden wieder zuwendet“, nur als zu vermeidende Gefahr angesprochen wurde, forderten andere Kreisverbände die Aufhebung der „die Strafgewalt des Lehrers in unzumutbarer Weise einschränkenden Erlasse“.190 Dass „so gut wie alle Lehrer hin und wieder“ gegen das Verbot verstießen, galt als Beleg für dessen Undurchführbarkeit. Auch hier zeigen sich hinter der auf die Rahmenbedingungen bezogenen Argumentation traditionelle Vorstellungen von der Möglichkeit körperlichen Strafens als notwendigem Teil der Erzieherrolle (so hieß es etwa, „daß dem Erzieher die Strafgewalt gar nicht entzogen werden könne, da sie ihm von Natur aus gegeben sei“). Auch beim hessischen Kultusministerium gingen, nachdem die Proteste gegen das 1949 wiederholte Verbot zwischenzeitlich abgeflaut waren, ab 1954 wieder zahlreiche Zuschriften von einzelnen Bürgern, Eltern- und Lehrervertretern ein, die eine Wiedereinführung des Züchtigungsrechts forderten.191 Selbst innerhalb des Ministeriums gab es 1956 Überlegungen, in bestimmten Fällen „massvolle körperliche Züchtigung um der Autorität der Schule und der Sicherheit der Schüler willen zu[zu]lassen“ – und zwar als Strafe für „Rohheitsdelikte der Schüler und tätliche oder sonstige Beleidigungen der Lehrer“ sowie für „offene Wi189 190
191
Appell der GEW Gießen-Stadt an die Hessische Landesregierung, in: Hessische Lehrerzeitung 10 (1957), S. 39–40. Kreislehrertag und Jahreshauptversammlung in Heppenheim, in: Hessische Lehrerzeitung 10 (1957), S. 40–41 (dieses und die folgenden Zitate S. 41). Vgl. auch S. T.: Jahreshauptversammlung der GEW-Darmstadt-Land, ebd., S. 38–39. In HHStAW 504, 3384 finden sich für diesen Zeitraum neun Zuschriften mit Protest gegen den Erlass, dagegen nur zwei, die körperliche Strafen ablehnten (darunter ein Vater, der der ein Züchtigungsrecht fordernden Resolution seines örtlichen Elternbeirats widersprach, vgl. G. B. an MEV, 20.3.1956).
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dersetzlichkeit vor den Klassen“.192 Der zuständige Ministerialdirektor verwarf diesen Vorschlag zwar mit Hinblick auf seine praktische Umsetzbarkeit und auf seine rückschrittlich erscheinende Außenwirkung. Er gab „allerdings zu, daß die Formulierung des Erlasses vom 13.5.46 nur aus der damaligen politischen und gesellschaftlichen Lage zu verstehen ist“.193 Angesichts der Tatsache, dass 1956/57 sogar bereits bestehende Verbote infrage gestellt wurden, erstaunt es nicht, dass auch die ein Jahr zuvor begonnenen bayerischen Überlegungen einer Abschaffung schnell im Sande verliefen: Der aus Elternvertretern, Lehrern aller Schularten, Gewerkschaftsvertretern und Pädagogen bestehende Landesschulbeirat befasste sich tatsächlich ausgiebig mit der Frage, entschied sich im September 1956 aber mit 17 zu 8 Stimmen gegen eine Aufhebung der Züchtigungserlaubnis.194 Bei einer Besprechung des Themas im Schulausschuss der Kultusministerkonferenz wurde deutlich, dass auch in anderen Bundesländern das große Bedürfnis der Lehrerschaft nach Rechtssicherheit und „Schutz“ angesichts schulischer Disziplinschwierigkeiten deutlich wahrgenommen wurde. Aus Bremen hieß es sogar ausdrücklich, dass die Schulverwaltung körperliche Strafen verbieten wolle, dies aber auf Widerstand der Lehrerschaft stoße.195 Die juristische Kritik am BGH-Urteil von 1954
Nicht nur bei Lehrern war das Urteil des Bundesgerichtshofs durchgängig auf Ablehnung gestoßen, auch innerhalb der Rechtswissenschaft stand den bereits 192 193
194
195
Stellungnahme des Ref. II/2 zu dem Erlassentwurf vom Juni 1956, HHStAW 504, 4210, Bl. 88. Kluge: Vermerk, 7.9.1956, HHStAW 504, 4210. Wie sehr sich diese Lage verändert hatte, zeigt sich auch daran, dass erst jetzt Gegner des Verbots die Annahme äußerten, dass es auf Druck der amerikanischen Besatzungsmacht zustande gekommen sei (vgl. Andreas: Auswirkungen, S. 32; Verband der Hessischen Volksschullehrer und -lehrerinnen an MEV, 16.2.1957, HHStAW 504, 3384, sowie die Zurückweisung entsprechender Behauptungen in Schramm: Verbot, S. 545). Ein starkes von deutscher Seite ausgehendes Bedürfnis, durch die Abschaffung von Körperstrafen die Priorität von Demokratie, Menschenwürde und Freiheit als Erziehungsidealen zu betonen, erschien in den 1950er Jahren offensichtlich in dem Maß nicht mehr vorstellbar, in dem die Abgrenzung von der nationalsozialistischen Vergangenheit mit zunehmendem zeitlichen Abstand in den Hintergrund getreten war. Vgl. Niederschrift über die 5. Sitzung des LSB am 12.9.1956, BayHStA MK 61941. Die stattdessen empfohlenen Maßnahmen, die den freiwilligen Verzicht auf körperliche Strafen ermöglichen sollten – etwa Senkung der Klassengröße auf maximal 35 Schüler, die Einrichtung von Erziehungsförderklassen, die Ermöglichung alternativer Strafen (z. B. zeitweiser Schulausschluss oder schriftlicher Tadel an die Eltern) und Fortbildungen sowie Elterngespräche zum Thema – wurden im Ministerium größtenteils als entweder aus finanziellen oder praktischen Gründen nicht umsetzbar oder wenig erfolgversprechend bewertet. Vgl. verschiedene Entwürfe und Stellungnahmen in BayHStA MK 61941. Auszug aus der Niederschrift über die 44. Sitzung des Schulausschusses der Ständigen Konferenz der Kultusminister am 31.1./1.2.1957, BayHStA MK 61941.
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zitierten positiven Kommentaren196 starke Kritik gegenüber. Dass Oskar Redelberger in der Neuen Juristischen Wochenschrift das Urteil ablehnte und die Grundsatzerwägungen des Bundesgerichtshofs als unzulässige gerichtliche Einmischung in eine rein pädagogische Frage zurückwies, ist angesichts seiner Tätigkeit als Justiziar eines Lehrerverbands nicht erstaunlich.197 Aber auch für Max Kohlhaas, Oberstaatsanwalt am Bundesgerichtshof, war das Urteil zurecht „viel gescholten“, denn es habe „verheerende Folgen“ gehabt: „Unsicherheiten in Lehrerkreisen, Kritik bei Eltern, sogar bei wohlgesinnten Oberstufenschülern“ und – durch den als beleidigend empfundenen Vergleich mit Militär und Gefängnis – Verärgerung bei Lehrern.198 Entscheidender als die Kritik in der Literatur war aber, dass auch viele Gerichte der vom obersten Gerichtshof eingenommenen Position nicht folgen wollten: Im Januar 1956 bestätigte das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht den Freispruch einer Lehrerin, die Schüler und Schülerinnen der zweiten Klasse mit dem Rohrstock auf Handflächen, Hintern und Arme geschlagen hatte – und widersprach dabei nahezu allen Aussagen des BGH-Urteils: Zunächst einmal bekannte sich das Gericht zur traditionellen „Rechtsauffassung, daß aus dem Recht und der Pflicht des Volksschullehrers zur Erziehung die Berechtigung zur körperlichen Züchtigung von Kindern unmittelbar folgt“.199 Die Ausführungen des fünften Strafsenats zum Abbau körperlicher Strafen in anderen Bereichen konterte es mit dem Argument, dass die „Prügelstrafe“ gegen Erwachsene gerade deshalb demütigend wirke, weil sie den Bestraften „wie ein unmündiges Kind behandelt“ (und weil sie historisch als Strafe des Unfreien gelte) und somit nicht mit Schlägen in der Schule vergleichbar sei. Von einer veränderten Rechtsüberzeugung und -gewohnheit könne noch nicht die Rede sein, denn „selbst die pädagogische Wissenschaft und Praxis vertreten in dieser Frage keine einheitliche Auffassung, noch weniger die Eltern“. Auch die Strafanlässe spielten eine Rolle für das Urteil: In einem Fall hatte die Lehrerin einen Jungen mit dem Stock auf den Arm geschlagen, weil er während eines Diktats wiederholt verbotenerweise mit seinem Hintermann geredet hatte. Im anderen Fall war „eine zur Widersetzlichkeit neigende Schülerin“ nicht wie üblich zum Abschiedsgruß aufgestanden, woraufhin die Lehrerin ihr Schläge auf die offene Handfläche geben wollte. Da das Kind sich jedoch wehrte, schlug die Lehrerin es schließlich im Stehen mehrmals auf den Hintern, „um sich der Widersetzlichkeit des Kindes nicht fügen zu müssen“. Hieraus folgerte die 196 197 198 199
Vgl. neben den bereits genannten (Bader: Anmerkung, und Mielke: Schlagen) auch Kopp: Urteil. Vgl. Redelberger: Züchtigungsrecht (1955). Max Kohlhaas: Das Züchtigungsrecht des Lehrers und Heimleiters, in: Unsere Jugend 7 (1955), S. 541–547. OLG Schleswig-Holstein: Urteil v. 25.1.1956 – 1 Ss 395/55, in: Juristenzeitung 12 (1957), S. 450–451, dieses und die folgenden Zitate S. 451.
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Staatsanwaltschaft, sich auf die Unterscheidung des BGH stützend, dass die Lehrerin nur zur Aufrechterhaltung der Schulzucht und nicht zu erzieherischen Zwecken geschlagen habe. Diesen Einwand wies das Oberlandesgericht mit dem knappen Hinweis zurück, „daß in den vorliegenden Fällen die Aufrechterhaltung der Ordnung gerade aus erzieherischen Gründen dringend geboten war“ – und offenbarte damit ein Erziehungsverständnis, das Gehorsam und Einfügen in eine Ordnung eine so hohe Priorität zuwies, dass Gewalt zum Erreichen dieser Ziele legitimiert schien. Wenige Monate nach dem schleswig-holsteinischen widersprach ein weiteres Oberlandesgericht ausdrücklich dem BGH und bekannte sich zur Annahme eines weiterhin geltenden Züchtigungsrechts.200 Auch auf niederer Ebene gab es 1956 und 1957 mehrere Urteile, die, auch wenn sie dem Bundesgerichtshof nicht ausdrücklich widersprachen, doch klar eine entgegengesetzte Tendenz aufwiesen. Besonders bemerkenswert sind die Urteile, die die Landgerichte Darmstadt und Braunschweig in zwei aufsehenerregenden Fällen aussprachen: In Darmstadt stand ein Lehrer vor Gericht, der wiederholt Schüler geohrfeigt hatte – darunter einen Jungen, der (dem Lehrer unbekannterweise) an einem Hirntumor litt, kurz nach dem Schlag eine Verschlimmerung seiner Symptome erlitt und wenig später verstarb.201 Auch wenn ein ursächlicher Zusammenhang mit den Schlägen ausgeschlossen wurde, verstärkte das traurige Schicksal des Schülers das öffentliche Interesse an dem Fall. Auch der vom Landgericht Braunschweig entschiedene „Harzburger Fall“ hatte ein großes Medienecho ausgelöst: Zeitungen und Illustrierte hatten von brutalen und erniedrigenden Strafpraktiken des angeklagten Lehrers berichtet, etwa, dass er einen Schüler gefesselt, durch die Turnhalle geschleift und mit einem Seil geschlagen habe, Schüler gezwungen habe, über längere Zeit einen Stuhl in die Luft zu halten oder ihnen demütigende Schilder um den Hals gehängt habe.202 Die meisten dieser Vorwürfe konnten im Prozess allerdings nicht oder nur in sehr abgeschwächter Form bewiesen werden. In beiden Fällen sorgte das große Medieninteresse dafür, dass auch den Urteilsbegründungen besondere Aufmerksamkeit und damit Bedeutung zukam. Angesichts dessen ist es bemerkenswert, dass diese sich passagenweise lesen, als seien sie direkt einer Lehrerzeitschrift entnommen (und es ist kein Zufall, dass sie wiederum in einer solchen abgedruckt wurden): So resümierte das Darmstädter Gericht, die Verhandlung habe gezeigt, dass Lehrer ernsthaft gewillt seien, ohne 200
201 202
Vgl. OLG Hamm: Urteil v. 24.7.1956 – 1 Ss 640/56, in: Juristenzeitung 12 (1957), S. 452– 453. Vgl. dagegen als Beispiel für ein der Linie des 5. BGH-Strafsenats folgendes Urteil: OLG Stuttgart: Urteil v. 17.5.1957, 2 Ss 799/56, in: BayHStA MK 61941. Vgl. Vierzehn Schüler mißhandelt?, in: FAZ v. 16.3.1956. Vgl. A. O.: Freispruch im Harzburger Fall, in: Wirtschaft und Recht (Beilage zur ADLZ) 7 (1957), S. 25–26; Erneuter Streit um das Züchtigungsrecht, in: FAZ Nr. 38 v. 14.2.1956, S. 3.
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Schläge zu erziehen, aber dass angesichts überfüllter Klassen und einzelner zu Hause schlecht erzogener Schüler „der völlige Verzicht auf körperliche Erziehungsmittel bei gleichzeitig bestmöglicher Erziehung der Schüler zwei Ideale sind, die zur Zeit jedenfalls noch nicht beide zugleich verwirklicht werden können“.203 Angesichts dieser Problematik bedauerte das Gericht „die heute allzu beliebte und allzu schnelle Verdammung des Züchtigungsrechts des Lehrers am entschiedensten von denen, die keinerlei praktische Unterrichtserfahrung an einer Volksschule haben“ und ging sogar so weit, der Gefahr von gesundheitlichen Folgen von Schlägen die „Gesundheitsschäden bei den Lehrern, wenn man ihnen das Züchtigungsrecht nimmt“ und somit „Überforderung und Zermürbung“ auslöse, gegenüberzustellen.204 Sowohl das Darmstädter als auch das Braunschweiger Urteil betonten, dass es nicht Aufgabe des Gerichts sei, die pädagogische Angemessenheit einer Züchtigung zu überprüfen, sondern diese vielmehr dem Ermessen des Lehrers überlassen bleiben müsse. Und doch argumentierte das LG Braunschweig mit einem ganz bestimmten Erziehungsverständnis, nämlich der uns altbekannten Vorstellung von Lehrerautorität als Nullsummenspiel, wenn es ausführte: „Setzt er sich aber schon wegen jeder pädagogisch nicht richtig gewählten [. . . ] Züchtigung einer strafrechtlichen Ahndung aus, so würde damit eine völlige Entmachtung des Lehrers eintreten, die nicht im Interesse der Erziehung des jungen heranwachsenden Menschen liegen kann.“205 5.3.3 Das BGH-Urteil von 1957
Die zuletzt angeführten Gerichtsurteile zeigten, wie umstritten die vom fünften BGH-Strafsenat 1954 vorgegebene Richtung in der Rechtsprechung war. Somit hatte es entscheidende Bedeutung, als im Oktober 1957 ein anderer, nämlich der zweite, Strafsenat des BGH über die Revision der Staatsanwaltschaft gegen den Freispruch im vorgestellten Darmstädter Urteil zu entscheiden hatte: Würden die Richter trotz des Widerspruchs niederer Instanzen den von ihren Kollegen drei Jahre zuvor eingeschlagenen Weg fortsetzen? Sie taten es nicht – und mehr noch: Sie leiteten eine 180-Grad-Wende ein. Das einzige, worin der zweite Strafsenat dem vorherigen Urteil zustimmte, war, dass die Einschränkung körperlicher Strafen in Verwaltungsverordnungen nicht strafrechtlich relevant sei. Es handle sich beim Züchtigungsrecht um ein Ge203 204 205
Jugendschutzkammer LG Darmstadt: Urteil v. 17.3.1956, in: Wirtschaft und Recht (Beilage zur Hessischen Lehrerzeitung) 1956, S. 279–282, Zitat S. 281. Ebd., S. 280. LG Braunschweig: Urteil v. 12.2.1957, Az. 14 KMS 4/56 [auszugsweise], in: Wirtschaft und Recht (Beilage zur ADLZ) 7 (1957), S. 26–28, Zitat S. 28.
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wohnheitsrecht, das heißt ein durch langjährige Übung gebildetes Recht, das lediglich durch Gesetz oder aber durch entgegenstehendes Gewohnheitsrecht eingeschränkt werden könne. Ein solches neues, körperliche Schulstrafen ausschließendes Gewohnheitsrecht habe sich aber noch nicht gebildet. Der zweite Strafsenat widersprach dabei ausdrücklich der Argumentation des vorherigen Urteils, dass angesichts des kontinuierlichen Abbaus körperlicher Strafen in anderen Bereichen ihre Akzeptanz in der Schule nicht mehr durch Tradition gerechtfertigt werden könne: Schließlich seien die 1954 angeführten Beispiele nicht mit Erziehungsstrafen vergleichbar, abgesehen von der Aufhebung des Züchtigungsrechts gegenüber Lehrlingen – aber diese beziehe sich auf Jugendliche jenseits des Volksschulalters. In Bezug auf Schulstrafen sei es dagegen bisher zu keiner „einmütigen oder wenigstens überwiegenden Ablehnung der Züchtigungsbefugnis des Lehrers gekommen“.206 Der Senat belegte dies damit, dass sich im vorliegenden Fall bei einer vom Angeklagten im Schuljahr 1953/54 organisierten Elternversammlung 80 % der anwesenden Eltern mit einer körperlichen Bestrafung ihrer Kinder einverstanden erklärt hätten. Umstritten seien Körperstrafen auch „unter den Pädagogen“, mit denen hier allerdings wohl nicht Vertreter der theoretischen Wissenschaft, sondern die praktischen Erzieher gemeint waren, denn das Gericht erläuterte diese Aussage mit den Worten: „Sehr viele Lehrer, wenn nicht sogar die überwiegende Mehrheit, [. . . ] halten es aufgrund ihrer täglichen Erfahrung für wirklichkeitsfremd, heutzutage ohne ernsthafte Gefährdung der Erziehungsaufgabe gegenüber allen Schülern im volksschulpflichtigen Alter gänzlich ohne körperliche Züchtigung auskommen zu wollen.“207 Es sei falsch, wenn das Gericht in diesen „im Fluß befindlichen pädagogischen Streit um die Notwendigkeit, Zweckmäßigkeit und Eignung der Züchtigung für die Erziehung der Schüler“ eingreife und einer bestimmten Seite „mit dem Mittel der strafrechtlichen Ahndung – ohne Rechtsgrundlage – zum Sieg verhelfe“.208 Dass diese vermeintliche Neutralität angesichts der Signalwirkung, die von diesem Urteil gegenüber Öffentlichkeit und Lehrern ausgehen musste, eben doch eine pädagogische Positionierung war, reflektierte der Bundesgerichtshof nicht.209
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BGH, 2. Strafsenat: Urteil vom 23.10.1957, in: BGHSt Bd. 11, S. 241–263, S. 254. Ebd., S. 255. Ebd., S. 257. Vgl. für eine Charakterisierung des in diesem und anderen BGH-Urteilen zum Ausdruck kommenden Erziehungsverständnisses Blum: Ohrfeige: Er beschreibt es unter anderem als „rein technischer und instrumenteller Natur und auf ein als allgemein verstandenes Sittlichkeitsbewusstsein bzw. Sittengesetz ausgerichtet, für das ein ungehorsames Kind nicht tolerierbar ist“ (S. 231). Die Wirksamkeit körperlicher Strafen auf die Gesinnung des Kindes werde „unhinterfragt vorausgesetzt“, sodass im Falle eines Scheiterns nicht das Hinterfragen der Strafe als Erziehungsmittel, sondern nur deren Steigerung in Betracht gezogen werde.
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In der Perspektive der Züchtigungsgegner und auch des fünften BGHStrafsenats war die Legitimität körperlicher Strafen aber nicht nur eine im engeren Sinn pädagogische, sondern vor allem eine gesellschaftlich-politische und ethische Frage. Auf dieser Ebene musste der Bundesgerichtshof 1957 erstmals ausdrücklich zu zwei von der Staatsanwaltschaft zur Begründung ihrer Revision angeführten Argumenten Stellung nehmen. Das erste stammte vom ehemaligem hessischen Kultusminister Erwin Stein, der in seinem Kommentar zur hessischen Verfassung davon ausging, dass deren Erziehungsziel „den jungen Menschen zur sittlichen Persönlichkeit zu bilden, seine berufliche Tüchtigkeit und die politische Verantwortung vorzubereiten zum selbständigen und verantwortlichen Dienst am Volk und der Menschheit durch Ehrfurcht und Nächstenliebe, Achtung und Duldsamkeit, Rechtlichkeit und Wahrhaftigkeit“ körperliche Schulstrafen ausschließe. Der Bundesgerichtshof widersprach mit dem Hinweis, dass diese Ziele seit dem späten 18. Jahrhundert in der Erziehung verfolgt würden und man mit ihnen „bis in die jüngste Vergangenheit hinein eine maßvolle körperliche Züchtigung für durchaus vereinbar gefunden“ habe.210 Das zweite sich auf Werte berufende Argument der Staatsanwaltschaft war, dass eine Bestrafung durch Stockschläge auf die innere Handfläche „das natürliche Selbstwertgefühl des Schülers und damit die menschliche Würde verletze, insbesondere wenn sie vor versammelter Klasse ausgeführt werde“ und somit gegen Artikel 1 des Grundgesetzes verstoße.211 Der Bundesgerichtshof wies diese Auffassung zurück: „Das Urteil darüber, was der Würde des Menschen entspricht, wird durch die fortschreitende Erkenntnis der sittlichen Werte und der aus ihnen sich ergebenden Grundsätze für das menschliche Handeln bestimmt.“ Da bisher die „in der Rechtsgemeinschaft herrschenden sittlichen Anschauungen“ (maßvolle) körperliche Strafen als legitim und „in Recht und Pflicht zur Erziehung begründet“ angesehen hätten, könnten sie demnach auch nicht als Verstoß gegen die Menschenwürde gelten.212 Die „herrschenden sittlichen Anschauungen“ waren auch bei der Definition des Züchtigungsrechts als Gewohnheitsrecht der zentrale Bewertungsmaßstab des Urteils. Entscheidend ist dabei der bewahrende Charakter der Herleitung durch das Gewohnheitsrecht: Dieses konnte – solange es keine gesetzliche Regelung gab – nur durch neues Gewohnheitsrecht beseitigt werden, also durch eine, in den Worten des BGH, „herrschende sittliche Anschauung“, dass körperliche Strafen illegitim seien. Solange jedoch diese neue Anschauung noch nicht als „herrschend“ zu beschreiben war, sondern die Frage umstritten blieb, so lange gab diese rechtliche Konstruktion der traditionellen Ansicht den Vorzug. So zentral für die Entscheidung von 1954 das Konzept von Fortschritt und Verän210 211 212
BGHSt Bd. 11, S. 251. Ebd., S. 244. Ebd., S. 249.
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derung war, indem der fünfte Strafsenat einen gesellschaftlichen Wandel der Einstellungen zu Körperstrafen diagnostiziert hatte, dem er gerecht werden und den er weiter vorantreiben wollte, so zentral war 1957 die Tradition. Während das Urteil von 1954 zumindest in der Bewertung eines Kommentators (inwieweit diese den tatsächlichen Intentionen der Bundesrichter entsprach, sei dahingestellt) „den berufsmäßigen Erziehern vor Augen [hielt], was Erziehung ist und was nicht“, und damit „selbst ein wichtiges Stück Erziehungsarbeit im Hinblick auf den Kulturstand unserer Zeit“ leistete,213 suchte das von 1957 stattdessen die bisherigen Rechte der Lehrerschaft zu bewahren. Durch dieses Bewahren der Tradition war der Strafsenat weitgehend zur seit dem Kaiserreich üblichen strafrechtlichen Begründung des Züchtigungsrechts zurückgekehrt, wenn auch gewissermaßen auf einem Umweg:214 Während das Reichsgericht den Zusammenhang von Erziehungsaufgabe und Züchtigungsrecht als selbstverständlich angenommen hatte, war er für den Bundesgerichtshof deshalb anzuerkennen, weil er vom Großteil der „Rechtsgemeinschaft“ als selbstverständlich gesehen wurde. Faktisch war dies freilich kein großer Unterschied, und so reichte die vom BGH zugestandene Züchtigungsbefugnis ähnlich weit wie die des Reichsgerichts: So konnten laut dem Urteil „Frechheiten, Ungehorsam und vorsätzliche Störungen des Unterrichts“ hinreichende Anlässe für Körperstrafen sein – eine Grenzziehung, die deutlich über die im vorherigen BGH-Urteil zugestandenen „seltenen Ausnahmefälle“ und die ähnlichen Formulierungen in den Ministerialerlassen der meisten Bundesländer hinausging.215 Die bereits vor 1957 von verschiedenen Gerichten begonnene und vom zweiten BGH-Strafsenat fortgeführte Abkehr von der züchtigungskritischen Richtung des Urteils von 1954 wurde zwei Jahre später endgültig bestätigt: 1959 gab auch der fünfte Strafsenat seine eigenen fünf Jahre zuvor geäußerten Bedenken auf und schloss sich der Position seiner Kollegen an.216 In der juristischen Literatur gab es durchaus weiterhin Stimmen, die das Züchtigungsrecht ablehnten – das vielleicht prominenteste Beispiel ist der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der sich Anfang der 1960er Jahre genauso scharf gegen körperliche Strafen 213 214
215
216
Bader: Anmerkung, S. 756. Mit den beiden BGH-Urteilen der 1950er Jahre gerieten auch alternative Herleitungsmöglichkeiten endgültig in den Hintergrund der juristischen Debatte. Dies gilt insbesondere für die (schon zuvor von den meisten Autoren höchstens in besonderen Einzelfällen anerkannte) Annahme einer Übertragung des elterlichen Züchtigungsrechts (vgl. Kohlhaas: Mißhandlung, S. 540; Schumacher: Bedeutung, S. 131–140; Bohnes: Züchtigungsrecht, S. 139–145) und für die im Urteil von 1954 ausdrücklich abgelehnte verwaltungsrechtliche Herleitung aus der Anstaltsgewalt bzw. einem besonderen Gewaltverhältnis der Schule (vgl. Stettner: Problematik, S. 43–47; Kuhn: Grundrechte, S. 159–184 und S. 218 f.). BGHSt Bd. 11, S. 251. Dass Körperstrafen für den zweiten Strafsenat „weder die schwerste noch die ‚letzte‘ Strafe“ waren, weil beispielsweise die Versetzung in eine andere Klasse für die Schüler viel schwerwiegender sei, ist nur eine folgerichtige Konsequenz. Vgl. Urteil v. 10.3.1959, 5 StR 386/57, abgedruckt in: Recht der Jugend 7 (1959), S. 302–303.
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als Erziehungsmittel wie gegen ihre rechtliche Zulässigkeit aussprach.217 Seine Position, dass Körperstrafen einen Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit darstellten, der nur durch ein förmliches Gesetz legitimierbar wäre, war bereits einige Jahre zuvor vom Grundgesetzkommentator Günter Dürig vertreten worden.218 Zwei 1958 erschienene juristische Dissertationen gestanden Lehrern zwar (ähnlich wie der BGH 1954) in seltenen Ausnahmefällen ein Gewohnheitsrecht auf Züchtigung zu, griffen aber sehr stark den züchtigungskritischen pädagogisch-wissenschaftlichen Diskurs zum Thema auf.219 All diese Stimmen konnten sich jedoch nicht durchsetzen, die „herrschende Meinung“, wie sie in Gesetzeskommentaren und in der Rechtsprechung zum Ausdruck kam, bejahte nach dem BGH-Urteil von 1957 ein Züchtigungsrecht der Lehrer.220 5.3.4 Eine Kehrtwende auch außerhalb der Rechtsprechung?
Bis zur Mitte der 1950er Jahre lag die Annahme nahe, dass körperliche Schulstrafen zumindest auf der normativ-rechtlichen Ebene „im Aussterben begriffen“ seien, wie es ein Leiter eines Jugendheims 1955 formulierte:221 Die meisten Stellungnahmen in pädagogischen Zeitschriften waren geprägt von einer Ablehnung körperlicher Strafen, die auf einer Mischung aus Abkehr von den Gewalterfahrungen der NS-Vergangenheit, demonstrativer Betonung von Demokratie und Menschenwürde und dem Aufgreifen psychologisch-pädagogischer Traditionen beruhte. In einigen Bundesländern waren körperliche Strafen bereits vollkommen untersagt, in anderen herrschten starke Einschränkungen und selbst im als kultuspolitisch konservativ geltenden Bayern war ein vollständiges Verbot nur mit sehr knapper Landtagsmehrheit gescheitert. Als 1954 der Bundesgerichtshof das Züchtigungsrecht der Lehrer grundsätzlich infrage stellte, musste es zumindest möglich erscheinen, dass in absehbarer Zukunft Schläge durch Lehrer immer als strafbare Körperverletzung verfolgt werden würden, was wahrschein-
217 218 219 220
221
Bauer: Züchtigung. Maunz/Dürig: Art. 2 Abs. II Rdn. 42–48. Gleicher Ansicht war auch Stettner: Problematik, S. 9–13. Vgl. Bohnes: Züchtigungsrecht; Kaiser: Züchtigungsrecht. Vgl. die Kommentare Schwarz, 22. Aufl. v. 1959; Schönke-Schröder, 9. Aufl. von 1959; außerdem: Kohlhaas: Recht; Eberhard Schmidt: Bemerkungen zur Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Frage des Züchtigungsrechtes der Lehrer, in: Juristenzeitung 14 (1959), S. 518–522. Kienapfel argumentierte sogar, dass die von ihm als „in Einzelfällen für pädagogisch wertvoll und rechtlich zulässig“ gehaltene körperliche Züchtigung wegen ihrer „sozialen Adäquanz“ gar nicht unter den Tatbestand der Körperverletzung falle (Züchtigung, S. 3). Wilhelm Patzschke: Über die Disziplin, in: Die Sammlung 10 (1955), S. 405–420, Zitat S. 419.
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lich schnell zum vollständigen Ende jeglicher Züchtigungserlaubnis geführt hätte. Doch gegen Ende des Jahrzehnts sah das Bild ganz anders aus: Durch die BGH-Entscheidung von 1957 war aus strafrechtlicher Perspektive das Züchtigungsrecht wieder ähnlich selbstverständlich akzeptiert wie zu Zeiten des Reichsgerichts – in gewissem Sinn sogar in noch weiterem Ausmaß, da den einschränkenden Ministerialerlassen nun keine Verbindlichkeit mehr zugemessen wurde. In der Lehrerschaft sprachen sich selbst diejenigen, die körperliche Strafen grundsätzlich kritisch bewerteten, vehement gegen deren vollständige Abschaffung aus. Die Bundesländer, die Körperstrafen in den 1940ern verboten hatten, hatten nun Schwierigkeiten, diese Erlasse gegen Kritik aus Lehrerschaft und Öffentlichkeit zu verteidigen. In den anderen Ländern war an eine weitere Zurückdrängung des Züchtigungsrechts angesichts dieser Atmosphäre kaum zu denken. 1959 meinte ein Lehrer sogar, eine weitere Beschränkung zu fordern, heiße „nun wahrlich das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen!“. Stattdessen seien die bestehenden Einschränkungen revisionsbedürftig angesichts der seit ihrem Erlass Ende der 1940er Jahre eingetretenen „Wandlungen der allgemeinen Auffassungen über die Erziehungssituation“.222 Wie lässt sich dieser Bruch erklären? Zunächst einmal ist er in Bezug auf die öffentliche Meinung zu relativieren. Auch in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre fanden sich noch zahlreiche Stimmen, die körperliche Schulstrafen radikal ablehnten: Bereits vor dem BGH-Urteil hatte 1957 beispielsweise die Welt am Sonntag einen Körperstrafen grundsätzlich ablehnenden Artikel veröffentlicht, der allerdings ein „überaus starkes Echo“ in Form von Leserbriefen von Eltern und Lehrern fand, die sich überwiegend für ein Lehrerzüchtigungsrecht aussprachen.223 Auch das Urteil selbst wurde in der Presse vielfach kritisch kommentiert:224 Dass es in der Frankfurter Rundschau, deren Leser sich schon um 1950 in großer Mehrheit gegen das Züchtigungsrecht geäußert hatten, stark kritisiert wurde, erstaunt wenig.225 Hier hatte bereits einige Monate zuvor ein 222 223
224
225
Wolff: Schuld, S. 211. Vgl. Gerhard Prause: Schule ohne Ohrfeigen, in: Welt am Sonntag 1957, Nr. 7; „Ohne Ohrfeigen geht es nicht“, ebd., Nr. 8, beide zitiert nach: Presse, Eltern und Lehrer zum Züchtigungsrecht, in: Wirtschaft und Recht (Beilage zur ADLZ) 7 (1957), S. 19 f. Vgl. neben den im Folgenden genannten Beispielen auch die Zusammenstellung von Karl Bungardt: „Lehrer dürfen wieder prügeln“ – Das Urteil des Bundesgerichtshofs im Spiegel der Presse, ADLZ 9 (1957), S. 414–416. Vgl. den Kommentar zum BGH-Urteil (Hans Henrich: Prügel in der Schule, in: FR Nr. 248 v. 25.10.1957, S. 3), der die Annahme eines Gewohnheitsrechts als Rückfall in veraltete Erziehungsstandards unter Ignorieren der „sozialen und pädagogischen Fortschritte“ in den letzten Jahrhunderten wertete, darauf hinwies, dass die Forderung nach Abschaffung körperlicher Strafen ursprünglich gerade von Lehrern ausgegangen sei, und außerdem auf die Außenwirkung des Urteils anspielte, das international als „Rückfall in die Barbarei“ gewertet werden könne. Eine Leserbriefschreiberin forderte als Konsequenz aus dem
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Kommentar zum Urteil im Harzburger Fall die „Einheitsfront von Solidarität und Selbstbemitleidung“ der als Zeugen oder Zuschauer am Prozess beteiligten Lehrer angegriffen: Diese hätten gar nicht gemerkt, „wie sehr sie ihrem Beruf damit schadeten, daß sie den Rohrstock sozusagen zum Symbol ihres Rechtes und ihrer Autorität erhoben“.226 Doch auch auf der konservativeren Seite Frankfurts enthielt sich die Frankfurter Allgemeine Zeitung zwar meist einer Bewertung, wenn sie über Urteile in Züchtigungsprozessen berichtete, druckte nach der BGH-Entscheidung von 1957 aber ohne Widerspruch einen Artikel des Konstanzer Südkuriers ab, der das Urteil unter anderem mit Verweis auf die Menschenwürde und auf die unklaren Grenzen des vom Strafsenat anerkannten Züchtigungsrechts ablehnte.227 In der kulturpolitischen Sendereihe „Zum Geist der Zeit“ des Hessischen Rundfunks sprach sich der Schriftsteller Rudolf Krämer-Badoni gegen körperliche Schulstrafen aus, verteidigte den hessischen Verbotserlass und schloss mit seiner persönlichen „Meinung, dass dieses Gewohnheitsrecht niemals bestanden hat, es hat lediglich die Gewohnheit des Schlagens bestanden. Aber Unrecht wird durch Gewohnheit nicht zu Recht.“228 Dass er gleichzeitig in der öffentlichen Reaktion auf das Urteil und auf die Tatsache von regelmäßigen Ohrfeigen in Schulen einen „Aufschrei, der die Grundrechte oder die Menschlichkeit bedroht gefunden hätte“, vermisste, verdeutlicht, dass absolute Züchtigungsgegner in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre zwar noch vorhanden, aber eben doch eher vereinzelt und in der öffentlichen Debatte weniger präsent als zuvor waren. Zahlenmäßig klar in der Minderheit waren sie auch laut einer Anfang 1960 durchgeführten Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach. Hier sprachen sich zwar nur 49 % der Befragten für eine Erlaubnis der „Prügelstrafe“ in den Schulen aus und immerhin 41 % dagegen, wobei in Teilgruppen – nämlich den 16- bis 29-Jährigen, den Großstädtern und den in Nord- und Westdeutschland Wohnenden – sogar die Zahl
226
227 228
Urteil ein gesetzliches Verbot körperlicher Strafen und ein verstärktes Durchsetzen der disziplinarischen Untersagung (Margarete Schmidt, „Prügel nicht strafbar“, in: FR Nr. 248 v. 25.10.1957, S. 2). C. H.: Den Rohrstock hoch!, in: FR Nr. 40 v. 16./17.2.1957, S. 3. Auf den Kommentar folgten allerdings zwei kritische Leserbriefe: Der Rektor des Angeklagten sandte eine Gegendarstellung, in der er die aus seiner Sicht verzerrte Berichterstattung über den Fall kritisierte und dem Lehrer bescheinigte, „kein Prügelpädagoge in dem Sinne, wie wir Erwachsenen auf Grund der Anklage das vorstellen“, zu sein (Heinrich Naeschke: Nicht für Rohrstockmethode, in: FR Nr. 48 v. 25.2.1957, S. 2). Ein anderer Leser klagte die schlechten Unterrichtsbedingungen an, die Lehrer zum Gebrauch von Strafen zwinge, die ihnen eigentlich „verhaßt“ seien (Rudolf Beran: „Den Rohrstock hoch“, in: FR Nr. 44 v. 21.2.1957, S. 2). Stimmen der Anderen: Prügel als Gewohnheit, in: FAZ vom 28.10.1957, S. 2. Sendemanuskript „Vom Geist der Zeit – Kulturpolitische Betrachtung“, 17.11.57, HHStAW 504, 3384.
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der Gegner höher war als die der Befürworter.229 Auf die konkretere und nicht gerade neutral formulierte Frage: „Sollte dem Lehrer grundsätzlich erlaubt sein, einen Schüler zu ohrfeigen, wenn er es verdient hat?“, antworteten allerdings 66 % mit Ja und nur 27 % mit Nein – und auch, wenn unter den Eltern schulpflichtiger Kinder das Ergebnis mit 64 zu 33 % etwas weniger deutlich ausfiel und sich ähnliche altersmäßige und regionale Unterschiede wie bei der anderen Frage zeigten, überwogen hier in allen Teilgruppen die Befürworter. Die suggestive Formulierung der Frage dürfte dieses Ergebnis verstärkt, aber sicher nicht allein verursacht haben. Eher ist sie selbst ein Beleg dafür, wie breit spontane, ‚kleine Gewalt‘ noch akzeptiert wurde.230 Eine absolute Ablehnung jeglicher körperlicher Gewalt in der Schulerziehung wurde dagegen nur von einer Minderheit vertreten. Ein großer Einflussverlust, aber kein vollständiges Verstummen der Züchtigungsgegner zeigt sich auch in der schulpädagogischen (im Gegensatz zur schulpraktischen, von Lehrervertretern geführten) Diskussion: Eine grundsätzliche Ablehnung körperlicher Strafen fand sich beispielsweise noch in der Pädagogischen Provinz, die sich bereits zu Beginn des Jahrzehnts durchgängig in diesem Sinne positioniert hatte (was angesichts der Tatsache, dass sie vom für das hessische Verbot verantwortlichen Franz Schramm mitbegründet wurde, nicht erstaunt).231 Jedoch kamen nun selbst in dieser Zeitschrift gleichermaßen Züchtigungsbefürworter zu Wort.232 Hier fand also eine Verschiebung statt, bei der die Gegner körperlicher Strafen zwar an Boden verloren, die öffentlich geäußerten Meinungen aber gespalten blieben. Eine so deutliche Kehrtwende wie oben dargestellt gab es strenggenommen nur in zwei Teildebatten: Erstens in der Rechtsprechung und zweitens in den Lehrerverbänden, für die auch in anderen Bundesländern galt, was ein Bremer Landesschulrat beschrieb: „Die Gewerkschaft, die früher gegen die körperliche Züchtigung war, stellt sich jetzt nicht mehr hinter diese Forderung, weil die Situation in der Schule und die Lage der Lehrerschaft sich geändert haben.“233 Und auch hier deutet vieles darauf hin, dass es sich nicht um einen breiten Wandel der Ansichten, um eine quantitative Verschiebung der jeweiligen Positionen handel229 230
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Diese und die folgenden Zahlen aus: Institut für Demoskopie Allensbach: Ohrfeige, S. 4 f. Bemerkenswert ist auch, dass das Institut für Demoskopie in seinem Jahrbuch der öffentlichen Meinung lediglich die Frage nach Ohrfeigen abdruckte, dieses Ergebnis also als repräsentativer für die ‚öffentliche Meinung‘ empfand bzw. darstellen wollte (vgl. Institut für Demoskopie: Jahrbuch 1958–64, S. 363). Vgl. Fruhmann: Wie sollen; Rudolf Schottländer: Der Streit um das Züchtigungsrecht des Lehrers, in: Pädagogische Provinz 11 (1957), S. 547–552. Vgl. Diwo: Diktatur; Ernst Bornemann: Das Problem der Strafe in pädagogischer Sicht, in: Pädagogische Provinz 11 (1957), S. 536–544. Auszug aus der Niederschrift über die 44. Sitzung des Schulausschusses der Ständigen Konferenz der Kultusminister am 31.1./1.2.1957, BayHStA MK 61941.
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te, sondern eher um einen Wechsel der Wortführerschaft: Für die späten 1940er Jahre (wie ähnlich bereits für die Zeit der Weimarer Republik) hat sich gezeigt, dass diejenigen Lehrer, die sich in Lehrerzeitschriften oder als Verbandsfunktionäre äußerten, körperlichen Strafen oft deutlich negativer gegenüberstanden als viele ihrer Kollegen an der Basis. Der bayerische Lehrerverbandsvorsitzende Hartmann, der seine zunächst im Namen der Lehrerschaft vorgetragene (vorsichtige) Befürwortung einer Abschaffung später relativieren und als Privatmeinung kennzeichnen musste, ist dafür ein anschauliches Beispiel. Somit stand bereits in der ersten Hälfte der 1950er Jahre insbesondere die Lehrerschaft einer Abschaffung des Züchtigungsrechts kritischer gegenüber, als es anhand der öffentlich geäußerten Positionen zunächst scheinen könnte – und es ist umgekehrt auch wahrscheinlich, dass nach 1954 längst nicht alle Lehrer körperliche Strafen für so unverzichtbar hielten, wie es in der Außendarstellung wirkte. Darauf deutet zum Beispiel eine 1955 durchgeführte Umfrage unter Lehrern in Augsburg und einem schwäbischen Landkreis hin: Dort beantworteten immerhin 25 % der Volksschullehrer in Augsburg und 39 % derjenigen im Landkreis die Frage, ob unter den aktuellen Schulverhältnissen körperliche Schulstrafen notwendig seien, mit Nein. Grundsätzlich zur Sicherung der Schuldisziplin nicht notwendig waren sie für 22 % der städtischen und 52 % der ländlichen Volksschullehrer.234 Auch wenn die Prozentzahlen dieses lokalen Beispiels nur begrenzt übertragbar sein dürften, belegt es doch, dass immerhin eine beachtliche Minderheit der Lehrerschaft Körperstrafen nicht für unverzichtbar hielt – und das in dem Bezirk Bayerns, der bei der Elternbefragung 1947 die größte Mehrheit für das Züchtigungsrecht aufgewiesen hatte. Lehrer und Juristen in der „Sagbarkeitsspirale“
Wenn sich also die tatsächlichen Mehrheitsverhältnisse innerhalb der Lehrerschaft zwischen 1947 und 1957 nur wenig verschoben haben dürften, wie ist dann zu erklären, dass bei der nach außen und in Lehrerzeitschriften vertretenen Position die bis 1954 noch dominierenden Züchtigungsgegner so stark an Boden verloren? Und warum griffen insbesondere Gerichte, aber auch Schulbehörden und Teile der Öffentlichkeit die Vorstellung von der Unverzichtbarkeit körperlicher Strafen so bereitwillig auf? Hierfür gibt es zwei Hauptgründe, von denen der erste gewissermaßen mechanisch auf den Wechselwirkungen zwischen Lehrer- und Juristendebatten beruht: In den Jahren nach 1945 diskutierten Lehrer und Pädagogen körperliche Strafen vor allem als eine grundsätzliche pädagogische Frage. Dem Thema wurde symbolische Bedeutung beim Aufbau eines Schulwesens im Zeichen von Menschenwürde und Demokratie zugeschrieben und die grundsätzlich-idealistische 234
Pletz: Frage, S. 395.
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Perspektive dominierte gegenüber pragmatischen Erwägungen und Fragen der konkreten Umsetzung. So sprachen sich bereits damals einige Lehrer gegen ein rechtlich verbindliches Verbot aus, dies war aber in ihrer Argumentation eher eine Fußnote gegenüber der grundsätzlichen Forderung, auf körperliche Strafen zu verzichten (dann auf freiwilliger Basis und eher langfristig).235 Die Frage der Durchsetzung eines Verbots und die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung schlagender Lehrer wirkten dem gegenüber wenig akut, denn in den meisten Bundesländern waren Körperstrafen in bestimmten Fällen ja noch erlaubt – und unter den Nachkriegsbedingungen mit ihren zahlreichen anderen Problemen bei der Bewältigung des Alltags waren Verfahren gegen züchtigende Lehrer selten. Der fünfte Strafsenat des Bundesgerichtshofs reagierte mit seiner Entscheidung von 1954 nicht zuletzt auf diese züchtigungskritischen pädagogischen Debatten und auf die „Tatsache, daß seit Jahren in mehreren deutschen Ländern teils das Gesetz, teils die Schulverwaltung von den Lehrern verlangen, völlig ohne körperliche Züchtigung auszukommen“ – was die Möglichkeit dieses Verzichts beweise.236 Dass beispielsweise in Hessen viele Lehrer diesen Verzicht eben nicht als möglich sahen, sondern massiv gegen das Verbot protestiert hatten, war offenbar weniger ins Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit gekommen, hatten sich die Verbotsgegner doch oft direkt an das Kultusministerium gewandt. Das BGH-Urteil ignorierte nicht nur den Körperstrafen befürwortenden Teil der Lehrerschaft, der größer war, als es in den öffentlichen Diskussionen wirkte, sondern führte außerdem die von vielen Pädagogen noch mit Vorbehalten bezüglich der praktischen Umsetzung versehenen Abschaffungsforderung einen Schritt weiter in Richtung eines absoluten Verbots. Indem es die Möglichkeit eröffnete, dass in Zukunft jede schulische Körperstrafe als Körperverletzung gewertet werden könnte, beschwor es vor den Augen der Lehrerschaft das alte Schreckgespenst der Rechtsunsicherheit herauf. Zudem konnte das Urteil wie ein Versuch wirken, Lehrer zu einer zeitgemäßen Strafpraxis zu „erziehen“. Auch wenn Lehrer den Kampf um die Anerkennung als Experten längst nicht mehr so intensiv führten wie etwa in den 1870er Jahren, konnte das Urteil und sein vergleichender Hinweis auf den Abbau von Körperstrafen in Gefängnissen und im Militär durchaus als Angriff auf die Berufsehre empfunden werden. Dies führte zu einem Mechanismus, den schon der Jurist Paul Kaiser zeitgenössisch überzeugend beschrieb: „Viele Stellungnahmen zur Verteidigung der körperlichen Züchtigung sind von dieser Abwehr gegen Bevormundung von oben herab getragen“, der vermeintliche Angriff auf den 235
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In diesem Zusammenhang ist auch bezeichnend, dass in der oben zitierten Augsburger Umfrage zwar ein Viertel (Stadt) bzw. nahezu zwei Fünftel (Landkreis) der Lehrer Körperstrafen aktuell für nicht unverzichtbar hielten, aber dennoch 98 bzw. 92 % ein gesetzliches Verbot ablehnten (vgl. Pletz: Frage, S. 245). BGHSt Bd. 6, S. 268.
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Berufsstand motivierte Lehrer dazu, ihre Strafpraxis umso offensiver als angesichts der Rahmenbedingungen unvermeidlich oder gar pädagogisch richtig darzustellen.237 Die konkrete Gefahr strafrechtlicher Verfolgung erhöhte den Rechtfertigungsdruck weiter, denn somit „müssen die Lehrer die körperliche Züchtigung – oft wider besseres Wissen – verteidigen, um die Gefahr einer kriminellen Bestrafung für ein pädagogisches Versagen möglichst fernzuhalten.“ Auch für Lehrer, die körperliche Strafen eigentlich ablehnten, lag es nun nahe, sich mit ihren schlagenden Kollegen zu solidarisieren. Die auf diese Art veränderten Lehrerdebatten wurden dann wieder von Gerichten aufgegriffen, womit ein von Kaiser folgendermaßen beschriebener Teufelskreis entstand: Die Lehrerschaft verteidigt – oft wider besseres Wissen – den Juristen gegenüber den pädagogischen Wert der körperlichen Züchtigung, um sich vor möglicher krimineller Strafe zu schützen. Die Juristen führen dann die Stellungnahmen der Lehrerschaft zur Begründung von Freisprüchen an. Nachdem aber die Argumentation von den Gerichten übernommen worden ist, beginnt man auch in pädagogischen Kreisen daran zu glauben. Denn wenn selbst die Gerichte dieser Meinung sind, dann muß es doch so sein!238
Man könnte diese Wechselwirkung in Abwandlung von Elisabeth NoelleNeumanns berühmtem Modell der Schweigespirale239 als eine „Sagbarkeitsspirale“ beschreiben, durch die zuvor zumindest in Teildiskursen weitgehend tabuisierte pädagogische Legitimierungen körperlicher Strafen nun wieder zunehmend geäußert und akzeptiert wurden. Angst vor der „Diktatur von Rowdys und Rüpeln“
Als zweiter entscheidender Faktor fand Mitte der 1950er Jahre im Denken und Reden über Erziehung und Jugend ein Umschwung statt:240 Bereits seit dem Kriegsende hatten vor allem Gegner eines Züchtigungsverbots immer wieder auf die infolge von NS-Erziehung, Kriegserfahrung und Nachkriegsbedingungen ‚verrohte‘ Schülerschaft verwiesen. Nun waren es zunehmend die Entwicklungen in der Konsum- und Medienlandschaft, denen ein negativer Einfluss auf 237 238 239
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Kaiser: Züchtigungsrecht, S. 48. Dort auch das folgende Zitat. Ebd., S. 301. Dieses Element von Noelle-Neumanns nicht unumstrittener Theorie der öffentlichen Meinung beruht auf der These, dass Menschen gehemmt sind, ihre Meinung öffentlich zu äußern, wenn sie davon ausgehen, in der Minderheit zu sein. Demnach wird eine Meinung, die von einer tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen Minderheit vertreten wird, seltener geäußert, was sie umso stärker als Minderheitsmeinung erscheinen lässt, sodass sie in einem spiralförmigen Prozess immer mehr aus öffentlichen Debatten verschwindet. Vgl. Noelle-Neumann: Schweigespirale, für einen Überblick zu Inhalt, Entstehung und Kritik des Modells Roessing: Schweigespirale. Vgl. zum Folgenden auch Schumann: Legislation, S. 212 f.
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die Kinder zugeschrieben wurde.241 Die Gefühle der Bedrohung durch eine (scheinbar) veränderte Jugend vermischten sich in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre mit kulturpessimistischen Reaktionen auf die Modernisierungsprozesse dieses Jahrzehnts242 – und gewannen eine neue Dimension: „Die Stimmen über ‚katastrophales Absinken der Disziplin in den Schulen‘ werden immer lauter“, klagten nicht nur Lehrerverbände.243 Zeitungen berichteten aus Volksschulen über „teils erschütternde Achtungslosigkeit des kindlichen Verhaltens gegenüber den Klassenkameraden und vor allem gegenüber dem Lehrer“.244 Lehrer staunten „über Roheitsdelikte Jugendlicher. Sie sind erschüttert darüber, daß selbst schulpflichtige Kinder Raubüberfälle und sogar Mordtaten begehen.“245 Und auch der Pädagoge Heinrich Roth diagnostizierte 1955: „Überall ist ein unglaublicher Autoritätsschwund der Erwachsenen festzustellen!“ Den Jugendlichen werde nicht ohne wahren Kern vorgeworfen, sie seien unkonzentriert, nervös, hemmungslos, frech, sie verweigerten Mitarbeit und die Übernahme von Verantwortung.246 Die öffentliche Wahrnehmung der heranwachsenden Generation prägten nun vor allem die sich durch eine Vorliebe für Lederjacken, Mopeds, amerikanische Filme und Rock ’n’ Roll auszeichnenden ‚Halbstarken‘: Sie waren verantwortlich für eine 1956/57 ihren Höhepunkt erreichende Welle von Krawallen, bei denen in verschiedenen Städten Jugendliche randalierten, Straßen und Kreuzungen blockierten und sich Schlägereien mit der Polizei lieferten.247 Doch auch im 241
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243 244 245 246 247
Ein typisches Beispiel ist die Eingabe eines Lehrers an den rheinland-pfälzischen Landtag, der 1955 zur Verteidigung der Notwendigkeit körperlicher Strafen unter anderem anführte: Die Berufstätigkeit vieler Eltern, „plärrende Radios, Fernsehgeräte, minderwertige Druckerzeugnisse“ führten zu „innere[r] Leere und Unrast“ und somit zu Kindern, die „konzentrationsschwach, [. . . ], mit schaler Kost geistig überfüttert und an tieferen Werten wenig interessiert, triebhaft und willensschwach, edlen Motiven ziemlich verschlossen, dem Materiellen zugetan“ seien (was Lehrern das Aufrechterhalten von „Zucht und Ordnung“ ohne Körperstrafen unmöglich mache) (R. S.: Eingabe Nr. 3111, Archiv d. Landtags RLP, S. 2 f.). Das Kultusministerium bewertete die Eingabe als „nicht nur grundsätzlich richtig, sondern überaus beachtenswert“, und gab an, sie decke sich mit der Auffassung des Ministeriums (vgl. MUK an Landtag Rheinland-Pfalz, 14.11.1955, LHAKo 910, 9509). Vgl. Ubbelohde: Umgang, S. 402–411. Dabei weist Ubbelohde darauf hin, dass die Ergebnisse von Jugendbefragungen auf einen geringen Realitätsgehalt dieser negativen Jugendbilder hindeuten (S. 405). BLLV-Kreisverein Mittelfranken, Bezirk Ansbach-Land an BLLV, 24.3.1955, BayHStA BLLV 917. Klages: Dschungel, S. 10. R. Andreas: Ist die Schulzucht mit den heutigen Mitteln wirklich aufrechtzuerhalten?, in: Hessische Lehrerzeitung 8 (1955), S. 305–307, hier S. 305. Roth: Autoritär, S.8 f. Hervorhebung im Original. Vgl. Kurme: Halbstarke, zu den Krawallen insbesondere S. 206–224; Zinnecker: „Halbstarke“. Siegfried (Teenager, S. 583) weist darauf hin, dass das Phänomen von den damaligen Medien „künstlich aufgebauscht“ worden war, die empfundene Bedrohung also größer war als die tatsächliche Relevanz der „Halbstarken“.
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5.3 Eine (nicht nur) juristische Kehrtwende: die 1950er Jahre
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Alltag jenseits solcher Ausschreitungen wirkte die „Diktatur der ‚Halbstarken‘“, wie der Lehrer Paul Diwo sie beschrieb, bedrohlich: Jugendliche versammelten sich „eine Zigarette nach der anderen zwischen den Zähnen zermalmend“ an Straßenecken, „alte Leute werden in ihrer Hilfslosigkeit bespöttelt und nachgeäfft, Erwachsene werden herausfordernd angerempelt, und ein weibliches Wesen kommt nicht vorbei, ohne lauthals angepöbelt zu werden. Die Polizei als Inbegriff der Ordnung ist a priori ein rotes Tuch. Habitus und Bewegung sind eine intensiv geübte Kopie der Revolverfilmhelden.“248 Streng genommen handelte es sich bei Disziplinschwierigkeiten im Schulunterricht und den Jugendunruhen um verschiedene Phänomene, denn die große Mehrheit der ‚Halbstarken‘ hatte das schulpflichtige Alter bereits hinter sich gelassen.249 Doch in der Wahrnehmung vermischten sich beide zu einem einheitlichen Bedrohungsgefühl: So verwies die Urteilsbegründung des Braunschweiger Landgerichts ausdrücklich auf „die besorgniserregenden Zusammenrottungen und die Gewalttaten Jugendlicher in Braunschweig und anderen Städten des Bundesgebietes, an denen sehr viele Schüler beteiligt gewesen sind“. Auch in der Schule könnten „einige wenige Unruhestifter die große Mehrheit der ordentlichen und anständigen Kinder durch ihr schlechtes Beispiel aufwiegeln“.250 Körperliche Strafen erschienen unter diesen Bedingungen nicht nur dem Landgericht, sondern auch anderen Kommentatoren unverzichtbar, damit Lehrer nicht hilflos „der Diktatur von Rowdys und Rüpeln ausgeliefert“ seien.251 Die Bedrohung durch die Generation der ‚Halbstarken‘ schien nicht nur ein Mittel der Notwehr für Lehrer unentbehrlich zu machen, sondern viele Lehrer, Eltern, Richter und andere Kommentatoren sahen einen grundsätzlicheren Zusammenhang zwischen dem Verhalten der Jugend und der Frage der Schulstrafen.252 Veranlasst durch den US-amerikanischen Film Saat der Gewalt (Originaltitel: Blackboard Jungle), der vom Konflikt zwischen einem Lehrer und brutalen Schülerbanden an einer High School handelt, schilderte eine junge Nürnberger Lehrerin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ihre Sicht auf aktuelle Erziehungsprobleme: Sie diagnostizierte, dass die Schule, die zuvor vor allem „Erziehungsinstitution im Sinne einer Vertretung und Durchsetzung der 248 249
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Diwo: Diktatur, S. 314. Jürgen Zinnecker geht auf Grundlage zeitgenössischer Studien davon aus, dass ca. fünf Sechstel der an Krawallen Beteiligten zwischen 16 und 19 Jahre alt waren und dass (auch höhere) Schüler wenn überhaupt höchstens als Zuschauer beteiligt waren. Vgl. Zinnecker: „Halbstarke“, S. 469. LG Braunschweig, Urteil v. 12.2.1957, Az. 14 KMS 4/56 [auszugsweise], in: Wirtschaft und Recht (Beilage zur ADLZ) 7 (1957), S. 26–28, Zitat S. 28. Kaiser: Züchtigungsrecht, S. 227. Vgl. zum Folgenden Schumann: School Violence, S. 241 f., der neben dem Ruf nach Autorität auch abweichende Lösungsvorschläge liberalerer Kommentatoren (etwa Freizeitangebote für Jugendliche) beschreibt.
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gesellschaftlichen Formierungsansprüche gegenüber der archaischen Offenheit und Vieldeutigkeit der kindlichen Substanz“ gewesen sei, nun vor allem „den Charakter einer schützenden, den kindlichen Individualitätsanspruch gegenüber der Gesellschaft vertretenden Einrichtung“ übernehme.253 Hier liege auch der Hauptgrund für die Abkehr von körperlichen Strafen – und für eine „gefährliche“ Entwicklung: Da Anpassung an die Gesellschaft notwendig, das Kind zu dieser aber nicht von sich aus in der Lage sei, müsse Erziehung immer auch „Nötigung zur Anpassung, manchmal schmerzliche Formung“ sein und könne auf Zwang nicht verzichten. Dass sie die von ihr beschriebene „Aufhebung des disziplinär-erzieherischen Charakters der Schule“ als direkte Ursache jugendlicher Gewalt sah, wird deutlich, wenn die Lehrerin dem Film Saat der Gewalt vorwarf, dass „er die Hintergründe im dunkeln“ lasse, indem er „die ganz ähnliche autoritätsschwächende ideelle Tendenz im gegenwärtigen amerikanischen Schulwesen“ nicht erwähne. Auch zahlreiche sich in Verbandszeitschriften äußernde Lehrer gaben der Volksschulerziehung eine Mitschuld an dem problematischen Jugendverhalten und sahen die Schule der letzten Jahre als zu nachgiebig.254 So gab etwa ein Artikel zu bedenken, es gebe viele Eltern, „die ein tiefes Empfinden haben, als wäre die Jugend heute zu locker gehalten, und als würde ihr dies nicht zum Segen gereichen. Auch sie wünschen sich an sich keine körperliche Züchtigung aber doch lieber diese als eine Verwahrlosung der Jugend ohne sie.“255 Die hier aufgestellte Alternative von Züchtigungsrecht oder „Verwahrlosung der Jugend“ erinnert an die insbesondere in Lehrerdebatten des 19. Jahrhunderts dominierende Gleichsetzung von guter mit strenger Erziehung und von dieser Strenge mit der Möglichkeit körperlicher Strafen. Ähnliche Vorstellungen von Körperstrafen als notwendigem Teil einer strengen, dem Wohl des Kindes selbst dienenden Erziehung werden auch in der Urteilsbegründung des Landgerichts Braunschweig deutlich: Darin stellte das Gericht sogar die Erwägung in den Raum, ob – angesichts der Tatsache, dass bei Verfahren gegen Jugendliche der familiäre Hintergrund gegebenenfalls strafmildernd berücksichtigt werde – es nicht auch ein Strafmilderungsgrund sein könne, „wenn diese heranwachsenden Menschen auch im Schulunterricht keine straffe Erziehung, die erforderlichenfalls auch eine körperliche Züchtigung umfaßt, erfahren dürfen“.256 Es ließen sich noch zahlreiche weitere Beispiel anführen, die belegen, dass die öffentliche Verunsicherung durch die ‚Halbstarken‘-Krawalle ab 1955 dazu 253 254 255 256
Klages: Dschungel, S. 10. Dort auch die folgenden Zitate. Vgl. Schwiethal: Wort, S. 373 f.; Andreas: Auswirkungen, S. 31 f. L. Auerhahn: Ende der körperlichen Züchtigung in der Schule, in: Bayerische Schule 8 (1955), S. 253–255, hier S. 254. LG Braunschweig: Urteilsbegründung [auszugsweise], in: Wirtschaft und Recht (Beilage zur ADLZ) 7 (1957), S. 26–28, S. 27. Ausdrücklich kritisiert bei Kaiser: Züchtigungsrecht, S. 255.
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führte, dass der bedroht erscheinenden Autorität der Lehrer, der Schule und der Erwachsenen überhaupt erhöhte Priorität beigemessen wurde. Dabei war die Vorstellung, dass diese Autorität nur durch die Möglichkeit körperlicher Schulstrafen zu sichern sei, dass, in den Worten eines Lehrers, „Respekt [. . . ] immer von einem kleinen Angstgefühl begleitet sein“ müsse,257 offensichtlich noch weit verbreitet – und konnte nun wieder weitgehend unwidersprochen öffentlich geäußert werden.
5.4 Die 1960er Jahre Mit dem Ende der 1950er Jahre war die Jugendbewegung der „Halbstarken“, die so starke Bedrohungsgefühle und den Ruf nach mehr Autorität ausgelöst hatte, allerdings bereits Geschichte. Nicht nur die Jugendkrawalle flauten ab – den letzten gab es im September 1959 in Bonn –, sondern auch die öffentliche Wahrnehmung der Jugend entspannte sich wieder: So wurde der rowdyhafte „Halbstarke“ als jugendliches Leitbild immer mehr von den „Teenagern“ abgelöst, die sich vor allem an den wachsenden an sie gerichteten Freizeit- und Konsumangeboten – etwa der 1956 gegründeten Zeitschrift BRAVO – orientierten und in ihrer Aufmüpfigkeit gegenüber älteren Generationen deutlich gemäßigter waren.258 Auch das Interesse an der Frage körperlicher Schulstrafen ging in den 1960er Jahren zunächst deutlich zurück. Es gab weder überregional aufsehenerregende Entscheidungen höherer Gerichte noch grundlegende Veränderungen in den entsprechenden Vorschriften einzelner Länder. Bildungspolitische Debatten konzentrierten sich nach der Anfang des Jahrzehnts diagnostizierten ‚Bildungskatastrophe‘ auf Bildungsexpansion und Reformen zur Erschließung von ‚Begabungsreserven‘, also auf die äußere Struktur des Schulwesens und seine Planung.259 Die Frage der Schulstrafen musste demgegenüber als eher unbedeutendes Detail scheinen. Beim Blick auf die Lehrerdebatten bestätigt sich zudem die im vorigen Kapitel aufgestellte These, dass die Mitte der 1950er Jahre stark angestiegene Verteidigung körperlicher Strafen und das Verstummen der absoluten Gegner dieser Strafart zum Teil durch Abwehr- und Solidarisierungseffekte gegenüber dem BGH-Urteil von 1954 zu erklären sind. Denn nachdem der juristische Fortbestand des Lehrerzüchtigungsrechts durch die zweite BGH-Entscheidung 257 258 259
Anmerkung eines Lehrers zu seinen Antworten bei der Umfrage zu körperlichen Strafen, Pletz: Frage, S. 395. Vgl. Kurme: Halbstarke, S. 263–280. Vgl. Furck: Entwicklungstendenzen, S. 250–251.
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zunächst gesichert war, wurde der Tenor in Lehrerzeitschriften wieder deutlich züchtigungskritischer.260 Der Schwerpunkt der Diskussion verlagerte sich vom Problem der mangelnden Rechtssicherheit wieder zu pädagogischen Fragen. Das Thema der Schuldisziplin galt weiterhin als problematisch, aber statt in der Stärkung der Lehrerautorität suchte man die Lösung nun in der verstärkten Rezeption erziehungswissenschaftlicher und psychologischer Erkenntnisse: Dies zeigt beispielhaft die Dokumentation, die eine vom Hamburger GEW-Landesverband ins Leben gerufene Kommission zur Problematik der Schuldisziplin 1959 vorlegte. Sie versammelte neben Beiträgen von Lehrern auch solche von (Sozial-)Pädagogen, Tiefen-, Sozial- und Entwicklungspsychologen wie etwa Heinrich Roth, Carl Mennicke oder Jean Piaget, die Fragen der Autorität in der Erziehung oder der Schuldisziplin kritisch behandelten, ohne Körperstrafen überhaupt als Erziehungsmittel in Erwägung zu ziehen.261 Auch die Redaktion der Hessischen Lehrerzeitung fragte im gleichen Jahr, wie den schulischen Disziplinproblemen begegnet werden könne. Da dabei das Ziel „tiefgreifende Erziehung und nicht oberflächliche Dressur“ sein müsse, sah sie es als notwendig, nach den „Hintergründen dieser Störungen“ zu fragen – weshalb sie eine Artikelserie veröffentlichte, in der aus der Praxis der Erziehungsberatung heraus über psychische Ursachen kindlichen (Fehl-)Verhaltens berichtet wurde.262 Ihr Verfasser Rudi Herr betonte nicht nur die Notwendigkeit, die Ursache von Verhalten zu suchen, statt es zu unterdrücken, sondern er erläuterte auch die Gefahren angstmachender Erziehungsmittel wie Körperstrafen und verteidigte das hessische Züchtigungsverbot, das beabsichtigt habe, das Ansehen des oft als ‚prügelnd‘ diffamierten Lehrerstands zu heben. Auch bei anderen Gelegenheiten wurden nun psychologische, insbesondere psychoanalytische Erkenntnisse wieder verstärkt von Lehrern rezipiert. Beispielsweise hielt in Frankfurt der Schweizer Psychoanalytiker Hans Zulliger Vorträge zur „Einführung in die psychoanalytische Pädagogik“, in denen er ausführlich auf die Möglichkeiten einer Erziehung ohne Strafe einging und über die wiederum die Hessischen Lehrerzeitung berichtete.263 Selbst als ein Lehrer 1960 in der gleichen Zeitschrift ganz 260
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So diagnostizierte etwa ein Lehrervertreter eine „allgemeine Entspannung und Beruhigung“ nach dem die „Verunsicherung“ von 1954 aufhebendem zweiten BGH-Urteil. Dabei war er zwar immer noch der Ansicht, „[u]nser Ziel, ein vollständiges Verbot der körperlichen Züchtigung möglich zu machen, ist noch nicht erreicht“, legte den Fokus aber stärker auf die zum Erreichen des Wünschenswerten nötigen Maßnahmen (Klassengröße von maximal 30) als auf die noch gesehene Problematik eines Verbots. Erich Harms: Das Damoklesschwert der körperlichen Züchtigung, in: ADLZ 11 (1959), S. 162–163. Vgl. Wagner: Volksschule, S. 5–27. Rudi Herr: Hintergründe kindlicher Unarten, in: Hessische Lehrerzeitung 12 (1959), S. 228– 229; S. 243–244; S. 258–260; S. 273–275 (Zitate aus der Vorbemerkung der Redaktion, S. 228). Erziehung ohne Strafe, in: Hessische Lehrerzeitung 13 (1960), S. 319. Nicht aus psychoanalytischer, sondern eher berufspraktischer Perspektive hatte in dieser Zeitschrift bereits
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im Ton der 1950er Jahre ein letztes Mittel forderte, um zu verhindern, „daß wir von einem routinierten Flegel zum verkrampft lächelnden Hanswurst gemacht werden, der sich in wirksamer Weise nicht wehren darf “, dann meinte er damit die Möglichkeit, Schüler zeitweise vom Unterricht auszuschließen – und ausdrücklich nicht die körperliche Züchtigung, über die er ausrief: „Gut, daß wir diese, mit Verlaub zu sagen, Schweinerei los sind! Ich möchte sie nicht wieder.“264 Wenn diese Position auch in der Hessischen Lehrerzeitung auf keinen Widerspruch stieß – was darauf hindeutet, dass das dortige Verbot inzwischen, über 15 Jahre nach seinem Erlass, zumindest in der Theorie weitgehend akzeptiert war – so wurde sie in anderen Bundesländern keinesfalls von allen Lehrern geteilt. So kritisierte Werner Wolff 1959 in der Allgemeinen Deutschen Lehrerzeitung einen Gewerkschaftsvertreter, der ein vollständiges Verbot körperlicher Strafen als bei den aktuellen Bedingungen zwar noch nicht erreichbares, aber anzustrebendes Ziel bezeichnet hatte: Er falle damit der „sich schüchtern anbahnenden Stärkungsbewegung der Lehrerautorität in die Speichen und möchte das Rad zurückdrehen.“265 Wolff hatte bereits 1957 in der Hamburger Lehrerzeitung die grundsätzliche erzieherische Notwendigkeit körperlicher Strafen betont und gefordert, dass Lehrern die gleichen „Zuchtmittel“ wie den Eltern zustehen müssten, um ihre Autorität den Schülern gegenüber zu wahren.266 Zwei Jahre später kritisierte er in einem weiteren Aufsatz die aus seiner Sicht falsche pädagogische Tendenz, eher die Frage nach psychologischen Ursachen von Fehlverhalten als nach dessen Sühne in den Mittelpunkt zu stellen.267 Allerdings sagte Wolff hier nicht explizit, dass diese Sühne zumindest möglicherweise in körperlichen Strafen bestehen solle. Dass er nicht konkreter wurde, dürfte auch mit der von ihm beklagten Beobachtung zusammenhängen, dass die Befürwortung der Notwendigkeit von Strafen in den Lehrerdebatten als überholt gelte: „Da darf man sich nur sehr diplomatisch und verklausuliert ausdrücken, wenn man nicht von vornherein den Boden unter den Füßen verlieren will.“
264 265 266
267
ein Jahr zuvor Alfons Simon, der Mitinitiator des bayerischen Verbotserlasses von 1946, für Wiedergutmachung des Schadens durch das Kind statt (körperlicher) Strafe als pädagogisches Mittel plädiert (Alfons Simon, Strafen oder – ?, in: Hessische Lehrerzeitung 12 (1959), S. 80–83). Der Lehrer und der Rüpel, in: Hessische Lehrerzeitung 13 (1960), S. 114. Wolff: Schuld, S. 210. Vgl. mit ähnlicher Position auch Geyer: Damoklesschwert. Werner Wolff: Disziplin in der Schule, in: Hamburger Lehrerzeitung 1957, Nr. 17, abgedruckt in Wagner: Volksschule, S. 70–71 (Zitat S. 70). Wolff spielte hier auf § 1631 des BGB an, dessen Abs. 2 bis Mitte 1958 besagte: „Der Vater kann kraft des Erziehungsrechts angemessene Zuchtmittel gegen das Kind anwenden.“ Werner Wolff: Zwei feindliche Lager?, in: Hamburger Lehrerzeitung 12 (1959), S. 26 f.; abgedruckt in Wagner: Volksschule, S. 85. Dort auch das folgende Zitat.
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5. Zwischen Menschenwürde und Halbstarken: 1945–1968
Zumindest in der Wahrnehmung dieses Lehrers gehörte eine grundsätzliche Befürwortung körperlicher Strafen als Erziehungsmittel also bereits 1959 nicht mehr ohne Weiteres zum öffentlich Sagbaren. Tatsächlich wurden sie nur noch mit Einschränkungen verteidigt: So waren beispielsweise für einen Gymnasiallehrer körperliche Strafen in höheren Schulen angesichts der hohen „Ansprechbarkeit“ der dortigen Schülerschaft „generell ein Unding“. Für die Volksschulen jedoch sei er zum Schluss gekommen, dass Lehrer „einfach hier und dort körperlich strafen müssen, um eine Grenze deutlich zu machen“ und bemühte den bekannten Vergleich mit Operationen oder der therapeutischen Anwendung von Giften in der Medizin.268 Auch die altbekannte Mittelposition, dass der Verzicht auf Körperstrafen wünschenswert, aber noch nicht möglich sei, wurde von vielen Lehrern vertreten.269 Entscheidend ist aber, dass daneben nun wieder die im vorigen Jahrzehnt nahezu verstummten Stimmen lauter wurden, die grundsätzliche Ablehnung bis hin zur ausdrücklichen Forderung eines Verbots äußerten. So forderte etwa Hermann Trost in der Allgemeinen Deutschen Lehrerzeitung 1962 „Hinweg mit ihr“ – und meinte damit die Körperstrafe, deren Gewaltcharakter er betonte und die er als der Menschenwürde widersprechend beschrieb. Auffällig ist, dass dieser Artikel, von dem sein Autor selbst erwartet hatte, dass er „den ein oder anderen Lehrer schockieren würde“,270 in der Lehrzeitung zwar auf Widerspruch zu einzelnen Argumenten, nicht aber auf offene Kritik seiner Kernbotschaft stieß. So bezeichnete sich der Verfasser einer Zuschrift zwar als „geradezu entsetzt“ über den Aufsatz, begründete dies jedoch konkret nur mit einem Detail der Argumentation.271 Trost selbst schloss aus dieser Zuschrift, dass ihr Verfasser „die Prügelstrafe in der Schule nicht missen möchte. Hätte er das doch klar ausgesprochen und zu begründen versucht.“272 Man kann dieses kleine Beispiel als Beleg sehen, dass eine grundsätzliche Befürwortung von Körperstrafen im (hessischen) Lehrerdiskurs 1962 eben nicht mehr offen auszusprechen und zu begründen war. Auch Jürgen Rohrbachs „pädagogische und rechtliche Betrachtung“ zum Thema, die im gleichen Jahr im Verlag der von der GEW Nordrhein-Westfalen herausgegebenen Neuen Deutschen Schule erschien, kam zum Ergebnis, „daß in der gesamten Wissenschaft die körperliche
268 269
270 271 272
Fritz Heber: Über Sinnhaftigkeit und Sinnlosigkeit der Strafe im Alltag der höheren Schule, in: Die Höhere Schule 14 (1961), S. 113–116, Zitat S. 116. Vgl. Ernst Rudolf Funk: Entwicklung und Wandlung des Begriffes der pädagogischen Zucht, in: Pädagogische Provinz 14 (1960), S. 143–151 (hier S. 151); Reinhold Drescher: Schlußwort, in: Bayerische Schule 18 (1965), Heft 3, S. 40–41 (hier S. 41). Hermann Trost: Hinweg mit ihr! (Diskussionsbeitrag), in: ADLZ 14 (1962), S. 236–237, Zitat S. 236. H. Hirschfelder: „Hinweg mit ihr!“, in: ADLZ 14 (1962), S. 199. Hermann Trost: Hinweg mit ihr! (Diskussionsbeitrag), in: ADLZ 14 (1962), S. 236–237, Zitat S. 237.
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Züchtigung in der Volksschule keine Chance mehr hat“, und erwartete, dass diese Erkenntnis „auf Dauer“ auch in der Schule umgesetzt werde.273 5.4.1 Die Strafe als Problem der Erziehung
In der im engeren Sinne wissenschaftlichen Pädagogik blieben ausdrückliche Auseinandersetzungen mit Körperstrafen weiterhin selten. Die Rolle von Strafen in der (Schul-)Erziehung allgemein rückte jedoch, sicher auch als eine Reaktion auf die Diskussionen um ‚Halbstarke‘ und Züchtigungsrecht des vorherigen Jahrzehnts, verstärkt in den Fokus. Nun erschienen mehrere Sammlungen, die Texte bedeutender Erziehungstheoretiker von der Antike bis in die Gegenwart über Die Strafe in der Erziehung zusammenstellten oder Das Strafproblem in Beispielen anhand von theoretischen, autobiographischen und literarischen Darstellungen spiegelten.274 Als Quellensammlungen präsentierten sie bewusst unterschiedliche Standpunkte ohne eindeutige eigene Positionierung, allerdings ist bemerkenswert, dass im zuletzt genannten Band allein sechs der 16 enthaltenen „Beispiele“ aus dem von Paul Oestreich 1922 herausgegebenen Band Strafanstalt oder Lebensschule übernommen waren.275 Der Herausgeber der erstgenannten Sammlung, Hans Netzer, konnte in seinem Vorwort zusammenfassen: „Über die Entbehrlichkeit der Prügelstrafe für die Erziehung ist man heute auf weite Strecken einer Meinung.“276 An anderer Stelle nahm Netzer selbst zu körperlichen Strafen Stellung: „Prügelstrafe als Mittel des Berufserziehers ist in jedem Falle zu verwerfen. Sie ist ein knechtisches Mittel und züchtet Knechte – oder Aufrührer. Die Würde des Erzieherstandes hängt davon ab, daß sie, und zwar freiwillig, aufgegeben wird.“277 Nach Ton und Inhalt könnten diese Worte auch aus den späten 1940er Jahren stammen. Auch die Argumente, mit denen der Pädagoge und Psychologe Ernst Ell 1965 körperliche Strafen ablehnte, erinnern teils an noch ältere Debatten (beispielsweise, wenn er auf die Gefahr hinwies, bei Lehrern Sadismus zu wecken), vor allem aber an die der Nachkriegszeit: So findet sich etwa die für die späten 1940er typische Distanzierung von den Gewalterfahrungen der Vergangenheit auch bei Ell, wenn er aus der brutalisierenden Wirkung des Erleidens körperlicher Gewalt folgerte: „Wenn wir ein im Herzen friedliebendes Volk werden wollen, müssen wir in Elternhaus und Schule zu einer positiven Kindererziehung durchfinden.“278 In Bezug auf zu erwünschtem Verhalten führende Ohrfeigen 273 274 275 276 277 278
Rohrbach: Züchtigung, S. 48. Netzer: Strafe; Reble: Strafproblem. Vgl. auch Röhrs: Disziplin. Vgl. hierzu S. 122 dieser Arbeit. Hans Netzer: Einleitung, in: ders.: Strafe, S. 7–14, Zitat S. 12. Netzer: Spezifische Maßnahmen, S. 493. Ell: Disziplin, S. 126. Dort auch das folgende Zitat.
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fragte er rhetorisch: „Ist der Schüler auf dem Wege zur Selbstständigkeit gefördert worden? Hat er jetzt noch den Mut zur Kritik und zum Widerstand, wenn beide gerechtfertigt sind? Oder ist dadurch nur der Untertan wach geworden? Haben wir nicht in der jüngsten Geschichte den Fluch der Untertänigkeit drastisch erlebt?“ So nahe dieses gegen Untertanengeist gerichtete Erziehungsziel Ells dem von Heinrich Meng und anderen Autoren der Nachkriegsjahre war, gab es doch einen grundlegenden Unterschied in der Perspektive: Während unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg Pädagogen den Aufbau einer demokratischen, gewaltfreien Schulerziehung angestrebt hatten, kritisierten die Autoren der 1960er Jahre in zeittypischer Weise279 die versäumte Reform und Liberalisierung schulischer Disziplin- und Autoritätsvorstellungen im vergangenen Jahrzehnt: So fragte Ell, ob die seit einigen Jahren beklagten Erziehungsschwierigkeiten nicht auch damit zu erklären seien, dass „die Schule [. . . ] immer noch nach einer Disziplin ruft, welche früheren Zeiten angemessen war, aber aus Sicht der Gegenwart und mehr noch der Zukunft als Relikt erscheint?“280 Mit der gegenüber den 1940ern veränderten Perspektive ging auch ein anderer Stellenwert einher, der körperlichen Schulstrafen beigemessen wurde: In den Nachkriegsjahren hatte diese Frage bei Theoretikern wie Meng und bei den Vätern der hessischen und bayerischen Verbote noch als entscheidend für die Grundtendenz der zukünftigen Erziehung gegolten und als eine Art Hebelpunkt, über den sich die innere Demokratisierung und Humanisierung der Schule vorantreiben ließ. Nun aber spielte sie eine weniger zentrale Rolle und galt eher als ein untergeordneter Teilaspekt einer wesentlich weiter verstandenen Problematik des Erziehungs- und Führungsstils von Lehrern. Das zeigt sich zum Beispiel in den nun breit rezipierten Untersuchungen der Psychologin Anne-Marie Tausch, die Ende der 1950er Jahre sowohl in Beobachtungen von Schulstunden als auch bei Befragungen zu typischen Unterrichtssituationen diagnostizierte, dass circa 90 % der von Lehrern angewendeten bzw. spontan vorgeschlagenen Erziehungsmaßnahmen einer „autokratischen“ oder gar „sehr autokratischen“ Erzieherhaltung zuzuordnen seien.281 Körperliche Strafen aber spielten dabei keine Rolle, denn zumindest die praktische Beobachtung wurde 279
280 281
Vgl. zum „Demokratiediskurs“ der 1960er Jahre Scheibe: Suche, S. 245. Auch Ells Bezugnahme auf die NS-Vergangenheit ist typisch für die von einer „qualitative[n] Intensivierung vergangenheitspolitischer Diskurse“ geprägte Zeit (Schildt: Wohlstand, S. 36). Ell: Disziplin, S. V. Tausch ging von vier Kategorien aus: Neben den beiden genannten Abstufungen der autokratischen Erzieherhaltung (die als Betonung von Stärke und Autorität des Lehrers und Nichtberücksichtigung der Wünsche und Bedürfnisse der Kinder definiert wurde) waren dies die „aktiv sozialintegrative“ (Verständnis für Bedürfnisse der Kinder bei gleichzeitigem Verfolgen des Erziehungsziels) und die „passiv sozialintegrative“ Haltung (tiefes Verständnis für Kinderbedürfnisse mit Verzicht auf erzieherisches Einwirken). Die Zuordnung zu diesen Kategorien war nicht frei von normativen Vorfestlegungen, so wurden etwa ironische Bemerkungen gegenüber Schülern grundsätzlich als „sehr autokratisch“
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offenbar in Hessen durchgeführt. Anne-Marie Tausch und ihr Ehemann Reinhard verfassten in den folgenden Jahren verschiedene deutsch-amerikanische Vergleichsstudien, in denen sie eine autoritäre deutsche Erziehungstradition diagnostizierten, sowie ein einflussreiches Lehrbuch zur Erziehungspsychologie.282 Auch hier wurden körperliche Strafen kaum explizit angesprochen – allerdings ergibt sich ihre Bewertung mehr oder weniger von selbst aus der klar negativen Konnotation des unter anderem durch häufige „Verwarnungen, Drohungen und Strafen“ gekennzeichneten autokratischen Erziehungsstils.283 Dass die körperliche Züchtigung an den Rand des pädagogischen Diskurses über Strafen gerückt war, hängt also – gemäß einem ganz ähnlichen Mechanismus, wie er bereits in weiten Teilen der Reformpädagogik zu beobachten war – damit zusammen, dass ihre Ablehnung im theoretisch-wissenschaftlichen Bereich bereits weitgehend Konsens war und sich die Diskussion sozusagen über diese Frage hinausbewegt hatte.284 Vollständige Einigkeit bestand jedoch auch in den theoretischen Debatten nicht: So konnte noch 1968 Hermann Röhrs in seiner Textsammlung zum Thema „Disziplin“ einen Aufsatz des Pädagogen Klaus Schaller abdrucken, laut dem in bestimmten (wenn auch „sicher nur recht seltenen“) Fällen „die körperliche Züchtigung durchaus am Platze“ sein konnte.285 Auch in einem 1967 erschienenen Sammelband des katholischen Willmann-Instituts fand sich neben grundsätzlichen Problematisierungen von Strafe an sich und Körperstrafen ablehnenden Aufsätzen auch die Position, dass sie „in äußerst seltenen Ausnahmefällen“ erzieherisch sinnvoll seien könnte.286 Ein Beitrag lehnte für die Berufsausbildung zwar „Prügelstrafen“ ab, erklärte aber, dass „eine ‚gezielte‘ Ohrfeige die wirkungsvollste aller Strafen sein“ könne und deren Verbot im Ausbildungsverhältnis zu bedauern sei.287 Doch selbst diese auf seltene Einzelfälle eingeschränkte Befürwortung stellte eine in den pädagogischen Debatten nur vereinzelt anzutreffende Außenseiterposition dar. Allerdings brauchte man noch Mitte der 1960er Jahre nicht allzu weit über den Rand der fachwissenschaftlich-pädagogischen Debatten hinaus zu blicken, um eine weniger eingeschränkte Befürwortung körperlicher Strafen zu finden: So äußerten 1964 in einer Befragung unter Lehramtsstudenten noch 50 % mehr oder
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eingestuft. Vgl. Tausch: Untersuchungen, insb. S. 134–136. Siehe auch dies.: Erziehungssituationen. Vgl. zum Einfluss der Tauschs auf Lehrerbildung und öffentliche Debatte Levsen: Autorität, S. 318–320; S. 513 f. Tausch/Tausch: Erziehungspsychologie, 2. Aufl., S. 77. Vgl. Scheibe: Strafe, S. 352. Schaller: Sinn, S. 317. Der Aufsatz stammte zwar ursprünglich aus dem Jahr 1958, Schaller hatte für den Abdruck in Röhrs’ Sammlung aber einige Änderungen vorgenommen, die zitierte Äußerung also auch zehn Jahre später noch bewusst vertreten. Heinelt: Psychologie, S. 56 f. Bornemann: Möglichkeiten, S. 336.
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weniger starke Zustimmung zu dem Satz „An dem Spruch ‚eine richtige Tracht Prügel schadet niemandem‘ ist viel richtiges dran.“288 Die Tatsache, dass dieser Anteil innerhalb des nächsten Jahrzehnts massiv sinken sollte, deutet bereits an, dass – trotz der geringen Aufmerksamkeit für das Thema in der Pädagogik – die zweite Hälfte der 1960er Jahre grundlegende Veränderungen im Reden und Denken über Körperstrafen brachte. 5.4.2 Sitte oder Misshandlung? Die öffentliche Debatte zu Körperstrafen in der Familie
Auch wenn es für die öffentliche Diskussion über körperliche Schulstrafen in den 1960er Jahren im Gegensatz zu den vorherigen Jahrzehnten kaum Anlässe gab, waren jenseits des spezifisch schulischen Kontextes Körperstrafen in der Erziehung durchaus ein Thema: Ein wichtiger Anlass hierfür war ein 1964 erschienenes Buch, in dem der Hamburger Volkskunde-Professor Walter Hävernick Schläge als Strafe als einen „Bestandteil der heutigen Familiensitte in volkskundlicher Sicht“ zu beschreiben suchte. Zentral für Hävernicks Argumentation war die „Sitte“, die er als „Summe aller Einzelmeinungen“ der öffentlichen Meinung als „Geschöpf der Parlamente, der Presse und der schriftstellerisch tätigen Einzelpersonen“ gegenüberstellte.289 Sie wurde dabei zum absoluten, weitgehend unveränderlichen Bewertungsmaßstab überhöht, wenn Hävernick etwa Versuche, die familiäre Erziehung durch pädagogische Ratgeber zu beeinflussen, als illegitimen Angriff auf die Sitte ablehnte.290 Diese unangreifbare Sitte bestand nach Hävernick in der selbstverständlichen Akzeptanz von Körperstrafen (vor allem in Form von Schlägen auf den Hintern) als Mittel der elterlichen Erziehung, das in etwa vier Fünftel der Familien angewandt werde.291 Hävernick trat mit wissenschaftlichem Anspruch auf, obwohl die seinen Thesen zugrunde liegenden Erhebungen methodisch äußerst fragwürdig waren, denn sie bestanden zum großen Teil aus informellen persönlichen Befragungen unsystematisch ausgewählter Personenkreise.292 Auch wenn Hävernicks Aussagen kaum als Ergebnis einer wissenschaftlichen Studie ernst zu nehmen waren – Klaus Horn 288
289 290 291 292
Vgl. Davis/Viernstein, S. 202. Auch wenn die Studie erst 1972 veröffentlicht wurde, fand die zugrunde liegende Befragung bereits 1964 statt (vgl. Krieger: Erziehungsvorstellungen, S. 86). Hävernick: Schläge, S. 36. Vgl. ebd., S. 39. Vgl. ebd., S. 49–53. Konkret basierten Hävernicks Aussagen beispielsweise auf Befragungen zu Kindheitserinnerungen in seinem persönlichen Umfeld, auf „zwangloser Unterhaltung mit zuverlässigen Leuten“ (S. 49) oder Gesprächen mit den Eltern von Kindern, die er als Museumsaufsicht bei Beschädigungen ertappt hatte, außerdem auf einem Gespräch mit einer Schulklasse oder auf Befragungen im Anschluss an Hävernicks eigene Vorträge zum Thema.
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beklagte in seiner Erwiderung gar die „Plumpheit der Fälschung“293 – ist entscheidend, dass sie in der öffentlichen Meinung als beschreibendes „Panorama der landesüblichen Kindeszucht“ wahrgenommen und nicht hinterfragt wurden.294 Sie müssen also recht plausibel gewesen sein, was darauf hindeutet, wie weit Schläge in der familiären Erziehung tatsächlich noch verbreitet waren.295 Hävernicks Bewertung allerdings wurde weniger bereitwillig übernommen als das von ihm gesammelte empirische Material: Zeitungsartikel beschrieben die Befunde des Volkskundlers eben nicht als Legitimation körperlicher Strafen, sondern als bedauerns- und verändernswerte Tatsachen und sprachen sich mehr oder weniger deutlich gegen Schläge in der Erziehung aus.296 Beispielsweise bedauerte die Autorin eines längeren Artikels in der Wochenendbeilage der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass die pädagogischen und psychologischen Erkenntnisse darüber, „daß die Prügelstrafe bei Kindern das Ziel der Strafe – nämlich die Einsicht des Kindes – nicht fördert, sondern hindert und Züchtigungen darum überhaupt keinen erzieherischen Zweck erfüllen, sondern die Persönlichkeit des Kindes brechen und verbiegen, [. . . ] in der Bundesrepublik erst schwach verbreitet“ seien.297 Auch die zu diesem Artikel abgedruckten Leserbriefe sprachen sich mehrheitlich gegen körperliche Strafen aus.298 293 294
295
296 297 298
Horn: Dressur, S. 119. Landmann: Prügeln. Vgl. auch: Züchtigung durch Mutter, in: Der Spiegel 17 (1964), S. 52. Die Popularität von Hävernicks Buch zeigt sich auch darin, dass es bis 1970 viermal aufgelegt wurde. Dies bestätigen auch zwei Allensbach-Umfragen aus den Jahren 1961 und 1965: Bei der ersten sprachen sich 75 % der Befragten dafür aus, „daß die Eltern ihrem Kind Schläge geben, wenn es mal sehr ungezogen ist“. Vgl. Institut f. Demoskopie: Jahrbuch 1958–64, S. 64. Vier Jahre später sahen ebenfalls nur 16 % Schläge als „grundsätzlich verkehrt“ und bei jedem Kind verzichtbar. 36 % sprachen sich für Schläge als selbstverständlichen Teil der Erziehung aus, der „noch keinem Kind geschadet“ habe. Die größte Gruppe (46 %) stimmte der Antwort zu, Schläge kämen „höchstens als letztes Mittel in Frage, wenn wirklich nichts anderes mehr hilft.“ (Institut f. Demoskopie: Jahrbuch 1965–67, S. 52). Trotz der Seltenheit der vollständigen Ablehnung und unabhängig vom tatsächlichen Vorkommen körperlicher Strafen war deren selbstverständliche Akzeptanz als unproblematisches elterliches Erziehungsmittel also keineswegs so verbreitet, wie Hävernick es suggerieren wollte. Vgl. neben dem im Folgenden zitierten: Edmund Wolf: Zum Lachen oder Weinen?, in: Die Zeit, 29.5.1964. Landmann: Prügeln. Vgl. Ernst Koppel: Auch ohne Pop-Art bessere Menschen, in: FAZ v. 20.7.1966, S. 9; Karl Wimmenauer: Überlegt übergelegt, in: FAZ v. 16.7.1966, S. 12. Zwei weitere Zuschriften enthielten präzisierende Anmerkungen zur Rechtslage, ohne den Aussagen des Artikels zum Thema selbst zu widersprechen (vgl. Rolf Eckert: Wer das Züchtigungsrecht überschreitet, und Lutz Hambusch: Auf dem Rückzug, beide in: FAZ v. 18.7.1966, S. 6). Nur ein Leser verteidigte den „kurz nach der Tat verabreichte[n] Klaps oder die Ohrfeige“ in der elterlichen Erziehung (vgl. Heinz Grahn: Gerade weil die Einsicht fehlt, in: FAZ v. 20.7.1966, S. 9).
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Die große öffentliche Aufmerksamkeit für Hävernicks Ergebnisse forderte Pädagogen und Psychologen zu Erwiderungen heraus, um die Expertenhoheit nicht dem Hamburger Volkskundler zu überlassen. So bewertete etwa der Pädagoge Wolfgang Scheibe Hävernicks Buch als gefährlich, da es die Befürworter körperlicher Strafen bestärke.299 Der Kinderarzt und Psychotherapeut Gerd Biermann kritisierte Hävernick nicht nur fachlich, sondern in erster Linie wertbezogen: In einem Lande, in welchem tägliche Veröffentlichungen aus den KZ-Prozessen stets von neuem menschliche Abgründe aufdecken, in welchem eine zunehmende Legalisierung der Prügelstrafe in den Schulen (wieder!) dem brünstigen Schrei nach der Wiedereinführung der Todesstrafe parallel geht, ist eine Veröffentlichung wie die vorliegende ein schlechter Beweis für die notwendige innere Wandlung zu Toleranz und Menschlichkeit.300
Die öffentlichkeitswirksamste Reaktion war aber das von dem Sozialpsychologen und Psychoanalytiker Klaus Horn als direkte Erwiderung auf Hävernick verfasste Buch Dressur oder Erziehung? Schlagrituale und ihre gesellschaftliche Funktion, das von 1967 bis 1973 insgesamt sechs Auflagen in der einflussreichen edition suhrkamp erlebte. Schon der Untertitel macht deutlich, dass Horns Perspektive eine gesellschaftskritisch-politische war: Ähnlich wie beispielsweise Heinrich Meng zwanzig Jahre zuvor betonte Horn die Unvereinbarkeit von einer (die Möglichkeit von) Gewaltanwendung beinhaltenden oder gar auf dieser basierenden Erziehung mit den Anforderungen einer demokratischen Gesellschaft. Der Unterschied zu Meng lag auch hier in der Blickrichtung, die nach dem Zweiten Weltkrieg in die Zukunft gerichtet gewesen war, nun aber kritisch auf die Gegenwart einer als unzureichend empfundenen inneren Demokratisierung zielte. So erklärte Horn: „Im Rahmen gegenwärtiger gesellschaftlicher Verhältnisse, d. h. in der bürokratischen Welt, bereitet ein solches Erziehungsprogramm ausgezeichnet darauf vor, jeweils machtgerecht, stets unterwürfig zu reagieren.“301 Da die gegenwärtige Gesellschaft „auch den Eltern nicht mehr das Vertrauen vermittelt, Herr über ihr Leben zu sein“, seien diese bestrebt, ihre Unsicherheit und Orientierungslosigkeit „durch besonders autoritatives Auftreten gegenüber ihren Kindern zu verbergen“.302 Horns stattdessen aufgestellte Forderung, dass Erziehung zur Autonomie führen und das Kind lernen müsse, seine „Triebregungen“ zu beherrschen, ohne sie zu unterdrücken bzw. zu verdrängen, stand ganz
299 300 301 302
Wolfgang Scheibe: Rezension von: Walter Hävernick: „Schläge als Strafe“, in: Zeitschrift für Pädagogik 13 (1967), S. 87–91. Gerd Biermann: Rezension zu: Walter Hävernick: „Schläge als Strafe“, in: Psyche 19 (1965), S. 797–799. Horn: Dressur, S. 75. Ebd., S. 56.
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in der bis in die 1920er Jahre zurückreichenden Tradition psychoanalytischer Pädagogik. Auch die schon nach 1945 zu beobachtende distanzierende Bezugnahme auf die nun nicht mehr unmittelbare Vergangenheit fehlt bei Dressur oder Erziehung nicht und erhielt zudem eine neuartige aggressive Zuspitzung: So verglich Horn Hävernicks Erziehungsvorstellung mit der Haltung von NS-Tätern und schloss, dass es in Bezug auf die Verabsolutierung von Härte zum Selbstzweck und die Reduktion des Menschen auf „Mittel, an denen der Zweck vollzogen werden kann“, zwischen einzelnen Passagen von Schläge als Strafe und „dem Pogrom per Unterschrift [. . . ] keinen qualitativen Unterschied“ gebe.303 Ähnlich scharf beschrieb Rainer Baginski diesen Zusammenhang in der Satirezeitschrift Pardon, indem er sich ausmalte, wie „das theoretische Talent Walter Hävernicks“ der nationalsozialistischen Pädagogik hätte zugutekommen können. Schließlich teilten in den Augen Baginskis beide das gleiche Erziehungsziel: „das dressierte, völlig bewußtlos reagierende Kind, das auch später als Erwachsener noch möglichst widerspruchslos den notfalls mit Gewalt durchgesetzten Kommandos der jeweils Herrschenden gehorcht“.304 Blinder Gehorsam als Erziehungsziel war das eine Leitmotiv, das in dieser Deutung Hävernick in die Nähe des Nationalsozialismus rückte, das andere war die Gewalt selbst bzw. der Sadismus derjenigen, die sie ausübten: Eine den Artikel illustrierende Karikatur parallelisierte einen sein Kind schlagenden Vater mit einer früheren Version seiner selbst, die als SS-Mann die Peitsche über KZ-Häftlingen schwang. Solche drastischen Vergleiche vermittelten eine absolute Ablehnung von Gewalt, die im diametralen Gegensatz stand zu den Versuchen der Befürworter körperlicher Strafen, diese vom „Prügeln“ zu distanzieren. Vielleicht noch wichtiger für den Einfluss von Horns Dressur oder Erziehung auf die Debatte war sein Beitrag zur weiteren Popularisierung des auf Fromm zurückgehenden, von Meng in die Diskussion um körperliche Schulstrafen eingebrachten und in der Zwischenzeit vom in die USA emigrierten Institut für Sozialforschung weiter entwickelten Konzepts des „autoritären Charakters“ im Zusammenhang mit Erziehungsstrafen.305 Mit seiner Verbindung von Psychoanalyse und Gesell303 304 305
Ebd., S. 112. Rainer Baginski: Schlagt wieder mehr zu!, in: Pardon 5 (1966), Heft 8, S. 36–38 (Zitat S. 38, die im Folgenden erwähnte Karikatur von Arno Plog S. 37). Vgl. u. a. Horn: Dressur, S. 54, S. 133. Theodor W. Adorno veröffentlichte gemeinsam mit Else Frenkl-Brunswik, Daniel J. Levinson und R. Nevitt Sanford 1950 als Teil der Ergebnisse eines Forschungsprojekts zur Entstehung (antisemitischer) Vorurteile The Authoritarian Personality. Zentrale These war die Existenz eines besonders faschismusanfälligen „autoritären Charakters“, der sich psychoanalytisch gesprochen durch ein schwaches Ich und ein rigides, externalisiertes Über-Ich auszeichnet, was zu einer autoritären Unterwürfigkeit, starrem Befolgen konventioneller Normen sowie Aggression und Vorurteilen gegen Außengruppen führe (vgl. Wiggershaus: Frankfurter Schule, S. 461; Walter-Busch:
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schaftskritik sensibilisierte Horn insbesondere das die öffentlichen Debatten immer mehr prägende linksintellektuelle (Studenten-)Milieu für die Thematik körperlicher Erziehungsgewalt. Zwei Jahre später verlängerte der Kinderpsychotherapeut Gerd Biermann diese Traditionslinie mit seiner „Dokumentation“ Kindeszüchtigung und Kindesmißhandlung, die Heinrich Meng gewidmet war. Unterstützt und angeregt wurde sie von der Humanistischen Union, einer 1961 gegründeten Bürgerrechtsorganisation, die sich unter anderem für eine Erziehungsreform einsetzte, welche die nach ihrer Diagnose noch vorherrschenden autokratischen, „systematisch autoritäre Charaktere“ heranbildenden Erziehungsmuster durch Erziehungsziele wie „Selbstvertrauen, Tatkraft, kritisches Denken, [. . . ] und Kooperationsfähigkeit“ ersetzen sollte.306 Biermann kombinierte in seiner Dokumentation Beispiele für Kindesmisshandlungen, psychologische, medizinische und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse über die Gefahren körperlicher Strafen und Aussagen von Befürwortern dieser Strafart, die deren Verbreitung in Familien illustrieren sollten. Dabei zitierte er nicht nur sehr ausführlich aus Hävernicks Monographie, sondern auch aus Leserzuschriften in der Neuen Gerichtszeitung. Dieses Magazin, in dem fast ausschließlich positiv und detailliert über gewaltsame Erziehungspraktiken vor allem in der Familie, aber auch in der Schule berichtet wurde, bewegte sich an der Grenze zwischen ernsthafter Verteidigung der Prügelstrafe und sadomasochistischer bzw. flagellantischer Pornografie. Wie viele der abgedruckten Zuschriften fiktiv waren und wie viele tatsächlich ausgeübte Erziehungsgewalt dokumentierten, ist unklar – unabhängig davon gestand Biermann dem hauptsächlich über den Bahnhofshandel verkauften Presseprodukt wohl mehr Repräsentativität und Bedeutung für das Reden über Erziehungsstrafen zu, als es (trotz einer Auflage von immerhin 25.000 bis 35.000 Exemplaren Anfang der 1970er Jahre) tatsächlich hatte.307 Freilich beschränkte sich Biermanns Dokumentation nicht allein auf die etwas fragwürdigen Quellen Hävernick und Neue Gerichtszeitung. Sie enthielt vielmehr Auszüge aus zahlreichen Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln etwa aus der Zeit, der Frankfurter Allgemeinen, dem Spiegel oder dem Stern – und spiegelt damit wider, dass die Problematik der häuslichen Gewalt gegen Kinder in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre in der Öffentlichkeit breit diskutiert wurde.308
306 307 308
Geschichte, S. 131). Die Autoren stellten fest, dass Personen mit hohen Werten auf den Faschismus- und Vorurteilsskalen häufig von harten, körperlichen Strafen berichteten, und werteten den Stil elterlicher Disziplinierung als „part of the foundation for an authoritarian vs. democratic approach to interpersonal relationships“ (Adorno et al.: Personality, S. 371–376, Zitat S. 376). Humanistische Union: Wege, S. 2 und S. 10. Vgl. Bundesprüfstelle: Entscheidung 2529 (zum pornografischen Charakter insb. S. 42 f., Auflagenzahl S. 34). Vgl. zu diesen fachlichen und öffentlichen Debatten Neumaier: Familie, S. 409–414.
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Entscheidend ist dabei, was schon der Titel des Buchs zeigt: Züchtigung und Kindesmisshandlung wurden in engem Zusammenhang gedacht, sei es als direkte Gleichsetzung oder zumindest als fließender Übergang. Diese Problematisierung gerade der in (angeblicher) erzieherischer Absicht ausgeübten Gewalt entzog der traditionellen Trennung von als legitim gesehener maßvoller Züchtigung und tabuisierter Misshandlung den Boden. Indem sie eine absolute Ablehnung von Erziehungsgewalt vertraten und die ihr zugrunde liegende psychologische und soziologische Argumentation popularisierten, hatten die Schriften Biermanns und Horns sowie die sonstigen öffentlichen Reaktionen auf Hävernicks Thesen einen wichtigen Einfluss auch auf die Bewertung körperlicher Schulstrafen, selbst wenn sie sich höchstens am Rande mit der konkreten Frage des schulischen Züchtigungsrechts auseinandersetzten. Ganz spezifisch zum Züchtigungsrecht der Lehrer äußerte sich dagegen Theodor W. Adorno 1965 bei einem Vortrag im Berliner Institut für Bildungsforschung, der zudem vom Hessischen Rundfunk gesendet und in der Zeitschrift Neue Sammlung veröffentlicht wurde: Unter dem Titel „Tabus über dem Lehrberuf [sic]“ präsentierte Adorno einige Hypothesen zur Frage, warum das gesellschaftliche Ansehen von Lehrern im Vergleich zu anderen Berufen gering sei – und nannte als einen maßgeblichen Faktor: „Hinter der negativen imago des Lehrers steht die des Prüglers.“309 Das Bild vom Lehrer als dem „physisch Stärkeren, der den Schwächeren schlägt“ präge (auch nach der offiziellen Abschaffung körperlicher Strafen in den beiden Bundesländern, in denen der Vortrag gehalten bzw. gesendet wurde) die Wahrnehmung dieses Berufs. Daraus folge: „Wer daher gegen die Prügelstrafe ist, vertritt, um jener Imagerie willen, die Interessen des Lehrers mindestens ebensosehr wie das des Schülers.“310 Dieses Argument unterschied sich kaum von Carl Kletts schon 1869 vorgebrachter – und seitdem immer wieder in den Lehrerdebatten präsenter – Forderung, durch die Abschaffung körperlicher Strafen das Ansehen der Lehrerschaft zu heben.311 Allerdings ging für Adorno die Bedeutung des Themas über eine bloße Frage der pädagogischen Standesehre hinaus, wenn er etwa ausführte, dass die Gesellschaft „die Leistung der sogenannten zivilisatorischen Integration [. . . ] bis heute und unter den herrschenden Verhältnissen nur mit dem Potential physischer Gewalt vollbringen“ könne und diese Gewalt unter anderem an Lehrer als „Sündenböcke“ delegiert werde.312 Die Tatsache, dass die Ablehnung von Körperstrafen mit grundsätzlicher Kritik an den herrschenden gesellschaftlichen 309 310 311 312
Adorno: Tabus, S. 80. Vgl. als weiteren Beleg für die breite öffentliche Rezeption des Vortrags: Rufus: Tabus über dem Lehrerberuf, in: Die Zeit Nr. 33 v. 13.8.1965. Adorno: Tabus, S. 80. Vgl. Klett: Lehrer, S. 30 f. Adorno: Tabus, S. 81.
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Verhältnissen verbunden wurde, ist an sich nichts Neues und uns beispielsweise schon in Eduard Sacks Streitschrift ganz am Anfang des Betrachtungszeitraums begegnet. Doch war der Stellenwert solcher sich im Laufe des Jahrzehnts intensivierenden und radikalisierenden Gesellschaftskritik in den 1960er Jahren ein ungleich größerer. Mit ihr hing es zusammen, dass zum Ende des Jahrzehnts das Thema körperlicher Strafen nicht nur in der Familie, sondern auch mit Bezug auf die Schule wieder größere Aufmerksamkeit erhielt. 5.4.3 Goldener Schlagring für Prügelpädagogen: die Schülerbewegung
Der Abbau autoritären Verhaltens und die Demokratisierung der Schule waren auch Kernforderungen der das Ende der 1960er prägenden Protestbewegung unter Schülern, die zwar in den Erinnerungen an „1968“ weniger präsent ist als die Studentenproteste, aber zeitgenössisch durchaus als bedeutend wahrgenommen wurde.313 Die Schülerbewegung bestand nicht nur in sich ab 1967 bildenden, sich am Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) orientierenden radikalen Schülergruppen, sondern auch in einer weit darüber hinausreichenden „breite[n] Bewegung von Schülern, die für die Demokratisierung der Schule eintraten“, ohne den sozialistisch-revolutionären Impetus ihrer radikaleren Altersgenossen zu teilen.314 Die Annahme, dass zu den von der Schülerbewegung als autoritär angeprangerten schulischen Praktiken neben – beispielsweise – Zensur von Schülerzeitungen, Benachteiligung sich schulkritisch äußernder Schüler oder intransparenter Notengebung auch körperliche Strafen gehörten, liegt sehr nahe. Bestätigt wird sie z. B. durch einen Blick in das im November 1968 vom Verlag der erfolgreichen Satirezeitschrift Pardon begründete „deutsche Schülermagazin“ underground, das versuchte, die in der Schülerschaft herrschende Stimmung aufzugreifen – und deshalb als relativ guter Indikator für ebendiese gelten kann.315 Es führte in der ersten Nummer öffentlichkeitswirksam eine „Zentralkartei für Lehrerverbrechen“ ein und vergab regelmäßig den „goldenen Schlagring“ als Preis für „Prügelpauker“. Dieses öffentliche Anprangern einzelner „Prügelpädagogen“ erinnert an einen Weg des Kampfs gegen körperliche Schulstrafen, der uns 313 314 315
Vgl. zum Folgenden: Gass-Bolm: Gymnasium, S. 264–280; Schildt: Nachwuchs. Gass-Bolm: Gymnasium, S. 272. Vgl. für aus zeitgenössischer Sicht zusammengestellte Beispiele: Helmut Wiese: Aufstand gegen die Schule, in: ADLZ 21 (1969), Heft 5, S. 12. Underground erschien mit einer Startauflage von 120.000 und bemühte sich intensiv um engen Kontakt zu seiner Leserschaft, etwa mit Fragebogenaktionen oder dem Anwerben von Schülern als Beiträgern. Die von der organisierten Schülerbewegung als unzulässige Kommerzialisierung abgelehnte Zeitschrift blieb allerdings für den Verlag unrentabel und wurde 1970 eingestellt (vgl. Schildt: Nachwuchs, S. 242 f.)
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ähnlich schon in der sozialistischen Presse um 1900 begegnet ist. Der „goldene Schlagring“ blieb trotz rechtlicher Bedenken über ein Jahr hinweg eine regelmäßige Rubrik des Magazins, in der über einzelne Misshandlungsfälle basierend auf Schüleraussagen und in plastischer Sprache berichtet wurde, wobei meist auch die ihre schlagenden Kollegen schützenden Schulleiter und die als zu milde empfundene bzw. ausbleibende Ahndung durch die Schulbehörden scharf kritisiert wurden.316 Dabei wurden durchgängig nur solche Fälle aufgegriffen, die jegliches etwaiges Züchtigungsrecht klar überschritten und meist schon zu einem strafrechtlichen Verfahren gegen den jeweiligen Lehrer geführt hatten – in den Worten des Magazins: „Wir berichten nicht über einfache oder doppelte Ohrfeigen – mit solchen Berichten könnten wir das ganze Heft füllen.“317 Ob die Berichte über „einfache“ Ohrfeigen tatsächlich ganze Hefte hätten füllen können, mag dahingestellt sein – in einer Umfrage des Hefts hatten immerhin 37 % der männlichen Leser und 61 % der Leserinnen angegeben, dass in den letzten 12 Monaten an ihrer Schule keine Schläge durch Lehrer vorgekommen seien. 54 % der Jungen und 28 % der Mädchen berichteten vom Schlagen mit der Hand, je 3 % von Stockschlägen im gleichen Zeitraum.318 Bei diesen Zahlen ist zu bedenken, dass underground sich klar an eher ältere Schüler richtete – und somit die große Mehrheit der Leserschaft aus Gymnasiasten oder Berufsschülern bestanden haben dürfte. Zumindest an ersterer Schulform waren Körperstrafen bereits seit längerer Zeit in der Theorie nicht mehr akzeptiert, auch wenn sie – wie nicht zuletzt die Berichte des Schülermagazins selbst belegen – in der Praxis durchaus noch vorkamen.319 Angesichts dessen ist es bemerkenswert, dass es dem Magazin nicht nur um das Bekämpfen von Missständen in der Praxis ging, sondern auch um die Veränderung theoretischer Normen, die den Großteil seiner Leser nicht direkt betrafen: „Immer lauter wird der Ruf nach einem generellen Prügelverbot. Was underground dazu tun kann, wird getan.“320 Dazu empfahl das Magazin seinen Lesern: „Wenn Lehrer in der Schule schlagen, verstoßen sie gegens Grundgesetz: Die Schüler können das anzeigen – oder zurückschlagen. 316
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319 320
Vgl. z. B.: „Karchers Kraftakt“ und „Schmirgel-Meier“, Heft 2, S. 13 u. S. 16; „Musik in den Fäusten“, Heft 5, S. 20–21; „Prügelquartett“, Heft 8, S. 8–9, S. 13, alle in: underground 2 (1969). Prügel für Tasso, in: underground 2 (1969), Heft 9, S. 14–15. So autoritär sind unsere Schulen, in: underground 2 (1969), Heft 1, S. 46 f. Gefragt wurde nur, ob geschlagen worden war – über die Häufigkeit von Schlägen machte die Umfrage also keine Aussage. Vgl. Gass-Bolm: Ende, S. 449. Prügel für Tasso, in: underground 2 (1969), Heft 9, S. 14–15. Das Magazin druckte auch den das Züchtigungsrecht einschränkenden und Körperstrafen als pädagogisch ungeeignet bezeichnenden niedersächsischen Erlass von 1947 ab mit dem Kommentar: „Damals, zwei Jahre nach Ende der Naziherrschaft, hatten sich die Lehrer viel vorgenommen. Heute wird noch immer (oder schon wieder?) an jeder zweiten Schule geprügelt [. . . ] Mal sehen, wie lange noch.“ (Der goldene Schlagring, in: underground 2 (1969), Heft 1, S. 4–5, Zitat S. 5).
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Das ist Notwehr.“321 Diese Empfehlung war zwar in dieser zugespitzten Vereinfachung juristisch nicht ganz korrekt, prinzipiell entsprach sie mit ihrer Berufung auf Grund- und Notwehrrechte der Schüler im Zusammenhang mit Schulstrafen aber tatsächlich Positionen, die im zeitgenössischen rechtswissenschaftlichen Diskurs vertreten wurden.322 Trotz des regelmäßigen Aufgreifens durch underground waren körperliche Strafen in den Schülerprotesten um 1968/69 ein zwar angesprochenes, aber doch eher am Rande präsentes Thema. Dies ist vor allem damit zu erklären, dass die Schülerbewegung in erster Linie ein gymnasiales Phänomen war.323 Da an dieser Schulform Körperstrafen zwar in der Praxis durchaus noch vorkommen konnten, ihre Illegitimität jedoch in den normativen Debatten seit Längerem Konsens und in vielen Bundesländern auch schulrechtlich zementiert war, wurden sie – über das Anprangern von Einzelfällen hinaus – weniger als reformbedürftiges Problem empfunden. Nicht nur Schülermedien wie underground, sondern auch die überregionale Presse begann, wie Sonja Levsen beobachtet, „um 1968 [. . . ], schulische Körperstrafen vehement als indiskutable Erziehungsmaßnahme zu verdammen.“324 Somit rückten zum Ende der 1960er Jahre das Thema körperlicher Schulstrafen und die Frage ihrer pädagogischen und rechtlichen Zulässigkeit wieder in den Fokus der öffentlichen Diskussion. Bevor diese Debatten jedoch in den Blick genommen werden, gilt es zunächst einen Blick darauf zu werfen, inwiefern sich die geschilderten normativen und diskursiven Entwicklungen bis zu den 1960er Jahren im Handeln von Lehrern widerspiegelten.
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Schießen Sie nicht auf den Lehrer!, in: underground 1 (1968), Heft 2, S. 32–37, Zitat S. 36. So etwa bei: Dietrich Küchenhoff, Verfassungsrechtliche Grenzen des Ausschlusses eines Schülers von weiterführenden Schulen, in: Recht und Wirtschaft der Schule 4 (1963), S. 353–358. Vgl. auch Gass-Bolm: Ende, S. 450. So fanden sich im „Aktionszentrum unabhängiger und sozialistischer Schüler“ organisierte Gruppen „fast ausschließlich an Gymnasien“ (Schildt: Nachwuchs, S. 239), Gass-Bolm: Gymnasium spricht von einer Protestbewegung „der Schüler, vor allem der Gymnasiasten“ (S. 264). Ein lokales Beispiel illustriert, dass noch Mitte der 1970er Jahre Gymnasien eine gewisse Vorreiterrolle beim Schülerprotest zukommen konnte: Als sich in einem pfälzischen Dorf Schüler einer Grund- und Hauptschule über schlagende Lehrer beschwerten, dürfte es kein Zufall sein, dass als Initiator des Protests ein Schüler genannt wurde, der kurz zuvor von einem Gymnasium an die Schule gewechselt war (vgl. den Schriftwechsel in LHA Koblenz 910, 9509, s. S. 395 dieser Arbeit). Levsen: Autorität, S. 524. Dort auch Beispiele, insbesondere aus Spiegel und Zeit.
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5.5 Soziale Praxis 5.5.1 1940er und 1950er Jahre: weitgehend akzeptierte Anwendung
Die vorangegangenen Kapitel haben gezeigt, dass, auch wenn auf der Ebene der pädagogischen Debatten in den Nachkriegsjahren die grundsätzliche Ablehnung von Körperstrafen zunächst dominierte, deren Befürwortung unter Lehrern und in der Öffentlichkeit stets weit verbreitet blieb, schon bevor sie in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre auch in den Debatten wieder offensiver geäußert wurde. Angesichts dessen drängt sich die Frage auf, inwieweit die in den meisten Bundesländern bestehenden starken Einschränkungen oder gar Verbote tatsächlich in der schulischen Praxis umgesetzt wurden. Für Bayern wird der von der Elternbefragung geweckte Eindruck, dass die meisten Eltern Schläge in der Schule akzeptierten, auch durch weitere Indizien gestützt: So berichteten in einer Zeitzeugenbefragung zu den bayerischen Schulverhältnissen in der unmittelbaren Nachkriegszeit damalige Lehrer von einer weit verbreiteten Akzeptanz körperlicher Schulstrafen durch Eltern und Kollegen. Ein Lehrer erinnerte sich an den Rat einer Kollegin, „Lassen Sie sich nichts gefallen, schlagen Sie hin!“, den er selten durch Stockschläge, häufiger durch Ohrfeigen umgesetzt habe, „stets für Kleinigkeiten, immer in der Sorge: Wenn ich den Schülern dieses Druckmittel nicht zeige, tanzen sie mir auf dem Kopf herum. Einsprüche seitens der Eltern gab es nie; ihre gängige Redensart lautete: ‚Schade um jeden Schlag, der danebengeht!‘“325 Auf welchen Begründungen und Erziehungsvorstellungen eine solche Befürwortung beruhen konnte, illustriert ein Urteil des Landgerichts Passau aus dem Jahr 1957: Das Gericht hatte über die Revision eines Volksschullehrers zu entscheiden, der in zwei Fällen angeklagt war, weil er eine Schülerin der fünften und einen Jungen der achten Klassenstufe jeweils mit Lineal bzw. Stock auf den Handrücken geschlagen hatte, was in beiden Fällen schmerzhafte Schwellungen zur Folge hatte. Das Schöffengericht hatte ihn im ersten Fall freigesprochen, im anderen aber zu 20 DM Geldstrafe verurteilt. Das Landgericht hob diese Verurteilung auf, wobei die allgemeinen Grundsätze, von denen das Gericht ausging, wenig überraschend und aus den theoretischen Debatten dieser Zeit wohlbekannt sind: Lehrer sollten zwar versuchen, ohne Körperstrafen auszukommen, aber es „kann besonders bei den Auswirkungen der Kriegs- und Nachkriegszeit auf eine Erziehung mit körperlichen Mitteln heute und auch in Zukunft solange
325
Zitiert nach Dannhäuser: Schulgeschichte, S. 309. Vgl. auch weitere Berichte ebd., S. 309– 312.
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nicht ganz verzichtet werden, als auch die Eltern bei schwer erziehbaren Kindern nicht ohne sie auskommen können“.326 Interessant ist jedoch, wie diese allgemein formulierte Unverzichtbarkeit in der konkreten Anwendung aussehen konnte: Der Anlass für die zur Verurteilung führenden Schläge war eine Rechenaufgabe, die der Junge nicht lösen konnte – so zumindest die vom Schüler berichtete Version, der Lehrer dagegen konnte sich an den Fall zwar nicht mehr erinnern, beteuerte aber, dass er sicher nicht wegen der mangelnden Leistung, sondern wegen „schlechten Benehmens“ geschlagen habe.327 Die Frage ließ sich wegen der gegensätzlichen Aussagen nicht eindeutig klären, war aber für das Gericht auch kaum entscheidend: Schließlich galt der bayerische Erlass, der Körperstrafen nur bei Rohheit und Widersetzlichkeit erlaubt, als strafrechtlich irrelevant, sodass stattdessen die Grenzen der Züchtigung von den „Grundsätzen des Sittengesetzes und dem Erziehungszweck“ bestimmt wurden.328 Diese Grenzen waren für die Strafkammer im vorliegenden Fall eindeutig erfüllt, denn die Bestrafung habe dem Wohl des Kindes gedient. Dabei sei ihr genauer Anlass „weniger von Bedeutung. Wesentlich ist dagegen die Eigenart des Kindes“. Diese bestehe darin, dass der Junge nach Aussage des Vaters unwillig und nur durch Zwang zum Lernen zu bewegen sei, obwohl er nur mittelmäßig begabt sei und daher, so die Strafkammer, Grund hätte, „sich besonders anzustrengen, nachdem er nach dem Willen seines Vaters in die Mittelschule übertreten sollte. Es fehlte dem Schüler an dem notwendigen Ernst. Er bedurfte einer straffen Führung. Er mußte scharf herangenommen werden, wenn er es zu etwas bringen wollte.“329 Das Gericht ging fest davon aus, dass die „sittliche und charakterliche Entwicklung des Jungen, die der Angeklagte im Gegensatz zu seinem Vater richtig erkannt hatte“, die körperliche Bestrafung notwendig gemacht habe, die zudem „maßvoll und am Platz“ gewesen sei.330 Im anderen Fall bestätigte das Landgericht den ursprünglichen Freispruch und verwarf die Revision des Staatsanwalts. Hier hatte der Angeklagte eine Schülerin wegen einer Unterrichtsstörung ermahnt, woraufhin sie wenig später während einer kurzen Abwesenheit des Lehrers nicht die gestellten Aufgaben bearbeitete. Als der Lehrer dies nach seiner Rückkehr bemerkte, bestrafte er das Mädchen mit drei – nach seinen Angaben leichten – Schlägen mit dem Lineal auf den Handrücken bzw. die Finger. Das Gericht stimmte der Deutung des Lehrers zu, dass das Mädchen während der Abwesenheit des Lehrers aus Trotz über die ursprüngliche Ermahnung „ihre Unterweisung einfach verweigert“ habe. Die
326 327 328 329 330
LG Passau: Urteil v. 4./8.3.1957, Aktz. Ns 198/55 bzw. Ns 324/56, Abschrift in BayHStA MK 61941, S. 6. Ebd., S. 6. Ebd., S. 7. Ebd., S. 8. Ebd., S. 8.
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Urteilsbegründung beschrieb die Schläge auf die Hand nicht nur als angemessene Reaktion, sondern ging sogar einen Schritt weiter: „Ein solcher Trotzanfall muß, wenn das Kind gebessert werden soll, sofort gebrochen werden, durch spürbare Züchtigung.“331 Somit sei die körperliche Bestrafung für die „sittliche und charakterliche Entwicklung des Kindes [. . . ] zwingend“ geboten gewesen.332 Auch in diesem Fall spielte die „Eigenart“ des geschlagenen Mädchens für die Urteilsbegründung eine wichtige Rolle: „Es ist trotzig, widerspenstig, ungehorsam und ungezogen. Es fehlt ihm von Haus aus an Folgsamkeit und Achtung vor dem Lehrer. Es ist beeinflußt und wird unterstützt von seinem gegen die Schule eingestellten Vater und ist schwer erziehbar.“333 So lautete die Einschätzung des Gerichts, für das zudem Widersprüche zwischen den Aussagen des Mädchens und seiner Mitschülerinnen den Beleg lieferten, dass das Kind „sehr lügenhaft“ sei. In der Urteilsbegründung des Passauer Landgerichts zeigt sich ein Erziehungsverständnis, wie es Matthias Blum auch in seiner Analyse des BGH-Urteils 1957 beschrieben hat: Bei Konflikten und Störungen wird stets das Kind als Verursacher gesehen, der Fokus liegt allein auf dem unerwünschten Verhalten und es „wird unhinterfragt vorausgesetzt, dass die körperlichen Züchtigungen auf die Gesinnung und den Willen des Kindes einwirken“.334 Hinzu kommt eine schon bei der Untersuchung von Einzelfällen aus dem 19. Jahrhundert festgestellte Neigung, problematisches Verhalten nicht situativ oder mit vom Kind nicht zu beeinflussenden Faktoren zu erklären, sondern mit negativen Charaktereigenschaften (wie hier Faulheit oder Widerspenstigkeit), die nur durch Körperstrafen zu bekämpfen seien. Daraus ergibt sich die Behauptung, dass die Bestrafung letztlich im Interesse des Kindes selbst liege – und im Sinne einer erforderlichen „straffen Führung“ unverzichtbar sei. Die Urteile stellen eine vergleichsweise extreme Position dar, die nicht ohne Weiteres verallgemeinert werden sollte. Schließlich zeigen die ursprüngliche Verurteilung in einem Fall und die vom Staatsanwalt eingelegte Revision, dass auch in der zeitgenössischen juristischen Praxis eine andere Deutung vertreten werden konnte. Dennoch belegen die Ausführungen des Landgerichts Passau, dass traditionelle, weit ins 19. Jahrhundert zurückreichende Einstellungen zur pädagogischen Notwendigkeit von Körperstrafen bei der Beurteilung konkreter Einzelfälle sehr viel deutlicher und uneingeschränkter geäußert werden konnten, als dies in den eher grundsätzlich-theoretischen Debatten der Fall war. Dass sie nicht nur unter Richtern verbreitet waren, zeigt sich auch in weiteren Einzelfällen aus den späten 1940er und 1950er Jahren. So verteidigte im Mai 1947, als das 331 332 333 334
Ebd., S. 12. Ebd., S. 13. Ebd., S. 11. Blum: Ohrfeige, S. 231.
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völlige Verbot körperlicher Strafen noch galt, ein Pfarrer sein Züchtigungsrecht sehr offensiv: Nachdem er einen Schüler wegen als respektlos empfundenen Verhaltens zweimal geohrfeigt, an Haaren und Ohren festgehalten und mit der Faust auf den Rücken geschlagen hatte, empfand er es als unangemessen, dass das Amtsgericht ihn per Strafbefehl zu 70 Mark Geldstrafe verurteilte, „[a]nstatt daß der flegelhafte Junge bestraft worden wäre“. Er betonte: „Bisher ist in der Praxis das Züchtigungsrecht, zumal wenn jedes andere Mittel versagte, vieltausendmal als selbstverständlich im ganzen Lande angewendet worden u. ohne Widerspruch bestätigt worden.“335 Auch das Bezirksschulamt im oberpfälzischen Neustadt an der Waldnaab betonte in seinem Bericht über einen anderen Züchtigungsfall, dass sich ansonsten „noch kein Erziehungsberechtigter wegen der körperlichen Züchtigung beschwert hat. Die Eltern begrüssen vielmehr diese mit Rücksicht auf die immer wieder vorkommenden schweren sittlichen Verfehlungen der älteren Jugend.“336 Es berichtete, dass es im Landkreis in den letzten beiden Schuljahren vier Schwangerschaften von 13- bis 14-jährigen Mädchen gegeben habe und betonte: „Bei solch erschütterten [sic] Tatsachen müssen selbst die stärksten Gegner der körperlichen Züchtigung [. . . ] zum Schweigen gebracht werden.“ Der hier als selbstverständlich angenommene Zusammenhang zwischen diesen Problemen und der schulischen Strafpraxis spiegelt deutlich die alte Gleichsetzung von erfolgreicher mit strenger Erziehung und von letzterer mit der Möglichkeit körperlichen Strafens. Reaktion der Schulbehörden
Die Passauer Gerichtsurteile zeigen, dass in der Theorie akzeptierte Einschränkungen in der Praxis auch nach 1945 noch weit überschritten werden konnten, ohne dass dies gerichtlich geahndet worden wäre. Schließlich war in beiden Passauer Fällen sehr fraglich, ob das Verhalten wirklich als „schwere Verfehlung“ in Form „grober Unbotmäßigkeit oder Roheit“ zu werten war, wie es der bayerische Erlass zur Voraussetzung körperlicher Strafen machte – und das Schlagen von Mädchen war nach ebendiesem Erlass generell verboten. Dass Gerichte die Bestimmungen des Erlasses nicht als bindend werteten, entsprach bekanntlich der nach 1945 gängigen Rechtsauffassung. Doch auch auf der dienstlichen Ebene wurden Verstöße gegen die Einschränkungen keinesfalls durchgehend geahndet. Beispielsweise hatte sich 1947 ein Vater unter Verweis auf das zum Tatzeitpunkt noch gültige Züchtigungsverbot beschwert, dass ein Lehrer seinen Sohn mit dem Stock auf die Schultern geschlagen und dabei auch das Ohr getroffen habe. Die Staatsanwaltschaft leitete ein Ermittlungsverfahren ein, stellte dieses aber ein, da der Lehrer sein Züchtigungsrecht nicht 335 336
Pfarrer G. an StMUK, 20.5.1947, BayHStA MK 61942. Bezirksschulamt Neustadt/Waldnaab an StMUK, 1.12.1947, BayHStA MK 61942. Dort auch das folgende Zitat.
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überschritten habe. Damit war auch für Regierung Niederbayern/Oberpfalz die Beschwerde „im wesentlichen gegenstandslos“ und sie sah keinen Grund für ein dienststrafrechtliches Vorgehen, zumal auch der Kreisschulrat den Lehrer positiv beschrieben hatte.337 Während die Einstellung des strafrechtlichen Verfahrens oder ein Freispruch wie hier als Beleg genommen werden konnten, dass die Züchtigung legitim und ein Dienststrafverfahren nicht nötig sei, wurde umgekehrt auch bei einer Verurteilung meist von zusätzlichen, über eine Mahnung oder einen Verweis hinausgehenden dienstrechtlichen Folgen abgesehen.338 Allerdings konnten auch gravierende Sanktionen vorkommen, vor allem gegenüber Lehrern, die nicht verbeamtet, sondern nur per Dienstvertrag angestellt waren und somit leichter entlassen werden konnten: 1947 wurde in Coburg ein Lehrer entlassen, nachdem er eine Schülerin wegen einer (wohl nicht von ihr selbst verursachten) Drängelei bei der Essensausgabe mit dem Handrücken ins Gesicht geschlagen und so Nasenbluten und einen Bluterguss verursacht hatte. Das Schlagen eines Mädchens sowie die Tatsache, dass der Lehrer sich danach nicht um die blutende Schülerin gekümmert und die sich kurz darauf in der Schule beschwerende Mutter barsch zurückgewiesen habe, ließ für den Coburger Schulrat erkennen, „daß er trotz der äußeren Betonung seiner demokratischen und volksnahen Einstellung den Anforderungen einer neuen Erziehung nicht genügt“.339 Dass das Kultusministerium der gleichen Ansicht war und dem Lehrer schließlich gekündigt wurde, obwohl sich Bürger des Orts für ihn eingesetzt hatten, dürfte vor allem an dieser eindeutigen Stellungnahme des Schulrats gelegen haben. Wahrscheinlich war aber auch ein Faktor, dass die Coburger Zeitung Neue Presse über den Vorfall, wie schon über einen ähnlichen kurz zuvor, berichtet und dies mit scharfer Kritik am im Franken eher unbeliebten Züchtigungserlass Hundhammers verbunden hatte.340 Eine weitere Entlassung ist aus Oberbayern 1950 überliefert: Dort hatte ein Lehrer in mindestens fünf Fällen so heftig geschlagen, dass es aus Sicht der Regierung eindeutig als Überschreitung des Züchtigungsrechts zu bewerten war (beispielsweise hatte er einem Schüler innerhalb eines Nachmittags insgesamt 25 Stockschläge gegeben, andere so heftig ins Gesicht geschlagen, dass es zu 337 338 339 340
Regierungspräsidium Niederbayern/Oberpfalz an StMUK, 15.1.1948, BayHStA MK 61942. Vgl. z. B. Regierung Schwaben an StMUK, 13.4.1954, BayHStA MK 61943. Schulrat Coburg 1 an StMUK, 24.10.1947, BayHStA MK 61942. Vgl. Hundhammereien, in: Neue Presse Nr. 81 vom 15.10.1947, Ausschnitt in BayHStA MK 61940. Auch in einem anderen Fall in Coburg wenige Wochen forderte das Kultusministerium die Regierung auf „unter allen Umständen“ auf die Einhaltung der Erlassbestimmungen zu drängen und den Verstoß „dienstaufsichtlich schärfstens zu ahnden“, falls die Vorwürfe sich bestätigen sollten. In diesem Fall allerdings bewertete die Regierung die zwischenzeitlich zurückgezogene Beschwerde der Mutter als unbegründet (vgl. Briefwechsel Regierung Ober- und Mittelfranken und StMUK, 11. bzw. 19.11.1947, BayHStA MK 61942).
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Nasenbluten führte). Sie wies das Schulamt an, in diesen fünf Fällen Strafanzeige wegen Körperverletzung zu erstatten, und löste zudem das Dienstverhältnis mit dem Lehrer. Die Erklärung der Regierung, „dass Sie zwar von dem Recht der körperlichen Züchtigung einen übermässigen Gebrauch gemacht haben, der erzieherische Erfolg aber in umgekehrtem Verhältnis dazu stand“341 , zeigt, dass Brutalität und Häufigkeit der Körperstrafen zwar der wichtigste Grund für die Entlassung waren, daneben aber auch der mangelnde Unterrichtserfolg eine Rolle gespielt haben dürfte. Insgesamt war es aber eher eine Ausnahme, dass Elternbeschwerden für die Lehrkraft schwerwiegendere Folgen, wie sie bei verbeamteten Lehrern ein förmliches Dienststrafverfahren mit sich bringen konnte, zur Folge hatten. Von insgesamt 20 zwischen 1948 und 1952 beim Kultusministerium verzeichneten Beschwerdefällen wurden fünf mit einem schriftlichen Verweis oder der Verpflichtung zum Führen eines Strafbuchs geahndet, zwei führten zu einem Gerichtsverfahren, das eingestellt wurde, und in zwei Fällen verhängte das Strafgericht Geldstrafen von 20 bzw. 60 DM. Bei drei Fällen erfolgte keine Sanktion gegen den Lehrer, und die Annahme liegt nahe, dass dies auch für die meisten der acht Fälle gilt, bei denen keine Details zum weiteren Verlauf überliefert sind.342 Dass es neben diesen angezeigten Fällen noch eine sehr viel höhere Dunkelziffer von Überschreitungen des Erlasses gab, ist sehr wahrscheinlich angesichts der weitverbreiteten Akzeptanz von Körperstrafen in der Elternschaft, wie sie etwa in den Ergebnissen der Abstimmung 1947, in Lehrererinnerungen wie den eingangs geschilderten oder auch in verschiedenen zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Studien deutlich wurde.343 Die Selbstverständlichkeit, mit der körperliche Strafen als legitimes Erziehungsmittel angenommen wurden, zeigt sich außerdem immer wieder daran, dass Eltern betonten, ihre Beschwerde richte sich nicht gegen die Tatsache, sondern nur gegen Art und/oder Anlass einer körperlichen Bestrafung. Typisch ist die Zusicherung eines Vaters: „Ich bin der letzte, der einem Lehrer nicht ein gewisses Züchtigungsrecht zuerkennt.“344 Ein anderer Vater beteuerte 1948: „Ich erziehe meine Kinder sehr streng in guten Sitten [. . . ]. Sie bekommen, wenn sie es verdienen, von mir reichlich Prügel.“345 Die gegenteilige Position einer von Eltern geäußerten absoluten Ablehnung körperlicher Strafen ist bis in die 1950er Jahre unter den bayerischen Beschwerdefällen nicht zu finden, auch wenn einzelne Eltern beispielsweise jegliches Schlagen 341 342 343
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Regierung Oberbayern an Lehrer L. M., 30.8.1950, in BayHStA MK 61942. Vgl. die Aufzeichnungen in MK 61942. Vgl. Levsen: Autorität, S. 298–303. Bei einer Anfang der 1950er Jahre durchgeführten Studie etwa waren mehr als die Hälfte der von den befragten Jugendlichen auf die Frage nach den Strafmethoden ihrer Eltern genannten Antworten Formen körperlicher Strafen (vgl. Pipping u. a.: Gespräche, S. 167–171). G. H. an Kultusminister Schwalber, 30.11.1953, BayHStA MK 61943. E. K. an StMUK, 5.7.1948, BayHStA MK 61942.
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ins Gesicht ablehnten, „da es ehrverletzend ist und außerdem gesundheitliche Schädigungen eintreten“, oder auf die Gesundheitsgefahr bei Schlägen auf den Handteller hinwiesen.346 Lediglich aus Hessen sind Beispiele von Eltern überliefert, die sich gegen jegliche Körperstrafen aussprachen und beispielsweise berichteten, „einen unnachgiebigen Kampf gegen die körperliche Züchtigung meiner Kinder in der Schule“ zu führen.347 Dass sich Eltern in einem Bundesland, in dem ein absolutes Verbot existierte, bei Beschwerden eher auf die dahinterliegende Überzeugung beriefen als in einem Land, das Körperstrafen unter bestimmten Bedingungen erlaubte, ist nicht erstaunlich. Doch was bedeutete das hessische Verbot abgesehen von diesen einzelnen Stimmen? Inwieweit wurde es eingehalten und führte es zu einer veränderten Einstellung gegenüber Körperstrafen im schulischen Alltag? Strafen trotz Verbot? Hessische Beispiele
Als bei einer sozialwissenschaftlichen Studie im Jahr 1950 Darmstädter Volksschüler der vierten und siebten Klasse über ihr „Leben in der Schule“ berichten sollten, sprachen zwar nur 17 bzw. 13 % das Thema Strafen überhaupt an. Von diesen erwähnten jedoch 50 % der Jungen und 15 % der Mädchen im siebten Volksschuljahr körperliche Strafen.348 Ein Schüler berichtete sogar: „In der Schule wird man immer geschlagen.“349 Auch einige Jahre später wurde es von Lehrern, aber auch in der Öffentlichkeit und von Schulbehörden, immer wieder als offenes Geheimnis angesprochen, dass „kein Tag vergeht, an dem nicht in irgendeiner hessischen Schule ein Kind nach der Definition des Erlasses gezüchtigt wird“.350 Dies bedeutet allerdings nicht, dass tatsächlich eine große Zahl an Vorfällen aktenkundig geworden wäre, im Gegenteil: Beispielsweise sprach das Kreisschulamt Bergstraße 1949 und 1950 je drei, in den nächsten fünf Jahren 346 347
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349 350
U. T. an „Kultusministerium von Oberbayern“, 8.7.1954, BayHStA MK 61943. E. S. an MEV, 12.9.1950, HHStAW 504, 3384. Bl. 56. Vgl. auch den Leserbrief „Wiedereinführung der Prügelstrafe?“, in: Darmstädter Echo, 13.7.1950 (Ausschnitt in HHStAW 504, 3384, Bl. 70). In Rheinland-Pfalz dagegen fragte zwar ein Vater beim Kultusministerium an, ob er sich strafbar mache, „wenn ich eine derartige Strafe mir vom Lehrer oder Lehrerinnen verbitte und gegebenenfalls von meinem Kinde verlange, sofort nach Hause zu kommen, wenn doch eine Prügelstrafe vollzogen wurde?“. Er schränkte jedoch gleich ein, die Frage setze „natürlich voraus, dass es sich nicht um grobe Ungezogenheiten des Kindes handelt, die den Lehrplan stören oder die Autorität des Lehrers untergraben.“ (Z. an MUK, 27.10.1954, LHA Koblenz 910, 9509). Im 4. Volksschuljahr waren es nur 17 bzw. 9 %, Schüler der Höheren Schule berichteten insgesamt nur sehr selten von Strafen und gar nicht von körperlichen. Vgl. Kuhr: Schule, S. 104 f. Ebd., S. 106. Schwiethal: Wort, S. 375. Vgl. auch: Kreislehrertag und Jahreshauptversammlung in Heppenheim, in: Hessische Lehrerzeitung 10 (1957), S. 41.
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insgesamt nur zwei Warnungen oder Verweise wegen verbotener Körperstrafen aus.351 Dennoch ging man im Kultusministerium davon aus, „daß in den hessischen Volksschulen in jeder Woche wenigstens hundert Schläge ausgeteilt werden, von denen wir nichts erfahren“ – und zog aus dieser Tatsache die Konsequenz, „nach dem Opportunitätsprinzip nur diejenigen Fälle im Disziplinarweg zu verfolgen, die dafür geeignet sind“, und auf ein gesetzliches Verbot, das eine strafrechtliche Untersuchung aller Verstöße erfordert hätte, zu verzichten.352 Diese Aussage, die 1955, als sich in der öffentlichen Meinung die Befürworter eines Züchtigungsrecht im Aufschwung befanden, getroffen wurde, ist nicht so zu verstehen, als hätte das Kultusministerium die Einhaltung des Erlasses gar nicht durchzusetzen versucht. Im Gegenteil finden sich in den Akten Belege, dass das Ministerium aktiv die Untersuchung und Ahndung von Verstößen vorantrieb, von denen es durch Zuschriften oder die Presse erfahren hatte.353 Doch wurde offenbar, teilweise durchaus billigend, akzeptiert, dass trotz solcher Bemühungen eine ausnahmslose Umsetzung des Verbots nicht zu erwarten war. Dies hing auch mit der weitverbreiteten Akzeptanz für körperliche Strafen zusammen, die sich in Einzelfällen immer wieder in den Rechtfertigungen von Lehrern, Vorgesetzten und Eltern zeigt – und manchmal sogar in den Aussagen der betroffenen Schüler:354 So berichtete eine Schülerin auf Nachfrage, dass sie von einem Lehrer Schläge erhalten habe, relativierte aber selbst: „Ich glaube aber, daß ich sie verdient hatte. Ich hatte damals während des Unterrichts mit meinem Schulranzen gespielt und nicht aufgepasst.“355 Bemerkenswert ist hier nicht nur, dass das Mädchen die Berechtigung von Schlägen als Erziehungsmittel internalisiert hatte, sondern vor allem, dass gemäß den von ihr übernommenen Maßstäben Unaufmerksamkeit im Unterricht bereits ein berechtigter Anlass sein konnte – ein klarer Hinweis, dass Körperstrafen aus ebendiesem Anlass in ihrem Schulalltag in einer Kleinstadt bei Hanau nicht unüblich waren.356 Tatsächlich 351 352 353 354
355 356
Vgl. die Berichte in HStAD H2 Bergstraße, 8453. MD Kluge: Vermerk, 7.9.1956, HHStAW 504, 4210. Vgl. etwa MEV an Regierung Darmstadt, 23.8.1950, HHStAW 504, 3384, Bl. 64. Die Akzeptanz körperlicher Strafen belegt auch die Befragung von Pipping u. a., die in den 1950er Jahren in Anlehnung an die Arbeiten des Instituts für Sozialforschung das Verhältnis deutscher Jugendlicher zur Autorität untersuchten. Einer der Sätze, die den 18bis 22-jährigen Probanden zur Einschätzung vorgelegt wurden, lautete: „Im Alter ist man dankbar für die Schläge, die man als Kind bekommen hat.“ Dieser wurde von 83,4 % der Befragten bejaht, lediglich 12,5 % äußerten sich ablehnend. Vgl. Pipping u. a.: Gespräche, S. 339. Stadtpolizei Steinheim: Vernehmungsprotokoll, 23.3.1954, HStAD H 13 Darmstadt, 723, Bl. 19. Auch in einem anderen Fall aus dem Jahr 1950 berichteten mehrere Schüler, der beschuldigte Lehrer sei sehr gerecht, er schlage zwar manchmal auf den Hintern, „aber das ist dann immer richtig und notwendig“; er gebe „hin und wieder“ Ohrfeigen, habe aber „immer recht, wenn er das tut“, oder auch: „Er schlägt die Schüler fast überhaupt nicht, nur,
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waren sie für ihren Lehrer offenbar ein selbstverständliches Erziehungsmittel, dessen Gebrauch er mit angesichts des hessischen Verbots bemerkenswerter Offenheit zugab: Nachdem er beschuldigt worden war, Schülerinnen der sechsten Klasse durch Berührung an der Brust sexuell belästigt zu haben, das Verfahren aber eingestellt wurde, versuchte der Lehrer sich zu rehabilitieren, indem er in einem Brief an seinen Rektor betonte, die Anzeige sei ein bloßer Racheakt einer Mutter gewesen, „deren Kinder ich wegen Frechheit und Halsstarrigkeit vermöbelt hatte“.357 Dieses Eingeständnis wurde von dritter Seite der örtlichen Polizei berichtet, die daraufhin Ermittlungen wegen Körperverletzung aufnahm – der Rektor allerdings versuchte seinen Kollegen zu schützen, indem er zunächst ablehnte, der Polizei den fraglichen Brief zu zeigen.358 Der Lehrer gab an, seine Aussage beziehe sich auf einen Fall im Vorjahr, als er zusätzlich zu seiner eigenen Klasse mit ca. 60 Schülern eine weitere Klasse mit ca. 40 Schülern in einem anderen Raum vertretungsweise mitbetreuen musste. Als trotz mehrfacher Ermahnungen und anderer Strafen (Nachsitzen, Zusatzaufgaben) eine Schülerin durch Schwätzen den Unterricht gestört habe, habe er ihr drei Ohrfeigen gegeben. Zwar beteuerte der Lehrer gegenüber der Polizei, er sei „kein Anhänger der körperlichen Züchtigung, aber es kann, wie Herr Schulrat S[. . . ] sagte, einem interessierten und gewissenhaften Lehrer heutzutage in einem Industriegebiet einmal passieren, daß ihm die Hand ausfährt“.359 Doch seine Wortwahl gegenüber dem Rektor und die Tatsache, dass er gegenüber dem Vater des geschlagenen Mädchens die Ohrfeigen damit erklärt hatte, „daß wir es gut mit den Kindern meinen und in deren Interesse handelten“, deuten an, dass das ‚Hand ausfahren‘ dem Lehrer eben nicht als bereute Kurzschlusshandlung erschien, sondern als in bestimmten Situationen notwendige und angemessene Reaktion. In dieser Auffassung konnte er sich insofern bestätigt sehen, als die Staatsanwaltschaft das Verfahren wegen Geringfügigkeit der Schuld ohne Auflagen einstellte. Wie gewaltsame Erziehungspraktiken durch Eltern akzeptiert werden konnten, illustriert das Beispiel einer Mutter, die sich 1949 über eine Bestrafung ihres Sohnes beschwerte. Sie gab zu, dass sie dem Lehrer schon lange vor dem Vorfall erlaubt habe, ihren Sohn „nach Maß und Ziel zu strafen auch in Form von Stockschlägen“.360 Dass sie sich dennoch mit einer Beschwerde ans Kultusministerium wandte, lag an der Intensität, mit der der Lehrer dieser Erlaubnis nachgekom-
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wenn wir es verdienen“ (Zitate nach Rechtsanwalt V. H. an Generalstaatsanwalt Frankfurt, 16.6.1950, HStAD, H 13 Darmstadt, 265, Bl. 23–27). Schreiben vom 23.11.1953 (Abschrift), HStAD 723, Bl. 13. Ortspolizeibehörde Steinheim am Main an Oberstaatsanwalt Darmstadt, 26.11.1953, HStAD 723, Bl. 1. Stadtpolizei Steinheim: Vernehmungsprotokoll, 3.3.1954, HStAD 723, Bl. 15 f. Dort auch das folgende Zitat. Gendarmerie-Station-Eschenrod an Kreisschulamt Büdingen, 10.11.1949, HStAD H52 Groß-Gerau 364.
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men war: Er hatte den Achtklässler, der bei einem Schulausflug die Erklärungen des Lehrers gestört und nachgeäfft hatte, am folgenden Tag so stark mit einem Stock auf den Hintern geschlagen, dass mehrere blutunterlaufene Striemen mit „erheblicher Schwellung des Unterhautgewebes“ die Folge waren. Die Mutter berichtete sogar von Besinnungslosigkeit, Erbrechen, Kotablassen und Fieber als Folgen der Züchtigung, was im ärztlichen Attest weder bestätigt noch widerlegt wurde. Trotz des Ausmaßes der Strafe erschien dem Bürgermeister des Dorfs die Handlungsweise des Lehrers insgesamt „durchaus begreiflich und verständlich. Von vielen älteren Gemeindegliedern wurde sie geradezu begrüßt. Ich selbst lehne die körperliche Züchtigung allgemein ab, halte sie aber in diesem Fall für voll gerechtfertigt.“361 Diese Einschätzung hatte der Bürgermeister offenbar auch der Mutter mitgeteilt, denn diese berichtete, sie habe nach dem Vorfall zunächst mit ihm sowie den örtlichen Polizeibeamten Rücksprache gehalten und sich dabei bereit erklärt, keine weitere Anzeige oder Beschwerde gegen den Lehrer zu erstatten. Erst danach sei sie von verschiedenen Dorfbewohnern „aufgewiegelt“ worden und habe sich deshalb an das Ministerium gewandt. Wiederum einige Wochen später, nachdem die Darmstädter Regierung die Untersuchung des Falls angeordnet hatte, zog die Mutter ihre Beschwerde wieder zurück.362 Hier zeigt sich, dass neben der konkreten Angst vor einer Benachteiligung des eigenen Kinds in der Schule auch die verbreitete Akzeptanz körperlicher Schulstrafen Eltern von Beschwerden in Züchtigungsfällen abhalten konnte. Der Lehrer begründete die Strafe nicht zuletzt mit dem ausdrücklichen Auftrag der alleinerziehenden Mutter, ihren Sohn „an Vaters Stelle [. . . ] ‚richtig abzuziehen‘, wenn ich es für nötig erachten sollte“.363 Doch dies war nicht der einzige Faktor, mit dem er sein Verhalten rechtfertigte: Ähnlich wie für das Passauer Gericht lag auch für den Lehrer die Notwendigkeit körperlicher Strafen in den dem Schüler zugeschriebenen Charaktereigenschaften begründet. Der Schüler sei ein begabter, aber „nicht zu bändigender Unruhestifter, der mit dauernden frechen und zynischen Bemerkungen den Unterricht erheblich störte“, und „ein schwer erziehbarer Junge [. . . ], dessen Begabung nur zu seinem Schaden, wenn nicht zu seinem Verderb führen muß, wenn er nicht durch geeignete erzieherische Maßnahmen auf eine andere Bahn gelenkt werden kann“. Dabei ging der Lehrer nicht davon aus, dass Körperstrafen grundsätzlich eine solche geeignete Maßnahme seien – im Gegenteil, er betonte, dass er in der „Erziehung ohne körperliche Züchtigung das höhere Ziel sehe“ und das von der Mutter
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Bürgermeister v. Eichelsachsen an Kreisschulamt Büdingen, 10.11.1949, HStAD H 52 Groß-Gerau 364. Gendarmerie-Station-Eschenrod an Kreisschulamt Büdingen, 10.11.1949, HStAD H 52 Groß-Gerau 364. Lehrer an Kreisschulamt Büdingen, 9.11.49, HStAD H 52 Groß-Gerau 364. Dort auch die folgenden Zitate.
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übertragene Züchtigungsrecht (von dem er irrig annahm, dass es das Körperstrafenverbot aufhebe) nur „im äußersten Falle“ nutzen wollte. Doch nachdem der Junge auf Ermahnungen und persönliche Aussprachen nicht reagiert habe, sei dem Lehrer klargeworden, „daß Schüler in der Art von H[. . . ] ohne Anwendung des ‚äußersten Mittels‘ nicht zu erziehen sind.“ Der Lehrer drohte deshalb Schläge an, zögerte zunächst aber noch, die Drohung wahrzumachen, worauf sich das Verhalten des Jungen noch verschlechtert habe. Trotz ihres Rechtfertigungscharakters wirken die Ausführungen des Lehrers durchaus glaubhaft. Nimmt man sie ernst, illustrieren sie, wie tief selbst bei Körperstrafen an sich kritisch gegenüberstehenden Lehrern die Vorstellung noch verwurzelt war, dass bei schwierigen Schülern (nur) dieses ‚letzte Mittel‘ zum Erziehungserfolg führen und damit im Interesse des Kinds selbst liegen könne. Gleichzeitig ist auch hier wieder der altbekannte Mechanismus zu erkennen, dass Lehrer den Eindruck hatten, auf Schläge zurückgreifen zu müssen, um ihre durch Ungehorsam oder (vermeintliche) Frechheit bedroht scheinende Autorität zu verteidigen. Dies galt insbesondere, wenn der Weg der Androhung von Gewalt einmal eingeschlagen war: „Wenn ich nun nicht alle Autorität vor der Klasse verlieren wollte, mußte ich meine Drohungen, die mir oft in höchster Verzweiflung entwichen, zur Tat werden lassen“, beschrieb der Lehrer diese von ihm empfundene Alternativlosigkeit. Hierzu passt, dass auch Schulbehörden das Argument der angegriffenen Autorität als Rechtfertigung körperlicher Strafen recht bereitwillig akzeptierten: So wurde der Lehrer vom Kreisschulrat lediglich verwarnt, womit die Bezirksregierung sich einverstanden erklärte. Auch als 1950 ein Lehrer zwei Schüler mit dem Zeigestock auf den Hintern schlug, weil sie zuvor beim Aufstellen am Ende der Pause gegen die ausdrückliche Ermahnung des Lehrers mehrmals ihren Platz wieder verlassen hatten, „um sich herumzubalgen“, bewertete dies der zuständige Kreisschulrat zwar als „unpädagogisch[e] Handlung“. Gleichzeitig erschien ihm aber die Erregung des Lehrers als „begreiflich“, denn er habe sich „durch die Unbotmäßigkeit der Schüler und die Missachtung seiner Warnungen [. . . ] vor den Kindern und Kollegen in seinem Ansehen und in seiner Autorität geschädigt“ gesehen.364 Er plädierte deshalb dafür, es bei einem Verweis des Lehrers zu belassen und auf weitere Sanktionen zu verzichten. Auch in Nordrhein-Westfalen wurden die theoretischen schulrechtlichen Einschränkungen in der Praxis häufig nicht beachtet – darauf deutet zumindest die kriminologische Dissertation Peter Leiferts aus dem Jahr 1961 hin, in der 70 Strafverfahren gegen züchtigende Lehrer ausgewertet wurden. Obwohl Schüler der ersten beiden Jahrgänge nicht geschlagen werden durften, waren von 46 Fällen, in denen die Klassenstufe bekannt war, zweimal Erst- und neunmal 364
Kreisschulrat Dieburg an Regierungspräsidium Darmstadt. Abt. II, 2.8.1950, HStAD H 2 Dieburg, 9372.
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Zweitklässler betroffen (Letztere bildeten damit nach den Fünftklässlern sogar die zweitgrößte Jahrgangsgruppe).365 Auch die Anlässe der Züchtigungsfälle bieten ein aus vorherigen Jahrzehnten vertrautes Bild, denn viele gingen aus eher alltäglichen Unterrichtssituationen hervor: 20 der 70 Fälle betrafen nach Leiferts Zusammenfassung „Unterrichtsstörungen durch Lachen, Schwätzen und Spielen sowie Ablenkungen leichterer Art mit Banknachbarn oder anderen Klassenkameraden“, wobei der Körperstrafe stets mindestens eine erfolglose Ermahnung vorausgegangen war. In fünf Fällen hatten die bestraften Schüler Haus- oder Strafarbeiten, teils wiederholt, nicht angefertigt, in drei waren sie lediglich im Unterricht unaufmerksam gewesen. Bei den übrigen Verfahren reichten die Strafanlässe vom Werfen mit Papierschnipseln bis hin zur Gewalt gegen Mitschüler oder dem Abfeuern einer Schreckschusspistole im Unterricht. Insgesamt ließ sich also nur ein kleiner Teil der Körperstrafen als Reaktion auf ein „Roheitsoder Grausamkeitsvergehen“, wie es der Erlass von 1947 als legitimen Anlass für Körperstrafen beschrieb, fassen.366 Dennoch lagen die meisten nach Auffassung des Gerichts oder der Staatsanwaltschaft im Rahmen des Züchtigungsrechts: Lediglich 10 Fälle führten zu einer Verurteilung (mit Geldstrafen zwischen 20 und 200 DM), in 24 weiteren wurde zwar ein Verschulden des Lehrers festgestellt, das Verfahren aber wegen Geringfügigkeit eingestellt.367 Hier zeigt sich wiederum, wie bereits im 19. Jahrhundert, dass die tatsächliche Gefahr schwerwiegender strafrechtlicher Konsequenzen für Lehrer deutlich geringer war, als es die Klagen über Rechtsunsicherheit und „mit einem Bein ins Gefängnis“ gestellte Lehrer suggerieren könnten.368 Noch ein weiteres den Lesern dieser Arbeit wohlbekanntes Muster zeigt sich in den von Leifert analysierten Fällen: Neben der „der Erziehung des Schülers dienende[n] Bestrafung“ und der Aufrechterhaltung der Schulzucht identifizierte er die „Wahrung der Autorität des Lehrers“ als ein Hauptmotiv der angeklagten Lehrer. Bemerkenswert sind hier insbesondere zwei Beispiele, die Leifert mit offensichtlichem Verständnis für die Perspektive des Lehrers schildert. Das erste betrifft einen Vertretungslehrer, der in einer als schwierig bekannten Klasse Schüler geschlagen hatte, weil sie durch Reden mit dem Nachbarn im Unterricht gestört hatten: „Er wollte von vornherein nicht den Eindruck aufkommen lassen, daß die Schüler mit ihm so verfahren könnten, wie sie es vorher mit anderen Lehrkräften getan hatten.“ Mit dem Ziel, „die Durchführung des Unterrichts durch die Erzeugung einer gewissen Furcht vor seiner Person zu gewährleisten“, habe er deshalb „auch die unter anderen Umständen zu übersehende Verfehlung
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Leifert: Züchtigungsrecht (1961), S. 48. Zitiert nach Knorr: Züchtigung, S. 131. Vgl. ebd., S. 68 f. Mayer: Züchtigungsrecht, S. 469.
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des Schülers“ geahndet.369 Für den Lehrer war offenbar nicht nur selbstverständlich, dass Unterrichtsstörungen am besten durch eine auf eine ‚gewisse Furcht‘ gegründete Autorität zu vermeiden seien, sondern er maß dem Ziel des disziplinierten Unterrichts eine so hohe Priorität bei, dass es Gewaltanwendung und (wegen des geringfügigen Anlass) einen Verstoß gegen die kultusministeriellen Vorschriften rechtfertigen konnte. Mehr noch: Indem der Lehrer im Zusammenhang mit dem Strafverfahren auf diese Art sein Verhalten rechtfertigte, ging er offensichtlich davon aus, dass diese Prioritätensetzung auf Zustimmung stoßen würde. Im zweiten erwähnenswerten Beispiel schlug ein Lehrer einen Schüler, der beim Rückweg vom Sport neben einer verkehrsreichen Straße nicht in der vorgegebenen Reihe blieb und Ermahnungen des Lehrers demonstrativ ignorierte. Als Passanten die Klasse beobachteten, habe der Schüler diese „Widersetzlichkeiten verstärkt“ – woraufhin der Lehrer den Schüler ohrfeigte, „um sein Ansehen sowohl gegenüber den Schülern und der gesamten Klasse, als auch gegenüber dem Publikum, das dem Vorfall folgte, zu wahren“.370 Hier wird die breite Akzeptanz von Körperstrafen als Mittel zur Sicherung der Lehrerautorität noch einmal besonders deutlich. Denn nach dieser (von Leifert unhinterfragt übernommenen) Logik musste der Lehrer davon ausgehen, dass sein Ansehen beim zusehenden Publikum durch ungehorsame Schüler deutlich stärker geschädigt würde als durch seinen Rückgriff auf gewaltsame Erziehungsmittel. 5.5.2 1960er Jahre: sinkende Akzeptanz
Vor allem in Bayern, aber auch in den anderen Bundesländern, deuten die untersuchten Einzelfälle darauf hin, dass in den 1940er und 1950er Jahren körperliche Strafen noch weit über das schulrechtlich erlaubte Maß hinaus angewendet wurden und dass dies von Lehrern, Eltern und Schulbehörden weitgehend stillschweigend akzeptiert wurde. Mit Beginn des nächsten Jahrzehnts änderte sich an der ersten Tatsache zunächst wenig, in Bezug auf die zweite bahnte sich aber ein allmählicher Wandel an. So ist zumindest das Bild, das eine 1964 veröffentlichte Studie des Münchner Instituts für Jugendforschung unter dem Psychologieprofesser Heinz-Rolf Lückert zeichnet. Sie stellt einen der wenigen Versuche dar, empirische Daten zur Strafpraxis in Klassenzimmern zu erheben – ein weiteres Beispiel wären die weit rezipierten Untersuchungen Anne-Marie Tauschs, bei denen jedoch Körperstrafen keine Rolle gespielt hatten.371 369 370 371
Leifert: Züchtigungsrecht (1961), S. 66. Ebd., S. 65. Vgl. Tausch: Erziehungssituationen. Dass in Tauschs Erhebungen keine Körperstrafen registriert wurden, ist nur sehr begrenzt aussagekräftig: Schließlich fanden sie größtenteils
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Lückerts Ergebnisse erregten unter dem Namen „Prügelreport“ schnell großes Aufsehen: Die Umfrage unter 12- bis 14-jährigen Schülern aus sechs Klassen verschiedener (unterschiedliche Milieus repräsentierender) bayerischer Schulen hatte ergeben, dass 78 % der Jungen in ihrer bisherigen Schulzeit mindestens einmal mit „Tatzen“, also Schlägen auf die Hand, bestraft worden waren. Ohrfeigen hatten 67 %, „Hosenspanner“ (Schläge auf den Hintern) 57 % selbst erlebt. Neben diesen ‚regulären‘ Formen körperlicher Strafen waren auch Ziehen an den Haaren (31 % der Jungen, 4 % der Mädchen) oder den Ohren (23 bzw. 5 %) verbreitet. Besonders bemerkenswert war zudem, dass auch unter den Mädchen 49 % „Tatzen“, 45 % Ohrfeigen und 7 % sogar Schläge auf den Hintern erlebt hatten, obwohl sie nach den Bestimmungen des Erlasses von 1947 bzw. der Schulordnung von 1959 gar nicht hätten geschlagen werden dürfen.372 Die Ergebnisse deuteten nicht nur auf eine weite Verbreitung, sondern auch eine breite Akzeptanz körperlicher Strafen hin – nicht zuletzt bei den Schülern selbst: Als schwerste Strafen wurden von ihnen nicht etwa Körperstrafen, sondern Strafarbeiten und Nachsitzen genannt. Auch auf die Frage „Von welcher Strafe glaubst du, daß sie dich am ehesten wieder zum Guten führt?“ nannten immerhin 12 % der Jungen und 5 % der Mädchen „Schläge“ (am häufigsten waren wie bei der Frage nach der schwersten Strafe Strafarbeiten und Nachsitzen).373 Als ein Grund, warum schulische Körperstrafen verhältnismäßig selten zu Beschwerden der Eltern führten, wurde das häufige Vorkommen dieser Strafen im Elternhaus genannt – bei Lückerts Befragung berichteten 47 % der Jungen und 50 % der Mädchen von Ohrfeigen ihrer Eltern, bei Stockschlägen waren es 55 % und 37 %. Damit waren Schläge zwar die häufigste familiäre Strafe, andererseits fällt auf, dass die Zahl der Schüler, die von Schlägen im Elternhaus berichteten, geringer war als die der in der Schule geschlagenen. Die Befunde des „Prügelreports“ lösten eine schriftliche Anfrage der SPDLandtagsfraktion und ein weit über Bayern hinausreichendes Presseecho aus.374 Bei Lehrern stießen sie auf Ungläubigkeit und Kritik insbesondere an der teils verzerrten Darstellung in der Presse, aber auch an der Aussagekraft der Untersuchung selbst, die als nicht repräsentativ bewertet wurde.375 Im direkten
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in Hessen statt und die Anwesenheit eines externen Beobachters dürfte Lehrer davon abgehalten haben, ein verbotenes Strafmittel anzuwenden, selbst wenn sie es unter anderen Bedingungen vielleicht getan hätten. Vgl. Hugo Zirngibl/Heinz-Rolf Lückert: Der „Prügelreport“, in: Bayerische Schule 17 (1964), S. 347. Vgl. Roedl: Bestrafung, S. 39. Vgl. etwa „Das Ehrgefühl eines Kindes nicht verletzen“, in: FAZ vom 9.7.1964, S. 7; Paul Stein: Bayerische Prügel, in: Die Zeit Nr. 35 vom 28.8.1964; Bayerischer Landtag, Drucksache 5/1343, 29.7.1964. Vgl. z. B. Reinhold Drescher: Der umstrittene „Prügelreport“, in: Bayerische Schule 17 (1964), S. 418–420. Die Kritik an der Presseberichterstattung ist durchaus nachvollziehbar,
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Schriftwechsel mit einem dieser Kritiker gestand der Vorsitzende des BLLV, Hugo Zirngibl, er sei selbst „schockiert“ über den Report gewesen und habe „diese Zahlen einfach für unmöglich“ gehalten. Doch „Umfragen bei vielen Kollegen und z. B. beim Stadtschulamt München überzeugten mich, daß bei einem evtl. öffentlichen Streit mit Professor Lückert der Gegenbeweis sehr schwer angetreten werden könnte“, zumal Letzterer „für die wissenschaftliche Zuverlässigkeit seines Berichtes auf die Barrikaden steigen“ würde.376 Tatsächlich verteidigte Lückert in der Zeitschrift des BLLV die Methodik seine Studie und betonte, die Ergebnisse seien repräsentativ für Bayern. Im Landkreis Ansbach überprüften Schulamt und Schuljugendberatung Lückerts Ergebnisse mit einer eigenen, auf nur leicht modifizierten Fragen beruhenden Studie.377 Die dort festgestellten deutlich niedrigeren Prozentzahlen von in der Schule geschlagenen Schülern (von Ohrfeigen berichteten 51 % der Jungen, 25 % der Mädchen, von „Tatzen“ nur 8 bzw. 7 % und von Schlägen auf den Hintern oder andere Körperteile 16 bzw. 6 %) dürften allerdings weniger die Ergebnisse Lückerts infrage stellen als die großen regionalen Unterschiede innerhalb Bayerns demonstrieren – schließlich lag das mittelfränkische Ansbach in dem bayerischen Bezirk, in dem die Elternbefragung 1947 eine Mehrheit für ein Verbot körperlicher Strafen ergeben hatte, auch wenn speziell im Kreis Ansbach damals noch die Züchtigungsbefürworter überwogen hatten. Doch unabhängig von der Frage, wie verallgemeinerbar Lückerts Ergebnisse im Einzelnen waren, demonstrierten sie eindeutig, dass zumindest in bestimmten Regionen Körperstrafen auch in den frühen 1960er Jahren kein nur ausnahmsweise angewendetes „letztes Mittel“, sondern Teil des schulischen Alltags waren. Allerdings – und das ist vielleicht der interessantere Befund aus den Diskussionen rund um den „Prügelreport“ – wurde diese Tatsache nun nicht mehr stillschweigend hingenommen. Darauf deutet schon die Tatsache hin, dass nicht nur in Lückerts Studie, sondern auch in der Folgeuntersuchung des Ansbacher Schulamts versucht wurde, das tatsächliche Vorkommen von Körperstrafen im Schulalltag zu messen. Die Reaktionen des Lehrerverbands, die nicht nur die altbekannte Sorge vor einer negativen öffentlichen Darstellung des Berufs, sondern auch Ungläubigkeit über die Ergebnisse selbst spiegeln, sind ein weiterer Indikator. Aus der ersten Hälfte der 1960er Jahre sind drei Urteile des bayerischen Dienststrafhofs zu Fällen überliefert, in denen Lehrer eine verhängte Disziplinarstrafe
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denn mehrere Zeitungen berichteten beispielsweise, dass es an ländlichen Schulen „noch in Mode“ sei, Schüler zur Bestrafung auf einem scharfkantigen Holzscheit knien zu lassen (Paul Stein: Dann doch lieber Watschen. . . , in: Die Zeit Nr. 29 vom 17.7.1964), obwohl dies nur von einem Schüler als mögliche (nicht als selbst erlebte) Strafe genannt worden war. Hugo Zirngibl an Kreisverein Staffelstein-Seßlach, 18.8.1964, BayHStA, BLLV 917. Vgl. Roedl: Bestrafung.
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wegen Überschreitungen des Züchtigungsrechts nicht akzeptierten. Ein Fall zeigt, mit wie großer Überzeugung Lehrer auch um 1960 noch eine regelmäßige Anwendung körperlicher Strafen vertreten konnten: Ein Lehrer hatte Ende 1961 mit seiner aus den Jahrgängen fünf bis acht bestehenden Klasse Rechenaufgaben geübt. Da beim mündlichen Üben sehr viele Fehler gemacht worden waren, ließ er die Aufgaben schriftlich rechnen und drohte den Schülern pro Fehler eine „Tatze“ an. Infolgedessen bekamen alle Fünftklässler und einige Schüler höherer Jahrgänge je nach ihrer Fehlerzahl bis zu acht Schläge auf die Hand – wobei unter den Bestraften auch neun Mädchen waren.378 Bemerkenswert ist hierbei, dass der Lehrer, der dem Kreislehrerverein vorsaß und zudem Gemeinderats- und Kreistagsmitglied war, offenbar von der Richtigkeit seines Handelns überzeugt war: Nachdem das Bezirksschulamt wegen dieses Verstoßes Ermittlungen begonnen hatte, stellte der Lehrer bei einer Elternversammlung die Anschuldigungen zur Diskussion und ließ die Erziehungsberechtigten abstimmen, ob sie ihm und seiner Tätigkeit vertrauten und die Züchtigungen billigten. Tatsächlich habe, so der Lehrer, die Mehrheit der Eltern keine Einwände gegen die Bestrafung gehabt. Das Vorgehen des Lehrers zeigt, dass er mit großer Selbstverständlichkeit davon ausging, dass sogar Schläge wegen schlechter Leistungen in seinem lokalen Umfeld akzeptiert würden. Doch war diese Einschätzung in Bezug auf die niederbayerische Regierung nicht mehr korrekt: Sie verurteilte den Lehrer per Dienststrafverfügung zu einer Geldbuße von 200 DM.379 Dagegen legte er, offenbar immer noch überzeugt von der Rechtmäßigkeit seines Tuns, Beschwerde beim Kultusministerium ein und beantragte, nachdem diese abgelehnt worden war, eine Entscheidung des Dienststrafhofs. Doch auch dieser erkannte die Rechtfertigungsgründe des Lehrers, der sich auf ein Gewohnheitsrecht berief und betonte, die Schläge seien nur wenig schmerzhaft gewesen und von den Schülern nicht als ungerecht empfunden worden, nicht an. Als unglaubwürdig wies das Gericht auch seine Erklärung zurück, er habe mit den Schlägen nicht (verbotenerweise) schlechte Leistungen ahnden, sondern die schlechten Rechenergebnisse als Folge von „Nichtwollen“ und Anzeichen „passiven Widerstand[s]“ bewertet und deshalb bestraft.380 Dass Lehrer schlechte Leistungen als Anzeichen bewusster Verweigerung und nicht als fehlendes Können werteten (oder dies zumindest im Nachhinein behaupteten), um dem Vorwurf der verpönten ‚Lernschläge‘ zu entgehen, ist uns bereits in früheren Zeiten begegnet. Dass diese Strategie im geschilderten Fall – anders als bei vielen früheren Fällen und entgegen der Erwartung des Lehrers – vollkommen erfolglos blieb, kann 378 379 380
Vgl. Beschluss des Bayerischen Dienststrafhofs vom 7.8.1963, Az. 7 DS II 63, BayHStA VGH 2215, Bl. 11–14. StMUK an Bayerischen Dienststrafhof, 22.3.1963, BayHStA VGH 2215, Bl. 2. Beschluss des Bayerischen Dienststrafhofs vom 7.8.1963, Az. 7 DS II 63, BayHStA VGH 2215, S. 4.
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5.6 Zwischenfazit 1945–1968: die Sonderstellung der 1950er Jahre
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man damit erklären, dass sie angesichts des Tathergangs hier besonders unglaubwürdig scheinen musste. Man kann dies aber auch als Beleg dafür werten, dass Schulbehörden immer weniger geneigt waren, Verstöße gegen Vorschriften zum Züchtigungsrecht zu entschuldigen, selbst wenn sie keine Verletzungen zur Folge gehabt hatten. Darauf deuten auch die beiden anderen überlieferten Entscheidungen des Dienststrafhofs aus dieser Zeit hin: In beiden Fällen blieb es trotz des Einspruchs der Lehrer bei vergleichsweise hohen Geldstrafen – 300 DM im einen Fall, im anderen sogar das Vorenthalten des Aufsteigens in den Gehaltsstufen für vier Jahre.381 Beide Lehrkräfte waren schon zuvor durch Körperstrafen aufgefallen: In letzterem Fall hatte die Lehrerin 1958 und 1960 bereits Geldbußen wegen wiederholter Überschreitung des Züchtigungsrechts erhalten, im ersteren hatte der Lehrer 1950 bereits eine Schülerin so geohrfeigt, dass diese gestürzt war und sich dabei am Kinn verletzt hatte, war dafür aber nur mit einem Verweis bestraft worden. Zwar besitzen diese wenigen Beispiele für sich allein genommen wenig Aussagekraft. In Verbindung mit den Reaktionen auf den „Prügelreport“ bestätigen sie jedoch das Bild einer im Schulalltag immer noch weit verbreiteten Anwendung und Akzeptanz körperlicher Strafen, die jedoch bereits Mitte der 1960er Jahre in öffentlichen Debatten und auch von Schulbehörden längst nicht mehr so selbstverständlich hingenommen oder gar geteilt wurde wie noch ein Jahrzehnt zuvor. Sie deuten damit bereits eine Entwicklung an, die zum Ende der 1960er Jahre deutlich zum Ausdruck kommen sollte.
5.6 Zwischenfazit 1945–1968: die Sonderstellung der 1950er Jahre Zusammenfassend lassen sich für die Bundesrepublik in der Zeit bis Ende der 1960er Jahre mehrere Phasen der Debatte feststellen: In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg waren schulische Körperstrafen ein vieldiskutiertes Thema. Dabei gelang es den Züchtigungsgegnern größtenteils, an die im Nationalsozialismus abgeschnittenen Debatten wiederanzuknüpfen, indem beispielsweise Heinrich Meng psychoanalytische Konzepte wieder verstärkt in die Diskussion einbrachte. Die traditionellen Argumente gegen Körperstrafen wurden nun um einen neuen Aspekt ergänzt, nämlich die angestrebte Abkehr sowohl von der exzessiven Gewalt als auch vom „Untertanengeist“ des Nationalsozialismus. Aus dieser Motivation heraus und als ein Mittel zur Demokratisierung des 381
Das ursprüngliche Urteil hatte sogar sieben Jahre vorgesehen und war nach Berufung abgemildert worden. Vgl. die Akten in BayHStA VGH 2204. Zum ersten Fall vgl. BayHStA VGH 2200.
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Unterrichts entstanden etwa das hessische und auch das kurzlebige bayerische Verbot körperlicher Strafen. Allerdings ist die Elternbefragung, die letzteres zu Fall brachte – auch wenn ihre Ergebnisse durch die Form der Abstimmung verzerrt waren – ein Hinweis darauf, dass Schläge in der Schule noch weiter akzeptiert waren, als dies anhand der normativen Debatten den Anschein hatte. Das hessische Beispiel illustriert zudem den begrenzten Einfluss schulrechtlicher Regelungen, denn es stieß nicht nur auf deutliche Kritik eines Teils der Lehrerund Elternschaft, sondern wurde offensichtlich auch häufig nicht eingehalten. Trotz dieser Einschränkungen bezüglich der Zustimmung in der Breite war die Ablehnung körperlicher Strafen in den pädagogischen, aber auch den schulpraktischen Debatten dieser Jahre klar dominant – und sie hatte auch den juristischen Diskurs erreicht, in dem nun erstmals pädagogische Bewertungen aufgegriffen wurden. Diese im Vergleich zu vorherigen Jahrzehnten neuartige Entwicklung erreichte ihren Höhepunkt, als 1954 der Bundesgerichtshof die Legitimation – und damit längerfristig auch den Fortbestand – eines Züchtigungsrechts infrage stellte. Dass dann jedoch drei Jahre später der BGH wieder ganz zur traditionellen Argumentation zurückkehrte und die Rechtmäßigkeit schulischer Körperstrafen klar bejahte, hängt sicher nicht zuletzt mit der schlichten Tatsache zusammen, dass beide Urteile von verschiedenen Strafsenaten stammten. Aber die hier vollzogene juristische Kehrtwende markiert auch tieferliegende Veränderungen im Diskurs über Schulstrafen, die sich Mitte der 1950er Jahre vollzogen: Dies waren vor allem die durch das Phänomen der ‚Halbstarken‘ ausgelösten Bedrohungsgefühle, welche die Möglichkeit körperlicher Strafen zur Verteidigung der als gefährdet empfundenen Autorität der Lehrer, bzw. der erwachsenen Generation allgemein, als notwendig erscheinen lassen konnten. Daneben war es die Aussicht auf ein vollständiges Ende des Züchtigungsrechts selbst, die in der Lehrerschaft die Furcht vor strafrechtlicher Verfolgung sowie Gefühle der Bevormundung und mangelnden Anerkennung auslöste, die bereits seit dem 19. Jahrhundert die Lehrerdebatten zu körperlichen Strafen geprägt hatten. Auf diese Weise wurden züchtigungsfreundlichere Positionen wieder verstärkt artikulierbar und schließlich im Diskurs der Schulpraktiker dominant. Als gegen Ende der 1950er Jahre das Züchtigungsrecht nicht mehr akut zur Disposition stand und die Krawalle der ‚Halbstarken‘ abgeflaut waren, begannen in Lehrerzeitschriften wieder die ablehnenden Stimmen zu dominieren, während die öffentliche Diskussion um schulische Körperstrafen für die nächsten zehn Jahre fast völlig verstummte. Familiäre Erziehungsgewalt allerdings rückte in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre in den Fokus der öffentlichen Debatten, wobei nun im Zuge wachsender Autoritätskritik und intensivierter Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit eine absolute Ablehnung von Gewalt an Bedeutung gewann. Auch wenn diese insbesondere vom linksintellektuellen Milieu getragenen Debatten unter anderen gesellschaftlichen und politischen Vorzeichen stattfanden, waren ihre Grund-
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5.6 Zwischenfazit 1945–1968: die Sonderstellung der 1950er Jahre
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elemente ähnlich schon unmittelbar nach 1945 anzutreffen bzw. haben noch deutlich längere Tradition, wie etwa die Bezugnahme auf psychoanalytische Konzepte. Somit nimmt aus der Perspektive dieser Untersuchung die zweite Hälfte der 1950er Jahre eine Sonderstellung ein, indem sie Entwicklungen unterbrach, die bis in die 1920er Jahre zurückreichen und an die in den Nachkriegs- und frühen 1950er Jahren angeknüpft worden war. Erst nach dieser retardierenden Phase der (späten) 1950er Jahre wurden diese Entwicklungsstränge in den 1960er Jahren wieder aufgenommen und fortgeführt.
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6. Das rasche Verschwinden: 1970er Jahre 6.1 Der erstaunlich kurze Weg zum Verbot 6.1.1 Rheinland-Pfalz: Öffentlicher Druck führt zum Verbot1
Man könnte sagen, der Weg zum Verbot körperlicher Strafen in Rheinland-Pfalz begann in der vorderpfälzischen Stadt Speyer: In einer dortigen Schule werde „geprügelt“, so lautete der 1969 in einer Lokalzeitung lautgewordene Vorwurf, der bald auch auf andere Schulen in einem benachbarten Dorf ausgedehnt wurde. Die Reaktionen darauf folgten zunächst einem zu erwartenden Muster: Die betroffenen Kollegien und der zuständige Schulrat wehrten sich gegen die Vorwürfe und kritisierten Art und Wortwahl der Berichterstattung. Eltern, Lehrer und ehemalige Schüler äußerten sich teils verteidigend, teils anklagend in Leserbriefen und bei spontan einberufenen Versammlungen. In früheren Jahrzehnten wäre die Geschichte damit vermutlich beendet gewesen – doch 1969 nahm der lokale Skandal schnell überregionale Bedeutung an: Bereits früh schaltete sich der Vorsitzende des Landeselternbeirats in die Diskussion ein mit der Aussage, er habe nicht nur beim Kultusministerium, sondern auch bei der zuständigen Staatsanwaltschaft um Überprüfung des Falles gebeten.2 Bald darauf argumentierte ein Ortsverband der Humanistischen Union in offenen Briefen an den Kultusminister gegen körperliche Schulstrafen, die SPD-Landtagsfraktion plädierte für deren Verbot und auch die rheinland-pfälzische FDP wurde von ihrer Nachwuchsorganisation zu einem Verbotsantrag aufgefordert.3 Die Diskussion strahlte sogar über die rheinland-pfälzischen Landesgrenzen hinaus: So meldeten sich der Lüneburger Psychologie-Professor Eduard Hapke und der Frankfurter Journalist Walter Fabian, beide Vorstandsmitglieder der Humanistischen Union, mit einem Leserbrief in der Lokalzeitung zu Wort, in dem sie die Schädlichkeit körperlicher Strafen aus pädagogischer, psychologischer und medizinischer Sicht
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Die in diesem Kapitel beschriebenen Ergebnisse wurden zum Teil bereits veröffentlicht in Hoff: Ende. Günter Bohley: Schulrat Flick: Ich kann es gar nicht glauben, in: Die Rheinpfalz (SP), 3.10.1969. Vgl. Humanistische Union, Ortsverband Mannheim-Ludwigshafen: Offener Brief an Kultusminister Dr. Vogel, in: Die Rheinpfalz (SP), 17.10.1969; SPD will Prügelstrafe in den Schulen abschaffen, ebd.; Rohrstock soll verschwinden, in: Die Rheinpfalz (SP), 23.10.1969.
https://doi.org/10.1515/9783111123783-006
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6. Das rasche Verschwinden: 1970er Jahre
betonten.4 Vor allem forderte der Bundeselternrat alle Bundesländer, in denen körperliche Strafen noch erlaubt waren, zu deren Verbot auf.5 Diesen öffentlichen Druck konnte das Kultusministerium nicht ignorieren. Und so sprach Kultusminister Bernhard Vogel (CDU), als er in genau jener Region, in der wenige Wochen zuvor die Debatte ihren Ausgang genommen hatte, zur Einweihung einer Hauptschule geladen war, in seiner Rede ein für solche Feierlichkeiten eher ungewöhnliches Thema an: Er ging direkt auf die Forderungen nach einem Züchtigungsverbot ein und setzte die Frage in den weiteren Kontext von innerer Schulreform und dem Verhältnis zwischen Schule und Öffentlichkeit. Aber auch das der optimistischen Feststimmung eines solchen Anlasses nicht gerade förderliche Thema der Gewalt spielte eine wichtige Rolle in seiner Rede – allerdings in Form einer durchaus optimistischen (und sicher nicht nur dem Anlass geschuldeten) Fortschrittserzählung: So berichtete der Kultusminister über die brutale, inzwischen überwundene Strafpraxis des Mittelalters und der Frühen Neuzeit – und betonte damit den Kontrast zur Gegenwart, in der „quälerische, gesundheitsschädliche oder das Anstands- und Sittlichkeitsgefühl verletzende Züchtigung“ stets als Überschreitung des Züchtigungsrechts gewertet werde und somit „Prügeln [. . . ] an rheinland-pfälzischen Schulen wie in der ganzen Bundesrepublik verboten“ sei.6 Stattdessen zitierte Vogel die Stellungnahme eines Schulrechtlers, der vom „leichten Klaps, dem Griff an die Schulter, dem Knuff des unaufmerksamen Schülers“ als noch erlaubten und schwer rechtlich zu fassenden Maßnahmen sprach. Dass auch Stockschläge oder Ohrfeigen nach der aktuellen Rechtslage in Rheinland-Pfalz noch erlaubt (und, glaubt man der zeitgenössischen Presse, teilweise noch üblich) waren, erwähnte er nicht.7 Durch diese Auswahl und durch seine Zurückweisung des Begriffes „Prügelstrafe“ versuchte der Minister, die noch erlaubten körperlichen Strafen sprachlich aus dem Kontext der Gewalt und Brutalität, den ihre Gegner stets betonten, herauszurücken. Darin unterschied er sich kaum von früheren Verteidigern eines Züchtigungsrechts.8 Andere traditionelle Rechtfertigungen körperlicher Strafen sind in 4 5 6 7
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Eduard Hapke/Walter Fabian: Leserbrief „Psychischer Schaden für die Betroffenen“, in: Die Rheinpfalz (SP), 24.10.1969. Abschaffung der Prügelstrafe gefordert, in: Die Rheinpfalz (SP), 21.10.1969. Bernhard Vogel: Rede anlässlich der Einweihung der Schule Römerberg am 25.10.1969 (Auszüge), LHA Koblenz 910, 9509. Dort auch das folgende Zitat. Beispielsweise hatte Anfang 1968 die Bezirksregierung Trier einem Vater, der sich über die Bestrafung seines 10-jährigen Sohnes mit mehreren Stockschlägen beschwert hatte, beschieden, der Lehrer habe angesichts der Faulheit und des Verhaltens des Schülers „keine andere Wahl, als von dem zulässigen Züchtigungsrecht Gebrauch zu machen“, gehabt (Bezirksregierung Trier an Z., 30.1.1968, LHA Koblenz 910, 9509). Das Kultusministerium hatte Kenntnis von diesem Fall und sah offenbar keinen Grund, die Entscheidung der Regierung infrage zu stellen. Vgl. Kapitel 7.6.
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6.1 Der erstaunlich kurze Weg zum Verbot
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Vogels Rede dagegen nicht mehr zu finden: 1954 war es im rheinland-pfälzischen Kultusministerium noch allgemein als selbstverständlich akzeptiert worden, dass in bestimmten Fällen „das Schulleben und der Schulbetrieb das SichDurchsetzen der Autorität des Lehrers selbst mit dem Mittel der körperlichen Züchtigung erfordert“.9 1969 aber tauchte in Vogels Rede der ein Jahrzehnt zuvor noch nahezu allgegenwärtige Begriff „Autorität“ nicht mehr auf. Stattdessen griff der Kultusminister das in den späten 1960ern zum negativ konnotierten Kampfbegriff gewandelte zugehörige Adjektiv auf und richtete es gegen die Befürworter eines Verbots: „Wer jedoch vom Kultusminister ein jede Diskussion beendendes Verbot fordert, denkt [. . . ] autoritär!“, lautete sein Vorwurf an diejenigen, die doch „an anderer Stelle besonders lautstark für die Freiheit der Schule“ und gegen Reglementierungen „von oben“ einträten.10 Dass es sich dabei nicht nur um eine bloße sprachliche Anpassung handelte, verdeutlicht Vogels Forderung, man müsse Wege finden, wie die bei der Erziehung unvermeidbaren Konflikte „in einer mündigen Gesellschaft, zu der auch der Jugendliche und Heranwachsende gehört, vernünftig ausgetragen werden können“. Das hier beschriebene Austragen von Konflikten unter – der Formulierung nach – Gleichberechtigten sowie das proklamierte Erziehungsziel der Mündigkeit ließen wenig Platz für das Konzept einer (auch) durch die Möglichkeit der Gewaltanwendung legitimierten Autorität des Lehrers. Wenn Vogel nun ausdrücklich die Schülerschaft in die „mündige Gesellschaft“ einbezog und mit dem Ausruf: „Es soll weiter diskutiert werden“, eine breite öffentliche Debatte zur Frage der Schulstrafen forderte, zeigt sich ein deutlicher Kontrast zu den 1950er Jahren: Damals hatte noch ein Mitarbeiter des Ministeriums gewarnt, es dürfe auf „keinen Fall [. . . ] die Schuljugend in das Wissen um die öffentliche Diskussion dieser Fragen mithineingezogen werden“.11 1969 dagegen galt ein öffentliches Infragestellen der Strafpraxis nicht mehr als potenzielle Bedrohung der schulischen Autorität – auch wenn Vogels Ruf nach weiterer Diskussion sicher auch dem taktischen Versuch geschuldet war, sich nicht zu früh auf eine genaue Position festzulegen. Die grobe Richtung des Wegs war zwar eindeutig, wenn Vogel eine einheitliche Regelung für alle Schulformen ankündigte und erklärte: „Unser Ziel ist, die körperliche Züchtigung der Vergangenheit angehören zu lassen.“ Allerdings befürchtete man im Ministerium, dass „ein sofortiges Verbot [. . . ] mit Sicherheit zu Schwierigkeiten“ führen würde.12 Zumindest sei es „auch im Hinblick auf die geteilte Meinung 9
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V. d. Driesch: Vortrag vor dem Landesschulbeirat, 3.2.1954. LHA Koblenz 910, 9509. Das Protokoll der Schulbeiratssitzung enthält keinen Hinweis, dass diese Thesen des Ministerialrats auf Widerspruch gestoßen wären. Bernhard Vogel: Rede anlässlich der Einweihung der Schule Römerberg am 25.10.1969 (Auszüge), LHA Koblenz 910, 9509. Dort auch die folgenden Zitate. V. d. Driesch: Vortrag vor dem Landesschulbeirat, 3.2.1954. LHA Koblenz 910, 9509. Ministerialrat Anselmann an Vogel, 21.11.1969, LHA Koblenz 910, 9509. Dort auch das folgende Zitat.
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6. Das rasche Verschwinden: 1970er Jahre
der Lehrerschaft über die Körperstrafe“ empfehlenswert, mögliche Ersatzmittel wie die Einführung des Verweises von der Schule anzudeuten. Nachdem jedoch Anfang November in der Fernsehsendung „Blick ins Land“ über das Thema berichtet worden war und dabei auch der Landesvorsitzende der GEW für eine Abschaffung jeglicher körperlicher Schulstrafen plädiert hatte, gingen Mitarbeiter des Ministeriums davon aus, dass „ein allgemeines Verbot der körperlichen Züchtigung in Schulen nicht mehr lange ausbleiben“ werde.13 Tatsächlich brachten, nachdem sich die jeweils führenden Lehrer- wie Elternvertreter bereits öffentlich für eine Abschaffung ausgesprochen hatten, die in der Rede des Kultusministers geforderten Beratungen mit Lehrer- und Elternvertretungen kein abweichendes Ergebnis, sodass im März 1970 das Kultusministerium körperliche Strafen an allen Schulformen verbot.14 Das nicht per Gesetz, sondern nur per Ministerialerlass erfolgte Verbot hatte allerdings nach der gängigen Rechtsprechung keine strafrechtliche Bedeutung, sodass Lehrer bei Verstößen zwar dienstlich belangt, aber nicht automatisch wegen Körperverletzung verurteilt werden konnten. Da aber gerade ein strafrechtlicher Freispruch eine starke Symbolwirkung haben und Schläge so gewissermaßen legitimieren konnte, forderte bereits im Frühjahr 1970 die SPD-Fraktion im rheinland-pfälzischen Landtag ein gesetzliches Verbot körperlicher Strafen. Als der entsprechende Antrag im Landtag diskutiert wurde, gerade einmal zwei Wochen nach dem Verbot per Erlass, wurde er mit dem Verweis auf die Menschenwürde der Schüler und mit der Ablehnung von Körperstrafen durch wissenschaftliche Experten, nämlich Pädagogen, Mediziner und Psychologen, begründet.15 Beide Argumente unterschieden sich nicht von denen, die bereits in früheren Debatten vorgebracht worden waren. Eine deutliche Veränderung zeigt sich dagegen in den Begründungen für die 1970 noch in Kultusministerium und Landtagsmehrheit vorherrschende Ablehnung eines gesetzlichen Verbots: Typisch ist die Aussage eines FDPAbgeordneten, er sei gegen ein Verbot, „weil ich jetzt wirklich nicht möchte, daß, wenn einem Lehrer einmal die Hand ausrutscht, er dafür gleich vor den Kadi gezerrt wird“.16 Die in den Debatten um 1970 häufig anzutreffende Formulierung von der „ausrutschenden Hand“ impliziert, dass körperliche Bestrafungen als Ausnahme, als Verstoß gegen die Norm gesehen wurden – auch wenn sie diesen Verstoß gleichzeitig als verständlich, verzeihlich und 13
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Regierungsdirektor Zorner an Vogel, 18.11.1969, LHA Koblenz 910, 9509. Zur Fernsehsendung vgl. Hans Hahn: Im „Prügel-Mosaik“ spielte auch Otterstadt eine Rolle, in: Die Rheinpfalz (SP), 10.11.1969. Runderlass vom 2.3.1970, in: Amtsblatt des Ministeriums für Unterricht und Kultus von Rheinland-Pfalz 22 (1970), S. 135. Landtag Rheinland-Pfalz, 59. Sitzung v. 19.3.1970, Stenographische Berichte, 6. Wahlperiode 1967/71, S. 2199. Abg. Danz, ebd., S. 2201.
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weitgehend unproblematisch darstellt. Von einer grundsätzlichen Notwendigkeit körperlicher Strafen als letztes Mittel zur Aufrechterhaltung der Disziplin war 1970 im Landtag nicht mehr die Rede. Am nächsten kam diesem Gedanken noch eine Abgeordnete, für die bei 9- bis 12-jährigen Jungen in manchen Situationen eine Ohrfeige wirksamer sei als Ermahnungen. Aber auch sie betonte, für die Schulerziehung sei es „nicht anzustreben, daß die Disziplin auf diese Art und Weise aufrechterhalten wird“.17 Stattdessen wurde der Verzicht auf ein gesetzliches Verbot, auch in der Stellungnahme des Kultusministers, in erster Linie mit der Rücksichtnahme auf die Lehrer begründet. Neben dem Schutz vor gerichtlicher Verfolgung wegen als gering angesehener Verfehlungen ging es dabei auch um das Standesbewusstsein der Pädagogen, die sich durch ein eigenes Gesetz zum Thema als prügelfreudig stigmatisiert fühlen könnten. Die Befürchtung, dass ein Züchtigungsverbot die Autorität des Lehrers bedrohen könnte, wurde dagegen, genau wie in der Rede des Kultusministers ein Jahr zuvor, nicht mehr geäußert. Als 1974 das Thema erneut im rheinland-pfälzischen Landtag behandelt wurde, zeigte sich eine noch deutlichere Veränderung: Nachdem das OLG Zweibrücken in einem Schadensersatzprozess gegen einen schlagenden Lehrer die gewohnheitsrechtliche Züchtigungsbefugnis bestätigt hatte, war die begrenzte Wirksamkeit des Verbotserlasses in den Fokus gerückt.18 Nun sprach sich das (weiterhin von Vogel geführte) Kultusministerium, das vier Jahre zuvor noch eine gesetzliche Regelung abgelehnt hatte, selbst dafür aus, in das in Vorbereitung befindliche Landesschulgesetz ein Verbot von körperlichen und Kollektivstrafen einzufügen. Vogel wies in seiner Vorstellung des Gesetzentwurfs auf die Möglichkeit hin, durch eine spätere Rechtsverordnung sicherzustellen, dass Lehrer, denen „einmal in einer besonderen Situation die Hand ausrutscht“, straffrei blieben.19 Doch über diesen knappen Hinweis hinaus wurde das Verbot in den Landtagsdebatten und der Presseberichterstattung zum Gesetz nicht thematisiert.20 Dies hängt sicher auch mit den kontroversen Diskussionen über andere Inhalte des Schulgesetzes zusammen, die Aufmerksamkeit absorbierten. Dennoch zeigt es, dass 1974 das Verbot körperlicher Schulstrafen zumindest im Landtag weitgehend Konsens geworden war. Auf anderen Ebenen der Debatte konnte es jedoch anders aussehen: So wandte sich das Kollegium einer vorderpfälzischen Hauptschule im November 1974 an Kultusministerium und Hauptpersonalrat, um gegen das gesetzliche Züch17 18 19 20
Abg. Starlinger, ebd., S. 2201. Vgl. OLG Zweibrücken: Urteil vom 12.03.1974, in: Recht der Jugend 23 (1975), S. 28–31. Kultusminister Vogel, Landtag Rheinland-Pfalz, 63. Sitzung v. 24.10.1974, Stenographische Berichte, 7. Wahlperiode 1971/75, S. 2648. Die ohne Widerspruch angenommene Formulierung im Gesetz lautete: „Körperliche Züchtigungen und Kollektivstrafen sind ausgeschlossen.“ (Schulgesetz vom 6.11.1974, § 42 Abs. 2 Nr. 7, in: Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Rheinland-Pfalz 1974, S. 487).
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tigungsverbot zu protestieren. Rektor und Lehrer forderten: „Es muß möglich bleiben, einem Schüler, der sich flegelhaft benimmt, auch einmal durch eine Ohrfeige klarzumachen, wo die Grenzen liegen.“21 Selbst hier war von der zu wahrenden ‚Autorität des Lehrers‘ nicht mehr die Rede – und die stattdessen verwendete Formulierung der deutlich zu machenden „Grenzen“ kann sich sprachlich auch auf Beziehungen zwischen Gleichrangigen beziehen. Körperliche Strafen mit dem Stützen von Hierarchien in Zusammenhang zu bringen, war also selbst für deren Befürworter nicht mehr möglich. Doch selbst diese im Vergleich zu Äußerungen aus den 1950er Jahren stark eingeschränkte Befürwortung körperlicher Strafen hatte 1974 keine Chance, sich durchzusetzen. Insbesondere im Landeselternbeirat stieß die Position des Kollegiums auf „einhellige Ablehnung“, sie sei mit den herrschenden pädagogischen Auffassungen unvereinbar und unzeitgemäß.22 Der Elternbeirat der betreffenden Schule jedoch stimmte dem Protest gegen das Verbot zu und warf der Elternverbandsspitze vor, dass sie die an der Basis herrschende Meinung „verfälsche“ und eine Position vertrete, die nicht von der Mehrheit der Eltern geteilt werde. So hätten sich bei einer anonymen Umfrage am Standort der Hauptschule 90 % der Eltern gegen das Verbot ausgesprochen. Wenn auch diese Prozentzahl hinsichtlich ihrer Ermittlung und ihrer Repräsentativität mit großer Vorsicht zu bewerten ist, ist die grundsätzliche Tendenz sehr plausibel, dass viele Eltern körperlichen Strafen deutlich positiver gegenüber standen, als es die von ihrer offiziellen Vertretung auf Landesebene geäußerte Position vermuten ließe. Eine Diskrepanz zwischen der auf Landesebene von fast allen Akteuren vertretenen klaren Ablehnung körperlicher Strafen und deutlich kontroverseren Positionen auf lokaler Ebene war bereits 1969 deutlich geworden: Damals führten die Fälle aus dem Speyerer Raum wie geschildert zwar zu Verbotsforderungen durch verschiedene Parteien und den Landeselternbeirat, denen auch der GEW-Landesvorsitzende nicht widersprach. Blickt man dagegen auf die örtliche Ebene des Skandals, finden sich unter Eltern, Lehrern, Rektoren und Schulaufsehern nicht wenige Stimmen, die sich für körperliche Schulstrafen aussprachen. Zwar stammte die Mehrheit der Leserzuschriften in der Lokalzeitung, mit deren Berichterstattung der Skandal seinen Anfang genommen hatte, von Züchtigungsgegnern. Insbesondere Studenten kritisierten eine körperliche Strafen beinhaltende Erziehung als autoritär, „Untertanen“ heranbildend und somit mit demokratischen Erziehungszielen und dem Ideal der Mündigkeit nicht vereinbar.23 Sie verwiesen außerdem stets auf die wissenschaftlichen Erkennt21 22 23
„Körperliche Züchtigung notwendig“, in: Speyerer Tagespost, 22.11.1974. Lehrer und Eltern für Züchtigungsrecht in der Schule, in: Speyerer Tagespost, 22.11.1974, S. 8. Dort auch das folgende Zitat. Vgl. Gottfried Herrmann: Leserbrief: Angepaßt oder kritisch?, in: Die Rheinpfalz (SP), 8.10.1969; Thomas Kotschi: Leserbrief: Mehr Selbstbewußtsein und kritisches Verhalten,
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nisse zum Thema, so etwa in folgender typischer Formulierung eines Lesers: „Alle zu dieser Frage in Beziehung stehenden Wissenschaften wie Pädagogik, Psychologie, Medizin und Soziologie haben längst die schädlichen Wirkungen eines solchen Verhaltens allgemein dargelegt.“24 Diese Orientierung an der Wissenschaft wurde jedoch keinesfalls in allen Zuschriften geteilt. Andere Leser beriefen sich dagegen auf ihre eigene Erfahrung, um Körperstrafen zu verteidigen: So nahmen mehrere Schüler des (Geburts-)Jahrgangs 1941 in einem gemeinsamen Leserbrief die Lehrer ihrer ehemaligen Schule in Schutz und berichteten, auch sie seien als Kinder geohrfeigt worden. Dies habe in den 1950er Jahren allerdings keinen Protest ausgelöst, „weil zu jener Zeit noch Zucht und Ordnung in der Schule wie im öffentlichen Leben notwendig waren, um die Bundesrepublik Deutschland aufzubauen“. Selbst der uns schon im Kaiserreich begegnete Topos der Dankbarkeit für erhaltene Schläge fehlte in diesem Leserbrief nicht.25 In Leserbriefen wurde eine grundsätzliche Bejahung körperlicher Strafen 1969 also noch geäußert, sie war allerdings unter den abgedruckten Zuschriften zahlenmäßig knapp in der Minderheit. Andere Mehrheitsverhältnisse zeigten sich dagegen bei einer Elternversammlung an der im Zentrum der Vorwürfe stehenden Schule, bei der laut Presseberichten über 90 % „das Recht der Lehrer, ihre Kinder zu züchtigen, mit Überzeugung und geballter Stimmkraft“ verteidigten.26 Ein Vater, der sich in Leserbriefen über Schläge an dieser Schule beschwert hatte, sei ausgepfiffen und beschimpft worden. Die auf der Elternversammlung angenommene und veröffentlichte Resolution allerdings war in Bezug auf die Frage körperlicher Strafen deutlich neutraler, als man es anhand dieser Eindrücke erwarten könnte: Darin solidarisierten sich die Eltern zwar mit den Lehrern der Schule, von denen keiner die „Erziehungsbefugnisse überschritten“ habe, und kritisierten die Presseberichterstattung scharf – sie verteidigten jedoch nicht das Züchtigungsrecht selbst, sondern betonten, dass sie eine nicht an Einzelfällen festgemachte Diskussion des Themas befürworteten.27 Ganz ähnlich war auch
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in: Die Rheinpfalz (SP), 16.10.1969; Peter Schlabach: Leserbrief: Leider wird die Erziehung oft noch als Dressurakt verstanden, in: Die Rheinpfalz (SP), 18.10.1969. Schlabach: Leserbrief (s. o.); vgl. außerdem: Günter Schneider: Leserbrief: Das gibt es: Angst vor Nachteilen für die eigenen Kinder, in: Die Rheinpfalz (SP), 3.10.1969. Wolfgang Gertling u. a.: Leserbrief: „. . . wir sind sogar unseren Lehrern dankbar“, in: Die Rheinpfalz (SP), 7.10.1969. Rita Reich: Hauptlehrer Lill: Wir erfüllen Erziehungsaufgabe, in: Die Rheinpfalz (SP), 8.10.1969. Auch eine andere Lokalzeitung berichtete: „Daß in Otterstadt geschlagen wird (Schlagen im Sinne von Strafe) darüber bestand an diesem Abend kein Zweifel. Dagegen hatten die Eltern auch nichts einzuwenden, aber gegen das Wort ‚Prügel‘ wandte man sich sehr entschieden.“ (Der Prügelbeweis wurde nicht erbracht, in: Speyerer Tagespost Nr. 232 vom 8.10.1969, S. 4). Rita Reich: Hauptlehrer Lill: Wir erfüllen Erziehungsaufgabe, in: Die Rheinpfalz (SP), 8.10.1969.
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6. Das rasche Verschwinden: 1970er Jahre
der Tenor der Erklärung, die auf einer von GEW und Bund der katholischen Erzieher organisierten Lehrerversammlung verabschiedet wurde.28 So wie aber die Berichte über die Elternversammlung eine über das in der ‚offiziellen‘ Resolution Erkennbare hinausgehende Akzeptanz körperlicher Strafen nahelegen, so wird auch in vielen Aussagen von Lehrern und Vertretern lokaler Schulbehörden deutlich, dass sie einer Abschaffung dieser Strafart ablehnender gegenüberstanden, als sie es offen aussprechen konnten oder wollten: Beispielsweise betonte ein Schulrat in einem Zeitungsinterview: „Normal gibt es keine Stöcke in den Schulen. Ich bin dagegen, das ist ganz klar“ – um dann allerdings zu ergänzen: „Im äußersten Falle kann es vielleicht der rechte Weg sein.“29 Zwar ist es nicht überraschend, dass der Schulrat die ihm unterstellten Lehrer in der Öffentlichkeit schützen und nicht verurteilen wollte. Doch ist bemerkenswert, dass er dies nicht etwa tat, indem er von einem angesichts der Belastungen des Schulalltags verzeihlichen Fehler – der berühmten ‚ausrutschenden Hand‘ – sprach oder die rechtliche Zulässigkeit der Körperstrafen betonte, sondern dass er diese ausdrücklich in bestimmten Ausnahmefällen als „rechte[n] Weg“ ansah. Deutlicher in ihren Aussagen wurden Schulleiter, beispielsweise der Rektor einer katholischen Grundschule: „Wenn einmal Störenfriede unter den Schülern sind, dann ist es um der gestellten Aufgaben willen erforderlich, energisch durchzugreifen. Viele und gerade die interessierten Eltern [. . . ] räumen uns das Züchtigungsrecht ein, das sie für sich selbst in Anspruch nehmen.“30 Bei der angesprochenen Elternversammlung erklärte der Leiter der betreffenden Schule laut Presseberichten sinngemäß: „Ich prügle nicht. Wir prügeln alle nicht. Wir erfüllen eine Erziehungsaufgabe. Diese besteht, wenn notwendig, auch in körperlichen Strafen. Ich leugne nicht, diese Möglichkeit hin und wieder anzuwenden.“ Dabei habe er betont, dass die von ihm „zuweilen“ ausgeteilten leichten Schläge auf die Hand kaum schmerzhaft seien und er den Stock nur „sehr ungern“ bei „groben Verstößen, bei Verletzungen von Sitte und Anstand“ verwende.31 Auch im Kommentar der Speyerer Tagespost – der Konkurrentin der Zeitung Rheinpfalz, in der die Prügelvorwürfe zuerst erschienen waren – erschienen körperliche Strafen nicht als vollkommen abgelehntes Erziehungsmittel. Wenn die Zeitung 28 29 30
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Vgl. Günter Bohley: Körperliche Züchtigung an Volksschulen, in: Die Rheinpfalz (SP), 10.10.1969. Hans Hahn: Günter Schneider: „In Speyer wird geprügelt“. Rektor Hammer: „Eltern bekunden ihr Vertrauen“, in: Die Rheinpfalz (SP), 25.9.1969. Ebd. Vgl. auch die ähnlichen Aussage in einem von einer Lehrerin im Namen des Otterstädter Kollegiums verfassten Leserbrief: „Wenn es aber um wiederholte Verstöße gegen Ordnung, Anstand und Disziplin geht, so müßten die Eltern einsehen, daß wir auch einmal zum gleichen Erziehungsmittel greifen müssen wie die Eltern zu Hause.“ (Problem „Prügelstrafe“ ist für viele Eltern kein Problem, in: Die Rheinpfalz (SP), 3.10.1969). Rita Reich: Hauptlehrer Lill: Wir erfüllen Erziehungsaufgabe, in: Die Rheinpfalz (SP), 8.10.1969.
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6.1 Der erstaunlich kurze Weg zum Verbot
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warnte: „Ein Schüler, der eine Ohrfeige oder einen Schlag bekommen hat, und sei es noch so sehr zu Recht, kann heutzutage einen Lehrer in Teufels Küche bringen“, hatte das durchaus einen bedauernden Unterton – ganz abgesehen von der selbstverständlichen Annahme, dass es ‚berechtigte‘ Ohrfeigen gebe.32 Und in der rhetorischen Frage: „Was soll der Pädagoge tun, wenn ein Schüler die ganze Klasse terrorisiert, den Unterricht vorsätzlich stört oder über die Anweisungen der Lehrer nur lacht, anstatt sie zu befolgen?“, wurde nahegelegt, dass das Durchsetzen von Lehreranweisungen und Unterrichtsdisziplin Gewaltanwendung legitimieren konnte. Diese Position war nicht weit entfernt von dem Argument der 1950er Jahre, dass ein Verzicht auf körperliche Strafen im Interesse von Schulzucht und Autorität des Lehrers nicht möglich sei – und doch ist es bezeichnend, dass sie nur implizit geäußert wurde und diese beiden Begriffe hier nicht mehr benutzt wurden. Diese lokalen Beispiele zeigen: Dass in Rheinland-Pfalz die Abschaffung körperlicher Schulstrafen auf Druck der Öffentlichkeit hin erfolgte, bedeutet nicht, dass die Ablehnung dieser Strafform von allen – oder auch nur zwangsläufig einer Mehrheit von – Eltern und Lehrern geteilt worden wäre. Eine Befürwortung von körperlichen Strafen als, zumindest in eingeschränktem Maß, notwendigem Teil der Erziehung blieb weit verbreitet. Entscheidend war aber, dass sie nur noch sehr eingeschränkt (und nur noch auf lokaler Ebene) geäußert wurde. 6.1.2 Bayern: ein Verbot mit Zustimmung der Lehrerschaft
Während für das Zustandekommen des rheinland-pfälzischen Verbots erstens öffentlicher Druck und zweitens die Tatsache, dass die Lehrervertreter auf Landesebene einer Abschaffung körperlicher Strafen nicht widersprachen, entscheidend waren, spielte in Bayern der Lehrerverband eine wesentlich aktivere Rolle. Am Beispiel dieses Bundeslands lässt sich deutlich zeigen, wie sich die Positionen der Lehrerschaft seit den 1950er Jahren verändert hatten. Der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband hatte, wie geschildert, Anfang der 1950er Jahre die einer Abschaffung körperlicher Strafen aufgeschlossen gegenüberstehende Haltung seines ersten Nachkriegsvorsitzenden Franz Xaver Hartmann aufgegeben und sich klar gegen ein Verbot positioniert. Mitte der 1950er Jahre betonte eine Ausarbeitung der berufswissenschaftlichen Hauptstelle des Vereins zwar: „Die bayerische Lehrerschaft ist davon überzeugt, daß die körperliche Züchtigung möglichst restlos aus den Schulen verschwinden muß; denn sie ist ein fragliches, ja schlechtes Erziehungsmittel, da sie schwere Gefahren in sich schließt.“33 Als diese Gefahren wurden insbesondere die in den 32 33
Hilde Beza: Unser Wochenkommentar: Guter Wille, in: Speyerer Tagespost, 11.10.1969. Undatiertes Typoskript: „Die Frage der körperlichen Züchtigung“, BHStAM, BLLV 713 (das
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6. Das rasche Verschwinden: 1970er Jahre
Schülern ausgelösten Gefühle wie Hass, Schadenfreude oder Erschütterung bei den Zusehenden und Verletzung des Ehrgefühls genannt (was allerdings durch den Vorschlag „Demütigung und Beschämung“ als mögliche Ersatzstrafe etwas relativiert wurde). Doch trotz dieser Bedenken waren Körperstrafen aus Sicht des Lehrerverbands noch nicht verzichtbar, solange nicht bestimmte Voraussetzungen erfüllt seien. Konkret war dies eine Klassengröße von maximal 35, ein eigener Klassensaal für jede Klasse sowie Hilfsschulen für lernbehinderte und Sonderklassen für „asoziale“ Schüler, außerdem eine Unterstützung der elterlichen Erziehung und eine weniger am messbaren Lernerfolg orientierte Bewertung der Lehrer durch ihre vorgesetzten Behörden. Tatsächlich war 15 Jahre später ein Teil dieser Forderungen erfüllt bzw. ihre Erfüllung deutlich näher gerückt. Doch hatte sich noch deutlich mehr – und wohl Entscheidenderes – verändert, als sich die berufswissenschaftliche Hauptstelle um 1970 wieder mit der Thematik beschäftigte. Die Mitte der 1950er Jahre verfasste Abhandlung konnte noch Passagen wie die folgende enthalten: Wenn auch damit vielleicht keine Besserung mehr erzielt wird, so schützt doch solch ein Strafakt die lern- und arbeitswilligen Mitschüler und gibt den Lehrer nicht schutzlos böswilligen, gewalttätigen, asozialen Jugendlichen preis. Da die Kinderzahl in den Familien mit wertvollem Erbgut infolge der Geburtenbeschränkung mehr und mehr zurückgeht, ist die Zahl belasteter und minderwertiger Elemente ständig im Steigen.34
Solche Aussagen wären 1970 kaum möglich gewesen. Dies lag nicht nur daran, dass inzwischen die Sensibilität für an NS-Ideologie erinnernde biologistische Sprach- und Denkmuster, wie sie der letzte Satz erkennen lässt, deutlich gewachsen war. Die neuere Stellungnahme des Vereins zeigt zudem eine grundsätzlich andere Haltung zu körperlichen Strafen: Eine 1970 vom BLLV herausgegebene Broschüre zum Thema „Strafen in der Schule“ rechnete Körperstrafen zu denjenigen Strafen, die „sich in keiner Weise rechtfertigen lassen“ – aus dem wünschenswerten Ziel war nun also eine absolute, verbindlich handlungsleitende Norm geworden.35 Verantwortlich dafür war zum einen eine absoluter gewordene Ablehnung von Gewalt: Körperstrafen kamen, so die Abhandlung, deshalb nicht infrage, „weil sie der Entwicklung des humanitären Selbstverständnisses überhaupt nicht mehr entsprechen. Brachiale Gewalt sollte in der Schule ausgeschlossen sein.“ Zum anderen vertraten die Verfasser eine kritischere Einstellung zu Strafen überhaupt, die nicht zuletzt aus veränderten Erziehungszielen resul-
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gleiche Dokument ist auch in anderen Akten des Verbands – BLLV 917 und 248 – zu finden, es handelte sich also offenbar um einen innerhalb des Verbands relativ weit zirkulierten Text). Ebd. Heinz-Jürgen Ipfling/Friedrich Lehmann: „Strafen in der Schule“ (hrsg. vom Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband) 1970, BHStAM, BLLV 1435, S. 22. Dort auch das folgende Zitat.
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tierte – in den Worten der Broschüre: „Solange sich Erziehung als Einordnung versteht, wird sie ohne große Bedenken zu repressiven Maßnahmen greifen; sieht sie ihre Aufgabe jedoch in der Emanzipation, wird Strafe als ‚Mittel‘ der Erziehung problematisch.“36 Folge und Symptom dieses Wandels von Einordnung hin zu Emanzipation war ein verändertes Verständnis von ‚Autorität‘: Es ist sicher kein Zufall, dass sich in den Unterlagen der berufswissenschaftlichen Hauptstelle des BLLV, die die Broschüre erarbeitet hatte, auch zwei stichwortartige Zusammenfassungen von Seminaren von Günter Scholz und Heinz-Jürgen Ipfling (einer der Herausgeber der Broschüre und späterer Professor für Schulpädagogik an der Universität Regensburg) finden. Dort wurde im Zusammenhang mit pädagogischen Strafen jeweils der Begriff der Autorität problematisiert. Beide stellten heraus, dass pädagogische Autorität selbstständiges Denken nicht hemmen dürfe, sondern fördern müsse, und allein auf einem Vorsprung an Wissen und Urteilsfähigkeit, nicht aber auf einem Amt oder Sanktionsmöglichkeiten beruhen dürfe.37 Mit einer so verstandenen Autorität des Lehrers konnten Körperstrafen nicht mehr gerechtfertigt werden. Auch im BLLV galt allerdings, dass die von der Verbandsspitze und nach außen vertretene Meinung keineswegs mit der aller oder auch nur einer klaren Mehrheit der Mitglieder übereinstimmen musste: Beispielsweise ging ein Lehrer in seiner Zuschrift an die Vereinszeitschrift Bayerische Schule davon aus, es würden „viele Kollegen mit mir einer Meinung sein, wenn ich feststelle, daß eine ‚körperliche Züchtigung‘ (welch ein Wort für eine ‚Watschn‘!) für manche Schüler die einzig wirksame und pädagogisch wohl zu verantwortende Strafe ist“.38 Ein Mitglied wandte sich direkt an den BLLV und drohte aufgrund dessen Positionierung in dieser Frage mit Austritt, da es ihm unmöglich schien, ohne das Züchtigungsrecht die für den Unterricht nötige Disziplin aufrechtzuerhalten. Er verwies auf den „erheblichen Prozentsatz von lernunwilligen, ungezogenen und widersetzlichen Schülern“ und fragte rhetorisch: „Wie soll sich der Lehrer ihrer erwehren?“39 Diese Wortwahl und die hinter ihr stehende Denkweise erinnern an die oben zitierte Stellungnahme, die die berufswissenschaftlichen Referenten des BLLV Mitte der 1950er Jahre formuliert hatten. Für ihre Nachfolger 15 Jahre später waren sie jedoch nicht mehr widerspruchslos hinnehmbar. So hieß es im Antwortschreiben auf die Beschwerde des Lehrers: „Ich weiß nicht, ob es richtig 36 37
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Ebd., S. 5. Vgl. Günter Scholz: Seminar zur Pädagogischen Problematik der Strafe; Heinz-Jürgen Ipfling: Seminar zur Pädagogischen Problematik der Strafe, beide in: BHStA München, BLLV 273. Günter Harrer: Leserbrief: Feiner Knüller, in: Bayerische Schule (1970), S. 354. Vgl. auch mit ähnlicher Tendenz: Heinrich Loeber: Zum Leserbrief „Feiner Knüller“, in: Bayerische Schule (1970), S. 473; H. Winter: Erziehung ohne Rohrstock, in: Bayerische Schule (1970), S. 328. Briefwechsel F. G. und BLLV, Juli 1970, BHStAM, BLLV 273. Dort auch das folgende Zitat.
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6. Das rasche Verschwinden: 1970er Jahre
ist, anzunehmen, daß der Lehrer sich bestimmter Kinder zu erwehren hätte; vielmehr wird er auf pädägogische Maßnahmen sinnen müssen, mit deren Hilfe er sie ändern, ihnen helfen kann.“ Bemerkenswerter als der Widerspruch einzelner Vereinsmitglieder ist, dass selbst auf der Funktionärsebene des BLLV die Ablehnung körperlicher Strafen keineswegs Konsens war. So nahm der Rechtsschutzreferent des Verbands im November 1969 zu einem frühen Entwurf der berufswissenschaftlichen Hauptstelle Stellung. Dabei stellte er nicht nur die seit dem BGH-Urteil von 1957 herrschende Rechtslage vor, sondern legte diese äußerst züchtigungsfreundlich aus: So bezeichnete er die in der bayerischen Volksschulordnung von 1959 festgelegte Beschränkung von Körperstrafen auf Jungen ab dem dritten Schuljahr40 als „eine gravierende und durch nichts gerechtfertigte Einschränkung des Züchtigungsrechts als Gewohnheitsrecht, über deren Rechtmäßigkeit man streiten kann“.41 Eine Schulordnung dürfe dem Lehrer nicht „das verbieten, was ihm die Rechtsordnung ausdrücklich als Gewohnheitsrecht und damit als eine Art von Naturrecht einräumt“. Zudem ging das Gutachten über die rein juristischen Aspekte hinaus und setzte der theoretisch-wissenschaftlichen Perspektive die Praxiserfahrung der Lehrer als konkurrierende Form des Expertenwissens entgegen: Eine Verbotsforderung könne „nicht von schulfremden Personen erhoben werden und darunter zählen auch alle diejenigen, die schon seit Jahren nicht mehr in der Schulstube stehen“. Ein völliger Verzicht auf Körperstrafen sei nur unter idealen Bedingungen möglich, in der Praxis gebe es aber „Situationen, in denen man ohne körperliche Strafe nicht auskommt, mögen diese auch noch so selten sein“. Auch wenn sich diese Position im Wesentlichen nicht von der der 1950er Jahre unterscheidet, zeigt sich bei genauem Hinsehen eine leichte Akzentverschiebung: Der Rechtsschutzreferent rechtfertigte Körperstrafen nur in Bezug auf „Situationen“, nicht mehr mit dem grundlegenden (Autoritäts-) Verhältnis zwischen Schülern und Lehrern oder starren Zuschreibungen wie „böswilligen“ oder „asozialen“ Schülern. Vor allem ist aber entscheidend, dass sich diese Position innerhalb der Verbandsspitze nicht durchsetzen konnte: Die schließlich vom BLLV herausgegebene Broschüre, die den Untertitel „pädagogische und juristische Grundlegung“ trug und laut einer Pressemitteilung von berufswissenschaftlichem und RechtsschutzReferat gemeinsam erarbeitet worden war, sprach sich wie beschrieben klar gegen körperliche Strafen aus. Auch in den juristischen Erläuterungen wurde die gel40
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Vgl. Schulordnung für die bayerischen Volksschulen Abs. 526, Amtsblatt StMUK 1959, S. 228 f. Das Züchtigungsverbot in den ersten beiden Klassenstufen war erst mit dieser Volksschulordnung eingeführt worden, die Beschränkung auf Jungen ging dagegen bereits auf die Schulordnung von 1942 zurück. BLLV, Ref. IV Rechtsschutz (Dr. F. Lehmann): Gutachtliche Stellungnahme zum Exposé der BHSt „Strafen in der Schule“, 13.11.1969, BHStAM, BLLV 291. Dort auch die folgenden Zitate.
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6.1 Der erstaunlich kurze Weg zum Verbot
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tende Rechtslage, anders als im ursprünglichen Entwurf der Rechtsschutzstelle, neutral dargestellt. Wie und warum sich die Position der berufswissenschaftlichen Hauptstelle durchsetzen konnte, lässt sich anhand der überlieferten Akten leider nicht mehr rekonstruieren. Doch es ist wahrscheinlich, dass dabei ein Argument eine wichtige Rolle spielte, mit dem die Verbandsspitze auch den mit Austritt drohenden Lehrer zu überzeugen versuchte: „Können Sie sich vorstellen, daß ein Lehrerverband heute die Forderung nach Beibehaltung der körperlichen Züchtigung stellen kann, wenn er nicht vor der gesamten Öffentlichkeit (meines Erachtens mit Recht) in die Binsen gehen will?“42 Auch in Bayern war es also nicht zuletzt das veränderte öffentliche Meinungsklima, das zur veränderten Position des Lehrerverbands führte – und damit letztlich zur Abschaffung des Züchtigungsrechts: Im Mai 1970 hatte die Fraktion der SPD beantragt, der Landtag solle die Regierung auffordern, körperliche Strafen zu verbieten und für eine besondere psychologische Betreuung schwieriger Kinder zu sorgen.43 Noch bevor dieser Antrag zur Abstimmung kommen konnte, kam ihm das Kultusministerium zuvor und erließ am 24. Juni 1970 eine Änderung der Volksschulordnung, in der Körperstrafen ausdrücklich verboten wurden.44 Für dieses Verbot war neben dem politisch-öffentlichen Druck auch die Zustimmung des BLLV ursächlich, denn der Verband hob stolz hervor, dass dabei fast alle in seiner Broschüre zu Schulstrafen zusammengestellten Vorschläge übernommen worden seien.45 So wurden nun als neue mögliche Strafen der zeitweilige Ausschluss vom Unterricht und die Versetzung in eine andere Klasse eingeführt. Für den Vorstand des BLLV bedeutete dies, dass die Arbeit an der Broschüre „sich gelohnt“ habe – was gleichzeitig darauf hindeutet, dass es möglicherweise auch auf taktische Erwägungen zurückzuführen war, dass sich die Gegner körperlicher Strafen innerhalb des Verbands durchsetzen konnten. Schließlich eröffnete die offizielle Befürwortung einer Abschaffung die Möglichkeit, deren Bedingungen mitgestalten zu können, während eine generelle Ablehnung 1970 aussichtslos erscheinen konnte. Dafür sprach auch die Entwicklung in anderen Bundesländern: So zog Bayern mit dem (drei Jahre später in einer für alle Schularten gültigen Schulordnung bestätigten) Verbot nicht nur mit Rheinland-Pfalz, sondern auch mit Hamburg, Baden-Württemberg, Bremen sowie Schleswig-Holstein gleich, die ebenfalls im Sommer 1970 oder im Fall Hamburgs bereits Anfang 1969 ein Verbot erlassen hatten. Niedersachsen und 42 43 44
45
BLLV an F. G., Juli 1970, BHStAM, BLLV 273. Vgl. Bayerischer Landtag: Drucksache 6/3437. Vgl. Bekanntmachung v. 24.6.1970, in: Amtsblatt BStMUK 1970, S. 332 f. Der Antrag im Landtag, der nun in Bezug auf Körperstrafen nur noch symbolische Bedeutung hatte, wurde sowohl im Kulturausschuss als auch im Plenum einstimmig angenommen. Vgl. Bayerischer Landtag, 6. Legislaturperiode, 102. Sitzung v. 1.10.1970, Stenographischer Bericht S. 4767. Vgl. Vorschläge des BLLV in die Schulordnung übernommen, in: Bayerische Schule (1970), S. 301.
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6. Das rasche Verschwinden: 1970er Jahre
Nordrhein-Westfalen sollten im nächsten Jahr folgen, sodass Ende 1971 in fast der gesamten Bundesrepublik ein schulrechtliches Verbot körperlicher Strafen bestand.46
6.2 Die ausbleibenden Kontroversen Bekanntlich handelte es sich bei den um 1970 erlassenen kultusministeriellen Verboten nicht um die ersten Versuche einer Abschaffung körperlicher Schulstrafen auf diesem Wege. Sei es das hessische Verbot von 1946, das kurzlebige bayerische aus dem gleichen Jahr oder das sächsische von 1922 – allen war eines gemeinsam: Sie waren von intensiven und kontroversen Debatten in der Lehrerschaft begleitet. Einige Lehrer protestierten gegen die aus ihrer Sicht nicht umsetzbare Einschränkung, andere versuchten, ihre Kollegen von der Möglichkeit und der Notwendigkeit eines Verzichts auf diese Strafart zu überzeugen. Um 1970 bietet der Blick in die Lehrerpresse ein völlig anderes Bild: In der Zeitschrift des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands finden sich zwar die beiden das Verbot kritisierenden Leserbriefe, die im vorigen Kapitel erwähnt wurden, aber diese blieben vereinzelt und lösten keine Debatten aus. In der Allgemeinen Deutschen Lehrerzeitung veröffentlichte Anfang des Jahres 1969 die Frankfurter Erziehungswissenschaftlerin Hildegard Feidel-Merz einen Artikel, in dem sie den Umgang der Lehrerverbände mit dem Thema kritisierte: Sie machte auf den „Interessenskonflikt“ aufmerksam, der bestehe, wenn ein Berufsverband einerseits für das „Recht des Kindes“ eintrete, andererseits aber schlagenden Lehrern grundsätzlich Rechtsschutz gewähre, und der „endlich [. . . ] ohne falsche Rücksichtnahme“ offen diskutiert werden müsse.47 Die Autorin forderte die GEW auf, diesen Widerspruch aufzulösen, indem sie sich für ein ausnahmsloses verbindliches Verbot einsetzen und den Rechten der Kinder Vorrang vor dem Rechtsschutz der Lehrer einräumen sollte. Zur Begründung verwies sie auf die pädagogische Debatte: „In der wissenschaftlichen Pädagogik scheint mittlerweile unumstritten zu sein, daß auch ‚harmlosere‘ Handgreiflichkeiten Schülern gegenüber allenfalls aus einer momentanen Überreiztheit des Lehrers, unglücklichen Begleitumständen usw. zu verstehen und vielleicht zu entschuldigen, nie und nimmer aber erzieherisch zu rechtfertigen sind.“ In der Praxis dagegen sei „eher eine Haltung verbreitet, die wohl den ‚Exzeß‘ verurteilt, sich und anderen jedoch gewisse, maßvolle Übergriffe von vornherein als unvermeidlich zugesteht“. Tatsächlich trifft dies die Position, die im vorigen Kapitel von Lehrern, Rektoren 46 47
Vgl. Deutscher Bundestag: Drucksache 7/3318, 4.3.1975. Die einzige Ausnahme bildete das Saarland, das Körperstrafen in Ausnahmefällen zuließ. Feidel-Merz: Interessenskonflikt. Dort auch die folgenden Zitate.
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6.2 Die ausbleibenden Kontroversen
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und Schulräten bei den lokalen Debatten im Speyerer Raum vertreten wurde. Feidel-Merz ließ die Abgrenzung von als unvermeidlich und harmlos gesehenen maßvollen Körperstrafen einerseits und abgelehnter Misshandlung andererseits jedoch nicht gelten: „Gerade dieses prinzipielle Zugeständnis trägt indessen entscheidend zu dem Klima bei, in dem schließlich der Exzeß gedeiht!“ Diese absolute Ablehnung körperlicher Strafen war jedoch nicht das Bemerkenswerteste an diesem Artikel im Vergleich zu früheren Lehrerdebatten: Die Verfasserin sprach auch die „nicht durchweg gut und geschickt gemacht[e], deshalb aber nicht pauschal abzulehnend[e] Zeitschrift“ underground mit ihrer Verleihung des ‚goldenen Schlagrings‘ an und betonte, dass deren Redaktion sich um eine „vernünftige Einrichtung der Schule“ bemühe. Dass in einer Lehrerzeitung ein so drastisch formuliertes Anprangern von „Prügelpädagogen“, wie underground es tat, nicht als diffamierend zurückgewiesen, sondern ernst genommen und mit Verständnis bewertet wurde, ist bemerkenswert: Schließlich hatten sich Vertreter der Lehrerschaft nicht nur im 19. und frühen 20. Jahrhundert, sondern auch noch Mitte der 1950er Jahre vehement gegen züchtigungskritische mediale Berichterstattung gewehrt, die von ihnen als den Berufsstand diffamierende Verallgemeinerung bedauerlicher Einzelfälle empfunden wurde.48 Ein Hinweis, warum solche defensiven Reaktionen 1969 weitgehend ausblieben, gibt Feidel-Merz’ Aufsatz selbst: Sie verwies nämlich auf „offizielle Solidaritäts- und Sympathieerklärungen“, mit denen Lehrervertreter auf die „in erster Linie prononciert ‚antiautoritäre‘ Schülerbewegung“ reagiert hätten (auch wenn den so geweckten Hoffnungen im schulischen Alltag oft nicht entsprochen werde). Tatsächlich zeigten insbesondere junge Lehrer große Nähe zu den grundsätzlichen Forderungen der Schülerbewegung, wenn sie beispielsweise die Bundestagung junger Lehrer und Erzieher in der GEW 1969 unter das Motto „Demokratisierung der Schule“ stellten und nach Möglichkeiten zur „Befreiung von den autoritären Strukturen der Schule und Schulverwaltung“ suchten – wobei hier freilich in erster Linie das ‚autoritäre‘ Verhältnis zwischen Vorgesetzten und Lehrern und weniger das zwischen Lehrern und Schülern angesprochen wurde.49 Mit solchen Positionen war eine Verteidigung körperlicher Strafen nicht vereinbar. Gleichzeitig bedeutete diese Offenheit gegenüber den Anliegen der Protestbewegung, dass sich vergleichbare Bedrohungsgefühle, wie sie die Reaktion der Lehrerschaft auf die unpolitischen Unruhen der ‚Halbstarken‘ in den 1950ern prägten, gegenüber der Schüler- und Studentenbewegung (die den Lehrern auch altersmäßig und sozial näherstand) nicht oder zumindest
48 49
Vgl. etwa S. 73, S. 152 und S. 305 dieser Arbeit. Manfred Bayer: Demokratisierung der Schule, in: ADLZ 21 (1969), Heft 2. Vgl. zur zu großen Teilen positiven Reaktion von Eltern, Lehrern und Politik auf zumindest die früheren Forderungen der Schülerproteste auch Levsen: Authority, S. 467–469.
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6. Das rasche Verschwinden: 1970er Jahre
nur bei einem in den öffentlichen Debatten weniger präsenten Teil der Lehrer entwickelten. Sinnbildlich für die Aufnahme von Ideen der Protestbewegung in der Lehrerschaft steht betrifft:erziehung: 1967/68 begründet sah sich diese Zeitschrift der Bildungsreform und den Zielen der Studentenbewegung verpflichtet und wandte sich mit ihrem Anspruch, zwischen Praxis und Theorie der Bildung zu vermitteln, vor allem an Lehrer und Lehramtsstudenten.50 Sie galt als das „pädagogisch[e] Magazin mit der höchsten Auflage in der BRD“ dieser Zeit (17.000 im ersten Erscheinungsjahr, später über 40.000).51 Die Zielgruppe dieser Zeitschrift musste von der Ablehnung körperlicher Strafen nicht mehr überzeugt werden. Folgerichtig finden sich in betrifft:erziehung zu diesem Thema nicht etwa ausführlichere pädagogische Erörterungen oder Berichte über die erlassenen Verbote, sondern lediglich vereinzelte Artikel, welche die noch bestehende Erlaubnis in der Bundesrepublik oder anderen Ländern anprangerten.52 Sie waren in einem Ton formuliert, der in einer (auch) an Lehrer gerichteten Publikation, mochte sie auch noch so progressiv ausgerichtet sein, in früheren Jahrzehnten kaum denkbar gewesen und von Lehrerorganisationen als Diffamierung des Berufsstands zurückgewiesen worden wäre: „Zeigestöcke, Meßlatten und höhnische Beschimpfungen waren bisher die ‚pädagogischen Requisiten‘ von Sophie E., 58, Lehrerin in Siegburg“ lautete etwa die Schilderung des Falls einer wegen Körperverletzung verurteilten Lehrerin, mit der ein Bericht über Schülerproteste gegen Körperstrafen und die Rechtslage in den einzelnen Bundesländern eingeleitet wurde.53 Die pädagogische Ablehnung körperlicher Strafen wurde hier zwar noch begründet, allerdings sehr knapp: „Daß die autoritäre Schulstrafe als Restbestand ständischer Gesellschaftsvorstellungen antidemokratisch wirkt, ergeben wissenschaftliche Untersuchungen.“ Hierzu wurden die Studien von Reinhard und Anne-Marie Tausch angeführt und deren Befunde mit „Autoritäre Lehrer produzieren autoritäre Schüler“ zusammengefasst – was wiederum durch eine Entscheidung englischer Schüler, die sich mehrheitlich für Beibehaltung der Prügelstrafe ausgesprochen hatte, illustriert wurde. Dass eine Zeitschrift wie betrifft:erziehung, die auch der Bewegung der antiautoritären Erziehung mit ihren Projekten wie Kinderläden aufgeschlossen gegenüberstand, sich scharf gegen die wohl ‚autoritärste‘ Schulstrafe überhaupt wandte, ist nicht erstaunlich.54 Angesichts der Sympathien, die insbesondere 50 51 52 53 54
Vgl. Ostkämper: Interesse, S. 228 f. Haupt- und Realschullehrer machten 1968 knapp die Hälfte der Leserschaft aus, deren Durchschnittsalter 33 Jahre betrug. Ostkämper: Interesse, S. 227. Vgl. zur späteren Auflagenhöhe Kalb: Leben, S. 253. Vgl. Merkmale einer Hinrichtung, in: betrifft:erziehung 5 (1972), Heft 12, S. 54 (über Großbritannien und USA); Karcher: Prügeln. Prügelstrafe – bestes Mittel, in: betrifft:erziehung 2 (1969), Heft 3, S. 27. Dort auch die folgenden Zitate. Zur sich auf eine „politisierte Psychoanalyse“ berufenden und etwa vom Konzept des auto-
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6.2 Die ausbleibenden Kontroversen
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jüngere Lehrer für die Studentenbewegung hegten, ist ebenso wenig überraschend, dass auch in der Allgemeinen Deutschen Lehrerzeitung ein Körperstrafen so kompromisslos ablehnender Artikel wie der von Hildegard Feidel-Merz erscheinen konnte. Erklärungsbedürftig ist aber, dass er dort unwidersprochen blieb. Auch als im Laufe der Jahre 1969 bis 1971 nach und nach in den einzelnen Bundesländern Verbote körperlicher Strafen erlassen wurden, löste dies in der GEW-Zeitung keine Kommentare zum Thema aus. Wie kommt es, dass die laut Feidel-Merz in der Praxis noch verbreitete Haltung, die „gewisse, maßvolle Übergriffe von vornherein als unvermeidlich“ zugesteht, so wenig geäußert wurde? Die Antwort dürfte auf zwei Ebenen zu suchen sein: Die theoretische Pädagogik und der „missratene Verwandte“
Zunächst einmal bot nun auch die theoretische Pädagogik keinerlei Rechtfertigungsmöglichkeit mehr für körperliche Strafen. Zwar waren hier, wie geschildert, bereits nach 1945 Körperstrafen durchgängig als Erziehungsmittel abgelehnt worden. Doch hatte beispielsweise das katholische Lexikon der Pädagogik 1955 noch gefordert, Lehrern müsse es möglich (sprich erlaubt) sein, in „bes. Notfällen Forderungen der Schuldisziplin mit den leichteren Formen der k. Z. durchzusetzen“. In der Neuausgabe des gleichen Lexikons wurden 1971 Körperstrafen dagegen nur noch knapp als „nach heute wiss. begründeter Einsicht abzulehnen“ erwähnt.55 Ein eigener Artikel wurde ihnen nicht mehr gewidmet, von einer Notwendigkeit in Notfällen war keine Rede mehr. Das 1970 erschiene Pädagogische Lexikon enthielt dagegen noch den Eintrag Körperstrafe, in dem aber ausschließlich die gegen diese Strafart sprechenden Gründe dargelegt wurden: medizinische und psychische Gefahren sowie die Unvereinbarkeit eines solchen Zwangsmittels mit den Erziehungszielen „Freiheit, [. . . ] Selbständigkeit und geistiger Entscheidung“ sowie mit der „Erziehung zu einem gesunden Ehrgefühl, zu Sicherheit des Selbstgefühls und der Selbstachtung“.56 Aus der in den 1950er Jahren zwar in der Theorie eindeutigen, aber mit Verweis auf die praktische Umsetzung in der Schule noch relativierbaren Ablehnung körperlicher Strafen war 15 Jahre später eine absolute, keine Ausnahmen zulassende Gegnerschaft geworden – so zumindest das Bild, das sich aus den Lexika als Spiegel des pädagogischen Mainstreams ergibt. Eine andere Quelle steht auch kaum zur Verfügung, denn in pädagogischen Zeitschriften oder Monographien wurde die konkrete Frage körperlicher Strafen, die schon zuvor nur noch als
55 56
ritären Charakters beeinflussten Kinderladen-Bewegung siehe Baader: Reflexive Kindheit, S. 425–433. Scheibe/Ewert: Strafe, S. 173. Scheibe: Körperstrafe, Sp. 116.
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6. Das rasche Verschwinden: 1970er Jahre
ein (eher randständiger) Aspekt der generellen Problematik von Schulstrafen erschienen war, ab den späten 1960ern nicht mehr thematisiert. Das bereits für die späten 1940er Jahre angeführte Zitat eines Lehrers traf 25 Jahre später in noch stärkerem Maß zu: Pädagogen mieden das Thema körperliche Schulstrafen nun tatsächlich wie „einen entfernten, aber mißratenen Verwandten, [. . . .] weil er zur Situation des Augenblicks so gar nicht paßt“.57 Oder weniger bildlich gesprochen: Zumindest für die pädagogische Wissenschaft war die Ablehnung körperlicher Strafen nun so selbstverständlicher Konsens, dass sie nicht mehr diskutierens-, ja, kaum noch explizit erwähnenswert erschien.58 Die Durchsetzung der Ablehnung in der Öffentlichkeit
Auf den anderen Grund für das Verstummen der Züchtigungsbefürworter unter den Lehrern wies bereits im vorigen Kapitel ein Mitarbeiter des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands hin, wenn er warnte, ein Lehrerverband, der sich für das Züchtigungsrecht einsetze, würde „vor der gesamten Öffentlichkeit [. . . ] in die Binsen gehen“. Dass die Gegner körperlicher Strafen in den öffentlichen Debatten dominant geworden waren, hat das rheinland-pfälzische Beispiel gezeigt, wo nicht zuletzt der Druck durch Elternvertreter und Medien zum Verbot geführt hatte. Dass sie spätestens Anfang der 1970er auch zahlenmäßig zur Mehrheit geworden waren, darauf deuten Umfragen der Meinungsforschung hin. Das Institut für angewandte Sozialwissenschaft fragte 1971, ob es überhaupt Fälle geben sollte, in denen Lehrer Schüler schlagen dürfen. Dabei sprachen sich 54 % gegen, 41 % für eine Erlaubnis aus.59 Dies ist zwar noch keine sehr deutliche Mehrheit, aber doch eine klare Veränderung gegenüber der letzten größeren Umfrage zum Thema 1960, in der das Allensbach-Institut 50 % für und nur 41 % gegen eine Erlaubnis gezählt hatte (mit noch viel deutlicheren Zahlen, als nach „verdienten“ Ohrfeigen gefragt wurde). 1974 war bei einer infasFolgeumfrage das Bild noch eindeutiger: Inzwischen hatte sich nicht nur die Zahl der Gegner auf 65 % erhöht, sondern auch die derjenigen, die mit „weiß 57 58
59
Stauß: Gedanken, S. 630, vgl. S. 262 dieser Arbeit. Diese Entwicklung kann im Kontext einer grundsätzlichen Veränderung der Bewertung von Strafe in der Pädagogik gesehen werden, wie sie Sophia Richter für die gleiche Zeit festgestellt hat: Während zuvor vor allem über Bedingungen pädagogisch sinnvollen Strafens diskutiert wurde, wurden ab 1970 „Strafen zunehmend als Gefährdung von Erziehung“ grundsätzlich problematisiert (Strafen, S. 170). Angesichts dieses pädagogischen Legitimitätsverlusts von Strafe an sich ist die Tabuisierung körperlicher Strafen nur folgerichtig. Vgl. infas report vom 14.8.1974, zitiert nach Serwe: Entwicklung, S. 142. Dort auch die folgenden infas-Zahlen für 1974. Zur Allensbach-Umfrage von 1960 siehe S. 317 dieser Arbeit.
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6.2 Die ausbleibenden Kontroversen
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nicht“ antworteten, war von 5 auf 9 % gewachsen, sodass nur noch 26 % ein Züchtigungsrecht befürworteten. Dabei zeigte sich ein deutlicher Unterschied in den Altersgruppen: Zu allen Zeiten war die Ablehnung umso größer, je jünger die Befragten waren. 1971 waren die Über-65-Jährigen die einzige Altersgruppe, in der sich eine knappe Mehrheit (55 %) für die Erlaubnis körperlicher Strafen aussprach, 1974 war aber auch dieser Anteil auf 35 % gesunken. Geht man von der Repräsentativität dieser Zahlen aus, dann belegen sie, was bereits anhand der Entstehung des rheinland-pfälzischen Verbots beobachtet wurde: In Bezug auf die Gesamtbevölkerung war die Befürwortung körperlicher Schulstrafen 1969 vielleicht nicht mehr in der Mehrheit, aber noch sehr weit verbreitet – leider liegen für dieses Jahr keine Umfragedaten vor, aber es ist davon auszugehen, dass der Anteil der Befürworter nicht niedriger, sondern wahrscheinlich eher noch höher lag als zwei Jahre später. Entscheidend für die Durchsetzung des Verbots war also weniger, dass die Züchtigungsgegner zahlenmäßig eine deutliche Mehrheit gebildet hätten, sondern vor allem, dass sie in den Verbänden von Eltern und Lehrern sowie in der medialen Öffentlichkeit die Meinungsführerschaft errungen hatten. Dies lag vor allem daran, dass eine Verteidigung körperlicher Strafen als unzeitgemäß und öffentlich kaum noch zu äußern empfunden wurde. Die Worte einer pfälzischen Tageszeitung können als treffende Beschreibung des Meinungsklimas der Zeit gesehen werden: „1969, meinen wir, sollte auch in Rheinland-Pfalz ein Züchtigungsrecht nicht mehr drin sein.“60 Erst nachdem körperliche Strafen zumindest schulrechtlich durchgehend verboten worden waren, kam es zu einer deutlichen quantitativen Dominanz der Körperstrafengegner.61 Angesichts der Kombination aus mehrheitlicher Gegnerschaft in der Öffentlichkeit und nicht mehr relativierbarer Ächtung in der theoretischen Pädagogik ist es nicht erstaunlich, dass unter der sich quasi an der Schnittstelle zwischen diesen beiden Teildebatten befindenden Lehrerschaft nun die Ablehnung körperlicher Strafen klar dominierte. Eine Befragung von Lehramtsstudierenden deutet gar auf ein „abruptes Aussterben“ der Akzeptanz dieser Strafart hin: Während 1964 noch 50 % mehr oder weniger starke Zustimmung zu dem Satz „An dem Spruch ‚eine richtige Tracht Prügel schadet niemandem‘ ist viel richtiges dran“ geäußert hatten, waren es bei einer auf dem gleichen Fragebogen beruhenden Studie zehn Jahre später nur noch 6 % der befragten Studenten.62 60 61
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Hans Hahn: Unser Kommentar: Nicht hochgespielt, in: Die Rheinpfalz (SP), 3.10.1969. Dies zeigt neben der zitierten infas-Befragung beispielsweise auch eine, freilich nicht repräsentative, Umfrage des Juristen Rolf Aurel Serwe unter der Elternschaft einer Bochumer Grundschule 1974: Dort lehnten von 435 Befragten ca. 21 % Körperstrafen vollständig ab, ca. 56 % gestanden ein Züchtigungsrecht nur den Eltern zu. Lediglich 19 % äußerten, dass sie eine körperliche Bestrafung ihres Kindes durch den Lehrer unter Umständen „gutheißen oder zumindest widerspruchslos dulden“ würden. Vgl. Serwe: Entwicklung, S. 136–141. Krieger: Erziehungsvorstellungen, S. 86. Bei zwei weiteren Nachfolgeuntersuchungen 1986
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6. Das rasche Verschwinden: 1970er Jahre
6.3 Das lange Ende eines Gewohnheitsrechts Die Entdeckung der Grundrechte des Kinds
Zwar waren mit Beginn der 1970er Jahre in nahezu allen Bundesländern vollständige Verbote von schulischen Körperstrafen in Kraft, die zudem kaum auf öffentliche Kritik stießen. Doch waren die meisten von ihnen nur auf dem Verordnungsweg und nicht per Gesetz erfolgt, hatten also keine direkte Relevanz für die strafrechtliche Bewertung. Lehrer, die ihre Schüler geschlagen hatten und wegen Körperverletzung angeklagt waren, konnten sich nach wie vor auf ein Züchtigungsrecht berufen und freigesprochen werden. Von einer vollständigen Ächtung körperlicher Strafen konnte also nicht die Rede sein, solange sich nicht auch auf juristischer Ebene eine veränderte Bewertung etabliert hatte. Ein solcher Wandlungsprozess, der sich zumindest indirekt auch auf die Bewertung des Züchtigungsrechts auswirkte, hatte genau genommen bereits in den 1950er Jahren begonnen, kam aber erst im nächsten Jahrzehnt zu vollständiger Entfaltung und Wirkung: Es handelte sich um das Durchsetzen der Position, dass auch in der Schule nicht ohne gesetzliche Grundlage in die Grundrechte der Schüler eingegriffen werden dürfe. Zuvor galt dies als möglich, da für die Schule ein „besonderes Gewaltverhältnis“ angenommen wurde, das solche Eingriffe – und zwar gemäß der älteren Ansicht auch ohne gesetzliche Grundlage – legitimierte. Doch in einem „allmählichen Prozeß der ‚Verrechtlichung‘ des Schulverhältnisses“ wurde diese Position ab den 1960er Jahren zunehmend abgelehnt, bis sie schließlich so unhaltbar war, dass sich beispielsweise die Kultusministerkonferenz 1973 ausdrücklich vom Begriff des „besonderen Gewaltverhältnisses“ distanzierte.63 Dieser Prozess der Verrechtlichung spielte vor allem an Gymnasien eine wichtige Rolle. Auf die Frage des Züchtigungsrechts hatte er aber wenig direkten Einfluss: Für dessen Herleitung hatte das zunehmend unter Beschuss kommende Konzept des „besonderen Gewaltverhältnisses“ stets untergeordnete Bedeutung gehabt, schon allein, weil es eher dem Verwaltungsrecht
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und 1996 stimmten nur noch 5 bzw. 1 % dem Satz zu. Ein ähnliches „Aussterben“ stellte die Studie bei fünf weiteren abgefragten Ansichten fest, allerdings war nur bei einer davon („Ein Kind, das Nägel beißt, sollte getadelt werden“) der Rückgang zwischen 1964 und 1974 ähnlich deutlich. Jung: Züchtigungsrecht, S. 49. Dieser Prozess beschränkte sich nicht nur auf die Schule – z. B. entschied das Bundesverfassungsgericht 1972, dass auch die Grundrechte von Strafgefangenen nur auf Grundlage eines Gesetzes eingeschränkt werden dürfen (vgl. ebd., S. 48). Für die Schule lassen sich erste Ansätze der Verrechtlichung und der Auflösung des besonderen Gewaltverhältnisses bereits in den 1950er Jahren erkennen, als z. B. Nichtversetzung oder Schulausschluss erstmals als gerichtlich überprüfbarer Verwaltungsakt bewertet wurden (vgl. Laaser: Verrechtlichung, S. 1349–1352; Gass-Bolm: Ende, S. 447 f.) Zur Verrechtlichung des Schulwesens im Allgemeinen auch Reuter: Grundlagen, S. 42–48.
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6.3 Das lange Ende eines Gewohnheitsrechts
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zuzuordnen ist als dem die Diskussion um Körperstrafen stärker prägenden Strafrecht.64 Andererseits bestanden für die Anwendung körperlicher Strafen schon im 19. Jahrhundert detaillierte Verwaltungsvorschriften, deren Einhaltung im Rahmen von Körperverletzungsprozessen gerichtlich überprüft wurde. Für diese konkrete Frage kann also von einem Verrechtlichungsprozess im engeren Sinn keine Rede sein, da sie stets ‚verrechtlicht‘ war.65 Wichtiger als der direkte Einfluss auf die juristische Bewertung des Züchtigungsrechts ist jedoch die grundsätzliche Sensibilisierung für die Grundrechte von Schülern, die mit der Abkehr vom Bild der Schule als weitgehend rechtsfreiem Raum einherging. Der Einwand, dass körperliche Schulstrafen als Eingriff in die körperliche Unversehrtheit nach Artikel 2 des Grundgesetzes nicht ohne Gesetzesgrundlage zulässig seien, war wie geschildert schon Mitte der 1950er Jahre erstmals vorgebracht worden.66 1957 konnte ihn der Bundesgerichtshof noch mit der lapidaren Erklärung abtun, es sei „unmittelbar einsichtig“, dass sich dieser Artikel nur auf „schwerwiegende Eingriffe“ beziehe. Der Strafsenat bezeichnete ihn sogar als „nur dazu angetan, den Ernst dieses Grundrechtes in Frage zu stellen“.67 Der Strafrechtsprofessor Hans-Jürgen Bruns konstatierte im gleichen Jahr: „Dass Kindern gegenüber Einschränkungen der allgemeinen Grundrechte zulässig sind, ist anerkannt.“68 Zwar beharrten auch damals einzelne Autoren auf der Unvereinbarkeit körperlicher Strafen mit Artikel 2 oder auch 1 des Grundgesetzes, doch erst im Lauf der 1970er Jahre setzte sich diese Position durch.69 1972 war sie bereits so weit etabliert, dass in einem Lehrbuch des Strafrechts schulische Körperstrafen als formal und, da die mit ihnen verbundene Erniedrigung die Menschenwürde verletze, auch materiell unvereinbar mit dem Grundgesetz beschrieben wurden – auch wenn der Verfasser diese Position noch ausdrücklich „entgegen der h[errschenden] M[einung]“ vertrat.70 Außerdem wurde nun auch in der öffentlichen Debatte vermehrt mit den Grundrechten der
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Zudem galt bereits in den 1950er Jahren auch im Verwaltungsrecht diese Begründung als problematisch, wobei das Züchtigungsrecht deshalb nicht verneint, sondern stattdessen als an den Lehrer übertragenes Elternrecht hergeleitet wurde (vgl. Mayer: Züchtigungsrecht, S. 471; Schumacher: Bedeutung, S. 104–113). Diesen Aspekt übersieht Dirk Schumann, wenn er die Abschaffung körperlicher Strafen in den Kontext der Verrechtlichung des Schulwesens einordnet (vgl. Authority, S. 76). Vgl. S. 297 dieser Arbeit. BGH, 2. Strafsenat: Urteil vom 23.10.1957, in: BGHSt, Bd. 11, S. 241–263, Zitat S. 249. Hans-Jürgen Bruns, Zur strafrechtlichen Diskussion über das Züchtigungsrecht des Lehrers, in: Juristenzeitung (1957), S. 410–422, Zitat S. 413. Vgl. als frühere Beispiele: Stettner: Problematik, S. 38–43; Dürig: Art. 2 Abs 2 (S. 108–110, Rdnr. 48). Vgl. Jescheck: Lehrbuch, Allgemeiner Teil, S. 294 f. Auch Karcher (Prügeln, S. 25) sprach 1974 von der „bisher erst vereinzelt vertretene[n] juristische[n] Gegenposition“, die vom Grundgesetz ausgehe.
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Kinder argumentiert.71 Auch wenn diese wachsende Sensibilisierung für Rechte der Schüler mit dem Abschied vom Konzept des besonderen Gewaltverhältnisses einherging, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass Letzterer als direkte Ursache für die Infragestellung eines schulischen Züchtigungsrechts zu sehen ist. Eher ist mit Torsten Gass-Bolm „von parallelen Ausdrucksformen des gesellschaftlichen Wandels auszugehen“.72 Dafür spricht auch, dass Juristen die Veränderungen des pädagogischen Klimas rezipierten – so fand etwa 1965 eine Tagung zu „Schule und Rechtsprechung“ statt, auf der als zwei Hauptmerkmale der aktuellen Schule Demokratisierung und „Abkehr von einem autoritären Erziehungsstil“ diagnostiziert wurden.73 Doch auch wenn die Befürworter eines Züchtigungsrechts in den 1970er Jahren den Verweis auf die Grundrechte als Einwand ernster nehmen mussten als etwa der BGH 1957, konnte er weiterhin widerlegt werden: Denn eine Einschränkung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit ist gemäß dem Grundgesetz möglich – allerdings nur aufgrund eines Gesetzes.74 Zumindest für einen Teil der Juristen konnte diesem Vorbehalt nicht nur durch formelle Gesetze genüge getan werden, sondern auch durch das sogenannte Gewohnheitsrecht.75 Als ein solches galt gemäß der vom Bundesgerichtshof 1957 endgültig etablierten Rechtsprechung das Züchtigungsrecht der Lehrer. Die zweite entscheidende Frage der juristischen Debatte in den 1970er Jahren war also, ob von diesem Gewohnheitsrecht noch die Rede sein konnte. Alte Gewohnheitsrechte halten sich hartnäckig
Ein Gewohnheitsrecht ist definiert als „durch langanhaltende Übung in der Überzeugung, damit recht zu handeln, von den Beteiligten geschaffenes Recht“.76 71
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Vgl. Humanistische Union Ortsverband Mannheim-Ludwigshafen: Leserbrief „Gegen jede Methode der Dressur und Gewaltanwendung“, in: Die Rheinpfalz/Speyerer Rundschau Nr. 231 vom 6.10.1969; Lutz Hambusch: Leserbrief „Auf dem Rückzug“, in: FAZ v. 18.7.1966, S. 6; Abg. Lucie Kölsch, Landtag Rheinland-Pfalz, 59. Sitzung, 19. März 1970, Stenographische Berichte 6. Wahlper. 1967/71 (1970), S. 2199; Abg. Schöfberger, Bayerischer Landtag, 64. Sitzung, 12.3.1969, Stenographischer Bericht, 6. Wahlperiode, S. 3222. Gass-Bolm: Ende, S. 463. Wolfgang Scheibe: Schule und Rechtsprechung. Ein Tagungsbericht, in: Recht der Jugend 13 (1965), S. 197–201, Zitat S. 198 f. Vgl. Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG und Art. 19 GG. Vgl. BGH, 2. Strafsenat: Urteil vom 23.10.1957, in: BGHSt 11, S. 250; Roxin/Schünemann/Haffke: Klausurenlehre, S. 78. Für die gegenteilige Position vgl. beispielsweise Dieter Hesselberger: Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Erziehungs-, Sicherungs- und Strafmaßnahmen gegenüber Schülern, in: Recht der Jugend (1974), S. 17–21; Jung: Züchtigungsrecht, S. 54 f. Tilch: Rechts-Lexikon, S. 248.
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6.3 Das lange Ende eines Gewohnheitsrechts
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Durch bloße Verwaltungsanordnungen konnte es nicht aufgehoben werden, sondern nur durch ein gesetzliches Züchtigungsverbot oder aber durch die Bildung eines neuen, entgegenstehenden Gewohnheitsrechts. Dies bedeutete: Es musste in „langdauernde Übung“ kommen und „Rechtsüberzeugung“ werden, dass Lehrer ihre Schüler nicht schlagen dürften. Ein Grundproblem dieser Definition liegt im schwer fassbaren Begriff der „allgemeinen Rechtsüberzeugung“, für die sich kaum klare, messbare Kriterien festlegen lassen. Dabei sprach man den Gerichten „in weit stärkerem Maße als andere[n] Organe[n] der Rechtsgemeinschaft einen hervorragenden Einfluß auf Bildung neuen Gewohnheitsrechtes“ zu77 – was zu einem logischen Zirkelschluss führte: Ein neues Gewohnheitsrecht in Form eines Züchtigungsverbots bildete sich demnach dann, wenn Gerichte in diesem Sinne entschieden. Das konnten sie jedoch nicht, denn solange diese neue Rechtsprechung nicht etabliert war, mussten sie sich am alten Gewohnheitsrecht auf Züchtigung orientieren. Diese Rechtsfigur hatte also unbestreitbar einen bewahrenden Charakter und erschwerte Veränderungen – ganz unmöglich machte sie diese jedoch nicht, da die Rechtsprechung zwar ein wichtiges, aber eben nicht das alleinige Kriterium zur Bildung eines Gewohnheitsrechts war. So wurde die Frage, ob ein Gewohnheitsrecht zur Züchtigung noch existiere, in der juristischen Literatur der 1970er Jahre immer häufiger verneint. Heike Jung verwies 1974 in seiner Habilitationsschrift auf die kultusministeriellen Verbote und die Mahnungen von Pädagogen und Psychologen als Indizien „für einen allmählichen Bewußtseinswandel“. Dadurch entstanden für ihn angesichts der Tatsache, „dass Gewohnheitsrecht seine Geltungskraft aus dem selbstverständlichen Konsens aller Beteiligten zieht, [. . . ] Zweifel an der Fortgeltung des schulischen Züchtigungsrechts als Gewohnheitsrecht“.78 Da er allerdings davon ausging, dass auch ein möglicherweise bestehendes Gewohnheitsrecht nicht geeignet wäre, das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit einzuschränken, war diese Frage für Jung eher zweitrangig. Im Mittelpunkt stand sie dagegen in Rolf Aurel Serwes 1977 veröffentlichter Dissertation „Die retrograde Entwicklung der ‚gewohnheitsrechtlichen‘ Züchtigungsbefugnis des Lehrers“. Schon die Anführungszeichen zeigen, dass für Serwe die Legitimation körperlicher Strafen durch Gewohnheitsrecht nicht mehr aufrechtzuerhalten war. Dies begründete er erstens, ganz ähnlich wie der Bundesgerichtshof 1954, damit, dass das schulische das einzige noch bestehende außerfamiliäre Züchtigungsrecht sei – was es „kultur- und sittenwidrig“ mache.79 Außerdem verwies er auf mehrere Anzeichen einer geänderten öffentlichen Meinung: die Ablehnung körperlicher Schulstrafen in Landtagsdebatten der 1970er Jahre, die „geschlossene, mehr als reservierte Haltung“ der Presse und verschiedene Meinungsumfragen, die 77 78 79
Leifert: Züchtigungsrecht, S. 167. Jung: Züchtigungsrecht, S. 91. Dort auch das folgende Zitat. Serwe: Entwicklung, S. 163. Dort auch das folgende Zitat.
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immer deutlichere Mehrheiten gegen ein Züchtigungsrecht ergaben. Dass Körperstrafen in Pädagogik und Psychologie als erzieherisch unvertretbar und in der Medizin als gefährlich galten, waren weitere wichtige Argumente, ebenso wie die geltenden dienstrechtlichen Verbote. Auch in der Rechtsprechung beobachtete Serwe eine allmähliche Abkehr von der bisherigen Position aufgrund der in der Literatur geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken und der Einbeziehung pädagogischer Erkenntnisse. Gemäß Serwes Analyse konnte also in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre von einer allgemeinen Rechtsüberzeugung, dass Lehrer schlagen dürften, nicht mehr die Rede sein. Und dennoch sah selbst er eine sofortige Aufgabe des Gewohnheitsrechts als juristisch höchst problematisch an: Denn dafür müsse ein auf Rechtsüberzeugung und einheitlicher Übung beruhendes abweichendes Gewohnheitsrecht festgestellt werden – und hier setzte das oben beschriebene logische Dilemma ein. Angesichts dieser selbst von seinen Kritikern anerkannten Beharrungskraft des Gewohnheitsrechts ist es nicht erstaunlich, dass auch in den 1970er Jahren, als nahezu bundesweit Verbote per Verwaltungsanordnung erlassen worden waren, noch regelmäßig Gerichte von einer Weitergeltung des Gewohnheitsrechts ausgingen und deshalb schlagende Lehrer von der Anklage der Körperverletzung freisprachen.80 Das wohl frappierendste und auch zeitgenössisch aufsehenerregendste Beispiel ist ein Urteil des Bayerischen Oberlandesgerichts, das noch im Dezember 1978 voll und ganz die Position des Bundesgerichtshofs von 1957 übernahm. Dabei teilte es nicht nur die Ansicht, dass „Frechheiten und vorsätzliche Störungen des Unterrichts“ ein hinreichender Anlass zu Körperstrafen seien, sondern sah auch die verfassungsrechtlichen Bedenken vom BGH „mit überzeugender und nach Ansicht des Senats noch heute gültiger Begründung zurückgewiesen“.81 Das ist insofern bemerkenswert, als gerade diese Begründung schon zeitgenössisch und erst recht in den 1970er Jahren stark kritisiert worden war.82 Wenn das Oberlandesgericht zudem einschränkte, dass „freilich nur maßvoll zur Aufrechterhaltung der Schulzucht und gleichzeitig im wohlverstandenen Erziehungsinteresse“ geschlagen werden dürfe, wird deutlich, dass es mit der juristischen auch die dahinterliegende erzieherische Bewertung aus den 1950er Jahren übernahm, also die Annahme, dass Körperstrafen durchaus im Erziehungsinteresse des Kinds liegen konnten. Das bayerische Urteil basierte somit nicht nur auf formalen juristischen Bedenken zur Nichtanerkennung eines Ge-
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Vgl. z. B.: Amtsgericht Gießen, 54 Ds 243/72, in: Wirtschaft und Recht (Beilage zur ADLZ) 23 (1973), S. 47; OLG Köln in: Entscheidungen der Oberlandesgerichte zum Straf- und Strafverfahrensrecht (1), § 223, S. 9–13. OLG Bayern: Urteil vom 4.12.1978, Reg. 5 St 194/78, in: NJW 31 (1978), S. 1371–1373, Zitate S. 1373. Vgl. etwa Dürig: Art. 2 Abs. 2, S. 105; Stettner: Problematik, S. 9–13; ders.: Anmerkung zum Urteil des BGH vom 10.3.1959, in: Recht der Jugend 7 (1959), S. 303.
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wohnheitsrechts, sondern auch auf Ansichten zur Legitimität und erzieherischen Zweckmäßigkeit körperlicher Strafen.83 Das bayerische OLG-Urteil zeigt, dass nicht nur die Anerkennung eines Züchtigungsrechts, sondern auch die dahinterliegende Akzeptanz körperlicher Strafen als Erziehungsmittel in der Rechtsprechung noch geäußert werden konnte, als solche Positionen in der öffentlichen und politischen Debatte höchstens am Rande zu finden waren. Es illustriert somit, dass auch zum Ende des Betrachtungszeitraums, wie schon für die Zeit vor 1945 festgestellt, im juristischen Teildiskurs der Wandel hin zur Ächtung körperlicher Strafen am langsamsten vonstattenging. Betrachtet man das Urteil in seinem Kontext, verdeutlicht es aber andererseits gerade, dass es auch in der Rechtsprechung und mehr noch in der Rechtswissenschaft zum Ende der 1970er Jahre eine starke, wenn auch noch nicht umfassende oder abgeschlossene Veränderung der Ansichten gegeben hatte. Denn bevor der Fall vor dem Oberlandesgericht zur Revision kam, hatte das Amtsgericht Memmingen den Lehrer, der einem Schüler wegen Umherhüpfens im Klassensaal zwei Ohrfeigen gegeben hatte, zu 1.800 DM Geldstrafe (plus Gerichtskosten) verurteilt. Als in der Verhandlung vor dem Amtsgericht der Verteidiger des Lehrers (der Vorsitzende der Rechtsschutzabteilung des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands) Freispruch aufgrund des Gewohnheitsrechts auf Züchtigung beantragte, entgegnete ihm der „relativ junge Richter [. . . ], daß man so vor zwanzig Jahren hätte plädieren können“.84 Nicht nur die niedere Instanz hatte ein Gewohnheitsrecht abgelehnt, auch für den Kommentator des OLG-Urteils in der Juristischen Rundschau widersprach dieses „der in den letzten Jahren wohl überwiegend gewordenen Auffassung im Schrifttum“.85 Er sah weder die gefestigte allgemeine Übung noch die Annahme der Rechtmäßigkeit durch alle Beteiligten als gegeben an. Tatsächlich war Mitte der 1970er Jahre nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Rechtsprechung die Annahme einer gewohnheitsrechtlichen Züchtigungsbefugnis ins Wanken gekommen. 1976 entschied der Bundesgerichtshof über den Fall eines Heimleiters, der 10- bis 14-jährige Zöglinge wiederholt mit einem Rohrstock auf den Hintern geschlagen hatte. Der Strafsenat verwies dabei auf die im Schrifttum geäußerten „gewichtige[n] Gegengründe“ gegen ein Züchtigungsrecht, ließ die Frage nach dessen Existenz aber ausdrücklich of-
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Einige zeitgenössische juristische Kommentatoren kritisierten, dass Richter durch „subjektive Affinitäten wie Schichtzugehörigkeit, Stereotypen, Alltagstheorien“, durch eigene Schulerfahrungen oder konservative politische Vorstellungen beeinflusst seien (Zitat: Serwe: Entwicklung, S. 171 f., vgl. auch Karcher: Prügeln, S. 25). F. Lehmann: Verhandlungsbasis: 1000 DM pro Ohrfeige, in: Bayerische Schule 31 (1978), S. 423. Thomas Vormbaum: Anmerkung zum Urteil des BayOLG vom 3.12.1978, in: Juristische Rundschau (1979), S. 477–479, Zitat S. 477.
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fen.86 Dieses Urteil, das zwar einen Fall aus der Heimerziehung behandelte, sich aber in seinen Erwägungen zum Züchtigungsrecht ausdrücklich gleichermaßen auf Volksschullehrer bezog, konnte man als möglichen „Vorboten für eine Rechtsprechungsänderung“, als „gelbe Karte“ für schlagende Lehrer sehen.87 Diese Änderung in der Rechtsprechung vollzog einige Monate später auf niedrigerer Ebene das Amtsgericht Braunschweig in einem Urteil, das ebenfalls einen Fall aus der Heimerziehung betraf, aber für Erzieher und Lehrer gleichermaßen formuliert war. Nach eingehender Prüfung kamen die Richter des Jugendschöffengerichts zu dem Ergebnis: „Ein gewohnheitsmäßig begründetes Züchtigungsrecht ist für Heimerzieher und Lehrer nicht mehr gegeben.“88 Die deutliche Abkehr vom Gewohnheitsrecht durch einzelne Gerichte niederer Instanz, die vorsichtige Infragestellung durch den Bundesgerichtshof und die ab Mitte der 1970er weitgehend einhellige Gegnerschaft in der juristischen Literatur zeigen: Das bayerische OLG-Urteil von 1978 war für die Tendenz der Rechtsprechung dieser Zeit eigentlich nicht mehr repräsentativ. Von der Minderheits- zur herrschenden Meinung
Angesichts der uneinheitlich gewordenen Rechtsprechung sind Gesetzeskommentare ein guter Gradmesser dafür, wann und inwieweit sich die immer deutlicher werdende juristische Ablehnung körperlicher Strafen durchsetzte. Bis in die Mitte der 1970er Jahre galt in mehreren großen Strafgesetzbuchkommentaren trotz der kultusministeriellen Verbote ein Züchtigungsrecht der Lehrer noch als selbstverständlich. So hieß es beispielsweise 1974 im Kommentar des Heidelberger Strafrechtsprofessors Karl Lackner: „Dem Lehrer steht ein Züchtigungsrecht gegenüber jüngeren Schülern kraft Gewohnheitsrechts zu.“89 Ein Jahr und eine Auflage später schränkte Lackner diese Aussage mit dem Vorbehalt „nach Ansicht der Rechtsprechung“ ein – und erklärte diese Ansicht „angesichts der nachhaltig veränderten Einstellung der Bevölkerung“ für überprüfungsbedürftig.90 Nochmals drei Jahre später, 1978, führte der Kommentar diese Zweifel weiter aus, indem er auf die in den vorangegangenen Jahren erfolgte „grund86
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BGH: Urteil vom 12.8.1976, 4 StR 270/76, in: NJW 29 (1976), S. 1949. Das Offenlassen der Frage war in jenem Fall möglich, da das Gericht entschied, dass der Angeklagte zur Tatzeit (1971/72) annehmen konnte, dass er gewohnheitsrechtlich zur Züchtigung befugt sei. Selbst wenn dies in Wahrheit nicht der Fall gewesen sein sollte, führte der „Verbotsirrtum“ des Angeklagten zu einem Freispruch. Hero Schall: Anmerkung zum Urteil d. BGH v. 12.8.1976, in: NJW 30 (1977), S. 113–114, Zitate S. 114. AG Braunschweig: Urteil vom 13.1.1977, Az. 7c 161/76, Rdnr. 61 (juris). Lackner/Maassen: Strafgesetzbuch, 8. Auflage 1974, S. 545. Lackner/Maassen: Strafgesetzbuch, 9. Auflage 1975, S. 688 f.
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sätzliche Veränderung in der Einstellung der Erziehungswissenschaften und der schulischen, von einschlägigen Verwaltungsvorschriften der Kultusbehörden gesteuerten Praxis“ und vor allem auf den „nachhaltige[n] Wandel in der allg. Überzeugung der Bevölkerung“ verwies.91 Im von Eduard Dreher herausgegebenen Beck’schen Kurz-Kommentar wurde noch 1977 ein recht weites Verständnis des Züchtigungsrechts vertreten: Beispielsweise enthielt er (in seit den frühen 1950er Jahren unveränderter Formulierung) den auf die Position des Reichsgerichts zurückgehenden Grundsatz, dass das Gericht nicht die pädagogische Angemessenheit einer körperlichen Strafe überprüfen dürfe.92 Hier war es der Wechsel des Herausgebers, der 1978 zu einer grundlegenden Änderung führte: Herbert Tröndle sprach sich so klar wie kaum ein Kommentator vorher gegen ein Lehrerzüchtigungsrecht aus: „Lehrer dürfen ihnen anvertraute Schüler nicht züchtigen“, da die Erziehungsaufgabe einen solchen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit nicht decken könne.93 Allerdings bewertete Tröndle diese Position selbst als „sehr str[ittig]“ und betonte, dass in der herrschenden Meinung und in der Rechtsprechung das Züchtigungsrecht noch bejaht werde, auch wenn „ein Meinungswandel erkennbar“ sei. Nach der von ihm vertretenen (Minderheits-)Position konnte aber „ein Züchtigungsrecht der Lehrer, gegen das auch verfassungsrechtliche Bedenken erhoben werden, angesichts der weithin gewandelten Einstellung der Bevölkerung nicht mehr anerkannt werden“.94 Der renommierte Kommentar Schönke/Schröder wurde zwar nicht ganz so deutlich. Doch auch er äußerte bereits 1976 erste Zweifel am Gewohnheitsrecht, das „sich angesichts der veränderten Verhältnisse [. . . ] heute jedenfalls nicht mehr von selbst“ verstehe.95 Und auch hier verstärkte sich diese Skepsis in der folgenden Auflage: 1978 wurde das Lehrerzüchtigungsrecht als „zweifelhaft“ bezeichnet. Angesichts der pädagogischen Fragwürdigkeit und der Unvereinbarkeit körperlicher Strafen außerhalb der „häuslichen Intimsphäre“ mit der Menschenwürde „dürfte für ein solches Züchtigungsrecht des Lehrers die Grundlage bereits entfallen sein“.96 Wiederum eine Auflage später, 1980, wurden die gleichen Bedenken etwas ausführlicher dargestellt und durch das Fazit ergänzt: „Nimmt man noch die schulrechtliche Abschaffung der im allgemeinen Bewusstsein ohnehin längst verpönten Prügelstrafe hinzu, so muß jedenfalls das gewohnheitsrechtliche Züchtigungsrecht des Lehrers heute als derogiert betrachtet werden.“97 Doch auch wenn damit in allen drei hier vorgestellten Kommentaren 1980 ein Züchti91 92 93 94 95 96 97
Lackner/Maassen: Strafgesetzbuch, 12. Auflage 1978, S. 769. Vgl. Dreher: Strafgesetzbuch, S. 903 (Rdnr. 16). Tröndle: Strafgesetzbuch, S. 917 (Rdnr. 13). Dort auch das folgende Zitat. Ebd., S. 918. Albin Eser in: Schönke/Schröder: Strafgesetzbuch, 18. Auflage 1976, S. 1332, Rdnr. 26. Albin Eser in: Schönke/Schröder: Strafgesetzbuch, 19. Auflage 1978, S. 1485 f., Rdnr. 22. Albin Eser in: Schönke/Schröder: Strafgesetzbuch, 20. Auflage 1980, S. 1444, Rdnr. 20.
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gungsrecht mehr oder weniger deutlich abgelehnt wurde, ging der Bearbeiter des Schönke/Schröders immer noch davon aus, dass die Annahme einer gewohnheitsrechtlichen Rechtfertigung „die (wohl noch) h[errschende] M[einung]“ sei.98 Erst 1991 war für diesen führenden Kommentar die Ablehnung körperlicher Strafen auch im juristischen Diskurs so weit etabliert, dass er eindeutig formulierte: „Dem Lehrer wurde aufgrund Gewohnheitsrecht“ ein Züchtigungsrecht eingeräumt.99
6.4 Soziale Praxis nach 1970 Kein Ende körperlicher Strafen
Bedeuteten das Durchsetzen der Züchtigungsgegner in den Diskussionen von Lehrerschaft und Öffentlichkeit sowie die kultusministeriellen Verbote um 1970 auch in der Praxis das Ende körperlicher Schulstrafen? Eine Befragung im Rahmen der Shell-Jugendstudie 1981 deutet tatsächlich auf einen starken Rückgang hin: So stimmten bei der Frage, wie sie ihre Grundschulzeit rückblickend charakterisierten, nur 2 % der zwischen 1970 und 1975 auf die Grundschule gegangenen Jugendlichen der Aussage zu „Es wurde versucht, mit Prügeln zu erziehen“ – von denen, die zwischen 1960 und 1965 Grundschüler gewesen waren, waren es noch 16 %.100 Allerdings ist gut denkbar, dass für viele Befragte selten vorkommende oder ‚kleinere‘ Körperstrafen wie Ohrfeigen nicht unter die Definition des Prügelns fielen, sodass die tatsächliche Verbreitung dieser Strafen auch nach 1970 größer gewesen sein könnte, als es die Umfrageergebnisse auf den ersten Blick nahelegen. Eine Art unfreiwillige Mikrostudie zur Verbreitung körperlicher Strafen liefert eine etwas bizarr anmutende Serie anonymer Anzeigen, mit denen sich die Darmstädter Polizei 1971 auseinanderzusetzen hatte: Ein Unbekannter listete in mehreren Schreiben an das Kriminalkommissariat „prügelnde“ Lehrer und ihre Schulen auf und nannte Namen von Kindern, die jeweils geschlagen worden seien. Er gab an, die Informationen durch Befragen der Kinder gewonnen zu haben. Auf den ersten Blick erinnert diese Form des Denunzierens von ‚Prügelpädagogen‘ an das Vorgehen der ‚Kinderschutzkommissionen‘ in Kaiserreich und Weimarer Republik. Doch ist unklar, ob es dem Anzeigenden 1971 eben98 99 100
Ebd., S. 1443. Albin Eser in: Schönke/Schröder: Strafgesetzbuch, 24. Auflage 1991, S. 1630, Rdnr. 19. 36 % der ab 1970 eingeschulten (gegenüber 57 % der zehn Jahre älteren) erinnerten sich an „Strenge und Strafarbeiten“, 49 % (zuvor nur 34 %) wählten die Aussage: „Das gab es alles nicht, aber es wurde intensiv gelernt.“ (Jugendwerk: Jugend 81, S. 94 f.). S. auch Fend: Sozialgeschichte, S. 110.
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6.4 Soziale Praxis nach 1970
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falls um einen grundsätzlichen Kampf gegen körperliche Strafen ging, denn er formulierte beispielsweise: „Alle genannten Fälle müssen im Interesse der armen geschädigten Kinder genau untersucht werden [. . . ]. Die Schule und Sie werden in der nächsten Zeit nichts anderes mehr zu tun haben als Kinder zu verhören. Sie werden erstaunt sein, wie ‚übereinstimmend‘ die Kinder-Aussagen sein werden! Viel Vergnügen“.101 Dies wirkt eher wie eine sarkastische Kritik an der polizeilichen Verfolgung innerschulischer Vorfälle – oder aber wie ein, wie die Polizei annahm, „Racheakt eines Schülers [. . . ], der Unruhe in den Schulen stiften will.“102 Dennoch ließ die Staatsanwaltschaft Ermittlungen einleiten. Das zuständige Schulamt hielt es für „kaum möglich [. . . ], daß so viele Lehrkräfte Züchtigungen vornehmen. Das sei dann, wenn es der Fall wäre, längst auf andere Weise – über Kinder oder Eltern – bekanntgeworden.“ Tatsächlich versicherten in drei der sechs zur Untersuchung ausgewählten Fälle die Schüler, noch nie von ihrem Lehrer geschlagen worden zu sein, was auch die Eltern bestätigten. In den übrigen drei Fällen allerdings stellten sich die Vorwürfe als weniger unbegründet heraus: Ein (vom Rektor seiner Schule als schwierig, weil oft jähzornig beschriebener) Schüler einer vierten Klasse berichtete, sein Lehrer habe ihm tatsächlich einmal „eine runtergehauen“, nachdem er sich in der Pause mit einem Mitschüler geprügelt hatte. Auf die Frage, ob er dies seinen Eltern berichtet habe, antwortete der Junge: „Nein, sonst hätte ich sie nochmal bekommen.“103 Dass von einer ohne auffällige Spuren bleibenden Körperstrafe nicht einmal die Eltern des betroffenen Schülers erfuhren, dürfte keine Seltenheit gewesen sein – und ist ein weiterer Grund, von einer sehr weit über der Zahl überlieferter Beschwerden liegenden Dunkelziffer auszugehen. Vor allem aber demonstriert es, dass auch nach 1970 Schläge für viele Eltern noch ein selbstverständliches Erziehungsmittel sein konnten und dass auch Schüler diese Einschätzung übernahmen. Denn auch die beiden anderen Schüler, die gegenüber der Polizei bejahten, dass sie in der Schule geschlagen worden waren, hatten davon nicht ihren Eltern berichtet – der eine begründete das damit, dass dies „die richtige Strafe“ gewesen sei, der andere erklärte, seine Mutter habe selbst den Lehrer gebeten, er solle „mir eine runterhauen, wenn ich nicht pariere“.104 In beiden Fällen waren die Schläge ganz offenbar keine Einzelfälle. Der zweite Schüler berichtete sogar, er sei gerade in der vorigen Stunde geschlagen worden, weil er geschwätzt habe – und erklärte, der Lehrer gebe „mal ne Ohrfeige, aber das haben wir alle gern“. Zwar sind solche Aussagen von Schülern über ihre eigenen Lehrer natürlich 101 102 103 104
Anonymes Schreiben: „Prügelnde Lehrer(innen)“, HStAD H 13 Darmstadt 1102, Bl. 9. Kriminalkommissariat Offenbach: Vermerk, 16.4.1971, HStAD H 13 Darmstadt 1102, Bl. 12. Kriminalabteilung Darmstadt: Vermerk, 29.4.1971, HStAD H 13 Darmstadt 1102, Bl. 5. Kriminalabteilung Darmstadt: Vermerk, 3.5.1971, HStAD H 13 Darmstadt 1102.
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6. Das rasche Verschwinden: 1970er Jahre
mit großer Vorsicht zu bewerten, doch bemühte sich die Darmstädter Polizei offenbar – stärker als dies in älteren Verfahren der Fall war – um eine möglichst sensible und indirekte Befragung der Schüler, die nicht erkennen sollten, dass gegen ihren Lehrer ermittelt wurde. Insgesamt kam die Staatsanwaltschaft zum Ergebnis, dass in keinem Fall Körperverletzung im Amt vorliege, schließlich sei es „lediglich zu Züchtigungen gekommen, die sich im Rahmen des Erlaubten hielten“ – wobei ‚das Erlaubte‘ hier offensichtlich anhand des strafrechtlich noch als gültig gesehenen Gewohnheitsrechts definiert wurde. Der Befund, dass die Hälfte der überprüften Lehrer trotz des nun seit 25 Jahren bestehenden ministeriellen Verbots noch im Einzelfall oder sogar regelmäßig schlug, ist wohl nicht als repräsentativ für die gesamte hessische Lehrerschaft zu werten. Schließlich ist wahrscheinlich, dass der anonyme Briefeschreiber gerade für seine erste Anzeige gezielt solche Lehrer ausgewählt hatte, von denen er aufgrund von Gerüchten oder Schüleraussagen annahm, dass sie tatsächlich gegen das Züchtigungsverbot verstoßen hatten. Dennoch belegt der Fall, dass schlagende Lehrer um 1970 selbst in Hessen keine seltene Ausnahme waren. Dass dies sogar für Gymnasien galt, zeigt eine Beschwerde eines Vaters aus dem Jahr 1969: Ein Lehrer an einem Offenbacher Gymnasium habe seinen Sohn, den er fälschlich für einen Streich verantwortlich machte, mehrfach mit der Faust ins Gesicht geschlagen, sodass der Junge aus Nase und Mund geblutet habe. Der Vater bekräftigte seine Beschwerde damit, dass es nicht nur um einen Einzelfall gehe: „Von vielen Seiten sind schon Klagen hörbar geworden, daß dieser Lehrer auch kleinere Kinder unnötig oder über die Gebühr schlägt.“105 Schon die Formulierung „unnötig oder über die Gebühr“ ist aufschlussreich, impliziert sie doch, dass der Vater Schläge an sich nicht zwangsläufig als problematisch oder zumindest nicht als Grund für ein Einschreiten der Schulleitung sah. Glaubt man seiner Aussage, belegt der Fall, dass selbst an hessischen Gymnasien Körperstrafen in den 1960er Jahren nicht nur vorkamen, sondern auch von Eltern hingenommen wurden – denn offizielle Beschwerden hatte es bis zu diesem Zeitpunkt nachweislich der Personalakte des Lehrers nicht gegeben; und auch der Direktor der Schule betonte, ihm seien in seiner Amtszeit keine diesbezüglichen Klagen zu Ohren gekommen. Wenn die Eltern tatsächlich zuvor die Schläge des Lehrers schweigend hingenommen hatten, war davon 1969 wenig übrig: Denn jetzt müsse, so der Vater, „hiermit nun endgültig Schluß gemacht werden, da solche Verhältnisse im modernen Schulwesen einfach untragbar sind“. Tatsächlich versuchte auch der Direktor nicht, das Verhalten des Lehrers zu rechtfertigen, sondern entschuldigte es lediglich als durch akute nervliche Be-
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A. an Schulleitung, 27.10.1969, HStAD H 1, 6746.
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6.4 Soziale Praxis nach 1970
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lastung verursachte „einmalige Entgleisung“, die zwar ein Disziplinarverfahren, aber keine „erhebliche Disziplinarahndung“ erfordere.106 Aber immer deutlichere Missbilligung
Wie das oben Geschilderte deutlich macht, wurde auch nach 1970 das hessische Züchtigungsverbot nicht durchgängig eingehalten. Und dennoch zeigen sich klare Veränderungen gegenüber den vorigen Jahrzehnten. So finden sich keine Beschwerde- oder Anklagefälle mehr, in denen Lehrer geplant mit dem Stock gezüchtigt hatten, sondern alle jüngeren Fälle betrafen ausschließlich Schläge mit der Hand, Ziehen an den Haaren oder Ähnliches.107 Zwar handelte es sich dabei in Bezug auf die Intensität und die Auswirkungen nicht durchwegs um ‚kleine‘ Gewalt, aber sie war stets spontan und wenig ritualisiert. Die deutlichste Veränderung zeigt sich aber in den Reaktionen der beschuldigten Lehrer: In den 1950er Jahren hatten sie Körperstrafen meist als im jeweiligen Fall notwendiges pädagogisches Mittel verteidigt. Nun beschrieben sie ihr Verhalten eher als von ihnen selbst bedauerten Fehler, den sie als verzeihlich zu entschuldigen, aber nicht zu rechtfertigen versuchten. Typisch ist die Aussage eines Lehrers, der beim Betreten der Klasse an der Tafel seinen Namen gefolgt von „du Arschloch“ gelesen und daraufhin einen Schüler, der gerade durch die Klasse lief und den er deshalb für den Urheber der beleidigenden Kritzelei hielt, geohrfeigt hatte: Er betonte, „daß mir die Hand deshalb ausgerutscht ist, weil das, was an der Tafel stand, mich so ausserordentlich erregt hat“ und dass ihn der Vorfall und die durch die Eltern erstattete Anzeige „psychisch so mitgenommen“ haben, dass er nun krankgeschrieben sei.108 Dieser Lehrer entschuldigte sich nicht nur bei den Eltern, sondern sogar beim betroffenen Schüler. Das Gleiche tat eine wegen einer Ohrfeige angeklagte Lehrerin 1978.109 Eine ähnliche Geste ist in keinem der älteren Fälle überliefert und wäre noch in den späten 1950er Jahren wohl von den meisten Lehrern als Einbuße an Autorität empfunden worden. Hier zeigt sich, dass in den 1970er Jahren die Vorstellung von Lehrerautorität als Nullsummenspiel weitgehend aufgelöst war.
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Protokoll der Aussage des Direktors, 17.12.1969, HStAD H 1, 6746. Tatsächlich sprach das Regierungspräsidium lediglich seine Missbilligung aus, nachdem das ebenfalls eröffnete strafrechtliche Verfahren wegen Geringfügigkeit eingestellt worden war. Vgl. die im Folgenden geschilderten Fälle, zum Ziehen an den Haaren: HStAD H 13 Gießen, 1418. Rechtsanwalt T. an Staatsanwaltschaft Gießen, 28.8.1981, HStAD H 13 Gießen, 3181, Bl. 6–10, S. 2. Vgl. Staatsanwaltschaft LG Lahn-Gießen: Aussageprotokoll, 6.10.1978, HStAD H 13 Gießen 2626, Bl. 22.
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Die neue Sicht, dass Körperstrafen nicht etwa ein pädagogisches Recht des Lehrers, sondern Fehltritte seien und eine Entschuldigung erforderten, wurde freilich nicht von allen Unterrichtenden geteilt. So war es in einem Dorf bei Gießen noch 1979 nach Aussage mehrerer Eltern „allgemein bekannt, daß der Pfarrer im Unterricht schlägt. Man hat bisher noch nichts unternommen, weil es eben der Pfarrer ist“.110 Tatsächlich gab der evangelische Pfarrer selbst zu, dass er, wenn die Schüler mehrfache Ermahnungen ignoriert hatten, „Kopfnüsse“ ausgeteilt habe, was für ihn aber nicht unter den Begriff der körperlichen Züchtigung falle. Er schien dieses Vorgehen auch rückblickend nicht zu bereuen: „Wenn einer mal eine gefangen hatte und eine Kopfnuß bekommen hatte, war Ruhe.“111 Sein Rechtsanwalt verteidigte das Verhalten seines Mandanten mit dem aus seiner Sicht auch 1980 noch bestehenden Züchtigungsrecht – ein weiterer Beleg für die Langsamkeit des Wandels im juristischen Bereich. Die Staatsanwaltschaft allerdings teilte diese Auffassung nicht mehr: Sie stellte das Verfahren zwar ein, aber nur aufgrund der Geringfügigkeit der Schuld und nur gegen eine Geldbuße von 2.000 DM. Noch deutlicher illustriert ein Fall die Hartnäckigkeit der Lehre vom Gewohnheitsrecht, der sich 1981 an einer Gießener Gesamtschule zutrug: Nachdem ein Schüler der siebten Klasse des Hauptschulzweigs sich provozierend verhalten hatte (er war zu spät gekommen, hatte laut das Öffnen eines Fensters gefordert, die mit Lärmbelästigung begründete Ablehnung des Lehrers nicht akzeptiert und sich über eine angeblich nach Parfum stinkende Mitschülerin beschwert), forderte der Lehrer ihn zum Verlassen des Klassensaals auf. Der Schüler weigerte sich jedoch, woraufhin der Lehrer ihn mit Gewalt vom Stuhl zog und vor die Tür schob, wo er dem sich wehrenden Jungen mehrmals in den Nacken schlug. Als der Schüler kurz darauf die Tür aufriss und beleidigende Kraftausdrücke schrie, folgte ihm der Lehrer in den Vorraum und versetzte ihm erneut mehrere Schläge, wohl auch mit der Faust, gegen Kopf und Nacken, woraufhin der Junge aus der Nase blutete. Knapp vier Monate später versuchte der Lehrer gegenüber einem anderen Schüler ebenfalls eine Anweisung handgreiflich durchzusetzen und schlug ihn im dabei entstehenden Gerangel schließlich auf Wange, Schultern und Nacken.112 Dass diese Schläge zu einer, allerdings nicht von den Eltern der Geschlagenen ausgehenden, Anklage wegen Körperverletzung führten, ist nicht verwunderlich. Etwas erstaunlicher – wenn auch angesichts des über den juristischen Diskurs Gesagten nicht völlig überraschend – ist, dass das Schöffengericht den Lehrer 110 111 112
Polizeistation Grünberg: Aussageprotokoll, 4.2.1980, HStAD H 13 Gießen, 2738, Bl. 8. Schöffengericht am AG Gießen: Protokoll der Sitzung vom 25.8.1980, HStAD H 13 Gießen 2738, Bl. 35–44, hier Bl. 37v. Vgl. AG Gießen: Urteil v. 26.5.1983, Az. 51 Ls 5 Js 4951/82 (Abschrift), HStAD H 13 Gießen, 3790, Bl. 67–95.
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freisprach, da seine Handlungen durch das ihm gewohnheitsrechtlich zustehende Züchtigungsrecht gedeckt seien, von dessen Wegfall es nicht überzeugt war. Mehr noch: Da die beiden geschlagenen Schüler schon seit Längerem und auch in den jeweils zu den Vorfällen führenden Situationen durch besonders rüpelhaftes Verhalten aufgefallen seien, seien die Schläge des Lehrers „unter erzieherischen Gesichtspunkten nicht nur lediglich vertretbar, sie waren nach Auffassung des Gerichtes sogar geboten“.113 Eine bloße Ermahnung wäre, so die Urteilsbegründung, einem Hinnehmen der „groben Flegeleien“ gleichgekommen und hätte somit falsche Signale gesendet. Stattdessen sei der Angeklagte „dem zügellosen Verhalten der Schüler [. . . ] in einer Sprache, die allein sie verstehen konnten und verstanden“, begegnet.114 Besonders im ersten Fall sei „die Züchtigung eines Schülers als Antwort des Lehrers auf eine derart schlimme Entgleisung [. . . ] geradezu erforderlich“ gewesen, andere mögliche Reaktionen „hätten den Angeklagten auf Dauer der Lächerlichkeit preisgegeben“.115 Dass der Lehrer „es nicht bei einigen Ohrfeigen und/oder Schlägen in den Nackenbereich“ belassen habe, sei zwar eine Überreaktion gewesen, diese sei jedoch durch die psychische Ausnahmesituation, in der er sich nach den Beschimpfungen des Schülers befunden habe, entschuldigt. Die Urteilsbegründung bestätigt, dass gerade im juristischen Diskurs traditionelle Ansichten zu körperlichen Strafen noch über zehn Jahre nach der bundesweiten schulrechtlichen Abschaffung vertreten werden konnten – und dass dies in der Gesellschaft noch vorhandene Positionen widerspiegelte, schließlich bestand das urteilende Schöffengericht neben dem vorsitzenden Richter aus Laien, in diesem Fall einer Hausfrau und einem Ingenieur. Allerdings wies die Berufung einlegende Staatsanwaltschaft die gewohnheitsrechtliche Herleitung als überholt zurück und auch das Landgericht ließ diese Frage zumindest offen – es sprach den Lehrer aber dennoch frei, da er in Notwehr bzw. Nothilfe zur Verteidigung der „Individualfreiheitsrechte der einzelnen lernbereiten Schüler“, des Hausrechts sowie seiner Ehre gehandelt habe.116 Die Frage nach dem Züchtigungsrecht konnte das Landgericht deshalb außen vor lassen, weil der Lehrer sich ausdrücklich nicht auf dieses Recht berufen, sondern betont hatte, dass eine körperliche Züchtigung nicht seine Absicht gewesen sei. Er äußerte sowohl vor Gericht als auch in seinem dienstlichen Bericht über den Vorfall sein Bedauern über die Schläge, die er als „Überreaktion“ aufgrund der nervlichen Belastung durch die immensen Disziplinprobleme an der Schule
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Ebd., S. 23. Ebd., S. 25. Ebd., S. 27 (wie auch das folgende Zitat). LG Gießen: Urteil v. 27.1.1984, Az. 5 Js 4951/82 7 N (Abschrift), HStAD H 13 Gießen 3790, Bl. 130–144, S. 13.
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6. Das rasche Verschwinden: 1970er Jahre
und insbesondere in seiner Klasse erklärte.117 Ganz im Gegensatz zum Schöffengericht versuchte er sein Handeln in keiner Weise erzieherisch zu rechtfertigen, sondern betonte im Gegenteil seine Ablehnung von Schlägen als Erziehungsmittel. Dass ein Angeklagter seine Tat als bedauerlichen Fehler wertete, das über ihn urteilende Gericht sie jedoch als gerechtfertigtes, korrektes Handeln beschrieb, ist eine äußerst ungewöhnliche Konstellation. Für den Angeklagten war die wenige Jahrzehnte zuvor für viele Lehrer selbstverständliche Vorstellung, dass körperliche Strafen in bestimmten Situationen erzieherisch sinnvoll sein könnten, offenbar so fremd, dass er sie nicht einmal zu seiner eigenen Verteidigung heranzog. Der Fall demonstriert somit eindrucksvoll die unterschiedlichen Geschwindigkeiten, mit denen die Ächtung körperlicher Schulstrafen unter Juristen und unter Lehrern vor sich ging. Auch wenn Körperstrafen bis in die 1980er Jahre hinein vorkamen und von einzelnen Gerichten sogar noch als gerechtfertigt gewertet werden konnten – aus pädagogischer Sicht, und das hieß nun auch unter nahezu allen Schulpraktikern, hatten sie jegliche Legitimität verloren. Die neue Rolle der Schülervertretung
Die Akte zum oben geschilderten Gießener Fall enthält ein bemerkenswertes Detail: Das Amtsgericht hob hervor, dass die Eltern der geschlagenen Kinder keinen Strafantrag gestellt hatten. Stattdessen sei der Vorfall nur deshalb aktenkundig geworden, weil eine Lehrerin den Schulsprecher aufgefordert habe, tätig zu werden. Diese Ermunterung durch eine Lehrkraft ist zwar nicht mehr eindeutig zu belegen, doch tatsächlich hatte die Schülervertretung nach dem Vorfall eine Schülerversammlung einberufen und sich mit einer – von ihr selbst als solche titulierten – Dienstaufsichtsbeschwerde direkt an das hessische Kultusministerium gewandt, um gegen das „ungeheuerlich[e] Verhalten“ des Lehrers zu protestieren.118 Dass nicht Eltern, sondern die Schüler selbst eine solche Beschwerde über einen Lehrer einlegten, wäre fünfzehn bis zwanzig Jahre zuvor noch etwas sehr Außergewöhnliches gewesen. Unter den untersuchten Fällen findet sich vor 1970 kein einziges Beispiel für ein vergleichbares Vorgehen – und dass auch danach das gewachsene Selbstbewusstsein der Schülerschaft zunächst nicht überall akzeptiert wurde, zeigt ein rheinland-pfälzischer Fall aus dem Jahr 1974: Damals wandte sich eine achte Klasse einer Hauptschule direkt an das Kultusministerium und protestierte „energisch gegen das zum Teil noch angewendet werden [sic] 117 118
Vgl. Dienstlicher Bericht, 25.11.1981, HStAD H 13 Gießen 3790. Schülervertreter an MEV, 22.11.1981, HStAD H 13 Gießen 3790, Bl. 7. Zur Schülerversammlung vgl. AG Gießen, Urteil v. 25./26.5.1983, Az. 51 Ls 5 Js 4951/82 (Abschrift), S. 4 f.
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der Prügelstrafe. Da körperliche Züchtigungen laut Schulordnung untersagt sind, und [die Direktorin] sich in dieser Sache nicht bemüht, ja sogar diese Strafe rechtvertigt [sic], müssen wir leider Sie mit unserem Anliegen belästigen.“119 Anlass war, dass ein Lehrer einem Schüler, der sich trotz Ermahnung im Unterricht mit seinen Mitschülern unterhalten hatte, drei Ohrfeigen gegeben hatte. Nach Schüleraussagen habe es im Lauf eines Schuljahres drei bis vier ähnliche Fälle gegeben und auch ein Pfarrer sowie der Hausmeister würden Schüler gelegentlich durch Schläge disziplinieren. Zu Aufregung unter der Elternschaft führten jedoch nicht etwa die Ohrfeigen, sondern die Beschwerde der Schüler: Die Rektorin berichtete, dass unmittelbar nach Bekanntwerden des Briefs zahlreiche Eltern bei ihr erschienen seien, um sich (und ihre Kinder) von der Aktion zu distanzieren, und dass die Schülerunterschriften auf dem Schreiben größtenteils „erzwungen“ seien.120 Auch die Bezirksregierung kündigte zwar an, den Lehrer „eindringlich“ über das Züchtigungsverbot zu belehren, erwartete aber keine Elternbeschwerden gegen ihn.121 Tatsächlich verurteilte die Mutter des geschlagenen Schülers die Beschwerde scharf und erklärte, dass sie „alle erzieherischen Maßnahmen des Lehrers [. . . ] uneingeschränkt“ bejahe.122 Auch der Lehrer sah seine Ohrfeigen als sinnvolle, unvermeidbare Reaktion an. Er erklärte, die Schüler hätten sich provozierend lautstark unterhalten und Ermahnungen bewusst ignoriert, weshalb „es sonst keine Möglichkeit mehr gab, den weiteren Unterrichtsverlauf vor Störungen zu sichern“.123 Das Kultusministerium übernahm in seiner Antwort auf die Beschwerde die Perspektive des Lehrers, wenn es betonte, die Schüler hätten durch ihr Verhalten „in grober Weise gegen die Ordnung in der Schule verstoßen“ und würden nun Rechte beanspruchen, „ohne aber andererseits auch die ihnen obliegenden Pflichten zu erfüllen“.124 Dennoch erklärte es gleichzeitig, dass es dessen Körperstrafen nicht billigen könne. Dass es in seiner ersten Reaktion auf die Beschwerde versprochen hatte, das Schulamt aufzufordern, „die Angelegenheit zu überprüfen und für die Einhaltung der bestehenden Anordnungen Sorge zu tragen“, verdeutlicht, dass das Ministerium grundsätzlich bereit war, Schülerproteste ernst zu nehmen.125 Auch im oben geschilderten Gießener Fall wies der Schulleiter die Schülervertreter zwar darauf hin, „daß auch für sie der Dienstweg gilt“, missbilligte die grundsätzliche Tatsache eines solchen Protests von Schülerseite aber 119 120 121 122
123 124 125
Schülervertreter an MUK, 25.4.1974, LHA Koblenz 910, 9509. Rektorin an Bezirksregierung Rheinhessen-Pfalz, 31.5.1974, LHA Koblenz 910, 9509. Bezirksregierung Rheinhessen-Pfalz an MUK, 14.6.1974, LHA Koblenz 910, 9509. Kreisschulamt Ludwigshafen an Bezirksregierung Rheinhessen-Pfalz, 7.6.1974, LHA Koblenz 910, 9509. Andererseits nahm das Kreisschulamt an, dass die Eltern des Hauptinitiators der Beschwerde diese befürworteten. Lehrer an Schulrat H., 5.6.1974, 5.6.1974 (Kopie), LHA Koblenz 910, 9509. MUK an K., 5.7.1974, LHA Koblenz 910, 9509. MUK an K., 3.5.1974, LHA Koblenz 910, 9509.
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6. Das rasche Verschwinden: 1970er Jahre
offenbar nicht.126 Diese und andere Fälle zeigen, dass es in den 1970er Jahren nicht nur immer häufiger vorkam, sondern auch zunehmend akzeptiert wurde, dass Schüler aktiv für ihre Rechte eintraten und die Einhaltung des Züchtigungsverbots anmahnten.127 Dieser Befund könnte banal scheinen, schließlich hat die schulgeschichtliche Forschung deutlich herausgestellt, dass sich die Rolle der Schülermitverwaltung bzw. Schülervertretung nach den Protesten der späten 1960er Jahre stark wandelte: War sie bis in die 1960er Jahre noch durch „Selbsterziehung“ und Mitwirkung am Schulleben unter Aufsicht der Lehrerschaft charakterisiert, rückten nun, sowohl im Selbstverständnis der Schüler als auch in den schulrechtlichen Regelungen der einzelnen Länder, Mitbestimmung und Interessenvertretung auch in Konfliktfällen in den Vordergrund.128 Die verstärkten Schülerproteste gegen körperliche Strafen wären demnach nur ein Symptom dieser grundsätzlichen Veränderungen. Doch zeigen die entsetzten Elternreaktionen auf den Brief der Hauptschulklasse, dass das neue Verständnis der Schülervertretung sich außerhalb der Gymnasien nicht überall schnell und reibungslos durchsetzte. Erst wenn man sich zudem vor Augen hält, wie häufig noch wenige Jahre zuvor beispielsweise in Gerichtsurteilen zu körperlichen Schulstrafen das traditionelle Bild der Lehrerautorität als Nullsummenspiel vertreten worden war, wird deutlich, welch grundlegende Veränderung im Lehrer-Schüler-Verhältnis hier stattgefunden hatte.
126 127
128
Schulleiter an Staatliches Schulamt Gießen, 2.12.1981, HStAD H 13 Gießen 3790, Bl. 8. Neben den ausführlicher geschilderten ist hier ein Fall aus dem Kreis Offenbach zu nennen, in dem sich die Schülervertretung über den Rektor an den Schulrat wandte mit der Bitte, einen Lehrer, der wiederholt Schüler geschlagen hatte, „abzusetzen oder ihn zu bestrafen“ (Stellvertretende Schulsprecherin der Goetheschule an Schulrat Offenbach-Land, 20.1.1973, HStAD H 52 Offenbach, 81). Vgl. Gass-Bolm: Gymnasium, S. 314–323; Levsen: Authority, S. 827 und S. 842 f.; dies.: Autorität, S. 474 f.
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7. Längsschnitte 7.1 Schule und Familie: ähnliche Entwicklung, unterschiedliche Geschwindigkeiten Zwar konnten in Schulen körperliche Strafen auch nach den sie verbietenden Erlassen und Gesetzen der 1970er Jahre noch vorkommen, aber spätestens zum Ende des Jahrzehnts hatten sie so weit ihre Legitimation verloren, dass auch einzelne Verstöße gegen das Verbot bestenfalls entschuldigt, aber nicht mehr öffentlich gerechtfertigt werden konnten. Dies bedeutet aber nicht, dass sich die Ablehnung körperlicher Erziehungsstrafen insgesamt in ähnlichem Maße durchgesetzt hätte. Schon ein kurzer Ausblick auf die entsprechenden Debatten in Bezug auf die familiäre Erziehung kann die am Beginn dieser Arbeit stehende Annahme bestätigen: Die Ächtung körperlicher Strafen in beiden Bereichen war keine einheitliche Entwicklung, sondern verlief in höchst unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Als Mitte der 1970er Jahre das Züchtigungsverbot in Schulen in allen Bundesländern etabliert und weitgehend akzeptiert war, stießen Versuche des Juristinnenbundes und der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, auch für die elterliche Erziehung körperliche Gewaltanwendung zu verbieten, 1977 noch auf Abwehr. In die Neufassung der BGB-Bestimmung zum elterlichen Sorgerecht wurde 1980 lediglich ein Verbot „entwürdigende[r] Erziehungsmaßnahmen“ aufgenommen, das jedoch verschiedene Auslegungsmöglichkeiten bot.1 Nicht nur juristisch, auch gesellschaftlich waren Körperstrafen in der Familie deutlich länger akzeptiert als in der Schule: So wurde beispielsweise Astrid Lindgrens berühmte und einflussreiche Rede bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, in der sie für einen Gewaltverzicht in der elterlichen Erziehung plädierte, 1978 noch als so provokationsträchtig empfunden, dass der Stiftungsrat Lindgren zunächst davon abhalten wollte, sie zu halten.2 Auch die weitverbreitete Zeitschrift Eltern konnte noch 1970 einen Artikel mit dem (wenn auch bewusst provokanten) Titel: „Warum es manchmal gut ist, sein Kind zu verhauen“, veröffentlichen und schwenkte erst Mitte der 1970er Jahre auf eine klare Ablehnung körperlicher Strafen ein3 – zu einem Zeitpunkt, als sich Eltern- und Lehrerverbände schon längst durchgängig gegen das schulische Züchtigungsrecht positioniert hatten. 1 2 3
Vgl. Zenz: Kindesmißhandlung, S. 41; Maywald: Kinder, S. 34 f. Vgl. Andersen: Lindgren, S. 373 f. Siehe auch Pfeiffer/Beckmann: Hiebe, S. 199. Eltern 5 (1970), Heft 12, S. 30; zur im Laufe der 1970er zunehmend kritischen Behandlung des Themas Strafen in der Zeitschrift vgl. Eschner: Erziehungskonzepte, S. 186.
https://doi.org/10.1515/9783111123783-007
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7. Längsschnitte
Auch in Meinungsumfragen bewerteten 1970 nur 28 % der Erwachsenen Körperstrafen für die familiäre Erziehung als grundsätzlich falsch und selbst 1998 waren die absoluten Gegner mit 40 % noch nicht in der Mehrheit.4 Insofern ist es nicht erstaunlich, dass in jenem Jahr der § 1631 BGB zwar verschärft wurde, aber immer noch kein absolutes Gewaltverbot enthielt, indem er „entwürdigende Erziehungsmaßnahmen, insbesondere körperliche und seelische Misshandlungen“ verbot. Erst im Jahr 2000 wurde in diesem Artikel ausdrücklich das Recht des Kinds „auf eine gewaltfreie Erziehung“ festgeschrieben.5 Selbst wenn man berücksichtigt, dass die zögerliche Umsetzung des familiären Gewaltverbots auf rechtlicher Ebene nicht nur mit der Bewertung von Körperstrafen, sondern auch mit einer grundsätzlichen Scheu vor einer Kriminalisierung des Familienlebens zu erklären ist, macht der geschilderte Ablauf doch deutlich: Die pädagogische, rechtliche und gesellschaftliche Ächtung körperlicher Strafen in der Schule ging der in der Familie klar voraus. Ein weiterer Beleg und zum Teil eine Erklärung für die zeitversetzte Entwicklung in Schule und familiärer Erziehung zeigt sich auch bei der Frage der Sensibilisierung für und der Definition von Gewalt: So ergaben Befragungen von Eltern in den 1990er und 2000er Jahren, dass eine „Ohrfeige vom Lehrer“ von ungefähr doppelt so vielen Eltern als Gewalt wahrgenommen wurde wie eine elterliche „Ohrfeige wegen Ungehorsam“. Selbst eine „Tracht Prügel“ durch die Eltern wurde von weniger Erwachsenen und auch Jugendlichen als Gewalt gewertet als die Lehrerohrfeige.6 Dieser auffällige Unterschied ist sicher auch gerade mit dem älteren Verbot schulischer Körperstrafen zu erklären, wenn man davon ausgeht, dass vor allem das als illegitime Gewalt wahrgenommen wird, was faktisch illegal ist. Er deutet aber auch darauf hin, dass Gewalt durch ‚fremde‘ Lehrer grundsätzlich als gravierender empfunden und in geringerem Maß akzeptiert wird als solche in der Intimsphäre der Familie. Ähnliche Unterscheidungen spielten auch in den Debatten um das Züchtigungsrecht immer wieder eine Rolle – schließlich hatte schon Pestalozzi Körper4
5 6
Vgl. Maywald: Kinder, S. 33, zum Folgenden ebd., S. 35 f. Zur im Verlauf der 1990er Jahre zwar stark gesunkenen, aber auch noch um 2000 im Vergleich zum schulischen Kontext beachtlichen Zustimmung zu und Verbreitung von Körperstrafen in der familiären Erziehung s. auch Bussmann: Verbot. Zur sozialen Praxis vgl. die Umfrageergebnisse in Reuband: Aushandeln, S. 146–151 (so gaben etwa noch 30 % der westdeutschen Befragten, die zwischen 1978 und 1991 16 Jahre alt gewesen waren, an, von ihren Eltern geschlagen worden zu sein; bei den zwischen 1940 und 1949 16-Jährigen waren es 56 %). Zur Reform des BGB-Artikels und zum Hintergrund vgl. Bussmann: Germany. Vgl. Bussmann: Familiengewalt-Report, S. 44. Die genauen – und auffällig niedrigen – Prozentzahlen lauten: Ohrfeige vom Lehrer als Gewalt: 1996 52,7 %, 2005 69,1 %; elterliche Ohrfeige als Gewalt: 1996 23,8 %, 2005 42,1 %; elterliche Tracht Prügel als Gewalt: 1996 37,2 %, 2005 65,5 %. Bei den befragten Jugendlichen war die Bewertung von Ohrfeigen durch Lehrer als Gewalt häufiger, elterliche Erziehungsgewalt bewerteten sie jedoch seltener als solche als die Erwachsenen.
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strafen in der elterlichen Erziehung durchaus bejaht, in der schulischen wegen des fehlenden engen Vertrauensverhältnisses zwischen Lehrer und Schüler jedoch abgelehnt.7 Selbst, als sich der Psychologe Ernst Ell 1966 vehement gegen Schläge in der Schule aussprach, gestand er zu, dass diese „im Eltern-Kind-Verhältnis gerechtfertigt [. . . ] und außerdem u. U. auch einmal notwendig“ sein könnten, dieses Verhältnis aber eben nicht mit dem zwischen Lehrern und Schülern zu vergleichen sei.8 Dass der Unterschied zwischen Lehrer-Schüler- und Eltern-Kind-Verhältnis so betont wurde, war oft eine Reaktion auf Versuche, schulische Körperstrafen mit dem in dieser Vorstellung für die Zeit des Schulbesuchs an den Lehrer übertragenen Züchtigungsrecht der Eltern zu legitimieren. Diese Konstruktion war zwar als juristische Begründung im Vergleich zur direkten Herleitung als Teil des (staatlich verliehenen) Erziehungsrechts der Schule oder als Gewohnheitsrecht relativ unbedeutend, sie wurde jedoch während des gesamten Untersuchungszeitraums vereinzelt vertreten.9 Besondere Bedeutung hatte sie in den späten 1940er und 1950er Jahren, als Eltern mit diesem Argument gegen das hessische Verbot protestierten und es als Einschränkung ihres Erziehungsrechts werteten, dass ihre Kinder in der Schule selbst dann nicht körperlich bestraft werden durften, wenn sie dies ausdrücklich befürworteten.10 Hier wird einmal mehr die Selbstverständlichkeit, mit der viele Eltern Körperstrafen in den 1950ern noch als notwendiges Erziehungsmittel bejahten, deutlich. Diese Akzeptanz familiärer Körperstrafen konnte den Befürwortern eines schulischen Züchtigungsrechts wiederum zu dessen Legitimierung dienen: „Entweder ist die Körperstrafe ein zu bejahendes Erziehungsmittel, dann ist sie es für Eltern und Lehrer; oder sie ist es nicht, dann für keinen von beiden“, hieß es beispielsweise 1957 in einer 7
8 9
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Vgl. S. 42 dieser Arbeit. Als spätere Beispiele vgl. etwa die Argumentation des Lehrers Wehner gegen die Forderung eines Kollegen, Lehrer sollten „gegenüber dem Kinde das Recht des Vaters“ haben bei der Vertreterversammlung des Sächsischen Lehrervereins 1926 (Sächsischer Lehrerverein: Bericht 1926, S. 228); Schöning, Kurt: Fritz bekam ein paar Ohrfeigen! (Zuschrift eines Vaters), in: Wirtschaft und Recht (Beilage zur ADLZ) 5 (1955), S. 34–35; Stimmen der anderen. Prügeln als Gewohnheit, in: FAZ, 28.10.1957, S. 2. Hubert Harbauer/Marianne Kenter: Zur Problematik der Prügelstrafe, in: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 9 (1960), S. 168–171, hier S. 169. Ell: Disziplin, S. 123. Vgl. R. K.: Zur Frage der Schulstrafe der körperlichen Züchtigung, in: Württembergisches Gerichtsblatt 13 (1877), S. 419–430, hier S. 422; Mayer: Züchtigungsrecht, S. 471; Kohlhaas: Mißhandlung, S. 543; ausdrückliche Zurückweisung dieser Position z. B. bei Bezold: Züchtigungsrecht, S. 95 f., im BGH-Urteil v. 1954 (vgl. Bader: Anmerkung, S. 756) und bei Dürig: Art. 2 Abs. II, S. 110. Stettner: Problematik, S. 29–31, Schumacher: Bedeutung, S. 138–140, Bohnes: Züchtigungsrecht, S. 139–145, bejahten jeweils die Möglichkeit einer Übertragung in bestimmten (Ausnahme-)Fällen. Vgl. etwa CDU-Kreisverband Fulda an Kultusminister Stein, 19.5.1950, HHStAW 1178, 149; Resolution des Elternversammlung der Volksschule Volkmarsen am 19.7.1950, HHStAW 504, 3384, Bl. 51 (siehe auch S. 268 dieser Arbeit).
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katholischen Lehrerzeitschrift11 – wobei durch den Kontext des Artikels recht eindeutig ist, dass für den Verfasser die erste Option die naheliegendere und präferierte war. Doch nicht nur grundsätzliche Befürworter von Körperstrafen verwiesen auf die familiäre Praxis: Auch Lehrer, die eine Abschaffung körperlicher Schulstrafen für wünschenswert hielten (oder dies zumindest so öffentlich äußerten), argumentierten häufig, diese sei erst umsetzbar, wenn Eltern auf Schläge verzichteten – denn schließlich reagierten Kinder, die körperliche Strafen von zu Hause gewohnt seien, oft nicht mehr auf mildere Mittel.12 In manchen Aussagen erscheint dieses Argument eher als eine Schutzbehauptung oder zumindest einer von vielen Gründen, die angeführt wurden, um die Ablehnung eines sofortigen Verbots zu rechtfertigen.13 Auch widersprachen einzelne Pädagogen diesem Zusammenhang.14 Dennoch dürfte für viele Lehrer die Verbreitung körperlicher Strafen in der familiären Erziehung ein echtes Hindernis bei ihrem Bemühen, auf diese zu verzichten, gewesen sein – und dass sich „die Berechtigung dieses Einwandes [. . . ] nicht bestreiten“ lasse, gestand beispielsweise auch der Sozialdemokrat und absolute Züchtigungsgegner Heinrich Schulz 1911 zu.15 Dass die von Schulz hieraus gezogene Konsequenz, nach dem Grundsatz „Wer verlangt, daß in der Schule die Prügelstrafe abgeschafft wird, darf nicht selbst ein Prügelpädagoge sein“ auch Eltern zum Verzicht auf Körperstrafen zu bewegen, typisch für die sozialdemokratische Haltung zum Thema war, wurde bereits im entsprechenden Kapitel geschildert. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert hatten dagegen die allermeisten Gegner körperlicher Strafen in der Schule diese für das Elternhaus befürwortet, wobei für diese Unterscheidung das Alter der betroffenen Kinder oft eine noch wichtigere Rolle spielte als die oben beschriebenen Überlegungen zu den Unterschieden zwischen Eltern-Kind- und 11
12
13 14
15
Steinhauer: Körperstrafe, S. 255. Vgl. mit ähnlicher Position: Stengel: Würdigung, S. 109; L.: Zum Züchtigungsrecht des Lehrers (Ein offenes Wort von einem ehemaligen Schüler), in: Wirtschaft und Recht (Beilage zur ADLZ) 5 (1955), S. 35; Redelberger, Oskar: Anmerkung zum Urteil des OVG Düsseldorf vom 9.12.1964, in: Zeitschrift für Beamtenrecht 13 (1965), S. 220–222. Vgl. als einige Beispiele (in chronologischer Reihenfolge): Ausarbeitung „Das Züchtigungsrecht der öffentlichen Schullehrer“ [ca. 1890], HHStAW 461, 39005, Bl. 56; Plecher: Züchtigung, S. 13; Mönkehues: Thema, S. 64; Müller: Leserbrief; mehrere der beim hessischen Kultusministerium eingegangenen Stellungnahmen zum Züchtigungsrecht in HHStAW 1178, 149 (S. 8, S. 20). Z. B. Redelberger: Züchtigungsrecht (1955), S. 1305; Geyer: Damoklesschwert, S. 110; Kienapfel: Züchtigung, S. 3. So etwa Bohl: Problem, S. 50; Kaiser: Züchtigungsrecht, S. 169 f.; Ell (Disziplin, S. 124) stimmte zwar zu, dass zu Hause mit Schlägen erzogene Kinder oft nur auf deren Androhung reagierten, forderte aber gerade deshalb, die Schule dürfe diese Erziehungsmethode nicht fortsetzen. Schulz: Schulreform, S. 177. Dort auch das folgende Zitat.
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7.1 Schule/Familie: ähnliche Entwicklung, unterschiedliche Geschwindigkeiten
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Lehrer-Schüler-Verhältnis.16 Vor allem in den Jahren der Weimarer Republik nahmen dagegen die Stimmen deutlich zu, die einen Verzicht auf Körperstrafen in der gesamten Erziehung forderten und es als Aufgabe der Schule sahen, auch bei Eltern hierfür zu werben.17 Auch nach 1945 setzten Züchtigungsgegner dem Einwand, daheim körperlich gestrafte Kinder seien ohne Schläge auch in der Schule nicht zu erziehen, immer wieder die Forderung entgegen, gerade deshalb müsse „die Schule auf dem Weg zur Zurückdrängung der körperlichen Züchtigung dem Elternhaus vorausgehen [. . . ]. Die Schule ist schließlich der Ort, wo eine ‚veredelte‘ Erziehung praktiziert werden soll“, und könne als Vorbild wirken.18 Umgekehrt hat die Untersuchung der Entwicklung in den 1960er Jahren gezeigt, dass es damals nicht zuletzt die zunehmende öffentliche Thematisierung familiärer Gewalt war, die für eine Sensibilisierung für die Problematik sorgte und der Argumentation auch gegen das schulische Züchtigungsrecht Resonanz verschaffte. Die Verdrängung von Körperstrafen aus der Schule und aus der Familie konnten sich also gegenseitig vorantreiben. Häufiger aber diente der Verweis auf die familiäre Erziehung der Legitimierung körperlicher Schulstrafen, hatte also bremsende Wirkung. Festzuhalten bleibt, dass das Zusammenspiel der beiden Teildiskurse keine Einbahnstraße war, sondern von vielfältigen Wechselwirkungen geprägt war. Dass dabei insgesamt die Vorreiterfunktion der Schule überwog, indem die Debatten über deren Züchtigungsrecht Argumente gegen körperliche Strafen popularisierten und mit dem schließlich erfolgten Verbot die normative Bedeutung von Gewaltfreiheit in der Erziehung festigten, ist aufgrund der zeitlichen Abfolge eine naheliegende Annahme.19 Eine solche Kausalbeziehung im Detail zu belegen, wäre aber Aufgabe einer eigenen Untersuchung.
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Vgl. als Beispiele für die Befürwortung körperlicher Strafen nur bei Kindern im noch nicht schulpflichtigen Alter: Freimund: Züchtigung, S. 73 f.; Mertens: Schläge, S. 25; Sieber: Züchtigung, S. 561 f.; Hans Winkler: Über den leidigen Schultrotz, in: Pädagogische Warte 37 (1930), S. 121–128, hier S. 128; Usadel: Erziehung, S. 241; Steinhauer: Züchtigung, S. 5. Vgl. S. 193 dieser Arbeit. Kaiser: Züchtigungsrecht, S. 244. Vgl. auch Scherwinsky: Prügeln, S. 714; Otto Schroeder: Leserbrief, in: Schola 6 (1951), S. 37–40, hier S. 39; Fruhmann: Wie sollen, S. 412 f. Den gleichen Zusammenhang nimmt – wenn auch mit sozusagen umgekehrter Blickrichtung – auch Stefan Grüner (Gewalt, S. 53) an, wenn er vermutet, das elterliche Züchtigungsrecht hätte „nicht so hartnäckig überdauern können, wenn es nicht über lange Zeit hinweg sein Pendant in der Realität des schulischen Strafens gefunden hätte“.
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7.2 Weiblichkeit, Männlichkeit und Härte Wie erwähnt war ein möglicher Grund für die unterschiedliche Bewertung von Körperstrafen in Schule und Familie das jeweilige Alter der Kinder. Eine weitere Differenzierung ist im Laufe dieser Arbeit mehrmals am Rande angeklungen, lohnt jedoch einen systematischeren Blick: nämlich die nach dem Geschlecht des Kinds. Die Auffassung, dass nur Jungen, aber nicht Mädchen zu Erziehungszwecken geschlagen werden dürften und müssten, wurde mit zwei traditionellen Argumentationslinien begründet. Sie hatten ihre gemeinsame Wurzel in weit verbreiteten Weiblichkeitsvorstellungen, die ein bayerischer Lehrer 1898 folgendermaßen zusammenfasste: „In seinem körperlichen Aufbau ist das Weib zarter organisiert als der Mann, infolge seiner seelischen Eigenartigkeit herrscht bei ihm das Gemüt vor, ein stiller, in sich gekehrter Sinn und ein auf Verinnerlichung zielendes Bestreben.“20 Aus diesem Bild weiblicher Innerlichkeit wurde erstens gefolgert, dass Mädchen bereits auf Tadel oder Ermahnungen wesentlich stärker reagierten als Jungen und deshalb bei ihnen Körperstrafen nicht nötig seien.21 Der Pädagoge Albrecht Goerth leitete 1899 aus der Frauen zugeschriebenen Berufung zum von Liebe und Treue geprägten Familienleben ab, dass Mädchen „überall instinktiv Liebe und Freundlichkeit“ anstrebten und deshalb der demonstrative Entzug von Freundlichkeit gegenüber eigensinnigen Schülerinnen als härteste Strafe ausreiche.22 Auf der stärker körperbezogenen Ebene verband sich das von Stöckl angesprochene Bild von Mädchen als zart und empfindlich mit normativen Vorstellungen von weiblicher Sexualität zum zweiten klassischen Argument gegen Körperstrafen bei Schülerinnen: Ein Mädchen dürfe nicht geschlagen werden, damit es – so die von mehreren Autoren aufgegriffene Formulierung – „von Jugend auf an die Unverletzlichkeit seines Leibes gemahnt werde“.23 Diese Bedenken wurden meist von Autoren geäußert, die Körperstrafen bei Jungen als sinnvoll und notwendig ansahen, aber auch von der radikalen Züchtigungsgegnerin Ellen Key: Sie verwies auf die mögliche sexuell stimulierende Wirkung von Schlägen, vor allem solchen auf den Hintern, aber auch auf einen indirekteren Zusam20 21 22 23
L. Stöckl: Wie ist in der Volksschule den vielerlei Vergehen der Schüler zu begegnen?, in: Bayerische Lehrerzeitung 32 (1898), S. 525–527, Zitat S. 527. Vgl. Rheinländer: Strafrecht, S. 346; Gottschalk: Auswüchse, S. 523. Goerth: Behandlung, S. 353. Rheinländer: Strafrecht, S. 346.; vgl. außerdem Kehr: Praxis, S. 60; Keller/Brandenburger: Handbuch, S. 144 (und sich auf diese berufend Pötsch: Züchtigung, Sp. 60). Die Bedeutung, die dem Bewusstsein für die „Unverletzlichkeit seines Leibes“ als Erziehungsziel beigemessen wurde, ist vor dem Hintergrund der „Verengung und immer rigidere[n] Zuspitzung des weiblichen Ehrbegriffs auf das Moment absoluter sexueller Identität“ zu sehen, wie sie beispielsweise Ute Frevert („Mann“, Zitat S. 204) für das 19. Jahrhundert beschreibt.
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menhang: Durch jede Form von Züchtigung werde die „körperliche Scham des Kindes“ gekränkt, „die es doch für die Entwicklung des Keuschheitsgefühls vor allem zu bewahren gilt. Der Vater, der seine Tochter züchtigt, verdient, sie einmal ‚gefallen‘ zu sehen, da er selbst ihren Instinkt der körperlichen Heiligkeit verletzt hat.“24 Diese Mädchen zugeschriebene Eigenschaft der körperlichen Zartheit, verbunden mit einem besonders zu bewahrenden Scham- und Keuschheitsgefühl prägte das Reden über körperliche Strafen für Schülerinnen nahezu im ganzen Betrachtungszeitraum: In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurde diese Vorstellung in die verwissenschaftlichte Sprache des zeittypischen ‚Nervendiskurses‘ gekleidet, blieb jedoch im Kern unverändert. So erklärte das Reichsgericht 1922, die Gründe für das Verbot körperlicher Strafen bei Mädchen seien in „deren oft feinem und reizbarem Nervensystem zu suchen, das namentlich in den Entwicklungsjahren besonderer Schonung bedarf “25 – und noch in den 1950er Jahren wurde dieser Gedanke in sehr ähnlicher Formulierung geäußert.26 Dass Körperstrafen bei Mädchen „durch Verletzung des Schamgefühls nicht wieder gutzumachenden Schaden“ anrichteten, warnte nicht nur 1932 das Lexikon der Pädagogik der Gegenwart, sondern auch 1958 betonte eine juristische Dissertation die Notwendigkeit, „dem heranwachsenden Mädchen ein erhöhtes Gefühl körperlicher Unberührtheit zu erhalten“.27 Auch wenn die Ablehnung körperlicher Strafen bei Mädchen während des gesamten Betrachtungszeitraums nachzuweisen ist, stellten insbesondere Schulpraktiker andererseits immer wieder ihre Allgemeingültigkeit und praktische Umsetzbarkeit infrage. Sie betonten beispielsweise, es gebe „bei einzelnen Schülerinnen solche Bosheit und Starrköpfigkeit, Unverträglichkeit und Schamlosigkeit, Oberflächlichkeit und Faulheit, Geschwätzigkeit und solchen Leichtsinn [. . . ], daß die härtesten Strafen zur erfolgreichen Bekämpfung dieser Untugenden nötig waren“.28 Wie die Untersuchung von Einzelfällen gezeigt hat, kamen im gesamten Betrachtungszeitraum Schläge gegen Mädchen vor – selbst in den Ländern und Zeiträumen, in denen sie ausdrücklich verboten waren. Dass Körperstrafen möglichst auf Jungen beschränkt bleiben sollten, war also eine theoretische Norm mit eher begrenztem Einfluss auf die Praxis. Doch räumten selbst diejenigen, die einen vollständigen Verzicht auf Körperstrafen bei Mädchen ablehnten, meist
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Key: Jahrhundert, S. 156 f. Reichsgericht, 3. Zivilsenat: Urteil vom 17.10.1922, in: RGZ 105, S. 226–228. Vgl. auch Glöckler: Züchtigung, Sp. 117 f. Vgl. Schumacher: Bedeutung, S. 61. Bohnes: Züchtigungsrecht, S. 154. Mang: Körperstrafe, S. 312. Vgl. auch den Leserbrief eines Lehrers zu einem lokalen Verbot von Schlägen bei Mädchen: Gegen die körperliche Züchtigung von Schülerinnen, in: Berliner Tageblatt Nr. 654 vom 25.12.1898, S. 6.
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ein, dass diese Strafart bei Schülerinnen deutlich problematischer und seltener notwendig sei als bei Jungen.29 Deshalb konnte für Züchtigungsgegner das Verbot von Körperstrafen bei Mädchen eine Art Mindestforderung und ein erster Schritt auf dem Weg zur vollständigen Abschaffung werden. In diesem Sinne ist vor allem die in Preußen in den 1920er Jahren immer wieder geforderte und 1928 per Ministerialerlass umgesetzte Beschränkung von Körperstrafen auf Jungen zu verstehen. Auch die ähnlichen Bestimmungen in den meisten Bundesländern nach 1945 stehen in diesem Kontext. In dieser Zeit war der Verzicht auf Körperstrafen bei Mädchen eine in der Theorie weitgehend selbstverständlich akzeptierte Norm, die nur noch selten ausdrücklich begründet wurde.30 Dass dies auch auf einer alltäglicheren Ebene der Debatten galt, zeigt die Einschätzung eines Lehrers, der seine Klasse zu ihrer Einschätzung von Körperstrafen befragte und berichtete, die Jungen „billigen im ganzen meine Einstellung, daß man Mädchen nicht schlagen, daß man sie milde und mit mehr Nachsicht behandeln soll. Für die Mädchen würde es eine große Schande bedeuten, wenn der Lehrer sie körperlich bestrafen müßte. [. . . ] Die Jungen setzen sich dagegen im allgemeinen mit betonter Gelassenheit und Überlegenheit darüber hinweg.“31 Hier werden neben den geschilderten Weiblichkeitsidealen auch typische Männlichkeitsvorstellungen deutlich, die die Debatte um Körperstrafen prägten. So wurde die angesprochene „Gelassenheit und Überlegenheit“ im Ertragen körperlicher Schmerzen immer wieder als von Jungen erwartete Eigenschaft beschrieben. Zum Teil wurde diese Abhärtung sogar ausdrücklich als durch körperliche Strafen erreichbares Erziehungsziel genannt, in einer Streitschrift „Für die Rute“ von 1906 galt sie gar als die einzige Maßnahme, welche die „Feigen, Tückischen [. . . ] noch zu Männern erziehen, mit ganzem Leib für ihr Tun einzustehen zwingen wird!“.32 Geschlechtsspezifische Zuschreibungen bezogen sich nicht nur auf das Verhalten von Mädchen und Jungen, sondern wurden auf den gesamten Stil der Erziehung übertragen, wenn etwa ein Zeitungsartikel 1911 Wilhelm Maders Kritik an der „Prügelstrafe in der Schule“ mit den Worten zurückwies: „Unsere Erziehung ist nicht weibisch und weichlich, sie ist männlich und ernst.“33 Und auch als Reichskommissar Kähler 1933 in Preußen eine großzügigere Ausle29
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31 32 33
Vgl. beispielsweise: J.: Der Züchtigungserlaß des Ministers und die Schulpraxis, in: Der Volksschullehrer 22 (1928), S. 445–446; Bohnstedt, H.: Die Zucht in der Volksschule – auch ein Wiederaufbauartikel, in: Deutsche Blätter für erziehenden Unterricht 47 (1919/20), S. 220–224; S. 228–230; S. 236–240. Sofern dies doch geschah, unterschied sich die Argumentation nicht wesentlich von den oben geschilderten traditionellen Zuschreibungen. Vgl. Schumacher: Bedeutung, S. 61; Bohnes: Züchtigungsrecht, S. 154. Oesterle: Ergebnis, S. 50–51. Schmidt-Heuert: Rute, S. 23; vgl. auch Gottschalk: Auswüchse, S. 523. Cöthener Tageblatt v. 8.3.1911, zitiert nach Mader: Tiefstand, S. 19.
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gung der Einschränkungen des Züchtigungsrechts verordnete, strebte er damit nach eigener Aussage „eine straffere Schulzucht und eine Vermännlichung der Erziehung und des Unterrichts“ an.34 Zwar war eine so ausdrückliche Gleichsetzung von Körperstrafen, positiv gewerteter Härte und Männlichkeit relativ selten, doch auch ohne häufig offen angesprochen zu werden, stand die abhärtende Wirkung in den Debatten um körperliche Strafen vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Raum. So sahen es Züchtigungsgegner als notwendig an, zu betonen, „daß die ‚Männlichkeit‘ keinen Schaden nimmt, auch wenn die Knaben nicht durch Prügel und Schlägereien ‚abgehärtet‘ werden“.35 Dass die Fähigkeit, körperliche Unannehmlichkeiten zu ertragen, ein Erziehungsziel sei, wurde dabei nicht infrage gestellt, sondern gerade zum Argument gegen Körperstrafen gewendet: Schließlich sei es widersinnig, von Schülern zu erwarten, dass sie auf eine Züchtigung hin ihr Verhalten änderten, wenn man sie gleichzeitig dazu erziehen wolle, äußeren Widrigkeiten zu trotzen – so ein auf Friedrich Schleiermacher zurückgehendes, noch in den späten 1940er Jahren verwendetes Argument.36 Auch dass in den 1950er Jahren der Pädagoge Friedrich Trost noch Wert darauf legte, dass die Gegnerschaft zu körperlichen Strafen nicht „einer verweichlichten [. . . ] Haltung“ entspringe (und sich dafür auf den „männlichen“ Ernst Moritz Arndt als Körperstrafengegner berief), deutet darauf hin, dass Härte als Erziehungsziel auch nach 1945 noch Bedeutung hatte.37 Vereinzelt wurde dies explizit geäußert, so etwa in einem FAZ-Artikel von Gerhard Nebel, laut dem „der Härte der Zucht die Stärke und Personalität des Erzogenen entsprach“, oder von einem Leserbriefschreiber in einer Lokalzeitung, der 1969 berichtete, man habe Körperstrafen zu seiner Jugendzeit „mannhaft ertragen und nicht so ein Palaver gemacht wie bei der heutigen verweichlichten Generation“.38 Doch waren solche Aussagen nach 1945 selten, und spätestens für die 1970er Jahre war die Distanzierung vom Erziehungsziel der Härte repräsentativer, wie sie etwa der langjährige BLLV-Vorsitzende Wilhelm Ebert formulierte: „Gelobt sei, was hart macht! Viele von uns haben es noch miterlebt, wie solche Slogans mithalfen, humane Positionen auszuhöhlen und nackte Bestialität zu rechtfertigen. [. . . ] Wir brauchen nicht mehr Härte, sondern mehr Menschlichkeit.“39 34 35 36
37 38 39
Oberdörfer: Hundert Tage, S. 90. Key: Jahrhundert, S. 168. Vgl. Schneider: Einführung, S. 192. Frühere Beispiele etwa: Weimer: Schulzucht, S. 107; Oskar Kutzner: Das Problem der körperlichen Züchtigung, in: Deutsche Blätter für erziehenden Unterricht 58 (1931), S. 241–243; S. 249–252; S. 265–267 (hier S. 249 f.); Bohnstedt: Zucht, S. 228; Freimund: Züchtigung, S. 33; Klett: Lehrer, S. 21. Trost: Pädagogik, S. 17. Nebel: Chiron; Heinz Jochim: Leserbrief, in: Die Rheinpfalz/Speyerer Rundschau Nr. 233 vom 7.10.1969. Wilhelm Ebert: Gedanken zu einem ‚Watschen‘-Urteil, in: Bayerische Schule (1979), S. 137.
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Dieses Zitat verdeutlicht, dass es in erster Linie die Rolle von Härte als ein zentrales nationalsozialistisches Erziehungsziel40 gewesen sein dürfte, die zu deren Diskreditierung führte. Daneben könnte aber auch die zunehmende Rezeption psychologischer Erkenntnisse eine Rolle gespielt haben – so machte Gerhard Nebel etwa die Psychoanalyse und den Versuch, potenziell Traumatisierendes zu vermeiden, für den Verlust an Härte verantwortlich. Es ist also erforderlich, den Bedeutungsgewinn der Psychologie in den Körperstrafendebatten sowie die Auseinandersetzungen um die Expertenhoheit insgesamt genauer in den Blick zu nehmen.
7.3 Wechselwirkungen und Mechanismen des Wandels Die Untersuchung hat deutlich vor Augen geführt, dass es zu keinem Zeitpunkt die Debatte um körperliche Strafen gab. Stets zerfiel sie in verschiedene Teildiskurse, die sich berührten und beeinflussten, aber auch sehr unterschiedliche Wandelgeschwindigkeiten aufwiesen: Just während in der Pädagogik zu Beginn des „Jahrhunderts des Kindes“ eine von tiefgreifenden Reformideen und neuen medizinisch-psychologischen Erkenntnissen befeuerte kontroverse Debatte um die Berechtigung körperlicher Strafen tobte, konnten juristische Kommentatoren deren erzieherische Zweckmäßigkeit als selbstverständliche Tatsache behandeln. Nur acht Jahre, nachdem in Preußen Lehrer so lautstark gegen eine Einschränkung des Züchtigungsrechts protestiert hatten, dass der entsprechende Erlass weitgehend rückgängig gemacht wurde, forderte ein beträchtlicher Teil der Delegierten auf der Sächsischen Lehrerversammlung sogar dessen vollständige Abschaffung. Dass auch bei den Debatten um körperliche Schulstrafen Ungleichzeitiges oft gleichzeitig war, ist zunächst noch kein erstaunlicher Befund. Doch lassen sich darüber hinaus Muster erkennen? Welche unterschiedlichen Geschwindigkeiten des Wandels gab es – und wie genau wirkten die verschiedenen Teildiskurse aufeinander? Der Kampf um die Expertenhoheit
Die Debatte über körperliche Strafen war immer auch eine Verhandlung darüber, wer berechtigt sein sollte, Maßstäbe für Erziehungsziele und -mittel festzulegen. 40
Dieser Stellenwert von Härte als NS-Erziehungsziel (vgl. etwa Usadel: Zucht, S. 63) führte bemerkenswerterweise nicht unbedingt zu einer Befürwortung körperlicher Strafen (vgl. Drexel: Zwiesprache, S. 570).
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In den letzten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nutzten Lehrer die Diskussion um das Züchtigungsrecht als eine Möglichkeit, sich Anerkennung als Erziehungsexperten zu verschaffen. Sie konnten sich bei ihrer Verteidigung körperlicher Strafen gleichermaßen auf ihr praktisches Erfahrungswissen wie auf die in der theoretischen Pädagogik vorherrschenden Ansichten berufen – zumal die Grenzen zwischen beiden in dieser „prädisziplinären Phase“41 der Erziehungswissenschaft ohnehin fließend waren. Indem sie ihren doppelten Expertenstatus als Praktiker wie als Vertreter der Pädagogik in die Waagschale warfen und weitgehend geschlossen für ein Züchtigungsrecht eintraten, konnten Lehrer in öffentlichen Debatten zum Thema die Meinungsführerschaft behaupten, wie die Diskussionen um die preußischen Erlasse von 1899 gezeigt haben. Im zwanzigsten Jahrhundert begann jedoch nicht nur die Pädagogik, sich zunehmend als von der Praxis gelöste wissenschaftliche Disziplin zu etablieren, sondern auch der zuvor unter der großen Mehrheit praktischer wie theoretischer Pädagogen herrschende Konsens von der Notwendigkeit körperlicher Strafen löste sich auf. Im Zuge der aufkommenden Reformpädagogik wurden traditionelle Vorstellungen von Schuldisziplin und deren Durchsetzung vermehrt infrage gestellt und konnten nicht mehr ohne Weiteres als „die“ Position der Pädagogik verteidigt werden. Außerdem erwuchs den Schulmännern nun neuartige Konkurrenz um die Expertenrolle: Dass sich, wie Till Kössler zusammenfasst, „Ärzte und später Psychologen zunehmend Deutungshoheit in den Kindheitsdebatten“ eroberten,42 schlug sich auch im Reden über Erziehungsstrafen nieder. Es sei nur daran erinnert, wie einflussreich der „Nervendiskurs“ auf die Bewertung körperlicher Schulstrafen war und wie beispielsweise bereits 1907 die Berliner Schulinspektion in einem Merkblatt zu Körperstrafen verschiedenste medizinische Einwände und Gesichtspunkte aufgriff. Die Untersuchung der Lehrerdebatten hat gezeigt, dass diese neuen Einflüsse auch hier rezipiert wurden, sodass zunächst im besonders reformfreudigen Sächsischen Lehrerverein, dann aber auch bei anderen Lehrervertretungen eine Ablehnung körperlicher Strafen zumindest in der nach außen vertretenen Position an Boden gewann. Dennoch blieben viele Lehrer weiterhin von der Notwendigkeit dieser Strafart überzeugt. Ihre Position im Streit um die Diskurshoheit war nun schwieriger: Zwar beriefen sich Züchtigungsbefürworter weiterhin auf pädagogische Autoritäten aus dem 19. Jahrhundert wie etwa Pestalozzi oder Diesterweg, deren Äußerungen zu Körperstrafen sie selektiv wahrnahmen und zitierten.43 Doch
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Tenorth: Erziehungswissenschaft, S. 353. Kössler: Kindheit, S. 291. So hieß es noch 1923 in der 7. Auflage von Karl Otto Beetz’ „Führer im Lehramte“, „daß fast alle namhaften deutschen Volksschulpädagogen die körperliche Züchtigung unter gewissen Umständen gefordert haben und sie kein einziger unbedingt ablehnt“ (S. 421). Zur selektiven Pestalozzi-Rezeption vgl. S. 42 dieser Arbeit.
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ließ sich kaum noch übersehen, dass diese traditionelle Position nun eben nicht mehr von der gesamten Pädagogik geteilt wurde. Zuvor hatten sich Lehrer vor allem gegen Züchtigungsgegner, die „von der Erziehung wenig oder gar nichts verstehen“,44 etwa gegen Publizisten, Theologen, Juristen und Ärzte abgegrenzt.45 Wenn sich nun jedoch auch theoretische Pädagogen oder gar Lehrervertreter gegen das Züchtigungsrecht aussprachen, ließ sich ihnen schwerlich jegliche Sachkenntnis für Erziehungsfragen absprechen. Stattdessen gewann der Gegensatz von Theorie und Praxis verstärkte Bedeutung und wurde zum typischen Argumentationsmuster, mit dem Körperstrafen befürwortende Lehrer ihren Anspruch auf Expertenhoheit begründeten: Auch wenn einzelne „geschätzte Theoretiker“, „pädagogische Idealisten“ oder „ideale Pädagogen“ Körperstrafen vollständig ablehnten, sei für Schulpraktiker und „nüchterne Rechts- und Wirklichkeitsmenschen“ offensichtlich, dass dieses Ideal zumindest unter den gegebenen Unterrichtsbedingungen nicht erreichbar sei.46 Doch der Erfahrungsvorsprung als Praktiker, auf den Lehrer sich berufen konnten, verlor immer mehr an Bedeutung gegenüber der wissenschaftlichen Autorität, mit der insbesondere die Psychologie die Gefahren von Körperstrafen betonte. Wenn 1909 der Arzt Julius Moses davor warnte, aus Erfahrungen in Einzelfällen allgemeine Aussagen zu Körperstrafen abzuleiten, war dies ein noch sehr zaghafter Angriff auf die aus Praxiserfahrungen abgeleitete Expertenrolle der Lehrer.47 Knapp dreißig Jahre später konnte der Anspruch der Psychologie auf Deutungshoheit dagegen schon wesentlich selbstbewusster formuliert werden: So bescheinigte der Psychologe Franz Bohl der Wissenschaft, nach dem jahrhundertelangen „vergeblichen Hin und Her der Meinungen“ in der Frage körperlicher Strafen erstmals „einen allgemeinbindenden Maßstab“ geschaffen zu haben, indem sie Gesetzmäßigkeiten der kindlichen Entwicklung erforschte.48 Dass dieser allgemeine Maßstab auch von der Öffentlichkeit aufgegriffen wurde, lässt sich beispielhaft mit der Behandlung des Themas in der Presse illustrieren: Während in den Diskussionen um die preußischen Erlasse 1899 fast ausschließlich Lehrer zu Wort gekommen waren, befragte der Berliner Börsen-Courier 27 Jahre später in einer Umfrage zum Thema lediglich einen Lehrervertreter, dafür aber mehrere Ärzte, Pädagogen und Psychoanalytiker.49 Auch pädagogische Lexika beriefen sich in den 1920er Jahren eher auf Medizin und Psychologie statt auf Schulpraxis und religiöse Argumente. 44 45 46
47 48 49
Dienstbier: Ausübung, S. 51. Vgl. Verhandlungen des Allgemeinen Deutschen Lehrertages zu Erfurt, S. 234. Die ersten beiden Zitate: Mang: Körperstrafe, S. 319; die folgenden beiden: Gesamtvorstandssitzung des Thüringer Lehrervereins (1923), in: Thüringer Lehrerzeitung 12 (10), S. 64–66, hier S. 65. Moses: Züchtigung, S. 93. Bohl: Problem, S. 52. Hirschberg: Rundfrage, S. 9.
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Doch als Bohl 1938 seine selbstbewusste Aussage von der Psychologie als objektivem Maßstab zur Beurteilung körperlicher Strafen traf, war der Stellenwert dieser Wissenschaft in der – nun kaum noch öffentlich stattfindenden – Diskussion um körperliche Strafen durch die Verfolgung und Vertreibung wichtiger Fachvertreter bereits empfindlich geschwächt worden.50 Erst nach 1945 wurde die psychoanalytische Kritik an Körperstrafen, angereichert um das Konzept des autoritären Charakters, vor allem durch Heinrich Meng in die deutsche Debatte ‚reimportiert‘ und war, wie das hessische Beispiel gezeigt hat, ein wichtiger Einfluss auf Pädagogen, Bildungspolitiker und einen Teil der Lehrerschaft. Doch wurde der Expertenstatus der Psychologie keinesfalls universell anerkannt. Wie gespalten die Öffentlichkeit in dieser Frage war, zeigen beispielsweise die bayerischen Landtagsdebatten aus dem Jahr 1951. Hier markierten zwei Abgeordnete, die beide von Beruf Lehrer waren, mit ihren Aussagen die beiden Pole der Diskussion: Während der eine mahnte: „Es sollte sich allmählich herumgesprochen haben, daß wir keine Erziehungslehre, sondern eine Erziehungswissenschaft haben, daß auf dem Gebiet der Jugendkunde und der Jugendpsychologie fundamentale neue Erkenntnisse gewonnen sind“,51 wandte der andere ein: „Im Gegensatz zur Erziehungswissenschaft bestätigt nämlich die Erziehungserfahrung, daß der Erzieher im praktischen Erziehungswerk nicht ganz ohne die körperliche Strafe auskommt.“52 Auch als ein anderer Abgeordneter auf Psychologie und Psychoanalyse verwies als „diejenige Wissenschaft, die Sie fragen müssen und die Ihnen sagen kann, wie körperliche Strafen etwa auf schwer erziehbare Menschen wirken“,53 wurde er unterbrochen von Zwischenrufern, die einwandten: „Mir ist der gesunde Menschenverstand lieber“, oder gar die psychologische Perspektive und das Reden über Körperstrafen als „Dekadenzerscheinung“ bezeichneten.54 Die Frage, ob ‚gesunder Menschenverstand‘, Praxiserfahrungen der Lehrer oder wissenschaftliche Pädagogik und Psychologie den Maßstab zur Beurteilung von Körperstrafen liefern sollten, prägte auch die juristische Diskussion der 1950er Jahre: Vor dem Zweiten Weltkrieg hatten Rechtswissenschaft und 50
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Damit soll kein vorschnelles Urteil über die Stellung der Psychologie im Nationalsozialismus insgesamt abgegeben werden: Wie Graumann (Psychologie, S. 4–9) darlegt, brachte neben dem durch die Verfolgung und Vertreibung zahlreicher Fachvertreter und der Isolierung gegenüber internationalen Debatten „schmerzhaften Einschnitt in die Psychologie als Wissenschaft“ (S. 6) der Nationalsozialismus in Bezug auf Institutionalisierung und Professionalisierung des Fachs auch einen Aufschwung (vgl. auch Lück: Geschichte, S. 16–19). Für die Debatte körperlicher Strafen ist jedoch nur der erstgenannte Teil dieser ambivalenten Entwicklung relevant. Abg. Förster (SPD), Bayerischer Landtag, 55. Sitzung vom 11.12.1951, Stenographischer Bericht 1951/52, S. 863 Abg. Schubert (CSU), ebd., S. 878. Abg. Bezold (FDP), ebd., S. 873. Abg. Franckenstein (CSU) und Baumgartner (Bayernpartei), ebd.
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Rechtsprechung die intensiven pädagogischen Debatten um Körperstrafen kaum aufgegriffen. Zum Teil hatten sie zumindest implizit die Perspektive der das Züchtigungsrecht verteidigenden Lehrer übernommen, hauptsächlich war in den juristischen Debatten aber die Sinnhaftigkeit körperlicher Strafen als eine weitgehend selbstverständliche, aus Alltagserfahrung und ‚gesundem Menschenverstand‘ ableitbare Tatsache behandelt worden. Nach 1945 wurden dagegen pädagogische Erkenntnisse und Werke beispielsweise in juristischen Dissertationen intensiv rezipiert. Nicht nur das Züchtigungsrecht ablehnende Juristen beriefen sich auf die „moderne Pädagogik und Psychologie“ und ihre Einwände,55 sondern auch die Verteidiger körperlicher Strafen konnten den pädagogischen Diskurs nicht mehr ignorieren. Allerdings kamen sie dabei meist zu dem knappen Ergebnis, dass „die Pädagogen sich nicht einig sind“ und somit Körperstrafen nicht eindeutig ein erzieherischer Wert abgesprochen werden könne.56 Diese Zusammenfassung der Sichtweise ‚der Pädagogen‘ war nur dann haltbar, wenn man unter ihnen in erster Linie die Praktiker, also die Lehrer verstand – wie es auch der Bundesgerichtshof in der Formulierung seines Urteils von 1957 nahelegte.57 Wenn Gerichte nun, anders als vor 1945, bei der Bewertung konkreter Fälle auch Aussagen über die erzieherische Angemessenheit der jeweiligen Strafe trafen, dann beriefen sie sich (anders als Teile der juristischen Literatur) normalerweise nicht auf erziehungswissenschaftliche Erkenntnisse und Theorien, sondern entweder auf Argumente aus den Lehrerdebatten oder häufiger auf eigene Erfahrungen und „Laienvorstellungen“, wie ein Jurist zeitgenössisch kritisierte.58 Erst gegen Ende des Betrachtungszeitraums gewann der Verweis auf die Wissenschaft im gesamten juristischen Diskurs an Bedeutung: Wenn Ende der 1960er Jahre in Presseartikeln und Leserbriefen die Forderung nach einer Abschaffung immer wieder mit der Autorität von Pädagogik, Psychologie und Medizin begründet wurde, beeinflusste dies allmählich auch die juristischen Debatten. Beispielhaft für die Verwissenschaftlichung auch traditioneller Argumente gegen Körperstrafen ist ein 1977 erschienener Aufsatz des Sozialpädagogen Lutz Rössner in der Zeitschrift Unsere Jugend:59 Er wollte den simplen Einwand: „körperliche Züchtigung sei kein Erziehungsmittel, daher solle es [sic] in der Erziehung nicht angewendet werden“, nicht mehr gelten lassen, sondern suchte deren erzieherische Schädlichkeit lerntheoretisch nachzuweisen. 55 56 57 58 59
Zitat Bader: Anmerkung, S. 755. Kohlhaas: Recht, S. 408. Vgl. S. 312 dieser Arbeit. Kaiser: Züchtigungsrecht, S. 7. Lutz Rössner: Körperliche Züchtigung als Erziehungsmittel. Lerntheoretische Überlegungen, in: Unsere Jugend 30 (1977), S. 296–304 (das folgende Zitat S. 300). Die eigentlich sozialpädagogisch ausgerichtete Zeitschrift hatte das Thema in den 1950er Jahren hauptsächlich aus juristischer Perspektive behandelt.
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Nicht nur die zwanzig Jahre zuvor nur von einer Minderheit der Juristen angeführten Argumente wie etwa, dass „wir heute von Beziehungen zwischen Züchtigungen und autoritärem Charakter und diesem und Führergläubigkeit wissen“, erhielten nun stärkeres Gewicht.60 Darüber hinaus hielten psychologische Theorien und Begrifflichkeiten in wesentlich größerem Maße Einzug in den juristischen Diskurs über Körperstrafen, als dies je zuvor der Fall gewesen war: Beispielsweise sprach man in Kommentaren zu Gerichtsurteilen nun von der Gefahr, dass Körperstrafen durch Imitationslernen und „Über- bzw. Untersteuerung von Triebenergien“ Gewaltanwendung fördern könnten.61 1975 forderte ein Richter nicht nur von seinen Kollegen einen (gegebenenfalls auf Sachverständige gestützten) „Einstieg in die Ergebnisse der Forschungen zur Pädagogik, pädagogischen Psychologie und zu psychogenen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen“, sondern leistete diesen auch selbst, indem er etwa erklärte, dass Schläge von Lehrern durch eine „Durchbruchsreaktion“ motiviert sein könnten, in der allgemeine Frustrationsgefühle in einer „Objektverschiebung“ am einzelnen Kind abreagiert würden.62 Selbst als ihm ein anderer Autor in der Deutschen Richterzeitung widersprach, berief dieser sich nicht auf Erfahrungen oder ‚gesunden Menschenverstand‘, sondern auf Ergebnisse der Verhaltensforschung, um zu belegen, dass Aggression nicht in erster Linie durch (etwa in Form von Schlägen durch Erzieher) erlebte Gewalt verursacht werde, sondern ein angeborener Trieb sei.63 Immer wieder wurden nun „die fortschreitenden Erkenntnisse der Sozialwissenschaften (Pädagogik, Psychologie, Soziologie, Medizin)“ als Grund dafür angeführt, warum ein Gewohnheitsrecht auf Züchtigung nicht mehr anzuerkennen sei.64 Die zunehmende Ächtung körperlicher Strafen kann also im Zusammenhang mit der verstärkten Verwissenschaftlichung gesehen werden, die nach der kindheitsgeschichtlichen Forschung das Reden über Kindheit insgesamt seit den 1950er Jahren kennzeichnete.65 Wechselwirkungen statt Einbahnstraße
Insgesamt lässt sich ein Teildiskurs identifizieren, in dem körperliche Strafen mit Abstand am frühesten nahezu vollständig geächtet waren: In der wissenschaftlich60
61 62 63 64 65
Wolfgang Wüstrich: Anmerkung zum Urteil des OLG Zweibrücken vom 12.3.1974, in: NJW 27 (1974), S. 2289–2290, Zitat S. 2289. Es ist bezeichnend, dass Wüstrich als Literaturbeleg vor allem auf die Angaben in Dürigs 1958 verfassten Grundgesetzkommentar verwies. Annegret Freiburg: Durfte Herr B. zuschlagen?, in: Unsere Jugend 29 (1977), S. 250–254, Zitat S. 252. Egon Schneider: Züchtigungsrecht heute!, in: Deutsche Richterzeitung 53 (1975), S. 149. Karstendiek: Nochmals: Züchtigungsrecht. Ebd. Vgl. außerdem Jung: Züchtigungsrecht, S. 91. Vgl. Winkler: Kindheitsgeschichte, S. 18.
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theoretischen Pädagogik musste nach dem Einfluss der reformpädagogischen Bewegung und der Psychologie spätestens zum Ende der 1920er Jahre die Vorstellung von Körperstrafen als sinnvollem, notwendigem Erziehungsmittel überholt erscheinen.66 Diese Tatsache und die geschilderte Verwissenschaftlichung des (nicht nur) juristischen Redens über Körperstrafen könnten den Eindruck eines allein von der Erziehungswissenschaft bzw. der sie beeinflussenden Psychologie ausgehenden Wandlungsprozesses erwecken. So urteilt der Jurist Hans-Jörg Albrecht rückblickend, „daß die kulturelle Leistung der Verdrängung der Körperstrafen aus dem schulischen Bereich der Pädagogik und der pädagogischen Verwaltung zu verdanken ist, die sich gegen den partiellen Widerstand der Rechtsprechung und der Strafrechtsliteratur durchsetzen konnte“.67 So einleuchtend diese Bewertung insbesondere für das Ende des Betrachtungszeitraums ist, so wäre es dennoch zu einfach, den Prozess der Ächtung körperlicher Strafen allein als partielle Widerstände allmählich überwindenden Transfer von in der Pädagogik etablierten Erkenntnissen in andere Bereiche zu deuten. Er war vielmehr von vielfältigen, keinesfalls linearen oder einseitigen Wechselwirkungen geprägt: So resultierten etwa die von Albrecht angesprochenen Züchtigungsverbote der „pädagogischen Verwaltung“ in Rheinland-Pfalz oder Bayern in erster Linie aus dem Druck von Presse, Bürgerrechtsorganisationen, Politikern und Elternvertretern in Verbindung mit der Zustimmung der Lehrervertreter. Zwar stützte sich diese öffentliche Kritik an Körperstrafen auf pädagogische und psychologische Argumente, jedoch gingen diese größtenteils auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück, waren also nur sehr indirekt Motor des Wandels. Auch im juristischen Diskurs war es eben nicht nur die Rezeption von Psychologie und Pädagogik, die schließlich zur Aufgabe der Lehre vom Gewohnheitsrecht führte, sondern auch innerjuristische Entwicklungen wie die zunehmende Bedeutung, die den Grundrechten von Kindern beigemessen wurde. Dirk Schumann kommt deshalb sogar zu dem Schluss, dass die Liberalisierung der Schuldisziplin von juristischen Argumenten und Denkweisen vorangetrieben worden sei und auf der zunehmenden Verrechtlichung der Schule beruhte, wogegen pädagogische Positionen nur wenig direkte Auswirkungen gehabt hätten.68 Zwar wird in dieser 66
67 68
Zwar datiert Peter Dudek (Züchtigung, S. 77 f.) das Durchsetzen der Züchtigungsgegner in der pädagogischen Diskussion erst auf die Jahre nach 1945, diese Einordnung scheint aber angesichts der in Kapitel 3 ausgewerteten Quellen nicht haltbar: Tatsächlich findet sich die von Dudek als typisch für die pädagogischen Debatten nach 1945 beschriebene Position („Ablehnung der Prügelstrafe als Ausdruck einer modernen pädagogischen Haltung“, Rechtfertigung nur noch als „Notmaßnahme in besonderen Situationen“) genauso bereits in den pädagogischen Lexika der späten 1920er bzw. frühen 1930er Jahre. Ähnlich unterschätzt auch Göbel (Züchtigungsrecht, S. 84) die pädagogische Kritik an Körperstrafen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Albrecht: Entwicklung, S. 207. Vgl. Schumann: Legislation, S. 193 und S. 217.
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Arbeit Schumanns These speziell für die Thematik körperlicher Strafen nicht geteilt, denn gegen sie spricht neben der zeitlichen Abfolge von pädagogischer, kultusministerieller und juristischer Ächtung vor allem die Tatsache, dass Körperstrafen schon seit dem 19. Jahrhundert in Verordnungen detailliert geregelt und durch die Rechtsprechung kontrolliert waren, sich die Verrechtlichung des Schullebens in diesem Bereich also am wenigsten auswirkte.69 Dennoch sollte die Rolle der Rechtswissenschaft im Voranbringen des Wandels nicht unterschätzt werden. Dass die einzelnen Teildiskurse sich nicht nur im Sinne einer zunehmenden Abkehr von körperlichen Strafen beeinflussten, sondern ihr Zusammenspiel auch bremsende Wirkung haben konnte, hat das Beispiel der beiden Bundesgerichtshofsurteile in den 1950er Jahren gezeigt: Nachdem der BGH 1954 pädagogische Bedenken aufgegriffen und mit seinen Zweifeln am Züchtigungsrecht die Perspektive einer von der Rechtswissenschaft ausgehenden Ächtung körperlicher Strafen eröffnet hatte, war es auch die Wechselwirkung von Lehrer- und Juristendebatten, die (gemeinsam mit Veränderungen des gesellschaftlichen Klimas wie den durch die ‚Halbstarken‘ ausgelösten Bedrohungsgefühlen) zur Kehrtwende führte: Das Szenario eines strafrechtlich relevanten Züchtigungsverbots verlagerte die Debatte von der eher pädagogisch-theoretischen auf die praktisch-konkrete Ebene – und führte so dazu, dass auch Lehrer, die Körperstrafen eigentlich ablehnten, sich gegen die drohende Einschränkung ihrer Rechte wehrten. Die sich ‚mit einem Bein ins Gefängnis‘ gestellt fühlende Lehrerschaft versuchte aktiv, ihre Deutungshoheit zurückzuerlangen, indem sie in öffentlichen Debatten die Disziplinschwierigkeiten im Schulalltag und die belastende Rechtsunsicherheit bei Körperstrafen betonte. Es war nicht zuletzt ein Erfolg dieser Bemühungen, dass sich die Rechtswissenschaft trotz ihrer neuartigen Rezeption der wissenschaftlichen Pädagogik nach dem Zweiten Weltkrieg bald wieder an Lehrern als Experten orientierte und zu dem Schluss kam, dass „die Pädagogen“ sich in dieser Frage noch längst nicht einig seien. Insgesamt führte das Zusammenspiel von Lehrer- und Juristendebatten in diesen Jahren dazu, dass auch eine grundsätzliche Befürwortung körperlicher Strafen wieder stärker öffentlich äußerbar wurde. Ein übergreifendes Muster der (Werte-)Debatten
Trotz solcher unterschiedlicher Wechselwirkungen und verschiedener Geschwindigkeiten lässt sich ein Muster des Wandels erkennen, das zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Teildiskursen immer wieder ähnlich ablief: Am Anfang stand die Position, dass Körperstrafen ein vielleicht nicht erfreulicher, 69
Vgl. S. 380 f. dieser Arbeit.
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aber notwendiger und berechtigter Teil der Erziehung seien – zumindest solange sie sich in einem, im Einzelfall freilich sehr unterschiedlich zu definierenden, Rahmen des ‚Angemessenen‘ und Gemäßigten bewegten. Der vollständige Verzicht auf Gewalt stellte noch kein Ziel von größerem Wert dar und konnte mit den Körperstrafen zugeschriebenen positiven Wirkungen – dem Sicherstellen regelkonformen Verhaltens im Unterricht, aber auch der erzieherischen Bekämpfung von Rohheit oder Ungehorsam – nicht konkurrieren. Diese Sichtweise war unter Lehrern wie Pädagogen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts und in den juristischen Debatten noch bis Mitte des 20. dominierend. Je mehr die Kritik an Körperstrafen in die jeweilige Debatte Einzug hielt, beispielsweise durch die Rezeption reformpädagogischer oder psychologischer Positionen, desto weniger konnte eine solche grundsätzliche Bejahung noch geäußert werden. Stattdessen dominierte eine mittlere Position, für die körperliche Strafen zwar grundsätzlich problematisch und an sich pädagogisch nicht wünschenswert, aber in bestimmten Situationen oder zumindest unter den gegebenen Unterrichtsbedingungen ein notwendiges Übel waren. Diese Bewertung konnte zudem als Kompromiss zwischen radikalen Gegnern körperlicher Strafen und Anhängern der älteren Vorstellung von ihrer erzieherischen Notwendigkeit fungieren.70 Denn letztere Position war in diesem Stadium des Wandels, wie es beispielsweise im Sächsischen Lehrerverein 1906/07 oder in anderen Lehrerverbänden knapp zwanzig Jahre später zu beobachten ist, nur noch sehr eingeschränkt öffentlich äußerbar. Auch die Verteidiger eines Züchtigungsrechts betonten in ihren öffentlichen Äußerungen nun fast immer, dass der Verzicht auf körperliche Erziehungsgewalt ein anzustrebendes Ideal sei. Nach der berühmten Definition Clyde Kluckhohns könnte man sagen, dass Gewaltfreiheit in der Erziehung sich nun in Richtung eines allgemein anerkannten Wertes entwickelt hatte, wurde ihr Status als „conception [. . . ] of the desirable“ doch kaum infrage gestellt.71 Allerdings enthält Kluckhohns Definition noch einen zweiten maßgebenden Aspekt, nämlich, dass diese Konzeption des Wünschenswerten auch die Wahl aus möglichen Handlungsweisen beeinflusst. Und gerade dieser handlungsleitende Status stand in dieser zweiten Phase zur Debatte: Während für die absoluten Gegner körperlicher Strafen Gewaltfreiheit ein so zentraler Wert war, dass es „keine Halbheit geben“ könne,72 war sie für viele andere noch ein zwar wünschenswertes, aber im praktischen Handeln eben relativierbares Ideal. Erst im letzten Schritt des Wandels wurde auch diese Relativierung immer weniger akzeptabel. Der Verzicht auf schulische Körperstrafen hatte für große 70 71
72
Zu dieser Einschätzung kommt auch Grüner: Gewalt, S. 63. Kluckhohn (Values, S. 395) definierte einen Wert („value“) als „a conception, explicit or implicit, distinctive of an individual or characteristic of a group, of the desirable which influences the selection from available modes, means and ends of action“. Trost: Pädagogik, S. 17.
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Teile der Öffentlichkeit eine absolute Verbindlichkeit gewonnen, die nicht nur auf der Ebene des Wünschenswerten, sondern auch auf der des praktischen Handelns so hohe Priorität besaß, dass Verstöße vielleicht noch entschuldigt, aber nicht mehr durch konkurrierende Ziele gerechtfertigt werden konnten. Somit waren Diskussionen über Körperstrafen immer auch Debatten darüber, welche „Konzeptionen des Wünschenswerten“ tatsächlich handlungsleitende Werte sein sollten und welche Priorität ihnen beikommen sollte, wenn sie im (vermeintlichen) Widerspruch zueinander standen. Dies galt nicht nur für den möglichen Konflikt zwischen dem Ideal der Gewaltfreiheit und der Sicherstellung eines geordneten Unterrichtsgeschehens, sondern auch für grundlegendere Erziehungsziele, zu deren Erreichen Körperstrafen als geeignet oder eben schädlich bewertet wurden – beispielsweise Gehorsam und Einordnung versus friedliche und demokratische Gesinnung. Deshalb soll die Rolle einiger für die Diskussion um Körperstrafen besonders relevanter Werte in den folgenden Kapiteln genauer betrachtet werden. Dabei mag man einige naheliegende Wertbegriffe vermissen, nämlich „Disziplin“ oder die manchmal sogar als Kurzformel für restriktive oder gewaltsame Erziehungspraktiken fungierende „Zucht und Ordnung“.73 Tatsächlich spielten alle drei Begriffe auf den zurückliegenden Seiten eine zentrale Rolle, schließlich war es meist die Aufrechterhaltung von „Disziplin“, „Ordnung“ oder „Schulzucht“, mit der Körperstrafen gerechtfertigt wurden. Gerade diese Allgegenwart in den Debatten macht eine zusammenfassende, systematische Analyse der Verwendung dieser Begriffe jedoch schwierig: Dass sie dem Durchsetzen einer bestimmten Ordnung dienen, liegt im Wesen von Schulstrafen. Veränderlich und im Sinne der Fragestellung dieser Arbeit interessant wäre, worin die damit aufrechterhaltende Ordnung oder „Schulzucht“ bestehen sollte – und welche Priorität diesem Ziel im Vergleich zu anderen Werten wie etwa Gewaltfreiheit zugemessen wurde. Antworten auf die erste Frage sind in den vorangegangenen Kapiteln immer wieder angeklungen, zum Beispiel anhand der Verhaltensweisen, die in den untersuchten Einzelfällen von Lehrern als Anlass für Körperstrafen genommen wurden. Auch in den theoretischen Debatten finden sich Anhaltspunkte, beispielsweise, dass Körperstrafengegner bereits um 1870 „muntere, geweckte“ Schüler höher schätzten als die von Zeitgenossen geforderte ‚stramme Zucht‘.74 Doch sind entsprechende Aussagen zu Disziplinvorstellungen zu vereinzelt und widersprüchlich, um sich für einen systematischen Vergleich zu eignen oder ein klares Bild zu ergeben – schließlich überschneidet sich die hier untersuchte Diskussion, mit welchen Mitteln Ordnung legitimerweise durchgesetzt werden könne, nur zum Teil mit der, welche Ordnung wünschenswert sei. Deshalb wurden für die systematisch-zusammenfassende Analyse statt „Zucht“, 73 74
Vgl. etwa den Titel von Grüner/Raasch: Zucht. Freimund: Züchtigung, S. 28. Siehe S. 58 dieser Arbeit.
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„Ordnung“ und „Disziplin“ die verwandten, aber in den Debatten deutlich schärfer hervortretenden Konzepte „Gehorsam“ bzw. „Autorität“ ausgewählt. Auch bei der Frage nach relativen Wertprioritäten schien es ergiebiger, den Fokus nicht auf „Ordnung“ selbst, sondern auf die mit ihr konkurrierenden Werte zu richten. Hier sind es insbesondere „Ehre“, „(Menschen-)Würde“ und „Gewaltlosigkeit“, die einen näheren Blick lohnen.
7.4 Ehre „Wer von Ehre spricht, darf von Gewalt nicht schweigen“75 – dass diese Feststellung Winfried Speitkamps auch in umgekehrter Richtung gilt, bestätigen die Debatten um Gewalt in der Schulerziehung. Über den ganzen Betrachtungszeitraum hinweg war die entehrende Wirkung von Körperstrafen – oder aber deren Verneinung – einer der am häufigsten im Zusammenhang mit dem schulischen Züchtigungsrecht diskutierten Aspekte. Doch war immer das Gleiche gemeint, wenn in den Debatten von „Ehrgefühl“, „Ehrenhaftigkeit“ oder schlicht der „Ehre“ als Erziehungszielen gesprochen wurde? Im gesamten untersuchten Zeitraum liefen die kontroversen Deutungen des Zusammenhangs von Körperstrafen und Ehre auf zwei Grundfragen hinaus: Wirkten Körperstrafen tatsächlich grundsätzlich – unabhängig von den Details ihres Vollzugs, etwa vor Zeugen oder auf entblößte Körperteile – entehrend? Und, noch grundlegender: Konnte bei Kindern überhaupt von Ehre oder Ehrgefühl, die durch solche Behandlung verletzt werden könnten, die Rede sein? Entehrend oder nicht?
Die Bedeutung von Ehre im Reden über körperliche Strafen zeigt sich etwa im hessischen Verbotserlass von 1946, der „alle entehrenden Strafen, insbesondere jede Art körperlicher Züchtigung und Beschimpfung“ untersagte. Auch als in den 1950er Jahren das Ministerium eine Bekräftigung dieses Verbots veröffentlichte, war im ersten Entwurf noch von „entehrenden Strafen“ die Rede. Nach einem Hinweis des Leiters der Rechtsabteilung, Ministerialrat Dr. Reinhold Allstaedt, wurde diese Formulierung allerdings durch „körperliche Züchtigungen“ ersetzt. Allstaedt begründete seinen Änderungsvorschlag damit, dass auch ein Vater, der sein Kind wegen eines schweren Vergehens züchtige, dieses nicht entehre:
75
Speitkamp: Ohrfeige, S. 21.
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Das Kind hat vielmehr durch sein Vergehen eine Ehrminderung erfahren (die es sich selbst zugefügt hat). Die erlaubte körperliche Züchtigung ist als Erziehungsmittel nicht entehrend, sondern wirkt im Gegenteil ausgleichend und die Ehreinbuße beseitigend. [. . . ] ‚Entehrend‘ ist die körperliche Züchtigung nur, wenn man sie für ein schlechthin ungeeignetes, menschenunwürdiges ‚Erziehungsmittel‘ hält, und diese Auffassung vertritt ja der Erlaß (ich persönlich übrigens nicht).76
Hier wird deutlich, dass auch noch einige Jahrzehnte später zutraf, was bereits bei der Untersuchung der Debatten der Reformpädagogik festgestellt wurde: Für viele Kommentatoren war die entehrende Wirkung jeglicher körperlicher Strafen eine selbstverständliche, kaum begründungsbedürftige Tatsache, während andere sie mit ähnlicher Sicherheit verneinten. Noch immer galt, was Hermann Weimer 1919 als Kern des Streits formuliert hatte: Eine Verletzung des kindlichen Ehrgefühls sei nun einmal nicht logisch nachzuweisen, „es ist dies lediglich Sache der persönlichen Auffassung und des persönlichen Empfindens“.77 Allstaedts Anmerkung illustriert gleich mehrere Faktoren, warum die demütigende und entehrende Wirkung, die sich für den Kultusminister aus dem Gewaltcharakter körperlicher Strafen selbstverständlich ergab, von deren Verteidigern eben nicht gesehen wurde: Dies war erstens die Bewertung von Körperstrafen als gleichermaßen legitimes wie verbreitetes (und daher auch vom Kind akzeptiertes) Erziehungsmittel, die auch zu anderen Zeiten immer wieder als Argument gegen eine entehrende Wirkung angeführt wurde. In diesem Sinne wurde etwa auf die lange Tradition von Körperstrafen sowie auf ihre Verbreitung auch in anderen Ländern hingewiesen und betont, dass eine körperliche Züchtigung das Verhältnis zwischen Erzieher und Zögling nicht nachhaltig beeinflusse – stets mit der impliziten Botschaft, dass etwas so Selbstverständliches, von den meisten Menschen in ihrer Kindheit Erlebtes kaum ehrenrührig sein könne.78 In diesen Kontext gehört es auch, wenn Autoren betonten, Körperstrafen seien nur dann entehrend, wenn sie falsch vollzogen würden – beispielsweise vor erwachsenen Zuschauern wie Schulleitern oder aus ‚ungerechtem‘ Anlass.79 Diese Unterscheidung spiegelt die immer wieder anzutreffende Abgrenzung von als legitim gesehenen Züchtigungen gegenüber abgelehnten Misshandlungen.
76 77 78 79
Entwurf „Zur Veröffentlichung im Amtsblatt“ mit handschriftlichen Notizen, 11.6.1956, HHStAW 504, 4210, Bl. 90. Weimer: Schulzucht, S. 115. Vgl. etwa Gesell: Züchtigung, S. 15; Schmidt-Heuert: Für die Rute, S. 20; Kiefer: Prügelstrafe, S. 6 f. Vgl. Abg. Biedermann (nationalliberal), Sächsischer Landtag, II. Kammer, 52. Sitzung am 9.3.1872, Mittheilungen über die Verhandlungen des Landtags (1871/73), 2. Band, S. 1572; Das Regulativ betreffend die Anwendung der körperlichen Züchtigung in den hamburgischen Volks-Knabenschulen, in: Pädagogische Reform 5 (1881), S. 28, hier S. 29; Stengel: Würdigung, S. 110; Knorr: Züchtigung, S. 68.
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Vom äußeren Verhalten abhängige Ehre . . .
Zweitens zeigt Allstaedts Argument, eine (körperliche) Strafe könne sogar die Ehrminderung ausgleichen, die sich ein Kind durch sein „Vergehen selbst zugefügt“ habe, dass die unterschiedlichen Bewertungen von Körperstrafen auf verschiedenen Ehrbegriffen beruhten. Hinter Allstaedts Worten scheint eine Definition durch, die die „Ehre“ vom Verhalten des Kinds abhängig machte – und die in einer langen Tradition stand: Bereits 1878 hatte ein Lehrer erläutert, ein Kind werde „lediglich durch das von ihm begangene Vergehen oder Verbrechen entehrt, nicht aber durch irgend welche Strafe, die einen sittlichen Zweck verfolgt. Die wahre Ehre hat einzig und allein mit Recht- oder Unrechtthun, aber weder mit Entziehung der Freiheit, noch mit dem Getadelt- oder Geschlagenwerden zu schaffen.“80 Auch für den Pädagogen Paul Natorp bestand 1897 das „wahre Ehrgefühl“ im Bewusstsein des Zöglings, „dass er sich erniedrigt, wenn er etwas thut, das Prügel verdient“.81 Ehre zeigte sich gemäß diesen Vorstellungen also im richtigen Handeln, das ‚Ehrgefühl‘ bestand nicht zuletzt im Streben, ‚Unrechtthun‘ zu vermeiden, im „Gefühl für Recht und Pflicht überhaupt“82 – oder anders gesagt: in einer Internalisierung der vom Kind erwarteten sozialen Verhaltensnormen. In dieser Logik erwiesen sich Schüler als „ohne Ehrgefühl“, wenn sie auf mildere Strafen nicht reagierten oder „wenn ein einzelner Fehler einen auffallenden Mangel an Ehrgefühl oder Ehrerbietung zeigt, z. B. große Roheit, freche Schamlosigkeit, hartnäckiger Trotz“.83 Die Parallelisierung von Ehrgefühl mit „Ehrerbietung“ zeigt, dass es insbesondere die Einordnung in Hierarchien war, die vom ehrenhaften Kind erwartet wurde. Ein so verstandenes Ehrgefühl konnte nicht als von vornherein vorhanden vorausgesetzt werden, sondern es musste anerzogen werden.84 Vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, wenn Strafen, auch und gerade körperlichen, die Aufgabe zugeschrieben wurde, das Ehrgefühl zu „wecken“. So beschrieb es der Pädagoge Adolf Matthias als Zweck aller Schulstrafen, sie sollten „hinzielen auf Erweckung und Wiederbelebung des schlummernden oder geschwächten Ehr- und Pflichtgefühls“.85 Direkter wurde ein preußischer Landtagsabgeordneter, wenn er sich 1925 zwar von „Prügelpädagogik“ distanzierte, aber glaubte, „daß es für manchen Buben noch sehr gut ist, wenn er unter Umständen sein Ehrgefühl und seinen Gehorsam und Fleiß
80 81 82 83 84 85
Gesell: Züchtigung, S. 15. Natorp: Frage, S. 283–284. Wilhelm: Erziehungsfaktor, S. 64. Keller/Brandenburger: Handbuch, S. 143. Vgl. auch Frevert: Politik, S. 90. Matthias: Pädagogik, S. 178.
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auf dem Teil des Rückens aufgeweckt bekommt, wo er aufhört, seinen ehrlichen Namen zu behalten“.86 Dass zum „Wecken“ des so verstandenen Ehrgefühls gerade gezielte Demütigungen geeignet erscheinen konnten, zeigt ein Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1952. Die angeklagten Eltern hatten ihre 16-jährige Tochter, die wiederholt von zu Hause weggelaufen war, um sich unerlaubterweise mit Jungen zu treffen, an einem Stuhl und zweimal sogar über Nacht im Bett festgebunden und ihr die Haare kurz geschnitten. Das Landgericht hatte diese Bestrafungen als sittenwidrig, weil das Ehrgefühl tief verletzend, gewertet und die Eltern wegen Körperverletzung verurteilt. Der dritte Strafsenat des BGH sah dies jedoch anders: Die Vorinstanz übersehe, „daß das Mädchen durch seinen sittenlosen Lebenswandel seine Ehre selbst auf das Schwerste verletzt hatte“ – angesichts dessen seien Festbinden und Haareschneiden „angemessen und [. . . ] dem Erziehungszweck [. . . ] sehr dienlich“ gewesen. „Sie waren geeignet, das Ehrgefühl des Mädchens zu wecken, das Mädchen aus der Scham über die erlittene Züchtigung zum Bewußtsein der Verwerflichkeit ihres Verhaltens und zur Scham darüber zu bringen und so Abwehrkräfte gegen jenen Hang zum sittenlosen Lebenswandel zu entwickeln.“87 Obwohl dieses Urteil weder die schulische Erziehung noch Körperstrafen im engeren Sinne betrifft, ist es ein eindrucksvolles Beispiel für ein Ende des Spektrums von Vorstellungen zu kindlicher Ehre, wie sie noch in den 1950er Jahren vertreten werden konnten – auch wenn das Urteil auf starke Kritik stieß, unter anderem gerade wegen seiner Verwendung des Ehrbegriffs.88 . . . oder universelle Würde?
Versuche, den unscharfen Begriff „Ehre“ zu definieren, zielen häufig auf zwei Aspekte ab, die „in unterschiedlichem Mischungsverhältnis“ Ehre ausmachen: „äußere Ehre“, Prestige und Achtung durch andere, einerseits und „innere Ehre“, Selbstachtung und Stolz, andererseits.89 Zwar wurde im Zusammenhang mit Körperstrafen meist eher über das subjektive Ehrgefühl des Kinds, also eigentlich die „innere Ehre“, gesprochen. Doch kam der Maßstab dieses inneren Ehrgefühls nach dem Verständnis des BGH-Urteils und der zitierten Verteidiger von 86 87
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Preußischer Landtag, 91. Sitzung am 3.11.1925, Verhandlungen des Preußischen Landtags 2. Wahlperiode (1925), 4. Bd., S. 5754. BGH: Urteil vom 25.9.1942, 3 StR 742/51. Zitiert nach Max Kohlhaas: Zulässige elterliche Züchtigungsmittel? Eine umstrittene Entscheidung des Bundesgerichtshofs, in: Unsere Jugend 5 (1953), S. 269–271, hier S. 270. Kohlhaas etwa bezeichnete die Annahme, das Mädchen habe sich durch sein Verhalten selbst entehrt, als „schon fragwürdig genug“ und wandte ein, dass Angriffe auf den Stolz eines Menschen eher zu Trotz als zu Einkehr führten (ebd., S. 270 f.). Speitkamp: Ohrfeige, S. 17. Vgl. auch Burkhart: Geschichte, S. 11 f.
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Körperstrafen von außen, bestand er doch in Verhaltensnormen, die das Kind verinnerlichen und einhalten sollte. Bei den Gegnern von Körperstrafen zeigt sich dagegen meist eine Definition von Ehre, die allein auf inneren Faktoren beruhte. Hier wurde ‚Ehrgefühl‘ oft im gleichen Atemzug mit „Selbst(wert)gefühl“ oder „Selbstbewußtsein“ genannt und weitgehend synonym zu diesen verwendet.90 Dieses Begriffsverständnis fasste bereits 1869 Carl Klett treffend zusammen als das Bewusstsein des Kindes, „es sei etwas an ihm, was geachtet werden müsse von jedermann, also auch von ihm selbst“.91 Indem ein so verstandenes Ehrgefühl vom Kind selbst ausging, musste und konnte es nicht durch repressive Erziehungsmaßnahmen anerzogen oder ‚geweckt‘ werden. Aufgabe der Erziehung war es vielmehr, Ehre und Würde des Kinds zu schützen, ihm als unverletzliche Güter bewusst zu machen und sein Selbstbewusstsein zu stärken. Aus diesem „Gefühl für die eigene Ehre“ sollte dann auch die Achtung der entsprechenden Gefühle anderer Menschen und damit das erwünschte Verhalten ihnen gegenüber resultieren.92 Ein wichtiger Aspekt dieses unter Züchtigungsgegnern verbreiteten Ehrbegriffs war seine Universalität: Ehre und Ehrgefühl wurden grundsätzlich allen Kindern zugesprochen, und auch wenn die Vertreter dieser Position zugestanden, dass Fehlverhalten Ehrbarkeit schmälern könne, legten sie doch Wert darauf, dass nicht „durch sittliche Vergehen der sittliche Werth eines Menschen geradezu vernichtet“ werden könne.93 Dieser universelle, nicht einbüßbare „sittliche Werth“ des Menschen (als dessen Anerkennung Klett den Begriff „Ehrgefühl“ definierte) fällt nach heute gängiger Definition eher unter den Begriff der (Menschen-)Würde als den der Ehre – doch sind diese beiden Wörter „semantisch oft nur schwer voneinander zu scheiden“, auch und gerade in den Debatten um körperliche Strafen.94 So konnte nicht nur Ehre im absolut-universellen 90
91 92 93 94
Vgl. als einige Beispiele: „Darum weg mit jeder Behandlung, die das Ehrgefühl unserer Kinder und damit ein gesundes Selbstbewußtsein untergräbt“ (Franke: Gedanken, S. 345), „wir brauchen ein selbstbewußtes, ehrliebendes und verantwortungsfreudiges Geschlecht“ (v. Homeyer: Leserbrief zu „Prügel in der Schule“, in: Deutsche Allgemeine Zeitung Nr. 148 vom 29.3.1926); Körperstrafen widersprechen der „Erziehung zu einem gesunden Ehrgefühl, zu Sicherheit des Selbstgefühls und der Selbstachtung“ (Scheibe: Körperstrafe, Sp. 116). Zur Etablierung des so verstandenen Ehrbegriffs und von Selbstwertgefühl als Erziehungsziel vgl. auch Elder: Maß, S. 310 f. Klett: Lehrer, S. 15. Wettig: Problem, S. 41. Ähnlich: Klett: Lehrer, S. 15 f.; Trost: Pädagogik, S. 17; Bloh: Körperstrafen, S. 897. Klett: Lehrer, S. 15 f. Frevert: Politik, S. 20. Vgl. als Beispiel für die wenig trennscharfe Verwendung der beiden Begriffe Kaisers lapidare Erklärung, dass mit Entehrung und Entwürdigung das Gleiche gemeint sei, „da sich die Begriffe Ehre und Würde größtenteils decken“ (Züchtigungsrecht, S. 236). Burkhart (Geschichte, S. 16 f.) beklagt noch für die jüngste Zeit eine aus ihrer Sicht unzulässige Gleichsetzung oder Verwechslung der beiden Begriffe in Nachschlagewerken.
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Sinn verwendet werden, sondern umgekehrt auch Würde im relativierbaren, wenn es etwa in der Allgemeinen Deutschen Lehrerzeitung 1878 hieß, die menschliche Würde sei „nichts dem Menschen von Geburt an Anhaftendes, nichts Unverlierbares, sondern ein Werdendes, Wachsendes, etwas, das erst erworben werden muß und dessen man, wenn man es besitzt, wieder verlustig gehen kann“.95 Abstufungen und Relativierungen von Ehre
Die Trennlinie verlief also nicht zwischen den Begriffen Würde und Ehre, sondern entlang der Frage, ob das mit diesen Worten Bezeichnete jedem Kind immer zuzusprechen sei oder nicht. Mögliche Relativierungen bestanden dabei nicht nur in der geschilderten Abhängigkeit vom Verhalten, sondern auch in anderen Faktoren wie etwa sozialen Zuschreibungen – es sei nur an die Aussage des Reichsgerichts erinnert, Körperstrafen seien an niederen Schulen passend, wegen ihres ehrverletzenden Charakters, aber nicht „gegen junge Leute von Bildung“ anzuwenden.96 Die am häufigsten vorgenommene Abstufung basierte jedoch auf dem Alter: Dass Kinder bzw. Jugendliche erst ab einem gewissen Alter, sei es schon mit der Schulpflichtigkeit oder häufig auch erst mit Einsetzen der Pubertät, ein Ehrgefühl hätten, das durch Körperstrafen geschädigt werden könnte, und dass Züchtigungskritiker „den selbstbewußten erwachsenen Menschen mit dem kindisch-kindlichen“ verwechselten, war ein immer wieder genanntes Argument.97 Dagegen betonten Züchtigungsgegner die besondere Empfindlichkeit des deshalb umso schutzbedürftigeren Ehrgefühls von Kindern, das nur dann durch Züchtigungen nicht beeinträchtigt werde, wenn es bereits abgestumpft sei.98 Wenn Ehre vom Alter oder dem äußeren Verhalten abhängig gemacht wurde, so war dies zwar eine Relativierung, aber zumindest blieb Ehre potenziell für jeden Menschen erreichbar: In dem Maße, in dem das Kind älter wurde und/oder sein Verhalten den Normen anpasste, konnte es auch Ehre erwerben. Soziale Zuschreibungen waren schon schwerer zu überwinden, aber auch hier war ein Aufstieg in der sozialen Hierarchie und damit im Grad der Ehre zumindest denkbar. Grundsätzlich anders war dies beim nationalsozialistischen Ehrbegriff: 95
96 97 98
Gesell: Züchtigung, S. 14. Ein solches nicht universelles Verständnis entspricht einer bis in die Antike zurückreichenden Tradition des Begriffs. Vgl. etwa Pollmann: Menschenwürde, S. 29–31. Reichsgericht: Urteil vom 2.3.1909, RGSt, Bd. 42, S. 221 f. Zitat: Matthias: Pädagogik, S. 190. Vgl. außerdem beispielsweise Stengel: Würdigung, S. 110; Kaufmann, Züchtigungsrecht, S. 134; Kuhn, Grundrechte, S. 74. Vgl. beispielsweise: Sieber: Züchtigung, S. 560–561; Liefmann: Gedanken, S. 337–338; Schneider: Einführung, S. 190.
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Indem Ehre in der NS-Ideologie zum „Grundwert der nordischen Rasse“99 überhöht wurde, wurde die Ehrfähigkeit von vornherein nur bestimmten, rassistisch und biologistisch definierten Personengruppen zugeschrieben. Dies schlug sich auch in den Debatten zu Körperstrafen nieder, wenn etwa Georg Usadel davon ausging, „daß es Jugendliche mit schlechten Erbanlagen gibt, in denen die Ehre zu wecken unmöglich ist“.100 Hier wird deutlich, dass auch innerhalb des Personenkreises, dem Ehre potenziell zugestanden wurde, diese dennoch nicht als automatisch vorhanden galt, sondern ‚geweckt‘ werden musste. Vor allem aber war für Usadel der Appell an die Ehre und an die Furcht vor der Verachtung durch den Erzieher ein zentrales Erziehungsmittel, das nicht zuletzt (körperliche) Schulstrafen ersetzen sollte. Somit galt in der Schulerziehung im Kleinen, was Winfried Speitkamp für die nationalsozialistische Gesellschaft insgesamt feststellt: „Der Kampf um die Ehre war im ‚Dritten Reich‘ ein dynamisches und außerordentlich wirksames Instrument sozialer Ordnung, Kontrolle und Regulierung.“101 Hier handelte es sich um die Extremform eines äußerlich definierten, vom Verhalten abhängigen Ehrbegriffs, bei dem sich die „die Ehre des einzelnen [. . . ] durch seinen Wert für die Gemeinschaft, seinen sozialen Wert“ definierte.102 Auch wenn in nationalsozialistischen Stellungnahmen zu schulischen Körperstrafen das kindliche Ehrgefühl als schützenswertes Gut betont wurde, hatte es diesen Status nicht in erster Linie um seiner selbst willen, sondern vor allem wegen seines potenziellen Nutzens zur sozialen Kontrolle und Disziplinierung. Dieser funktionalistische Aspekt bedeutet, dass nationalsozialistische Pädagogen trotz der ähnlichen Wortwahl eben nicht genau das Gleiche meinten wie frühere, beispielsweise reformpädagogische, Körperstrafenkritiker, wenn sie wie diese forderten: „Weg mit jeder Behandlung, die das Ehrgefühl unserer Kinder und damit ein gesundes Selbstbewußtsein untergräbt!“103 Für die Idee einer tatsächlich jedem Individuum gleichermaßen innewohnenden, um ihrer selbst willen zu schützenden inneren Ehre wurde nach 1945 dagegen ein anderer Begriff bedeutsamer, dessen Verwendung in den Körperstrafendebatten im Folgenden genauer analysiert werden soll.
99 100 101 102 103
Schmitz-Berning: Vokabular, S. 163. Usadel: Erziehung, S. 242. Speitkamp: Ohrfeige, S. 213. Ebd., S. 193. Franke: Gedanken, S. 545. Vgl. zur nationalsozialistischen Verwendung von Ehre als Erziehungsmittel und deren rassischer Definition auch Ortmeyer: NS-Ideologie, S. 76.
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7.5 Menschenwürde
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7.5 Menschenwürde Menschenwürde und Ehre sind, wie auf den letzten Seiten deutlich geworden ist, nicht immer eindeutig voneinander abzugrenzen. Einer der klaren Unterschiede ist jedoch: Auch wenn Ehre durchaus eine Bedeutung als geschütztes Rechtsgut zukommt, wurde die Menschenwürde nach 1945 in ganz anderem Maße zu einem juristisch relevanten Begriff. Die extremen Ausmaße nationalsozialistischer Gräueltaten hatten die Schutzbedürftigkeit von Menschenwürde drastisch vor Augen geführt und führten zur Suche nach einer neuen völkerrechtlichen Ordnung sowie nach universellen Normen, die eine Wiederholung derartiger Verbrechen verhindern sollten. Als Legitimation und Grundlage einer solchen globalen Wertordnung bot sich der für verschiedene Deutungen offene und daher von unterschiedlichen kulturellen und politischen Positionen aus zugängliche Begriff der Menschenwürde an, der nun erstmals in einen engen Begründungszusammenhang mit der Idee der Menschenrechte gebracht wurde.104 Diese Entwicklung der Menschenwürde zur Grundlage der Menschenrechte und zum verfassungsrechtlichen Leitprinzip vollzog sich auch und gerade in Deutschland, am augenfälligsten natürlich in der Formulierung des Artikels 1, Absatz 1, des Grundgesetzes („Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“), aber auch bereits kurz zuvor in verschiedenen Landesverfassungen.105 Allerdings bedeutete die große Anschlussfähigkeit des Begriffs für unterschiedliche Deutungen auch, dass er als Rechtsbegriff stets interpretationsbedürftig blieb und verschiedene Auslegungen miteinander konkurrierten.106 Großen Einfluss auf die früheren Debatten um die Auslegung des ersten Grundgesetzartikels hatten die Arbeiten von Günter Dürig.107 Bemerkenswert ist, dass gerade dieser bedeutende Grundgesetzkommentator in Bezug auf das Züchtigungsrecht eine Position vertrat, die sich im juristischen Diskurs zunächst nicht durchsetzen konnte: Für ihn waren körperliche Strafen nicht nur ein Verstoß gegen das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, sondern auch mit der Menschenwürde nicht vereinbar (und deshalb auch nicht durch ein Gesetz legitimierbar). Dass dieser Faktor in den
104
105 106 107
Vgl. Lohmann: Kraft, S. 46–49; Pollmann: Menschenwürde, S. 31 f. Eingang in die (internationale) Rechtssprache fand der Begriff insbesondere durch die Charta der Vereinten Nationen (1945) und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948). Vgl. hierzu ausführlich: Tiedemann: Menschenwürde, S. 9–70. Vgl. Wetz: Illusion, S. 61–63 bzw. detailliert zum Einzug des Begriffs ins Grundgesetz S. 80–90. Vgl. hierzu zuletzt am Fallbeispiel bundesrepublikanischer Embryodebatten Theuke: Embryo. Vgl. Wetz: Illusion, S. 96.
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juristischen Debatten zuvor keine Rolle gespielt hatte, erklärte Dürig damit, dass die Menschenwürde erst nach 1945 zu einer rechtlichen Kategorie geworden war. Doch „in der pädagogischen Literatur dient der Wertbegriff der Menschenwürde seit langem als Maßstab, an dem das körperliche Züchtigungsrecht des Lehrers bewertet wird. Bei der Ausfüllung eines dem Juristen noch ungewohnten Wertbegriffs darf die Meinung der Pädagogik, die dem hier interessierenden Problem natürlich viel näher steht, nicht unbeachtet bleiben.“108 Tatsächlich wurde in pädagogischen, aber auch öffentlichen Debatten seit Beginn des Untersuchungszeitraums immer wieder die Frage der Vereinbarkeit von Menschenwürde und Körperstrafen thematisiert. Dabei wurden zum Teil verwandte Begriffe in einem Sinn verwendet, der weitgehend heute gängigen Definitionen von Menschenwürde entspricht, wie es für „Ehre“ bzw. „Ehrgefühl“ bereits beschrieben wurde. Daneben wurde aber während des gesamten Zeitraums auch ganz explizit von Menschenwürde gesprochen. Insofern war Dürigs Hinweis, dass Pädagogen schon früh die Menschenwürde als Maßstab für die Bewertung körperlicher Strafen gefordert hatten, berechtigt.109 Allerdings war diese Position keinesfalls „seit langem“ von allen, ja nicht einmal von der Mehrheit der Pädagogen geteilt worden. Häufiger wurde sie bis in die ersten Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts hinein als übertriebene, „unnatürlich[e] Betonung der menschlichen Würde“ abgelehnt und als „Humanitätsdusel“ diffamiert.110 So wie das eng verwandte Konzept der Ehre galt auch Menschenwürde vielen Autoren als relativierbar. Zwar nahm mit der Reformpädagogik die Bedeutung der Menschenwürde als Argument gegen Körperstrafen zu, wenn beispielsweise Friedrich Wilhelm Foerster oder Friedrich Paulsen Körperstrafen unter anderem mit dem Argument ablehnten, dass sie „dem Menschen seine Würde als Vernunftwesen absprechen und mit ihm als mit einem Objekt hantieren“.111 Ende der 1920er Jahre diagnostizierte der Pädagoge Heinrich Deiters: „Für sehr viele Menschen unserer Zeit steht die körperliche Züchtigung in grundsätzlichem Widerspruch mit ihrem Gefühl von Menschenwürde, und ihre Zahl wird wachsen.“112 Doch 108 109 110
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112
Dürig: Art. 2 Abs. II, S. 109, Rdnr. 48. Vgl. als Beispiele: Sack: Prügelpädagogen, S. 9 u. S. 15; Barth: Elemente, S. 70 f.; Paulsen: Pädagogik, S. 90. Zitat: Stengel, Würdigung, S. 110, vgl. außerdem beispielsweise: Matthias: Pädagogik, S. 190; Die körperliche Züchtigung, in: Schulblatt für die Provinz Brandenburg 64 (1899), S. 465–469; G. M.: Öffentliche Urteile über die körperliche Züchtigung in unseren Schulen, in: Pädagogische Zeitung 33 (1904), S. 139–140. Zum Vorwurf der „Humanitätsduselei“ vgl. S. 76 dieser Arbeit. So die Formulierung von Paulsen: Pädagogik, S. 90, mit ihrer auffälligen sprachlichen Nähe zur späteren „Objektformel“ („Die Menschenwürde als solche ist getroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird“, Dürig: Grundrechtssatz, S. 127), die seit Dürig die Auslegung(-sdebatten) des Art. 1 GG prägt. Deiters: Schulstrafen, S. 638.
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7.5 Menschenwürde
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bestätigt gerade der zweite Teil des Satzes indirekt, dass „sehr viele“ eben nicht ‚(nahezu) alle‘ oder auch nur ‚die meisten‘ bedeutete. Tatsächlich gab es bis in die 1920er Jahre sogar Züchtigungsgegner, die den Verweis auf die Menschenwürde ausdrücklich nicht als Einwand gegen Körperstrafen gelten lassen wollten.113 Dass Menschenwürde wirklich in nahezu der gesamten pädagogischen Literatur als entscheidender Maßstab für die Bewertung körperlicher Strafen herangezogen wurde, galt somit erst nach 1945 – also erst zu der Zeit, als dieser Begriff seinen grundsätzlich neuen Stellenwert im internationalen philosophischen, vor allem aber politischen und juristischen Diskurs erhalten hatte. Der neue Status der Menschenwürde hatte direkten Einfluss auf die Debatten um Schulstrafen: „[O]b die körperliche Züchtigung auf diesem weltweiten Hintergrunde des gegenwärtigen Ringens um Menschenrecht und Menschenwürde überhaupt noch tragbar und verantwortbar ist“, war nun eine nicht nur in pädagogischen Zeitschriften diskutierte Frage.114 Auch der hessische Kultusminister begründete sein Züchtigungsverbot mit dem Ziel, dass „die Menschenwürde und die Menschenrechte in der Schule gewahrt werden“ sollten.115 Die Gegner körperlicher Strafen beriefen sich immer wieder auf Menschenwürde als neues Leitprinzip eines aufzubauenden demokratischen Staats116 , zum Teil aber auch auf die ältere Argumentation, dass Körperstrafen dem Kind seine Würde als vernunftbegabtes Wesen absprächen und somit entehrend wirkten.117 Vereinzelt verwiesen sie zudem auf das aus der Gottes-Ebenbildlichkeit abgeleitete christliche Verständnis von Menschenwürde.118 Während es in den 1920er Jahren noch möglich gewesen war, ein Züchtigungsverbot zu fordern, ohne das Argument der Menschenwürde anzuerkennen, galt nun das Umgekehrte: Auch diejenigen, die körperliche Schulstrafen nicht vollständig verboten sehen wollten, stimmten dennoch überein, dass sie der Menschenwürde widersprächen und deshalb ihre Abschaffung anzustreben sei.119 Sie wechselten jedoch die Argumentationsebene, indem sie die Frage der alltäglich-praktischen Umsetzbarkeit des in der Theorie als wünschenswert 113 114 115 116
117 118
119
Vgl. Kerschensteiner: Strafgeist, S. 12; Sieber: Züchtigung, S. 562. Stauß: Gedanken, S. 629. MEV an Elternbeirat Usingen, 13.12.1950, HHStAW 504, 3384, Bl. 72. Vgl. etwa: Ludwig Mütze, Einschränkung oder Ausweitung der Erziehungsmittel der Volksschule?, in: Hessische Lehrerzeitung 3 (1950), S. 101–102, hier S. 101; G. B. an den Präsidenten des II. Senates des Bundesgerichtshofs, 8.11.1957 (Abschrift), HHStAW 504, 3384. Vgl. etwa Schohaus: Strafe, S. 718; Gabert: Strafe, S. 65 f.; Oskar Vogelhuber: Vom Unsinn der Prügelstrafe, in: Lebendige Erziehung 4 (1954–55), S. 323–324. Vgl. Kraushaar: Strafe, S. 161; David Gathen: Das Züchtigungsrecht. Das Problem der Strafe und die Begründungen des B. G. H., in: Der katholische Erzieher (1955), S. 56–62, hier S. 58–59. Vgl. Stauß: Gedanken, S. 630; Die Meinung eines Landlehrers, in: Die Schulwarte 2 (1949), S. 485–490, hier S. 486–490.
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akzeptierten Ziels in den Mittelpunkt rückten und beispielsweise auf die schlechten Rahmenbedingungen im Schulwesen verwiesen. Blieb man auf der Ebene des Wünschenswerten, so war es dagegen nun nicht nur undenkbar, Menschenwürde als „ganz hohle[n] Begriff, hinter dem Schreibtisch erfunden“, oder als eine der „Redensarten [. . . ] unserer verweichlichten Zeit“ zu diffamieren, wie es zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch geäußert werden konnte.120 Auch Relativierungen wie die, dass sie Kindern noch nicht in vollem Umfang zuzuschreiben sei oder durch „unwürdiges“ Verhalten verwirkt werden könne, waren mit dem nun dominanten Verständnis von Menschenwürde nicht vereinbar – denn ein Menschenwürde-Begriff, der Menschenrechte begründen soll, muss für alle Menschen gleichermaßen und ohne Bedingungen oder Voraussetzungen gelten.121 Dieses universelle, somit auch altersunabhängige Verständnis von Menschenwürde prägte zunehmend den pädagogischen Diskurs: So klagte der Schriftleiter der Allgemeinen Deutschen Lehrerzeitung Karl Bungardt 1951, dass Kinder bisher in den Debatten über Menschenwürde vernachlässigt worden seien und sich erst allmählich ein Bewusstsein für Würde und Menschenrechte Heranwachsender rege. Programmatisch formulierte er Artikel 1 GG im Sinne seiner Forderung um: „Die Würde des Menschen, auch und erst recht des heranwachsenden Menschen, zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“122 Mochte auch die Erkenntnis, dass auch Kinder zu achtende Menschenwürde besaßen, nach Bungardts Ansicht zu Beginn der 1950er Jahre noch zu wenig beachtet werden – ausdrücklich widersprochen wurde ihr in den Debatten nach 1945 nicht mehr. Diskutiert werden konnte lediglich noch darüber, ob körperliche Schulstrafen tatsächlich diese Menschenwürde angriffen. Dies wurde in (theoretischen) pädagogischen Debatten kaum explizit in Zweifel gestellt, in juristischen jedoch umso mehr. Denn während in der pädagogischen Diskussion einige Autoren zwar Körperstrafen als Verletzung der Menschenwürde werteten und deshalb deren Abschaffung anstrebten, sie aber für in der Praxis noch nicht vollständig umsetzbar hielten, war eine solche Relativierung in der juristischen Bewertung kaum möglich: Wenn man hier einen die Menschenwürde verletzenden Charakter von Körperstrafen bejahte, konnte man Lehrern auch kein Züchtigungsrecht zugestehen, da dieses dann dem Grundgesetz widerspräche. Diese Konsequenz dürfte dazu beigetragen haben, dass Juristen die Menschenwürde als Maßstab eben nicht so bereitwillig von den Pädagogen übernahmen, wie Dürig es forderte. Zwar hatten kurz vor und nach dem BGH-Urteil von 1954 mehrere Juristen die Menschenwürde gegen Körperstrafen ins Feld geführt,123 doch stießen sie in den folgenden Jahren immer stärker auf Widerspruch. Der 120 121 122 123
So Kiefer: Prügelstrafe, S. 6; Gottschalk: Auswüchse, S. 523. Vgl. Lohmann: Kraft, S. 49. Bungardt: Thema, S. 238. Vgl. Mielke: Züchtigung; Kopp: Urteil, S. 319; Steinhauer: Züchtigung, S. 5–6.
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7.5 Menschenwürde
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Oberstaatsanwalt am BGH Max Kohlhaas etwa wies 1958 den Verweis auf Artikel 1 GG zurück, „weil dieser Grundrechtsgedanke weit schwerwiegendere Dinge erfaßt als die leichten Schläge eines Lehrers, die ein momentanes Unlustgefühl hervorrufen“.124 Auch der Bundesgerichtshof erklärte 1957 Körperstrafen für vereinbar mit dem Grundgesetz, indem er die Frage, was der Menschenwürde entspreche, von den „in der Rechtsgemeinschaft herrschenden sittlichen Anschauungen“ abhängig machte und feststellte, dass diese bisher Körperstrafen als nicht entwürdigend bewertet hätten.125 Spätestens seit diesem Urteil war die Auffassung, dass schulische Körperstrafen nicht die grundgesetzlich geschützte Menschenwürde verletzten, in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft vorherrschend – auch wenn ihr immer wieder einzelne Juristen widersprachen, besonders leidenschaftlich etwa Fritz Bauer.126 Es ist bezeichnend, dass ein offener Brief der Humanistischen Union 1969 die zu Beginn dieses Kapitels zitierte Forderung Dürigs, die Rechtswissenschaft müsse bei der Bewertung von Körperstrafen endlich den in der Pädagogik üblichen Maßstab der Menschenwürde übernehmen, nahezu wörtlich (und ohne Kennzeichnung als Zitat) übernehmen konnte, obwohl seit ihrer ersten Veröffentlichung bereits 11 Jahre vergangen waren.127 An der dominierenden juristischen Bewertung hatte sich noch nichts geändert – doch in den pädagogischen und öffentlichen Debatten spielte das Argument der Menschenwürde nun wieder eine ähnlich wichtige Rolle wie in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren. Beispielsweise begann die SPD-Abgeordnete Lucie Kölsch 1970 im rheinlandpfälzischen Landtag ihre Rede, in der sie für ein gesetzliches Züchtigungsverbot plädierte, mit Artikel 1, Absatz 1, des Grundgesetzes – und fügte hinzu: „Altersgrenzen sind im Grundgesetz nicht gezogen“.128 Nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in den juristischen Debatten gewann der Verweis auf den ersten Grundgesetzartikel allmählich wieder an Überzeugungskraft. Wenn im Laufe der 1970er Jahre zunächst vereinzelte, dann 124
125 126 127 128
Kohlhaas: Recht, S. 406. Vgl. auch Peter Leifert: Das Züchtigungsrecht des Lehrers, in: Recht und Wirtschaft der Schule 2 (1962), S. 328, hier S. 333; Kuhn: Grundrechte, S. 73– 74. Auch Juristen, die das Züchtigungsrecht dann als überschritten ansahen, wenn die Bestrafung die Menschenwürde verletze, implizierten damit, dass dies bei einer innerhalb üblicher Grenzen bleibenden Züchtigung nicht der Fall sei. So etwa: O. Schmelzer: Das Züchtigungsrecht als Rechtfertigungsgrund, in: Zeitschrift für Beamtenrecht 4 (1956), S. 388–389, hier S. 388; Helmut Hartmann: Die Züchtigungsbefugnis der Lehrer sowie der Erzieher in der Berufsausbildung und in Heimen, in: Recht der Jugend 13 (1965), S. 228, hier S. 303. Urteil des BGH, 2. Strafsenat, vom 23.10.1957, in: BGHSt, Bd. 11, S. 241–263, S. 254. Vgl. Bauer: Züchtigung, S. 306; Kaiser: Züchtigungsrecht, S. 235–240. Humanistische Union Ortsverband Mannheim-Ludwigshafen, Offener Brief an Kultusminister Dr. Vogel, in: Die Rheinpfalz/Speyerer Rundschau Nr. 241 vom 17.10.1969. Landtag Rheinland-Pfalz, 59. Sitzung, 19.3.1970, Stenographische Berichte, 6. Wahlper. 1967/71, S. 2199.
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aber immer mehr Lehrbücher, Kommentare und Gerichtsurteile Zweifel an der gewohnheitsrechtlichen Züchtigungsbefugnis von Lehrern anmeldeten und dabei mit den Grundrechten des Kindes argumentierten, war der naheliegendste Einwand natürlich das im Artikel 2 Absatz 2 GG garantierte Recht auf körperliche Unversehrtheit. Doch immer häufiger wurde außerdem die Argumentation von Dürig und anderen aufgegriffen, dass Körperstrafen auch mit Artikel 1 nicht vereinbar seien.129 Dennoch wurde in einer strafrechtlichen Klausurenlehre als Musterlösung eines Falls zum Züchtigungsrecht noch 1975 die Argumentation vorgeschlagen, eine körperliche Strafe verletze nicht die Menschenwürde, denn da sie „der Erziehung und damit dem Besten des Kindes dient, wird dieses gerade nicht als Sache, sondern als (noch entwicklungsbedürftige) Person behandelt“.130 Allerdings bewerteten die Autoren diese von Körperstrafen als sinnvollem Erziehungsmittel ausgehende Position selbst als „sehr strittig“. Ein anderer juristischer Kommentator wandte ein, „daß die Formel, jeder Schlag gegen ein Kind verstoße gegen die Menschenwürde, die seelische Verarbeitung erschwert“.131 Andere lehnten zwar das Züchtigungsrecht als unvereinbar mit dem Grundgesetz (Artikel 2) ab, bewerteten aber nicht jede Körperstrafe per se, sondern nur bestimmte Formen (z. B. in der Öffentlichkeit oder auf nackte Körperteile) oder „Drauflosprügeln“ als Verletzung der Menschenwürde.132 Auch in den 1970er Jahren war also die Frage, wo die Grenzen der Menschenwürde lagen und ob sie von Körperstrafen angetastet wurden, unter Juristen – anders als in den pädagogischen und politischen Debatten, wo dem Verweis auf Menschenwürde seit 1945 kaum noch offen widersprochen wurde – durchaus strittig. Der gestiegene Stellenwert von Menschenwürde und -rechten kann für sich allein genommen das Ende des Züchtigungsrechts also nicht erklären, sondern nur im Zusammenwirken mit weiteren Veränderungen.
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130 131 132
Dies hatte eine praktische juristische Konsequenz: Gemäß Art. 19 Abs. 2 GG dürfen Grundrechte auch durch Gesetze nicht in ihrem Wesensgehalt – worunter meist der „Menschenwürdegehalt“ verstanden wird (vgl. Dürig, S. 108) – angetastet werden. Wenn also Körperstrafen diesen Menschenwürdegehalt des Rechts auf Unversehrtheit verletzten, wären sie nicht einmal durch Gesetz und erst recht nicht durch Gewohnheitsrecht zu legitimieren. Roxin/Schünemann/Haffke: Klausurenlehre, S. 78. Karstendiek: Nochmals: Züchtigungsrecht, Zitat S. 334. Hinrich Rüping/Uta Hüsch: Abschied vom Züchtigungsrecht des Lehrers, in: Goltdammer’s Archiv für Strafrecht 126 (1979), S. 1–10, hier S. 4–5.
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7.6 Gewalt(-losigkeit)
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7.6 Gewalt(-losigkeit) Körperstrafen grundsätzlich abzulehnen, ganz unabhängig von Fragen der pädagogischen Nützlichkeit schon aufgrund der Tatsache, dass sie körperliche Gewalt darstellen, ist nicht nur einer der naheliegendsten Einwände gegen diese Strafart, sondern auch der mit der größten Kontinuität: Dass die „Prügelstrafe“ stets brutal, barbarisch und roh sei, stand für ihre Gegner 1869 genauso fest wie hundert Jahre später. Auch das Argument, dass sie verrohend wirke und ein falsches erzieherisches Signal setze, indem sie Gewaltanwendung und Recht des Stärkeren legitimiere, findet sich gleichermaßen ganz am Beginn wie am Ende des Betrachtungszeitraums: Die Schule sollte „sich hüten, der Geltendmachung physischer Kraft dem Nächsten gegenüber irgend einen Schein von Berechtigung zu verleihen; statt dessen erzieht die Schule die Jugend durch ihren Vorgang zur Gewaltthätigkeit“, warnte Carl Klett als pädagogischer Außenseiter bereits 1869.133 Das Schöffengericht Dortmund formulierte 1979 mit etwas anderen Worten exakt dieselbe, nun kaum umstrittene Botschaft: „Was kann mittels Körperverletzung zu einer Änderung gezwungene Jugendliche später davon abhalten, selbst Gewalt anzuwenden, um einen bestimmten Erfolg zu erzielen? Das Kind sollte durch Erziehung lernen, daß Einsicht und Verständigung, nicht aber Gewalt geeignete Wege sind, eigene Absichten zu verwirklichen.“134 Dass die als Kind erlittene Gewalt die Gefahr eigener Gewalttätigkeit erhöhe, nach Ellen Key sogar den „Grund zur Kriegslust“ lege, war ebenfalls ein traditionsreiches Argument.135 Dieser zunächst oft ohne weitere Begründung angeführte Zusammenhang gewann mit der Rezeption von Psychologie und Psychoanalyse, welche die nachdrückliche Wirkung von Kindheitserfahrungen betonten, argumentatives Gewicht.136 Genauso lang wie die Tradition der Ablehnung jeglicher körperlicher Erziehungsgewalt ist die der Versuche ihrer Befürworter, Körperstrafen aus dem sprachlichen und gedanklichen Kontext der Gewalt zu lösen. Dies zeigte sich 133 134
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Klett: Lehrer, S. 11. Schöffengericht Dortmund, Zum Wegfall des die Züchtigungsbefugnis des Lehrers tragenden Gewohnheitsrechts, in: Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt 67 (1979), S. 235–239, Zitat S. 237. Key: Jahrhundert, S. 159. Vgl. beispielsweise auch Mertens: Schläge, S. 41; Körperliche Züchtigung in der Volksschule, in: Pädagogische Zeitung 33 (1904), S. 249. So verwies etwa Heinrich Meng (Zwang, S. 39 f.) auf ein Freud-Zitat: „‚Was man passiv erlebt, ist man bestrebt, aktiv auszuleben.‘ Diese Einsicht erhöht unser Verständnis für die Wirkung der Strafe und besonders für die verrohende Wirkung der Prügelstrafe.“ Vgl. auch Thaetner: Erziehung, S. 36. Für einen Überblick zur heutigen Bewertung dieses Zusammenhangs vgl. die von Dollase: Erziehung (S. 18), zitierte Literatur sowie als Beispiel für eine neuere Studie, die aus kriminologischer Sicht einen Zusammenhang zwischen erlittener Erziehungsgewalt und eigener Gewalttätigkeit belegt, Pfeiffer/Beckmann: Hiebe.
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7. Längsschnitte
am Anfang des Untersuchungszeitraums im verbreiteten Reden von Körperstrafen als Ausdruck der Liebe zum Kind, das Heinze/Heinze als „aestheticization of violence“ beschreiben.137 Allerdings greift dieser Begriff fast schon zu kurz, denn es ging weniger darum, Gewalt positiv darzustellen, als darum, den Gewaltcharakter körperlicher Strafen überhaupt zu leugnen. Dass körperliche Gewalt nicht als solche angesprochen wird, wenn sie als kulturell legitimiert empfunden wird, ist ein nicht nur hier anzutreffendes Phänomen.138 In den Debatten über körperliche Strafen geschah dieses Leugnen des Gewaltcharakters nicht nur auf der Ebene der Wortwahl, sondern vor allem durch kontrastierende Abgrenzung: Ein ehemaliger Leiter eines schlesischen Gymnasiums und Verfasser zahlreicher pädagogischer Abhandlungen fasste 1879 die beiden Standpunkte treffend zusammen, wenn er erklärte, die Gegner der Züchtigung pflegten diese „kurzweg ‚Prügelstrafe‘ zu nennen, um schon durch die Benennung ihre Verwerflichkeit anzudeuten und ihre Anwendung als Barbarei zu brandmarken“.139 Dabei seien offenbar Überschreitungen des Züchtigungsrechts gemeint, „und insofern kann man den Eiferern gegen dieselbe als gegen eine wirkliche Prügelstrafe nur vollkommen beistimmen“. Doch eine Züchtigung „in richtiger Beschränkung und Anwendung“ mit der Rute oder einem dünnen Stock sei im Gegensatz zu Schlägen mit der Hand oder Ziehen an Haaren oder Ohren eben keine solche „wirkliche Prügelstrafe“, sondern ein für die Erziehung manchmal notwendiges Mittel. Über den gesamten Betrachtungszeitraum lässt sich das gleiche grundlegende Muster feststellen: Züchtigungsgegner betonten den Gewaltcharakter aller körperlicher Strafen, wogegen die Befürworter versuchten, die von ihnen als legitim gesehenen maßvollen Züchtigungen von brutalem „Prügeln“ zu distanzieren und so aus dem sprachlichen und konzeptionellen Kontext „Gewalt“ zu lösen. Doch trotz aller Kontinuität zeigen sich bei genauem Hinsehen doch subtile Veränderungen, insbesondere bei den Verteidigern körperlicher Strafen: In den ersten Jahrzehnten des Untersuchungszeitraums trennten noch keineswegs alle Autoren die Begriffe „Prügelstrafe“ und „körperliche Züchtigung“ so scharf wie der zitierte Schuldirektor. Vielmehr beschrieben bis weit ins 20. Jahrhundert hinein auch einige Befürworter körperlicher Strafen die aus ihrer Sicht legitimen Erziehungsschläge ganz selbstverständlich als „Prügelstrafe“140 – das vielleicht auffälligste Beispiel ist Otto Kiefer, der sein Anti-Körperstrafen-Buch 137 138
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Heinze/Heinze: Corporal Punishment, S. 64, siehe auch S. 49 dieser Arbeit. So stellt z. B. Wood (Violence, S. 10) fest: „Physically aggressive acts that are in some way culturally legitimated are often labeled (at least by some groups) as something other than ‚violence‘.“ Vgl. zur kulturell bedingten „Codierung“ von Gewalt auch Christ: Merkmale, S. 190. Andreas Ritter von Wilhelm: Noch ein Wort über die körperliche Züchtigung, in: Deutsche Blätter für erziehenden Unterricht 6 (1879), S. 333. Dort auch die folgenden Zitate. Vgl. etwa G. Steffens: Die Prügelstrafe in der Schule, in: Der Klassenlehrer 5 (1911), S. 230–
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„Die körperliche Züchtigung“ betitelte, ausgerechnet seine spätere Verteidigung dieser Strafart aber „Die Prügelstrafe in der Erziehung“ nannte. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert war es also, trotz der idealisierenden, den Gewaltcharakter leugnenden Darstellung mancher Pädagogen, durchaus noch möglich, Erziehungsgewalt ausdrücklich als solche anzusprechen und dennoch als legitim zu sehen. Dies galt nicht nur für die Verwendung des Wortfelds „Prügeln“, sondern zeigt sich auch, wenn Schmerzen und Verletzungen wie Blutergüsse oder Schwellungen ganz offen als natürliche, unproblematische Folgen einer angemessenen Bestrafung geschildert wurden. Ein solch offenes Ansprechen des Gewaltcharakters von Körperstrafen wurde bereits in den 1920er Jahren immer seltener. Gänzlich unangemessen schien es vielen nach den Gewalterfahrungen der NS-Zeit. Diese Haltung fasste die Süddeutsche Zeitung 1947 treffend zusammen, als sie die von Hundhammer angestoßene Debatte über die Wiedereinführung körperlicher Strafen kritisierte: Es wirke nach außen, als fehle in Bayern das Gefühl dafür, dass „[n]ach einer Zeit der staatlich konzessionierten und geförderten Grausamkeit; nach einer Zeit, da in den Konzentrationslagern die Prügelstrafe gang und gäbe war, [. . . ] viele Themen öffentlich diskutiert werden können, eines aber ganz bestimmt nicht: das der Prügelstrafe“.141 Freilich zeigt die bloße Existenz der bayerischen Debatte, dass längst nicht alle Körperstrafen nun für ein indiskutables Thema hielten. Dennoch hatte in den unmittelbaren Nachkriegsjahren, ganz ähnlich wie es für den Wert der Menschenwürde bereits geschildert wurde, auch Gewaltfreiheit „angesichts des geistig-sittlichen Ringens der Gegenwart um eine allgemeine Humanisierung des Zusammenlebens der Menschen“ in Abgrenzung von den Gräueltaten der vorangegangenen Jahre einen besonderen Stellenwert.142 Der Verzicht auf körperliche Gewalt in allen Lebensbereichen war für viele Kommentatoren nun ein nicht relativierbarer, handlungsleitender Wert. Angesichts dieser gewachsenen Ablehnung körperlicher Gewalt mussten Lehrer, die auf Körperstrafen nicht verzichten wollten, diese umso intensiver vom Vorwurf der Brutalität abgrenzen. Es ist kein Zufall, dass nach 1945 die Bezeichnung „Prügelstrafe“ durchgehend abgelehnt und vehementer denn je zuvor als diffamierend zurückgewiesen wurde.143 Stattdessen tauchten nun verstärkt
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231; als späteres Beispiel: Bayerischer Landtag: 88. Sitzung, 31.7.1930, Stenographischer Bericht 1928–32, Bd. 4, S. 433. Das Streiflicht, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 52 vom 14.6.1947, S. 1. Zitat: Stauß: Gedanken, S. 628. Als weitere Beispiele: Willy Piehler: Masse und Menschlichkeit, in: FAZ vom 11.12.1954, Bild und Zeit 4; Müller: Leserbrief. Vgl. auch Gerd Biermanns rückblickende Diagnose, die Lehrerschaft sei nach 1945 „zunächst, erschreckt durch die gewalttätigen Erfahrungen des Naziregimes, von einem grenzenlosen Humanismus in der Erziehung, frei von jeglicher tätlicher Strafhandlung überzeugt“ gewesen (Kindeszüchtigung, S. 19). Vgl. z. B.: BStMUK an Radio München, 10.3.1949, BHStAM, MK 61940; Lipp, Wilhelm: Die
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Euphemismen wie „ernste Strafe“, „Erziehung mit körperlichen Mitteln“ oder „körperliche Erziehungsmaßregeln“ auf.144 Schon auf der sprachlichen Ebene zeigt sich also eine Verengung der Grenzen des Akzeptablen: Körperliche Gewalt zu Erziehungszwecken konnte im 20. Jahrhundert und vor allem nach 1945 nur noch legitimiert werden, wenn sie möglichst wenig als solche angesprochen wurde. Die Wortwahl ist freilich nicht die einzige Möglichkeit, körperliche Übergriffe möglichst wenig als „Gewalt“ wirken zu lassen. Wie die Untersuchung pädagogischer Lexika aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gezeigt hat, geschah das Herauslösen von Körperstrafen aus dem Kontext der Gewalt nicht zuletzt durch eine historische Argumentation, in der die zeitgenössische ‚Schulzucht‘ mit früheren Praktiken kontrastiert wurde. Je stärker dabei die Brutalität der Vergangenheit betont wurde, umso fortschrittlicher und gemäßigter erschien dadurch im Vergleich die eigene pädagogische Position – selbst wenn diese auf Körperstrafen nicht verzichten wollte. Eine wichtige Rolle als Unterscheidungskriterium zwischen ‚wirklicher Prügelstrafe‘ und legitimer, nicht als Gewalt angesprochener Züchtigung spielte dabei die Frage der Kontrolliertheit: Für den oben zitierten Exschuldirektor (und viele andere) waren es Schläge mit der bloßen Hand oder das Ziehen an Haaren und Ohren, also eher spontane Formen von Gewalt gegen Schüler, die als unzulässig galten. Auch die Verurteilung besonders häufiger körperlicher Strafen, wie sie sich im immer wieder mit Sensationslüsternheit, aber vor allem distanzierender Ablehnung vorgetragenen Beispiel des Lehrers Häuberle zeigt, kann in diesen Kontext gesetzt werden – schließlich implizierte eine solche Praxis, dass der Lehrer Körperstrafen eben nicht mit der geforderten Überlegung gemäß pädagogischer Notwendigkeit, sondern als quasi reflexhafte Reaktion auf kleinste Anlässe ausführte. Vor allem aber lehnten nahezu alle theoretischen Texte und, wie die Betrachtung von Einzelfällen aus dem 19. Jahrhundert gezeigt hat, auch Gerichte und Schulbehörden in ihrer alltäglichen Beurteilungspraxis im Zorn ausgeführte Strafen ab. Dass die Grenze zwischen inakzeptablen und legitimen Handlungen anhand der darin zum Ausdruck kommenden Wut oder aber Selbstkontrolle gezogen wurde, ist ein Muster, das auch John Carter Wood in seiner Untersuchung zu Gewalt und Kriminalität im England des 19. Jahrhunderts festgestellt hat: „Labeling a particular form of behavior as the product of ‚impulse‘ or ‚rage‘ was part of the way refined social commentators drew a boundary between acceptable and unacceptable actions: the self-controlled and rational individual was defined by his or her ability to
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‚Prügelstrafe‘, in: Hessische Lehrerzeitung 3 (1950), S. 27; Entwurf „Recht der körperlichen Züchtigung – nicht ‚Prügelstrafe‘“ [ca. 1951], BHStAM, BLLV 916; Schaller: Sinn, S. 306. In Reihenfolge der Zitate: Mayer: Züchtigungsrecht, S. 471; Redelberger: Züchtigungsrecht (1952), S. 1161; Steinhauer: Körperstrafe, S. 254.
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restrain such affects.“145 Wood fasst diese Beobachtung theoretisch mit Norbert Elias’ Konzept des Zivilisationsprozesses, der für Elias in einer langfristigen Zunahme der gesellschaftlich geforderten (Selbst-)Kontrolle über Affekte wie Sexualität oder eben Gewalt besteht.146 Mehrere Aspekte der Körperstrafenkritik am Anfang des Betrachtungszeitraums erinnern an die „civilizing offensive“, wie sie Wood für das England des 19. Jahrhunderts beschreibt,147 etwa die Zurückweisung körperlicher Strafen als roh, barbarisch und inhuman, die Gleichsetzung von schlagenden mit schlechten und ungebildeten Lehrern148 – und vor allem eben die Distanzierung vom Schlagen in Affekt. Gegen Ende des Betrachtungszeitraums war Spontaneität dagegen gerade ein Merkmal der noch akzeptierten Gewaltformen: Nun war es eben nicht die planmäßige, kontrollierte Züchtigung, sondern die in der konkreten Unterrichtssituation ‚ausrutschende Hand‘, für die Straffreiheit gefordert wurde. Dahinter stand nicht nur das Bedürfnis, „temperamentvolle“ Lehrer vor Strafe wegen einer einzelnen unüberlegten Überreaktion zu schützen,149 sondern auch die Überlegung, dass gerade ein spontaner Schlag Schüler schockieren, ihnen imponieren und eine Grenze klar machen und so erzieherisch wirken könne.150 Stellvertretend für diese gewandelte Sichtweise steht die Bewertung der Ohrfeige, die nun als vergleichsweise unproblematische spontane ‚kleine Gewalt‘ angesprochen wurde, die mit einer körperlichen Züchtigung oder gar Prügelstrafe nicht zu vergleichen sei. Dagegen war im 19. und frühen 20. Jahrhundert noch vor allem die besonders große Verletzungsgefahr bei Schlägen gegen den Kopf betont worden, weshalb Ohrfeigen meist verpönt und in vielen Schulordnungen ausdrücklich verboten waren.151 Diese veränderte Bewertung von Ohrfeigen zeigt, wie sich das Verhältnis von Gewalt und Erziehung gewandelt hatte: Die Vorstellung des 19. Jahrhunderts, dass körperliche Übergriffe durch Erzieher im Interesse des Kindes lägen und so eher dem Kontext der Liebe als dem der Gewalt zuzuordnen seien, falls sie bewusst in erzieherischer Absicht und nicht im Zorn erfolgten, war spätestens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vollständig diskreditiert. Gewalt konnte in öffentlichen Debatten nur noch als situative, spontane
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Wood: Violence, S. 145. Vgl. ebd., S. 15 f.; Elias: Prozeß, insb. Bd. 2, S. 323–347. Für eine ausführliche (kritische) Diskussion von Elias’ Theorie aus heutiger Sicht vgl. außerdem Koloma Beck: Mythos, sowie Evans: Rituale, S. 1065–1071. Wood: Violence, S. 144. Vgl. etwa Schumann: Schulzucht, S. 33 f.; Penzig: Prügel, S. 130. So die Wortwahl von Mayer: Züchtigungsrecht, S. 469. Vgl. auch Stettner: Problematik, S. 56. Vgl. Wettig: Problem, S. 39; Abg. Starlinger, Landtag Rheinland-Pfalz, Stenographischer Bericht, 6. Wahlperiode, 59. Sitzung v. 19.3.1970, S. 2200. Vgl. z. B. Sachse: Geschichte, S. 226 f.; Stengel, S. 111.
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Handlung entschuldigt werden, als geplantes, reguläres Erziehungsmittel war sie nicht mehr zu rechtfertigen.152 Doch bis der vollständige Verzicht auf körperliche Gewalt in der Schule allgemein als absoluter oder zumindest nur in sehr seltenen Ausnahmesituationen durch die ‚ausrutschende Hand‘ relativierbarer Wert anerkannt war, war es ein langwieriger Prozess. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde, trotz der geschilderten gestiegenen Bedeutung von Gewaltfreiheit, die Unterscheidung der Züchtigungsbefürworter, dass eine maßvolle „Züchtigung“ eben nicht dasselbe sei wie eine brutale „Prügelstrafe“, noch weitgehend akzeptiert. Bezeichnend ist etwa die Haltung des Bundesgerichtshofs, der noch 1957 den Ernst des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit infrage gestellt sah, wenn man es zur Argumentation gegen Körperstrafen heranzog. Ein gewisses Maß an körperlicher Gewalt gegen Kinder wurde bis in die 1960er Jahre als weitgehend unproblematisch akzeptiert und von vielen als üblicher Teil der Erziehung hingenommen, wie etwa in der Untersuchung von Einzelfällen deutlich wurde. Die in den ersten Nachkriegsjahren in vielen Kommentaren deutlich werdende besondere Sensibilität gegenüber Gewalt, die den Verzicht auf ebendiese zum absoluten Wert erklärte, war nur eine mögliche Reaktion auf die Gräuel der vorangegangenen Jahre, die keinesfalls von allen geteilt wurde. Der vergleichsweise niedrige Stellenwert, der dem Wert der Gewaltfreiheit in der Erziehung beigemessen wurde, spiegelt sich sogar auf internationaler Ebene: Als die UN 1959 eine Konvention über die Rechte des Kindes verabschiedete, gehörte zwar ein ausdrücklicher Schutz vor „Vernachlässigung, Grausamkeit und Ausbeutung“, nicht aber vor Gewalt an sich zu den darin proklamierten Rechten.153 Erst in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre veränderten zwei Entwicklungen das Reden über Erziehungsgewalt grundlegend: Zum einen wurden die Stimmen wieder lauter, die einem absoluten Gewaltverzicht sowohl in den Erziehungs152
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Auch in Bezug auf die familiäre Erziehung diagnostizierte 1983 Ursula Rabe-Kleberg (Kindheit, S. 168), dass „die Anwendung von Gewalt als Erziehungsmittel grundsätzlich illegitim geworden ist“. Sie erklärte diesen raschen Wandel vor allem damit, dass insbesondere „Angestellten- und Beamteneltern“ und professionelle Erzieher die von ihrer Arbeitsund sozialen Umwelt zunehmend geforderten Prinzipien wie Rationalität, Sicherheit, emotional-kontrollierter Umgang (und mit all dem einhergehend eben auch Verzicht auf Gewalt und Zwang) auch zu Leitlinien der Kindererziehung machten. Generalversammlung: Erklärung, Art. 9. Dies ist umso auffälliger im Kontrast zum 1989 verabschiedeten Nachfolgedokument, der UN-Kinderrechtskonvention, deren Art. 19 die Vertragsstaaten aufforderte „das Kind vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenszufüung oder Mißhandlung [. . . ] zu schützen“ (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Übereinkommen, S. 17). In späteren Präzisierungen dieser Rechte sprach sich der UN-Kinderrechtsausschuss zudem ausdrücklich gegen schulische Körperstrafen aus (vgl. UN-Committee on the Rights of the Child: Comment 1, S. 3 f.) Vgl. zur Geschichte der UN-Kinderrechte Maywald: Kinder, S. 20–30.
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mitteln als auch als Erziehungsziel hohe Priorität beimaßen – und wieder war diese Distanzierung von Gewalt auch eine Reaktion auf die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus. So formulierte Theodor W. Adorno das Ziel, „daß die Menschen durch das Erziehungssystem zunächst einmal alle mit dem Abscheu vor der physischen Gewalt durchtränkt werden“.154 Zwar stieß die Absolutheit dieser Formulierung schon bei seinem Gesprächspartner Hellmut Becker auf Widerspruch, doch der grundlegende Gedanke, dass Gewaltlosigkeit Ziel und deshalb auch Mittel der Erziehung sein müsse, erwies sich als äußerst einflussreich. So wurde etwa in den Diskussionen über das rheinland-pfälzische Züchtigungsrecht damit argumentiert, dass Erziehung „jede Gewaltanwendung“ ausschließen sollte, dass Lehrer „für eine humane Erziehung ohne Gewalt eintreten“ sollten oder dass Körperstrafen als „aggresiv[e] Tendenz unserer Gesellschaft“ abzulehnen seien.155 Neben der Bewertung änderte sich auch die Definition von Gewalt: Die, wie Christopher Neumaier es zusammenfasst, „Entdeckung der Gewalt in der Familie“ durch Kinderärzte, Juristen und Psychologen in den späten 1960er und vor allem den 1970er Jahren dekonstruierte die traditionelle Grenzziehung zwischen legitimer Züchtigung und illegitimem Prügeln.156 Zudem dehnte sich der Gewaltbegriff aus, bis hin zu einer seiner weitestmöglichen Definitionen, die der Friedensforscher Johan Galtung mit seinem Konzept der „strukturellen Gewalt“ Mitte der 1970er Jahre vorstellte: Unter diesem Begriff fasste er alles, was Menschen am Erfüllen ihrer Grundbedürfnisse und an ihrer Entfaltung hindert, insbesondere strukturelle Ungleichheiten.157 Diese Tendenz zur Ausweitung des Begriffs zeigt sich, wenn beispielsweise Horst Petri und Matthias Lauterbach ihr – auf die familiäre Erziehung bezogenes – „Plädoyer gegen die Prügelstrafe“ mit der von ihnen diagnostizierten gesellschaftlichen Kinderfeindlichkeit eröffneten und so Phänomene von Säuglingssterblichkeit bis zum Mangel an Spielplätzen in den Kontext der Gewalt in der Erziehung (so der Buchtitel) rückten. Der Begriff der (inakzeptablen) „Gewalt“ wurde deutlich über körperliche Übergriffe hinaus ausgeweitet: So herrschte etwa bei einem von Ärzten, Lehrern, Psychologen, Soziologen, Studenten und Eltern besuchten Seminar der Universität Wien 1977 Einigkeit, dass die „Möglichkeit von Gewalttätigkeit in der Schule überall dort 154 155
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Adorno/Becker: Erziehung zur Entbarbarisierung, S. 163. Ortsverband Mannheim-Ludwigshafen Humanistische Union: Die Meinung des Lesers: Gegen jede Methode der Dressur und Gewaltanwendung, in: Die Rheinpfalz/Speyerer Rundschau Nr. 231 vom 6.10.1969; „In Otterstadt wird nicht zu knapp geschlagen“, in: Die Rheinpfalz/Speyerer Rundschau Nr. 226 vom 30.9.1969; Vorstand der Speyerer Jungsozialisten: Mainz läßt Lehrer in schwieriger Situation allein, in: Die Rheinpfalz/Speyerer Rundschau Nr. 237 vom 13.10.1969. Neumaier: Familie, S. 409 f. Vgl. Gudehus/Christ: Gewalt, S. 3; zu Galtungs Konzept und dessen Rezeption vgl. Kailitz: Galtung.
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besteht, wo sie körperliche, seelische oder geistige Macht über die Kinder ausübt“ – gewalttätig werde diese Macht, sobald sie missbraucht werde.158 Wie weit dieses Gewaltverständnis reicht, zeigt sich daran, dass die Seminarteilnehmer als konkrete Formen körperlicher Gewalt an Schulen auch den bis dahin kaum in diesem Zusammenhang gesehenen „allgemeinen schulischen Ordnungsrahmen (etwa stundenlang ruhig sitzen; reglementierte Klo- und Eßpausen usw.)“ nannten. Bereits 1969 waren in Gerd Biermanns Dokumentation im Zusammenhang mit „Kindeszüchtigung und Kindesmißhandlung“ auch die Zustände an einem deutsch-französischen Gymnasium geschildert worden: „Reiner Lernunterricht, strenge Schuldisziplin; sogar beim gemeinsamen Mittagessen ertönt immer wieder eine ohrenbetäubende Trillerpfeife, die die Kinder an den Tisch, auf die Stühle, von den Stühlen und schließlich aus dem Eßsaal weist.“159 Von körperlicher Gewalt im engeren Sinne war nirgends die Rede – dennoch stand der Abschnitt ohne weiteren Kommentar neben Berichten über Körperstrafen und Misshandlungen im Kapitel „Schulgewalt“. Angesichts dieses Trends zur Ausweitung des Gewaltbegriffs musste die Vorstellung, dass nur über ein gewisses Maß hinausgehende oder unkontrollierte Körperstrafen problematische Gewalt darstellten, immer mehr unhaltbar erscheinen. Spätestens gegen Ende der 1970er Jahre war dieser Wandel abgeschlossen. Und bereits zu Beginn des Jahrzehnts zeigte er sich deutlich in der Stellungnahme des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenvereins: Noch 1947 hatten Schulräte kritisiert, dass Presseberichte über die Frage des Züchtigungsrechts „überall dort, wo von Prügelstrafe geschrieben wurde, nicht objektiv waren. Dieser Ausdruck erweckt die Vorstellung von Brutalität, stellt die Sachlage verzerrt dar und wirkt verletzend.“160 1970 dagegen war es der Lehrerverband selbst, der körperliche Strafen als „brachiale Gewalt“ ansprach, die aus der Schule ausgeschlossen sein sollte.161 Doch auch wenn die absolute Ablehnung jeglicher körperlicher Bestrafungen als „brachiale Gewalt“ und als potenzielle Ursache späterer Gewalttätigkeit deutlich an normativem Gewicht gewonnen hatte, konnte beiden bis zum Ende der 1970er Jahre durchaus noch widersprochen werden. Als beispielsweise während einer bayerischen Landtagsdebatte im Juli 1979 ein Abgeordneter aus158 159 160 161
Protokoll des Seminars zitiert nach Pernhaupt/Czermak: Ohrfeige, S. 73. Dort auch das folgende Zitat. Biermann: Kindeszüchtigung, S. 84. Regierung Ansbach an StMUK 24.5.1947, BHStA MK 61940. Ein weiteres Beispiel, das die in den 1970er Jahren gesunkene Akzeptanz für Gewalt gegen Kinder belegt, ist die Tatsache, dass die neue gerichtszeitung (siehe S. 336 dieser Arbeit) 1974 indiziert wurde, da ihre Propagierung der Prügelstrafe die Würde der Kinder verletze, Sadismus fördere und so verrohend wirke (vgl. Hajok: Schlaglichter). Entsprechende Inhalte waren in der Zeitschrift bereits in den 1960er Jahren vorhanden gewesen, aber offensichtlich noch nicht in gleichem Maße als inakzeptabel und jugendgefährdend bewertet worden.
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führte: „Daß so viel Gewalt in dieser Welt nach wie vor vorhanden ist, ist auch darauf zurückzuführen, daß die Kinder die Gewalt, die sie erfahren haben, weitergeben, wenn sie erwachsen sind“, erntete er neben Beifall auch massiven Widerspruch.162 Entscheidend ist aber, dass sich auf längere Sicht die Befürworter des absoluten Verbots durchsetzten.163 Freilich waren Schulen auch nach den Körperstrafenverboten keine gewaltfreien Räume oder wurden auch nur als solche empfunden. Im Gegenteil, bereits Mitte der 1970er Jahre wurde Gewalt an Schulen zu einem besonders intensiv diskutierten Thema – nun allerdings in einem deutlich veränderten Sinne: Statt gewaltsamer Strafpraktiken der Lehrer stand jetzt von Schülern ausgehende Gewalt im Mittelpunkt.164 In der aufkommenden Debatte über aggressives Schülerverhalten, Vandalismus und Kriminalität, etwa Drogenhandel, an Schulen herrschte „ein neuer dramatischer Ton“, Dirk Schumann attestiert ihr sogar die Merkmale einer „moral panic“.165 Sonja Levsen sieht die Ursache dieser Debatten nicht in einer tatsächlichen Zunahme von Schülergewalt, sondern in „einer neuen Sensibilität gegenüber jugendlicher Gewalt“, die nun vermehrt im Sinne von Gewaltspiralen problematisiert wurde.166 Dies kann auch erklären, warum bei aller (scheinbaren) Dringlichkeit des Problems und aller Unterschiedlichkeit der Erklärungs- und Lösungsansätze verschiedener pädagogischer Richtungen eine Reaktion, wie Schumann herausstellt, auffällig abwesend war:167 Eine Verschärfung schulischer Strafmöglichkeiten oder gar eine Rückkehr zu Körperstrafen stand nicht zur Debatte. Stattdessen konzentrierten sich die Überlegungen auf strukturelle Ursachen und auf Präventionsansätze, sei es im Sinne einer „Humanisierung der Schule“ oder einer Erziehung zum Frieden, die verstärkt als Aufgabe der Schule gesehen wurde. Anders als in den 1950er Jahren angesichts der Halbstarken-Unruhen war es nun offenbar nicht mehr denkbar, Gewalt durch Gewalt – oder zumindest deren Androhung – zu unterdrücken. 162
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Abg. Hochleitner (SPD), Bayerischer Landtag, 31. Sitzung v. 24.7.1979, Stenographischer Bericht, 9. Wahlperiode, S. 1683. Gegenstand der Debatte war ein von der Opposition gefordertes gesetzliches Züchtigungsverbot (zusätzlich zum bereits existierenden in der Volksschulordnung). So enthielt in Bayern das 1983 in Kraft tretende Erziehungs- und Unterrechtsgesetz bereits im ersten 1981 eingebrachten Entwurf ein Verbot körperlicher Züchtigung, das anders als gut zwei Jahre zuvor nicht kontrovers diskutiert wurde (vgl. Bayerischer Landtag: Drucksache 9/9803, Entwurf eines Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen, 3.11.1981, S. 37). Vgl. beispielsweise Grauer/Zinnecker: Schülergewalt, die Schülergewalt in enger Verbindung mit institutioneller Gewalt der Schule diskutierten. Die Verschiebung hin zur fast ausschließlichen Betrachtung der von Schülern ausgehenden Gewalt kennzeichnet die Forschungen zur Gewalt an Schulen seit den 1970er Jahren bis in die jüngste Zeit (vgl. Melzer/Lenz/Bilz: Gewalt, S. 970; Klewin/Tillmann/Weingart: Gewalt, S. 1078). Kössler: Brutalisierung, S. 228; Schumann: School Violence, S. 249. Levsen: Autorität, S. 527. Vgl. Schumann: School Violence, S. 249–254.
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7.7 Gehorsam Dass „die Anwendung von Gewalt als Erziehungsmittel heute in der Bundesrepublik illegitim“ sei, bestätigt auch Gerda Tornieporth in ihrem Überblick über die Geschichte familiärer Erziehung nach 1945 im Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Doch für sie scheint die entscheidende „Veränderung dennoch weniger in den Erziehungsmitteln als vielmehr in den Erziehungszielen und -idealen stattgefunden zu haben“.168 Sie verweist auf den in verschiedenen Umfragen festgestellten starken Wandel in elterlichen Erziehungszielen, bei denen vor allem der massive Bedeutungsverlust von „Gehorsam“ frappierend ist. Die auch in anderen Befragungen festgestellte Verschiebung der Erziehungsziele weg von Gehorsam hin zu Selbstständigkeit war einer der wichtigsten Indikatoren, an denen Helmut Klages seine These eines in der ersten Hälfte der 1960er Jahre beginnenden Wertewandelsschubs von Pflicht- und Akzeptanz- hin zu Freiheits- und Selbstentfaltungswerten festmacht.169 Sie fällt zudem zeitlich relativ genau mit der endgültigen schulrechtlichen Ächtung körperlicher Strafen zusammen. Dass bei einer auf Gehorsam abzielenden Erziehung Strafen eine größere Rolle spielen als bei einer Selbstständigkeit anstrebenden, scheint kaum erklärungsbedürftig. Lässt sich das Ende des Züchtigungsrechts also als bloße Begleiterscheinung veränderter Erziehungsziele erklären?170 Vom unbedingten zum freiwilligen Gehorsam
Dass zu Beginn des Untersuchungszeitraums Gehorsam eines der wichtigsten Erziehungsziele darstellte, wenn nicht gar das zentrale, ist eine Binsenweisheit der Bildungsgeschichte – und auch speziell der Geschichte körperlicher Strafen, schließlich ist es eine naheliegende Annahme, dass mit einer hohen Priorität dieses Erziehungsziels auch die Bereitschaft einherging, den geforderten Gehorsam durch Zwang bis hin zur körperlichen Gewalt durchzusetzen.171 Tatsächlich bestätigt die Untersuchung pädagogischer Rechtfertigungen körperlicher Strafen aus dem 19. Jahrhundert zunächst dieses Bild: Hier wurde eine Perspektive deutlich, in der Gehorsam nicht nur als notwendige Voraussetzung für das Unter168 169
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Tornieporth: Familie, S. 175. Vgl. Klages: Fragen, S. 26–28, und ders.: Werte, S. 701 f. Klages sieht Erziehungsziele als „hochgradig informativ[e] Indikatoren der jeweils vorherrschenden Wertorientierungen – und somit ggf. auch eines gesellschaftlichen Wertewandels“ (Verlaufsanalyse, S. 43). Vgl. als Beispiel für eine Deutung von veränderten Erziehungsvorstellungen als Teil und Folge des „Wertwandlungsschubs“ nach Klages: Krieger: Erziehungsvorstellungen. Vgl. Hafeneger: Strafen, S. 27 f., Flissikowski/Kluge/Schauerhammer: Prügelstock, S. 144; Göbel: Züchtigungsrecht, S. 14; Donson: Youth, S. 22–25.
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richtsgeschehen, sondern auch als Erziehungsziel an sich galt. Auch wenn dieses zunächst mit äußerlicher Gewalt erzwungen wird, soll es schließlich vom Kind verinnerlicht werden. Ziel war also eben nicht eine gewaltsame Unterdrückung, sondern eine freiwillige Unterwerfung des Kindes – die allerdings zunächst nur zu erreichen sei, indem der ihr entgegenstehende „Eigenwille“ mit Zwang gebrochen werde. Das Bekämpfen des Eigensinns oder der „bösen Triebe“ liegt in dieser Logik im Interesse des Kindes selbst, das nur so das als zentral angesehene Lernziel des Gehorsams erreichen könne.172 Insofern konnte das Mittel Gewalt nicht nur durch den Erziehungszweck gerechtfertigt werden, sondern sogar als manchmal notwendig zu dessen Erreichen gelten. Dass Gehorsam die „höchste Tugend, [. . . ] die Kardinaltugend des Kindes“ sei, wurde nicht nur von Lehrern, sondern beispielsweise auch von Mitgliedern der Schulaufsicht oder Landtagsabgeordneten immer wieder betont.173 Dass hinter dieser Betonung des Gehorsams die Erziehungsziele „Abrichtung zum braven Untertan und autoritäre Gewissensbildung, soziale und religiöse Unterordnung und Konformität“ standen, ist nicht nur eine gängige Deutung der erziehungsgeschichtlichen Forschung,174 sondern auch ein bereits zeitgenössisch erhobener Vorwurf. Tatsächlich führte beispielsweise ein konservativer Abgeordneter im preußischen Abgeordnetenhaus 1899 an, es sei „unmöglich, ohne Anwendung der körperlichen Züchtigung auszukommen und die Jungen zu loyalen Untertanen zu erziehen“.175 Das für ihn wünschenswerte und notfalls Gewalt rechtfertigende Ziel konnte allerdings schon seinen politisch oppositionellen Zeitgenossen als Erziehung zur „Knechtschaft“, „falsche[n] Unterthänigkeit“ und zum „lenksamen Opfer despotischer Willkür“ erscheinen.176 Auch F. W. Foerster warnte, dass eine durch äußeren Zwang zum Gehorsam führende Erziehung Bürger heranbilde, „deren moralische Verfassung wohl für eine absolute Monarchie, nicht aber für die Mitarbeit an einem freien Gemeinwe-
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Strebel: Schulstrafen, S. 283. Vgl. auch den Eintrag zu „Zucht“ in der Enzyklopädie des gesamten Erziehungs- und Unterrichtswesens: „Der Wille des Kindes muß gebrochen werden, d. h. es muß lernen, nicht sich selbst, sondern einem andern zu folgen.“ (Lechler: Zucht, S. 681). Als besonders deutliches Beispiel für die Vorstellung vom notwendigen „Brechen“ des Eigensinns vgl. Goerth: Behandlung, S. 283. Zitat Schumann: Schulzucht, S. 38. Vgl. neben vielen weiteren Beispielen auch: Die körperliche Züchtigung in den Schulen, in: Bayerische Lehrerzeitung (1877), S. 440–442; Abg. Schober (kons.), Sächsischer Landtag, II. Kammer, 37. Sitzung am 5.2.1894, Mittheilungen über die Verhandlungen des Landtags 1893/94, S. 468; Pötsch: Züchtigung, Sp. 59. Zitat Hafeneger: Strafen, S. 37. Vgl. auch Johannson: Pädagogik, S. 52. Abg. Freiherr v. Willisen (konservativ), Preußisches Abgeordnetenhaus, 71. Sitzung am 7.6.1899, Stenographischer Bericht, 19. Wahlperiode, S. 2282. In Reihenfolge der Zitate: Klett: Lehrer, S. 22; Sack: Prügel-Pädagogen, S. 71; Paul Bader: Zur Psychologie und Pädagogik der Schulstrafen, in: Zeitschrift für pädagogische Psychologie und Jugendkunde 11 (1910), S. 367–374, Zitat S. 367.
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sen geeignet ist“.177 Und doch bedeutete dies für ihn keineswegs eine Abwertung von Gehorsam als Erziehungsziel, ganz im Gegenteil – dies verdeutlicht schon der Untertitel seines Buchs Schule und Charakter. Beiträge zur Pädagogik des Gehorsams und zur Reform der Schuldisziplin. Allerdings war für ihn die Freiwilligkeit des Gehorsams zentral. Zwar hatten auch die Pädagogen des 19. Jahrhunderts das eigentliche Ziel in freiwilliger Unterordnung des Kindes gesehen, dennoch unterschied sich Foersters Position deutlich von diesen Vorstellungen: Für ihn ging es weniger um die grundsätzliche Bereitschaft, Befehlen Folge zu leisten, als um deren bewusste Anerkennung – ein Ziel, dem ein „Brechen“ des Eigensinns durch Strafe eher widersprochen hätte. Zwar hielt auch Foerster Zwang anfangs für nicht ganz verzichtbar, doch dieser „sollte allen brutalen Charakters dadurch entkleidet werden, daß die befehlende Persönlichkeit es versteht, durch tiefste Menschlichkeit ein großes und befreiendes Vertrauen zu dem Geist ihrer Autorität hervorzubringen“, wofür ein unbedingter Respekt für die Menschenrechte des Gehorchenden nötig sei.178 Noch deutlicher unterschied der sozialdemokratische Pädagoge Heinrich Schulz zwischen der „Unterordnung unter freigewählte Führer und selbstgegebene Gesetze“ und dem von ihm abgelehnten „sklavischen Gehorsam“. Die Bereitschaft zu „gern geübter Disziplin und freiwilligem aber unbedingtem Gehorsam gegen die selbst gegebenen Gesetze“ aber war auch für ihn ein wichtiges Erziehungsziel, das nur durch „straffe, energische Zucht“ zu erreichen sei.179 Selbst Ellen Key betonte: „Das Kind muß ganz gewiß Gehorsam lernen, und zwar absoluten Gehorsam“ – wobei dieser Gehorsam nicht durch Zwang, sondern durch Gewöhnung von möglichst jungem Alter an zu erreichen sei.180 Das Festhalten an „Gehorsam“ als Erziehungsziel führte also keineswegs automatisch zur Befürwortung körperlicher Strafen, sondern konnte im Gegenteil sogar mit deren radikaler Ablehnung einhergehen. Bei der Kritik an zu Untertänigkeit und „Sklavenart“181 führender Erziehung handelte es sich zu dieser Zeit nicht um eine Ablehnung, sondern um eine inhaltliche Differenzierung des Ziels „Gehorsam“. Nach dem Ersten Weltkrieg gewann mit dem Umbau des Staatswesens zu einer demokratischen Republik auch der Zusammenhang von Schuldisziplin, Erziehungszielen und Staatsform an Bedeutung in der Debatte: So begründete etwa der Dresdner Lehrer E. Schumann seine Ablehnung von Körperstrafen mit dem neuen demokratischen Erziehungsziel: Während im „Obrigkeitsstaate“ Bürger heranzubilden gewesen seien, „die in der Unterwerfung unter die äußere Autori177 178 179 180
181
Foerster: Schule, S. 85. Ebd., S. 112. Schulz: Schulreform, S. 174 f. Key: Jahrhundert, S. 136. Diese Gewöhnung an das Gehorchen sollte für Key idealerweise im später nicht mehr bewusst erinnerten Klein(st)kindalter stattfinden und konnte dann auch Schläge enthalten. Klett: Lehrer, S. 21.
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tät ihre vornehmste Pflicht sehen sollten, die vertrauensvoll der Obrigkeit jede Verantwortung überließen“ seien nun in der Demokratie „Selbstbestimmung, Selbstkontrolle und Selbstverantwortlichkeit“ als Grundlagen der staatlichen Ordnung gefordert.182 Während Schumann hierzu in der Tradition Foersters einen „Ausgleich zwischen Freiheit und Autorität, zwischen Selbständigkeit und Gehorsam“ anstrebte, stellten andere Gehorsam grundlegender infrage. 1928 diagnostizierte ein Artikel in der Pädagogischen Warte, es gebe eine „nicht kleine Gruppe unter den Vertretern der Erziehungswissenschaften und Eltern, die das Wort ‚Gehorsam‘ verabscheuen“ und es als Erziehung zur Charakterlosigkeit und knechtischer Gesinnung verstünden.183 Das nun kontrovers gewordene Erziehungsziel wurde von seinen Befürwortern umso intensiver verteidigt, wozu auch Körperstrafen als gerechtfertigt erschienen.184 Bereits Anfang der 1930er Jahre wurden die Forderungen nach Gehorsam als Erziehungsziel wieder lauter: So konnte 1931 ein deutschnationaler preußischer Landtagsabgeordneter zustimmend zitieren, der Kultusminister habe in der Ausschusssitzung gesagt „die jungen Menschen müßten erst einmal lernen, sich unterzuordnen“ – auch wenn der Abgeordnete die Umsetzung dieses Ziels vermisste.185 Erinnert sei auch an das 1932 vom Reichsinnenminister von Gayl (DNVP) ausgegebene Erziehungsziel, die Jugend müsse lernen, „unbeschadet ihrer Erziehung zur Selbständigkeit und zum lebendigen Gebrauch ihrer Kräfte [. . . ], sich in Zucht und Gehorsam den Ordnungen der Erziehungsgemeinschaft einzufügen“.186 Dass schließlich im Nationalsozialismus Gehorsam ein zentrales Erziehungsziel war, ist naheliegend – und auch wenn diese Arbeit gezeigt hat, dass auf der theoretisch-normativen Ebene Körperstrafen kaum als geeignetes Mittel zu dessen Durchsetzung galten, ist es doch kein Zufall, dass etwa in Sachsen nach der Aufhebung des Verbots 1933 Körperstrafen ausschließlich bei „bewußter und gewollter Auflehnung“, also Ungehorsam, des Schülers erlaubt waren. Im Streben nach Abgrenzung von solchen nationalsozialistischen Erziehungszielen und nach Demokratisierung, wie es beispielsweise im hessischen Verbot und dessen Begründungen zum Ausdruck kam, forderten nach 1945 viele Au182 183
184
185 186
Schumann: Schulzucht, S. 185. A. Clewing: Was dünkt euch vom Gehorsam? Eine zeitgemäße Studie, in: Pädagogische Warte 35 (1928), S. 649–651, Zitat S. 649. Clewing selbst war dagegen noch der Auffassung, es sei „der größte Dienst, den man dem Kinde erweisen kann, wenn man es zum unbedingten und freudigen Gehorsam erzieht“ (ebd., S. 651). Beispielsweise betonte ein Lehrer 1927, dass gerade „der heutigen Jugend [. . . ] eine feste Hand nottut, die ihr zeigen muß, daß Erziehung eine sehr ernste Sache ist, und daß es dabei ohne Gehorsam und Pflichterfüllung nicht geht“ (Ulbrich: Züchtigung, S. 29). Vgl. auch Linde: Züchtigungsrecht?, S. 17. Abg. Werdes (dt. Fraktion), Preußischer Landtag, 219. Sitzung am 19.3.1931, Stenographischer Bericht, 3. Wahlperiode, Sp. 19140. Schreiben des Reichsministers des Innern an die Unterrichtsminister der deutschen Länder, 28.7.1932, in: Zentralblatt 74 (1932), S. 223.
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toren eine Abwendung von jeglicher Erziehung zum „Gehorsamsmenschen des autoritären Staates“. Dabei sahen sie allerdings in der „freiwilligen Einordnung in die Gemeinschaft und [. . . ] Anerkennung ihrer Gesetze“ durchaus ein wichtiges Erziehungsziel.187 Dies entspricht weitgehend der schon aus den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts bekannten Unterscheidung von erzwungenem und freiwilligem Gehorsam, wenn auch mit nicht unbedeutenden sprachlichen Unterschieden: Von einem freiwilligen, aber „unbedingten“ oder „absoluten“ Gehorsam war nun keine Rede mehr, und es ist sicher kein Zufall, dass im zitierten Beispiel aus der Hessischen Lehrerzeitung dieses Wort im positiven Sinn ganz vermieden wurde. Wenn stattdessen von „Einordnung“ die Rede war, war das nicht nur eine schwächere Formulierung, sondern auch eine Distanzierung von der Unterordnung unter eine bestimmte Person. Die Betonung lag auf der Ablehnung des Zwangs und der Befürwortung der Freiheit, selbst wenn der Autor diese Freiheit mit einem Pestalozzi zugeschriebenen Zitat dadurch definierte, dass der Mensch „das, was er soll, zu dem macht, was er will“.188 Hier wird deutlich, dass die Kritik an der Erziehung zum „Gehorsamsmenschen“ in den frühen 1950er Jahren keinesfalls eine Abwendung von, in Klages’scher Terminologie, Pflichtund Akzeptanzwerten bedeutete.189 Die Infragestellung von Gehorsam als Wert an sich war zudem kein die gesamte Gesellschaft oder auch nur eine Mehrheit der Lehrerschaft prägendes Phänomen: Das zeigt etwa das Beispiel einer bayerischen Lehrerin, die an den Vorsitzenden ihres Berufsverbands schrieb: „Auch heute müssen die Kinder gehorchen lernen. Wie können sie Gott gehorchen, wenn sie nicht gelernt haben ihren Erziehern zu gehorchen?“190 Auch Gerichte konnten bis in die 1950er Jahre noch erklären, der Auftrag der Schule, die sittliche und charakterliche Entwicklung zu fördern, beinhalte nicht zuletzt, „die Kinder zum Gehorsam zu erziehen“.191
187 188 189
190 191
Thaetner: Erziehung, S. 36. Vgl. auch Kraushaar: Strafe; Roth: Autoritär, S. 16 f. und S. 21 f. Thaetner: Erziehung, S. 36. Das hier deutlich werdende Erziehungsziel entspricht ungefähr dem Ideal des heranzubildenden Bürgers, das auch Levsen in den Debatten über Schülermitverwaltung und demokratische Erziehung jener Jahre als dominant identifiziert: „a disciplined citizen who adhered to the norms of the community based on his own informed decision“ (Authority, S. 826), charakterisiert durch „duty, virtue, responsibility and acceptance of the limits of his freedom“ (ebd., S. 827). Vgl. auch dies.: Autorität, S. 66–76. E. S. an Hartmann, 11.7.1947, BHStA München, BLLV 917, Bl. 930. So ein Urteil des AG Hattingen aus dem Jahr 1955, zitiert nach Leifert: Züchtigungsrecht (1961), S. 215.
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Der Bedeutungsverlust von Gehorsam als Erziehungsziel
Vor allem aber sind es die bereits eingangs angesprochenen Befragungen, die eine weiterhin hohe Bedeutung des Erziehungsziels Gehorsam zeigen. So wurden beispielsweise 1956 (und nicht, wie in der Literatur teils fälschlich angegeben, 1966192 ) in Nordrhein-Westfalen 110 Mütter von Schulanfängern gefragt, worauf sie „bei der Erziehung eines Sechsjährigen besonderen Wert legen“ würden.193 Die mit Abstand häufigste Antwort war Gehorsam (15 % aller Nennungen), gefolgt von Ehrlichkeit (11 %), guten schulischen Leistungen, Ordnung, Hilfsbereitschaft und Reinlichkeit (je ca. 6 %). Allerdings antworteten zwei Jahre später bei einer nach dem gleichen Muster durchgeführte Befragung von Müttern vierzehnjähriger Jungen auf die Frage, worauf man bei der Erziehung von Jungen dieses Alters am meisten Wert legen sollte, nur 2 % mit „Gehorsam“, mindestens 16 andere Antworten wurden häufiger genannt.194 Am häufigsten nannten die Mütter hier die Kontrolle des Umgangs, den ihr Sohn habe – was ein Grundproblem dieser Studie illustriert, denn die offene Fragestellung unterschied nicht zwischen Zielen und Mitteln der Erziehung. Zudem war die Stichprobe der Befragten eher klein und regional begrenzt. Auch für die von Frank Baumgärtel zitierten Studien von 1970 und 1977, bei denen Gehorsam auf Rang 14 bzw. 16 der Erziehungsziele abgestürzt war und Selbstvertrauen dagegen den zweiten bzw. ersten Rang einnahm, gelten ähnliche Einschränkungen.195 Es ist also fraglich, ob dem Vergleich dieser Untersuchungen wirklich 192
193 194
195
So Baumgärtel: Motivation, S. 55. Baumgärtel berücksichtigt nicht, dass in dieser von ihm für das Jahr 1966 angeführten deutsch-amerikanischen Vergleichsstudie nur die Einstellungen amerikanischer Mütter neu erhoben wurden, für die deutsche Seite dagegen die 1958 veröffentlichten und 1956 erhobenen Ergebnisse von Kemmler und Heckhausen übernommen wurden (vgl. Wesley/Karr: Vergleich). Kemmler/Heckhausen: Mütteransichten, S. 89 f. Kemmler: Erziehungshaltungen, S. 208–210. Auch bei einer 1950 in Darmstadt durchgeführten Befragung, deren Teilnehmer auswählen sollten, welche vorgeschlagenen Erziehungsziele sie jeweils einzelnen Institutionen (verschiedene Schulen, Elternhaus, Kirche) zuschrieben, wählten zwar 79 % „Ordnung und gutes Benehmen“ und immerhin 22 % „Unterordnung“ als wünschenswerte Erziehungsziele der Volksschule. Doch erreichte „Unterordnung“ damit nur die niedrigste Zustimmung unter allen Zielen und blieb nicht nur klar hinter der Vermittlung praktischer Fähigkeiten (78 %) und von Allgemeinbildung (56 %), sondern auch knapp hinter dem Ziel „eigenes Urteil“ (26 %) zurück. Von höheren Schulen erwarteten gar 61 % der Teilnehmer eine Erziehung zum eigenen Urteil und nur 11 % zur Unterordnung (vgl. Baumert: Jugend, S. 73). Zum Kontext dieser Studie und zu Baumerts angesichts dieser Zahlen nicht unbedingt naheliegender Deutung seiner Ergebnisse als Bestätigung einer „autoritären“ Erziehung vgl. Levsen: Autorität, S. 299–301. So wurden 1977 etwa nur 56 Personen befragt. Nur die im Rahmen einer unveröffentlichten Diplomarbeit durchgeführte Untersuchung von 1970 beruhte auf einer „großen Stichprobe von Müttern aus allen drei sozialen Schichten“ (bei der jedoch nahezu gleich viele Befragte aus jeder der drei Schichten stammten, womit zumindest nach den meisten gängigen
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die Aussagekraft zuzumessen ist, die der Aufsatz zur familiären Erziehung im Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte ihm zugesteht, wenn er Baumgärtels Tabelle übernimmt. Die höchste Repräsentativität dürfte die seit 1951 erhobene Trendfrage des Meinungsforschungsinstitut EMNID haben, bei der die Befragten aus drei Optionen wählen sollten, worauf „die Erziehung der Kinder vor allem hinzielen“ solle: „Gehorsam und Unterordnung“, „Ordnungsliebe und Fleiß“ oder „Selbständigkeit und freier Wille?“.196 Während sich 1964 noch 25 % der Befragten für „Gehorsam und Unterordnung“ entschieden, waren es 1969 nur noch 19 % (bzw. 17,5 % der Nennungen) und 1976 10 %. Im gleichen Zeitraum stieg der Anteil der Selbstständigkeit, die 1969 von 45 % (41,2 % der Nennungen) als wichtigstes Erziehungsziel gewählt wurde und somit gleichauf mit dem vorherigen Spitzenreiter „Ordnungsliebe und Fleiß“ lag. Doch auch wenn der langfristige Bedeutungsverlust von Gehorsam und Unterordnung und der Aufstieg von Selbstständigkeit und freiem Willen unübersehbar sind, ist gerade für die Zeit vor 1970 die Interpretation der Daten keineswegs so eindeutig, wie es scheinen könnte: Wenn beispielsweise Moritz Scheibe als Beleg für die autoritäre Prägung der 1950er Jahre darauf verweist, dass 1954 „nur“ 28 % der Befragten Selbstständigkeit und freien Willen als das wichtigste Erziehungsziel ausgewählt hatten,197 dann ist einzuwenden, dass dieser Wert immerhin gleich hoch war wie der für „Gehorsam und Unterordnung“. 1951 und 1957 lag der Wert für Gehorsam sogar unter dem für Selbstständigkeit, wenn auch wesentlich weniger deutlich als in den späteren Befragungen (1951: 25 zu 28 % der Befragten bzw. 27 zu 30 % der Nennungen, 1957: 25 zu 32 bzw. 24 zu 30 %). Ein eindeutiges Bild ergibt sich also nur, wenn man die Antwort „Ordnung und Fleiß“ ebenfalls eher „dem Wertsystem ‚Gehorsam und Unterordnung‘“ zuordnet198 – was aber gerade bei dieser Frageform problematisch scheint. Daher gilt diese dritte Option meist eher „als eine Art Residualkategorie“.199 Auch dass die Zustimmung zu ihr nicht
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197 198 199
Schichtendefinitionen die Oberschicht klar überrepräsentiert gewesen wäre), hier ist allerdings die genaue Formulierung der Fragestellung unklar (Baumgärtel: Motivation, S. 54). Vgl. für die im Folgenden zitierten Zahlen EMNID: Erziehungsziele, S. 34. In einigen Jahren ließen die Interviewer offenbar zum Teil Mehrfachantworten zu, sodass die Summe der für die einzelnen Optionen angegebenen Prozentzahlen zwischen 94 und 114 schwankt. Da dies die Vergleichbarkeit zwischen verschiedenen Jahren beeinträchtigt, werden im Folgenden neben den von EMNID genannten auf die Zahl der Befragten bezogenen Anteilen auch die (selbst errechneten, gerundeten) Anteile an der Gesamtzahl der Nennungen angegeben, sofern beide sich voneinander unterscheiden. Vgl. Reuband: Aushandeln, S. 133 f. Scheibe: Suche, S. 259. Fend: Sozialgeschichte, S. 115. Reuband: Aushandeln, S. 133.
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wie die zu Gehorsam abnahm, sondern lange Zeit nahezu unverändert blieb, spricht gegen eine solche Einordnung. In Bezug auf die Stellung von Gehorsam als Erziehungsziel und einen möglichen Zusammenhang mit der Bewertung körperlicher Strafen sind die sozialwissenschaftlichen Umfrageergebnisse vor allem für die 1950er und 1960er Jahre also nur sehr begrenzt aufschlussreich. Untersucht man stattdessen die in den Debatten um Körperstrafe gemachten Äußerungen, fällt auf, dass – abgesehen von den oben genannten vereinzelten Beispielen – Gehorsam hier nur noch selten explizit als Wert angesprochen wurde. Das mag angesichts der geschilderten Umfrageergebnisse erstaunlich erscheinen. Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass elterliche Erziehungsziele, auch wenn sie geeignete Indikatoren für gesamtgesellschaftliche Werthaltungen sein mögen, sich doch nicht eins zu eins auf den schulischen Kontext übertragen lassen. Vor allem aber war es ein Unterschied, ob man der Bedeutung von Gehorsam grundsätzlich zustimmte oder ob man ihn ausgerechnet im Zusammenhang mit Körperstrafen als gegebenenfalls gewaltsam durchzusetzendes Erziehungsziel ansprach. Letzteres musste nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus als problematisch erscheinen, vor allem wenn nicht gleichzeitig nach der Legitimation des Anspruchs auf Gehorsam gefragt wurde. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass nach 1945 der Begriff „Gehorsam“ in der Debatte weitgehend vom komplementären, aber weniger konkreten und schillernderen Begriff „Autorität“ abgelöst wurde.200 200
Autorität könnte vereinfacht definiert werden als der vom Gehorchenden anerkannte Anspruch auf Gehorsam bzw. zumindest Beeinflussung. Schon Reichweins Definitionsversuch (Autorität, S. 141) zeigt die Schwierigkeit einer eindeutigen Bestimmung des Begriffs: „Sammelbezeichnung für Eigenschaften, Fähigkeiten und Leistungen, welche denjenigen Personen, Gruppen und Institutionen zugeschrieben werden, die gegenüber anderen Personen, Gruppen und Institutionen – aus welchen Gründen immer – einen Einfluß- und Führungsanspruch geltend machen, der von diesen – aus welchen Motiven immer – innerlich (bewußt oder unbewußt) als berechtigt anerkannt wird, so daß die Autoritäts-Inhaber die Autoritäts-Abhängigen in ihrem Fühlen, Denken und Handeln tatsächlich beeinflußen und zur Lösung konkreter Aufgaben oder zur Realisierung weitergehender Ziele führen können, ohne äußeren Zwang oder Gewalt anwenden zu müssen.“ Dass Autorität „streng zu unterscheiden von Macht und Gewalt“ sei, ist Element vieler jüngerer pädagogischer Definitionsversuche (hier: Böhm/Seichter: Wörterbuch, S. 52) – und selbst eine Folge des hier geschilderten Wandels von Autoritätsvorstellungen, denn für ältere Autoren war die Trennlinie zwischen Autorität und Zwang keinesfalls so scharf (vgl. z. B. Pribilla, Sp. 174). Auch Reichwein (S. 144) gesteht immerhin zu, dass Autoritätsverhältnisse in der Praxis selten der idealisierten Definition entsprächen, sondern „fast immer mit Macht-, Gewalt- und Herrschaftsverhältnissen verbunden“ seien. Tatsächlich zeigen die Debatten über Körperstrafen, dass der Begriff „Autorität“ teils sehr offen mit äußerlicher Macht und Gewalt(-drohung) verbunden werden konnte. Dies berührt eine wichtige Einschränkung dieser Arbeit: Alle im Folgenden gemachten Aussagen über die zu verschiedenen Zeiten vorherrschenden Definitionen von Autorität gehen allein von der Verwendung dieses Begriffs in der Diskussion über körperliche Strafen aus. Sie können und wollen keinesfalls dem jeweiligen Stand der gesamten pädagogischen oder gar der
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7.8 Autorität Wie eng Körperstrafen und Autorität miteinander assoziiert werden konnten, zeigt beispielhaft ein Zitat aus einem Lehrerratgeber von 1913: Der Autor riet, wenn die von ihm zunächst empfohlene Androhung des Stocks nicht ausreiche, „so scheue man sich nicht, ihn anzuwenden. Ein gewisses Autoritätsgefühl muß die Jugend haben.“201 Er erläuterte diesen Zusammenhang näher, indem er zunächst betonte: „Wir wollen auch nicht Autorität durch den Stock erzwingen. Wahre Autorität braucht Liebe und Milde und Nachsicht als Grundlage, aber sie duldet keine Schwäche. Und darum darf die Nachsicht nie in Schwäche ausarten.“ Diese Argumentation war typisch für die Position vieler Pädagogen in der ersten Hälfte des Untersuchungszeitraums: Zwar bestand in der Theorie Einigkeit, dass Autorität nicht auf Gewaltanwendung basieren solle. Die Formulierung, dass Autorität „keine Schwäche“ dulde, deutet jedoch bereits an, dass unter der Autorität des Lehrers vor allem die Fähigkeit verstanden wurde, Anweisungen ausnahmslos und auch gegen den Willen des Schülers durchsetzen zu können – wofür vielen die Möglichkeit körperlicher Strafen als unerlässlich erschien. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts war die Warnung, Lehrer würden ohne Züchtigungsrecht an Autorität einbüßen, das wohl häufigste Argument gegen eine Einschränkung körperlicher Schulstrafen.202 In den Lehrerdebatten, vor allem aber auch den untersuchten Einzelfällen zeigte sich immer wieder die Vorstellung von Lehrerautorität als Nullsummenspiel, bei dem ein Eingehen auf den Willen des Schülers oder gar Kritik am Lehrer unweigerlich dessen Autorität schädige. Diese Denkweise war keineswegs auf Erziehungspraktiker beschränkt: Auch für den einflussreichen Pädagogen Friedrich Paulsen, der einen Verzicht auf Körperstrafen in Schulen durchaus als wünschenswert sah, war dennoch die Lehrerautorität das höhere Gut, sodass es besser sei, „daß einem übermütigen und halsstarrigen Jungen der Rücken gebläut wird, als daß die Autorität in der Schule Schaden leidet.“203 Einzelne Körperstrafengegner wandten zwar ein, dass die „wahre, tiefbegründete Autorität“ nur durch die Liebe des Kindes zum Erzieher oder dessen vorbildhaftes, würdevolles Verhalten entstehe und nicht auf physische Überle-
201 202
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philosophischen und politischen Debatten um „Autorität“ gerecht werden (vgl. zu diesen etwa Helmer/Kemper: Autorität; Kertscher: „Autorität“). Plecher: Züchtigung, S. 13. Dort auch das folgende Zitat. Vgl. als einige Beispiele von vielen: Grube: Je nachdem, S. 85; Stengel: Würdigung, S. 109; Bach: Züchtigung, S. 13; Richter: Schulzucht, S. 526; Städtische Schuldeputation Wiesbaden an Regierung Wiesbaden, 9.5.1921, HHStAW 405, 12903, Bl. 240; Bonolsen: Züchtigungserlass, S. 410; Schmidt: Zustand; Wolff: Schuld, S. 210. Paulsen: Pädagogik, S. 92.
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7.8 Autorität
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genheit gestützt sein dürfe.204 Doch abgesehen von solchen vereinzelten Differenzierungsversuchen wurde der Begriff der Autorität kaum hinterfragt, oft in bemerkenswerter Offenheit mit Gewalt in Verbindung gebracht und stets im positiven Sinne verwendet. Dies änderte sich mit den 1920er Jahren: Nun wurde die Unterscheidung von einer auf Macht und der Möglichkeit des Zwangs aufgebauten Autorität einerseits und einer „wirklichen Autorität [. . . ], die von innen heraus kommen muß“, andererseits zur festen Größe in den Debatten um Körperstrafen.205 Dies korrespondiert mit der bereits beschriebenen Entwicklung: Wenn Gehorsam nicht mehr absolutes Ziel war, sondern nur noch im Sinne freiwilliger, bewusster Unterordnung als wünschenswert galt, dann konnte umgekehrt auch der Anspruch auf Gehorsam nicht mehr durch die Möglichkeit äußerlichen Zwangs legitimiert werden, sondern nur durch Eigenschaften, die zu einer solchen bewussten Anerkennung führten – beispielsweise Wissens- und Erfahrungsvorsprung. Dass sich diese Differenzierung des Autoritätsbegriffs etablierte, hing nicht nur mit dem schon beschriebenen Streben nach einer demokratischeren Erziehung zusammen; auch die Rezeption psychologischer Theorien führte zu einer veränderten Bewertung von Autorität: Wenn etwa Alfred Adler erklärte, dass Erziehung mit zu viel Druck beim Kind übertriebene Minderwertigkeitsgefühle auslöse, die wiederum zu psychischen Störungen und problematischem Verhalten führen könnten, erschien Autorität im Sinne des unbedingten Durchsetzens nicht mehr als Lösung, sondern als potenzielle Ursache von Erziehungsproblemen. Der Pädagoge und Psychiater Erich Stern fasste die aus Adlers Theorien für die pädagogische Praxis zu ziehenden Schlussfolgerungen prägnant zusammen: Stammen die Fehlentwicklungen also zum größten Teil aus einer Überspannung der Autorität, so kann die Grundforderung der Erziehung nur lauten: Abbau der Autorität und zwar der Autorität, die sich auf Druck und Zwang stützt, während die auf einer inneren Überlegenheit der Erzieherpersönlichkeit ruhende Autorität davon in keiner Weise berührt wird; ohne diese ist eine Erziehung überhaupt nicht denkbar.206
Dass „die auf Verkürzung und Schwächung der übertriebenen Lehrerautorität gerichteten Bestrebungen nicht gleichbedeutend sind mit Autoritätsverneinung“, betonten auch andere Autoren.207 Dennoch wurde der Begriff nun erstmals auch in negativen Zusammenhängen verwendet, sei es, dass ein Studienrat im Berliner Tageblatt über die „unausstehlichen Phrasen von der Erhaltung der 204 205
206 207
Foerster: Schule, S. 194–197 (Zitat S. 197). Vgl. auch Pillf: Züchtigung, S. 244. Abg. Käfer: Bayerischer Landtag, 62. Sitzung am 12.5.1921, Stenographischer Bericht, Wahlperiode 1920–24, Bd. 3, S. 67. Vgl. u. a. auch Patiens: Aufgeschoben, S. 306; Abg. Dr. Steffens (DVP), Preußischer Landtag: 91. Sitzung am 3.11.1925, in: Verhandlungen, 2. Wahlper. 1924/28, 4. Bd., Sp. 5955; Erziehungsmaßnahmen in der allgemeinen Volksschule, in: Sächsische Schulzeitung 93 (1926), S. 707–710. Stern: Autorität, S. 56. Trebs/Loose: Bemerkungen, S. 223.
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Autorität“ klagte208 oder die Schriftstellerin Gina Kaus die „alte Autoritätsschule“ anprangerte, die Lebensmut vernichtet habe.209 Solche Kritik an traditionellen Autoritätsvorstellungen war jedoch nur eine Seite der Diskussion in den 1920er Jahren: Auf der anderen Seite zeigten sich in den Lehrer- und öffentlichen Debatten Bedrohungsgefühle angesichts einer selbstbewussteren Jugend und gesellschaftlicher wie politischer Veränderungen sowie die noch weit verbreitete Ansicht, körperliche Strafen gerade zum Schutz der gefährdet erscheinenden Autorität nicht entbehren zu können. Hinzu kam die politische Dimension des Ringens um den Stellenwert von Autorität in Erziehung und Gesellschaft, hinter dem nicht zuletzt die Frage nach der Staatsform steckte. Sie scheint auch in den Debatten um körperliche Strafen durch, wenn etwa 1932 der Reichskommissar im preußischen Kultusministerium, Wilhelm Kaehler, mit seinem eine großzügigere Auslegung des Züchtigungsrechts fordernden Erlass den Sinn für Autorität als Erziehungsziel in den Vordergrund rückte – und die Preußische Lehrerzeitung dies als zeittypischen „Autoritätstaumel“ ablehnte.210 Nach 1945: Abkehr von der „autoritären Erziehung“ oder Wiederherstellung bedrohter Autorität?
Die neuere Forschung hat herausgearbeitet, dass nach 1945 nicht nur die Alliierten, sondern auch ein Teil der deutschen Intellektuellen in einer besonders autoritären deutschen Erziehungstradition eine entscheidende Ursache des Nationalsozialismus sahen.211 Die Abkehr von einer auf die Möglichkeit körperlicher Gewalt gestützten Lehrerautorität, von „Methoden einer autoritären Erziehung“, die zu „Knechtsgesinung“ führten, war in dieser Perspektive Voraussetzung für eine Demokratisierung – und um 1950 ein zentrales Argument für die Forderung nach Abschaffung körperlicher Strafen.212 Auch der Pädagoge Heinrich Roth argumentierte 1955, für die „neue Erziehung“ komme eine „Rückkehr zur alten Autoritätserziehung“ nicht infrage, denn: „Sie weiß zuviel um den Zusammenhang von Befehlsautorität und Untertanengesinnung.“213 208 209 210 211 212 213
Schönebeck: Strafanstalt. Kaus: „Prügel“. Vgl. S. 243 dieser Arbeit. Vgl. Levsen: Authority, S. 819. Zitate aus J. S. H.: Was eine Mutter zur körperlichen Züchtigung sagt, in: Die Schulwarte 2 (1949), S. 483–485, Zitat S. 485; Kubiena: Erziehung, S. 692; vgl. Kapitel 5.1 dieser Arbeit. Roth: Autoritär, S. 16 f. Dabei bezog sich Roth nicht, wie etwa Heinrich Meng, auf das Konzept des „autoritären Charakters“, sondern verwies auf die Arbeiten Margaret Meads, die auch die britisch-amerikanischen Diagnose eines deutschen Autoritarismus beeinflusst hatten (vgl. Levsen: Autorität, S. 46 f.).
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Dabei war für Roth eine solche Rückkehr nicht nur nicht wünschenswert, sondern auch gar nicht erst möglich, da die Nachkriegsjugend eine veränderte Einstellung zu den Erwachsenen habe und traditionelle Autoritätsvorstellungen nicht mehr akzeptiere. Mit dieser Diagnose stand Roth nicht allein: Schon 1947 hatte ein von der UNESCO herausgegebener, auf Gesprächen mit Psychologen, Erziehern und Pädagogen basierender Bericht festgestellt, dass in allen vom Krieg betroffenen Ländern Eltern und Lehrer über Widersetzlichkeit, „Insubordination, Respektlosigkeit, Unabhängigkeitsdrang und Arroganz“ der Jugendlichen klagten.214 Dafür wurden verschiedene Erklärungen angeführt: Erstens sei „starke Widerspenstigkeit [. . . ] ein Anzeichen innerer Konflikte und persönlicher Unsicherheit“, wie sie bei Kindern durch die Kriegserlebnisse hervorgerufen wurden.215 Zudem hätten Jugendliche, die in der Kriegszeit „mit großer Autorität und viel Vertrauen ausgestattet“ gewesen seien, nun oft „in der Gemeinde ihren ganzen Status verloren; man hat ihnen jegliche Verantwortung genommen und sie wieder in die Rolle des Kindes zurückgestoßen“, was sie als ungerecht empfänden und mit Auflehnung quittierten. Dementsprechend lautete auch die vom Bericht empfohlene Reaktion, „diesen jungen Menschen so viel Autorität und Verantwortung wie irgend möglich“ zu übertragen. Lehrer sollten sich das Vertrauen der Jugend erwerben und „echte Autorität“ erlangen, indem sie „Mut, Beständigkeit, Gerechtigkeit“ bewiesen.216 Wenn in diesem Zusammenhang eine norwegische Lehrerin mit den Worten zitiert wurde, sie gehe prinzipiell davon aus, „daß im Falle eines Konfliktes ich mich im Unrecht befinde“, denn es sei als Erwachsene eher ihre „Pflicht, diesen jungen Menschen zu verstehen, als es deren Pflicht ist, mich zu verstehen“, zeigt sich ein Autoritätsbegriff, der dem bei vielen Körperstrafenbefürwortern zum Ausdruck kommenden geradezu diametral entgegengesetzt ist. Für andere waren die diagnostizierten Veränderungen allerdings kein als gegeben hinzunehmender Wandel, an den die eigenen Autoritätsvorstellungen angepasst werden mussten, sondern ein zu stoppender Verfallsprozess. Aus dieser Perspektive erschien das Züchtigungsrecht gerade umso notwendiger, um die bedroht erscheinende Autorität des Lehrers im traditionellen Sinn der unbedingten Durchsetzungsfähigkeit zu schützen: Ein bayerischer Pfarrer beispielsweise erklärte 1947, dass der Stock nun erst recht „Hausrecht in der Schule“ haben müsse, da doch jetzt den schädlichen Folgen nazistischer Erziehung auch auf diese spürbare Weise begegnet werden muss, nämlich der Disziplinlosigkeit in und ausserhalb der Schule, welche eingerissen ist infolge des Fehlens der väterlichen Autorität während
214 215 216
Kenworthy: Lehrer, S. 74. Ebd., S. 75. Dort auch das folgende Zitat. Ebd., S. 77 (wie auch das folgende Zitat).
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des Krieges bei vielen Kindern und auch infolge des manchmal sehr mangelhaften Unterrichtsbetriebes während der Kriegsjahre.217
Wenn dieser Pfarrer nicht nur die direkten Kriegsauswirkungen, sondern gerade die „nazistische Erziehung“ für die von ihm beklagten Entwicklungen verantwortlich machte, sprach er eine damals weit verbreitete Vorstellung vom „Nationalsozialismus als Zerstörer ‚echter‘ Autorität“ an.218 Diese Deutung konnte im Detail unterschiedlich ausgestaltet werden, sei es in einer eher abstrakten Variante, nach der Jugendliche auf die Übersteigerung von Autorität und Gehorsam im Dritten Reich nun mit (in dieser Sicht übertriebener) Skepsis auf jegliche Autoritätsansprüche reagierten, oder mit dem konkreten Verweis auf NS-Jugendorganisationen, die durch ihre bewusste Konkurrenz zu Schule, Elternhaus und Kirche als Erziehungsinstanzen deren Autorität zerstört hätten. Vor allem die letztere Variante erlaubte es Lehrern, sich gleichzeitig von der nationalsozialistischen Vergangenheit zu distanzieren (und zu exkulpieren) und eine Kontinuitätslinie der Diffamierung ihres Berufsstands von 1933 bis zu den Züchtigungsverboten der Nachkriegszeit zu ziehen.219 So klagte etwa ein hessischer Lehrer, durch den das Züchtigungsrecht aufhebenden Erlass habe „man die Zerstörung der Lehrerautorität, die 1933 schon begann, vollendet“.220 Besonders, als Mitte der 1950er Jahre die Unruhen der „Halbstarken“ das Bedrohliche an diesem „Autoritätsverfall auf der ganzen Linie“ zu bestätigen schienen, mehrten sich die Forderungen, man müsse dem Kind „wieder eine echte Autoritätsinstanz gegenüberstellen, die – leider – auch mit der Eigenschaft des Zwangs ausgestattet ist“.221 Das „leider“ in dieser Aussage illustriert ein typisches Phänomen in den Debatten dieser Jahre: Selbst unter denjenigen Lehrern, für die das Konzept einer auf Gewalt gestützten Autorität in der Theorie fragwürdig geworden war, hielten dennoch viele in der Praxis Zwang bis hin zur (Droh-)Möglichkeit körperlicher Gewalt für unentbehrlich, um bei Konflikten mit Schülern keine Autoritätseinbuße zu erleiden. Auch bei dem in jenen Jahren häufig anzutreffenden Ruf nach ‚echter‘, von äußerlichem Zwang abgegrenzter Autorität blieb oft „gänzlich unklar“, wofür diese stehen und worin genau sie bestehen sollte.222 Ein etwas extremes, aber nicht ganz untypisches Beispiel ist 217 218 219 220
221 222
Kath. Pfarramt Bodenwörth an StMUK, 13.2.1947, BHStA München, MK 61940. Levsen: Autorität, S. 54. Vgl. hierzu auch Schumann: Legislation, S. 204 f. Protokoll des Ausschusses für Schulstrafen (HHStAW 1178, 149). Im bayerischen Landtag erinnerte ein Lehrer und Abgeordneter der Bayernpartei im Zusammenhang mit der Frage des Züchtigungsrechts daran, „daß während der Nazizeit der Lehrer in öffentlichen Kundgebungen immer wieder als ‚Steißtrommler‘ hingestellt wurde, weil man die Autorität der Lehrer untergraben wollte“ (Abg. Engel, Bayerischer Landtag, 55. Sitzung vom 11.12.1951, Stenographischer Bericht 1951/52, S. 863). So Diwo: Diktatur, S. 316 f. Schumann: Schläge, S. 42.
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ein 1961 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienener Artikel des Schriftstellers Gerhard Nebel, der die Autorität des Lehrers ins fast schon Mystische überhöhte: „Betritt der autoritäre Lehrer die Klasse, so geht ein Ruck durch die Jungen, die Eisenspäne richten sich zu ihm hin als zu einem Magneten, er ist wie ein Wind, der durch den Wald fährt und alle Bäume schüttelt“, die Schüler lernten bei ihm „leicht und wie von selbst“.223 Doch worin diese nicht erlernbare Autorität bestehe, konnte Nebel nicht definieren: Eleganz und körperliche Stärke seien hilfreich, aber nicht notwendig, Wissen sei unverzichtbar, aber alleine nicht ausreichend. Zwar stand für ihn fest, dass Autorität kein „Terror“ sei und dass „Prügelpädagogik“ normalerweise gerade ihr Fehlen belege – und dennoch berichtete die Anekdote, die Nebel zum Einstieg erzählte und die das einzige konkrete Beispiel für sein Ideal des ‚autoritären‘ Lehrers im Artikel darstellt, von einer „ebenso gewaltigen wie gut gezielten Ohrfeige“, die eine beim vorherigen Lehrer extrem undisziplinierte Klasse dauerhaft in brave Schüler verwandelt habe. Wenn es um das konkrete Handeln von Lehrern ging, scheint in den Debatten immer wieder mehr oder weniger deutlich die Ansicht durch, dass die Möglichkeit körperlicher Strafen unverzichtbarer Bestandteil ihrer Autorität sei – und dass deren Aufrechterhaltung Priorität habe gegenüber anderen Idealen wie Gewaltfreiheit in der Erziehung. Als Zusammenfassung soll hier ein besonders typisches Beispiel dienen, nämlich die Thesen zur Frage des Züchtigungsrechts, die 1954 ein Mitarbeiter des rheinland-pfälzischen Kultusministeriums dem Landesschulbeirat vorstellte, ohne auf Widerspruch zu stoßen: Er betonte zwar einerseits, es dürfe keiner „autoritären Erzwingung einer untertanenhaften Schuldisziplin das Wort geredet werden“.224 Andererseits müsse ein Züchtigungsrecht erhalten bleiben „zur Stützung der Autorität im Sinne eines ganzheitlichen und natürlichen Erziehungsdenkens (Auch wenn der Lehrer von der Züchtigung nicht Gebrauch macht, muß das Kind wissen, daß er dies gegebenenfalls könnte und dürfte)“. Auch die in älteren Debatten weitverbreitete Vorstellung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses als Nullsummenspiel, bei dem Kritik am Lehrer zwangsläufig zu dessen Autoritätsverlust führe, ist in den Thesen des Referenten noch erkennbar, wenn er sich scharf gegen eine Einbeziehung der Schülerschaft in die öffentliche Diskussion der Schuldisziplin aussprach und forderte, dass selbst Lehrer, die beim Strafen Fehler begingen, noch in ihrer „Autorität den Kindern gegenüber gestützt werden“ müssten.
223 224
Gerhard Nebel: Wohin ist Chiron?, in: FAZ Nr. 274 vom 25.11.1961. V. d. Driesch: Thesen zur Behandlung der Frage der Schulzucht und des Züchtigungsrechts in der Volksschule, LHA Koblenz 910, 9509. Dort auch die folgenden Zitate. Laut Sitzungsprotokoll wurde „Eine Aussprache [. . . ] nicht für nötig gehalten“ (Auszug aus der Kurzfassung der Niederschrift über die Sitzung des Landesschulbeirates am 3. Februar 1954, ebd.).
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Die Analyse der Debatten rund um die beiden Urteile des Bundesgerichtshofs in den 1950er Jahren hat viele weitere Beispiele gezeigt, die belegen, wie weit entsprechende Positionen unter Lehrern, Schulbehörden und öffentlichen Kommentatoren noch verbreitet waren und dass sie vor allem in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre wieder verstärkt geäußert wurden – wenn auch selten so offen und ungebrochen wie 1951 im bayerischen Landtag, als das Argument eines Abgeordneten: „Wir haben auch nicht mehr die alte Autoritätsschule, die wir selbst durchgemacht haben, in der wir alle noch befangen sind“, mit dem Zuruf „Leider!“ quittiert wurde.225 Insgesamt zeigt sich in den Debatten der 1950er Jahre einerseits eine grundlegende Infragestellung traditioneller Autoritätskonzepte, andererseits aber auch die Tendenz, diese aus doppelter Richtung – durch intellektuelle Kritik und sinkende Akzeptanz seitens der Jugendlichen – bedroht wirkende, unsicher gewordene Autorität erst recht zu verteidigen und dazu gerade das Züchtigungsrecht als unverzichtbar zu sehen. Wenn also das „Autoritätsproblem in den sechziger und frühen siebziger Jahren eine bis dahin nicht gekannte Aufmerksamkeit“ in der Pädagogik erhielt, war das in erster Linie eine quantitative Veränderung, aber nichts grundlegend Neues.226 Bezeichnend ist etwa, dass nicht nur Heinrich Roths 1955 erschienenes Buch Autoritär oder demokratisch erziehen? bis 1970 mehrere Neuauflagen erlebte, sondern dass dabei auch Josef Spielers Vorwort, das die Aktualität des Themas angesichts einer keine Autoritäten akzeptierenden „heutigen Jugend“ und des Übergangs zwischen alten und neuen Autoritätsformen betonte, identisch blieb.227 Auch die Kritik am „Autoritären“ in Gesellschaft und Erziehung erlangte zwar in den späten 1960er Jahren eine bis dahin ungekannte Intensität und Verbreitung, war aber inhaltlich – zumindest was die im Reden über körperliche Schulstrafen rezipierten Elemente angeht – kaum neu. So wurde nun etwa häufi225
Bayerischer Landtag, 55. Sitzung vom 11.12.1951, Stenographischer Bericht 1951/52, S. 863. 226 Helmer/Kemper, Autorität, S. 145 (dort auch weitere Belege für Textsammlungen und Einzelschriften zum Thema aus dieser Zeit). So wurden etwa die politisch-philosophischen Debatten zum Thema, in deren Zuge beispielsweise Hannah Arendt Autoritätsverlust und -krise diagnostiziert hatte und Dolf Sternberger versucht hatte, einen pluralistisch-liberalen Autoritätsbegriff zu entwickeln (vgl. hierzu Kertscher: „Autorität“, S. 138–145) Anfang der 1960er Jahre auch in schulpädagogischen Zeitschriften rezipiert (vgl. Willy Strzelewicz: Der Autoritätswandel in Gesellschaft und Erziehung, in: Die deutsche Schule 53 (1961), S. 154– 167). 1964 wies Gotthart Wunberg (Die Autorität in der Schule, in: Neue Sammlung 4 (1964), S. 106–130) einen hierarchisch verstandenen Autoritätsbegriff als der Demokratie unangemessen zurück und forderte stattdessen eine „egalitäre Autorität“ beziehungsweise konkret auf die Schule bezogen: dass Lehrer ihren Autoritätsanspruch nicht „institutionell“, aus ihrer Stellung herleiten sollten, sondern allein aus den sachlichen Ansprüchen des Unterrichts und ihrer fachlichen Überlegenheit. Vgl. auch die Beiträge in Röhrs: Disziplin. 227 Roth: Autoritär, S. 6. Lediglich das Datum unter Spielers Ausführungen wurde aktualisiert.
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ger direkt oder indirekt auf das Konzept des ‚autoritären Charakters‘ verwiesen, das mit der zunächst zögerlichen, nun intensivierten Rezeption der Arbeiten von Adorno et al. einen höheren Bekanntheitsgrad erlangte.228 Doch waren (trotz aller natürlich vorhandener Unterschiede) die daraus ableitbaren Botschaften zur Problematik körperlicher Strafen bzw. einer auf Befehl und Sanktionen basierenden Erziehung weitgehend die gleichen, die bereits Erich Fromms älteren Arbeiten zum Thema entnommen werden konnten und die Heinrich Meng unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in die Diskussion ums Züchtigungsrecht eingebracht hatte.229 Auch die breit rezipierten Plädoyers Klaus Horns und Gerd Biermanns gegen Gewalt in der Erziehung standen in einer Traditionslinie, die über Meng und Fromm bis zur psychoanalytischen Pädagogik der 1920er Jahre zurückreichte.230 Der tatsächlich erst Ende der 1960er Jahre neu aufgekommene Begriff der antiautoritären Erziehung spielte dagegen in den Debatten um Körperstrafen kaum eine Rolle.231 Das Aussterben der auf Zwang gestützten Autorität
Die entscheidende Veränderung in den späten 1960er Jahren spielte sich somit nicht auf der Seite der Autoritätskritik ab, sondern bei deren Verteidigern: In den Jahrzehnten zuvor hatten Kritik am ‚Autoritären‘ oder an Erziehung zum ‚Untertanengeist‘ einerseits und die Vorstellung von einer auf die Möglichkeit der Gewaltanwendung angewiesenen Lehrerautorität andererseits nebeneinan228
229
230 231
Bereits 1961 verwies Fritz Bauer (Züchtigung, S. 309) auf Adornos „authoritarian personality“, spätere Beispiele für die Rezeption des Konzepts im Zusammenhang mit Erziehungsstrafen: Heinelt: Psychologie, S. 61; T. Brocher: Plädoyer für eine kritische Jugend, in: Pardon 5 (1966), Heft 9, S. 7, Wüstrich: Anmerkung, S. 2289. Vgl. zur pädagogischen Rezeption der Arbeiten von Fromm, Adorno u. Horkheimer: Brumlik: „Autorität“, S. 199–203; zur Popularität von „Der autoritäre Charakter“ ab 1968 vgl. Levsen: Autorität, S. 526. Hier ist Sonja Levsen (Autorität, S. 526) zu widersprechen, für die die Rezeption des Konzepts der ‚autoritären Persönlichkeit‘ eine entscheidende Neuerung in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre war, da erst dadurch der „Zusammenhang von autoritärer Erziehung und Gewaltausübung“ in die Debatte eingebracht worden sei, während das ältere Autoritarismus-Narrativ allein auf die Neigung zur Unterordnung, nicht aber zur Gewalttätigkeit abgezielt habe. Tatsächlich hatte jedoch bereits Meng Ende der 1940er Jahre die Gewaltbereitschaft des autoritären Charaktertyps betont (vgl. S. 216) und war damit zumindest in Teilen der Debatte, etwa im hessischen Kultusministerium, nachweislich rezipiert worden. Allerdings war die Breitenwirkung seiner damaligen Beiträge nicht mit der von Adorno um 1970 zu vergleichen. Vgl. zur Rezeption der Psychoanalyse in der 1968er-Bewegung Bilstein: WiederEntdeckung. Zur Entstehung des Begriffs der ‚antiautoritären Erziehung‘ vgl. Brumlik: „Autorität“, S. 197 f.
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der existiert. Noch Mitte der 1960er Jahre konnte beispielsweise ein Gericht die Vorstellung einer im unbedingten Durchsetzen bestehenden Autorität des Lehrers vertreten, wenn es einwandte, dass ohne die Möglichkeit einer körperlichen Bestrafung „seine Stellung als Erzieher sonst nicht nur gegenüber den unbotmäßigen, sondern [. . . ] auch gegenüber den anderen, sich in die Schulzucht einfügenden Schülern in ihren Grundfesten erschüttert würde“.232 Doch in den um 1970 geführten Diskussionen über das Thema taucht der zuvor nahezu allgegenwärtige Verweis auf die zu schützende Autorität des Lehrers kaum noch auf – und wenn, dann fast ausschließlich im kritischen Sinne.233 Selbst als das noch 1978 ein Züchtigungsrecht verteidigende Bayerische Oberlandesgericht argumentierte, dass Lehrer bei maßvollen Körperstrafen nicht „dem schweren Vorwurf einer Körperverletzung im Amt und der damit verbundenen erhöhten Strafdrohung ausgesetzt werden“ sollten, verzichtete es auf das in früheren Äußerungen dieser Art fast immer enthaltene Argument, dass Gerichtsprozesse die Autorität des Lehrers schädigten.234 Wenn der Begriff der Autorität aus den Debatten um Körperstrafen Ende der 1960er Jahre nahezu völlig verschwunden war, galt dies keineswegs für den pädagogischen Diskurs insgesamt – eher im Gegenteil. So leitete etwa die Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung ihren Bericht über einen Vortrag zu „Autorität“ mit einer Erläuterung der aktuellen Bedeutung des Themas ein: Es gibt wohl kaum ein überkommenes Lebensprinzip, das seit einigen Jahren so sehr in Frage gestellt worden ist wie das der Autorität. Nicht zuletzt der Lehrer in der Schule erlebt und erleidet den Autoritätsverlust als Folge einer Veränderung überholter Gesellschaftsnormen. Kann ein undifferenziertes Nein zu jeglicher Autorität genügen, oder ist die Frage nach recht verstandener Autorität noch opportun?235
Entscheidend ist, dass die hier vorgestellte Alternative nur in der Ablehnung von Autorität überhaupt oder aber einem modifizierten, „recht verstandene[n]“ Autoritätsbegriff bestand. Der im Artikel vorgestellte Vortrag plädierte denn auch für eine Lehrerutorität, die sich auf die Sache statt auf institutionelle Hierarchien 232 233
234 235
OVG Düsseldorf: Urteil vom 9.12.1964, in: Zeitschrift für Beamtenrecht 13 (1965), S. 218– 220, Zitat S. 220. So erklärte beispielsweise ein Lehrer bei einer Podiumsdiskussion: „Kinder brauchen Leitbilder, müssen lieben lernen, nicht durch institutionelle Autorität, sondern durch Beispiel“ (zitiert nach: „99 Prozent der Schüler sind anständig“, in: Die Rheinpfalz/Speyerer Rundschau Nr. 249 vom 27.10.1969). Vereinzelte Ausnahmen, bei denen Lehrerautorität noch zur Rechtfertigung von Körperstrafen diente, finden sich bezeichnenderweise nur auf der eher lokalen bzw. nicht öffentlichen Ebene: So schrieb etwa 1968 ein (älterer) Bürger an das hessische Innenministerium, um sich gegen die Verurteilung eines Lehrers wegen einer Ohrfeige auszusprechen, da dies dem Lehrer „die Autorität genommen“ habe (J. S. an Hessisches Innenministerium, 15.5.1968, HHStA Wiesbaden 504, 4211). OLG Bayern: Züchtigungsrecht an bayerischen Volksschulen, in: NJW 1978, S. 1371–1373, Zitat S. 1373. Ekkehard Lindner: „Um ein neues Verständnis von Autorität“, ADLZ 1971, Nr. 6, S. 6.
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stützen und die eher der „auctoritas“ im klassisch-antiken Sinne entsprechen und „potestas, also Macht und ihren Mißbrauch [. . . ] vermeiden“ sollte. Ein ähnliches Verständnis von Autorität formulierte der Erziehungswissenschaftler Heinz-Jürgen Ipfling (und lieferte damit einen wichtigen Grund für die Ablehnung körperlicher Strafen durch den bayerischen Lehrerverband): Autorität könne „sich also nur durch das Argument ‚durchsetzen‘. Es stehen ihr keine anderen ‚Mittel‘ (wie etwa Sanktionen) zur Verfügung“.236 Diese Neubestimmung des Autoritätsbegriffs in der pädagogischen Diskussion führte in Verbindung mit der radikalen gesellschaftlichen Autoritätskritik der Studentenbewegung dazu, dass das alte Bild einer unbedingten, auf Befehl und dessen (gegebenenfalls gewaltsamer) Durchsetzung beruhenden Lehrerautorität nun völlig unhaltbar scheinen musste. Die Vorstellung einer auf äußerer Macht und Zwang aufgebauten Autorität war öffentlich nicht mehr zu vertreten237 – und somit konnte über diesen Begriff in vielen Kontexten diskutiert werden, aber nicht mehr im Zusammenhang mit der offensichtlichsten Form des Zwangs, sprich physischer Gewalt. Autorität konnte nicht mehr zur Legitimation von Erziehungsgewalt dienen, sondern war selbst legitimierungsbedürftig geworden.
236 237
Heinz-Jürgen Ipfling: Seminar zur Pädagogischen Problematik der Strafe, in: BHStA München, BLLV 273. Dieses Bild zeichnet auch eine Rundfrage unter Eltern, die das Lektorat des Kindler-Verlags 1971 veröffentlichte: Hier wurde in der sehr großen Mehrheit der Antworten „Autorität“ zwar als eher positiver Begriff gewertet, dabei aber klar verneint, dass Zwang zur Autorität gehöre (Kindler-Lektorat: Autorität).
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8. Fazit
Welches war nun der Grund, der zur Ächtung von Körperstrafen führte? Waren es veränderte Erziehungsziele, die immer stärkere Tabuisierung von Gewalt und Ausweitung des Gewaltbegriffs oder doch die Rezeption psychologischer und psychoanalytischer Erkenntnisse zur Gefährlichkeit von Körperstrafen? Die Antwort muss, vielleicht unbefriedigenderweise, lauten: Den einen Grund gibt es nicht; wie die meisten historischen Wandlungsprozesse ist auch dieser nur multifaktoriell zu erklären. Doch nimmt man nicht den gesamten langfristigen Prozess in den Blick, sondern konzentriert sich auf die Frage, warum sich gerade um 1970 die Gegner körperlicher Strafen durchsetzen konnten, ergibt sich ein eindeutigeres Bild: Vergleicht man die Debatten über Körperstrafen ab 1969 mit denen der 1950er oder auch 1920er Jahre, dann zeigen sich zunächst viele Gemeinsamkeiten. Nahezu alle von Züchtigungsgegnern vorgebrachten Argumente, sei es der Verweis auf die Menschenwürde des Kindes, auf Erziehungsziele wie Selbstwertgefühl oder auf psychologische und medizinische Gefahren von Schlägen, reichten bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück. Viele von ihnen wurden gar schon – wenn auch teilweise in andere Sprache gekleidet und meist als Außenseiterposition – im 19. Jahrhundert geäußert. Hier fanden im Lauf des 20. Jahrhunderts eher quantitative Verschiebungen statt, indem Minderheitspositionen zur Mehrheitsmeinung wurden. Insbesondere das normative Gewicht von Menschenwürde und Gewaltfreiheit erhöhte sich. Die Ablehnung von Körperstrafen mit Verweis auf diese Werte war um 1970 in den meisten Debatten dominant. Dennoch konnte ihr noch widersprochen werden, wie beispielsweise die kontrovers geführten juristischen Diskussionen um die Vereinbarkeit von Züchtigungsrecht und Menschenwürde zeigen. Doch neben diesen quantitativen Verschiebungen lässt sich ein qualitativer und wohl entscheidender Unterschied erkennen. Er betrifft nicht die gegen Körperstrafen vorgebrachten Argumente, sondern deren Verteidigung. Noch in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren war (trotz der daneben bestehenden Tradition einer kritischen Diskussion des Autoritätsbegriffs) der Verweis auf die Autorität des Lehrers, die ohne die Möglichkeit der Gewaltandrohung gefährdet sei, ein zentrales, wenn nicht gar das häufigste Argument zur Verteidigung körperlicher Strafen. Als Ende der 1960er Jahre über ein Verbot körperlicher Strafen diskutiert wurde, war dieses Gegenargument entfallen: Indem ein bestimmter, nämlich auf Macht und Zwang beruhender Autoritätsbegriff seine Legitimität verloren hatte, war es in öffentlichen Debatten kaum noch möglich, ausgerechnet körperliche Gewaltanwendung mit Verweis auf die Lehrerautorität zu rechtfertigen. https://doi.org/10.1515/9783111123783-008
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8. Fazit
Sonja Levsen hat im deutsch-französischen Vergleich festgestellt, dass die aufs Erziehungswesen bezogene Autoritätskritik der späten 1960er Jahre in Deutschland vor allem deshalb radikaler und wirkmächtiger war, weil sie durch eine ältere, bis 1945 zurückreichende Tradition, die deutsche Gesellschaft und Schule als besonders autoritär zu beschreiben, verstärkt wurde.1 Dadurch entwickelte, so Levsen, das Erziehungsziel einer „demokratische[n] Persönlichkeit“ eine besonders große Bedeutung, und die „Abkehr von der Untertanenerziehung“ hatte eine „dynamisierende Wirkung“ auf Debatten wie nicht zuletzt die über Schulstrafen.2 Dieser Unterschied könnte ein Grund sein, warum in Deutschland die schulrechtliche und öffentliche Ächtung körperlicher Schulstrafen um 1970 so vergleichsweise schnell vonstattenging, während beispielsweise in Großbritannien um diese Zeit kein ähnlich starker Einschnitt festzustellen ist, sondern Körperstrafen noch in den 1970er Jahren als erlaubtes Disziplinierungsmittel an Grundschulen akzeptiert sein konnten.3 Doch können solche Überlegungen auf Basis der Ergebnisse dieser Arbeit nur Spekulation bleiben – hier wären weitere international vergleichende Untersuchungen notwendig und vielversprechend. Zu beachten ist, dass der Wegfall der Lehrerautorität als Rechtfertigung für körperliche Schulstrafen nicht zu verwechseln ist mit einem generellen Legitimations- oder Bedeutungsverlust von „Autorität“ in der Erziehung oder in der Gesellschaft. Betroffen war vor allem ein bestimmtes – nun meist mit dem Adjektiv „autoritär“ umschriebenes –Verständnis des Begriffs, nach dem Autorität nicht zuletzt in der Fähigkeit zum unbedingten Durchsetzen von Anweisungen bestand, somit (auch) auf Macht und Zwang bis hin zur Gewaltandrohung beruhte und durch Eingeständnis von Fehlern oder ‚Niederlagen‘ in Konflikten unwiderruflich geschädigt werden konnte. Dieses Verständnis von Autorität war bereits zuvor kaum explizit als wünschenswert geäußert worden, wurde aber in Aussagen zur Legitimation schulischer Strafen immer wieder implizit erkennbar. Nun verlor es mit den sich in den 1960er Jahren enorm intensivierenden pädagogischen wie gesellschaftlichen Autoritätsdebatten jegliche Legitimierbarkeit. Hier zeigt sich in den Debatten um körperliche Strafen eine klare „Differenz zwischen dem zu zwei Zeitpunkten Sagbaren beziehungsweise Sanktionierten“4 und somit zumindest in Bezug auf Autoritätsvorstellungen tatsächlich ein Wertewandel. Einen ähnlichen Legitimitätsverlust eines „autoritären“ Verständnisses von Füh1 2 3
4
Vgl. Levsen: Autorität, S. 554 f. Ebd., S. 620 f. So kam etwa in Schottland noch 1977 eine Kommission zu dem Schluss, dass die Abschaffung von Körperstrafen zwar – wie bereits 1968 in Leitlinien festgehalten – angestrebt werden solle, aber nicht durch die Gesetzgebung festzulegen sei. Meinungsumfragen ergaben noch in den späten 1970er Jahren eine mehrheitlich positive Bewertung körperlicher Strafen durch die Eltern. Vgl. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Urteil v. 25.2.1982, 7511/76, in: EMGR-E 2, S. 53–63, hier S. 55. So Andreas Rödders Definition des Wertewandels (Wertewandel, S. 30).
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8. Fazit
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rung im gleichen Zeitraum hat auch Bernhard Dietz in seiner Untersuchung des Selbstverständnisses bundesdeutscher Wirtschaftseliten festgestellt,5 was das Bild einer grundlegenden, verschiedene Gesellschaftsbereiche erfassenden Veränderung bestätigt. Es war in erster Linie dieser Wandel, der (in Verbindung mit eher graduellen Verschiebungen wie dem Bedeutungsgewinn von Gewaltfreiheit, Menschenwürde und Grundrechten der Schüler) dazu führte, dass Körperstrafen ihre Legitimierbarkeit im öffentlichen Diskurs über schulische Erziehungsmittel verloren. Dieser Verlust der Legitimierbarkeit kann als entscheidender Grund für die Durchsetzung eines flächendeckenden Verbots von Körperstrafen um 1970 gesehen werden. Er führte dazu, dass nun auch zuvor zögerliche Kultusministerien und Lehrerverbände ein schulrechtliches Verbot akzeptierten oder gar forderten. Die verfügbaren Quellen deuten darauf hin, dass erst nach diesen Verschiebungen in den öffentlichen Debatten auch in der Breite die Zustimmung zu körperlichen Schulstrafen zu einer eindeutigen Minderheitsposition wurde und dass erst im Verlauf der 1970er Jahre Körperstrafen auch in der schulischen Praxis so weit zurückgingen, dass sie schließlich nur noch als (gegebenenfalls zu entschuldigende, aber nicht zu rechtfertigende) Grenzüberschreitungen in Ausnahmesituationen angesprochen wurden. Mit dem Bild des Mainzer Wertewandelsdreiecks gesprochen, ging die Veränderung in diesem Fall also recht eindeutig von einer Spitze des Dreiecks aus, indem die (in diesem Fall nicht immer, aber größtenteils wertbezogenen) Debatten zu einem Wandel der (zunächst nur schul-, erst deutlich später straf-)rechtlichen Rahmenbedingungen führten und beide gemeinsam ein nahezu vollständiges Aussterben von Körperstrafen auch in der sozialen Praxis des schulischen Alltags bewirkten. Diese Reihenfolge steht zumindest auf den ersten Blick im Gegensatz zu den Befunden, die sich bei der Untersuchung anderer historischer Wertewandelsprozesse ergaben: Demnach waren es vor allem veränderte soziale Praktiken von Teilgruppen, die über diskursive gesellschaftliche Konflikte zu Kompromissen in Form von Wertgeneralisierungen und schließlich zu institutionellen Veränderungen führten.6 Solche Mechanismen konnte etwa Christopher Neumaier in Bezug auf sich wandelnde Vorstellungen von „Familie“ aufzeigen.7 Dieses abweichende Ergebnis dürfte aber vor allem mit dem spezifischen Charakter des hier untersuchten Fallbeispiels zusammenhängen: Während etwa der Wandel der Familienideale eher von einer Pluralisierung und einer Ausweitung des gesellschaftlich Akzeptierten geprägt war, standen in dieser Arbeit explizit Tabuisierung und Verbot einer bestimmten Erziehungspraxis im Mittelpunkt. Die 5 6 7
Vgl. Dietz: Aufstieg, S. 113–202. Vgl. Rödder: Wertewandel, S. 37. Vgl. Neumaier: Familie, S. 511.
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entsprechenden Debatten zielten also stets darauf ab, dass alle Lehrkräfte ihr Handeln änderten. Schon allein daraus ergibt sich, dass eine veränderte Praxis Einzelner in dieser auf Einengung statt auf Ausweitung des Akzeptierten abzielenden Entwicklung weniger entscheidend war und einen geringeren Einfluss auf Diskurse und Normen ausübte. Eine grundlegende Veränderung sozialer Praktiken in der Breite blieb dagegen auch laut Neumaiers Untersuchung hinter dem diskursiven Wandel zurück (bzw. blieb überhaupt aus), sodass sich hier durchaus Ähnlichkeiten im Ablauf zeigen.8 Zu beachten ist auch, dass die klare Abfolge der drei Ebenen des Wandels nur für den Prozess der endgültigen Ächtung körperlicher Strafen um 1970 gilt – die längere Geschichte der kontroversen Diskussion und allmählichen Zurückdrängung dieser Strafform ist dagegen wesentlich komplexer: Bereits auf der Debattenebene rücken in einer längerfristigen Perspektive weitere wichtige Entwicklungen ins Blickfeld, vor allem eine etwa ab der Jahrhundertwende zu beobachtende Verschiebung der Expertenhoheit: Diese war zunächst nahezu konkurrenzlos der Lehrerschaft zugestanden worden, die sie aber nun zunehmend an die Wissenschaft, das heißt nicht nur an die theoretische Pädagogik, sondern auch an Medizin und vor allem Psychologie verlor. Dieser Prozess lässt sich als Niederschlag des übergreifenden Trends der „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ (Lutz Raphael) sehen. Hierdurch und durch die Impulse der Reformpädagogik wurde zudem die im 19. Jahrhundert weit verbreitete und noch bis ins 20. nachwirkende Vorstellung einer ‚bösen‘ (etwa im Sinne der Erbsünde), zu ‚bändigenden‘ Kindesnatur zunehmend abgelöst von einem grundsätzlich positiven Bild des Kindes, dessen Individualität zu schützen, zu stärken und zur Entfaltung zu bringen sei. Ein langfristigerer Blick relativiert zudem den Zäsurcharakter der späten 1960er und frühen 1970er Jahre etwas: Zwar fanden in dieser Zeit auch in den hier untersuchten Debatten entscheidende Verschiebungen statt. Diese betrafen jedoch nur die endgültige Durchsetzung von Einstellungen, Wertdefinitionen und -prioritäten, die bereits eine lange, teils gar bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende Tradition hatten. Auch die Wechselwirkungen zwischen Debatten, rechtlich-institutionellem Rahmen und Praxis waren langfristig gesehen deutlich vielfältiger. So ging beispielsweise im Hessen der Nachkriegszeit – oder auch im Sachsen der 1920er Jahre – ein rechtliches Verbot der gespaltenen, Körperstrafen mehrheitlich noch befürwortenden öffentlichen Meinung voraus; und zu allen Zeiten gab es einzelne Lehrer, die in ihrer Praxis auf Körperstrafen verzichteten und mit dieser Vorbildfunktion einen, wenn auch begrenzten, Einfluss auf pädagogische und öffentliche Debatten ausüben konnten. Schon diese vielfältigen Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Ebenen und Teildebatten widerlegen die in manchen Darstellungen noch anzu8
Vgl. ebd., S. 512.
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treffende Deutung der Abschaffung körperlicher Strafen als eine jener linearen Fortschrittsgeschichten, denen gegenüber Historiker zurecht grundsätzliche Skepsis hegen. Und doch zeichnet auch diese Arbeit das Bild einer, wenn auch nicht in Bezug auf ihren Weg, so doch hinsichtlich ihrer langfristigen Richtung und des Ergebnisses eindeutigen Entwicklung hin zum Verzicht auf körperliche Gewalt in der schulischen Erziehung – einer Entwicklung, die von uns heutigen Betrachtern, die an ihrem Ende stehen, naturgemäß als Fortschritt bewertet wird. Hierin könnte man der Arbeit zu unkritischen Optimismus vorwerfen: War der Verzicht auf körperliche Strafen nicht nur eine Verschiebung, beispielsweise hin zu Formen psychischer Gewalt und Erniedrigung? Auch wenn sich dies anhand der untersuchten Quellen nicht eindeutig überprüfen lässt, spricht vieles gegen eine solche Ablösung: In den zeitgenössischen Debatten wurde zwar die Befürchtung, Lehrer könnten körperliche Strafen durch für die Schüler nicht weniger belastende psychische Gewalt ersetzen, gelegentlich als Argument gegen ein Züchtigungsverbot verwendet; Hinweise, dass dies nach einem erfolgten Verbot bzw. Einschränkungen tatsächlich eingetreten sei, finden sich dagegen nicht. Vielmehr ist davon auszugehen, dass gezielte Demütigungen, verletzende Äußerungen und ähnliche Übergriffe während des gesamten Betrachtungszeitraums vorgekommen waren, parallel zu und teils auch in direkter Verbindung mit körperlichen Strafen. Hier wäre eher ein in der Tendenz parallel zur Verdrängung körperlicher Strafen verlaufender und durch die gleichen Mechanismen verursachter Rückgang zu erwarten, auch wenn sich dieser wegen der schwierigen empirischen Erfassbarkeit des Phänomens nur schwer nachweisen lassen dürfte. Doch selbst wenn schulische Strafformen tatsächlich insgesamt gewaltärmer und „sanfter“ wurden – war dies eine Liberalisierung oder wurde, analog zu Michel Foucaults einflussreicher Deutung der Entwicklung des Strafvollzugs, körperliche Gewalt lediglich durch subtilere, sanftere, dafür aber umso effektivere Disziplinierungs- und Kontrollformen ersetzt?9 Eine gesicherte Antwort auf 9
Vgl. für eine solche von Foucault inspirierte Perspektive auf die Entwicklung pädagogischer Strafformen: Pongratz: Freiheit. Eine direkte Übertragung von Foucaults Konzepten auf die Frage körperlicher Schulstrafen ist schwierig: Schließlich wurde nach Foucault bereits in der Zeit zwischen 1750 und 1850 im Bereich der Kriminalstrafen die ältere Form von Machtdemonstration durch physische Gewalt über den Körper des Untertanen abgelöst durch „eine Ökonomie der suspendierten Rechte“, die nicht mehr auf das Erzeugen von Schmerz abzielte (vgl. Foucault: Überwachen, S. 18 f.). Schon der Anfang des hier untersuchten Zeitraums war demnach von Techniken der Überwachung und Kontrolle, den „Disziplinen“ (wie es etwa in der Schule die exakt regulierte Positionierung der Schüler im Raum und die präzise vorgegebene Zeiteinteilung sein konnten, vgl. Caruso: Biopolitik, S. 29), geprägt. Das lange Fortbestehen gewaltsamer Strafen in der Schule lässt sich also schon chronologisch nur schwer in dieses Modell einfügen und es ist bezeichnend, dass etwa in Marcelo Carusos Analyse des bayerischen Volksschulwesens von 1869–1918 unter dem Blickwinkel Foucault’scher Konzepte die Frage der Körperstrafen nur sehr kurz Erwähnung findet (vgl. ebd., S. 360).
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diese Fragen lässt sich aus den Ergebnissen dieser Arbeit nicht ableiten: Dass Lehrer auch weiterhin einen Anspruch auf das Befolgen ihrer Anweisungen und Einhalten bestimmter Verhaltensregeln durchsetzten, bestätigen schon die Alltagserfahrung und die Eigenlogik des Unterrichtens größerer Gruppen von Kindern und Jugendlichen. Mit welchen Mitteln sie das taten, kann diese Arbeit nicht beantworten: Aus der Perspektive der Debatten um Körperstrafen heraus ist bestenfalls ein verzerrter Blick auf die nach der Abschaffung dieser Strafart (und damit dem weitgehenden Erliegen der Debatte) angewandten disziplinarischen Mittel möglich. Genauso wenig lässt sich bestimmen, wodurch das um 1970 vollständig diskreditierte Konzept von auf Sanktionen basierender Autorität auf lange Sicht ersetzt wurde. Dies wären Fragestellungen anderer Arbeiten.10 Doch sollte das grundsätzliche Weiterbestehen von Fragen der Disziplin, Autorität und auch Strafe in der Schulerziehung nicht zur Geringschätzung der stattgefundenen Veränderungen führen: In diesem Zusammenhang auf körperliche Gewalt oder auch nur deren Androhung zurückzugreifen, ist ab 1970 innerhalb weniger Jahre vollständig aus dem Bereich des öffentlich Vertretbaren verschwunden. Dies bleibt ein bemerkenswerter Wandel.
10
Vgl. als Beispiele für neuere pädagogische Untersuchungen zu Autorität in der Schule die Beiträge in: Zeitschrift für Pädagogik 53 (2007), Heft 5. Für eine Analyse der pädagogischen Diskussion über Schulstrafen bis ins 21. Jahrhundert hinein vgl. Richter: Strafen.
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Bayerisches Hauptstaatsarchiv München (BayHStA) BLLV MK VGH
Bayerischer Lehrer- und Lehrerinnenverband Ministerium für Unterricht und Kultus Verwaltungsgerichtshof
Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStAPK) GStAPK I. HA Rep. 76 Kultusministerium
Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHStAW) 360/170 405 461 468 504 814/3 1178 1247
Stadt- und Gemeindearchive: Görsroth Regierungspräsidium Wiesbaden Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Frankfurt a. M. Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Wiesbaden Hessische Landesregierung: Kultusministerium Gesamtschule Weilmünster Nachlass Erwin Stein Nachlass Karl Löhr
Hessisches Staatsarchiv Darmstadt (HStAD) H1 H2 Bergstraße H2 Dieburg H13 Darmstadt H13 Gießen H52 Groß-Gerau H52 Offenbach
Regierungspräsident Darmstadt Landkreis Bergstraße Landkreis Dieburg Staatsanwaltschaft Darmstadt Staatsanwaltschaft Gießen Staatliches Schulamt für den Landkreis Groß-Gerau und den MainTaunus-Kreis Staatliches Schulamt für den Landkreis Offenbach und die Stadt Offenbach a. M.
https://doi.org/10.1515/9783111123783-009
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Quellen- und Literaturverzeichnis
Hessisches Staatsarchiv Marburg (HStAM): 166 274 Kassel
Preußische Regierung Kassel, Abteilung II (Kirchen und Schulen) Staatsanwaltschaft Kassel
Landesarchiv Speyer (LASp) H3 H45
Regierung der Pfalz, Kammer des Innern und der Finanzen Bezirks- bzw. Landratsamt Speyer
467 441 910
Landratsamt Kreuznach und ehemaliges Landratsamt Meisenheim Bezirksregierung Koblenz Kultusministerium Rheinland-Pfalz
Landeshauptarchiv Koblenz (LHAKo)
Sächsisches Staatsarchiv, Hauptstaatsarchiv Dresden (SächsStA-D) 11146 11125
Bezirksschulamt Großenhain Ministerium des Kultus und öffentlichen Unterrichts
30356 30360 30364
Bezirksschulamt Annaberg Bezirksschulamt Glauchau Bezirksschulamt Schwarzenberg
Sächsisches Staatsarchiv, Staatsarchiv Chemnitz (SächsStA-C)
Sächsisches Staatsarchiv, Staatsfilialarchiv Bautzen (SächsStAFilA-BZ) 50013 500015
Amtshauptmannschaft Bautzen Amtshauptmannschaft Löbau, Nr. 859
1.2 Gedruckte Quellen 1.2.1 Parlamentsprotokolle Bayerischer Landtag: Stenographischer Bericht über die Verhandlungen des Bayerischen Landtags Bayerischer Landtag: Verhandlungen des Bayerischen Landtags. Stenographische Berichte Kammer der Abgeordneten des Bayerischen Landtags: Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des Bayerischen Landtages. Stenographische Berichte Landtag Rheinland-Pfalz: Stenographische Berichte Preußischer Landtag: Verhandlungen des Preußischen Landtags Preußisches Abgeordnetenhaus: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten
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1.2.2 Zeitschriften Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung Amtsblatt des hessischen Ministers für Kultus und Unterricht 2 (1949)/ Amtsblatt des hessischen Ministers für Erziehung und Volksbildung, ab 3 (1950) Amtsblatt des Ministeriums für Unterricht und Kultus von Rheinland-Pfalz Amtsblatt des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus Bayerische Lehrerzeitung Bayerischer Staatsanzeiger Berliner Lehrerzeitung Berliner Tageblatt Berliner Volkszeitung (bis 1904: Volks-Zeitung) betrifft:erziehung Blätter für höheres Schulwesen Deutsche Allgemeine Zeitung Deutsche Blätter für erziehenden Unterricht Deutsche Lehrerzeitung Deutsche Richterzeitung Die deutsche Schule Deutsche Schulpraxis Der deutsche Volkserzieher Eltern Die Erziehung Frankfurter Allgemeine Zeitung Frankfurter Rundschau Die Frau im Staate Die Gartenlaube Der Gerichtssaal Germania Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Rheinland-Pfalz Goltdammer’s Archiv für Strafrecht Die Grenzboten Hessische Lehrerzeitung Die Höhere Schule Juristenzeitung Juristische Wochenschrift Korrespondenzblatt für den akademisch gebildeten Lehrerstand Lebendige Erziehung
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Quellen- und Literaturverzeichnis
Die Lehrerin in Schule und Haus Ministerialblatt für Kirchen- und Schul-Angelegenheiten im Königreich Bayern Neue Bahnen Neue Preußische Zeitung Neue Sammlung Neue Zeitung Neuer Vorwärts Neue Juristische Wochenschrift (NJW) Pädagogische Post Pädagogische Provinz Pädagogische Reform Pädagogische Warte Pädagogische Zeitung Pardon Pfälzische Lehrerzeitung Der praktische Schulmann Preußische Lehrer-Zeitung Psyche Recht der Jugend Das Recht Die Rheinpfalz: Speyerer Rundschau (kurz: SP) Rote Fahne Sächsische Schulzeitung Die Sammlung Schola: Monatsschrift für Bildung Die Schulwarte Speyerer Tagespost Der Spiegel Süddeutsche Zeitung Das Tage-Buch Der Türmer underground. Das deutsche Schülermagazin Unsere Jugend Der Volksschullehrer Vorwärts Die Weltbühne Das werdende Zeitalter Württembergisches Gerichtblatt Die Zeit Zeitschrift für Beamtenrecht Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft Zeitschrift für experimentelle Pädagogik
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Zeitschrift für Pädagogik Zeitschrift für pädagogische Psychologie und Jugendkunde Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen (kurz: Zentralblatt) Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt Digitale Sammlung von Kölner Zeitungsausschnitten – Bd. II.24, URL: http://www.ub.uni-koeln.de/cdm/ref/collection/zas/id/19349 – Bd. II.32, URL: http://www.ub.uni-koeln.de/cdm/ref/collection/zas/id/21145 – Bd. II.33, URL: http://www.ub.uni-koeln.de/cdm/ref/collection/zas/id/21442 (letzter Aufruf jeweils: 3.10.2020)
1.2.3 Weitere gedruckte Quellen Aufsätze und Artikel aus Zeitschriften und Zeitungen sind im Folgenden nur aufgeführt, wenn sie mehr als einmal zitiert wurden. Nur einmalig zitierte Zeitschriften-/Zeitungsartikel sind in der jeweiligen Anmerkung mit vollständigen bibliographischen Angaben genannt. Ackermann: Strafe, in: Wilhelm Rein (Hrsg.): Encyklopädisches Handbuch der Pädagogik. Bd. 9: Strafe – Vortrag, mündlicher, Langensalza 1909, S. 1–13. Adorno, Theodor W./Fenkel-Brunswick, Else/Levinson, Daniel J./Sanford, R. Nevitt: The Authoritarian Personality, New York 1950. Adorno, Theodor W.: Tabus über dem Lehrberuf, in: Gerd Kadelbach (Hrsg.): Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt am Main 1970, S. 73–91. Adorno, Theodor W./Becker, Hellmut: Erziehung zur Entbarbarisierung, in: Gerd Kadelbach (Hrsg.): Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt am Main 1970, S. 126–139. Andreas, R.: Auswirkungen eines Züchtigungsverbots im Schulalltag, in: Wirtschaft und Recht (Beilage zur ADLZ) 5 (1955), S. 31–32. Bach, Wilhelm Karl: Die körperliche Züchtigung in der preußischen Volksschule, Bielefeld 1899. Bader, Karl S.: Anmerkung zum BGH-Urteil vom 17.7.1954, in: Juristenzeitung 9 (1954), S. 755–756. Barth, Paul: Die Elemente der Erziehungs- und Unterrichtslehre. Auf Grund der Psychologie und der Philosophie der Gegenwart, Leipzig 1908. Bauer, Fritz: Züchtigung und Recht, in: Recht der Jugend 10 (1962), S. 305–309 (entspricht gleichnamigem Aufsatz in Recht und Wirtschaft der Schule 2 (1961), S. 193–197). Baumert, Gerhard: Jugend der Nachkriegszeit. Lebensverhältnisse und Reaktionsweisen, Darmstadt 1952 (= Gemeindestudie des Instituts für sozialwissenschaftliche Forschung, Bd. 4). Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus: Landesschulordnung, München 1943. Beetz, Karl Otto: Der Führer im Lehramte. Ein Ratgeber für Seminaristen, Lehrer und Schulaufsichtsbeamte, 8. Aufl., Osterwieck (Harz)/Leipzig 1923 (= Der Bücherschatz des Lehrers, Bd. 6). Bezold, A[ndreas]: Das Züchtigungsrecht in der bayerischen Volksschule, München 1906. Biermann, Gerd: Kindeszüchtigung und Kindesmißhandlung. Eine Dokumentation, München 1969. Bloh, F.: Körperstrafen für Kinder, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 23 (1906), S. 895– 899.
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Personenregister Ackermann, Eduard 131 Adler, Alfred 141 f., 447 Adorno, Theodor W. 335, 337, 435, 453 Allstaedt, Reinhold 416 f. Arndt, Ernst Moritz 405
Geisler, Adalbert 85 Gill, Wilson L. 125 Goldstein, Hermann 170 Grimme, Adolf 194 Gurlitt, Ludwig 149
Bader, Karl S. 302 Baginski, Rainer 335 Barth, Paul 296 Basedow, Joann Bernhard 32, 60 Bauer, Fritz 314, 427 Beeger, Julius 75 f., 147 Beetz, Karl Otto 157 Biermann, Gerd 334, 336, 436 Boelitz, Otto 188 Bohl, Franz 235 f., 259, 408 Bosse, Robert 80 Bracke, Wilhelm 164 Bracken, Helmut von 140, 166, 235, 272 Brücher, Hildegard siehe Hamm-Brücher Bruns, Hans-Jürgen 381 Bungardt, Karl 304, 426
Haenisch, Konrad 185 Hamm-Brücher, Hildegard 286 f. Hapke, Eduard 361 Hartmann, Franz Xaver 283 f., 287, 319, 369 Häuberle, Johann Jakob 48, 432 Hävernick, Walter 332–336 Hennig, Ernst 198, 205 Herr, Rudi 326 Hoegner, Wilhelm 276, 285 Hoesch-Ernst, Lucy 127, 129 Hoffmann, Johannes 179 Horn, Klaus 332, 334– 336 Hundhammer, Alois 277–279, 282, 285, 288 f., 345, 431
Deiters, Heinrich 142, 424 Diesterweg, Adolph 60, 407 Dippold, Andreas 136 Dreher, Eduard 387 Drexel, Emmi 239 Dürig, Günter 19, 315, 423 f., 427 f.
Jung, Heike 383
Ebert, Wilhelm 405 Ell, Ernst 329 f., 399 Fabian, Walter 361 Feidel-Merz, Hildegard 374 f., 377 Fendt, Franz 276 f. Fischer, Aloys 235 Foerster, Friedrich Wilhelm 117, 123–126, 165, 201, 235, 296, 424, 439 f. Franke, Gustav 239 Freud, Sigmund 137, 142, 429 Fromm, Erich 263 f., 271, 335, 453 Galtung, Johan 435 Gärtner, Paul 129 Gayl, Wilhelm von 241, 441
Ipfling, Heinz-Jürgen 371, 455
Kaestner, Paul 190 Kähler, Wilhelm 241– 243, 257, 404 Kaiser, Fritz 182 Kaufmann, Josef 201 f., 205 Kaus, Gina 139, 188, 448 Kehr, Karl 65 f. Kern, Heinrich 126 Key, Ellen 118–120, 122 f., 127 f. , 178, 259, 402, 429, 440 Kiefer, Otto 128 f., 430 f. Klett, Carl Renatus Gottlob 51–57, 59, 61, 105, 125, 133, 420 Knorr, Hans-Joachim 295 f. Kohlhaas, Max 309, 427 Kölsch, Lucie 427 Krämer-Badoni, Rudolf 317 Lackner, Karl 386 Lauterbach, Matthias 435 Lhotzky, Heinrich 178 f. Lindgren, Astrid 397
https://doi.org/10.1515/9783111123783-010
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iSarina Hoff: Der lange Abschied von der Prügelstrafe — 2023/7/19 — 9:43 — page 494 — le-tex i i
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Personenregister
Lückert, Heinz-Rolf 353–355 Lützow, Kurt-Lüder von 129, 187 f.
Rühle-Gerstel, Alice 138, 235 Rust, Bernhard 241, 244
Mader, Wilhelm 152 f., 404 Matt, Franz 179 Matthias, Adolf 418 Meng, Heinrich 262–264, 271, 296, 302, 330, 334, 336, 409, 453 Mennicke, Carl 326 Mertens, Theodor 51–57, 128 Mielke, Manfred 297, 301 Moll, Albert 135 f., 235 Moses, Julius 408 Motty, Łukasz Augustyn Stanisław 83 f.
Sachse, Johannes Josef 45, 50, 130 Sack, Eduard 51, 57–60, 67, 128, 165 Schaller, Klaus 331 Scheibe, Wolfgang 334 Schleiermacher, Friedrich 405 Schlesinger, Eugen 133 f. Schmid, Karl Adolf 44 Schneider, Friedrich 259 f. Schohaus, Willi 261 Scholz, Günter 371 Schramm, Franz 265 f., 318 Schulz, Heinrich 164–166, 400, 440 Schwalber, Josef 287 Schwarze, Friedrich Oskar von 200 Serwe, Rolf A. 383 f. Simon, Alfons 275 f. Sittart, Hubert 85 Sniehotta, Ludwig 143 Spencer, Herbert 120 Stern, Erich 141 f., 235, 447 Stein, Erwin 266, 268, 313 Stein, Gottfried 271 Studt, Conrad von 92 Süsterhenn, Adolf 291
Natorp, Paul 50, 126, 418 Nebel, Gerhard 405 f., 451 Netzer, Hans 329 Niederhausen, Ernst 129 f. Oestreich, Paul 122, 188, 235, 329 Paulsen, Friedrich 131, 173, 424, 446 Paulsen, Wilhelm 119 f., 129 Peetz, Peter 303 f., 306 Penzig, Rudolf 117 f. Pestalozzi, Johann Heinrich 42 f., 60, 68 f., 398, 442 Petri, Horst 435 Pfister, Adolph 40 f. Piaget, Jean 326 Plecher, Hans 141 Pönitz, Clemens 145–148, 150 Redelberger, Oskar 295, 309 Rein, Wilhelm 131, 175 Röhrs, Hermann 331 Rolfus, Hermann 40 f. Rössner, Lutz 410 Roth, Heinrich 322, 326, 448 f., 452 Rotten, Elisabeth 235 Rousseau, Jean-Jacques 32, 60, 120 Rucker, August 303 Rühle, Otto 164
Tausch, Anne-Marie 330 f., 353, 376 Tausch, Reinhard 331, 376 Tröndle, Herbert 387 Trost, Friedrich 405 Usadel, Georg 236–238, 422 Viehweg, Willy 271 f. Vogel, Bernhard 362 f., 365 Waitz, Theodor 126 Wander, Karl Friedrich Wilhelm 60 Wehner, Anton von 177 Wettig, Liselotte 259 Zirngibl, Hugo 355 Zulliger, Hans 326
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