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German Pages 683 [688] Year 2003
Der Ökonom als Politiker Hankel/Schachtschneider/Starbatty (Hrsg.)
— ^ Ökonom ·· Der als _Politiker Europa, Geld und die soziale Frage
Festschrift für Wilhelm Nölling
Herausgegeben von Wilhelm Hankel Karl Albrecht Schachtschneider Joachim Starbatty
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Lucius & Lucius · Stuttgart
Anschrift der Herausgeber: Prof. Dr. Wilhelm Hankel Berghausenerstr. 190 53639 Königswinter Prof. Dr. Karl Albrecht Schachtschneider Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Lehrstuhl für Öffentliches Recht Lange Gasse 20 90403 Nürnberg Prof. Dr. Dr. h.c. Joachim Starbatty Eberhard-Karls-Universität Tübingen Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät Nauklerstr. 47 72074 Tübingen
Die Drucklegung erfolgte mit freundlicher Unterstützung von Pro Europa e.V. zur Förderung der Europäischen Integration
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar ISBN 3-8282-0267-5 © Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH Stuttgart 2003 Gerokstr. 51, D-70184 Stuttgart www.luciusverlag.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung, Verarbeitung und Übermittlung in elektronischen Systemen. Druck und Einband: Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany
Wilhelm Nölling Zum 70. Geburtstag
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Geleitwort Wilhelm Nölling setzt sich für das Gemeinwesen ein; er will vor allem das Los der Menschen bessern, die auf Hilfe angewiesen sind. Die soziale Frage - wie machen wir den sozialen Ausgleich innerhalb einer Generation und zwischen den Generationen möglich und zwar in Deutschland sowie in einem vereinten Europa, welche Zukunft eröffnen wir unserer Jugend - und die Suche nach Antworten haben ihn Zeit seines Lebens nicht losgelassen. Wilhelm Nölling ist in der ökonomischen Wissenschaft groß geworden; das Streben um tätige Problemlösung hat ihm mit der Politik verbunden; doch ist er immer auch Ökonom geblieben. Es ist ein großes Manko unserer Politik, daß so wenige in der Wolle gefärbte, sondern bestenfalls angelernte Ökonomen den Weg in die Politik finden. Wie schon Karl Schiller ist auch Wilhelm Nölling das ökonomische Gewissen seiner Partei, der SPD, geworden. An welcher Stelle auch immer: In den Ausschüssen des Deutschen Bundestages, als Senator seiner politischen Heimatstadt Hamburg und lange im Zentralbankrat der Deutschen Bundesbank hat er sich von seinem Credo kein Jota rauben lassen. Es gibt keine Wirtschaftspolitik gegen den ökonomischen Sachverstand, und erst die Wirtschaftspolitik macht aus der Ökonomik eine dem Gemeinwohl verpflichtete „politische" Realwissenschaft - das Gegenteil methodisch verspielter Ökonometrik. Der Ökonom und Politiker Wilhelm Nölling denkt über die nationalen Grenzen hinaus. Erfüllt ein Europa, das seinen Völkern die eigenständige Sozial- und Fiskalpolitik wenn nicht nimmt, so doch stark beschneidet, die Erwartungen? Wer kommt für die Kosten der Integration und den Verlust der Währungshoheit auf? Wird die Europäische Zentralbank das Versprechen einlösen können, das hohe Gut der Währungsstabilität mit dem notwendigen wirtschaftlichen Wachstum zu verbinden, wie das eine nationale Zentralbank wie die Deutsche Bundesbank ein halbes Jahrhundert lang zu leisten vermochte. Gerade mit Hilfe seines „Doppellebens" als wissenschaftlicher Ökonom und handelnder Politiker hat Wilhelm Nölling auf allen Ebenen und Stationen seines Berufslebens dazu beigetragen, die Politik wissenschaftlicher und die Wissenschaft politischer zu machen. Die lange Liste seiner stets aktuellen und oft kämpferischen Publikationen bezeugt es. Es gibt nur wenige dramatispersonae deutscher Wirtschafts-, Währungs- und Sozialpolitik, mit denen er während der letzten 40 Jahre nicht im Meinungsaustausch gestanden hätte. Der Titel der Festschrift „Der Ökonom als Politiker - Europa, Geld und die soziale Frage" spiegeln sein
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Geleitwort
Leben und sein Streben, als Ökonom auf die Politik einzuwirken, und auch die Felder, die er als Politiker und Ökonom bestellt hat, wieder. In dieser Festschrift sind Freunde, Weggefährten und Mitstreiter — über die Parteigrenzen hinweg - aus Wilhelm Nöllings verschiedenen Lebensabschnitten versammelt. So ist aus dieser Festschrift mehr geworden als eine Sammlung von Aufsätzen und Stellungnahmen zu jenen Themen und Politikfeldern, die mit dem Namen Wilhelm Nöllings auf das Engste verbunden sind. Herausgekommen ist Werk für den an der politischen Agenda interessierten Bürger. Es unterrichtet nicht nur über das, was gerade auf dem Spielplan steht, sondern gibt Anregungen, Argumente und Einsichten für die schwierige Zukunft. Der Leser lernt noch etwas kennen: den Menschen Wilhelm Nölling. Die Zurufe seiner langjährigen Freunde zeichnen ein Bild seiner persönlichen Züge. Dem Menschen Wilhelm Nölling sind auch die Herausgeber als Freunde verbunden. Bei aller Unterschiedlichkeit eint sie der Wille, als Wissenschaftler den Lauf der Politik und damit der Welt zum Besseren zu wenden oder vor falschen Weichenstellungen zu warnen und sich für das als richtig Erkannte nachdrücklich und öffentlich einzusetzen. Was richtig ist, zeigt sich nicht sofort; man merkt es erst nach geraumer Zeit, oft erst, wenn der Zug entgleist. Daher finden sich in diesem Band Beiträge höchst unterschiedlicher Weltsichten nebeneinander versammelt. Was sie eint, ist Wilhelm Nölling, die Freundschaft mit ihm und der Respekt vor ihm. Was die Herausgeber mit ihm verbindet, drückt das LutherWort aus, das wir auf Anregung Wilhelm Nöllings unserer Euro-Klage vorangestellt haben: „Und tue, was du schuldig bist zu tun, in Deinem Berufe." Unser Dank gilt unserem Verleger, Dr. Wulf D. v. Lucius, der die Festschrift für Wilhelm Nölling wieder mit großem Verständnis begleitet hat. Wir danken Katrin Hidding vom Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Wirtschaftspolitik, in Tübingen und Ilona Walter und besonders Else Hirschmann vom Lehrstuhl für Öffentliches Recht in Nürnberg für unermüdliche, sorgsame und aufopferungsvolle Unterstützung bei der Erarbeitung druckreifer Manuskripte und der technischen Fertigstellung des ganzen Werkes. Im Herbst 2003 Wilhelm Hankel
Karl Albrecht Schachtschneider
Joachim Starbatty
Der Ökonom als Politiker - Europa, Geld und die soziale Frage (hrsg. v. W. Hankel, Κ. A. Schachtschneider und J. Starbatty) © Lucius & Lucius, Stuttgart, 2003
Wilhelm Nölling - Politiker und Ökonom Wilhelm Hankel, Karl Albrecht Schachtschneider und Joachim Starbatty „Wisset, daß das Geheimnis des Glücks die Freiheit, das Geheimnis der Freiheit aber der Mut ist." Aus Perikles'Totenrede (Thukydides, II43) Wilhelm Nölling war uns bekannt, lange bevor wir ihn als Menschen kennen und als Freund zu schätzen lernten: Ein deutscher Professor der fast ausgestorbenen Paulskirchen-Tradition, der sich nicht scheut, den Elfenbeinturm zu verlassen, wenn es gilt, der Öffentlichkeit Antworten zu den Zeitfragen der Wirtschaft, der Währung und des Sozialen zu geben. Die Demokratie braucht nicht die von oben verordnete Meinung, sondern den Streit um Wahrheit und Richtigkeit. Sie braucht Politiker mit Zivilcourage, wie Wilhelm Nölling, der den Diskurs mit seinen Parteifreunden gerade dann suchte, wenn sie sich in die gefahrlichste aller Versuchungen zu verstricken drohten: die Verwechslung von politischem Wunschbild mit ökonomischer Realität. Für Wilhelm Nölling, den Politiker und Professor, gab und gibt es bis heute nur eine Devise der Überzeugung - die persönliche Glaubwürdigkeit. Ihren inneren Kurswert der nur zu oft niedrigeren Tagesnotiz anzupassen, hat er stets abgelehnt, auch wenn dies mit Konsequenzen für Amt, Karriere oder seine Person verbunden sein konnte. Obwohl Wilhelm Nölling nicht in Hamburg aufgewachsen ist, gehört er zu Hamburg, zu dieser schönen und stolzen Stadt, zur Freien und Hansestadt Hamburg, seit 700 Jahren Republik. Geboren am 17. November 1933 in dem kleinen Bauerndorf Wemlighausen im Rothaargebirge als Sohn eines hart arbeitenden Waldarbeiters, dessen Vater Landwirt war. Wilhelm Nölling hat einen Zwillingsbruder und zehn weitere Geschwister. Die Familie lebte in kärglichsten Verhältnissen, wie damals fast alle einfachen, zumal großen Familien. Sein Vater wollte nicht auf das Erbe des bäuerlichen Elternhauses warten. Um seiner vielköpfigen Familie eine ausreichende Wohnstatt zu schaffen, zog er ins Oberbergische nach Schloß Homburg, wo er in der Sain-Wittgensteinschen Fürstlichen Forstverwaltung Berleburg arbeitete. Dort hat die Familie in einem großen Haus gelebt, im „Schloß", wie andere Dorfbewohner sagten, ohne fließend Wasser, ohne Heizung, ohne Bad. Im Lesen, Schreiben und Rechnen wurde Wilhelm
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Nölling in einer Zwergschule unterrichtet. Das wichtigste Lernziel seiner Kindheit war der Gehorsam, wobei damals auch der Stock ein Lehrmittel war. Wilhelm war der umsichtige Junge, der gern der geliebten Mutter bei deren schwerem Tagwerk half. Mit Freude hat er auf dem Lande, vor allem auf dem großväterlichen Hof, beim Mähen, Dreschen und Heumachen mitgearbeitet. Der fleißige Schüler, dem das Gymnasium verwehrt blieb, besuchte die Handelsschule, wegen seiner Begabung vom Schulgeld befreit. Noch als Kind hat Wilhelm Nölling Tod und Zerstörung des Krieges gesehen und eine bleibende „Abscheu vor den Nazi-Greueltaten" entwickelt. Den Krieg hat seine Familie überlebt. Sein Vater, der kritische Bemerkungen zum Dritten Reich gewagt hatte, mußte trotz der großen Kinderzahl lange ins Feld und kehrte im Sommer 1945 nach Kriegsgefangenschaft auf den Rheinwiesen in Remagen zurück. Die Mutter hat sich, wie alle Mütter in dieser schrecklichen Zeit, für ihre Kinder aufgeopfert. Von 1950 bis 1953 hat Wilhelm Nölling im Arbeitsamt Gummersbach eine Lehrzeit als Angestellten-Lehrling hinter sich gebracht, während derer er viel gelesen hat, Christliches, aber auch Klassisches und Geschichtliches. Er abonnierte die Monatszeitschrift „Der Aufstieg" und die Wochenzeitung „Christ und Welt". Das Christentum gewann großen Einfluß auf ihn, vor allem Martin Luther. Von 1948 bis 1953 war er im CVJM. Wilhelm Nölling suchte seinen Weg aus der Enge des Dorfes und aus der Not der Armut durch Bildung und Ausbildung. Es zog ihn, der die körperliche Arbeit auf Hof und Feld, aber auch auf dem Bau und in der Fabrik nicht gescheut hat, zum Studium. Seine Hoffnung war Hamburg. Zuvor hatte er in der Verwaltungsund Wirtschaftsakademie in Köln wegweisende Begegnungen mit der Wissenschaft und mit namhaften Gelehrten wie Hermann Jahrreiss und Wolfgang Hefermehl. In der Hamburger Akademie für Gemeinwirtschaft eroberte Wilhelm Nölling, seit dem 17. Lebensjahr Gewerkschaftsmitglied, einen Studienplatz. Dort hat er die Grundkenntnisse seiner volkswirtschaftlichen und namentlich sozialpolitischen Wissenschaft erworben. Gefordert und gefördert hat ihn Georg Hummel. Nach sechs Semestern erreichte er den Diplomabschluß und die Hochschulreife. In seiner Akademie, heute die Universität für Wirtschaft und Politik, hat er gut zehn Jahre assistiert und doziert, sich später aber abgewandt. Ein Stipendium der Stiftung Mitbestimmung ermöglichte Wilhelm Nölling das Universitätsstudium. An der Universität Hamburg studierte er Volkswirtschaftslehre, auch bei Karl Schiller, damals Rektor der Universität, in dessen Seminaren er mit erheblichem Erfolg ein Referat über John Maynard Keynes hielt. Größere Nähe hatte er zu Hans-Dietrich Ortlieb, bei dem er später promoviert hat. Weil das Stipendium knapp bemessen war, hat Wilhelm Nölling neben dem Studium gearbeitet. Keine Arbeit war ihm zu schwer, keine Arbeit war ihm zu schmutzig. Auf großer Fahrt nach Südamerika arbeitete er als „Reiniger unter Deck", was
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ihm das Seemannsbuch einbrachte, ein guter Ausweis für den späteren Hafensenator. Nach einer herausragenden Diplomprüfung erlangte Wilhelm Nölling ein Promotionsstipendium, das ihm ein Forschungsstudium in Berkeley an der University of California ermöglichte. Das führte ihn, seit 1958 mit Maria Straube verheiratet, für mehrere Jahre in die Vereinigten Staaten von Amerika. Die abenteuerlichen Reisen waren eine prägende Erfahrung. Sehr beeindruckt war Wilhelm Nölling von Präsident John F. Kennedy, den er in Berkeley erlebt und dessen Ermordung am 22. November 1963 auch ihn tief erschüttert hat. Den Professoren von Berkeley, J. M. Letiche und auch Lloyd Ulman, blieb Wilhelm Nölling herzlich verbunden. Anglophil war er schon durch eine längere Studienreise nach Großbritannien geworden. Die großen Eindrücke in den Staaten drohten ihn von der Wissenschaft abzulenken, aber Wilhelm Nölling fand zu seinem eigentlichen Ziel zurück und promovierte 1966 über „Arbeitslosigkeit und Berufsnot der Jugend in den USA". Die Promotionszeit machte „sieben lange Jahre" aus. Sie hat aber die akademische Persönlichkeit Wilhelm Nöllings hervorgebracht. Während des Studiums war Wilhelm Nölling im Sozialistischen Deutschen Studentenbund aktiv, für einen Studenten der Akademie für Gemeinwirtschaft in Hamburg geradezu selbstverständlich; aber diese Mitgliedschaft paßte auch ganz und gar zu Wilhelm Nölling, dessen Leben durch die Verantwortung für Familie und Gemeinwesen bestimmt war und ist. Herkunft und Familie, Kindheit und Jugend, Ausbildung und Studium, aber auch die vielfältigen einfachen oder harten Arbeiten haben die berufliche und politische Persönlichkeit Wilhelm Nöllings geprägt - einheitlich und gradlinig. Mit dem SDS besuchte er als einer der ersten deutschen Studenten Auschwitz. ,Juso" war Wilhelm Nölling nie. 1964 ist er der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands beigetreten. Dieser Schritt hat seiner beruflichen Karriere den Weg geebnet, aber sein politisches Wirken hing und hängt von dieser Parteimitgliedschaft nicht ab. Es ist durch seinen Charakter bestimmt. Wilhelm Nölling ist ein Mann der praktischen Vernunft, sachlich und wissenschaftlich, theoretisch und pragmatisch, den Menschen zugewandt, loyal seinem beruflichen und politischen Umfeld gegenüber, sowohl nach oben als auch nach unten. Recht bald übernahm Wilhelm Nölling in seiner Partei Funktionen. Von 1966 bis 1969 war er Bezirksverordneter in Eimsbüttel. 1969 wurde Wilhelm Nölling, nachdem er im Kreisverband nach siebenwöchigem innerparteilichen Wahlkampf noch seinem Gegenspieler Peter Blachstein knapp unterlegen war, vom Landesparteitag nach fünfstündigen dramatischen Abstimmungen über fünf Kandidaten als Bundestagskandidat nominiert. Eine Nomination für den Wahlkreis Eimsbüttel war nicht schon das Mandat. Wahlkampf war unverzichtbar. Wilhelm Nölling zog nach großem Einsatz mit sehr gutem Wahlergebnis in Erstund Zweitstimmen in den Bundestag ein, noch nicht 36 Jahre alt. Er hat die
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große Wendepolitik der sozial-liberalen Koalition unter der Kanzlerschaft Willy Brandts nicht nur miterlebt, sondern auch mitgetragen. Wilhelm Nölling war aber nicht Deutschland- und Außenpolitiker. Er hatte auch keine persönliche Nähe zu Willy Brandt, nicht einmal zu Helmut Schmidt, sondern war unermüdlicher Sozial- und auch Wirtschaftspolitiker. Er wurde in den Ausschuß für Arbeit und Soziales entsandt, den der Sozialdemokrat Ernst Schellenberg leitete. Wilhelm Nölling war Obmann der SPD-Arbeitsgruppe. Sein Alter hat es ihm erleichtert, als der „junge Mann von Schellenberg" lehrreiche Kärrnerarbeit zu leisten. Wilhelm Nölling hat sich in der VI. Legislaturperiode für große Fragen der Sozialpolitik eingesetzt, für Vermögensbildung, Mitbestimmung, betriebliche Altersversorgung, Krankenhausfinanzierung und Rentenpolitik. Anstandslos wurde er 1972 für die VII. Legislaturperiode wieder für den Bundestag nominiert und gewählt. Als Bundestagsabgeordneter war er 1970 und 1972 zum Kreisvorsitzenden seines Kreisverbandes Eimsbüttel gewählt worden, der stets umkämpften Basis seiner politischen und beruflichen Karriere, die ihm einflußreiche Ämter der Freien und Hansestadt Hamburg und große Verantwortung für die Hansestadt und auch für Deutschland gebracht hat. Schnell hat Wilhelm Nölling den Respekt seiner Partei und seiner Fraktion gewonnen, wesentlich durch seine fachliche Kompetenz, aber auch durch Einsatzbereitschaft, Zuverlässigkeit und Verbindlichkeit. Karl Schiller, Superminister für Wirtschaft und Finanzen, wollte ihn zum Parlamentarischen Staatssekretär machen, konnte sich aber in der Fraktion nicht durchsetzen. Ob Wilhelm Nölling mit einer Bonner Karriere glücklicher gewesen wäre als mit seiner Hamburger Karriere, ist zweifelhaft. Hamburg hat ihn in die höchsten Ämter berufen. Fast unausweichlich war es in den frühen 70er Jahren für sozialdemokratische Akademiker, Karl Marx zu studieren. Wilhelm Nölling hat diese Studien mit der Lektüre von August Bebel bereichert. Tiefgreifend kann Marx auf Wilhelm Nölling nicht gewirkt haben. Wilhelm Nölling war zu christlich, zu britisch, zu amerikanisch, aber auch zu wenig Ideologe, als daß er sich von marxistischen Theorien hätte in die Irre führen lassen. John Maynard Keynes hat ihn mehr beeindruckt. Sein Impetus war die soziale Gerechtigkeit im Rahmen einer marktwirtschaftlichen Ordnung. Er war ein Vertreter der marktlichen Sozialwirtschaft, wie man die von Wilhelm Nölling zeit seines Lebens vertretene Ordnungspolitik nennen sollte, ganz der Idee der Gemeinwirtschaft verpflichtet. Seine Abhandlung zum „Sozialstaatsbruch" in unserem gemeinsamen Buch „Die Euro-Illusion. Ist Europa noch ψ retten?" (2001) erweist diese Position Wilhelm Nöllings. Schon 1971 wurde Wilhelm Nölling gedrängt, als Senator für das Schulwesen in den Hamburger Senat einzutreten. 1973 sollte er Senator für Inneres werden. Beides hat er abgewehrt. Die Sozialdemokraten in Hamburg hatten durchaus Schwierigkeiten, geeignete Bewerber für die Senatorenämter zu finden. Auch die
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Ersten Bürgermeister waren damals recht jung, sowohl Peter Schuh als auch dessen Nachfolger Hans-Ulrich Klose. Die Mandatstätigkeit im Deutschen Bundestag behagte Wilhelm Nölling nicht mehr recht, weniger wegen der Abhängigkeit der Abgeordneten von der Fraktion als vielmehr wegen der ständigen Trennung von der geliebten Familie. So war er bereit, dem erneuten Vorschlag von Oswald Paulig und Ulrich Hartmann, den beiden langjährigen fuhrenden Sozialdemokraten in Hamburg, der erste Landes-, der zweite Fraktionsvorsitzender, zu folgen und als Nachfolger von Hans-Joachim Seeler das Amt des Senators für Gesundheitswesen und Umweltschutz zu übernehmen. Es war durchaus nicht einfach, die Zustimmung des Landesparteitages zur Kandidatur von Wilhelm Nölling zu erreichen, weil dieser sich durch seine respektable Prinzipientreue das Wohlwollen immer mächtiger werdender Parteigenossinnen verscherzt hatte. Er hatte nämlich mit der CDU gegen die Fristenlösung gestimmt. Er war für die Indikationenlösung eingetreten und ist darin vom Bundesverfassungsgericht bestätigt worden. Seine „tief empfundene Ehrfurcht vor dem Leben" hat er aus seiner Familie mitgebracht, war aber auch durch sein Christentum geboten. Die Genossinnen ließen sich auch nicht dadurch überzeugen, daß manch ein bedeutender Sozialdemokrat mit der Fristenlösung keine Lebenschance gehabt hätte, zumal Willy Brandt nicht. Eine materialistische, hedonistische Lebenseinstellung ist nicht die Sache eines Wilhelm Nölling. Mit Freude ging Wilhelm Nölling nach seiner Wahl in den Senat an die Arbeit. Die Senatorentätigkeit war das „Herzstück seines Arbeitslebens". Vierzig Jahre jung, voller Kraft und mit ganzem Herzen hat Wilhelm Nölling nach dieser Berufung seiner Stadt gedient. Die Arbeit war aufreibend, aber sie hat ihn sehr befriedigt. Wenn es einmal zu viel wurde, hat er sich mit Luthers Spruch weitergeholfen: „Der Mensch ist zum Arbeiten geboren wie der Vogel zum Fliegen". Wilhelm Nölling hat gerade als Gesundheitssenator manche Entwicklung angestoßen, etwa den Krankenhausbedarfsplan. Er war ein Mann des „rechten Maßes und des Ausgleichs". Das brachte ihm einen bemerkenswerten Titel ein: „Der gute Mann aus Schnelsen". In den letzten drei Monaten in diesem Amt hat Wilhelm Nölling auch noch als Schulsenator amtiert. Bereits nach zwei Jahren hat Wilhelm Nölling die Nachfolge des Wirtschaftssenators Helmuth Kern angetreten, der - als „Kenner und Könner" anerkannt zurücktrat. Dieses schwierige Amt war für den Volkswirt eine Herausforderung. Es war mit vielfältiger Verantwortung, aber auch mit Reisen nach Asien und Afrika, aber auch nach Polynesien und in das geliebte Amerika, verbunden. Wilhelm Nölling erwarb sich die Titel „Senateur Africain" und „Weltwirtschaftssenator". Er wurde von Amts wegen Vorsitzender des Aufsichtsrates in den großen öffentlichen Unternehmen Hamburgs, zumal der Hamburger Elektrizitätswerke. In dieser Verantwortung mußte er viele Spannungen und manche Fehlentwicklung aushalten. Im Hamburger Wirtschaftsressort hat jeder Senator einen
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schweren Stand und eine „wahnwitzige Arbeitsbelastung". Wilhelm Nölling ist dabei ein Husarenstück gelungen. Er hat für Hamburg einen entscheidenden Anteil an dem Finkenwerder Flugzeugunternehmen Messerschmitt-BölkowBlohm GmbH, München, „gekapert", bevor der Freistaat Bayern zugreifen konnte. Seitdem hatte man in München großen Respekt vor dem Hanseaten Wilhelm Nölling. Schon in den Siebziger Jahren war die steigende Arbeitslosigkeit, verbunden mit übermäßiger Inflation, eine Sorge in Deutschland — die Arbeitslosigkeit freilich auf einem Niveau, das heute Befriedigung auslösen würde. Den Wirtschaftswissenschaftler Nölling hat das in die Pflicht genommen. Er wagte es, dem Bundeskanzler Helmut Schmidt, seinem Hamburger Genossen, eine Investitionspolitik nach keynesianischer Art vorzuschlagen, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, ein „20 Milliarden Konjunkturprogramm". Helmut Schmidt hat das in der ihm eigenen Weise schroff zurückgewiesen, vor allem weil die Haushaltslage eine solche Politik nicht zulasse. Immer noch zukunftsweisend ist Wilhelm Nöllings Überlegung, einen Nordstaat zu schaffen, um ein tragfähiges Verhältnis von Stadt und Land herzustellen, in dem die politischen Grenzen mit dem wirtschaftlichen Lebensraum zusammenstimmen - ein Thema, das im Großen auch Europa und die Welt bewegt. Aufsehen erregte sein Vorschlag eines „mehrjährigen Investitionsprogramms zur Wachstums- und umweltpolitischen Vorsorge" (ZIP) aus dem Jahre 1977, als Deutschland über eine Million Arbeitslose hatte. Nach der Bürgerschaftswahl 1978 ließ sich Wilhelm Nölling von Hans-Ulrich Klose, dem Ersten Bürgermeister, überzeugen, Finanzsenator, erneut als Nachfolger von Hans-Joachim Seeler, zu werden. Damit war er der zweitmächtigste Mann der Hansestadt. Er hatte eine neue Form von Macht, die „Verhinderungsmacht", die Wilhelm Nölling von der „Initiativ-, der Kontroll- und der Entscheidungsmacht" unterscheidet. Als „Kassenwart" der Freien und Hansestadt Hamburg kamen auf ihn ganz neue Herausforderungen und Verantwortlichkeiten zu, zumal die Finanzlage in allen Ländern Deutschlands und auch in Hamburg prekär geworden war. Die Ölpreise und die Kreditzinsen zogen zunehmend an. Wilhelm Nölling legte seine Haushaltsentwürfe nicht nur rechtzeitig, sondern auch ausgeglichen vor. Er hat sich als Finanzsenator außerordentlichen Respekt erworben. Angegriffen wurde Finanzsenator Nölling wegen der „Persienpleite", zu Unrecht. Die Hamburger Städtebau-Gesellschaft, eines der vielen öffentlichen Unternehmen, hatte während seiner Zeit als Wirtschaftssenator in Bauvorhaben im Persien des Schahs investiert. Nach der theokratischen Revolution brach das „Iran-Geschäft" mit einen Verlust von fast 250 Millionen DM für Hamburg zusammen. Wilhelm Nölling hatte das Geschäft im Vorfeld abgewiesen, aber die Entscheidungswege waren an ihm vorbeigeleitet worden.
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Es gab aber einen Untersuchungsausschuß, in dem oppositionelle CDUMitglieder ihm am „Zeuge flicken" wollten - vergeblich. Die politische Arbeit wurde auch dadurch schwieriger, daß die Links-RechtsKonfrontation in der Hamburger SPD sich zuspitzte. Später hat das der Stadt schwer geschadet. Der Erste Bürgermeister Hans-Ulrich Klose rückte in der Atomstrompolitik, die eben auch Umweltpolitik war und zu gewaltsamen Auseinandersetzungen um das Atomkraftwerk Brokdorf geführt hat, mehr und mehr an die Seite der Atomstromgegner, also nach links. Die Diskrepanz zwischen der Senatspolitik und der Unternehmenspolitik der Hamburger Elektrizitätswerke hat damals in Hamburg wenig überzeugt. Wilhelm Nölling hat den Aufsichtsratsvorsitz der HEW niedergelegt. Hans-Ulrich Klose ist schließlich erschöpft zurückgetreten und wurde wieder Bundestagsabgeordneter. Wilhelm Nölling machte seine Sache so gut, daß sowohl die Sozialdemokraten als auch der Deutsche Gewerkschaftsbund ihn 1988 auf Vorschlag von Jochen Vogel als Kommissar für die Europäische Kommission präsentieren wollten. Das Amt wurde jedoch mit Martin Bangemann, der als Bundeswirtschaftsminister mehr oder weniger gescheitert war, besetzt. 1981 lotsten die Hamburger Sozialdemokraten Klaus von Dohnanyi nach Hamburg, dessen Geburtsstadt, und betrauten den vornehmen und gebildeten Mann mit dem schwersten Amt, das die Hansestadt zu vergeben hat. Klaus von Dohnanyi wollte schließlich die gewaltsamen Auseinandersetzungen in der Hamburger Hafenstraße nicht mehr mitmachen und hat 1988 sein Amt dem Fraktionsvorsitzenden Henning Voscherau mit dem bemerkenswerten Satz überantwortet: .Jetzt spring Du". Dieser tatkräftige Bürgermeister hat nach der an sich erfolgreichen Wahl 1997 nicht wieder für das Amt des Ersten Bürgermeisters kandidiert, sondern dies dem Vertreter des linken Flügels überlassen, dessen Amtsführung der „ewigen Opposition" den Weg an die Macht in Hamburg geebnet hat, nicht zur Freude Wilhelm Nöllings. Im November 1982 schlug Hans Hermsdorf Wilhelm Nölling für seine Nachfolge im Amt des Präsidenten der Landeszentralbank Hamburgs vor. Deren Beirat gehörte Wilhelm Nölling von Amts wegen seit 1976 an. Er wurde in das Amt berufen und hat diese schöne und verantwortungsreiche Aufgabe zehn Jahre lang bis 1992 wahrgenommen. Gegenüber den Strapazen der Senatsämter war dieses Amt „ruhig und beschaulich". Wilhelm Nölling konnte sich mehr und mehr in die Theorien der Geld- und Kreditpolitik vertiefen. Daraus sind wichtige Beiträge entstanden, etwa: Europawährung 2000? Start und Aussichten einer europäischen Währungsunion, 1987; Unser Geld — der Kampf um die Stabilität der Währungen in Europa, 1993; Über die ,Angst" der Amerikaner vor dem Euro, 1998, letztlich sein Kampf gegen die Währungsunion, den er mit uns, den Herausgebern, führt, immer mit dem Impetus, Europa die bestmöglichen Bedingungen für die Menschen, für alle Europäer, zu schaffen. Aus unserem Bemühen, Schaden von
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Deutschland und Europa abzuwenden, sind Die Euro-Klage. Warum die Währungsunion scheitern muß, 1998, die Verfassungsbeschwerde des Euro-Prozesses, und Die Euro-Illusion. Ist Europa noch ψ retten?, 2001, hervorgegangen. Die Euro-Klage ist bekanntlich gescheitert, weil das Bundesverfassungsgericht den Bürgern Grundrechtsschutz auch gegen die vertragswidrige Einfuhrung der Währungsunion nicht zu geben bereit war. Wilhelm Nölling hat in seiner zeithistorisch lesenswerten, aber bisher nicht veröffentlichten Autobiographie (1989), der die Zitate entnommen sind, aufgeschrieben, was Hamburg auszeichnet und damit von Hamburger Politikern erwartet werden muß: „Friedfertigkeit, Weltoffenheit, Verantwortungsbereitschaft, Nüchternheit, Bürgersinn und Verständigungsbereitschaft". Er verkörpert diese Eigenschaften wie kaum ein anderer, aber in einem Punkte hat er, der erfahrene Mann, sich geirrt. Er meint: „Opportunisten erreichen die Spitze nicht und können sich jedenfalls in dieser nicht halten". Wer nicht so hohe politische Ämter erreicht hat, ist und bleibt insoweit skeptisch. Auch die Parteien bringen bedeutende Männer und Frauen in wichtige Staatsämter, die Karriere Wilhelm Nöllings beweist es, aber selten, zunehmend seltener. Wilhelm Nölling gehört zu den Männern, die wir in der Politik benötigen. Er ist kein Opportunist, sondern ein Mann der Prinzipien, ein Mann der Sittlichkeit, ein Mann mit Moral. Seine Einbindung in eine Partei hat ihm nicht die praktische Vernunft genommen. Wenn sich Wilhelm Nölling mit dem Ende seiner Amtszeit als Präsident der Landeszentralbank auch aus dem Staatsdienst zurückgezogen hat, so dient er doch dem Gemeinwesen nach wie vor als akademischer Lehrer, kämpferischer Wissenschafder und mahnendes Gewissen. Er ist ein „Emeritus" im Wortsinn geworden, wie jene schlachterprobten römischen Legionäre, die (als emeriti) nach ihrer Dienstzeit das Schwert mit dem Pflug vertauschten, möglichst nicht weit vom Brennpunkt des Geschehens, um bei Gefahr im Verzuge wieder zur Stelle zu sein. Wilhelm Nölling tut seine politische Pflicht als Bürger. „Politik als Ber u f — dieser Weg Wilhelm Nöllings war richtig für ihn, vor allem aber für seine Stadt und für sein Land. Wilhelm Nölling ist ein Familienmensch. Seiner Familie hat er immer die Treue gewahrt, seiner Mutter von Herzen, seinem Vater mit Respekt und seinen Geschwistern mit Zuneigung. Sein Einsatz für die soziale Gerechtigkeit ist tief in seiner großen Familie, aber auch in seinem Christentum verwurzelt. Ganz dem Studium und dem Aufbau einer beruflichen Zukunft verschrieben, traf ihn am 26. März 1955 auf dem Hamburger Hauptbahnhof „der Blitz". Ein Blick genügte, und er drängte sich zu ihr in das vollbesetzte Abteil. Maria wurde seine große und einzige Liebe und ist es bis heute geblieben. Sie ist seine Frau und die Mutter seiner Kinder. Wilhelm Nölling ohne Maria, das gibt es nicht. Sie sind ein Stück Hamburg, Wilhelm Nölling, der gute Mann aus Schnelsen, und Maria - seine geliebte Frau. Wilhelm und Maria haben drei Kinder, Katherine, 1963 in Berke-
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XVII
ley geboren, Philip, 1966 in Hamburg geboren, beide wie der Vater als Volkswirte promoviert, und Anna, 1972 auch in Hamburg geboren, heute Lehrerin. Maria ist Wilhelm Nöllings Wegbegleiterin in allen Jahren, in Hamburg, in Deutschland und in der Welt. Es waren Jahre harter Arbeit, aber Jahre des Erfolges, Jahre des Glücks. Seit 1979 haben die Nöllings ihr Heim „Hohe Leuchte" nahe der Marsch im Nordosten von Hamburg. Dort „leben sie mit Tieren", mit Hühnern, Enten, Schweinen, Hornissen, Fledermäusen, Schwalben, Turmfalken, auch schon einmal Pferden, auf dem Lande, wie in der Kindheit, freilich anders als damals. Kraft findet Wilhelm Nölling auch in Liedern, Gedichten und Sprüchen, die schönsten hat er in „Hohe Leuchte" gesammelt. Wilhelm Nölling bleibt ein Mann auch der Stadt, ein Mann Deutschlands, ein Mann Europas und der Welt, eben ein Hamburger. Zum Hamburger gehört es, daß er Orden ablehnt. Die Ordensregeln, geschrieben und ungeschrieben, hat Wilhelm Nölling immer beachtet. Eine Festschrift aber ist kein Orden, sondern zeichnet den tätigen Mann aus, der sich in der Politik, in Gesetzgebung und Verwaltung, und in der Wissenschaft, in Forschung und Lehre, verdient gemacht hat. Es haben sich viele namhafte Persönlichkeiten, eben aus Politik und Wissenschaft, zusammengefunden, um ihrer Freude Ausdruck zu geben, daß sie Wilhelm Nölling auf seinem Weg begleiten konnten. Wir widmen diese Schrift dem Freund und Mitstreiter, für den Wissen und Gewissen eine unaufhebbare Einheit bilden. Sie bestimmte in der Vergangenheit sein Denken und Handeln. Sie bleibt auch in Zukunft sein Imperativ.
Inhalt Geleitwort Wilhelm Hankel, Karl Albrecht Schachtschneider, Joachim Starbatty Wilhelm Nölling - Politiker und Ökonom
I.
VII
IX
Zurufe
Hans-Ulnch Klose Willy Nölling, damals
3
Manfred Lahnstein Wilhelm Nölling zum Siebzigsten
7
Hermann Rauhe Wilhelm Nölling - der Anreger
9
II.
Politik als Beruf
Claus Arndt Gesetzgebung in Deutschland 2003
13
Klaus von Dohnanyi 1968 und die Folgen
25
Hans-Joachim Seeler Glanz und Schatten politischer Arbeit in unserer Zeit
35
Henning Voscherau Die Zukunft des deutschen Föderalismus
63
III.
Die soziale Frage
Norbert Blüm Die Zukunft des Sozialstaates
89
XX
Inhaltsverzeichnis
Wolfgang Clement Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik im Wandel
95
Herbert Ehrenberg Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz und der Artikel 2 des EGVertrages - nicht mehr benutzte Instrumente für Wachstum und Beschäftigung
105
Angelika Emmerich-Fritsche Sozialprinzip und Weltwirtschaftsverfassung am Beispiel von WTO und ILO
125
Hans-Hermann Hartwich Die „Hartz-Kommission" im Wahlkampf 2002 oder über die Nützlichkeit des Sachverstandes für die Politik
159
Helga Städter Vergeudung von Humankapital „Frauen" - ein kritischer Zwischenruf
173
Gunnar Uldall Es geht besser: Erfolgreicher Kurswechsel in der Hamburger ArbeitsMarktpolitik
203
IV.
Europäische Integration
Björn Engholm Europa wird kulturell existieren — oder nicht
221
Rolf Hasse und Marek Mora Instruments for European Economic Policies: Competitiveness and Enterprise Policy
227
Claus Köhler Europa auf dem Wege zu einer wirtschaftlichen und politischen Einheit
245
Thomas Mirow Die Osterweiterung der Europäischen Union: Perspektiven für Hamburg und den Norden Deutschlands
261
Christa Randqo-Plath Noch ist Europas Zukunft nicht verloren
269
Inhaltsverzeichnis
XXI
Karl Albrecht Schachtschneider Deutschland nach dem Konventsentwurf einer „Verfassung für Europa"
279
Wolf Schäfer Europäische Union: Dat se bliven ewich tosamende ungedelt?
325
Hubertus Schmoldt Perspektiven der Arbeitnehmer im europäischen Einigungsprozess das Beispiel Industriepolitik
335
Heide Simonis „Nicht aus dem Bremserhäuschen steuern"
341
Hans Tietmeyer Der Bericht der Werner-Gruppe von 1970 und der Bericht der DelorsGruppe von 1989 - ein Vergleich
345
V.
Perspektiven der Währungsunion
Hans Eichel Perspektiven der Finanzpolitik in der Währungsunion
361
Johannes Fortuny Zur Rolle der Deutschen Bundesbank bei der Einfuhrung des Euro
373
Wilhelm Hankel Die ökonomischen Konsequenzen des Euro: Ein Goldstandard ohne Gold. Woher er kommt, wohin er fuhrt 385 Gunnar Heinsohn und Otto Steiger Des Eurokaisers neue Kleider: Ein Märchen über das Notenbankkostüm der Europäischen Zentralbank
415
Uwe Jens Marktwirtschaftliche Notwendigkeiten für die nationalen Regierungen nach Einführung des Euro 429 David Marsh Die wegweisende Funktion des europäischen Geldes - eine Vergangenheitsund Zukunftsbetrachtung 441
XXII
Inhaltsverzeichnis
Karl Otto Vöhl Die Bundesbank und die Europäische Währungsunion im Rückblick
455
Klaus Reeh Amtsstatistik und Währungsunion - zur Lage und Perspektive der Euro-Statistik
463
Martin Seidel Die Weisungs- und Herrschaftsmacht der Europäischen Zentralbank im Europäischen System der Zentralbanken - eine rechtliche Analyse
481
Dieter Spethmann Geld — Gemeinschaft — Schicksal. Eine etwas andere Sicht des Euro
505
Joachim Starbatty Regeln für das Club-Gut Euro - die Währungsunion nach dem Konvent
535
Werner Steuer Währungsunion oder Währungswettbewerb?
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Theo Waigel Der Euro im politischen Kontext
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VI.
Banken, Betriebe und Globalisierung
Gerd Bornmüller Wichtige Neuregelungen des Aktienrechts für Aufsichtsräte
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Hans-Helmut Kot% Ratingagenturen - überforderte Ephoren?
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Katherine Nölling und Philip Nölling Deutschlands Banken in der Krise - eine Analyse der Situation des Deutschen Bankensektors nach der Einführung des Euro
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Karl-Ernst Schenk Finanzielle Netzwerke: Die Evolution und Durchsetzung von Standards
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Inhaltsverzeichnis
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VII. Anhang Lebenslauf
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Verzeichnis der Veröffentlichungen
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Verzeichnis der Autoren
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ZURUFE
Der Ökonom als Politiker - Europa, Geld und die soziale Frage (hrsg. v. W. Hankel, Κ. A. Schachtschneider und J. Starbatty) © Lucius & Lucius, Stuttgart, 2003
Willy Nölling, damals Hans-Ulrich Klose
Im Jahr 1981 bin ich als Hamburger Bürgermeister zurückgetreten. Ich war damals 44 Jahre alt, Willy Nölling, mein Senatskollege, 48. Jetzt wird er 70, ich 66. Man muss sich große Mühe geben, um sich recht zu erinnern, wie das war vor fast einem Viertel]ahrhundert und noch ein paar Jahren mehr. Ich versuche es. Ich glaube dass Willy Nölling politisch am erfolgreichsten als Hamburger Finanzsenator gewesen ist. In diesem Amt konnte er alle seine Stärken einsetzen: seinen Sachverstand, seine Entschlossenheit, die Außenstehende bisweilen als Sturheit mißverstanden, aber auch seine Fähigkeit, Prioritäten zu erkennen und umzusetzen. Über seine Arbeit als Bundestagsabgeordneter kann ich aus eigener Anschauung nichts sagen. Ich habe aber seine Nominierung auf dem Landesparteitag der Hamburger SPD (am 07./08.03.69) miterlebt. Sie war spannungsgeladen, sogar dramatisch, weil die Kandidatur im Wahlkreis 14 (Hamburg-Eimsbüttel) heftig umstritten war. Gegen den amtierenden Abgeordneten Peter Blachstein, der sich in der Wahlkreiskonferenz durchgesetzt hatte, gab es Widerstand nicht nur in Eimsbüttel, sondern vor allem auf der Landesebene. Den Hintergrund bildete die damals noch stärker ausgeprägte Links-Rechts-Konstellation; der SPD-Kreis Eimsbüttel galt als links, und Peter Blachstein war der „Altvordere" der Hamburger Linken. Dazu gab es aber auch persönliche Anfeindungen, die mit dem Rücktritt des vormaligen Hamburger Bürgermeisters Paul Nevermann zusammenhingen. Peter Blachstein hatte, als die Ehe des Bürgermeisters öffentlich ins Gerede kam und zerbrach, deutlicher als andere für einen Amtsverzicht Nevermanns plädiert. Ich selbst war damals noch zu neu im Landesvorstand, habe gleichwohl zu vermitteln versucht, als im ersten Wahlgang keiner der beiden Kandidaten (Peter Blachstein und Willy Nölling) die notwendige absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen erhielt. Auch der im zweiten Wahlgang ins Spiel gebracht Reinhard Hoffmann scheiterte. Erst im dritten Wahlgang wurde Willy Nölling nominiert, nachdem zuvor nicht er, sondern Peter Blachstein auf eine weitere Kandidatur verzichtet hatte. Damals, bei dieser Auseinandersetzung, die persönlich belastend war, habe ich erstmals Willy Nöllings ruhige Entschlossenheit kennengelernt, die ihn eigentlich immer auszeichnete; auch später in der Hamburger Bürgerschaft und im Senat.
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Hans-Ulrich Klose
Er war zunächst Gesundheitssenator, ein Amt, das er mit einigem Erfolg führte (er gilt als Erfinder des Krankenhausbedarfsplanes), aber nicht mit der gleichen Intensität und Leidenschaft, die er als Wirtschafts- und Finanzsenator bewies. Wer die Debattenbeiträge, die der Wirtschaftssenator Dr. Nölling in der Hamburger Bürgerschaft vortrug nachliest, findet das allgemeine Urteil bestätigt: Nölling wußte, wovon er redete. Er hatte klare Ziele: Vollbeschäftigung, Wachstum, Modernisierung. Seine Rede war nie polemisch oder gar persönlich verletzend; er redete eher belehrend und professoral, etwas wie ein „Ober-Unternehmer", was aus der Sicht der CDU-Opposition und Teilen der Wirtschaft bisweilen provokant gewirkt haben mag. Dies vor allem im Vergleich mit dem volkstümlichen Senator Helmut Kern, dem er im Amt des Wirtschaftssenators gefolgt war und der als Abgeordneter der Hamburger Bürgerschaft der wirtschaftspolitische Sprecher der SPD blieb. Willy Nölling war freundlich; ein Kumpeltyp war/ist er nicht. Als Finanzsenator endlich war Willy Nölling nach allgemeinem Urteil ein absoluter Erfolg. Er setzte die 1974 eingeleitete Politik der Haushaltskonsolidierung fort, ohne in den Fehler vieler Haushälter zu verfallen, nur noch Haushaltspolitiker zu sein. Er war alles zugleich: Haushälter, Finanz- und Wirtschaftspolitiker und die Kombination von Sachverstand und politisch klarer Orientierung machte die Zusammenarbeit mit ihm angenehm und effektiv (jedenfalls aus der Sicht des Bürgermeisters, der sich im übrigen streng an die alte Senatsregel hielt, in Haushaltsberatungen immer auf Seiten des Finanz senators zu stehen). Dass Nölling dabei nicht engstirnig operierte, soll an zwei Beispielen belegt werden. Das erste: Er, Nölling, war es, der für die gänzliche Renovierung / Rekonstruktion der Hamburger Fischmarkthalle plädierte, weil er wußte und fühlte, welche emotionale Bedeutung der Erhalt dieses Gebäudes für die Hamburger Bevölkerung hatte. Wer einmal einen Sonntagvormittag, zum Beispiel bei einer Jam Session, in der Hamburger Fischmarkthalle war und erlebt hat, wie die Hamburger mitgehen, der weiß, wie richtig Willy Nölling gelegen hatte. Das zweite Beispiel: Wir debattierten über den Bau der technischen Universität Hamburg-Harburg - für mich als Bürgermeister eine vorrangige Aufgabe. Nölling wußte, wie eigentlich der ganze Senat, dass die Errichtung dieser zweiten Hamburger Universität den Haushalt der Hansestadt über die Maßen und auf Jahrzehnte belasten würde. Schon wegen der mit dieser Investition verbundenen laufenden Ausgaben hätte aus der Sicht eines Nur-Haushälters mehr gegen als für die TU Harburg gesprochen. Aber Nölling sah auch die wissenschaftspolitische und vor allem die wirtschaftspolitische Dimension. Hamburg brauchte einen naturwissenschaftlich-technischen Take-Off, um in dem damals geteilten Deutschland, am Rande gelegen, gleichwohl erfolgreich zu sein im Wettbewerb der Standorte. Diese Erwägungen setzten sich im Senat durch, wobei neben dem
Willy Nölling, damals
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Finanzsenator auch der parteilose Wissenschaftssenator Prof. Sinn für seinen großen Einsatz zu loben ist. Bei der Debatte über die Zukunft der Kernenergie (es ging konkret um das Kernkraftwerk Brokdorf) waren wir beide, Nölling und ich, nicht auf derselben Seite. Ich schied im Streit um Brockdorf aus dem Amt des Ersten Bürgermeisters aus. Nölling blieb Finanzsenator, wechselte später aber als Chef in die Hamburger Landesbank. Persönlich haben wir uns gut verstanden, nicht zuletzt weil wir beide Interessen hatten und haben, die jenseits der Politik liegen. Willy Nölling, ein eifriger Leser, pflegte zu Weihnachten Teile seiner Lesefrüchte fotokopiert an Freunde und Kollegen zu verschicken. Wenn man Glück hatte, durfte man ihn und seine fröhliche Familie auf seinem Bauernhof im Holsteinischen besuchen und seine Hängebauchschweine bewundern. Das Anwesen roch aber nicht nach Schweinen, sondern nach Idylle. Eine besonders liebenswürdige Erinnerung ist die Sache mit den „Häschen". Die Geschichte geht so: Am Ende von Haushaltsberatungen im Senat (wann das war, weiß ich nicht mehr) meldet sich der Finanzsenator und fragt: „Herr Bürgermeister, wie halten wir es denn mit den Häschen?" Allgemeines Erstaunen. Was meint er denn? Meint er es ernst? Er meint es ernst. Die Hasen, sagt er, seien gefährdet: a) weil es die klassische Fruchtfolge-Landwirtschaft nicht mehr gebe und b) weil zuviel Chemie eingesetzt werde, zum Schaden der Kleintiere. Ja, was er denn empfehle, frage ich. Er besinnt sich einige Sekunden und meint dann, zumindest auf den Hamburger Staatsgütern könne doch auf den extensiven Einsatz von Chemie verzichtet und vernünftige Landwirtschaft betrieben werden. So wurde es beschlossen.
Der Ökonom als Politiker - Europa, Geld und die soziale Frage (hrsg. v. W. Hankel, Κ. A. Schachtschneider und J. Starbatty) © Lucius & Lucius, Stuttgart, 2003
Wilhelm Nölling zum Siebzigsten Manfred Lahnskirt Wir alle haben es erlebt: Wilhelm Nölling kann ausgesprochen beharrlich sein, wenn es für ihn um grundsätzliche Fragen geht. Damit hat er zuweilen quer gelegen, zumal er mit dem heute modischen Begriff der "political correctness" nicht viel anfangen kann (vom Postulat der korrekten Wortwahl einmal abgesehen). Mir ist das bei zwei für Deutschland wesentlichen Weichenstellungen besonders klar geworden. Als es um die ökonomische und soziale Dimension der Vereinigung und der Beziehungen zu unseren östlichen Nachbarn ging, hat er seine eigenen Uberzeugungen publiziert und immer wieder mannhaft nach außen vertreten. Er wollte sich nicht auf den verordneten Optimismus der Regierung Kohl festlegen lassen — wie der Sachverständigenrat, Bundesbankpräsident Karl-Otto Pohl, zahlreiche Wissenschaftler und auch ich selber. Er und wir haben in Vielem richtig gelegen. Ich hoffe sehr, dass man sich insbesondere seines Beitrages zur damaligen Debatte erinnert, wenn die Geschichte der Vereinigung einmal gründlich aufgearbeitet werden wird. Und die andere Weichenstellung, die meisten von uns wissen es, betraf die Europäische Währungsunion und die Einführung des Euro. Zusammen mit einigen seiner Freunde ist er bis zum Bundesverfassungsgericht gezogen — gegen beides. In diesem Fall war meine Auffassung total anders als die seine. Seit den siebziger Jahren hatte ich mich für die europäische Einheitswährung eingesetzt. Wir haben damals intensiv die Wechselwirkung zwischen monetärer Integration und ökonomischer Konvergenz gestritten. Damals wie heute glaubte ich, dass Erstere die Letztere befördern würde. Und das ist — zugegebenermaßen aus einer Vielzahl von Gründen — in der Zwischenzeit auch eingetreten, was Preis Stabilität und budgetäre Disziplin angeht. Seither hat Wilhelm Nölling die Streitaxt weggepackt; wir aber wissen beide, dass der Kampf für ein "nachhaltiges" ökonomisches Gleichgewicht noch lange dauern wird. Und dass es ausgerechnet wir Deutsche waren, denen aus guten Gründen ein "blauer" Brief drohte, wird ihn ebenso amüsiert haben, wie ihn die Reaktion der Bundesregierung geärgert haben müsste. Nun gehören Beharrlichkeit und Drängen, wenn sie wie bei Wilhelm Nölling sachlich untermauert sind, zu den Tugenden. Deshalb bleiben sie notwendig, auf
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Manfred Lahnstein
welcher Seite des Tisches man sich auch befinden möge. Deshalb, lieber Wilhelm - "ad multos annos" in ungebrochener Streitsamkeit. Bleibe uns ein schwieriger Freund, denn von den anderen gibt es eh' zu viele!
Der Ökonom als Politiker - Europa, Geld und die soziale Frage (hrsg. v. W. Hankel, Κ. A. Schachtschneider und J. Starbatty) © Lucius & Lucius, Stuttgart, 2003
Wilhelm Nölling - der Anreger Hermann Raube Noch sehe ich das strahlende Lächeln vor mir, mit dem Wilhelm Nölling mich motivierte, den über tausend Besuchern des Internationalen Neurologenkongresses im Rahmen meines Festvortrages erstmals über meinen neuen Ansatz der neurologischen Rehabilitation von Schlaganfallen zu berichten, ein Konzept, das ich mit dem Neurologen Prof. Dr. Robert-Charles Behrend zusammen entwikkelt hatte. Nölling nahm als Senator und Vertreter des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg an der Eröffnungsveranstaltung dieses Kongresses im CCH teil. Seine Begeisterung wich sichtlich, als ich am Klavier erfolgreiche Beispiele antriebsfördernder Musik spielte und erläuterte, daß deren Rhythmen, Melodiewendungen, Harmonien und Klänge den Patienten nicht nur psychisch motivierten, sondern das gelähmte Bein durch vegetative Impulse langsam aber sicher durch ein systematisches motorische Rehabilitationstraining wieder bewegungsfähig machten. Wilhelm Nöllings freundliche Reaktion und ermutigende Zuwendung gab mir Sicherheit und Überzeugungskraft. Dieser Vortrag war zugleich der Beginn einer jahrzehntelangen Arbeit in der musiktherapeutischen Wirkungsforschung, die nach wie vor im Mittelpunkt meiner Vortragstätigkeit steht. Deshalb freute ich mich ganz besonders, als Wilhelm Nölling mir zu meinem 25jährigen Jubiläum als Hochschulpräsident einen originellen Beitrag von Isaac Disraeli zum Thema „Medical Music" aus seinen „Curiosities of Literature" von 1791 schenkte. Dass Nölling diese Besonderheit entdeckte, ist bezeichnend für seine literarische Belesenheit und seinen ausgeprägten Spürsinn für Außergewöhnliches und Innovatives. Diese seine kreative Eigenschaft wurde auch bei den Klausurabenden deutlich, die ich seit Amtsbeginn in meinem wunderschönen Dienstzimmer im BudgePalais an der Milchstraße veranstaltete: Exponierte Vertreter aus Kultur, Medien und Politik diskutierten über Möglichkeiten der kreativen Gestaltung der Kulturund Medienszene. Ergebnisse waren unter anderem die Planung und Realisierung des Aufbaustudiengangs Kultur- und Medienmanagement an unserer Hochschule, der „Musica" als Konzert-, Kongress- und Messeveranstaltung oder des Schleswig-Holstein-Musik-Festivals. Wilhelm Nölling gab mir wichtige Anregungen, die Kaminabende thematisch zu gestalten.
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Hermann Rauhe
Weiterer wichtiger Berührungspunkt war die Förderung der Kammerspiele, die damals noch von Ida Ehre geleitet wurden; Wilhelm Nölling war Kuratoriumsvorsitzender. Studierende unserer Hochschule gestalteten zum Beispiel die offizielle Einweihung des renovierten und neu bestuhlten großen Theatersaals. Wilhelm Nölling engagierte sich außerdem als Kuratoriumsmitglied der Stiftung der Hochschule für Musik und Theater, der er nach wie vor die Treue hält. In vielen Veranstaltungen der Landeszentralbank traten Studierende unserer Hochschule auf und zeigten ihr Können einem erlesenen Publikum. Aus all diesen Kontakten und Kooperationen hat sich eine Freundschaft entwikkelt, die ich als besonderes Geschenk empfinde. Jedes Gespräch und jede Begegnung vermitteln neue Anregungen und kreative Impulse und wirken auf meine Frau und mich motivierend und inspirierend. So wünsche ich Wilhelm Nölling für sein neues Lebensjahrzehnt weiterhin so viel Freude, Kraft und Kreativität wie bisher und uns weiterhin viele Berührungspunkte und fruchtbare Gespräche.
POLITIK ALS BERUF
Der Ökonom als Politiker - Europa, Geld und die soziale Frage (hrsg. v. W. Hankel, Κ. A. Schachtschneider und J. Starbatty) © Lucius & Lucius, Stuttgart, 2003
Gesetzgebung in Deutschland 2003 Claus Arndt Auf welchem Wege Bundesgesetze zustande kommen, schreibt das Grundgesetz präzise und konkret vor. Ergänzend ist das „Embryonalstadium" von solchen Gesetzen bis zum Referentenentwurf in jeweils zuständigen (federführenden) Ministerien in der gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien geregelt. Dort findet sich die Fesdegung, wann und in welchem Umfang die zukünftigen Rechtsnormen mit gesellschaftlichen Gruppen und Interessenverbänden abgestimmt werden sollen und welche anderen Ministerien oder staatlichen Stellen — einschließlich der Bundesländer und deren Fachministerien - zu beteiligen sind. Das Grundgesetz regelt die Gesetzgebung des Bundes in seinem VII. Kapitel (Art. 70 ff. GG). Zum hier zu erörternden Verfahren schreibt Art. 76 GG vor, daß das Recht zur Gesetzesinitiative den Bundesorganen, Bundesregierung und Bundesrat, zusteht, die ihre Gesetzesvorlagen jeweils aufgrund förmlicher Beschlüsse beim Bundestag einbringen müssen. Außerdem können Gesetzesvorlagen aus der Mitte des Bundestages eingebracht werden. Solche Vorlagen müssen entweder von Fraktionen oder von fünf vom hundert der gesetzlichen Mitgliederzahl des Bundestages unterzeichnet werden, wenn nicht im Einzelfall von der Geschäftsordnung etwas anderes bestimmt oder zugelassen wird (§ 76 GO/BT). Von den insgesamt 9256 Gesetzesvorlagen, die dem Bundestag in den ersten 14. Wahlperioden von 1949 bis 2002 zur Beschlußfassung vorgelegen haben, sind 3232 aus der Mitte des Bundestages eingebracht worden. Dies geschah vorwiegend von der jeweiligen Opposition. In der Zahl verbergen sich aber auch Anträge, die in Wahrheit von der Bundesregierung stammen, aber zur Beschleunigung des Verfahrens formal von den die Bundesregierung tragenden Koalitionsfraktionen in das Verfahren eingespeist wurden, um die Fristen einzusparen, die die Verfassung für die Befassung der Vorlagen beim ersten Durchgang im Bundesrat vorsieht (Art. 76 Abs. 2 GG). Naturgemäß sehen die Länder diese Methode nicht sehr gern, da ihre Rechte insoweit verkürzt werden, als sie vor allen Dingen nicht die Möglichkeit haben, im Rahmen des ersten Durchganges und den dem Bundesrat insoweit zustehenden Fristen die Vorlage in den Bundesratsausschüssen zu beraten und dann der Bundesregierung den Entwurf bereits mit einer Stellungnahme zur Weiterleitung an den Bundestag zuzuleiten. Da die Vorlagen aus der Mitte des Bundestages alsbald nach ihrer Einreichung als Bun-
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destagsdrucksache gedruckt werden (§ 77 Abs. 1 GO/BT), bleibt es den Ländern natürlich unbenommen, sie alsbald zum Gegenstand ihrer Länder-Referentenkonferenzen zu machen. Soweit Initiatiworlagen aus der Mitte des Bundestages dort von den Fraktionen eingebracht werden, die die jeweilige Koalition tragen, sind die Gesetzentwürfe in aller Regel nicht von diesen Fraktionen, sondern in der Sache von der Bundesregierung erarbeitet, die die Texte dann abstimmungsreif den Fraktionen zur Verfügung gestellt hat. Aber auch umgekehrt sind die 5297 Gesetzesvorlagen, die die Bundesregierung über den Bundesrat in den Bundestag eingebracht hat, nicht ausschließlich Gesetzgebungswünsche der Bundesregierung. Da die Bundesregierung mit dem Apparat ihrer Ministerialbürokratie über einen ungleich größeren geballten Sachverstand und größere Möglichkeiten verfugt, auf Tatsachenbestände (Statistiken, Materialsammlungen, Datenbestände usw.) zurückzugreifen, als die Parlamentsfraktionen trotz ihrer Mitarbeiterstäbe und des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages, beschreiten Koalitionsfraktionen vielfach den Weg, im Bundestag einen Beschluß herbeizuführen, mit dem die Bundesregierung aufgefordert wird, zu einer bestimmten Materie einen Gesetzentwurf vorzulegen, so daß die Inanspruchnahme der Gesetzesinitiative durch die Bundesregierung in diesen Fällen als ein nur formaler Akt erscheint. Alle diese Verfahren, die sich unmittelbar an den verfassungsrechtlichen Vorschriften über das Gesetzgebungsverfahren orientieren, bieten von der rechtlichen und tatsächlichen Seite her keine besondere Problematik. Insbesondere genügen sie einem wesentlichen Grundsatz demokratischer Rechtsetzung: Sie spielen sich in Verfahren ab, die öffentlich beobachtet werden können und damit dem Grundsatz der Transparenz genügen. Dieser Grundsatz ist insbesondere im demokratischen Staat in besonderer Weise unverzichtbar, weil aus den verfassungsrechtlichen Grundprinzip, nach dem alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht (Art. 20 Abs. 1 S. 1 GG) (sog. Volkssouveränität) die Gesetzesbeschlüsse der gesetzgebenden Verfassungsorgane rechtsphilosophisch nur den Charakter von Vorschlägen an die die Rechtsgemeinschaft bildenden Bürger darstellen und erst dadurch zu Recht in tieferen Sinne erstarken, daß die Bürger sich mit ihnen als ihrer Rechtsordnung selbst identifizieren. Nicht ohne Grund erklärt daher auch Art. 79 Abs. 3 GG den Grundsatz der Volkssouveränität in Art. 20 GG zur legalen (mit keiner denkbaren Mehrheit abänderbaren) Staatsfundamentalnorm (Ernst Friesenhahn).
Die Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland seit 1949 weist eine Reihe von Fällen auf, bei denen diese notwendige Transparenz nicht gegeben war. Dabei handelte es sich ausgerechnet gerade um Gesetzgebungsvorhaben von besonderer Bedeutung und besonderem Gewicht. Das wichtigste Beispiel hierfür ist das 17. Gesetz zur Änderung des Grundgesetztes — in der Öffentlich-
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keit besser bekannt als „Notstandsverfassung". Nach jahrelangen Vorbereitungen, aber auch nach umfangreichen öffentlichen Diskussionen brachte die Bundesregierung einen Entwurf über den Bundesrat im Bundestag ein, der jedoch selbst bereits zu wesentlichen Teilen nicht aus dem Ministerialapparat der Regierung stammte, sondern von einer speziell hierfür gebildeten Arbeitsgruppe hamburger Beamter erarbeitet war. Nach der Einbringung im Bundestag begannen unmittelbar nach der Uberweisung des Entwurfs an dessen Rechtsausschuß lebhafte Verhandlungen zwischen einzelnen Abgeordneten der Koalitionsparteien CDU/CSU und SPD mit Vertretern der Parteispitzen außerhalb des Parlaments unter Beteiligung sachkundiger Landesbeamter, die über parteipolitische Bindungen verfügten. Dabei gab es keine festen Verhandlungsgruppen oder -konstellationen. Diese Beratungsergebnisse einzelner formal nur ihren Parteien zuzuordnender Personen wurden dann über Abgeordnete oder Bundesratsvertreter in die offiziellen Beratungen des federführenden Bundestags-Rechtsausschusses eingespeist. Ausführlichere Begründungen für die einzelnen Regelungen und Formulierungen wurden dort in der Regel nicht gegeben. Die Beratungen des Rechtsausschusses über diese Materie nahmen daher über weite Strecken den Charakter eines reinen Ratifikationsverfahrens an. Dies war nicht zuletzt auch deshalb möglich, weil dem Rechtsausschuß 1968 nur ein einziger Oppositionsabgeordneter, Hermann Busse (Herford) (FDP), angehörte. Es liegt auf der Hand, daß dieses untransparente Verfahren niemandem, außer den wenigen unmittelbar beteiligten Personen einen Überblick über den Gang des Gesetzgebungsverfahrens ermöglichte. Dies wiegt nun um so schwerer, als es sich hier um Regelungen handelte, die tief in das Verfassungsgefiige eingriffen. Nur der enorme politische Druck, der damals auf den verfassungsändernden Organen lastete, erklärt, warum diese Art der Gesetzgebung überhaupt möglich und möglicherweise vertretbar war. Allerdings führte dieses Verfahren dann auch zu dem unbefriedigenden Zustand, daß es praktisch kaum Gesetzgebungsmaterialien (Protokolle usw.) über das Zustandekommen dieser Gesetzesänderung gibt. Zwar haben im Laufe der Zeit einige der am unmittelbaren Zustandekommen der Texte Beteiligte, in eigenen wissenschaftlichen Aufsätzen in Fachzeitschriften oder in Interviews mit Wissenschafdern partielle Einblicke in das Zustandekommen der Texte und einzelne ihrer Formulierungen gegeben. Aber niemand wird den subjektiven Einfluß dieser einzelnen Äußerungen verkennen. Das gilt selbstverständlich auch für den Kommentar, den der Berichterstatter des Rechtsausschusses, der Abg. Dr. Carl Otto Lenz (Bergstraße) (CDU/CSU), veröffentlicht hat. Herr Lenz hatte zudem den Nachteil, daß er nicht an den Beratungen innerhalb der SPD und der SPD-geführten „A-Länder" beteiligt war (wie der Verfasser dieses Berichts).
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Welch nachteilige Folgen das Fehlen wesentlicher Materialien zu dieser Materie hatte, haben neben Fehlinterpretationen in der Wissenschaft vor allem spätere Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht gezeigt. Hier ist in erster Linie das sogenannte Awacs-Urteil über den Bundeswehreinsatz im Ausland zu nennen. Allerdings hat das Gericht in diesem Verfahren nicht nur falsche Spekulationen über die Entstehungsgeschichte angestellt, sondern sich sogar über den klaren Wordaut des Art. 87 a GG, einer Neuschöpfung des 17. Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes, hinweggesetzt. Soweit das Gericht in seinem Urteil die Vermutung anstellte, die verfassungsändernden Bundesorgane hätten 1968 den schon länger geltenden Art. 24 GG nicht einschränken wollen, ist ihm hierfür jedenfalls insofern kein Vorwurf zu machen, als es Materialien über den tatsächlich gegenteiligen Willen der damals an der Gesetzgebung Beteiligten nicht gibt. Allerdings hat es versäumt, in der mündlichen Verhandlung diese Frage im Rechtsgespräch durch Befragen der anwesenden Akteure von 1968 — Carl Otto Lenz als Berichterstatter und des Verfassers dieses Beitrages als Koordinator der Α-Länder und der SPD- Bundestagsfraktion — aufzuklären. Unverzeihlich ist freilich, daß das Gericht sich sogar über den klaren Wordaut der Verfassung gewordenen Textes hinweggesetzt und verkannt hat, daß das Grundgesetz den Einsatz der Bundeswehr nur in den ausdrücklich in der Verfassung aufgezählten Texten gestattet. Art. 24 GG erwähnt jedoch bis heute einen zulässigen Streitkräfteeinsatz nicht. Ich habe daher in einer Urteilsrezension und in der Rede anläßlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität Hagen das Urteil insoweit für verfassungswidrig bezeichnet. Bedauerlich ist, daß die Staatspraxis in den letzten Jahren als Folge dieses Verfassungsgerichtsurteils jeweils eine einfache, wenn auch absolute Bundestagsmehrheit als ausreichend angesehen hat, um Streitkräfte im Ausland militärisch einzusetzen, und so sogar den erklärten Willen der verfassungsändernden Bundesorgane von 1968 in sein Gegenteil zu verkehren. Dieses — freilich besonders gravierende — Beispiel zeigt, welche Bedeutung ein reguläres und transparentes Verfahren bei der Schaffung neuen Rechts besitzt — und dies besonders im Bereiche der Verfassungsgebung und Verfassungsänderung. Für die Schaffung förmlichen Gesetzesrechts hat der Bundestag ein Monopol (Art. 77 Abs. 1 S. 1 GG). Dies bedeutet, daß das Grundgesetz unmittelbare Volksgesetzgebung nicht zuläßt. Wenn Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG die Ausübung der Staatsgewalt durch das Volk auch durch Abstimmungen zuläßt, so bezieht sich dies nicht auf die förmliche Rechtsetzung. Allerdings bleibt eine unmittelbare Volksbeteiligung — abgesehen von dem Sonderfall der Länderneugliederung in Art. 29 GG — zulässig, wenn sie keine rechtliche Verbindlichkeit beansprucht. Volksbefragungen können daher im Rahmen des allgemeinen Zuständigkeitskatalog der Art. 71 ff. GG durch einfaches Bundesgesetz angeordnet werden. So-
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weit der Bundesrat zur Gesetzesinitiative im Bundestag befragt ist, kann er dieses Recht durch eigenen Mehrheitsbeschluß nach Maßgabe seiner Geschäftsordnung wahrnehmen. Gesetzentwürfe der Bundesregierung kann der Bundesrat im ersten Durchgang sechs Wochen beraten, ehe er verpflichtet ist, sie über die Bundesregierung dem Bundestag zuzuleiten. Gibt der Bundesrat eine Stellungnahme zu dem Entwurf ab, so hat die Bundesregierung bei der Weiterleitung des Entwurfs an den Bundestag diesem gegenüber ihre Auffassung zur BundesratsStellungnahme mitzuteilen. Hält der Bundesrat die Sechswochenfrist nicht ein, so kann die Bundesregierung ihren Entwurf ohne weiteres dem Bundestag zuleiten. Der Bundestag behandelt alle Gesetzentwürfe in drei Lesungen. Eine Ausnahme bilden lediglich Gesetze, die die Ratifikation eines völkerrechtlichen Vertrages zum Gegenstand haben. Da der Bundestag einen solchen Vertrag nicht ändern, sondern nur im Ganzen annehmen oder ablehnen kann, finden in diesem Falle nur zwei Lesungen statt. Findet in der 1. Lesung keine Generalaussprache zu dem Entwurf statt (was keineswegs notwendig ist), so wird die Vorlage einem Ausschuß federführend und einem oder mehreren Ausschüssen mitberatend überwiesen. Der federführende Ausschuß berät den Entwurf und berücksichtigt bei dem von ihm an das Bundestagsplenum zu erstattenden Bericht die Stellungnahmen der mitberatenden Ausschüsse. Zwischen der 1. und 2. Lesung ist der federführende Ausschuß verpflichtet, eine öffentliche Anhörung (Hearing) (§ 70 GO/BT) durchzuführen, wenn ein Viertel seiner Mitglieder dies verlangt. Mitberatende Ausschüsse können unter bestimmten Umständen ebenfalls Anhörungen durchführen, bedürfen hierfür aber eines Mehrheitsbeschlusses. Die Anhörungen sollen dazu dienen, den außerhalb des Parlaments vorhandenen Sachverstand von Sachverständigen und anderen Anhörpersonen für die Gesetzgebungsarbeit fruchtbar zu machen. Das Institut der Anhörung wurde bei der großen Geschäftsordnungsreform in der 5. Wahlperiode zusammen mit anderen wichtigen Neuerungen (z.B. der Einführung von Enquetekommissionen nach dem Vorbild der britischen Royal Comissions) eingeführt, als die SPD erstmals in die Bundesregierung eintrat und damit im Bundestag zur Regierungsmehrheit zählte. So wurden die Erfahrungen aus fast 20 Jahren parlamentarischer Oppositionspolitik in Geschäftsordnungsnormen gegossen. Die erste große Anhörung fand 1968 zum an anderer Stelle erwähnten 17. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes („Notstandsverfassung") statt. Doch kein Instrument und keine Institution ist so gut, daß sie nicht mißbraucht werden könnte. Und so versuchte die CDU/CSU in der 6. Wahlperiode, als sie in die Opposition geraten war, mit Hilfe ihres Minderheitenrechts auf Veranstaltung einer Anhörung im Rechtsausschuß des Bundestages die Gesetzgebungsarbeit der Regierungskoalition dadurch lahmzulegen, daß sie zu jeder Vorlage — und sei sie noch so unbedeutend — ein Hearing beantragte. Da der
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Verfasser dieser Zeilen dieses Minderheitenrecht nicht antasten konnte und wollte, blieb ihm nur das Mittel der Terminbestimmung. Die Sitzungstermine bestimmt nämlich im Rahmen der Gesamtvorgaben des Bundestages die jeweilige Ausschußmehrheit. Und so wurden die Anhörungssitzungen grundsätzlich auf Sonnabende und Sonntage gelegt. Dies vergällte der Opposition bald ihre Antragsflut, da auch ihre Abgeordneten Interesse an sitzungsfreien Wochenenden hatten. In der 2. Plenarlesung erfolgt dann die Einzelberatung aller Vorschriften des Entwurfs. Es ist dies die einzige Gelegenheit, bei der jeder einzelne Abgeordnete ohne jede Mitwirkung anderer Kollegen (Änderungs-) Anträge zur Abstimmung stellen kann. Nach erneuter Beratung verfaßt der federführende Ausschuß einen Abschlußbericht, den er dem Plenum zur Schlußabstimmung zuleitet. Besteht kein Beratungsbedarf, kann der Bundestag zwei oder alle drei Lesungen zusammenfassen und alsbald zur Schlußabstimmung schreiten, die sofort durchzuführen allerdings eine qualifizierte Minderheit verhindern kann. Die korrekte Antwort auf die Frage im juristischen Staatsexamen, wieviel Abgeordnete im Plenum anwesend sein müssen, um ein Gesetz formgültig zu verabschieden, lautet: Vier, wenn die Beschlußfähigkeit nicht angezweifelt wird (der sitzungsleitende Präsident, zwei Schriftführer und ein zustimmender Abgeordneter unten im Saal). In der Enquetekommission für Fragen der Verfassungsreform in der 6. und 7. Wahlperiode hatte eine Mehrheit die Aufnahme einer Vorschrift in die Geschäftsordnung des Bundestages beantragt, die den geschäftsleitenden Präsidenten verpflichten wollte, bei jeder abschließenden (3.) Lesung von Amts wegen die Beschlußfähigkeit des Bundestages festzustellen. Man wollte mit dieser Maßnahme eine stärkere Plenumpräsenz der Abgeordneten erzwingen, da in der Öffentlichkeit immer wieder das leere Plenum kritisiert worden ist. Erfreulicherweiser ist dieser Vorschlag nie verwirklicht worden. Er geht nämlich von einem völlig falschen Parlamentsverständnis aus, wie der Verfasser dieser Zeilen schon damals in einem Sondervotum zum Abschlußbericht der Enquetekommission nachzuweisen versucht hat. Erfreulicherweise hat erst kürzlich der Direktor beim Bundestag (Prof. Dr. Wolfgang Zeh), selbst ein erfahrener Staatsrechtlehrer, die im Sondervotum vertretene Auffassung des Verfassers in einem Beitrag für die Festschrift zu dessen 75. Geburtstag nachdrücklich unterstützt.1 Der Abgeordnete ist nämlich nicht dazu da, um als hochbezahlter Statist im Bundestagsplenum Präsenz zu zeigen. Er hat an Plenarsitzungen nur dann teilzunehmen, wenn er dort benötigt wird, um eine notwendige Mehrheit sicherzustellen, oder um als Berichterstatter, Debattenredner oder Zwischenrufer an der Debatte aktiv teilzunehmen. Wie der Verfasser schon im Handbuch des Parla-
Demokratische Normalität oder verdeckter Verfassungskonflikt? Zum Verfassungsverständnis in der Bundesrepublik Deutschland, in: Pflicht und Verantwortung, Festschrift zum 75. Geburtstag von Claus Arndt, Baden-Baden 2002. 1
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mentsrechts zum 40. Jahrestag des Bestehens des Deutschen Bundestages ausführlich dargelegt hat, werden Reden im Parlamentsplenum nämlich nicht für die dort anwesenden Parlamentskollegen, sondern für die Öffentlichkeit gehalten. Es ist ein schreckliches Mißverständnis, wenn immer wieder der Vorwurf erhoben wird, ein Abgeordneter im Plenum rede „zum Fenster hinaus". Eben dies ist seine Aufgabe im Plenum des Bundestages. Er soll nicht seine dort sitzenden Kollegen überzeugen, sondern der Öffentlichkeit erläutern, warum das Gesetz gerade so und nicht anders formuliert worden ist Oder warum er die von der Mehrheit gefundenen Formulierungen für falsch hält. Außerdem ist das Protokoll der Plenarsitzung eine wichtige Materialquelle für die spätere wissenschaftliche Erörterung des Gesetzestextes und seine Auslegung durch die Gerichte. Es mag dahinstehen, ob es je ein Honoratiorenparlament gegeben hat, wie es eine bestimmte liberale Theorie behauptet, in dem rhetorisch und intellektuell begabte Abgeordnete sitzen, die sich durch Rede und Gegenrede im Plenum gegenseitig davon überzeugen, welcher Gesetzestext dem allgemeinen Guten und Nutzen am besten entspricht. Jedenfalls wäre eine solche theoretische Grundlage für eine moderne Massendemokratie mit ihrem hochspezialisierten Normenbedarf in hohem Maße irreal und kontraproduktiv. Es gibt keinen Menschen, der aus eigener Kraft und Einsicht erkennen könnte, welche Gesetzesformulierung auf jedem regelungsbedürftigen Gebiet der allgemeinen Wohlfahrt am besten entspricht. Diese Aufgabe können nur in geeigneten Kollektiven (Fraktionen) organisierte Personen- (Abgeordneten-) Zusammenschlüsse leisten. Aus diesem Grunde sollte und darf an der gegenwärtigen Regelung für die 3. Lesung von Gesetzesvorlagen im Bundestag nichts geändert werden. Nach der dritten Lesung wird der Gesetzentwurf dem Bundesrat zugeleitet, der ihm entweder mit absoluter Mehrheit (Art. 52 Abs. 3 GG) zustimmen oder den Vermitdungsausschuß anrufen kann, der paritätisch aus Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates zusammengesetzt ist und geheim tagt. Selbst die Protokolle seiner Sitzungen werden den Mitgliedern erst nach Ablauf der Legislaturperiode des Bundestages zur Verfügung gestellt. Art. 77 GG stellt die sonst an die Weisungen ihrer zuständigen Landesorgane gebundenen Mitglieder des Bundesrates weisungsfrei. Der Vermitdungsausschuß faßt dann mit Mehrheit einen Beschluß, den er dem Bundesrat zuleitet. Weicht der Beschluß mit einer Empfehlung von der vom Bundestag beschlossenen Fassung ab, so erhält der Bundestag die Empfehlung ebenfalls. Beschließen dann Bundestag und Bundesrat übereinstimmend, so ist das Gesetz in dieser Form zustande gekommen. Lehnt der Bundestag die Empfehlung des Vermitdungsausschusses ab, so kann der Bundesrat Einspruch einlegen, wenn der Entwurf nicht seiner Zustimmung bedarf. Diesen Einspruch kann der Bundestag dann mit absoluter Mehrheit zurückweisen, so daß auch in diesem Fall das Gesetz zustande gekommen ist. Bedarf jedoch das Gesetz nach dem Grundgesetz der Zustimmung des Bundesra-
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tes, so ist der Entwurf gescheitert, weil kein übereinstimmender Beschluß von Bundestag und Bundesrat zustande kommt. Da nach Art. 52 Abs. 3 GG zu einem Beschluß des Bundesrates immer die absolute Mehrheit seiner Stimmen erforderlich ist und weil die Länder ihre Stimmen nur einheitlich abgeben dürfen (Art. 51 Abs. 3 S. 2 GG), hat sich eine ein halbes Jahrhundert praktizierte Übung im Bundesratsplenum herausgebildet, nach der jeweils ein Vertreter eines jeden Landes gebündelt alle Stimmen seines Landes abgibt — also entweder die Hand hebt oder bei Abstimmung durch Aufruf der Länder mit „Ja", „Nein" oder „Enthaltung" antwortet. Diese Praxis ist durch die lang andauernde Übung inzwischen geltendes Verfassungsrecht geworden. Durch doloses und undiszipliniertes Handeln des Ministerpräsidenten von Brandenburg und seines Stellvertreters ist im Jahre 2002 diese Übung in Frage gestellt worden, als der brandenburgische Minister Ziel als Stimmführer seines Landes mit , J a " auf den Aufruf seines Landes antwortete und der stellvertretende Ministerpräsident unauthorisiert „Nein" in den Bundesratsplenarsaal rief. Da das Bundesverfassungsgericht daraufhin die vom Grundgesetz vorgeschriebene einheitliche Stimmabgabe Brandenburgs als nicht gegeben ansah und das Zuwanderungsgesetz daraufhin für nicht verfassungskonform zustande gekommen ansah, empfiehlt es sich, für die Zukunft das Institut der Stimmführerschaft formal in der Geschäftsordnung des Bundesrates zu verankern. Sie sollte vorschreiben, daß vor Beginn jeder Plenarsitzung alle Länder dem Präsidenten anzuzeigen haben, welches Bundesratsmitglied zu jedem einzelnen Tagesordnungspunkt sie als Stimmfuhrer benennen. Nur dieses Mitglied ist .dann befugt, für das betreffende Land alle Stimmen einheitlich abzugeben. Eventuell anderslautende Äußerungen anderer Mitglieder des gleichen Landes gelten dann als rechtlich unbeachtliche Zwischenrufe und können die Einheitlichkeit der Stimmabgabe nicht beeinträchtigen. So würde ein zusätzlicher institutioneller Zwang zur Beachtung des Gebots in Art. 51 Abs. 3 S. 2 GG geschaffen. Verweist der Bundesrat eine Vorlage an den Vermitdungsausschuß, so soll diese Institution eine Empfehlung erarbeiten, auf die sich beide Häuser einigen können. Wie oben schon erwähnt, sind die in diesem Ausschuß entsandten Bundesratsmitglieder (je Land eines) von der Weisungsunterworfenheit, der sie im übrigen im Bundesrat unterliegen, befreit (Art. 77 Abs. 2 S. 3 GG). Die Sitzungen des Vermitdungsausschusses sind neben der rechtlichen Bedeutung seiner Beschlüsse ein hoch interessantes psychologisches Beobachtungsfeld. Der Ausschuß tagt nämlich nicht nur geheim, es dürfen an seinen Sitzungen außer den Mitgliedern der Bundesregierung nur seine eigenen Mitglieder teilnehmen. Diese sind auch nicht wie die Mitglieder anderer Ausschüsse beliebig austauschbar, sondern dürfen nur viermal in einer Wahlperiode des Bundestages ausgewechselt werden. Es ist daher nicht möglich, zu jedem Vermittlungsgegenstand die jeweils fachkundigen oder eingearbeiteten Abgeordneten oder Minister der Länder in
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den Ausschuß zu entsenden. Da auch Beamte oder andere Hilfskräfte von der Sitzungsteilnahme ausgeschlossen sind, müssen die einmal nominierten Mitglieder sich aller gesetzgeberischen Materien annehmen, die gerade anfallen. Dies fällt nicht allen Beteiligten immer leicht. Besonders manche Landesminister oder vor allem Ministerpräsidenten tun sich dabei schwer. So merkte man bei dem baden-würtembergischen Ministerpräsidenten Filbinger stets, wenn er alles vorgetragen hatte, was man ihm auf einem Spickzettel notiert hatte: Dann schwieg er. Es gab aber auch Allroundspezialisten für Vermittlungsprobleme, die nicht nur immer bestens vorbereitet waren, sondern sich auch in den einzelnen Materien hervorragend bewandert erwiesen. Hierzu zählten z.B. der bayerische Minister Heubl (CSU) oder der hamburgische Senator Heinsen (SPD). Gleichwohl gab es nicht selten Vermitdungsergebnisse, die gesetzgeberisch unbefriedigend waren oder sogar systematische und andere Fehler in den Gesetzentwürfen verursachten. Dies war besonders bei komplizierten und zeitlich langwierigen Vermitdungsverfahren der Fall, wenn der Gesamtausschuß einen meist sehr kleinen Unterausschuß von in der Regel vier Mitgliedern bildete, die dann den ganzen Ausschuß präjudizierten. Daß diese Beratungsmethoden in gleicher Weise die Schaffung guten Gesetzesrechts beeinträchtigten, wie es oben für die Gesetzesberatungen durch einzelne Abgeordnete und Spezialisten im Bundestag geschildert wurde, liegt auf der Hand. Dabei ist die Gefahr gesetzgeberischer Fehlleistungen beim Vermitdungsausschuß und vor allem bei von ihm gebildeten Unterausschüssen noch größer als bei den Beratungen in der Bundestagsphase, weil bei jener auch beliebig viel Außenstehende (Beamte, politische Funktionäre und Sachverständige aller Art) hinzugezogen werden können und dürfen, während der Vermitdungsausschuß und etwa von ihm gebildete Unterausschüsse als staatliche und bestimmten gesetzlichen Regeln unterworfene Gremien Externe nicht zuziehen können und dürfen. Haben dann nach dem Vermitdungsverfahren ( das insgesamt bei jeder Vorlage bis zu dreimal durchgeführt werden kann, da alle Antragsberechtigten je einmal den Ausschuß anrufen dürfen: Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung) entweder Bundestag und Bundesrat übereinstimmende Beschlüsse gefaßt oder hat der Bundestag einen Einspruch des Bundesrates mit der erforderlichen Mehrheit überstimmt, dann wird der Gesetzentwurf der Bundesregierung erneut zugeleitet. Diese unterzeichnet (Gegenzeichnung im Sinne Art. 58 Abs. 1 GG) den Entwurf durch den Bundeskanzler und/oder einen oder mehrerer Bundesminister und übernimmt damit die parlamentarische Verantwortung für den Inhalt und das korrekte Zustandekommen des Gesetzes gegenüber dem Bundespräsidenten. Dieser fertigt dann den Entwurf durch seine Unterschrift aus. Da der Bundespräsident nur die nach den Vorschriften des Grundgesetzes zustande gekommenen Gesetze ausfertigen darf (Art. 82 Abs. 1 GG), obliegt ihm ein Prüfungsrecht, ob das der Fall ist. Dieses Prüfungsrecht bezieht sich auf die
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Verfassungsmäßigkeit des Inhaltes des Gesetzes (sog. materielles Prüfungsrecht) als auch der des Zustandekommens (formelles Prüfungsrecht), d.h. die Frage, ob alle Vorschriften des Grundgesetzes über das Gesetzgebungsverfahren eingehalten sind. Ist der Inhalt des Gesetzes nicht verfassungskonform, dann liegt zwingend auch immer eine formelle Verfassungswidrigkeit vor, was im umgekehrten Falle nicht gegeben sein muß. An die Ausübung des präsidialen Prüfungsrechts dürfen jedoch keine zu strengen Maßstäbe angelegt werden. Einmal waren von den bisherigen Bundespräsidenten nur vier Juristen. Aber auch die Heranziehung gutachterlicher Stellungnahmen aus dem Bundespräsidialamt und aus Bundesministerien kann hier keine abschließende Bedeutung für die Verfassungskonformität haben. Der Bundespräsident braucht daher nur bei ihm offensichtlich erscheinender Verfassungswidrigkeit die Ausfertigung zu verweigern. Die Rechtslage unter dem Grundgesetz ist nämlich insoweit anders als unter der Weimarer Reichsverfassung. Im Gegensatz zum Reichspräsidenten ist der Bundespräsident heute nicht mehr "Hüter der Verfassung". Diese Aufgabe hat das Grundgesetz vielmehr dem Bundesverfassungsgericht zugewiesen. Die Ausfertigung durch den Bundespräsidenten hat rechtlich einen Doppelcharakter: Einmal wird er als „Bundesnotar" tätig und bestätigt damit das positive Ergebnis seiner Prüfungspflicht. Zum anderen weist er mit ihr den Bundesminister der Justiz als den Herren über das Hauptverkündungsorgan des Bundes an, den Gesetzgebungsvorgang durch die Publikation im Bundesgesetzblatt abzuschließen. Es gehört zu den Grundprinzipien des demokratischen Rechtsstaates, daß der Bürger nur das zu befolgen braucht, was ihm bekannt ist — bzw. zumindest bekannt sein kann. Daher ist auch der Verkündungsvorgang ein wichtiger Bestandteil des demokratischen Gesetzgebungsvorgangs. Daß dies auch in der Geschichte der Bundesrepublik nach dem 2. Weltkrieg noch keineswegs Gemeingut aller Politiker war, beweist das Ansinnen, das noch in den sechziger Jahren der damalige Bundesminister des Innern, Gerhard Schröder, an den damaligen Vorsitzenden der SPD-Fraktion im Bundestag, Fritz Erler, stellte. Schröder wünschte, die gesetzgebenden Körperschaften sollten im Rahmen der in Vorbereitung befindlichen Notstandsgesetzgebung eine als „§ X" bezeichnete Vorschrift beschließen, deren Inhalt selbst vor dem Parlament geheim gehalten werden sollte. Es sollte die Regelung sein, die später als Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (G 10) unter Einschränkung des Art. 10 GG geltendes Recht werden sollte. Sehr eindrucksvoll schildert der Präsident des Verwaltungsgerichts Augsburg (Gerald Geiger) unter der Überschrift „Abschied von der Gesetzgebungskunst (NJW 2002, S. 1248 ff.) anhand konkreter Beispiele aus der Praxis, welche handwerkliche Fehlern zahlreiche Rechtsvorschriften aufweisen, die in den letzten Jahren in den Gesetzblättern des Bundes und der Länder abgedruckt worden sind. Da sind nicht nur Gesetze noch vor ihrem Inkrafttreten geändert worden.
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In einem anderen Fall war von den gesetzgebenden Organen angeordnet worden, daß in bestimmten Verfahren bei den Oberverwaltungsgerichten nur Richter auf Lebenszeit mitwirken dürfen. Dabei hat man schlicht übersehen, daß an diesen Gerichten schon generell nur derartige Richter judizieren dürfen, die Spezialvorschrift also überflüssig und damit nach einem alten Rechtsgrundsatz falsch ist. Einmal wollten die gesetzgebenden Körperschaften ganz genau sein und ordneten an, daß an einer bestimmten Stelle eines Gesetzes ein Komma durch einen Punkt zu ersetzen sei. Doch der erstaunte Leser fand dort bisher nur ein Semikolon, das man hätte ersetzen können. Es gibt weitere Verweisungen auf längst aufgehobene Vorschriften oder ähnliche Fehler. Dies alles kann einen Menschen wie den Autor dieser Zeilen, der als leitender Ministerialbeamter eines Landesjustizministeriums und als Mehrheitsführer im Rechtsausschuß des Bundestages mit der Formulierung von Gesetzestexten bis zur Schaffung von Formulierungen von Verfassungsvorschriften und mit Rechtsförmlichkeitsprüfung beschäftigt war, nur traurig stimmen. Dies um so mehr, als es nur ein Zufall ist, daß ein schließlich unter politischen Gesichtspunkten gewählter Abgeordneter sich gerade darum bemüht, das aufrecht zu erhalten und zu bewahren, was Geiger Gesetzgebungskunst nennt und der Heidelberger Staatsrechtslehrer Paul Kirchhof sogar zur Kultur der Rechtssetzung erhebt (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4.9.2002), die Form und Stil braucht. Um so mehr ist daher die Ministerialbürokratie gefordert, durch aufmerksame und fleißige Verfolgung des Rechtsetzungsprozesses in all seinen Phasen darauf zu achten, daß dieses Land Gesetze - überhaupt Rechtsnormen aller Art - erhält, die den hohen Ansprüchen von Kunst und Kultur entsprechen. Es muß nicht sein, daß unsere Verfassung, das Grundgesetz, durch die Anwendung formal korrekt gehandhabter Auslegungsgrundsätze sich selbst lächerlich macht. Wenn nämlich Art. 3 Abs. 1 GG bestimmt, daß alle Menschen vor dem Gesetz gleich und Männer und Frauen nach Art. 3 Abs. 2 GG gleichberechtigt sind, dann ist aus dieser Verfassungskonstellation logisch und juristisch unangreifbar abzuleiten, daß entweder Männer oder Frauen keine Menschen im Sinne der Verfassung sind, ist doch unbestreitbar, daß die Begriffe „vor dem Gesetz gleich" und „gleichberechtigt" das Gleiche besagen, aber kein Verfassungssatz so ausgelegt werden darf, daß ein anderer dadurch bedeutungsleer würde. Es ist auch zumindest mißverständlich, wann das Grundgesetz davon spricht, daß das deutsche Volk sich zu den unveräußerlichen und unverletzlichen Menschenrechten bekenne (Art. 1 Abs. 2 GG), als ob es veräußerliche oder verletzliche Menschenrechte gebe. Gemeint ist, daß das deutsche Volk anerkennt, daß Menschenrechte unveräußerlich sind und nicht verletzt werden dürfen und so die Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft bilden. Einer Verfassung, die den Begriff der „ortsfesten militärischen Lazarettorganisation" (Art. 12
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Abs. 4 GG) kennt, sind freilich solche Fehlleistungen kaum noch übel zu nehmen. So bleibt am Schluß dieser Betrachtung nur die resignierende Frage, ob uns im Hinblick auf unsere Gesetzgebungskunst oder deren Kultur nur der Seufzer bleibt, den Dante in seiner göttlichen Komödie als Inschrift über den Eingang zum Inferno angebracht hat: Die Ihr hier eintretet, laßt alle Hoffnung fahren.
Der Ökonom als Politiker - Europa, Geld und die soziale Frage (hrsg. v. W. Hankel, Κ. A. Schachtschneider und J. Starbatty) © Lucius & Lucius, Stuttgart, 2003
1968 und die Folgen Klaus von Dohnanyi Im Sommer 2002 bat mich der Hamburger Senator für Wissenschaft und Forschung Dr. Jörg Dräger zu einem Gespräch in das Gästehaus an der Alster. Ich ging zu dieser Verabredung fest entschlossen, mich nicht breit schlagen zu lassen für eine Aufgabe, die ich fast 30 Jahre zuvor unverrichtet verlassen musste: Die überfällige Reform der deutschen Hochschulen. Doch nicht erneut einen Bericht für den Bücherschrank! Dann aber saß mir dieser junge Mann gegenüber und formulierte hochschulpolitische Ziele, wie Professor Leussink und ich sie damals als Mitglied der Regierung Willy Brandt vorgelegt hatten. Meinen langen Artikel in der ZEIT aus dem Jahre 1971 konnte Senator Dräger doch gar nicht kennen: Schliesslich war er damals kaum 3 Jahre alt! Aber er wollte jetzt, was wir damals vergeblich gewollt hatten. So übernahm ich den Vorsitz und im Januar 2003 legte die Kommission für die Strukturreform der Hamburger Hochschulen einen Bericht vor, den Dr. Dräger inzwischen weitgehend unverändert umgesetzt und der Hamburger Bürgerschaft vorgelegt hat. Ich hatte mich nicht getäuscht, es hatte sich gelohnt: Die Arbeit wurde Politik, nicht Aktenordner. Doch indem ich nach 30 Jahren wieder in meine eigene Vergangenheit eintauchte, wuchsen in mir auch erneute Wut und ärgerlicher Frust über die Arroganz und die Blindheit der sogenannten 68er, die damals unsere Reformarbeit so leichtfertig und folgenschwer aufgehalten hatten. Sie trugen mit ihren unausgegorenen bildungspolitischen Phantasien und Gewaltakten an den Hochschulen entscheidend dazu bei, dass die zentralen Grundsätze unserer HochschulreformVorschläge politisch nicht durchsetzbar waren, und sie tragen damit einen erheblichen Teil der Schuld am Abstieg der deutschen Hochschulen und den Verlusten ihrer wissenschaftlichen Potenz im internationalen Vergleich. Das wollte ich nun noch einmal aufschreiben. Bevor ich mit meinen Überlegungen beginne, möchte ich ein Caveat vorausschikken: Jedes Bemühen um historische Objektivität bleibt für denjenigen, der von der Geschichte selbst betroffen war, notgedrungen nur eingeschränkt erfolgreich. Als die Zeit, über die wir hier sprechen, begann, hatte ich schon seit sieben Jahren eine relativ verantwortliche Industriearbeit hinter mir, hatte eine Tätigkeit als geschäftsführender Gesellschafter eines mittelständischen Unternehmens
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aufgenommen. Ich hatte einen 8-jährigen Sohn, meine Frau war an einer schweren Krankheit gestorben. Kurz: ich konnte mich an dem beginnenden Spiel variabler Utopien nicht unbefangen und unbeschwert beteiligen. Ich war noch jung, aber früh erwachsen. Das bitte ich zu berücksichtigen, wenn ich nun aus dieser meiner Sicht berichte. Die Jugendrevolte, die seit Beginn der sechziger Jahre des vergangenen 20. Jahrhunderts unsere so genannte westliche Welt ergriff (aber auch in Asien zivilisatorisch, demokratisch und ökonomisch weit fortgeschrittene Nationen umfasste) hatte viele, auch regional unterschiedliche Anlässe, Auslöser und Brennpunkte. Sie begann wohl auf den luxuriösen Campus-Anlagen der US-amerikanischen Universitäten, vermutlich im elitären kalifornischen Berkeley, und breitete sich schnell in der marktwirtschaftlich-kapitalistischen Welt aus. Es waren zwar im wesentlichen die westlichen Universitäten, an denen diese Bewegung in Erscheinung trat, aber das gleichzeitige Schweigen an den Universitäten der kommunistisch regierten Länder darf keinesfalls als eine größere Ubereinstimmung der dortigen Jugend mit den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen dieser Länder verstanden werden. Es gab sogar dort vergleichbare Strömungen, zum Beispiel in der Tschechisch-Slowakischen Sozialistischen Republik (CSSR) beim sogenannten „Prager Frühling" (1968), hierher gehören aber auch das Aufkeimen oppositioneller Kräfte in Polen und vielleicht sogar ein Teil der totalitären Kulturrevolution Chinas. Keine dieser Entwicklungen lässt sich jedenfalls von der westlichen Entwicklung völlig abkoppeln. Es waren unruhige Jahre. Die Supermächte fochten blutige Stellvertreterkriege; die alten Kolonialmächte verließen ihre globalen Stützpunkte nur kämpfend; der Kalte Krieg hielt die Welt in einem bedrohlichen Patt. Im Schatten dieses globalen Stellungskrieges konnten Japan und der westliche Teil Deutschlands, die großen Besiegten des Krieges, auf den Grundmauern ihrer wirtschaftlichen Machtstrukturen der Vorkriegs jähre einen Wiederaufbau errichten — mit neuer demokratischer Einrichtung, erfolgreicher sogar noch als zuvor, bestaunt und bewundert wegen dieser unerwarteten Kontinuität des Erfolgs, besonders angesichts ihrer katastrophalen Ausgangslage. Die Zerstörungen und Belastungen des Zweiten Weltkrieges hatten nach 1945 tiefe Spuren hinterlassen, bei Siegern und Besiegten. Die ersten fünfzehn Jahre nach dem Kriegsende dienten daher zwangsläufig zunächst dem Wiederaufbau und der Besinnung. Dass dies für die freie westliche Bundesrepublik in besonderer Weise galt, scheint leicht verständlich. Noch bevor die innenpolitischen Unruhen begannen, war aus konservativem Blickwinkel schon Ende der 50er Jahre eine Debatte über den weltpolitischen Standort Deutschlands entbrannt: Die Sowjetunion erschien auch nach Stalins Tod immer bedrohlicher, erfolgreicher, unverändert machtbewusst, diplomatisch geschickter und zunehmend überlegen. Der westliche Pessimismus wuchs. Bücher wie Winfried Martinis „Das Ende
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aller Sicherheit" (1958) oder William Schlamms „Die Grenzen des Wunders" (1959) fragten nach dem Verbleib der nationalen deutschen Substanz und stellten generell die Widerstandsfähigkeit des Westens in Frage. Der früh verstorbene CSU-Abgeordnete von Guttenberg fasste diese Stimmung später mit seinem Titel: „Wenn der Westen will ..." prägnant zusammen: Aus seiner Sicht war dieser Uberlebenswille zwar möglich, aber doch eher unwahrscheinlich. Aus heutiger Sicht, vierzig Jahre später, ist dies übrigens ein lehrreiches Beispiel für das Uberraschungspotential der Geschichte - und es ist eine Aufforderung zu einer Geduld, die auszuharren lernen muss. Bis zum Beginn der 60er Jahre hielten die konservativen Tendenzen an. In den USA hatte 1952 Dwight D. Eisenhower die Wahlen gewonnen und er wiederholte diesen Sieg 1956. 1960 errang zwar John F. Kennedy die Präsidentschaft, der Sieg war aber äußerst knapp. Seine Wahl und insbesondere seine bis heute immer wieder zitierte Inaugurations-Rede waren dennoch ein erstes Zeichen des Gezeitenwechsels und eines Abschieds vom Vorkriegs-, Kriegs- und NachkriegsDenken. In Frankreich war Charles de Gaulle zwar noch 1958 zurückgekehrt; in Italien regierten die Christdemokraten lange; in Großbritannien die Tories bis 1964. Aber überall ging den Konservativen der Atem aus. Auch in Deutschland hatte Konrad Adenauer noch 1957 die absolute Mehrheit für die CDU/CSU errungen. Aber, schon geschwächt, konnte er 1961 eine Mehrheit nur noch in Koalition mit der FDP sichern. Es bröckelte im konservativen Gemäuer. Erhard folgte Adenauer 1963 schon ohne Glanz, die NPD gewann weiter Stimmen des Protestes und am Ende des Jahrzehnts, 1969, etablierte sich schliesslich in Bonn eine sozialdemokratisch geführte, mit den Liberalen gebildete Koalition - die Regierung Brandt. Eine Bewegung nach links hatte in den sechziger Jahren die westliche Welt überzogen. Innenpolitisch hatten also die 60er Jahre schon als ein Jahrzehnt der Veränderungen begonnen. Es wurde ein Jahrzehnt der Studentenbewegung, bald der Straße mehr als des Parlaments. Ein Jahrzehnt zunehmender Gewalt, deren Höhepunkt dann den Terror der 70er Jahre bildete. Das Jahr 1967, das den Tod des Demonstranten Benno Ohnesorg in Berlin brachte, hat seither diesen Jahren ihren Namen gegeben — allerdings nur in Deutschland, nicht anderswo. Es scheint mir bedeutsam, einerseits zwar die Gemeinsamkeiten der Jugendbewegung in der „westlichen" Welt der 60er und 70er Jahre zu erkennen, zugleich aber die großen Unterschiede sichtbar zu machen, in denen sich diese Bewegung von Nation zu Nation ausprägte. In den USA, zum Beispiel, zeigte sich die Jugendbewegung der 60er Jahre deutlicher als Hippie-Kultur und in wagemutiger Kunst und Musik; Woodstock hatte wenig gemein mit den doktrinären deutschen Debatten. Es brach in den USA mehr ein anarchischer Pioniergeist auf, ein bis an die Grenzen gedehnter Individualismus. Im übrigen kam in den USA
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natürlich dann die unmittelbare Betroffenheit durch den Vietnamkrieg hinzu, mit seinen so sinnlos erscheinenden, großen Verlusten für viele Familien. Und dann waren diese Jahre in den USA auch die Jahre der anti-rassistischen Bürgerbewegungen, die Jahre von Martin Luther King und Malcolm X. Für Deutschland aber war Vietnam nur ein weltpolitischer Vorgang, ein Symbol, ein Katalysator antiamerikanischer Stimmungen; der Aufbruch Martin Luther Kings war keine eigene Erfahrung. In Frankreich erreichte die Bewegung ihren Höhepunkt in einem Klima, in das sich dieses Land immer wieder träumen möchte: Paris träumte den Traum von der revolutionären Straße, von der „Großen" Französischen Revolution. Fast wäre ja so der Sturz de Gaulies 1969 tatsächlich gelungen! In Italien wiederum gab es viel anarchistische Gewalt, so als müsse man erneut gegen eine Jahrhunderte alte, landesfremde Besatzung angehen; italienische Erfahrung und Erinnerung. Und in Deutschland? In Deutschland war die Bewegung der 68er zwar auch von Lebensfreude, Aufmüpfigkeit, Freiheitssuche geprägt. Und das war sicher gut für unser Land und wird es auch bleiben. Wohngemeinschaften als Erfahrung solidarischen einfachen Lebensgefühls spielten eine wichtige Rolle. Auch das hat vielleicht gute Seiten. Aber wenn die Demonstration gegen den Schah von Persien in eine so zentrale Rolle geraten kann — dann hatte man offenbar nicht sehr grosse echte Probleme im eigenen Land! Vielleicht war das der Grund, warum bei uns sehr schnell eine äusserst theoretische und dogmatische Politisierung einsetzte — in dieser Beziehung nicht unähnlich Frankreich — eine politisierte Dogmatik, die von der rigorosen antiautoritären Erziehung bis zur Müllverwertung das gesamte Gesellschaftsleben durchzog. Eine sehr deutsche Weise tönte also bei uns in diesem intellektuellen Diskurs der 68er Jahre. Die Bewegung der 68er schreibt sich heute für Deutschland vieles auf ihr Geschichtskonto, was dort bei genauer Betrachtung nicht hingehört: Ein Beispiel ist die These, erst die 68er hätten eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus begonnen. Es lässt sich an sehr vielen Beispielen eindeutig beweisen, dass diese Auseinandersetzung sehr viel früher begann. Und auch deswegen wird dieser Schmuck unberechtigt von dieser Generation getragen, weil es unter den 68ern dafür damals viel zu viel Antisemitismus, Antizionismus, Anti-Israel-Stimmungen gab. Die internationale Sicht der „68er" war vorrangig eine „anti-imperialistische", eine „anti-kolonialistische" Position und zeigte deswegen auch logisch eine Palästinenser-Präferenz. Die 68er haben allerdings aus einer historischen Debatte über den Nationalsozialismus einen Generationenstreit gemacht. Die deutsche Verstrickung der Hider-
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Jahre machte es der 68er-Generation leicht, den anthropologisch unausweichlichen Generationskonflikt diesmal durch eine sehr verallgemeinerte NaziBeschuldigung der Elterngeneration zu lösen. Niemand, fast niemand dieser jungen Kritiker der „Älteren", versuchte dabei auch nur einen Augenblick, sich ein Leben in für viele unverschuldeter Diktatur (immerhin hatte Hitler 1933 keine demokratisch gewählte Mehrheit) nachzuvollziehen. Dennoch wurden Väter und Mütter pauschal verurteilt. Diese sehr praktische Generationsentlastung ist bis heute im Schwange. Die Angriffsflächen waren ja auch offenkundig. Es war nach 1945 unvermeidlich gewesen, dass auch die demokratische Bundesrepublik Deutschland zunächst nicht ohne einen wesentlichen Teil der Funktionseliten der Vor- und Kriegszeit auskommen konnte. Wer nämlich die Strukturen einer so konsequenten Diktatur wie der des Dritten Reiches unvoreingenommen studiert, der muss erkennen, dass Anpassung an ein solches System die natürliche Überlebensstrategie des Menschen ist. Und, dass diese Anpassung dann auch zu unangenehmen, ja abstoßenden Verkrümmungen sonst anständiger Menschen führen kann. Dennoch sind diese Menschen deswegen später nicht unbrauchbar für die Demokratie. So war die junge Bundesrepublik auf alle möglichen alten Kader angewiesen, die in der Nazi-Zeit geschwiegen oder auch mitgeheult hatten. Man bedenke nur, wen der Spiegel Rudolf Augsteins anfänglich beschäftigte! Auch eine Reihe von Politikern der verschiedenen Parteien entstammte dieser Provenienz. Ausgesprochene „Täter" wurden zwar gemieden, aber „Täter" gab es ja nicht so viele, abstoßende Mitläufer aus den Nazi-Jahren dagegen sehr viel mehr. Und diese kamen nun wieder zu Geld und Ehren. Doch woher sonst sollte man die Funktionseliten nehmen, von der Justiz bis zur Journalistik, von der Politik bis zur Wirtschaft? Die Heuchelei, die bei diesen Anpassungskünstlern oft anzutreffen war, der neue und nun (nach der Erfahrung zwischen 1933 und 1945) umso durchschaubarere Opportunismus dieser Leute — das war wirklich oft ein anstößiger Eindruck. Aber die pauschale Verdammung der „Stunde Null" war dennoch eine unzulässige Vereinfachung. Denn diese Nachkriegsjahre waren auch geprägt von der Wiederkehr sowohl der in Deutschland gebliebenen Demokraten (ich nenne nur Konrad Adenauer, Kurt Schumacher, Jakob Kaiser und Eugen Gerstenmeier) als auch der aus der Emigration nach Deutschland zurückgekehrten Politiker (ich nenne nur Ernst Reuter, Willy Brandt, Brauer, Weichmann und Hoegner). Alles bedeutende und integre Anti-Nazis, die das Bild der vielen Angepassten doch mit deutlicher, demokratischer Farbe übertönten. Im übrigen hatte es auch seit 1945 eine intensive Debatte über die Ursachen der Nazijahre gegeben. Sogar Eugen Kogon, selbst jahrelang im Konzentrationslager, schrieb 1947 endastend von dem „Recht auf politischen Irrtum".
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Die kritiklose Verwerfung der Vätergeneration war also in der Pauschalität ebenso unbegründet wie ungerecht — doeh für die Jüngeren bequem, nützlich, und insofern vielleicht sogar verständlich und entschuldbar. Doch was setzten die Wortführer der APO und der 68er Aktivisten nun demokratisch als Vorbilder dagegen? Was Deutschland damals gebraucht hätte, das wären freiheitsbewusste, dialogbereite Demokraten gewesen, die jener für Deutschland historisch so unseligen Entweder/oder-Debatte, diesem feindseligen Ausschluss Andersdenkender, ein Ende gemacht hätten durch eine ebenso streitige wie zivile Debatten-Kultur. Deutschland hätte junger Menschen bedurft, die Mut, zivilen Mut gelernt hätten und jetzt pragmatische Standhaftigkeit beweisen würden. Doch genau das war es nicht, was die 68er pflegten und hegten. Dialogverweigerung, Sprechchor-Gewalt und sogar physische Gewalt auf den Straßen, im linken Spektrum der Parteien und an den Universitäten, nahmen immer stärker überhand. Weder die APO, noch die 68er haben in Deutschland auch nur einen Hauch von dem hinterlassen, was Deutschland am meisten fehlte und fehlt: Eine mutige öffentliche Debattenkultur. Andere Entwicklungen, wie der Weg in die Gleichberechtigung der Frau, die Entrümpelung des Sexualstrafrechts, das Aufblühen eines hedonistischen, individualistischen Lebensgefühls, das entstand damals auch — und zwar gleichzeitig — in Ländern, in denen es eine Jugendbewegung in diesem engeren Sinne des „68er"-Begriffs gar nicht gab. Ich würde deswegen gerne darüber streiten, ob die 68er eigentlich Anstoß oder Folge einer evolutionären gesellschaftlichen Modernisierung der 60er und 70er Jahre waren. Ich denke eher letzteres. Für eine solide Beantwortung dieser Frage fehlen aber noch immer international vergleichende Studien. Und fehlt heute hier auch der Raum. Insofern falle ich mein Urteil mit Vorsicht: Denn zu Beginn der 60er Jahre war ich eben auch schon knapp über dreißig und stand in wirklicher Verantwortung - und da traute ich vielleicht diesen aufmüpfigen Jüngeren so wenig wie diese mir! Ich will meine Meinung mit einem Beispiel illustrieren: Möglicherweise hätte es ohne Lenin und seine Bolschewiki die 70 Jahre währende Sowjetunion nicht gegeben - aber ohne die 68er würden wir heute ganz gewiss die Homosexualität nicht mehr strafrechtlich verfolgen oder den § 218 in alter Form praktizieren oder hätten weniger Frauen an den Universitäten oder hätten keinen Dosenpfand eingeführt. Allerdings hätten wir vermutlich bessere Universitäten. Auf diesen Punkt komme ich noch zurück. Es ist unbezweifelbar, dass die 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts künstlerisch sehr kreativ waren, eben weil eine neue Freiheit aufbrach; auch in Deutschland. Nach dem schwarzen Jazz prägte vermutlich nichts die Musik der Moderne so nachhaltig wie die Beatles, auch nicht Schönberg oder Richard Strauß. Und die Pop-Art bleibt wohl auch wichtiger als die ermüdenden Wiederholungen des
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Bauhauses. Es waren die Warhols, Polkes, Liechtensteins, Hockneys und Richters, die unsere Augen verändert haben. „68" aber in Deutschland: Das war doch eher ein Klima extremer ästhetischer Enthaltsamkeit! War „Pop" die Kunst der 68er, die wir meinen, wenn wir über diese Generation unser politisches Urteil fällen? Meinen wir mit der Zeit des „Pop" auch diejenigen, die heute als 68er ihre Ansprüche an unsere politische Wirklichkeit stellen? Sollten diese grauen Selbstgestrickten nun etwa Quell der Beatles sein oder die lautstarken K-Gruppen Vordenker von Willy Brandt? Kaum! Ich versuche gerecht zu sein, aber aus der politisierten Sackgasse der 60er und 70er Jahre, und für diese Jahre stehen doch die deutschen 68er im wesentlichen, fällt mir heute wirklich kaum ein nachwirkender origineller Beitrag ein. Es mag sein, dass die 68er-Bewegung manches beschleunigt hat, was auf dem Wege war. Was, allerdings, war darunter, das ohne sie noch lange geschlummert hätte? Gewiss, „wenn es der Wahrheitsfindung dient", Teufels phantasievolle Prozesseinlassung, war witzig wie der Buchhalter Wanninger. Aber sonst? „Bleierne Zeit" wäre aus meiner Sicht keine schlechte Beschreibung des gesamten deutschen Erbes der 68er. Und warum sollte der Samen auch so viel besser gewesen sein als die Frucht? Schaue ich selbst zurück, habe ich also sehr gespaltene Gefühle: Die Zeiten waren bewegt; überall öffneten sich neue Fenster; ein erfrischendes Lebensgefühl umgab uns. Aber wir, die wir schon in Verantwortung, besonders dann in politischer Verantwortung standen, für uns wurde dieser Schauer hochgepeitschter Stimmungen bald zu einer Mauer oft reaktionären Widerstands gegen die notwendigen Reformen. Es war Romantik. Es war sehr deutsche Romantik. Man lese Sieferle's bedeutendes Buch „Fortschrittsfeinde?" aus diesem Blickwinkel. Für diejenigen allerdings, die das Parfüm der Illusionen für frischen Sauerstoff hielten, oder die sich damals sogar aus Abenteuerlust bei der Randale einen neuen Lebenssinn und ein wärmendes Gemeinschaftsgefühl erwerben konnten, sicherlich, für sie sind die 68er Zeiten eine schöne Erinnerung. Die meisten auch der damals gewalttätigen Engagierten haben sich natürlich inzwischen als gute Demokraten erwiesen. Warum sollte es auch anders sein? Aber waren sie besser, waren sie wichtiger als ihre dialogbereiten Kritiker meiner Generation? Reicht die späte Wandlung zum dialogbereiten Demokraten schon für ein positives Urteil über die ganze Zeit? Für eine möglichst objektive Antwort sollte man versuchen, Deutschland damals und heute aus dem Blickwinkel derjenigen Defizite betrachten, die uns noch immer beschweren — also dessen, was uns damals fehlte und was uns heute noch fehlt. Hat die 68er-Bewegung diese Defizite damals erkannt — und positiv ausgefällt?
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Es wird oft die Öffnung der Bildungseinrichtungen für weniger begünstigte Schichten und für die Frauen genannt. Wirklich begründet? Das Produkt der Gesamtschule — als Konzept wiederum richtig und längst vor den 68er vorhanden - wurde damals von ideologisierter Überforderung im Rausch verdorben. Im historischen und im internationalen Vergleich wurde dieser Weg in Deutschland nicht erfolgreich, wurde nicht nachahmenswert verwirklicht. Pisa ist für mich auch — ich betone auch — eine 68er Folge. Schaut man so heute über Deutschlands Grenzen, bleibt wenig. Im Gegenteil: Die 68er haben vieles aufgehalten oder sogar aus den deutschen Mottenkisten wieder herausgeholt, was wir damals hätten ablegen sollen! Zwei dieser Aspekte erscheinen mir wichtig. Ich werde sie beide hier verkürzt behandeln. Zunächst der Blickwinkel, aus dem die 68er die Wirtschaft betrachteten. Man braucht es nicht weiter zu belegen: Nicht nur einzelne Unternehmen, das gesamte marktwirtschaftliche Geschehen wurde damals einseitig, voreingenommen und uninformiert als ein großer Ausbeutungsprozess wahrgenommen. Der Marxismus blühte auf. Die DDR wurde oft — zumindest als wirtschaftspolitisches Organisationskonzept — vergleichsweise positiv beurteilt. Die Diskussionen über wirtschaftliche Konzepte waren deswegen völlig unergiebig und von ihnen ist — Gott sei Dank — auch nichts geblieben. Dass wir aber heute so weit zurückstehen in den notwendigen gesellschaftlichen und sozialpolitischen Reformen, das ist auch — wiederum betone ich: auch — auf die damalige Barrikaden-Haltung und damit auf die bis heute nachwirkenden Slogans der 68er zurückzuführen. Was damals stattfand, war eine Wiederbelebung der antikapitalistischen Denkschemata der deutschen Romantik, des deutschen Bildungsbürgertums, also eigentlich des deutschen Bürgertums schlechthin, dessen Einstellung gegenüber Unternehmen und Unternehmern angesichts der eigenen, bildungsgesicherten Staatsdienerexistenz schon immer von Hochmut gegenüber den „Koof-Michs" geprägt war. Das haben die 68er Söhne und Töchter des Bildungsbürgertums in den 60er und 70er Jahren und ihre Erben mit anhaltender Wirkung gründlich wiederbelebt. Und ein letzter Punkt: Die deutschen Universitäten. Gewiss, viele Hochschullehrer hatten sich in der Nazizeit nicht heldenhaft benommen; viele waren sogar arg kompromittiert. Aber was die aktivistischen 68er hier veranstalteten und verursachten, das wiegt alles sonst möglicherweise positiv zu Beurteilende negativ auf: Die Hochschulen wurden nicht einer intensiveren Mitwirkung und den wirklichen Interessen der Lernenden geöffnet; ein neuer Mittelbau verbesserte nicht Qualität und Innovation. Vielmehr wurde institutionell aus der so genannten Ordinarienherrschaft eine anonyme, die Qualität behindernde, korporatistische, ständische Herrschaft geformt. Wir, die wir damals in der Regierung auf diesem Gebiet Verantwortung trugen, haben uns mit den notwendigen, pragmatisch
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zeitgemäßen Reformen nicht durchsetzen können. Die deutschen Hochschulen wurden dadurch um Jahrzehnte zurückgeworfen, und erst heute beginnt ein neuer Reformwille, ζ. B. in Hamburg, der an die Konzepte anknüpft, die in den 70er Jahren von den 68ern kenntnislos und mutwillig mit so blöden Sprüchen blockiert wurden wie „Marx an die Uni" oder sogar mit totalitärer Gewalt gegen Professoren — wie gegen Adorno und andere Emigranten. Was Deutschland nach der Adenauer-Zeit gebraucht hätte, das wäre eine Stärkung pragmatischen persönlichen Freiheitssinnes gewesen, eines verantwortlichen Individualismus, einer Ermutigung für den reformorientierten Sachverstand. Was die 68er, auch mit ihrem Einfluss auf Teile der Regierung Brandt, erzeugten, das war jedoch eine mit Sprüchen hoffähig gemachte Intoleranz und Gewalt, ein moralisch getönter Kollektivismus. Das war letztlich eine Erneuerung von romantischen Parolen und Träumen statt einer zukunftsgewissen Nüchternheit, die wir bis heute so schmerzlich vermissen. Freiheit muss eben immer auch als persönliches Risiko erfahren werden und zwar nicht nur als Risiko vor Wasserwerfern. Sonst, ohne ein gewisses Lebensrisiko in Freiheit, entsteht nur ein Gefühl für Ansprüche. Doch diese Seite der Freiheit haben die 68er kaum in die deutsche Mentalität eingebrannt. Was also bleibt? In der Gesellschaft: keine Lehre für Toleranz; für den Einzelnen: keine Ermutigung zu individueller, kollektiv-feindlicher Freiheit; gegenüber der Wirtschaft: kein Sinn für Pragmatik; für Wissenschaft und Sozialpolitik: keine Ertüchtigung zur Exzellenz. Ich füge am Ende hinzu: Es mag sein, dass ich diese ganze Bewegung nicht nur deswegen so negativ erinnere, weil ich damals schon in Verantwortung stand, sondern auch, weil ich selbst immer ein eingefleischter Reformer war; weil ich in den Schäden der Revolutionen historisch immer das Ausbleiben rechtzeitiger Reformer erkenne. Reformer suchen die neue Gestalt, Revolutionäre aber in erster Linie die Zerstörung der alten: Über die Machbarkeit ihrer Träume legen sie sich nie Rechenschaft. Was bleibt? Ich denke ein Mythos; ein Wärmegefühl bei den Teilnehmern; einige interessant geformte Charaktere; und eine über zwei Jahrzehnte politischintellektuell vernachlässigte Republik. Nachholen kann man diese verlorene Zeit nicht. Aber man kann immer wieder anfangen.
Der Ökonom als Politiker - Europa, Geld und die soziale Frage (hrsg. v. W. Hankel, Κ. A. Schachtschneider und J. Starbatty) © Lucius & Lucius, Stuttgart, 2003
Glanz und Schatten politischer Arbeit in unserer Zeit Hans-Joachim See/er I.
Eine persönliche Vorbemerkung
Wilhelm Nölling und ich, wir kennen uns seit vielen Jahrzehnten aus gemeinsamer politischer Arbeit. 1970 war er zum Kreisvorsitzenden des SPD-Kreises Eimsbüttel gewählt worden; ich war seit 1968 Vorsitzender des SPD-Kreises Wandsbek. So trafen wir uns regelmäßig im Landesvorstand unserer Partei und bei vielen anderen Gelegenheiten. Seine klare und oft unmissverständlich vorgetragene politische Position habe ich immer geschätzt, auch dann, wenn ich anderer Meinung war. Anfang 1967 wurde ich von der Hamburger Bürgerschaft in den Senat der Freien und Hansestadt Hamburg gewählt. Ich wurde Gesundheitssenator. Damals lag das Ende des 2. Weltkrieges gerade zwanzig Jahre zurück. Der Wiederaufbau und der dringende Neubau des Gesundheitswesens, insbesondere der Krankenhäuser, waren im vollen Gange. Zuletzt war 1914 in Hamburg ein Krankenhausneubau fertiggestellt worden. Seither mussten die Menschen für die Vorbereitung und die Folgen der Kriege arbeiten. Für viele war das Ziel der Gesundheitspolitik damals, die Zahl der verfügbaren Krankenhausbetten zu vermehren. Eine Verkürzung der Verweildauer und damit eine Reduzierung der ständig steigenden Kosten des Krankenhausaufenthaltes waren in jenen Jahren eine nur selten zu hörende politische Forderung. Damals war auch das Wort "Umweltschutz" kein allgemein gebräuchlicher Begriff. Das, was sich hinter diesem Wort verbarg, begann gerade erst ins öffentliche Blickfeld zu treten. In Hamburg wurde die Gesundheitsbehörde für den Umweltschutz zuständig. Anfang 1973 musste ich im Zuge einer Senatsumbildung nach sechs Jahren die Gesundheitsbehörde verlassen und wurde Präses der Justizbehörde. Senator Ernst Heinsen, dessen Nachfolger ich wurde, übernahm die Vertretung Hamburgs in Bonn. Ilse Eisner wurde meine Nachfolgerin in der Gesundheitsbehörde. Im folgenden Jahr 1974 führte das Ergebnis der Bürgerschaftswahl zu einer Koalition der SPD mit der FDP. Diese forderte das Justizressort für sich, so dass ich erneut die Behörde wechseln musste. Ich wurde Finanzsenator. Wilhelm Nölling, der seit 1969 Hamburger Abgeordneter im Deutschen Bundestag war, wurde in den Senat gewählt und übernahm die Gesundheitsbehörde. Er wurde zum ersten Mal mein Nachfolger.
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Damals war die Gesundheitsbehörde nicht nur für den Neubau von Krankenhäusern, sondern auch für das gesamte Krankenhauswesen verantwortlich. Im Haushalt der Stadt gehörten die Investitionen im Gesundheitswesen zu den höchsten Ausgabepositionen. Wilhelm Nölling saß daher oft mit dem Finanzsenator an einem Tisch, um über seine Forderungen an den Haushalt zu beraten. Aber er gehörte zu den Kollegen im Senat, die wussten, dass die Stadt nur ausgeben konnte, was sie an Einnahmen zur Verfügung hatte, und auch, dass Schulden für lange Zeit Steuereinnahmen für den Schuldendienst binden, die damit nicht zur Finanzierung anderer politischer Aufgaben und Wünsche verfügbar waren. Gegenwärtig muss Hamburg jährlich 1,037 Mrd. Euro nur an Zinsen zahlen, um die Gesamtschulden in Höhe von rd. 22 Mrd. Euro zu bedienen. Um die Schuldenlast zu senken, hat Hamburg im Laufe der letzten Jahre erhebliche Vermögenswerte verkauft und damit dann auch deren Erträge als Haushaltseinnahmen verloren. Gemeinsam erlebten Wilhelm Nölling und ich 1974 den dramatischen Rücktritt von Bürgermeister Peter Schulz. In der Öffentlichkeit wurde das damals beschlossene Sparprogramm und seine angeblich schwierige Durchsetzung oft als Grund für diesen Rücktritt genannt. Tatsächlich war das im Spätsommer 1974 vom Senat beschlossene Sparprogramm gut angelaufen und zeigte bereits die ersten Ergebnisse. Natürlich wusste jeder, der mit der Materie vertraut war, dass viele Einsparungen erst in den folgenden Jahren Auswirkungen haben würden. So konnte Hamburg beispielsweise 1978 erstmalig nach dem Krieg seine Gesamtschulden etwas senken. Der Rücktritt des Bürgermeisters hatte mit den Sparmaßnahmen nichts zu tun; er war vor allem die Folge einer völligen Erschöpfung durch den Wahlkampf und die Koalitionsverhandlungen, eine seelische Erschöpfung, die zuweilen unübersehbar war. Es gab damals aber auch Machtkämpfe in der Führung der SPD und in der Bürgerschaftsfraktion, die nicht ohne Auswirkungen auf Peter Schulz blieben. Neuer Bürgermeister wurde Hans Ulrich Klose, der erst ein Jahr zuvor als Nachfolger von Heinz Ruhnau Innensenator geworden war. 1976 verließen Helmut Kern, der Wirtschaftssenator war, und Wilhelm Eckström, der seit 1974 die Behörde für Vermögen und öffentliche Unternehmen geleitet hatte, den Senat. Die Behörde für Vermögen und öffentliche Unternehmen wurde wieder in die Finanzbehörde eingegliedert, aus der man sie 1971 aus politischen Gründen herausgenommen hatte. Wilhelm Nölling wurde Wirtschaftssenator. Ich glaube, er war nicht unglücklich über diesen Wechsel. Entsprach dieses Ressort doch nicht nur seiner Ausbildung als Volkswirt, sondern insbesondere auch seinen politischen Neigungen. 1978 endete meine Zugehörigkeit zum Senat nach beinahe 12 Jahren. Ich wollte einmal etwas anderes machen. Politik darf nicht zur Routine werden. Sie muss
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stets ein wenig Vision und kreative Fantasie bewahren, sonst verkommt sie zur politischen Verwaltung eines Ressorts. Außerdem stand damals die erste Direktwahl zum Europäischen Parlament bevor. Der Termin sollte ursprünglich 1978 sein, wurde dann aber wegen der schwierigen Schaffung neuer Wahlkreise in Großbritannien auf 1979 verschoben. Ich wollte die Arbeit eines Parlaments erleben. Mich reizte besonders das von den Völkern Europas erstmalig direkt gewählte gemeinsame Parlament. Für mich war diese Wahl durch die Völker der Europäischen Gemeinschaft, die sich im 20. Jahrhundert noch in zwei schrecklichen Weltkriegen bis zur Selbstzerstörung bekämpft hatten, ein großartiges Ereignis und ein gewaltiger Schritt nach vorn zur Einheit Europas. Wenn ich heute zurückdenke, so habe ich sicherlich mehr erwartet und erhofft von den Möglichkeiten dieses Parlaments. Dennoch möchte ich die zehn Jahre in Brüssel und Straßburg nicht missen. Die vielen Begegnungen und die Freundschaften aus dieser Zeit haben mein Leben bereichert. Mit der Senatsbildung 1978 wurde Wilhelm Nölling wieder mein Nachfolger. Er übernahm die Finanzbehörde mit allen damit verbundenen Aufgaben und Ämtern. Noch einmal berührten sich später unsere politischen Wege. 1982, als die Amtszeit des damaligen Präsidenten der Hamburger Landeszentralbank dem Ende entgegen ging und ein Nachfolger gesucht wurde, kam Hans Hermsdorf zu mir und fragte mich, ob ich sein Nachfolger werden wollte und er mich vorschlagen könne. Ich habe lange darüber nachgedacht, zumal mir die begrenzte politische Wirklichkeit des europäischen Mandats inzwischen deutlich geworden war. Aber letztlich hatte ich mich für das europäische Mandat entschieden und war aus Senat und Bürgerschaft ausgeschieden, nicht, um nach wenigen Jahren wieder nach Hamburg zurückzukommen. Trotz allem hatte die Arbeit im Europaparlament begonnen, für mich an Reiz zu gewinnen. Erneut führten uns unsere Wege zusammen, als ich 1987 Präsident des EuropaKollegs Hamburg geworden war. Ich konnte Wilhelm Nölling gewinnen, für einige Jahre Mitglied unseres Kuratoriums zu werden. Dort hat er mit Rat und Tat mitgeholfen, die Aufgaben dieser wissenschaftlichen Einrichtung auszubauen und die bis dahin dominierende Forschung durch die Lehre zu ergänzen. Wilhelm Nöllings beruflicher Weg führte ihn nach dem Studium der Volkswirtschaft und den Examina in die Wissenschaft als wissenschaftlicher Assistent und dann als Dozent. Mein Weg begann nach dem Jurastudium und den Examina als Richter am Landgericht in Hamburg und dann in der damaligen Landesjustizverwaltung. Später wurde ich Kirchenjurist in der früheren Evangelisch Lutherischen Kirche im Hamburgischen Staate. Wilhelm Nölling wurde 1969 zum ersten Mal in den Deutschen Bundestag gewählt. Mein politischer Weg begann 1966 mit der Wahl in die Hamburger Bürgerschaft. Warum haben wir beide das getan? Warum engagiert man sich über-
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haupt in der Politik? In seinem Beitrag zur Festschrift für Claus Arndt1 behandelt er dieses Thema unter dem Titel: "Warum ist es in der Politik so schön?" Ich möchte nachfolgend nun meine Gedanken über die Politik und ihre vielfältigen Seiten, ihren Glanz und ihren Schatten darlegen und mich vielleicht in manchem mit denen des Jubilars treffen.
II.
Warum wird man Politiker?
Vor Jahren habe ich in einer kleinen Schrift meine Gedanken und Erfahrungen für den jungen Politiker niedergeschrieben.2 Die Frage, wer Politiker wird, habe ich damals wie folgt beantwortet: Man kann die Menschen, die den Weg in die Politik suchen, in mehrere Gruppen einteilen. Zunächst einmal sind es solche, die Ideen für die Neugestaltung des Staates und der menschlichen Gesellschaft haben. Sie wollen reformieren, verändern, sie streben nach mehr Geltung für ihre Nation, ihr Volk, sie wollen erobern und „Land" für ihr Volk gewinnen. Es sind also Menschen, die eigene Ziele und Ideen - oder auch die Ideen anderer verwirklichen wollen und deswegen die dafür erforderliche politische Macht erstreben. Sehr oft missachten diese Politiker die Regeln des Machterwerbs und des Machterhalts. Sie werden zu Diktatoren. Cromwell, Napoleon I. und sein Neffe Napoleon III., Lenin, Stalin, Hider und Franco sind Beispiele für diese Gruppe von Menschen. Eine andere Gruppe von Menschen, die eine politische Kariere erstreben, will vor allem beachtet, anerkannt, verehrt und nicht selten sogar geliebt werden. Manchmal sind es Menschen, die eine schwere Kindheit und Jugend hinter sich haben. Sie fühlen sich nicht anerkannt und beachtet, ihre Leistungen finden nicht genügend Resonanz in der eigenen Familie, der Gruppe und im Berufsumfeld. Darum streben sie ein politisches Amt an, um Macht und Einfluss zu erlangen. Auch sie haben Ideen und Pläne, wie man den Staat und die Gesellschaft verbessern, reformieren oder verändern sollte. Aber sie halten sich an die vorgegebene staatliche Ordnung und Verfassung. Gewaltsame Veränderungen widersprechen ihrem Streben nach Anerkennung. Schließlich gibt es eine Gruppe von Menschen, von Politikern, die eigentlich gar nicht Politiker werden wollten. Sehr oft sind es Menschen, die in ihrem Beruf oder durch ihre Leistungen in der Öffentlichkeit Beachtung und Anerkennung
1 Pflicht und Verantwortung, Festschrift zum 75. Geburtstag von Claus Arndt, hrsg. von Bernd M. Kraske, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2002.
2
Hans-Joachim Seeler, Von der Politik - Gedanken und Erfahrungen für den jungen Politiker, Europa Union Verlag, Bonn 1999.
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gefunden haben. Es sind dann andere Politiker, die ihnen anbieten, eine politische Aufgabe oder ein politisches Amt zu übernehmen. Sind sie dann Politiker geworden, so kann ihr weiterer Weg zuweilen bestimmt werden von ihrer Neigung, Ideen und Pläne durchzusetzen und dafür ihre politische Macht zu nutzen. Manchmal ist das Motiv, politisch aktiv zu werden, aber auch ganz einfach der Wunsch, den eigenen Ehrgeiz zu befriedigen. Man möchte etwas Bleibendes schaffen und die politische Entwicklung beeinflussen. Man möchte in der Öffentlichkeit stehen und aus der Anonymität der Masse heraustreten. Diese Wünsche und Ziele, die sehr oft der Anreiz für die Frauen und Männer sind, die es in die Politik zieht, müssen aber in aller Regel sehr ausgeprägt sein, denn das Ansehen vieler Politiker und das Image der politischen Tätigkeit ist in unserer Zeit vielfach negativ geprägt, so wie unser Volk überhaupt in seiner Geschichte die Politik gern "den anderen, denen da oben' überlassen hat. Diese geschilderten Gruppen unter den Menschen, die es in die Politik zieht, sind natürlich recht abstrakt definiert. In der politischen Wirklichkeit haben die Menschen, die den Weg in die Politik suchen, oft mit vielen Widrigkeiten und Ärgernissen zu kämpfen. Haben sie sich in ihrer Partei durchgesetzt, so stehen sie nicht selten unter einem ständigen Erfolgsdruck. Ihre Partei, ihre Fraktion, ihre Gruppe erwartet, dass sie "eine gute Figur' in der Öffentlichkeit machen, eine gute Presse haben und durch ihre Arbeit und Entscheidungen auch das Ansehen der Partei hochhalten, denn es verbindet sich mit dem Erfolg des Politikers sowohl auf der Ebene der Exekutive als auch in der Legislative das Eigeninteresse der Mitglieder der Partei, der Fraktion und der politischen Gruppe. Sie wollen wiedergewählt werden. Ihre Chancen sind umso größer, je überzeugender die von ihnen getragenen Politiker gearbeitet haben und in der Öffentlichkeit wirken. Ganz wesentlich hierfür ist es für den Politiker, das Vertrauen der Menschen und damit auch der zu gewinnenden Wähler zu erlangen. Wichtig hierfür ist es, Vorbild zu sein und zwar im persönlichen Leben, in der Familie, überhaupt im Tun und Handeln sowohl im Rahmen der wahrgenommenen politischen Aufgaben als auch im persönlichen, privaten Bereich. Je stärker diese Vorbildfunktion ist, desto stärker ist dann das Vertrauen in diese Politiker, auch dann, wenn harte und unpopuläre Maßnahmen nötig werden. Wer hingegen als Politiker gegen Gesetze verstößt, die er zuweilen selbst mitgetragen hat, sich offensichtlich materielle Vorteile verschafft, vor allem unter Missbrauch seines politischen Amtes, oder sein persönliches Leben nicht im Einklang mit Sitte und Anstand und den allgemeinen Moralgrundsätzen gestaltet, der kann nicht erwarten, dass er das Vertrauen der Menschen gewinnt und sein politisches Handeln akzeptiert wird.
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III.
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Ist Politik eigentlich ein Beruf?
Wilhelm Nölling schreibt zu Recht, dass Politiker gebraucht werden, "so wie wir Chirurgen, Musiker, Techniker, Journalisten, Unternehmer, Handwerker und Tausend andere ... brauchen."3 Nur kann man Politik als Beruf nicht erlernen, so wie man z.B. lernen kann, Arzt, Bäcker oder Techniker zu werden. Und doch kann man vieles lernen, was man können und wissen muss, wenn man verantwortungsvoll und erfolgreich als Politiker wirken will. Ganz wichtig ist es, die Geschichte des eigenen Volkes und Staates und auch die der der Nachbarvölker und -Staaten zu kennen, denn die Politik von heute ist die Geschichte von Morgen. Nur wer die Geschichte kennt, kann das politische Handeln anderer Staaten und Völker verstehen und entsprechend reagieren. So ist beispielsweise die Politik Israels gegenüber seinen Nachbarn, insbesondere die harte Besatzungspolitik in den palästinensischen Territorien, nur zu verstehen, wenn man weiß, wie sehr das jüdische Volk hat leiden müssen, weil es keinen eigenen Staat hatte, in dem es sich schützen konnte. Ob die jahrzehntelange Besetzung der palästinensischen Gebiete allerdings der richtige Weg in eine bessere, friedlichere Zukunft der beiden Völker ist, das muss bezweifelt werden. Hilfreich für die aktive Politik ist darüber hinaus eine vielseitige Allgemeinbildung und natürlich auch das Fachwissen in vielen Disziplinen. Daneben hilft die Erfahrung, die man im eigenen Beruf sammeln konnte, um politische Aufgaben zu bewältigen. So hat mir sehr geholfen, als ich das Finanzressort übernahm, dass ich mehrere Jahre Haushaltsdezernent im Landeskirchenamt gewesen bin. Ich wusste also, wie ein Haushalt aufgebaut und vollzogen werden musste. Gern erinnere ich mich an ein Gespräch mit dem früheren Bürgermeister Paul Nevermann, als er mich fragte, ob ich Gesundheitssenator werden wolle. Als ich ihm antwortete, dass ich keine Ahnung von Gesundheitspolitik hätte, antwortete er sehr trocken: "Du bist doch Jurist, Juristen können alles!" Das war natürlich übertrieben, aber die Denkschulung, die ein Jurist im Laufe seiner Ausbildung erfährt, erleichtert es ihm, politische Aufgaben zu bewältigen. Eine hamburgische Merkwürdigkeit ist es übrigens, dass z.B. die Justizsenatorinnen stets Juristen waren, während die Gesundheitssenatorinnen niemals Mediziner waren. Nicht ohne Grund erwähnt Wilhelm Nölling, dass immer mehr aktive Politiker eine akademische Ausbildung haben.4 Allerdings kann man Politik als solche nicht studieren, sondern nur Wissenschaftsbereiche, die das politische Handeln dann erleichtern. Hierzu gehören viele Disziplinen, wie etwa Politische Wissenschaft, Soziologie, Volks- und Betriebswirtschaft und auch Rechtswissenschaft.
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In der Festschrift für Claus Arndt, S. 140.
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AaO., S. 140.
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Wichtig ist, dass durch ein Studium die Fähigkeit zum analytischen und kreativen Denken und zum Urteilen vermittelt wird. Darüber hinaus sind umfassende Allgemeinbildung und ein breites Wissensspektrum für das verantwortliche politische Handeln notwendig, zumindest erleichternd. Nicht ohne Grund haben unsere westlichen Nachbarn Frankreich und Großbritannien im Laufe der Zeit besondere Ausbildungswege für den politischen Nachwuchs entwickelt. Die Ecole de Sciences Politiques, die Ecole Nationale d'Administration in Paris und die britischen Universitäten in Cambridge und Oxford sind Beispiele hierfür. Auch bei uns in Deutschland wurden in den vergangenen Jahren auf Initiative des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft wissenschaftliche Einrichtungen gefördert, die Postgraduierten eine Zusatzausbildung anbieten. Hierzu gehört das Europa-Kolleg in Hamburg, das über das Institut für Integrationsforschung mit der Universität Hamburg verbunden ist. Das Europa-Kolleg wurde 1953 gegründet. Am Anfang bot es deutschen und ausländischen Studierenden eine gemeinsame Unterkunft und ein Studium Generale zu den Themenbereichen der Europäischen Integration. Später entwickelte sich das erwähnte wissenschaftliche Institut zu einer Forschungseinrichtung speziell für Fragen der europäischen Integration. Seit 1994 bietet das Kolleg Postgraduierten aus ganz Europa ein einsemestriges Ergänzungsstudium an, das mit einer schriftlichen Prüfung abgeschlossen und deren Bestehen durch ein Zertifikat bestätigt wurde. Seit 1998 bietet das Kolleg einen zweisemestrigen Master studiengang an. Zugelassen werden Postgraduierte aus ganz Europa und in Einzelfällen auch aus anderen Teilen der Welt, die ihr Studium mit einem überdurchschnittlichen Ergebnis abgeschlossen haben und die deutsche Sprache gut beherrschen. Im ersten Semester unterrichten Hochschullehrer und Fachleute aus den Institutionen der EU die Studierenden vor allem in Fragen des europäischen Rechts und der europäischen Wirtschaft sowie über die Geschichte und Politik der EU. Das Semester wird mit einer schriftlichen Prüfung abgeschlossen. Es folgt ein zweimonatiges Praktikum, durch das die Studierenden das Erlernte beispielsweise in Einrichtungen der Verwaltung, der Wirtschaft, der konsularischen und diplomatischen Vertretungen und bei den Institutionen der EU erleben sollen. Im zweiten Semester werden Einzelbereiche vertieft, z.B. der Außenhandel der EU oder die Agrarpolitik und ihre Probleme. Vor allem aber haben die Studierenden die Möglichkeit, eine Masterarbeit zu schreiben, durch die sie den akademischen Grad "Master of European Studies" erlangen können. Viele Absolventen des Europa-Kolleg haben inzwischen in ihren Heimatländern herausragende Positionen in der Wirtschaft, der Verwaltung, in politischen Organen und in den Medien.5 Wenn auch Politik als Beruf nicht erlernbar ist, so
Zu den Kollegiaten aus den frühen Jahren des Europa-Kolleg Hamburg gehört z.B. der gegenwärtige Bundesinnenminister Otto Schily. 5
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gibt es heute bereits in vielen europäischen Staaten vielfältige Möglichkeit, das Rüstzeug für eine politische Tätigkeit zu erlernen und zu erarbeiten. Dieses Rüstzeug braucht der Politiker, wenn er das erstrebte politische Amt und Mandat effektiv ausfüllen und sich die Freude an dieser Aufgabe bewahren will.
IV.
Wie ist Politik?
Das Zusammenleben vieler Menschen bedarf der Ordnung und der Regelung des Miteinander der Menschen. Je mehr Menschen zusammenleben, desto vielfaltiger sind die Regeln, die notwendig sind: Freiheit ohne Ordnung wird zur Willkür. Das wird besonders deutlich z.B. im Straßenverkehr; schon wenn nur zwei Fahrzeuge auf einer Straße fahren, bedarf es einer Regelung für diese beiden, um Unfälle und Chaos zu vermeiden. Die Regeln für das Zusammenleben der Menschen müssen aber nicht nur geschaffen werden, sie müssen auch durchgesetzt werden. Dazu ist zuweilen Zwang notwendig und dieser Zwang setzt Macht voraus. Diese politische Macht hat viele Quellen. In der Geschichte der Menschheit war es lange Zeit die körperliche Stärke, die zur Erlangung dieser Macht führte. Hieraus entwickelte sich die ererbte Legitimation als Grundlage der Macht. So entstanden die Monarchien. Zur Begründung des Machtanspruchs wurde oft die nicht nachprüfbare transzendente religiöse Quelle benutzt: "Von Gottes Gnaden" sei die Herrschaft legitimiert. Erst in den letzten beiden Jahrhunderten setzte sich allmählich die im antiken Griechenland gewachsene Idee der Demokratie durch. Zwar kann ein Volk als solches nicht herrschen, aber es kann die Herrschaft legitimieren. Das geschieht in unseren Zeiten durch Wahlen. Das Volk bestimmt Menschen aus seiner Mitte auf Zeit zu Trägern der Macht. Drei Fragen erwachsen aus dieser Feststellung: Einmal, wer schlägt dem Volk die Kandidaten vor? Zum anderen, wie veranlasst man das Volk, die richtigen Kandidaten zu wählen, Kandidaten also, die in der Lage sind, die ihnen übertragene Macht auch 'richtig' auszuüben? Und schließlich, wie begrenzt man diese Macht zeitlich und inhaltlich? In den meisten Demokratien sind es heute die politischen Parteien, also Gruppierungen von ähnlich gesinnten und denkenden Menschen, die in der Regel aus ihrer Mitte die Kandidaten vorschlagen, oft durch interne Wahlen. In manchen Demokratien können auch nicht parteigebundene Bürger durch Urwahlen an der Nominierung der Kandidaten teilnehmen. Ehe jemand also ein mit Macht ausgestattetes Mandat erhält, muss er mehrere Wahlen durchlaufen. Die Nominierung von Kandidaten nur durch die Parteien ist mit vermutlich größer werdenden Problemen behaftet. Die Mitgliederzahl der meisten Parteien ist rückläufig. Damit sinkt auch die Zahl der für eine Nominierung infrage kommenden Personen. Ebenso sinkt die Zahl derjenigen, die zwar in Frage kämen,
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aber aus vielerlei Gründen nicht bereit sind zu kandidieren. Gründe hierfür sind z.B. die beruflichen Probleme, die ein Ausscheiden auf Zeit mit sich bringen. Zuweilen bedeutet eine Kandidatur auch einen Einkommensverzicht. Viele scheuen die mit einem politischen Mandat verbundene Entprivatisierung des persönlichen und des familiären Lebens. Die Folge einer solchen Entwicklung kann ein Absinken des Niveaus und damit der Fähigkeit der Mandatsträger sein. Bedenkenswert sollte daher sein, das Nominierungsrecht verstärkt auch auf nicht parteigebundene Organisationen auszudehnen. Da die politischen Parteien Träger der politischen Meinungsbildung sind und bleiben müssen, nicht zuletzt aus Gründen der Stabilität der gewählten Organe, müsste ein Weg gefunden werden, der diese beiden Überlegungen in Einklang bringt. Wenn beispielsweise Berufsverbände, Gewerkschaften und andere gesellschaftlich relevante Organisationen das Recht zur Nominierung von Kandidaten bekämen, die Parteien aber Träger der politischen Meinungsbildung bleiben sollen, so müsste man die Parteien verpflichten, einen bestimmten Anteil der von ihnen zu benennenden Kandidaten aus diesen ihnen vorgelegten Vorschlägen zu übernehmen. In der Praxis ist es schon heute vielfach so, dass Berufsverbände, Gewerkschaften, ja sogar die Kirchen bei der Aufstellung von Kandidaten berücksichtigt werden. Allerdings sind es in der Regel Mitglieder der Parteien, die von diesen Organisationen befördert werden. Aber auch hier gibt es vielfach schon Ausnahmen. Im alten Griechenland ging man auch noch nicht so verschwenderisch mit dem politischen Potenzial der Gesellschaft um, wie wir es heute sehr oft tun. So nutzte man damals die Erfahrungen der "Alten" sehr viel stärker als heute. Viele Politiker, die ihre Lebenserfahrung durch langjährige politische Aktivität oft sehr bereichern konnten, werden, wenn das Alter denn da ist, zuweilen mit Dank, zuweilen auch ohne Dank in den Ruhestand endassen. Ihre Erfahrung wird nicht genutzt. Oft müssen ihre Nachfolger diese Erfahrung erneut und manchmal sehr schmerzhaft erwerben. So wie manche Parteien heute eine Quote für die Geschlechter als Regel bei der Nominierung befolgen, so sollte man auch über eine Quote der Generationen nachdenken und damit die politischen Erfahrungen der "Alten" wie einst in Griechenland besser nutzen. Auf die Nominierung folgt die Wahl durch die Bürger. In einer repräsentativen Demokratie ist das Volk, also die Gesamtheit der Staatsangehörigen, der Souverän. Es wählt seine Repräsentanten, also die Volksvertreter auf Zeit. Will man diesen Vorgang genauer betrachten, so muss man ihn von zwei Seiten sehen: Zum einen von der Seite der Wähler, also des Volkes, und zum anderen von Seiten der Kandidaten, also der zu Wählenden. In aller Regel konkurrieren die von den verschiedenen Parteien nominierten Kandidaten. Sie müssen also werben und versuchen, den Wählern ihr Können und ihre politischen Ziele derart nahe zu bringen, dass jedenfalls die Mehrheit
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ihnen ihre Stimme gibt. Werben bedeutet aber, dass man als Kandidat seine Fähigkeiten und seine Ziele so positiv wie möglich darstellt. Eigene Schwächen und zu erwartende politische Probleme dienen nur selten der Werbung im Wahlkampf, werden also verschwiegen. Dies muss nicht bedeuten, dass der Kandidat die Unwahrheit sagt, also die Wähler belügt. Sein Schweigen über negative Fakten soll es dem Wähler erleichtern, ihm seine Stimme zu geben. Schwieriger wird der Wahlkampf, wenn er den Bereich der aktuellen und den Wählern - den meisten jedenfalls - bekannten Probleme berührt. Dann will der Wähler wissen, was das Programm der Partei dazu sagt und wie der Kandidat selbst mit diesen Problemen umgehen will. Selten gibt es im Wahlkampf konkrete und die Wähler überzeugende Vorschläge zur Lösung bestehender Probleme. Oft sind derartige Vorschläge gar nicht möglich, da sie von politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen und Bedingungen abhängen, die zur Zeit des Wahlkampfes noch nicht erkennbar oder vorhersehbar sind. So ist beispielsweise die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit abhängig von der konjunkturellen Entwicklung und diese wiederum hängt ab von wirtschaftlichen und auch politischen Faktoren, die nicht immer von der Politik beeinflussbar sind. In diesen Fällen entfernt sich die Auseinandersetzung der Kandidaten immer mehr vom Wettstreit konkreter Lösungsvorschläge. Wünsche und Visionen treten an deren Stelle. Die Ziele der verschiedenen Programme sind zwar oft identisch, die Wege dorthin jedoch verlassen schnell den Boden der Realität. Der Kampf um die Stimmen der Bürger läuft dann oft Gefahr, zur Demagogie zu werden; das bedeutet, dass Kandidaten Vorurteile, Notsituationen und umstrittene oder sogar fehlende politische Lösungsmöglichkeiten ausnutzen und die Wähler mit Forderungen und Vorschlägen konfrontieren, die oft mit den Instrumenten des demokratischen Rechtsstaates nicht zu verwirklichen sind. Oft entsprechen diese demagogischen Forderungen aber den Wünschen und Träumen vieler Wähler. Ein historisches Beispiel hierfür sind die Wahlkämpfe in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Damals versprachen Hitler und seine NSBewegung den Menschen alles, was sie wollten und wovon viele träumten, ohne jedoch auch zu sagen, dass Krieg das Mittel war, um diese Ziele zu erreichen. Auch in unserer Zeit sind die Bürger nicht gefeit gegen demagogisch um Stimmen kämpfende Kandidaten. So gewannen der Amtsrichter Schill und seine neu gegründete Partei mit ihren nicht präzisierten Forderungen nach mehr Sicherheit und Ordnung sofort 20 % der Stimmen, also jeden fünften Wähler bei der Bürgerschaftswahl im Herbst 2001 in Hamburg. Fragt man nach den Gründen für dieses Wählerverhalten, so ist sicherlich die Unterschätzung des Sicherheitsbedürfnisses der Bürger durch die politisch Verantwortlichen eine der Ursachen. Aber hinzu kommt auch, dass die Menschen bei uns vielfach unzureichend auf die Konsequenzen der multikulturellen Welt vorbereitet sind. Den immer zahlreicher bei uns lebenden Afrikanern, Asiaten
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und auch den Angehörigen anderer Religionen begegnet man mit Vorbehalten und fühlt sich oft in seinem Vorurteil bestätigt, wenn in den Medien vom Missbrauch des Asylrechts, von Drogenkriminalität und von Terrorakten islamistischer Terroristen berichtet wird. Die Neigung mancher Wähler, extremen Kandidaten ihre Stimme zu geben, ist nicht nur ein deutsches Problem. So gewannen beispielsweise Le Pen in Frankreich, Haider in Österreich, Fortuyn in den Niederlanden und zwar sogar noch nach seiner Ermordung und Berlusconi in Italien bei Wahlen zum Teil beachtliche Stimmenanteile. Um diese Gedanken zusammenzufassen, kann man sagen, dass die um Stimmen in einem Wahlkampf konkurrierenden Kandidaten ein breites Feld von Möglichkeiten haben. In aller Regel werben sie mit dem Programm ihrer Partei, das Lösungsmöglichkeiten für bestehende Probleme enthält. Sie werben mit ihren eigenen Fähigkeiten und Erfahrungen in der Politik. Der nächste Schritt fur einen Kandidaten im Wahlkampf ist es dann, Wünsche und Visionen zu entwickeln und somit langfristige Ziele aufzuzeigen, die zuweilen weit entfernt von den tatsächlichen Realisierungsmöglichkeiten sind. Wenn solche Forderungen dann verbunden werden mit einer Diffamierung der politischen Konkurrenten, wird der Kandidat zum Demagogen. Selten ist in einem Wahlkampf die Realität der politischen und wirtschaftlichen Lage die Grundlage für die Auseinandersetzung der Kandidaten. Man scheut, die Wähler mit der Wirklichkeit zu konfrontieren. Haben wir uns bisher mit den Kandidaten, den Bewerbern um das Amt eines Vertreters des Souveräns in der demokratischen Ordnung der menschlichen Gesellschaft befasst, so gilt es nun, den Blick zu den Wählern, also dem Volk, zu wenden. Wie verhält sich der Wähler, wenn er durch Wahl seinen Anteil an der Staatsgewalt auf Zeit auf einen Politiker übertragen soll? Steht eine Wahl bevor, so werden die Wähler auf vielfache Weise mit Informationen, vor allem aber mit Werbung konfrontiert. Dies geschieht auf vier Ebenen: einmal in aller Öffentlichkeit durch Plakate und durch Lautsprecherwagen, sodann durch die Informationsstände der Parteien und ihrer Kandidaten, dann durch Reden der Kandidaten in öffentlichen Veranstaltungen, zu denen eingeladen wird oder die für jedermann auf Straßen oder Plätzen stattfinden, und schließlich durch die Medien. Die Wähler werden mit einer Flut von Informationen und Werbesprüchen überschüttet und dabei sehr oft völlig überfordert. Werfen wir einen Blick auf diese vier Wege der Wahlwerbung. Plakate erinnern in aller Regel zunächst einmal die Bürger daran, dass eine Wahl bevorsteht. Mit Plakaten machen die Parteien die Wähler mit den Frauen und Männern bekannt, die zur Wahl kandidieren oder sie erinnern die Wähler an ihre bekannten Spitzenpolitiker. Plakate wenden sich aber auch an die Wähler, die sich nicht intensiv mit politischen Fragen beschäftigen und über die aktuellen Probleme nur oberflächlich nachdenken. Dann kann man lesen: "Keine Experimente", "Christen
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wählt christlich", "Mehr Demokratie wagen". So soll der nur oberflächlich engagierte Bürger gewonnen werden, eine bestimmte Partei zu wählen. Ahnlich werben Kandidaten und Parteien mit Lautsprecherwagen; auch auf diesem Wege werden in der Regel nur politische Allgemeinplätze verkündet, in der Erwartung, dass der Wähler die ihm ohnehin vertraute Partei wählt oder aber sich entschließt, diesmal die Partei, deren Parolen er gerade gehört oder gelesen hat und die ihm gefallen, zu wählen. Will der Bürger mehr wissen über die Kandidaten und die politischen Ziele der Parteien, so muss er sich das notwendige Material besorgen, also selbst initiativ werden. Dafür haben die Parteien ihre Informationsstände, auf denen vielfältiges gedrucktes Material bereit liegt und dem Interessierten gern gegeben wird. Er kann dann in Ruhe lesen, welche politischen Ziele die Parteien in der bevorstehenden Wahlperiode haben und welche Wege sie gehen wollen, wenn, ja wenn sie das Mandat dafür erhalten. Wahl- und Parteiprogramme und anderes gedrucktes Material zu den verschiedenen Politikfeldern sind in aller Regel hilfreich zur Vorbereitung der individuellen Wahlentscheidung, denn sie zwingen die Kandidaten und ihre Parteien zu genauen Aussagen. Können oder wollen sie nicht klar und genau formulieren, dann ist auch dies für den Wähler eine Information. Ein weiterer Schritt zur Information ist der Besuch von Wahlveranstaltungen, auf denen die Kandidaten in öffentlichen Reden das Programm ihrer Parteien erläutern und sich, wenn sie unbekannt sind, vorstellen. Diese Veranstaltungen bieten zuweilen die Möglichkeit, die Kandidaten zu fragen, um genauere Informationen zu bekommen. Schließlich können auch die Medien in all ihren Formen bei der Vorbereitung der Wahlentscheidung hilfreich sein. Dabei denke ich weniger an die Wahlspots der Parteien und die öffentlich übertragenen oder gedruckten Reden insbesondere der Spitzenpolitiker auf Parteitagen oder Wahlveranstaltungen. Ich denke an die oft kritischen und nicht selten parteiischen Auseinandersetzungen der Journalisten mit den Programmen und Forderungen der Parteien und ihrer Kandidaten. Doch setzt diese Ebene der Vorbereitung des Wählers auf seine Wahlentscheidung voraus, dass er politisches Wissen hat und damit eine für die Bewertung und Beurteilung von Wahlaussagen notwendige Grundlage besitzt. Die Masse der Wähler steht sehr oft der Fülle der Informationen und Werbungen weitgehend hilflos gegenüber. Da ist zunächst einmal das Ertragen der Wahrheit. Sie ist oft eine schwere Last. Menschen lassen sich oft und nicht ungern "betrügen", sie wollen die Wahrheit nicht wissen. Das gilt keineswegs nur für das öffentliche, das politische Leben, sondern auch für den ganz persönlichen Bereich. Wer erträgt schon die Wahrheit, wenn er schwer erkrankt ist und erfahren muss, dass das Lebensende be-
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vorsteht? Ebenso ist es mit der Wahrheit im politischen Leben. Wer hört gern Nachrichten, mit denen Niederlagen im Krieg gemeldet werden oder schwierige politische und wirtschaftliche Fakten bekannt gemacht werden, für die die amtierenden Politiker manchmal gar nicht verantwortlich sind? Weil die Menschen oft spüren, dass ihnen nicht die ganze Wahrheit mitgeteilt wird, werden sie misstrauisch, denn sie ahnen den Ernst der Lage, den ihnen niemand sagen will. In einer Forsa-Umfrage wurde ermittelt, dass nur 15 % der Bürger die Politiker für glaubwürdig halten; für 62 % sind sie weniger glaubwürdig und 21 % halten sie für gar nicht glaubwürdig. Dabei ist die Wahrheit auch dann, wenn sie ernst und schwierig ist, oft leichter den Menschen zu vermitteln als die Unwahrheit oder die geschönte Wahrheit oder auch das Schweigen über die Wahrheit. Die meisten Menschen sind durchaus in der Lage, die Wahrheit zu ertragen, denn jeder hat eigene Lebenserfahrungen, die ihn gelehrt haben, dass es nicht nur frohe Stunden im Leben gibt. Wichtig ist nur, die Fakten so nüchtern wie möglich zu vermitteln, sie nicht unnötig zu dramatisieren und den Bürgern zugleich die denkbaren Mittel und Wege darzustellen, die aus den Problemen wieder herausführen. Dies gilt auch dann, wenn diese Mittel und Wege schwierig sind und Opfer erfordern. Die Erfahrung im politischen Leben lehrt im übrigen, dass, solange es freie Medien gibt, die Wahrheit am Ende doch bekannt wird. Für den Politiker ist es dann sehr viel schwieriger, sein Ansehen zu behaupten und die Stimmen der Bürger zu gewinnen. Daher sollte in der Politik der Grundsatz gelten, dass alles, was man sagt wahr sein muss. Jedoch muss man nicht immer alles sagen, was wahr ist! Trotz vielseitiger Werbung und eines umfangreichen Informationsangebotes sind viele Wähler am Ende des Wahlkampfes unsicher und viele sind auch ganz einfach überfordert. Sie wissen nicht, welche Partei, welche Person sie wählen sollen. Viele gehen dann einfach nicht zur Wahl. Sie entschuldigen ihr Verhalten manchmal mit der Feststellung, dass die Politiker ja doch tun, was sie wollen, und verzichten damit auf die Möglichkeit, Politik zu beeinflussen. Bei uns in Deutschland geht in der Regel jeder vierte Bürger nicht zur Wahl. In anderen Ländern ist die Wahlbeteiligung oft noch viel geringer. Je weniger Bürger wählen, desto größer ist das Gewicht der Stimmen derer, die zur Wahl gehen. Für die, die zur Wahl gehen, die Wähler also, stellt sich zuerst die Frage, welcher Partei sie ihre Stimme geben wollen. Handelt es sich um sogenannte Listenwahlen, dann stehen nur Parteien zur Wahl. Auf dem Stimmzettel finden sich in der Regel nur die Namen derjenigen Frauen und Männer, die auf der Kandidatenliste der Partei an erster Stelle stehen. So ist es bei den Wahlen zur Hamburger Bürgerschaft und auch zum Europaparlament. Man weiß als Wähler oft gar nicht, welche Person man wählt, wenn man einer Partei seine Stimme gibt.
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Viele Wähler wählen oft "ihre" Partei, egal, wer kandidiert, egal, ob der Kandidat gute Arbeit geleistet hat oder verspricht, dies zu tun. Allerdings kann man feststellen, dass die Zahl dieser "Stammwähler" allmählich zurückgeht. Immer mehr Bürger sind bereit, bei der Wahl auch einmal die Partei zu wechseln, insbesondere dann, wenn sie mit der Regierungsarbeit ihrer bisher gewählten Partei nicht zufrieden sind. Dadurch kann das demokratische Prinzip an Lebendigkeit gewinnen, denn Demokratie braucht auch den Wechsel in der Machtträgerschaft. Wenn nicht nur eine Partei zur Wahl steht, sondern auch Frauen oder Männer als Kandidaten für den jeweiligen Wahlkreis, dann ist die zu treffende Entscheidung für den Wähler nicht nur abstrakt, wie bei der Wahl einer Partei und ihres Programmes, sondern ganz konkret und mit einem Menschen verbunden, dessen Fähigkeit und dessen Persönlichkeit der Wähler bewerten kann. Neben der Parteizugehörigkeit des Kandidaten und dem von ihm oder ihr verkündeten Wegen und Zielen für die Arbeit als Mandatsträger spielen nun auch persönliche Eindrücke und Sympathiewerte eine Rolle bei der Wahlentscheidung. Schließlich sind sowohl bei Listenwahlen wie auch bei Persönlichkeitswahlen die Spitzenkandidaten der Parteien für den Wähler sehr oft das entscheidende Kriterium für die Stimmabgabe. Hier spielen sehr häufig Versprechungen dieser Kandidaten eine größere Rolle als das Programm der jeweiligen Partei und auch das Ansehen und die Sympathiewerte des Wahlkreiskandidaten. Man wählt dann die Partei dieser Spitzenkandidaten, weil sie beispielsweise die Senkung von Steuern und Soziallasten oder mehr Sicherheit oder Ahnliches versprechen. Selten denken die Wähler die so handeln, an die Kehrseite solcher Versprechungen, dass z.B. weniger Steuern auch weniger staatliche Leistungen oder höhere Staatsschulden mit höheren Ausgaben für den Schuldendienst zur Folge haben. Manchmal berühren Forderungen und Ziele der Spitzenkandidaten aber auch innere Werte und historische Erfahrungen der Wähler, wie z.B. die Erklärung von Bundeskanzler Schröder im Wahlkampf 2002, dass unser Land sich nicht an einem Krieg gegen den Irak beteiligen würde. Hierdurch wurden die Erfahrungen unseres Volkes aus dem letzten Jahrhundert angesprochen, dass nämlich kriegerische Gewalt das schlechteste und primitivste Mittel der Politik ist. Für diese Erfahrung hat unser Volk einen hohen Preis zahlen müssen, nämlich nicht nur etwa sechs Millionen Tote, sondern auch den Verlust von einem Drittel seiners Siedlungsgebietes in Europa. Das Nein zu einem Krieg, der nicht der Verteidigung, sondern auch wirtschaftlichen Zielen dient, wurde so zu einem Ja für den Kanzler, der dies öffentlich erklärte. Mit der Wahl durch die Bürger erhalten die gewählten Kandidaten ihr politisches Mandat. Sie werden Politiker mit allen Licht- und aber auch allen Schattenseiten, die mit dieser Aufgabe, diesem Status verbunden sind.
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Wie handelt ein Politiker?
Mit der Wahl haben die Wähler, also das Volk, ihre Souveränität auf die Gewählten und zwar auf Zeit übertragen. Mit diesem Mandat können die Gewählten als Politiker fortan das staatliche Handeln legitimieren. Sie sind die Träger der Macht für die Dauer der Legislaturperiode und nicht das Volk. Macht ist notwendig zur Gestaltung der Gesellschaft, ohne sie würde Freiheit zur Willkür und Ordnung zum Chaos.6 Vor der Wahrnehmung der Staatsmacht durch die Gewählten muss diese aber organisiert werden. Das gewählte Parlament muss, in der Regel aus seiner Mitte, die Exekutive, also das Organ wählen, das seinen legislativen Willen verwirklicht. Nur in den Staaten, in denen neben dem Parlament auch ein Präsident gewählt wird, entscheiden die Bürger selbst über die Exekutive. Hat im Parlament eine politische Richtung, eine Partei, die absolute Mehrheit, was insbesondere bei geringerer Wahlbeteiligung keineswegs die Vertretung auch der Mehrheit der Wähler bedeutet, so kann sie allein über die politische Ausrichtung der Regierung entscheiden. In aller Regel aber hat keine Partei die absolute Mehrheit. Mehrere Parteien sind auf Zusammenarbeit angewiesen, müssen also eine Koalition bilden. Oft reichen die Mandate kleinerer Parteien den großen zur Mehrheitsbildung. Eine solche Koalition gibt aber dem kleineren Partner oft die Möglichkeit, politische Positionen und Ziele durchzusetzen, die nur von relativ wenigen Bürgern getragen werden. Das kann zu einer Verfälschung des Willens der Mehrheit, des Souveräns fuhren. So hat beispielsweise in der Bundesrepublik seit 1949 die liberale Partei, die FDP, als notwendiger Koalitionspartner lange Jahre bestimmt, wer in Deutschland Kanzler sein durfte; sie hat damit eine politische Macht besessen, die weit über den Anteil ihrer Wähler am Gesamtvolk, dem Souverän also, hinausging. Mit der Bildung der Regierung durch das von den Bürgern gewählte Parlament haben die Abgeordneten einen Teil der ihnen durch die Wahl übertragenen Souveränität an dieses Organ weitergegeben, also ihre ^Gewalt' geteilt. Fortan haben wir es mit zwei Formen des Politikers zu tun, wie darzulegen sein wird. Politik bedeutet Ausübung von Macht. Der Politiker muss den Willen haben, seine Macht zu gebrauchen, um seine Vorstellungen und Ideen von der Gestaltung der menschlichen Gesellschaft zu verwirklichen. Er muss für seine Ziele Mehrheiten gewinnen, um sie legalisieren zu können. Dazu bedarf er der Fähigkeit zu überzeugen. Je besser seine Argumente sind, desto leichter wird ihm dies gelingen. Auch darf er keine Angst vor Kritik und Widerstand gegen seine Ideen haben. Aber er muss offen sein für andere Meinungen, denn die bessere Idee hat 6
Hierzu auch Nölling aaO., S. 144 f.
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Vorrang vor der guten. Es ist oft nicht leicht, zu seiner Meinung und zu seiner getroffenen Entscheidung zu stehen, wenn diese auf Kritik stößt oder gar zu erzwungenen Veränderungen führt, die vielen davon Betroffenen nicht gefallen. Nicht wenige Politiker suchen dann den Weg des geringsten Widerstandes und passen sich an. Sie haben dann zwar ihre Ruhe, aber ihr Opportunismus kann manchmal zur Feigheit werden. Dies alles gilt für den Abgeordneten, der im Plenum, in seiner Fraktion und in den Ausschüssen wirkt, es gilt aber in verstärktem Maße für das Mitglied der Regierung, den Minister, den Senator. Während im Parlament der Abgeordnete einer unter mehreren ist, also nur die Entscheidung der Gruppe beeinflussen kann, muss das Regierungsmitglied sehr oft ganz allein entscheiden. Das Regierungsmitglied vertritt sein Ressort gegenüber den übrigen Mitgliedern der Regierung, gegenüber seiner Fraktion und Partei und gegenüber den Bürgern. Neben der Verantwortung, die er für sein Ressort trägt, muss er auch gegenüber den Bürgern, also der Öffentlichkeit, demonstrieren, dass seine Partei zu Recht durch die Wahlentscheidung den Auftrag zur Regierungsbildung erhalten hat. Politische Verantwortung wird zuweilen mit Schuld gleichgesetzt, dabei umfasst sie oft weit mehr als der betroffene Politiker durch Handeln oder Nichthandeln hätte beeinflussen können. Es ist wohl eine menschliche Eigenschaft, die Schuld für Ereignisse, für negative Entwicklungen und im Grunde für alles, was den Menschen nicht gefällt, stets anderen zuzuschieben. So sind es stets die "Politiker', die die Verantwortung, die Schuld beispielsweise für die hohe Arbeitslosigkeit, die kriselnde Konjunktur oder fallende Aktienkurse, ja für alles Schlechte tragen. Für die NS-Herrscher waren die Juden an allem schuld, sie trugen die Verantwortung für die Inflation nach dem Weltkrieg. Dass sie als Banker oft selbst dadurch große Verluste erlitten hatten und dass die deutsche Führung den Ersten Weltkrieg mit Krediten also mit den Ersparnissen ihrer Bürger und der Druckerpresse finanziert und damit das Geld entwertet hatte, das sahen die meisten Bürger nicht. Ebenso wurde den Sozialdemokraten, "Novemberverbrecher' nannte man sie, die Schuld für die Niederlage 1918 in die Schuhe geschoben, obwohl sie erst auf Druck der Obersten Heeresleitung anderthalb Monate vor dem Ende des Krieges in die Regierung des Reiches aufgenommen worden waren. So wollten Ludendorff und Hindenburg ihnen die Verantwortung für die Niederlage zuschieben und ihre eigene Verantwortung für diese für das Reich so katastrophale Entwicklung vernebeln. Sie waren es doch, die den Kaiser gezwungen hatten, den Reichskanzler Bethmann-Hollweg zu endassen, als dieser es wagte, einen Frieden der Vernunft ohne Sieger und Besiegte anzustreben, zu einer Zeit, als dies noch möglich gewesen wäre. 1945 hat vermutlich nur die totale Niederlage des Reiches und der NS-Herrscher verhindert, dass dafür wieder andere, etwa die Widerstandskämpfer, als schuldig hingestellt wurden.
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Der Politiker muss also vor allem als Mitglied der Exekutive ertragen, dass er öffentlich beschimpft und für Dinge verantwortlich gemacht wird, die er gar nicht beeinflussen konnte. Aber er sollte den Mut haben, sich zu wehren und mit Argumenten die zu widerlegen, die ihn zu Unrecht beschuldigen. Neben dem Auftreten im Parlament sind die Medien für den Politiker das Instrument, das er braucht, um seine Ideen und Gedanken und seine politischen Ziele darzustellen, aber auch, um sich gegen ungerechtfertigte Angriffe und Beschuldigungen zu wehren. Gute Kontakte zu Journalisten sind für den Politiker unverzichtbar. Aber er darf nicht übersehen, dass hinter einem Journalisten die politische Richtung seines Mediums steht, die nicht immer identisch ist mit seiner politischen Orientierung, und dass die Medien gerne Kritik üben, aber nur ungern Kritik ertragen, wenn sie einmal Fehler gemacht haben. Mit der Wahl wird auch das persönliche Umfeld des Politikers entprivatisiert. Er ist nun bekannt, vor allem, wenn er Mitglied einer Regierung geworden ist. Die Wähler wollen wissen, wo und wie er lebt, welche Familie er hat, was seine Frau und seine Kinder tun, welche Steckenpferde ihm helfen, Ruhe in seiner Freizeit zu finden und dergleichen mehr. Der Politiker hat Glück, wenn es ihm gelingt, wenigstens etwas von seiner privaten Sphäre zu bewahren. Aus eigener Erfahrung kann ich berichten, dass sich die Medien bereits für mein persönliches Umfeld interessierten, als ich in die Bürgerschaft gewählt worden war, denn ein Oberkirchenrat als sozialdemokratischer Mandatsträger, das gab es nicht oft. Sehr viel größer wurde dieses öffentliche Interesse, als ich dann in den Senat der Freien und Hansestadt Hamburg gewählt wurde. Nun sollte die Öffentlichkeit beinahe alles über mein Privadeben erfahren. Dank der Fairness der Journalisten blieb es jedoch erträglich. Erst als ich 1973 das Justizressort übernahm, wurde diese Entprivatisierung zur Last. Nicht nur, weil sogar ein Kirchgang zu Ostern kein privates Ereignis mehr war. Wir mussten von zwei Sicherheitskräften begleitet werden, einer kam mit in die Kirche, er meinte, er sei schließlich einmal konfirmiert worden, und der andere blieb draußen, um uns zu schützen. Selten nur gelang es meiner Frau und mir, einmal unbewacht einen abendlichen Bummel zu machen. Schlimm wurde es, als unsere Kinder Anrufe entgegennehmen mussten, in denen NS-Sympathisanten mit "blutiger Rache" drohten, wenn ich weiterhin dafür sorgte, dass die Strafjprozesse gegen diese Verbrecher zügiger abliefen. Mehr Begleitschutz und eine neue Telefonnummer, die geheim blieb, war alles, was man damals tun konnte. Der Politiker hat aber auch vielfältige Möglichkeiten, in der Öffentlichkeit mit seinen Ideen und seinem Tun Beachtung zu finden. Es macht Freude, wenn man mit Erfolg politisch handeln und zur Verbesserung der gesellschaftlichen Ordnung beitragen kann. Kein Politiker sollte leugnen, dass er auch Ehrgeiz hat, der in der Politik Befriedigung findet. Im Lichte der Öffentlichkeit zu stehen, von den Medien beachtet zu werden und konkrete Ergebnisse des eigenen politi-
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sehen Handelns zu erleben, das befriedigt zuweilen sehr und ist der Gegenwert für die vielen negativen Begleiterscheinungen des täglichen Wirkens als Politiker. Unvergessen ist für mich eine Begebenheit auf der Fahrt mit der Fähre von Kiel nach Oslo in den Urlaub. Wir lagen in der Sonne an Deck, befreit von Schlips und Jacket, den Insignien der äußeren Würde als Senator, als plötzlich ein Herr stehen blieb und uns redselig begrüßte mit der Bemerkung: "Ich kenne Sie aus der Bildzeitung". Der Politiker wird zuweilen auch auf andere Weise geehrt; je herausragender seine Position ist, desto gewichtiger können solche Ehrungen sein. Da gibt es Orden, für den Mandatsträger beinahe schon für den Ablauf von Jahren seiner Parlamentzugehörigkeit. Hamburger Abgeordnete und Senatoren hingegen nehmen aus alter Tradition, in der Regel jedenfalls, keine Orden an. Es gibt andere Ehrungen, auch in Hamburg und nicht nur für Politiker. Medaillen, Ehrendoktorwürden, die Aufnahme in Lexika bis hin zu Biografien sind Beispiele hierfür. Aber der Politiker muss auch die Gefahren sehen, die sich aus einem überzogenen Geltungsdrang und Ehrgeiz ergeben können. Das richtige Mittelmaß für das eigene Geltungsbedürfnis zu finden, ist sicherlich eine Fähigkeit, die einen guten Politiker auszeichnet, und ihm hilft, seine Aufgaben gut zu erfüllen. Wilhelm Nölling hat Recht, wenn er schreibt: "Um den politischen Stress durchzuhalten, Enttäuschungen leichter wegzustecken, kann ein gewisses Maß an befriedigter Eitelkeit sehr wohl als Balsam wirken."7 VI.
Politik und das Geld
Kaum ein Thema bewegt die Gemüter in der Öffentlichkeit so sehr und so oft, wie das der Gehälter und Entschädigungen der Politiker auf allen Ebenen. Die Gehälter der Minister und Senatoren und der politischen Beamten und die Diäten der Abgeordneten sind beim Bund, in den Ländern und Gemeinden gut. Das gilt in aller Regel auch für ihre Altersversorgung, wenn man diese Bezüge mit denen der Masse der Lohn- und Gehaltsempfänger im Öffentlichen Dienst und in der Wirtschaft vergleicht. Dennoch muss man festhalten, dass der Weg in die Politik der falsche ist, wenn man wirklich viel Geld verdienen will. In Spitzenpositionen der Wirtschaft und in manchen freiberuflichen Tätigkeiten wird weit mehr Geld verdient, als auch Spitzenpolitiker sich nur erträumen können. Dabei wird das persönliche Umfeld, das Privatleben dieser Personen, nur sehr selten derart entprivatisiert, wie es bei Politikern eigentlich die Regel ist. Auch in den Randfeldern der Politik wird zuweilen überraschend viel verdient. So erhielten die Direktoren der Treuhandanstalt, deren Aufgabe es nach der Wiedervereini-
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gung Deutschlands war, die Wirtschaft der ehemaligen DDR zu privatisieren und in die Marktwirtschaft des EG-Binnenmarktes zu integrieren, zwischen 350.000 und 400.000 DM, die Vorstandsmitglieder zwischen 700.000,- und 1 Million, die Vorsitzende, Frau Breuel, brachte es sogar auf über 1,2 Millionen im Jahr. Bezahlt wurden diese Gehälter tatsächlich aus Steuern, da die Treuhandanstalt am Ende keine Uberschüsse, sondern Schulden hinterließ, die der Bund zu tragen hatte.8 Mit dem Hinweis, Politiker würden aus Steuermitteln bezahlt und müssten deswegen Zurückhaltung üben bei ihren Forderungen, wird oft Kritik an den Einkommen in der Politik geübt. Dabei wird gerne übersehen, dass alle Bezüge und Gehälter auch in der Wirtschaft letztlich von den Bürgern, sei es als Steuerzahler, sei es als Konsumenten oder Kunden bezahlt werden müssen. So erhält beispielsweise der Vorsitzende des Vorstandes der Telekom AG sein Geld von den Menschen, die telefonieren, faxen, surfen oder auf andere Weise das Angebot dieser Firma nutzen. Sie könnten es billiger haben, wenn die Gehälter und Abfindungen sparsamer bemessen würden! Es gab Zeiten, da war das Amt des Abgeordneten und in Hamburg auch das Amt des Senators ein Ehrenamt und wurde neben dem Beruf wahrgenommen. Heute erhalten auch in Hamburg die Senatoren ein Gehalt und die Abgeordneten eine monatliche Entschädigung. Als ich 1966 in die Bürgerschaft gewählt wurde, betrug die Entschädigung DM 300,— monatlich und das Sitzungsgeld DM 25,—. Es war allerdings steuerfrei. Heute ist es wesentlich höher und muss versteuert werden. Aber Hamburg liegt bis heute an letzter Stelle unter den deutschen Parlamenten, was die Höhe der Bezahlung der Abgeordneten betrifft. Dies ist jedoch nur möglich, weil die Bürgerschaft ein sogenanntes Feierabendparlament ist und neben dem Mandat eine berufliche Tätigkeit erlaubt. Senatoren und Staatsräte hingegen dürfen keine andere berufliche Tätigkeit ausüben, was in der Praxis auch gar nicht möglich ist. Sie erhalten ein angemessenes Gehalt, um sie unabhängig zu machen. Politik ist kein Beruf, um reich zu werden. Während in der Wirtschaft der Eigennutz eine legitime Rechtfertigung für das berufliche Handeln ist, muss beim Politiker der Gemeinnutz im Vordergrund stehen. Dennoch hat er ein Anrecht auf eine angemessene Bezahlung, denn er soll wirtschaftlich unabhängig sein, also soviel Einkommen haben, dass die Gefahr der Käuflichkeit seiner Entscheidungen minimiert wird. Dass dennoch immer wieder einzelne Politiker bestechlich sind, liegt daran, dass auch Politiker mit allen menschlichen Schwächen behaftet sind und, wie andere im Leben auch, Versuchungen erliegen können. Politiker sollen sich einen angemessenen Lebensstandard leisten dürfen, der ihrem
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Hierzu ausfuhrlich Michael Jürgs, Die Treuhändler, List Verlag München, Leipzig 1997, S. 204 ff.
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Rang und ihrem öffentlichen Lebensbild entspricht. Schließlich erfordert die Verantwortung, die mit dem Amt einem Politiker auferlegt wird, eine entsprechende Endohnung.9 Dies alles gilt sowohl für Mitglieder der Exekutive als auch der Legislative, insbesondere dann, wenn die Abgeordneten keine Berufstätigkeit neben ihrem Mandat ausüben können. Auch die Versorgung nach dem Ende des politischen Mandats muss angemessen sein. Politiker werden sehr oft aus der Mitte einer Berufskarriere herausgelöst, wenn ihnen ein Mandat übertragen wird. Dieses Mandat wird ihnen stets auf Zeit übertragen. Nicht immer liegt es in der Hand des Politikers, dieses Mandat über mehrere Legislaturperioden zu verlängern. Dann ist es schwierig, manchmal sogar unmöglich, wieder an die bisherige Berufslaufbahn anzuknüpfen. Oft ist dies auch aus Altersgründen nicht mehr möglich. Darum ist auch eine Versorgung vor dem Erreichen der allgemeinen Pensionsgrenze gerechtfertigt, wobei die Dauer der Zugehörigkeit zum Parlament oder zur Exekutive ebenso zu berücksichtigen ist wie etwa die eigenen, vor Übernahme des Mandats bereits erworbenen Versorgungsansprüche. Eine demokratische Gesellschaft stellt hohe Ansprüche an die, denen sie auf Zeit die Staatsmacht überträgt. Sie muss daher daran interessiert sein, gute, ja die fähigsten Frauen und Männer für diese Aufgaben zu gewinnen. Dazu gehören nicht nur Persönlichkeiten, die nach dem Ende ihres Mandats ein gesetzlich gesichertes Recht zur Rückkehr in ihr bisheriges berufliches Umfeld haben, sondern vor allem auch Frauen und Männer, die freiberuflich tätig sind oder in der Wirtschaft arbeiten, ohne die Sicherheit der Rückkehr nach dem Ende des Mandats. Solche Persönlichkeiten braucht die Politik auf Zeit. Daher muss auch die finanzielle Seite so geregelt sein, dass ein Mandat für sie attraktiv ist. Der Appell an die Vaterlandsliebe, an die patriotische Gesinnung allein reicht da nicht. Peter Glotz stellt hierzu in der Wochenzeitung DIE ZEIT zu Recht fest,10 dass eine verbesserte Möglichkeit, aus den vielfältigen Berufs feldern auf Zeit in die Politik zu wechseln und dann wieder in das frühere Berufsleben zurückzukehren, nicht nur der Politik, sondern auch der Wirtschaft nützen würde. Während meiner Zeit als Finanzsenator gehörte die Aufsicht über die öffentlichen Unternehmen der Hansestadt zu meinen Aufgaben. Ich war Vorsitzender der Aufsichtsräte verschiedener Aktiengesellschaften, die mehrheitlich Hamburg gehörten. Lebhaft erinnere ich mich an eine Diskussion, die ich ausgelöst hatte mit der Frage an ein Vorstandsmitglied einer dieser Gesellschaften, ob er nicht 9
In diesem Sinne auch Nölling, aaO., S. 150 f.
1 0 Peter Glotz, Dein Abgeordneter, der arme Schlucker, in: DIE ZEIT Nr. 30, 18.07.2002, S. 7.
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für die Bürgerschaft kandidieren wolle mit der Aussicht, dann in den Senat gewählt zu werden?11 Die Antwort war ein verlegenes Lächeln verbunden mit der Bemerkung, er wolle nicht seinen Lebensstandard senken und dazu noch in der Presse lesen, mit welcher Freundin er gerade verreist sei. Dazu muss man wissen, dass die Gehälter der Vorstandsmitglieder dieser öffentlichen Unternehmen zum Teil wesentlich über dem Gehalt des die Aufsicht fuhrenden Senatsmitgliedes lagen.
VII.
Kontrolle und Grenzen der politischen Macht
Der demokratische Rechtsstaat braucht Macht, um das Zusammenleben seiner Bürger zu regeln und diese Regelungen, die Gesetze also, auch durchzusetzen. Diese Macht in der Hand der Politiker wird durch ihre Wahl durch die Bürger legitimiert. Aber Macht ohne Kontrolle kann zur Willkür ausarten. Darum braucht gerade der demokratische Staat eine der Macht gleichrangige Kontrolle. Es war Montesquieu, der französische Rechtsphilosoph, der mit dem Prinzip der Gewaltenteilung ein solches Kontrollsystem der Macht entwickelt hat. Damals im 18. Jahrhundert wollte er die absolute Macht des Monarchen begrenzen. Heute geht es um die Kontrolle und Begrenzung der Macht der Regierungen. Das Prinzip lautet: Die politische Macht wird geteilt; die Abgeordneten, das Parlament, beschliessen die Gesetze, die Regierung exekutiert sie; gibt es Streit darüber, ob ein Gesetz dem Willen des Parlamentes entsprechend angewandt worden ist, so entscheidet darüber die Dritte Gewalt, die Rechtsprechung. Es kann also kein Träger der staatlichen Macht gleichzeitig Gesetze schaffen, sie anwenden und auch kontrollieren, ob sie richtig, also dem Willen des Gesetzgebers entsprechend, angewandt worden sind. Alle drei Gewalten gemeinsam unterliegen der Verfassung, dem Grundgesetz, das regelt, wie die Macht vom Volke durch Wahlen legitimiert wird und dann auf die Machtträger aufgeteilt und von ihnen gemeinsam ausgeübt wird. Auch hierüber entscheidet bei Meinungsverschiedenheiten wiederum die Dritte Gewalt in Form des Verfassungsgerichts. Soweit also die Kontrolle der Macht. Wie notwendig eine solche Kontrolle der Ausübung von staatlicher Macht ist, um zu verhindern, dass sie zur Willkür entartet, das erfahren die Staaten und ihre Bürger oft in Kriegen, wenn Soldaten und Zivilisten in fremde Staaten eindringen und ohne Bindung an Recht und Gesetz handeln. Mord Zerstörung, Vergewaltigung und Raub sind die Spuren solcher rechdosen Gewaltausübung. Auch wenn ohne Krieg und Eroberung fremden Staatsgebietes staatliche Gewalt kei-
Damals wurden die Mitglieder des Senats von der Bürgerschaft gewählt und nicht, wie heute, vom Bürgermeister ernannt. 11
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ner Kontrolle mehr unterliegt, die Gewalten also nicht geteilt, sondern in einer Hand liegen, wenn die Staatsgewalt zur Diktatur verkommt, begleiten Mord, Raub, Diebstahl und viele andere Gesetzesverletzungen das Handeln dieser rechdosen Staaten. Die nicht kontrollierte Staatsgewalt eines Hitler oder Stalin oder Mussolini oder Franco und vieler anderer in der Zeit nach den beiden Weltkriegen zeigt, wie ein Staat verfallen, ja entarten kann, wenn seine Herrscher nicht mehr der Macht des Gesetzes unterliegen. Auch die Beherrschten, die Bürger also, die als Richter, Polizisten, Beamte, KZ-Wärter und wo sonst die rechtlosen Befehle ausführten oder die Gesetzlosigkeit ausnutzten, um ihre Gewaltbereitschaft, manchmal auch ihre primitiven Neigungen auszutoben, erweisen immer wieder, wie notwendig Staatsgewalt ist, um die Bürger notfalls in die Rechtsordnung zu zwingen. Neben der gegenseitigen Kontrolle und Hemmung der Gewalten sorgt die Freiheit der Meinungsbildung, also auch die Medien, dafür, dass sich die Staatsgewalt an die Gesetze hält. Die Presse hat also im System des Rechtsstaates eine wichtige Kontrollfunktion, darum wird sie nicht ohne Grund als die vierte Gewalt bezeichnet. Da sie keine durch das Volk legitimierte Staatsgewalt ausübt, unterliegt sie, anders als die drei Gewalten Legislative, Exekutive und Rechtsprechung, auch keiner demokratischen Kontrolle, abgesehen von der richterlichen Kontrolle der Gesetzmäßigkeit ihres Handelns. Das gibt ihr eine besondere Verantwortung für ihr Tun und ihr Unterlassen. Nicht ohne Grund scheuen Diktatoren die demokratische Kontrolle durch die Legislative und die kritische Begleitung, also auch Kontrolle durch die Medien. Die Entmachtung des Gesetzgebers, des Parlamentes und damit des Volkes als Souverän und die Beschränkung der Medien sind demzufolge stets die ersten Schritte von Machthabern auf ihrem Wege zur unkontrollierten Alleinherrschaft, zur Diktatur. Mag der Chef der Exekutive eines Staates auch vom Volk direkt oder von den Volksvertretern, dem Parlament, gewählt worden sein, so sollte es stets ein Warnsignal für die betroffenen Völker und die von ihnen gewählten Abgeordneten sein, wenn die Freiheit der Presse eingeschränkt und Kritik unterdrückt wird oder wenn die richterliche Gewalt in ihrer Kontrollmöglichkeit beschränkt oder manipuliert wird. Ein Volk, das die Freiheit von fremder Herrschaft oder auch von monarchischer Gewalt gewonnen hat und sich in einem Staat selbst beherrschen kann, braucht sehr oft Zeit, um Demokratie zu erlernen. Darum haben es am Anfang dieser gewonnenen Freiheit Diktatoren oft leicht, dem Volk diese Macht wieder zu entreißen. So war es in Deutschland nach dem Ende der Monarchie. Die Möglichkeit, die Staatsgewalt durch das vom Volke gewählte Parlament uneingeschränkt auszuüben, wurde nicht genutzt. Im Gegenteil, für viele Bürger war dieses Parlament, der Reichstag also, verächtlich zur "Quasselbude' entwürdigt. Erst die furchtbaren Folgen der Diktatur Hitlers und seiner braunen Bande ha-
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ben die Deutschen gelehrt, wie wertvoll die Freiheit zur demokratischen Herrschaft ist. Ein ähnliches Schicksal haben sehr viele europäische Völker nach dem Ende des Ersten Weltkrieges erleiden müssen. Fast überall dort, wo die monarchische Herrschaft endete, hatten es Diktatoren oder autoritäre Herrscher relativ leicht, die Staatsgewalt an sich zu reißen. Viele Jahrzehnte dauerte es oft, ehe diese Völker den Weg zur freien Selbstherrschaft, zur Demokratie also, fanden. Ein ähnliches Schicksal haben viele Völker Afrikas, Asiens und Mittel- und Südamerikas nach dem Ende der europäischen oder nordamerikanischen Kolonialherrschaft erlitten oder müssen dies gegenwärtig noch erleiden, ehe auch sie demokratische Herrschaft erringen konnten oder können. Die politische Macht muss neben der wirksamen Kontrolle auch begrenzt werden, d.h. die Übertragung von Macht durch den Souverän muss zeitlich befristet sein. Dies geschieht in aller Regel durch die Begrenzung der Wahlperiode auf eine genau festgelegte Zeit. Da das Mandat der Mitglieder der Exekutive in der Regel an das der Legislative gebunden ist, wird dadurch auch die Macht der Exekutive zeitlich begrenzt. Eine Ausnahme bildete früher die besondere Regelung nach der Hamburger Verfassung. Danach wählte die Bürgerschaft die Mitglieder des Senats ohne Befristung auf die Dauer der Legislaturperiode, also auf Lebenszeit. Nur der Tod, der freiwillige Rücktritt oder die Wahl eines Nachfolgers beendeten das Mandat. Heute wird nur der Bürgermeister für die Dauer der Wahlperiode gewählt. Er ernennt die Senatoren ebenfalls nur für diese Zeit. Offen bleibt die Frage, wie oft eine Frau oder ein Mann für ein Mandat wählbar sein soll. Ein politisches Mandat ist ein Amt auf Zeit. Das gilt für ein Mandat in einem Parlament, einer Regierung ebenso wie in einer Partei. Ein politisches Mandat ist kein Beruf, den man beendet, wenn man das Pensionsalter erreicht hat. Gerade in der Politik gibt es Ermüdungserscheinungen. Am Anfang wird der Mandatsträger als "Neuer' gesehen und begrüßt. Man erwartet von ihm neue Gedanken, neue Wege, manchmal auch die Einleitung notwendiger oder sogar überfälliger Reformen. Manchmal auch erwartet man nur, dass er sich von seinem Vorgänger unterscheidet. Aber der Glanz des Neuen verblasst oft recht schnell, dann muss man Erfolge und Leistungen vorweisen, um sein Amt, sein Mandat zu behaupten. Irgendwann kommt dann für jeden Politiker der Zeitpunkt, wo seine politische Fantasie, seine Kreativität erschöpft ist. Dann ist er nur noch Verwalter seines politischen Amtes und erledigt die täglichen Aufgaben mit mehr oder weniger großem Engagement routinemäßig. Auch der tüchtigste Politiker verschleißt und wird seines Amtes müde. Spätestens, wenn er dies spürt, sollte er selbst die Konsequenzen ziehen und nicht erneut kandidieren, sondern sogar vor dem Ende seines Mandats dieses aufgeben, um einem Nachfolger den Platz freizumachen und ihm die Chance geben, sich auf die nächste Wahl vorzubereiten. Kein Politiker sollte es soweit kommen lassen, dass man seiner überdrüssig wird und ihn bei passender Gelegenheit abwählt. Glücklich
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der Politiker, dem es gelingt, diesen Zeitpunkt selbst zu wählen und zu erreichen, dass seine politischen Freunde und die Bürger von dieser Entscheidung überrascht werden und sie sogar bedauern.12 Nicht immer werden Mandatsträger die Kraft haben, diese Entscheidung selbst zu treffen und zwar zum richtigen Zeitpunkt. Darum sollte der Verfassungsgeber das politische Mandat zeitlich begrenzen. In Deutschland ist nur das Amt des Bundespräsidenten auf zwei Wahlperioden, also auf zehn Jahre begrenzt. Eine ähnliche Regelung kennen die USA und andere Staaten für ihr Staatsoberhaupt. Sinnvoll wäre es, die Legislaturperiode der Parlamente von Bund und Ländern in Deutschland auf fünf Jahre festzulegen, um den Mandatsträgern nach der notwendigen Einarbeitung die erforderliche Zeit zu geben, um Entscheidungen vorzubereiten und durchzusetzen und um Erfahrungen zu sammeln, bevor die Vorbereitung der nächsten Wahl beginnt, die politische Arbeit zu beeinflussen. Drei Wahlperioden sollten das zeitliche Maß sein, denn spätestens nach fünfzehn Jahren läßt auch bei dem fähigsten Politiker die Kraft nach, und sein Mandat wird zur alltäglichen Routine. Er verliert den Blick für das Notwendige, für Änderungen und Reformen und beginnt, sich an das Bestehende zu gewöhnen. Dies gilt in noch stärkerem Maße für den, der ein Amt in einer Regierung hat. Zwei Legislaturperioden, also zehn Jahre sollten die zeitliche Grenze für ein solches Mandat sein, denn vielmehr noch als von einem Abgeordneten wird von einem Regierungsmitglied politische Kraft, Ausdauer und Fantasie gefordert. Politik ist eben keine Aufgabe auf Dauer, denn auch die herausragendste Persönlichkeit kann die mit einem Amt verbundene Last nur auf Zeit ertragen. Wohl dem Politiker, der einen Beruf hat, in den er jederzeit zurückkehren kann, auch, um stets in seinen politischen Entscheidungen unabhängig zu bleiben. Oft wird dies nicht möglich sein, vor allem dann nicht, wenn der Mandatsträger beim Ausscheiden aus seinem Amt oder Mandat schon ein Lebensalter erreicht hat, in dem die Rückkehr in den Beruf nicht mehr möglich oder auch nicht zumutbar ist. Dann sollte seine wirtschaftliche Existenz durch eine entsprechende Versorgung gesichert sein, auch wenn er das allgemeine Ruhestandsalter noch nicht erreicht hat. Dies schuldet das Volk als Souverän denen, die es zu Volksvertretern wählt, und denen, die auf Zeit die Macht erhalten haben, die erforderlich ist, um dem Volk ein Leben in Sicherheit und Ordnung zu ermöglichen. Dies bedenken diejenigen sehr oft nicht, die Kritik an der finanziellen Ausstattung und Versorgung der politischen Mandatsträger und Amtsinhaber üben. Zuweilen ist man versucht, zu fragen, warum die Kritiker denn nicht selbst den Weg in die Politik gewählt haben, wenn er so große finanzielle Vorteile bietet und offenbar attraktiver ist als etwa die Tätigkeit eines Hochschullehrers oder eines anderen
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Näher hierzu Seeler, aaO., S. 132 ff.
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Berufes, der sich allerdings, anders als die Tätigkeit des Politikers, im Schatten der öffentlichen Aufmerksamkeit und Beachtung vollzieht.
VIII. Die vielen Seiten der Politik oder ein persönliches Wort zum Schluss Aus eigenem Entschluss bin ich 1978 aus dem Senat nach beinahe zwölfjähriger Zugehörigkeit ausgeschieden. Mich reizte damals, wie bereits oben erwähnt, die mit einem Mandat im erstmalig direkt von den Völkern der Europäischen Gemeinschaft gewählten Europaparlament verbundene neue Pionieraufgabe. Und es war eine hochinteressante Zeit, in der ich nicht nur vieles von Europa und seinen Menschen erfahren konnte, sondern auch die Chance hatte, vor allem Asien und seine Menschen kennenzulernen. Ich war im Institutionellen Ausschuss Stellvertreter des Ausschussvorsitzenden Altiero Spinelli geworden und begann zusammen mit ihm mit der Arbeit am "Entwurf eines Vertrages zur Gründung der Europäischen Politischen Union". Dies sollte ein Verfassungsentwurf für die Europäische Gemeinschaft werden. Als Berichterstatter für den Teil 5, die Finanzverfassung des zu erarbeitenden Entwurfs, hatte ich eine Aufgabe übernommen, die sehr interessant und politisch reizvoll war. So konnte ich mithelfen, den Vertragsentwurf auszuarbeiten, den das Parlament 1984 verabschiedete und der dann den Anstoß zu zahlreichen Reformverträgen gab. Als Berichterstatter und später als Vorsitzender der Osteuropadelegation des Parlamentes konnte ich dazu beitragen, dass die geteilten Hälften unseres Kontinents begannen, aufeinander zuzugehen. Nach zehn Jahren hatte ich das Empfinden, dass die Arbeit im Europaparlament allmählich zur Routine wurde, darum bewarb ich mich 1989 nicht erneut um ein Mandat. Nun aber begann die Zeit der Ehrenämter und damit einer politischen Tätigkeit auf einer anderen Ebene. Das Ende eines Mandates oder Amtes muss nicht das Ende jeglicher politischer Aktivität sein. Politik ist nicht nur die Ausübung demokratisch legitimierter Macht und die Mitgestaltung staatlicher Aufgaben; Politik geschieht auch in vielen nichtstaatlichen und dennoch öffentlichen Bereichen. Gemeint sind die zahllosen Vereine, Stiftungen, öffentlichen Körperschaften und andere Einrichtungen, ohne die die Bürger eines Staates kein geordnetes gesellschaftliches Leben haben würden. Es sind überwiegend Ehrenämter also ohne oder allenfalls mit einer die Unkosten deckenden finanziellen Ausstattung. Diese Ehrenämter sind auf die Aktivität der Bürger angewiesen, eine Aktivität, die in aller Regel neben einer Berufstätigkeit wahrgenommen werden muss. Dies ist der Raum für den Politiker, dessen Mandat oder Amt beendet ist.
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Zwei Aufgaben möchte ich beschreiben, weil sie die Vielfalt der Politik in besonderer Weise darstellen. 1987 wurde ich Präsident des Europa-Kollegs in Hamburg und 1997 Kirchenältester im Kirchenvorstand der Hamburger Hauptkirche St. Katharinen und damit Mitglied des Oberaltenkollegiums. Das von mir bereits angesprochene Europa-Kolleg Hamburg trägt durch Vortragsangebote im Rahmen des Europaforums, durch wissenschaftliche Tagungen, Symposien und gemeinsame Veranstaltungen mit anderen Institutionen zur Information der interessierten Öffentlichkeit und zur Vertiefung der mit der europäischen Einigung verbundenen Fragen und Probleme bei. Die Verantwortung hierfür gehört zu den ehrenamtlichen politischen Aufgaben, die nicht unmittelbar von den von den Bürgern gewählten 'Volksvertretern' legitimiert werden, dennoch aber zur Gestaltung und Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens notwendig sind. Einen ganz anderen politischen Bereich eröffnet das Oberaltenkollegium. Es ist eine Einrichtung, deren Entwicklung bis in die Zeit der Reformation in Hamburg zurückreicht.13 Damals musste die neu entstandene evangelische Kirche die diakonischen Aufgaben der katholischen Kirche übernehmen. Zu diesen Aufgaben gehörte die Fürsorge für alte und kranke Menschen, die von dem im 13. Jahrhundert in Hamburg gegründeten Marien-Magdalenen Kloster und dem Hospital zum Heiligen Geist wahrgenommen wurde. Diese kirchlichen Einrichtungen brauchten eine neue Führung, da das katholische Domkapitel mit der Reformation seine dominierende Rolle in Hamburg verloren hatte. An seine Stelle traten Bürgerschaft und Rat als oberste kirchliche Instanzen. Für die diakonische Arbeit waren die Hauptkirchen zuständig. Sie wählten aus der Mitte ihrer Gemeindemitglieder je zwölf sogenannte Gotteskastenverwalter, die für die gemeindlichen Finanzen zuständig waren, später nannte man sie die Diakone. Gemeinsam bildeten sie das Kollegium der 48er, nach der Gründung der Hautkirche St. Michaelis 1685 der 60er. Außerdem wurden in jeder Hauptkirchengemeinde 24 Sub-Diakone gewählt, die zusammen mit den Diakonen als das Kollegium der 180er in die Hamburger Verfassungsgeschichte einging. Außerdem bestimmten die fünf Hauptkirchen aus dem Kreis der Diakone je drei Alteste. Sie bildeten das Kollegium der Oberalten. Ihnen wurde durch Bürgerschaft und Rat 1528 die Vollmacht erteilt: "Alles, was zur Eintracht und Wohlfahrt dieser guten Stadt gereichen möge, mit und bei dem Ehrbaren Rathe zu fordern und mit beständiger Manier zu verhandeln."14 Im Langen Rezess von 1529 (Art. 128
1 3 Ausfuhrlich hierüber Seeler, Die Oberalten, in: Recht und Juristen in Hamburg, Band II, Carl Heymanns Verlag, Köln, Berlin, Bonn, München 1999, S. 3 ff.
14
. .
Zitiert bei Georg Buek, Die Hamburgischen Oberalten, ihre bürgerliche Wirksamkeit und ihre Familien, Hamburg 1857, S. 2.
Glanz und Schatten politischer Arbeit in unserer Zeit
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- 132) und erneut im Rezess von 1603 (Art. 72 - 76) wurde diese Vollmacht als Hamburger Verfassungsrecht festgelegt und erneuert. Im Laufe der Zeit wurde das Kollegium der Oberalten zu einem immer einflussreicheren Organ Hamburgs. Einer der Gründe hierfür war, dass die Erbgesessene Bürgerschaft eine Versammlung von mehr als tausend nichtgewählter, sondern vor allem durch Grundbesitz priviügierter Bürger war. Sie konnte nur sehr schwerfällig handeln und entscheiden. Das Kollegium hingegen konnte kurzfristig zusammentreten und entscheiden. Hinzu kam, dass die Kollegien von den Gemeinden gewählt worden waren, also auch für damalige Zeiten eine gewisse Legitimation besaßen. So gewann das Kollegium der Oberalten mehr und mehr Einfluss auf politische Bereiche, die mit ihrer ursprünglichen diakonischen Aufgabe nichts mehr zu tun hatten. Die Oberalten waren in den zahlreichen Deputationen vertreten und wirkten dadurch in der Verwaltung der Stadt mit. Außerdem gehörte die Überwachung der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zu ihren Aufgaben. Sie wirkten bei allen Verhandlungen zwischen dem Rat und der Bürgerschaft mit. Sie dominierten das politische Leben in Hamburg, nicht zuletzt auch, weil die Präsides des Kollegiums die Sitzungen der Erbgesessenen Bürgerschaft leiteten. Erst mit der französischen Revolution begann ein Reformprozess der politischen Ordnung in Hamburg. Die Oberalten fühlten sich zunächst als die gewählten Vertreter des Volkes und erzwangen die diplomatische Anerkennung der französischen Republik durch Hamburg. Das hinderte Napoleon jedoch nicht daran, Hamburg zu besetzen und dem französischen Kaiserreich einzuverleiben. Auch die Oberalten verschwanden in dieser Franzosenzeit aus dem öffentlichen Leben Hamburgs. Nach der Befreiung und der Gründung des Deutschen Bundes wurde zwar die alte Verfassung wieder in Kraft gesetzt und auch ein Oberaltenkollegium neu bestimmt, aber es setzte nun auch in Hamburg eine Diskussion über eine Verfassungsreform ein, die 1860 zu einer neuen Verfassung und damit zur Trennung von Staat und Kirche führte. So endete die Herrschaft der Oberalten als einem von den Hauptkirchengemeinden gewählten Verfassungsorgan. Ebenso endete die Erbgesessene Bürgerschaft, sie löste sich auf und wurde durch eine von den Hamburgern zu wählende Bürgerschaft ersetzt. Für die durch die Gemeinden gewählten Kollegien und auch für das Oberaltenkollegium war kein Bedarf mehr. Sie behielten ihre Funktion im kirchlichen Bereich. Mit der Kirchenverfassung von 1870 wurden die Kollegien der 60er und der 180er aufgelöst. Das Oberaltenkollegium blieb als Kollegium der Gemeindeältesten bestehen. Ihm wurde die Aufsicht über das Marien-Magdalenen Kloster, das Hospital zum Heiligen Geist und das 1867/69 als Altenwohnheim gegründete Oberaltenstift übertragen. Im Zweiten Weltkrieg wurden alle diese Gebäude in der Stadt zerstört und nach dem Krieg auf einem in Poppenbüttel erworbenen Grundstück gemeinsam als Alten- und Pflegeheim wieder aufgebaut. Bis heute besteht das
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jetzt wieder Oberaltenkollegium genannte Kollegium aus je drei Gemeindeältesten der fünf Hamburger Hauptkirchen und nimmt ehrenamtlich diese sozialpolitische Aufgabe war. Politik in unserer Zeit ist also nicht nur die Tätigkeit der Staats- und Verfassungsorgane. Politik geschieht in vielen gesellschaftlichen Bereichen. Politik ist eine Forderung, zuweilen auch eine Herausforderung an mündige Staatsbürger, sich für die Gemeinschaft der Bürger zu engagieren und auf diese Weise die gesellschaftliche Ordnung mitzugestalten.
Der Ökonom als Politiker - Europa, Geld und die soziale Frage (hrsg. v. W. Hankel, Κ. A. Schachtschneider und J. Starbatty) © Lucius & Lucius, Stuttgart, 2003
Die Zukunft des deutschen Föderalismus* Henning Voscherau I. Der Staat ist nicht Selbstzweck. Sein innerer Grund besteht darin, dem Volk zu dienen — in der etwas pathetischen Sprache des Grundgesetzes: seinen Nutzen zu mehren, Schaden von ihm zu wenden. 1 Also ist auch die Staatsform nicht Selbstzweck. Sie hat instrumentelle Funktion für das Wohl des Volkes. 2 Demokratische Politik muss den Staat kontinuierlich bei seinen Bürgern legitimieren — unabhängig von der Staatsform. Friedrich Ebert hat zu den Zielen der jungen Weimarer Republik, eines demokratischen Bundesstaates, ausgeführt: "Den Frieden zu erringen, der der deutschen Nation das Selbstbestimmungsrecht sichert, die Verfassung auszubauen und zu behüten, die allen deutschen Männern und Frauen die politische Gleichberechtigung unbedingt verbürgt, dem deutschen Volk Arbeit und Brot zu schaffen, sein ganzes Wirtschaftsleben so zu gestalten, daß die Freiheit nicht Betderfreiheit, sondern Kulturfreiheit werde, das ist unseres Strebens Ziel." 3
Der Beitrag beruht auf dem überarbeiteten und ergänzten Manuskript eines Vortrage des Verf. am 14.2.2003 vor der Freitagsgesellschaft, die seit 1986 im Hause Helmut und Loki Schmidts Themen der Zeit diskutiert. Zur Freitagsgesellschaft: Helmut Schmidt (Hg.) Erkundungen, Stuttgart 1993. 1
Vgl. die Eidesformel in Art. 56 GG sowie Art. 64 Abs. 2 GG.
Dabei sollten die komparativen Vorteile, die unser Föderalismus bietet, global eingesetzt werden. In einer Zeit der Rückkehr regionaler Kriege als Mittel der Politik des Stärkeren sowie der Aufweichung der Ächtung des Angriffskriegs seit dem Briand-Kellogg-Pakt v. 27.8.1928 kommt dem Dialog zwischen Kulturen und Religionen als präventivem Beitrag zur Wahrung des Friedens und zur geduldigen Ausbreitung des europäischen aufgeklärten Verständnisses individueller Menschenrechte wachsende Bedeutung zu. Die deutsche Präsenz in diesen Dialogen wird durch den Föderalismus de facto sehr erleichtert. Vgl. dazu Voscherau, Kulturelle Vielfalt. Von der deutschen auswärtigen Politik zur europäischen Kulturpolitik in: Wozu deutsche auswärtige Kulturpolitik?, Dokumentation der dritten Jahrestagung der Deutschen Nationalstiftung in Weimar 1996, Stuttgart 1996. 2
Antrittsrede vor der Nationalversammlung am 11. Februar 1919, in: Heilfron (Hg.), Die Deutsche Nationalversammlung im Jahre 1919, 1. Band, Hauptteil: Die Verhandlungen der Nationalversammlung, 5. Sitzung, Berlin, S. 94. 3
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Nicht Bettlerfreiheit, sondern Kulturfreiheit. Staat machen kann man nur auf dem Fundament sozialen Friedens. Wohin es kommen kann, wenn ein Staat in den Augen zu vieler seiner Bürger die Kulturfreiheit nicht gewährleistet, wenn immer mehr Bürger fürchten abzusteigen, furchten, dass sie und ihre Familie am eigenen Leibe spüren könnten, was Betderfreiheit heiße, hat die Weimarer Republik erlebt. Legitimationsdruck entspringt der Wirklichkeit - ob Zentralstaat oder Bundesstaat. Deshalb ist kein Wunder, dass die Funktionsfähigkeit des deutschen Staatswesens — und das heißt, der Föderalismus — ins Gerede gekommen ist. Nur ein Dutzend Jahre nach Zusammenbruch der DDR und der triumphalen Wiedergründung ihrer aufgelösten Länder wird der Föderalismus verantwortlich gemacht für Blockade, Reformschwäche, Lähmung der deutschen Politik.4 „The German disease"5, Deutschland als "der kranke Mann Europas"6 in der Dauerkrise7, "Euroland's dragging anchor"8. Unübersehbar lahmen Wettbewerbsfähigkeit,9 Beschäftigung,10 und Steuerkraft11 in Deutschland. Europa sieht das, und Schadenfreude macht sich breit — meist noch hinter vorgehaltener Hand. Uber viereinhalb Millionen Arbeitslose — ähnlich wie vor fünf Jahren gegen Ende der Amtszeit Bundeskanzler Kohls. Stabilitätsziele einmal verfehlt, vor dem zweiten Mal geradezu offensiv aufgeweicht,12 wenn nicht insgeheim aufgegeben. Seit Jahren wird irgendwie hilflos an Symptomen laboriert. Inzwischen gelten wir europaweit als Wachstums-Schlusslicht. Allerdings darf nicht übersehen werden,
Bemerkenswert offen: Kommission Verfassungsreform des Bundesrates, RdNr. 98, in: Bundesrat Dokumentation, "Stärkung des Föderalismus in Deutschland und Europa sowie weitere Vorschläge zur Änderung des Grundgesetzes", Bonn 1992 sowie BR-Drucksache 360/92. 4
5 Ein aufrüttelnder Newsweek-Titel der 90er Jahre, zitiert nach Herzog, Aufbruch ins 21. Jahrhundert, in: Bissinger (Hrsg.), Stimmen: gegen den Stillstand, Hamburg 1997, S. 15; jetzt erneut die European Economic Advisory Group (EEAG), zitiert nach Handelsblatt vom 12.2.2003, 30/7. 6
Handelsblatt, 3/3 v. 6.1.2003: Deutschland verliert den Anschluss.
ι So die EAAG, aaO. β Goldman Sachs, Global Economics Paper, No. 85, 29.10.2002. Vgl. die Einschätzung "Germany's underpermormance...can be traced back to...July 1990" von Dirk Schumacher & David Walton in Goldman Sachs, Global Economics Paper, No. 85, 29.10.2002. 9
4,623 Mio Arbeitslose im Januar 2003, s. Financial Times Deutschland, 25/1 v. 5.2.2003 oder "Der große Rückfall", Der Spiegel, 11/2003 S. 23. 10
11
Siehe z.B. Peffekoven, in: Handelsblatt, 24/8 v. 4.2.2003.
Vgl. z.B. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 38/13 v. 14.02.2003, aber auch Handelsblatt 40/2 v. 26.2.2003: "CDU gibt Stabilitätspakt auf'. 12
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dass Deutschland - und sonst niemand - eine Last trägt, für die es kein Beispiel gibt: Arbeitsplätze für eine Million von Ost nach West gewanderter Menschen, zusätzlich für etwa eine halbe Million Ost-West-Pendler, laufender Finanztransfer West-Ost von jährlich 70 bis 75 Mrd. Euro, 4 % des Sozialprodukts West, drei Viertel Punkt Wachstum pro Jahr - und das seit dem 1. Juli 1990.13 Eine große nationale Leistung, vor der sich Kleinmut und Lamento verbieten. An der langjährigen Unfähigkeit/Unwilligkeit zu struktureller Modernisierung ändert dies nichts. Ein Zitat: "Was sehe ich dagegen in Deutschland? Hier herrscht ganz überwiegend Mudosigkeit. Krisenszenarien werden gepflegt. Ein Gefühl der Lähmung liegt über unserer Gesellschaft. ... Was ist los mit unserem Land? Im Klartext: Der Verlust wirtschaftlicher Dynamik, die Erstarrung der Gesellschaft, eine unglaubliche mentale Depression — das sind die Stichworte der Krise. Sie bilden einen allgegenwärtigen Dreiklang, aber einen Dreiklang in Moll." Harte Feststellungen. Sie gelten nicht der Bundesregierung Schröder, sondern stammen aus dem Jahre 199714 und läuteten im Jahr vor der Wahl 1998 das Ende Bundeskanzler Kohls nach 16 Jahren Regierungszeit ein. Anscheinend haben wir es mit einer Problematik zu tun, die Wahlperioden und Koalitionen übergreift, mit der Notwendigkeit von Strukturreformen, die von den Gewählten, aber auch von den Bürgern und von verfestigten Strukturen ausgeht. Offenkundig folgen den "fetten Jahren" der westlichen Republik jetzt eher die biblischen "sieben mageren Jahre". Wir müssen uns endlich darauf einrichten, nicht zuletzt muss unser Staatswesen das tun. "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben" — nicht nur im Osten. Ich möchte also die Aufmerksamkeit auf eine weithin unterschätzte bedeutsame Ursache unserer deutschen "Lähmung"15 lenken: einen deutschen Sonderweg, den Geschichte und Grundgesetz begründen, eine Aufgabe, die gelöst werden muss — quer zu allen strukturpolitischen Herausforderungen in Sachfragen, sollen sich nicht Regierungen aller Farben immer wieder im Unterholz verheddern. Die These lautet: Unser hochkomplexes, grundgesetzlich betoniertes, föderativ zerklüftetes politisches System von Checks and Balances, Misch- statt Trennsystem in Gesetzgebung, Kompetenzverflechtung, Gemeinschaftsaufgaben, Finanzverteilung enthält deutschen Regierungen Instrumente vor, die sie und ihre 13 Vgl. v. Dohnanyi, Warum ist unsere Politik so schwach?, in: HWWA, Wirtschaftsdienst 4/2002, S. 187.
Aus der sog. Berliner Rede Bundespräsident Roman Herzogs, in der er bereits damals einen "Ruck durch Deutschland" verlangte, aaO., S. 13 f.
14
15 Ähnlich Richard v. Weizsäcker: „Gegenwärtig sind wir in einem Knäul von Bollwerken, Bremsen und Blockaden verstrickt, einem ebenso eifrigen wie routinierten Immobilismus." (Vortrag: Politik als Beruf, zitiert nach Profile 1/03, S. 5, Newsletter der Ev. Akademie zu Berlin)
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Parlamentsmehrheit für den gordischen Knoten brauchten, 16 Instrumente, die anderen europäischen Regierungen zur Verfugung stehen. Beispielsweise haben die Niederlande, Dänemark und Schweden, zum Teil trotz eines deutlich stärker zersplitterten Parteiensystems, geschafft, ihren Anpassungsprozess zügig zu beschließen und durchzusetzen. Klaus von Dohnanyi sieht die komplizierte Konsensmaschinerie als Ursache der deutschen Reformunfähigkeit an 17 — eine Verflechtungskrise 18 von Verfassungs wegen. 19 Macht- und Effizienzbremse gegenüber den Deutschen sollte der Bundesstaat des Grundgesetzes nach dem Willen der Alliierten von Anfang an ausdrücklich werden: Nie wieder eine starke zentralstaatliche Exekutive in Deutschland. Aber die Verankerung des deutschen Föderalismus reicht viel länger zurück als 1948/49. Die Tradition liefert den Uberbau für viele schöne Scheinargumente, wenn es in Wahrheit um Partikularinteressen geht. 20
II. Meinem Thema geht es nicht um die jahrhundertealte Tradition des Föderalismus in Deutschland, 21 sondern um seine Funktionalität und Zukunft. Trotzdem einige kurze Striche als Hinweis auf das Beharrungsvermögen der bundesstaatlichen Ordnung in Deutschland. Hätte sich im Mittelalter auch bei uns die Kö-
16 Vgl. dazu Zohlnhöfer, Institutionelle Hemmnisse für eine kohärente Wirtschaftspolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 18-19/2003, S. 9 ff. 17
Zu allem v. Dohnanyi, aaO., S. 189.
18 Siehe dazu Scharpf/Reissert/Schnabel, Politikverflechtung: Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik, Kronberg 1976. 19 Für klarere Trennung der Verfassungsebenen plädiert jetzt der sog. Föderalismuskonvent aller deutscher Landesparlamente in Gegenwart des Bundespräsidenten am 31.3.2003 in Lübeck. In der Entschließung findet sich die unumwundene Aussage, die Gestaltungsfähigkeit des deutschen Bundesstaats habe in den vergangenen fünfzig Jahren zunehmend an Dynamik verloren. Die fortschreitende Zentralisierung und Verflechtung politischer Entscheidungen sowie Entwicklungen hin zu einem Exekutivföderalismus gefährde Vielfalt und Bürgernähe, demokratische Legitimation, Transparenz und Effektivität politischen Handelns. Zitiert nach Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1.4.2003, vgl. auch Süddeutsche Zeitung vom 1.4.2003, Lübecker Nachrichten vom 1.4.2003. 20 Vgl. z.B. zeitgleich mit dem sog. Föderalismuskonvent der Landtage die gegenläufigen Vorbehalte des Schweriner Ministerpräsidenten Harald Ringstorff, der zwar auch mehr Selbständigkeit der Länder will, jedoch nicht um den Preis geringerer regionalspezifischer Hilfen für die finanzschwachen Länder mit der Folge eines Wettbewerbsföderalismus. S. dazu "Arm gegen Reich", Der Tagesspiegel, vom 31.3.2003. 21
Siehe Voscherau, in: Helmut Schmidt (Hrsg.), Erkundungen, Stuttgart 1993, S. 189 ff.
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nigsmacht gegen Fürsten und Klerus durchgesetzt wie in Frankreich - ich bin sicher, auch Deutschland wäre heute ein Einheitsstaat. Wir würden diese Tradition glorifizieren wie die Franzosen — und umgekehrt. Doch ist es so nicht gekommen, im Gegenteil. Staatliche Zerklüftung prägt Deutschland seit dem Mittelalter: Der Reichsfürstenstand umfasste 1180 neunzig geistliche und sechzehn weltliche Fürsten; 1512 der Versuch einer wenigstens administrativen Straffung in zehn Reichskreise durch Maximilian I.; nach dem Westfälischen Frieden 1648 fast 1300 landeshoheitliche Herrschaften; das alte Reich als Dach nicht mehr wirksam; 1806 am Ende des Heiligen Römischen Reichs noch 294 Reichsstände. Gründung des Deutschen Bundes 1815 (einer Konföderation souveräner Völkerrechtssubjekte) durch 39 deutsche Staaten; 1864 waren davon noch 34 übrig22; 26 gründeten 1871 das kleindeutsche Kaiserreich23; 1919 waren es noch 18, zehn Jahre danach 17 24 Seit 1990 sind es 16. Das einzige Kontinuum ist also der ständige Wandel der Territorien nach Zahl und Größe. Die Tradition des Föderalismus ist historisch tief verankert; die heutigen deutschen Länder weisen hingegen mit wenigen Ausnahmen keineswegs eine gleichermaßen historische Identität auf.25 Die meisten sind Kunstprodukte, gebildet anhand der Zweckmäßigkeiten der alliierten Besatzungsmächte nach Kriegsende. Im Januar 2003 stieß Wolfgang Schäuble eine Diskussion über die Zahl 8 an, weil der Wettbewerb zwischen den Ländern nicht mehr funktioniere.26 Ist die Parallelität nicht faszinierend? 1512 — letztlich erfolgloser Versuch einer administrativen Straffung auf 10 Reichskreise. 2003 - folgenloser Vorstoß einer Straffung auf 8 Länder. Historische Zufälligkeiten bewirken Weichenstellungen. Mögen sie auch schwer zu ändern sein, heilig sind sie nicht. Über einen Leisten schlagen kann man die Epochen dieser Zerklüftung und die realpolitische Machtverteilung nicht. Das Pendel schlägt von souveränen deut-
Vgl. fur 1 8 1 5 und 1864 Meyers Lexikon, 7. Aufl. Leipzig 1925, 3. Bd., S. 547. Statistisches Handbuch für das Deutsche Reich, hrsg. vom Kaiserlichen Statistischen Amt, Berlin 1907 und 1914. 23
24
Einzelschrift zur Statistik des Deutschen Reichs, Nr. 6, Berlin 1929, S. 8.
25 Wer außer Bayern, Bremen, Hamburg, Sachsen? Zu dem Selbstverständnis Bayerns vgl. die Ausführungen von F.J. Strauß aus Anlass des 40. Jahrestags der sog. Rittersturz-Konferenz: "Der Bund ist eine Schöpfung der Länder! Als Ministerpräsident eines der ältesten Staaten Europas, der zudem an Fläche und teilweise auch an Bevölkerungszahl die souveränen Staaten Belgien, Dänemark, Schweiz und Niederlande weit übertrifft, lege ich selbstverständlich Wert darauf, diese geschichtliche Abfolge in dieser Stunde noch einmal deutlich hervorzuheben." In: Bundestag, Dokumentation, Stationen auf dem Weg zum Grundgesetz, S. 26, Bonn 1988. 26
Z.B. Hannoversche Allgemeine Zeitung, 16/2 v. 20.1.2003.
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sehen Völkerrechtssubjekten nach dem Wiener Kongress bis zur Gleichschaltung und der Auflösung der Länder 1937. Die Paulskirchen-Verfassung 1849 statuierte einen Bundesstaat, dessen Macht zu einem großen Teil beim Reich hätte liegen sollen: Auswärtiges, Krieg und Frieden, Wehrverfassung, Handel, Verkehr, Zölle, Währung, innerer Reichs frieden.27 Das Kaiserreich als ewiger Fürstenbund war nach seiner Verfassung eine föderative Monarchie. Trotz der polyzentrischen innerstaatlichen Balance, trotz einer länderfreundlichen Reichsverfassung war in der Verfassungswirklichkeit ein starker Zug der Zentralisierung bis 1914 wirksam. Zentralistischer ist die Weimarer Reichsverfassung, deren Tendenz Gerhard Anschütz, Kommentator der Verfassung, so ausdrückte: "Die ganze föderalistische Bewegung ist nicht erfreulich, sondern bedauerlich." Das Grundgesetz kehrte 1949 nach den Erfahrungen mit der NS-Diktatur zu der historischen funktionalen Gewaltenteilung zwischen Bund und Ländern zurück. Die Länder — aus der Sicht der Deutschen West (und offenbar auch der Alliierten) und 40 Jahre später ganz genauso aus der Sicht der Deutschen Ost - ein vertrautes, sicheres, ungefährliches Fundament deutscher Staatlichkeit. Geschichte wiederholt sich: Ein Zug schleichender Auszehrung und Verunklarung der föderativen Ordnung kennzeichnet das erste halbe Jahrhundert der Bundesrepublik im Vergleich mit Kraft und Selbstbewusstsein der Ministerpräsidenten, die sich 1949 einen Bund gründeten. Franz Josef Strauß hat aus Anlass des vierzigjährigen Jahrestages der Rittersturz-Konferenz von der "Stunde der Ministerpräsidenten gesprochen.28 Das ist berechtigt, und es wirft zudem ein bezeichnendes Schlaglicht auf den Unterschied zwischen damals und heute. Die deutsche Einheit 1990 ist zweifellos nicht die Stunde der Ministerpräsidenten, sondern die Stunde des Bundeskanzlers gewesen. 1948/49 bildeten die Ministerpräsidenten die erste Garnitur der deutschen Politik, längst saß diese in Bonn, jetzt in Berlin; für die Länder bleibt die zweite, manchmal die dritte. Kein Wunder, dass das Personal zum Teil wurzellos, sogar zwischen Ländern austauschbar geworden ist — gleichsam beförder- und versetzbar wie ein preußischer Oberpräsident. Erinnert das nicht an Verwaltungsföderalismus, aber ohne klare Kompetenzen und Verantwortlichkeiten des alten Preußen?
Siehe die deutschen Verfassungen des 19. und 20. Jahrhunderts, 5. Aufl. Paderborn, S. 87 ff.
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AaO., S. 23.
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III. Eine Föderalismus-Reform mit dem Ziel der Verbesserung unserer Effizienz muss also Antworten auf die Veränderung der Herausforderungen geben. Ich sehe drei, denen sich Deutschland stellen muss: •
Die Globalisierung von Wirtschaft und Information, die das 21. Jahrhundert prägt,
•
den neuen Unilateralismus der USA mit ungenierter Verfolgung ihrer Eigeninteressen, den Fritz Stern erst am 18. November vor dem Übersee-Club kritisch hervorgehoben hat29,
•
und die europäische Integration, deren Stand an Kompetenzübertragungen auf die europäische Ebene längst adäquate Rückwirkungen auf die innerstaatliche Kompetenzverteilung in unserer nationalstaatlichen Verfassung hätte haben müssen.
Nabelschau und Scheuklappen taugen angesichts der Internationalität dieser Herausforderungen nicht für eine kritische Durchsicht unserer Verfassung. Ein kurzer Blick auf Föderalismus anderswo kann deshalb nicht schaden. International sind föderative Antworten auf unterschiedlichste Verschiedenheiten und Gegensätze auf dem Vormarsch. Einerseits ziehen die weltweiten Interdependenzen mit der technologischen Option sowohl von Massenentwicklung, als auch von Massenvernichtung30 einen Zwang zu größeren Einheiten nach sich: mehr Einfluss auf die globale Agenda, Angleichung von Standards und Chancen; andererseits wächst der Wunsch nach Identifikation mit überschaubaren, sprachlich, kulturell, historisch homogenen selbstbestimmten Einheiten, in denen die Regierung dem einzelnen noch unmittelbar verantwortlich sein kann. Beides gleichzeitig ist der Zug der Zeit, entspricht den Notwendigkeiten - Folge:
29 Die entsprechende Veröffentlichung des Übersee-Clubs in Hamburg war bei Abschluss des Manuskripts noch nicht erschienen. 30 Immer wieder ist unübersehbar, dass Entscheidungen zwischen Krieg und Frieden nicht von der Verfasstheit eines Aggressors als Einheits- oder Bundesstaat abhängen. Immerhin war nach dem Ende des Ersten Weltkriegs der Schrecken so groß, dass es zunächst allgemein hieß: "Dies war der letzte Krieg". A m 27.8.1928 kam der Briand-Kellogg-Pakt zustande, durch den die Vertragschließenden einen offenen Verzicht auf den Krieg als Werkzeug nationaler Politik aussprachen, in der Uberzeugung, dass jede Veränderung in ihren gegenseitigen Beziehungen nur durch friedliche Mittel angestrebt werden und nur das Ergebnis eines friedlichen und geordneten Verfahrens sein sollte. In Art. I heißt es: "Die Hohen Vertragschließenden Parteien erklären feierlich im Namen ihrer Völker, dass sie den Krieg als Mittel für die Lösung internationaler Streitfalle verurteilen und auf ihn als Werkzeug nationaler Politik in ihren gegenseitigen Beziehungen verzichten."
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Föderative Antworten verschiedenster Ausprägung geraten wieder stärker ins Blickfeld; Föderalismus als Instrument der Kanalisierung zahlreicher regionaler Konflikte, mit denen die Welt es heute zu tun hat, ein flexibles, zu Respekt und fairem Ausgleich fähiges System funktionaler Gewaltenteilung. Verschiedenheiten welcher Art auch immer, verlangen nach Föderalismus. Homogenität erlaubt Zentralismus. Zentralismus trotz Gegensätzlichkeit geht oft einher mit Unterdrückung. Einen einheitlichen Föderalismus kann es deshalb nicht geben, die Idee differenzierter dezentraler Antworten auf unterschiedliche Gegebenheiten schon. Der Nationalstaat wird gleichzeitig zu klein und zu groß, um dieser doppelten Anforderung seiner Bürger zu entsprechen. Europa liefert Beispiele. Vor diesem Hintergrund bieten differenzierende föderative Ordnungen mit ihren unterschiedlichen Ebenen von Regierung einen Weg, globale und lokale Bürgererwartungen gleichzeitig zu erreichen. Der gleichzeitige Trend von Selbstbehauptungskraft und Wettbewerbsfähigkeit in globalem Maßstab einerseits und nationaler/regionaler/lokaler Identifikation andererseits wird heute als "glocalization" bezeichnet. Vielleicht wäre es sinnvoll, das zunehmende — auch wissenschaftliche - Interesse an föderativen Modellen weltweit und die gleichzeitig zunehmende Kritik an den Funktionsdefiziten des deutschen Föderalismus zu nutzen, um — statt im eigenen Saft zu schmoren — unsere Verfassung und die Verfassungswirklichkeit an den strukturellen Gemeinsamkeiten zu messen, die Föderationen weltweit zugemessen werden: mindestens zwei Regierungsebenen, Zuordnung gesetzgeberischer, exekutiver Kompetenzen und autonomer Einnahmen, wodurch Felder echter autonomer Verantwortung gewährleistet sind, Absicherung regionaler Repräsentation auf der Ebene des Zentralstaats in seinen Institutionen, meist durch eine zweite Kammer, verbindliche gesamtstaatliche Verfassung, die nicht einseitig abgeändert werden kann und deren Änderung einen signifikanten Anteil zustimmender Gliedstaaten voraussetzt, Schiedsinstanz oder -verfahren, meist durch Staatsgerichtshof oder Referendum, vermittelnde Verfahren oder Institutionen auf den Gebieten, auf denen sich Gewalten überlappen oder geteilt sind.
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Föderalismus bedeutet funktionale Gewaltenteilung. Sie verläuft horizontal zwischen Zentralstaat und Gliedstaaten. Föderalismus gibt der Identifikation der Bürger mit ihrer Heimat staatliche Gestalt, und zwar zwischen den Polen Einheit und Vielfalt, Nation und Region, »check« und »balance«. Mit dem Wandel der Zeiten und der Herausforderungen ist der Föderalismus einem steten Wandel des Selbstverständnisses, der Aufgaben, der Instrumente und seines Leistungsnachweises unterworfen wie jede Staatsform. Er darf niemals statisch sein, sich nicht in der institutionellen Wagenburg verschanzen, sondern muss sich auszeichnen durch spannungsreiche Dynamik, um auf der Höhe der Zeit zu sein. Angesichts der Fesseln, die jeder Föderalismus dem Staat anlegt, anlegen soll, stehen die Leistungsbilanz aller staatlichen Ebenen und die Effizienz des Staatswesens besonders auf dem Prüfstand. Gemessen wird es daran, ob seine Institutionen die Interessen der Bürger hinreichend zu sichern vermögen und ob die Handlungsfähigkeit, die die Bürger verlangen, gegeben ist. Nur wenig ist von Dauer, wie Willy Brandt gegen Ende seines Lebens gesagt hat.
IV. Einheit in Vielfalt in dem durch die Ordnung des Grundgesetzes gesetzten Rahmen — das gelingt in der Bundesrepublik in Wahrheit sehr gut.32 Der Föderalismus durchzieht das Grundgesetz gleich nach dem Grundrechtsteil von vorn bis hinten — von der Verwaltung über die Gesetzgebung und Rechtsprechung bis zur Finanzverfassung. Art. 20 bezeichnet die Bundesrepublik als Bundesstaat. Art. 23 gewährleistet die Mitwirkung der Länder durch den Bundesrat bei der Entwicklung der Europäischen Union.33 Art. 29 enthält in seiner veränderten Fassung eine Bestimmung zur Verhinderung von Länderneugliederungen. Art. 30 enthält eine Kompetenzvermutung zugunsten der Länder: "Die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung des staatlichen Aufgaben ist Sache der Länder, soweit dieses Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zuläßt." Constitutio facto contraria!
In seinem vielzitierten Vermächtnis — von Hans-Jochen Vogel verlesen vor der Sozialistischen Internationale —, an deren Berliner Tagung Willy Brandt kurz vor seinem Tode nicht mehr teilnehmen konnte.
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Temporäre Ost-West-Animositäten auf dem Wege der Einheit können als Einwand nicht anerkannt werden, betrachtet man die großen Schritte seit 1990. 32
Zu der Entstehungsgeschichte vgl. Zur Sache 5/93, Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, Bonn 1993, S. 37 ff. und Leonardy, Dokumente zu Entstehung und Außenwirkung des Artikels 23 G G , Schriften des Zentrum für Europäische Integrations forschung Bonn, Band 59, Baden-Baden 2002. 33
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Nach Art. 31 bricht Bundesrecht Landesrecht. Die Landesverfassungen als Rechtsquelle gehen jeder Verordnung des Bundes im Range nach. Art. 32 Abs. 3 erlaubt den Ländern im Rahmen ihrer Gesetzgebungskompetenz Staatsverträge der Länder mit auswärtigen Staaten. Art. 50 ff. sehen die Mitwirkung der Länder durch den Bundesrat bei den Angelegenheiten des Bundes vor, Art. 53 a Unterrichtung über Planungen für den Verteidigungsfall. Art. 54 sieht die Bundesversammlung vor, die den Bundespräsidenten wählt. Diese beiden Verfassungsorgane sind die beiden einzigen des Gesamtstaates, alle anderen sind entweder solche des Zentralstaates oder der Gliedstaaten. Art. 70 bestimmt das Recht der Länder zur Gesetzgebung, soweit nicht der Bund diese Kompetenz hat. Einfallstor für die Aushöhlung des Föderalismus und Mitursache der Verflechtung ist die konkurrierende Gesetzgebung (Art. 72). Der Bundesgesetzgeber hat in 50 Jahren flächendeckend von der konkurrierenden Gesetzgebung Gebrauch gemacht und so die Landtage und den kompetitiven Föderalismus ausgehöhlt. Art. 77 regelt das Gesetzgebungsverfahren und damit die Rechte des Bundesrates und den Vermitdungsausschuss. Art. 83 regelt die Exekutive durch die Länder. Art. 91a und b haben statt des ursprünglichen Wettbewerbsföderalismus, der meist die vertikale und horizontale Trennung der Kompetenzen vorsah, Gemeinschaftsaufgaben und Vereinbarungen bei Bildung und Forschung eingeführt. Da können sich schwache Länder - und das sind inzwischen 10 bis 12 mit ihrer demokratischen Eigenverantwortung bequem hinter der Ländergesamtheit und dem Bund verstecken34, von der Entscheidung bis zur Finanzierung. Art. 93 sieht den Gang der Länder zum Bundesverfassungsgericht vor. Mit Art. 104a ff. sind wir beim Nervus rerum: der Finanzverfassung. Kein Sektor des Grundgesetzes ist seit 1949 so oft und so einschneidend geändert worden wie die Verteilung der Aufgaben und der Mittel auf Bund und Länder.35 Jedenfalls seit der Finanzverfassungsreform von 196936 fuhrt der Bund die Länder am Goldenen Zügel, und ist die Eigenstaatlichkeit der Länder, die Kongruenz zwischen
Wenn in Deutschland überhaupt von "Hängematte" die Rede sein kann, hier müßte sie gesucht werden! 34
Siehe Heinsen, Die Reform der Finanzreform, in: Politik als gelebte Verfassung, Festschrift für Friedrich Schäfer, Westdeutscher Verlag, 1980.
35
Dazu Heinsen, Der Kampf um die Große Finanzreform 1969, in: Bonn aktuell, Miterlebt, mitgestaltet, in: Hrbek (Hrsg.), Der Bundesrat im Rückblick, Bonn 1989. Aus Hamburger Sicht wichtig die nicht veröffentlichten Erinnerungsnotizen von 1989 des Chefs der Senatskanzlei unter Bürgermeister Herbert Weichmann, Hans Fahning, über die nachhaltige Kritik Weichmanns an den Gemeinschaftsaufgaben, dem Steuerverbund und der Neuordnung des horizontalen Finanzausgleichs durch die Finanzverfassungsreform (im Hamburger Staatsarchiv nebst den Anmerkungen Helmut Schmidts dazu). Fahning errechnet kumulierte Steuerausfälle Hamburgs infolge der "großen" Finanzverfassungsreform von 1969 in Höhe von 5,7 Mrd. DM, dynamisiert 14,3 Mrd. DM, zwischen 1970 und 1989. 36
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Aufgaben und autonomen eigenen Einnahmen voraussetzt, teils zerstört, teils stark ausgehöhlt.37 Nochmals: Die bündische Ordnung durchzieht das gesamte Grundgesetz. Sie gehört zu den Unantastbarkeiten des Art. 79 Abs. 3. Das heißt, nicht einmal einstimmig dürfte der Verfassungsgesetzgeber sie in ihrem Wesensgehalt antasten.38 Unsere Verfassung ist gegenüber den klaren Abgrenzungen von 1949 vielfach verunklart und vermischt worden. Aus dem weitgehenden Trennsystem der beiden Ebenen in der Fassung des Grundgesetzes von 1949 ist durch eine Vielzahl von Änderungen ein schwer unterscheidbarer Verbundföderalismus geworden. Der Verbund gilt für Kompetenzen, Gesetzgebung, Gemeinschaftsaufgaben und ganz besonders für die Finanzverteilung. Durch die Finanzverfassungsreform von 1969 wurde ein nur für Experten durchschaubares Mischsystem eingeführt. In diesem nachträglich geschaffenen Verbund geht es politisch nach dem Motto zu: "Alles hängt mit allem zusammen."39 Alle reden über alles. Alle reden lieber über die großen Dinge als über kleine Schritte. Niemand hat die Verantwortung. Alle werden für alles verantwortlich gemacht. Begründete Dauerkritik an der Ineffizienz des Föderalismus führt zu Parteienverdrossenheit und schlägt auf die Demokratie durch. M.E. geht es gleichwohl nicht um die Herstellung eines deutschen Zentralstaats unter dem Dach der EU, wenngleich halbherzige, unentschiedene Dezentralisierung wahrscheinlich so zahlreiche Reibungsverluste produziert, dass sie einem Zentralstaat unterlegen ist. M.E. müssen Klarheit und Trennung der Kompetenzen, Ressourcen und Verantwortlichkeiten im deutschen Föderalismus wiederhergestellt werden. Es geht um die Frage, wie eine große Einheit in der heutigen Veränderungsgeschwindigkeit des Wissens und der Technik, bei der heutigen arbeitsteiligen Komplexität ihre Willensbildungsprozesse koordinieren und kontrollieren kann. Dazu brauchen wir Entflechtung und mehr Mut zum Unterschied. Entflechtung bedeutet die Wahrnehmung der Verantwortung für bestimmte Politikfelder nicht mehr gemeinsam von Bund und der Ländergesamtheit, sondern getrennt - entweder durch den Bund allein oder durch jedes Land für sich. Das
In diesem Sinne bereits meine eingehende, nicht veröffentlichte Argumentation vom 21.3.1989 gegenüber Bundespräsident v. Weizsäcker sowie vom 5. April 1991 gegenüber den Ministerpräsidenten der östlichen Länder (im Hamburger Staatsarchiv sowie in den Akten der Senatskanzlei). 37
Dies hat, solange demokratische Legitimation durch nationalstaatliche Parlamentswahlen erfolgt, auch für das Antasten vom archimedischen Punkt europäischer Rechtsakte aus zu gelten. 38
Geflügeltes Wort in Bonn und jetzt in Berlin, das jedes Junktim ermöglicht und seine Wirkung vor allem hinter den Kulissen und im Vermitdungsausschuss entfaltet.
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Henning Voscherau
hätte naturgemäß erhebliche Auswirkungen auf Gesetzgebung und Ressourcen. Dann kehren auch Effizienz und Reformfähigkeit bald zurück. Sofort nach der Einheit, im Dezember 1990, bekannte die erste gemeinsame Konferenz der Ministerpräsidenten aus nun wieder 16 freien deutschen Ländern in ihrer sog. "Münchner Erklärung"40: "Der Umbruch in Deutschland und Europa macht eine Fortentwicklung der föderativen Grundentscheidungen des Grundgesetzes notwendig." Das klang besser als es war, denn in der Gemeinsamen Verfassungskommission wollte anschließend niemand "B" sagen.41 Dieser Münchner Erklärung zufolge bieten die Architekturprinzipien des Förderalismus "die beste Gewähr dafür, die Probleme der modernen Industriegesellschaften nicht nur im vereinigten Deutschland, sondern auch im sich einigenden Europa zu lösen." Ja, aber dann müssen die Architekturprinzipien auch beachtet werden. Die Themen einer Fortentwicklung der föderativen Grundentscheidungen des Grundgesetzes müssen sein: 1)
Gesetzgebung - Kompetenzkatalog, Verfahren, Organe,
2)
der Bundesrat im Gesetzgebungsverfahren - gleichzeitig Mittäter und Opfer der Parteiendemokratie,
3)
Finanzver fas sung einschließlich der dazu ergangenen gesetzlichen Regelungen,
4)
Länderneugliederung, erst Kriterien und Voraussetzungen, dann Zahl und Grenzen.
Wer demokratisch legitimiert wird und Verantwortung tragen soll, muss in seinem Verantwortungsbereich entscheiden und kongruent über die erforderlichen Ressourcen bestimmen können, muss dann aber auch die Folgen selbst ausbaden. Ergebnisverantwortung als Prinzip der Organisationsoptimierung in der Wirtschaft eignet sich auch als Leitschnur einer Organisationsreform im Bundesstaat.
Vgl. dazu Voscherau, "Deutschland in neuer Verfassung", in: Deutschland in neuer Verfassung, Verfassungspolitischer Kongress der Friedrich-Ebert-Stiftung 1991, 2. Aufl. Bonn 1992, S. 98, sowie in: Bundesrat, Dokumentation, Bonn 1991, S. 18. 40
4'
Wie „Zur Sache", 5/93, Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, Bonn 1993, beweist.
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V. Ein Subordinationsverhältnis zwischen den Parlamenten von Bund und Ländern kennt das Grundgesetz nicht. Der Deutsche Bundestag ist nicht das Oberparlament, die Landtage nicht Unterparlamente. Sondern beide stehen nach Maßgabe des Kompetenzkatalogs nebeneinander. Tatsächlich aber ist die Gesetzgebung durch die Verfassungsentwicklung der zurückliegenden 50 Jahre zur Domäne des Bundes geworden. Die Länder praktizieren weitgehend "Vollzugsföderalismus". Für diese Entwicklung waren folgende Faktoren bestimmend42: •
Der Bund hat von seinen Zuständigkeiten umfassend Gebrauch gemacht und sie in der Regel voll ausgeschöpft. So sind die Gesetzgebung der Landtage und der Normenwettbewerb zwischen den Ländern um die bessere Lösung, den das Grundgesetz ursprünglich wollte, verdorrt. Kehrseite und Gegenleistung war die immer weiter um sich greifende kompensatorische Mitwirkung der Länder und zwar der Landesregierungen über den Bundesrat an der Gesetzgebung des Bundes. Infolge der Ausführung der Bundesgesetze in Länderverwaltung sind entgegen den ursprünglichen Erwartungen nicht 30, sondern etwa 60 % der Bundesgesetze zustimmungspflichtig — hier fangt die Lähmung an.
•
Die als Schutz für die Länderparlamente gedachte Bedürfnisklausel des Artikels 72 a.F. GG war praktisch wirkungslos. Das Vorliegen eines solchen Bedürfnisses sei - so hat das Bundesverfassungsgericht schon 1953 in einer weitreichenden Fehleinschätzung entschieden - eine Angelegenheit des gesetzgeberischen Ermessens. Die konkurrierende wurde ausgeübt wie die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Diese Weichenstellung hat der Verfassungsgeber 1994 mit der Einführung der Erforderlichkeitsklausel in Art. 72 II und ihrer Justitiabilität in Art. 93 I Nr. 2 a korrigieren wollen. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Entwicklung gerade akribisch nachgezeichnet43 und wie folgt zusammengefasst: "In der Grundgesetzänderung kann eine klare Anweisung des verfassungsändernden Gesetzgebers an das BVerfG gesehen werden, seine bisherige, als korrekturbedürftig bewertete Rechtsprechung zu ändern."
Die gesetzliche Schlagseite aus 50 Jahren - und als Kehrseite die umfassende Mitwirkung der Landesregierungen bei der Bundesgesetzgebung — ist aber da. Die Auszehrung des kompetitiven Föderalismus ist vollendete Tatsache. Politische Folge: Wer zu Hause nichts mehr zu gestalten hat, den zieht es magisch auf die Felder der Welt-, der Europa- und der Bundespolitik. Wenigstens da wollen 42
Vgl. zu allem Voscherau, "Deutschland in neuer Verfassung", aaO., S. 98 ff., bzw. S. 17 ff.
« Vgl. BVerfG, NJW, 2003,41,50 ff.
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alle wichtig sein. Schon sind wir bei Vermischung, unklarer Verantwortung und dem Risiko der Blockade. Der Schritt von 1994 reichte zur Reparatur nicht aus. Eine sachgerechte Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern für die Gesetzgebung und die Wiedereinsetzung der Eigenverantwortung beider Ebenen muss ein Hauptziel einer Effizienzreform des Grundgesetzes sein. Der Kompetenzkatalog zwischen Bund und Ländern muß in seiner Gesamtheit durchgesehen und sachgerecht entflochten werden. Uberfällig ist auch die Neuabstimmung der nationalstaatlichen Kompetenzverteilung auf die inzwischen europäischen Kompetenzen. Zwei Beispiele: Können sechzehn Landesregierungen das nationale deutsche Kulturerbe, Sprache, Bildung, Forschung wirklich mit Aussicht auf Erfolg gegenüber den Institutionen der Europäischen Union wahren, ausbauen, notfalls verteidigen? Oder muss man endlich ehrlich sein und einräumen: Im Hinblick auf die Vielfalt der europäischen Kulturen und die globale Wissenskonkurrenz des 21. Jahrhunderts kann das, wenn überhaupt, nur noch einheitlich von der Ebene des deutschen Nationalstaats geleistet werden! Natürlich ein Sakrileg, eine Revolution. Deshalb eilends ein umgekehrtes Beispiel: Die Wirtschaftsordnung setzt heute nicht Berlin, sondern Brüssel. Wozu brauchen die Wirtschafts- und Verkehrsminister der Länder, die sich mit regionalen Auswirkungen der europäischen Rahmenbedingungen auseinandersetzen müssen — die können in Bayern und Niedersachsen ganz verschieden sein und ziehen naturgemäß vor allem Interessenkonflikte zwischen Ländern nach sich —, die Mediatisierung oder die Schiedsrichterrolle des zuständigen Bundesministers, der mit der Wirtschaftsordnung gar nichts mehr zu tun hat? Neuabstimmung muss keine Einbahnstraße sein. Hinzu kommen sollte der tatsächliche Rückbau der flächendeckend ausgeübten konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes, die Wiedereinsetzung des Landesgesetzgebers anhand eines den Namen verdienenden enumerativen Katalogs ausschließlicher Gesetzgebung der Länder. Zuständigkeiten können zurückübertragen werden, wenn sie von den Ländern wirksam erfüllt werden können, wenn der föderative Wettbewerb gestärkt und die Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen nicht gefährdet wird. Die Bertelsmann-Kommission zur Entflechtung hat außerdem konkurrierende Ländergesetze mit Widerspruchsrecht des Bundes vorgeschlagen. Experimentierfreudige Landtage können bei Erfolg die Innovationskraft des ganzen Landes verbessern; bei Mißerfolg ist der Schaden begrenzt und muss selbst ausgelöffelt werden. Wettbewerb als Innovationsmotor durch trial and error regional beschränkt — volle Chance bei limitiertem Risiko als Vorzug des Föderalismus, wenn seine Regeln stimmen.
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VI. In der föderativen Struktur des Grundgesetzes und der Reformschwäche der Gesetzgebung kommt dem Bundesrat eine Schlüsselposition zu.44 Um seine Struktur, Zusammensetzung und Aufgabenstellung wurde im Parlamentarischen Rat seinerzeit besonders lange gerungen: Senatslösung wie in den USA versus Bundesratsmodell. Der Bundesrat als ein "Parlament der Regierungen" hat am Bedeutungsgewinn der Exekutive und des Bundes partizipiert. Die Auszehrung der Landesgesetzgebung und damit des Wettbewerbsföderalismus, der Eigenverantwortung und des Ansporns geht einher mit einer weiteren negativen Kehrseite, der umfassenden Mitwirkung der Ländergesamtheit, nämlich aller Landesregierungen an der Bundespolitik. Zwar ist der Einfluß der Parteien auf den Bundesrat im alltäglichen Regelfall deutlich geringer als auf den Bundestag. Dies hat sich oft als versachlichende Brücke erwiesen. Im Alltag zählen nicht Parteiprogramme, sondern regionale Eigeninteressen. In allen Fällen öffentlicher parteipolitischer Kontroversen allerdings nehmen alle Zentralen ihre Ministerpräsidenten im Bundesrat als Geisel — lähmende Wirkung des Verbundföderalismus im Zeichen ausufernder Parteiendemokratie. Das Grundgesetz sieht bei einer Fülle von Gegenständen der Gesetzgebung entweder ein Einspruchsrecht des Bundesrates oder seine Zustimmung vor. Alle Zustimmungsgesetze bedürfen der absoluten Mehrheit von 35 Stimmen. Enthaltungen wirken deshalb wie Gegenstimmen. Keine 35 Stimmen, und das gesamte Gesetz ist hin oder kommt am Ende unkenntlich aus dem Vermittlungsverfahren heraus. Regierungs- wie Oppositionsparteien bemühen sich deshalb, das Verhalten "ihrer" Landesminister und der jeweiligen Landesregierungen im Bundesrat zu koordinieren. Jede Bundesregierung hat es deshalb schwer, im Bundesrat eine berechenbare Mehrheit zustande zu bringen. Nicht immer beruhen Kompromisse nur auf sachgerechten Erwägungen, oft sind sie gut gepolstert, kommen einigen zugute und alle teuer zu stehen. Große Konsensrunden erbringen oft kleine, teure Ergebnisse. Großer Dissens erzwingt parteipolitische Blockade - wenn auch mit schlechtem Gewissen. Dagegen gibt es taugliche Mittel. Die Gesetzgebung sollte Zug um Zug mit der obengenannten Neuabstimmung der Kompetenzverteilung auch im Gesetzgebungsverfahren entflochten werden — durch deutliche Reduzierung der Zustimmungsfälle und nicht zuletzt durch die Beschränkung der Auswirkungen einer Versagung der Zustimmung auf diejenigen Regelungsteile, die die Zustimmungspflicht auslösen. Schließlich muss es ein Ende haben, dass sich Enthaltungen als NEIN auswirken, damit die Bundesebene, wenn ihr die Kompetenz zukommt, ihre Gestaltungsvorstellungen realisieren und allein verantworten kann.
+· Vgl. dazu Zohlnhöfer, aaO., S. 13 f.
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Wenn es eine Reformdebatte um den Bundesrat selbst gibt, hielte ich es für falsch, den Parteiendruck auszusparen, der von den Bundestagsfraktionen und Parteizentralen ausgeht. Unsere Demokratie darf nicht immer wegschauen, wenn auf offener Bühne das freie Mandat oder die landespolitische Legitimation einer Regierung an die Partei-Kandare genommen wird. Grundgesetz, Wahlrecht und Parteienrecht müssen dem bestehenden innerparteilichen Nominierungsmonopol kleiner einflußreicher Funktionärsgruppen hinter den Kulissen entgegentreten. Denn davon gehen Anpassungsdruck und Disziplinierung aus. Der Diskussion um die Wahl der Bundesratsmitglieder durch die Landtage stehe ich ablehnend gegenüber. Wenn es um die Wahl von lediglich drei bis sechs Menschen eines Landes in den Bundesrat geht, dann doch gleich durch die Bürger selbst. Und dann sind wir beim amerikanischen Senat. Den Vorschlag Bundeskanzler Schröders, die Wahltermine zusammenzulegen, sehe ich nicht als realisierbar an. Keinem Landtag kann man das Recht zur Selbstauflösung abschneiden, wenn die Landespolitik keinen anderen Ausweg kennt.45 Die Wahltermine würden bald wieder auseinander fallen. Nein, die Bundestagsparteien machen Landtags- und Kommunalwahlkämpfe selbst zum Test für die Bundespolitik46 und beklagen sich hinterher über mangelnde Rückenfreiheit durch zu viele Wahlen. Überlegenswert ist jedoch in bestimmten Grenzen die Flexibilisierung der Wahlperioden. Dann kommt es von selbst zu Mehrfachwahlen am selben Tag — schon wegen des gemeinsamen Interesses aller Länder an höherer Mobilisierung und Wahlbeteiligung. VII. Ein besonders schwieriges Kapitel einer Verfassungsreform wird die Änderung der Finanzverfassung sein, die zum Kern der bundesstaatlichen Ordnung gehört, aber besonders schwer zu reformieren ist. Denn beim Geld hört bekanntlich nicht nur die Freundschaft, sondern auch schon mal die Bundestreue und die Parteifarbe auf. Die Mitfinanzierung von Länderaufgaben durch den Bund selbst im westlichen Bundesgebiet, die Gemeinschaftsaufgaben, Investitionshilfen, Ergänzungszuweisungen des Bundes, Sonderergänzungszuweisungen, durch das BVerfG47 vorgeschriebene weitere Zuweisungen wegen extremer Haushaltsnotlage an das Saarland und Bremen bis 2004 heben in der Regel jeden Anreiz der Länder zur 45
Vgl. Kommission „Verfassungsreform des Bundesrates", aaO., RdNr. 99.
46
Dazu Kommission „Verfassungsreform des Bundesrates", aaO., RdNr. 98.
Zohlnhöfer, aaO., S. 15, bezeichnet die Gefahr, vor dem BVerfG zu scheitern, als eingebaute Handlungsbremse ebenso wie als Reformerzwinger.
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Selbsthilfe auf - Verzerrung kraft Grundgesetzes.48 Jede Ebene benötigt eine aufgabenkongruente eigene Finanzausstattung, die sie aus der Abhängigkeit und Anonymität der Mischsysteme, aus der Abhängigkeit intransparenter Verteilungsverhandlungen und verdeckter Geschäfte zu Lasten Dritter hinter den Kulissen befreit. Diese Forderung darf nicht mißverstanden werden: Armut kommt von der Poverte. Ist die Decke überall zu kurz, bleibt das auch bei Einnahmeautonomie und Trennsystem so. Die Finanzbeziehungen in allen Stufen sind aber vom Prüfstein des "kooperativen Föderalismus" zu einem Stein des Anstoßes geworden, wie Normenkontrollverfahren in Karlsruhe immer wieder zeigen. Länder und Gemeinden haben keine nennenswerten autonomen Einnahmen mehr. Außerdem hat der Bund auf der Aufgabenseite oftmals Gesetze erlassen, deren Ausführung die Länder und Gemeinden Geld kostet — Gesetzgebung zu Lasten Dritter, ist ungesund. Stark betroffen sind dadurch die Gemeinden. Sie sind es ja, in denen das Leben der Bürger stattfindet. Und sie sind stets die letzten, die die Hunde beißen - der Bundes- und ihr jeweiliger Landesgesetzgeber. Konnexität zwischen Aufgaben, Ausgaben und Einnahmen auf der Gemeindeebene entspricht der Forderung nach eigenstaatlichen Einnahmen der beiden staatlichen Ebenen. Einkommensteuer, Körperschaftsteuer, Umsatzsteuer als größte Einnahmeträger, alle diese Steuerarten sind Gemeinschaftssteuern von Bund und Ländern, fließen in einen Topf und müssen hinterher zerlegt und verteilt werden. Leise bilaterale Sonderkontakte sind die Regel: divide et impera. Der (jeweilige) Bundesfinanzminister bemüht sich um ein Mehrheitspaket, so billig wie möglich. Gemeinschaftssteuern, Gemeinschaftsaufgaben, Gemeinschaftsgesetzgebung, das widerspricht transparenter demokratischer Verantwortung, es widerspricht jedem Leistungsanreiz, es muss geändert werden. Einige wenige Zahlen zu den Auswirkungen des Mischsystems im Westen unmittelbar vor der Einheit und für Hamburg im Haushaltsjahr 2001, dessen Abschluss vorliegt. Bezogen auf das jeweilige örtliche Gemeinschaftsteueraufkommen 1989 gleich 100 verblieben den Ländern 1989 zwischen 85,8 % (SchleswigHolstein) und 47,8 (Baden-Württemberg!). Zwei Stadtstaaten fallen aus dem Rahmen: Hamburg verblieben unmittelbar vor der Einheit 30,3 %, West-Berlin "verblieben" 257,6 %. Im horizontalen Länderfinanzausgleich liegen Hamburgs Leistungen seit 1970 pro Kopf vor Baden-Württemberg, weit vor NordrheinWestfalen, Bayern sowieso, nur hinter Hessen. Für eine Remedur geht es aber entgegen verbreiteter Auffassung gar nicht in erster Linie um den horizontalen Länderfinanzausgleich und also auch nicht um die darauf beschränkte sog. Einwohnerwertung. Sondern schon vertikal ist das System nicht in Ordnung, da fängt die Verzerrung an. Die Verteilung des stärksten Steuerträgers, der Umsatzsteuer, erfolgt ohne Rücksicht auf das Kriterium der örtlichen Entstehung, also
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The Court is the Constitution.
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ohne jede Rücksicht auf die örtliche Wirtschaftsleistung. Die Lohnsteuerzerlegung führt dazu, dass jeder Pendler 100 % seiner Lohnsteuer mitnimmt in seine Umlandgemeinde. Für die Arbeitsstätte mit ihren in der Regel hohen Infrastrukturkosten bleiben null Prozent — eine klare Bestrafung wirtschaftlicher Leistungsstärke. Gleichzeitig wundern wir uns über zu geringe Impulse für Investition, Innovation und Beschäftigung. Wie sieht die Situation nach den Feststellungen der Finanzbehörde per Abschluss 2001 aus? Die Bürger und Betriebe Hamburgs entrichteten 2001 insgesamt 38,1 Mrd. Euro Steuern - alle Steuerarten. Eine ungeheuer hohe pro KopfLeistung, durch die die Hamburger Steuerzahler großes Gewicht für das deutsche Steueraufkommen haben. Politisches Gewicht wird ihnen im Verhältnis dazu nicht zugebilligt. Von 38, 1 Mrd. flössen an den Bund 26,2 Mrd. Euro, an die übrigen Länder 5,1 Mrd. Für den Hamburger Haushalt verblieben 6,3 Mrd. Euro. Selbst beschränkt auf die Gemeinschafts steuern, die 19,75 Mrd. Euro ausmachten, sind 6,3 Mrd. ein konfiskatorisches Ergebnis, weniger als ein Drittel, mit großem Abstand eine singuläre Sonderstellung unter allen westlichen Ländern. Die Vertretbarkeit der Folgen muss man nicht lediglich an föderativen Verfassungsregeln messen, sondern endlich auch an den Grundrechten der betroffenen Bürger — der steuerzahlenden wie der staatliche und kommunale Diensdeistungen nachfragenden Bürger Hamburgs. In beiden Eigenschaften sind sie Grundrechtsträger. Bei gleichem Sachverhalt (prosperierende Millionenstadt) werden Münchner und Kölner — nach kommunalem Finanzausgleich ihres Flächenlandes — weniger gemolken als Hamburger, bekommen aber mehr oder bessere Dienstleistung heraus, werden also ungleich behandelt. Nur eine Zahl noch: Hamburgs Anteil an dem bundesweiten Zerlegungsvorlumen für Lohn-, Zinsabschlag- und Körperschaftssteuer belief sich auf 34 %, aber wir machen nur 2 % der Bevölkerung aus. Etwas ist faul im Bundesstaate Deutschland. Dass sich eine solche Schieflage der Finanzverteilung gegen die Mehrheit der begünstigten Nehmer schwerlich ändern lässt, liegt auf der Hand, seit der Einheit erst recht. Der dem BVerfG in seiner Not außerhalb des Grundgesetzes eingefallene Lösungsversuch - die neue Normebene eines sog. Maßstäbegesetzes - ist einerseits der Regelungsqualität nach materielles Verfassungsrecht, formell jedoch nur Gesetzesrecht. Es setzt die einfache Gesetzgebungsmehrheit in Bundestag und Bundesrat voraus — also eine Nehmermehrheit. Radosigkeit in Karlsruhe, in Gesetzeskraft erwachsen. In dem Regelwerk des Grundgesetzes fehlt eine salvatorische Generalklausel, die im Hinblick auf das Nivellierungsverbot des BVerfG eine Untergrenze definiert. Sie könnte etwa lauten: "Der jedem Land nach Durchführung aller Stufen der Zerlegung, Verteilung und Ausgleiche gem. Art. 106 und 107 verbleibende Anteil an seinem örtlichen Gemeinschaftssteueraufkommen darf X Prozent nicht unterschreiten." Natürlich darf erst recht die Rangfolge der Länder netto nicht plötzlich anders sein als brutto. So würden
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das Gebot der Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse und das Verbot der Nivellierung von Leistungsunterschieden verfassungsgemäß endlich unter einen Hut gebracht. Ich spreche mich also, wenn alle Reformbemühungen ausgehen, wie das Hornburger Schießen, als ultima ratio für die Einführung einer abstraktgenerellen Untergrenze des einem Land verbleibenden Anteils des örtlichen Gemeinschaftssteueraufkommens aus. Klar, daß die Beteiligten sich nicht auf einen Vom-Hundert-Satz einigen können. Mit Hilfe der Verfassungsnotwendigkeit, begründete Maßstäbe zu entwickeln, müßte jetzt eine Annäherung leichter geworden sein. Plausibel wäre ein Satz, der sich nicht zu weit von dem Halbteilungsgrundsatz entfernt, also 50 plus/minus X. Wer deutlich mehr als die Hälfte der Früchte seiner Wirtschaftskraft abgeben muss, verliert die Lust an Arbeit und Erfolg und legt sich auf die Bärenhaut. Das schadet auf lange Sicht allen am meisten. Die Folgen lassen sich in Deutschland feststellen.49 Wir brauchen den Mut zu einer deutlicheren wirtschaftskraftbezogenen Spreizung der verbleibenden Einnahmen. Allein quantitative Kriterien zur Messung der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse führen als Einwand in die Irre. Einerseits bestehen auch im Westen seit alters her große Unterschiede, etwa zwischen dem Raum München und dem bayerischen Wald, Hannover und Ostfriesland, Hamburg und der schleswig-holsteinischen Westküste, und andererseits hat eine vergleichende Untersuchung über Ostfriesland und den mitderen Neckarraum schon vor langer Zeit frappierende Ergebnisse über Quantität und Qualität des Lebensstandards und der Zufriedenheit festgestellt.50 Aus meiner Sicht müsste insgesamt ein entscheidender Schritt in Richtung einer Wiederherstellung der Einnahmeautonomie der Ebenen getan werden - mehr Trenn-, als Mischsystem. Lösungen wären denkbar durch mehr eigene Steuerquellen jedes Landes, Reduzierung der Gemeinschaftssteuern, sachgerechte Zerlegungskriterien und stärker wirtschaftskraftbezogene Kriterien der Umsatzsteuerverteilung. Im Westen könnten so Gemeinschaftsaufgaben, Investitionshilfen, Ergänzungszuweisungen des Bundes weitgehend entfallen. Es liegt auf der Hand, dass diejenigen, die sich an den Goldenen Zügel des Bundes gewöhnt haben, solche Überlegungen als existenzbedrohlich ansehen und in jeder Weise bekämpfen. Für die Finanzierung der Landes- und Gemeindeaufgaben Ost hingegen wird man sicherlich noch auf weitere 20 Jahre eine solidarische Sonderregelung benötigen. Jedoch sollte sie als befristete Ausnahme gekennzeichnet und nicht in das generelle Regelwerk integriert werden.
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Nicht lediglich eine Feststellung für den staatlichen Sektor.
K.-D. Grüske/J. Lohmeyer (1990), Außerökonomische Faktoren und Beschäftigung - eine Fallstudie fur die Arbeitsmarktbezirke Leer und Balingen, gefördert von der Bertelsmann Stiftung, Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh. 50
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VIII. Der Zusammenhang von eigenstaatlicher Finanzausstattung und objektiver oder subjektiver Existenzbedrohung zieht zwangsläufig die Frage der Länderneugliederung nach sich. Es muss aber um eine Diskussion gehen, die nicht schlau auf partikulare Mitnahmeeffekte angelegt ist, auch nicht schnurstracks auf Vergrößerung von Gliedstaaten als Selbstzweck. (1871 umfasste Preußen 65 Prozent des Kaiserreichs und 62 Prozent der Bevölkerung) Größe muss nicht gleich Stärke sein. Es darf allein um sachgerechte Kriterien zur Verbesserung der Funktionsfähigkeit des Gesamtstaats, Zentrale und Gliedstaaten gehen. Wollen wir wettbewerbsfähiger werden oder nicht? Wollen wir Deutsche mit unseren vielen Nachbarn europäisch wettbewerbsfähige Regionen haben oder nicht? Das Grundgesetz bietet keine Grundlage für solche Strategien. Aus der MussVorschrift des Artikels 29 zur Länderneugliederung wurde 1976 durch Verfassungsänderung eine bloße Kann-Bestimmung. Damals war bereits klar: Das Grundgesetz lässt sich leichter ändern als die Ländergrenzen. Dem Zusammenschluss der Länder Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern lag eine Sonderbestimmung zugrunde: Art. 118. Inzwischen wollen die Länder ihre Kirchtürme längst alle behalten, besonders Bremen. Ausnahme ist Berlin und Brandenburg, die für 2009 einen zweiten Anlauf versuchen, aber beide an Krücken. Der Bundesrat hat 1990 auf bremische Anregung in einer Entschließung festgelegt: Niemals! Ich habe damals widersprochen: "Heute ist nicht der Tag, die Frage nach der europäischen Perspektive der Zahl 16 aufzuwerfen. Wenn die Grundlagen für die Selbstbehauptung der Länder gefestigt sind, dann wird diese Frage neu gestellt werden. Dessen bin ich sicher."51 Wir brauchen eine Neufassung des Artikels 29, die eine Neugliederung anhand sachgerechter ökonomischer, infrastruktureller und historisch-kultureller Kriterien durch berechenbare demokratische Verfahren zulässt, ohne dass traditionsreiche Einheiten unter die Räuber fallen. Bürgerzustimmung braucht man heute dazu. Auch freiwillige bilaterale Zusammenschlüsse sollten möglich werden. Vorbild könnte die Fassung des Grundgesetzes von 1949 sein. Damals hieß es: Das Bundesgebiet ist unter Berücksichtigung der landsmannschaftlichen Verbundenheit, der geschichtlichen und kulturellen Zusammenhänge, der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit und des sozialen Gefüges durch Bundesgesetz neu zu ordnen. Die Neugliederung soll Länder schaffen, die nach Größe und Leistungsfähigkeit die ihnen obliegenden Aufgaben wirksam erfüllen können. Oder der Wortlaut der Weimarer Reichsverfassung (Art. 18): "Die Gliederung des Reichs in Länder soll unter möglichster Berücksichtigung des Willens der
51 Antrittsrede als Bundesratspräsident am 9. November 1990, 624. Sitzung des Bundesrats, Plenarprotokoll, S. 621-A.
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beteiligten Bevölkerung der wirtschaftlichen und kulturellen Höchstleistung des Volkes dienen. Die Änderung des Gebiets von Ländern und die Neubildung von Ländern innerhalb des Reichs erfolgen durch verfassungsänderndes Reichsgesetz." Dahinter bleibt die Verhinderungsfassung des Art. 29 heute weit zurück. Das Grundgesetz sollte ferner nicht als Hindernis gegen institutionalisierte Zusammenarbeit von Ländern — sektoral oder regional — wirken können. Stichwort: Verfassungswidrigkeit einer dritten Ebene. Ergebnis: Verfassungsänderung anhand Weimarer und Bonner Kriterien mit demokratisch berechenbaren Verfahren. Denn Schutz gegen Kannibalismus aufgrund von Interessen statt Sachgerechtigkeit braucht man auch. Allein Art. 29 Abs. 4 GG sieht einen - übrigens den einzigen - Fall eines Volksbegehrens vor. Seine Wirkung beschränkt sich aber auf durch Landesgrenzen zerschnittene Teile eines einheitlichen Wohnungs- und Siedlungsraums, Beispiel: Mainz-Kastell auf der Wiesbadener Seite - oder Groß-Hamburg. Zehn Prozent der zum Bundestag Wahlberechtigten können den Zusammenschluss ihres Raums unter eine Landeszugehörigkeit verlangen. Der Bundestag muss binnen zweier Jahre durch Gesetz entscheiden. Aber danach müssen alle beteiligten Bevölkerungsteile dem Bundestag durch Volksabstimmung zustimmen — eine Verhinderungsregelung, denn welches Parlament begibt sich schon in Gefahr, um darin umzukommen. Als kleinen Exkurs buchstabieren wir einmal durch, was aus Bremen und was aus Hamburg würde, gingen sie in ihrer Nachbarschaft auf. Bremen würde kreisfreie niedersächsische Stadt, ebenso, jedoch gesondert, Bremerhaven mit der Kolumbuskaje. Die bremischen Häfen fielen voraussichtlich an Niedersachsen.52 Hannover bliebe Hauptstadt. Finis bremensis, eine Horrorvorstellung fur die stolzen Hanseaten an der Weser. Ich verstehe ihre Lage, und also ihre Haltung — jedenfalls bis zur Zahlungsunfähigkeit. In Hamburg war Sichtweise und Historie stets unverkrampfter. Hamburg hat in dieser Sache bereits vier Verfassungsgerichtsprozesse geführt, allerdings nicht in Karlsruhe, sondern in Wetzlar - die sog. Immediatsprozesse vor dem Reichskammergericht während des Heiligen Römischen Reichs. Die maßgebliche hamburgische Leitschnur war pragmatisch-pfeffersäckisch: Wo liegt unser Vorteil. Erstritten wird, was nützlich ist. Drei Mal war das die Reichsunmittelbarkeit, Freiheit von den umliegenden Landesherren, klares Partikularinteresse. Aber ein Mal war es auch das Gegenteil: der Versuch, die Reichslasten los zu werden. 52 Allerdings gehören die bremischen Häfen in Bremerhaven de iure zur Stadtgemeinde Bremen — eine Situation, die kommunalpolitisch auf Dauer in Niedersachsen wohl nicht zu halten wäre.
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Sehen wir die Sache heute ähnlich nüchtern, ergibt sich für Hamburg ein völlig anderes Bild als im Falle Bremens. Das ganze Hamburg hat 3 bis 3,5 Millionen Einwohner, das politische nur die Hälfte. Die Umland-Hamburger nehmen einen Zerlegungssaldo von 1,5 Milliarden Euro jährlich mit. Die Mühseligen und Beladenen der kleinen und mitderen norddeutschen Städte und Gemeinden suchen die Anonymität Hamburgs und beziehen Sozialhilfe in der Regel nicht in ihrer Kleinstadt, sondern gehen da hin, wo sie keiner kennt. Beide Faktoren zehren Hamburgs Kräfte auf. Hinzu kommt die Verzerrung der langfristigen Siedlungsentwicklung durch die unnatürlichen Auswirkungen politischer Grenzen. Das Umland hat bei den Arbeitsplätzen deshalb so zugelegt, weil viele Hamburger Unternehmen attraktiven Ansiedlungsangeboten der Umlandkommunen gefolgt sind. Das funktioniert nur, weil diese Kommunen im Windschatten Hamburgs mit seiner großen Wirtschaftskraft und seiner metropolen Infrastruktur segeln. Uberholte Ländergrenzen und eine fehlende nationale Großstadtpolitik machen es so gut wie unmöglich, diese sogenannte Suburbanisierung abzugleichen. Kooperation "als ob" ist demgegenüber ein schönes Wort.53 Selbst beste Absichten scheitern an den nicht zur Disposition bilateraler Vereinbarungen stehenden finanziellen Verteilungsregeln. Schon der legendäre Oberbaudirektor Fritz Schumacher stellte 1932 fest: "Für das Planen mag ein Zustand, als ob keine Grenzen vorhanden sind, genügen. Sobald beim Ausführen finanzielle Fragen in Betracht kommen, bleibt jede Grenze das, was sie immer war, eine Macht, die in wirklich schwierigen Fällen das Vorzeichen des Interesses umkehrt. Dagegen ist kein guter Wille und keine Erkenntnis."54 Deshalb die Forderung nach Neugliederung.55 Anders als Bremen behielte Hamburg seine Häfen, bliebe das einzige Oberzentrum, würde unweigerlich — jedenfalls wenn es ehrlich zugeht und die Argumente in der Sache Berlin/Bonn ernst gemeint waren — Hauptstadt Norddeutschlands. Hamburg käme also nicht in die Lage Bremens, sondern Münchens. Die Kraft der Fläche stünde hinter der Metropole; die Hauptstadt als Lokomotive zöge das ganze Land. Unverzichtbare Voraussetzungen gibt es aber: Die Finanzverfassung und die entsprechenden Gesetze müßten sicherstellen, daß der Schuß nicht nach hinten losgeht. Das ist
53 Scharpf/Benz (in ihrem 1990 für die hamburgische Senatskanzlei und die schleswigholsteinische Staatskanzlei erstatteten Gutachten "Zusammenarbeit zwischen den norddeutschen Ländern", S. 30 f.) als die "zweitbeste" Lösung gegenüber dem von der sog. ErnstKommission 1972 vorgeschlagenen Bundesland Nordost, aaO., S. 11 ff. 54 Fritz Schumacher, Das Gebiet der Unterelbe im Rahmen der Neugliederung des Reiches, Hamburg 1932, S. 15. Vgl. auch Voscherau, Hamburg - Stadtstaat oder nur Staat?, in: Recht und Juristen in Hamburg, Köln, Berlin, Bonn und München, 1994, S. 11.
Natürlich nicht nur im Norden, vgl. Voscherau, aaO. Jedoch halte ich mich hier an die Empfehlung: Jeder kehre vor der eigenen Tür. 55
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gegenwärtig nicht sichergestellt, wie ich aus der Diskussion um BerlinBrandenburg, erster Versuch, im Kreise der Ministerpräsidenten noch sehr genau erinnere.56 Und es dürfte nicht lediglich das Territorium sein, das die Nordelbische Kirche zusammengefugt hat, denn deren Zusammenschluss und heutigen Zustand kann man wohl nur eingeschränkt als gelungen ansehen. Damit die Balance zwischen den zusammenwachsenden Teilen stimmt, müßten — anhand der örtlichen Ausrichtung von Lebensgewohnheiten und Arbeitsstätten — die Unterelbe-Region von dem uralten hamburgischen Amt Ritzebüttel an der Elbmündung über Stade bis Lüneburg, also die nördliche Lüneburger Heide, dazukommen, soweit die Lebensgewohnheiten ihrer Bewohner nicht auf Hannover, sondern auf Hamburg ausgerichtet sind: Hamburg, Schleswig-Holstein, Mecklenburg,57 wohl auch die West-Prignitz aus Brandenburg — falls die Bürger sich damit identifizieren mögen. Ohne Identifikation geht es nicht. Bundesweit kann Länderneugliederung nur ohne partikulare Vorbedingungen gehen. Alle öffentlichen Vorschläge im Januar 2003, die Bayern, BadenWürttemberg, Hessen und Nordrhein-Westfallen mit ihren heutigen Grenzen von vornherein ausklammern, sehe ich als sachwidrigen Versuch von Mitnahmeeffekten an. Es kann nur um europäisch wettbewerbsfähige Regionen gehen, mit natürlicher Wechselbeziehung zwischen Metropole und ökonomisch darauf ausgerichteter Fläche, kritisch überprüft anhand landsmannschaftlicher Traditionen und der örtlichen Ausrichtung der Verflechtungen im Alltag der Bevölkerung. Geht man so vor, ergäben sich sehr wohl auch Auswirkungen auf Größe und Grenzen der vier genannten Flächenländer. IX. Der deutsche Föderalismus steht vor einer Reform an Haupt und Gliedern, soll die Reformschwäche Deutschlands überwunden werden. Gemessen wird er daran, ob seine Institutionen die Interessen der Bürger und die Zukunft unseres Landes effizient zu sichern vermögen und ob die Handlungsfähigkeit, die die Bürger verlangen müssen, erreicht werden kann. Staatsaufbau und Staatsorgani-
56 Es waren erste Adressen, von denen in der Ministerpräsidenten-Konferenz bei mehreren Anläufen die bremsende Kraft partikularer Interessen ausging, obwohl es um nichts weniger als angemessene finanzpolitische Übergangsregelungen für die Einwohnerwertung Berlins ging·
Gegenüber dem Stand der Ernst-Kommission 1972 wäre heute £ur ein Land Nordost die Frage Mecklenburg-Vorpommern zu beantworten. Mecklenburg ist seit alters her auf Hamburg, Vorpommern auf Brandenburg-Berlin ausgerichtet, wie die sorgfältige Abgrenzung der Erzdiözesen Berlin und Hamburg zeigen kann, die der Heilige Stuhl nach der Einheit "pro spe futuri" eingerichtet hat. 57
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sation mögen langweilig erscheinen. Tatsächlich sind sie hochwichtig. Ihre Wirkungsweise kann über Wohl und Wehe eines Gemeinwesens entscheiden. Es geht nicht um die Einführung des Einheitsstaates. Der Föderalismus ist eigentlich sehr geeignet zur flexiblen Bewältigung komplexer werdender globaler Herausforderungen. Eine flache Hierarchie mit Ergebnisverantwortung der problemnächsten Ebene ist lernfähig - in Staat und Wirtschaft. Sie eignet sich besser, schnell und lösungsorientiert zu reagieren. Allerdings - ihre Regelwerke müssen stimmen. Mit einer solchen Reform an Haupt und Gliedern werden wir uns international behaupten.
DIE SOZIALE FRAGE
Der Ökonom als Politiker - Europa, Geld und die soziale Frage (hrsg. v. W. Hankel, Κ. A. Schachtschneider und J. Starbatty) © Lucius & Lucius, Stuttgart, 2003
Die Zukunft des Sozialstaates Norbert Blüm Wie sieht die Zukunft aus? Ich weiß es nicht. Denn zur Futurologie besitze ich weder Eignung noch Neigung. Und die Leistungen der Prognostiker sind nicht so zuverlässig, dass man sich daran orientieren könnte. Für die Jahrtausendwende hatten einige dieser Wahrsager sogar schon die Besiedelung des Mondes vorhergesehen; andere hatten angekündigt, dass dann der Krebs besiegt sei etc. Ironisch könnte man behaupten, Prognosen sind nur sicher, soweit sie die Vergangenheit betreffen. Die Zukunft ist auch das Ergebnis unserer Wünsche und Sehnsüchte. Es gibt zwar kein Sim Salabim wie im Märchen, das unseren Wünschen im Handumdrehen Wirklichkeit verleiht. Aber was die Menschen wollen, ist noch immer ein Treibsatz der Geschichte. Wir sind allerdings nicht nur Treiber, sondern auch Getriebene, und in diesem Mittelfeld zwischen Wollen und Müssen handelt die Politik nicht immer geradlinig. Entwicklung ist immer eine Mischung aus Erhalten und Verändern. Jene, die die Welt zum zweitenmal erfinden wollen, leiden unter jener Überheblichkeit, die schon den Turmbauern zu Babel zum Verhängnis wurde. I.
Arbeit für alle
Ich wünsche mir eine Welt ohne Elend. Ich wünsche mir eine Welt, in der alle, die arbeiten können, auch Arbeit finden, denn Arbeit ist Teilhabe am allgemeinen Leben. Und niemand darf ausgeschlossen werden. Doch immer mehr Menschen sitzen vor die Tür der Wohlstandsentwicklung. Auf der Welt wächst der Abstand zwischen reich und arm. Selbst wenn wir die Macht und die Mittel hätten, dass niemand verhungert, weil wir die Arbeitslosen handfest unterstützen, kann diese Hilfe dennoch nicht das Recht auf Mitarbeit ersetzen. Das Recht auf Teilhabe durch Arbeit ist ein Menschenrecht. Geht uns die Arbeit aus? Wer diese Frage mit „Ja" beantwortet, ist angesichts der Tatsache, dass Tag für Tag auf der Welt 20.000 Menschen elend verhungern, ein Zyniker sein. Die globale Arbeitswelt ist voller Irrationalismen. In den gleichen Weltregionen, in denen 250 Millionen Kinder zur Arbeit gezwungen wer-
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den, sind 900 Millionen Erwachsene ohne Arbeit. Die Kinder gehen zur Arbeit, und die Alten sitzen zuhause. Das ist eine verrückte Welt. Aufgaben für Arbeit gibt es auf der Welt in Hülle und Fülle. Auch in den entwickelten Wohlstandsländern gibt es noch genügend lohnende Ziele für Arbeit. II.
Kostensenkung als Allheilmittel
Eine Gesellschaft, die jedoch lediglich von der Frage bewegt wird, wie die Kostenschraube nach unten gedreht werden kann, leidet an Einfallslosigkeit und endet im Desaster. Denn so billig wie die Länder der Dritten Welt werden wir nie produzieren können. „Made in Germany" war auch nie ein Markenzeichen für Billigware, sondern immer ein Qualitätsbegriff. Die einfachen Massenprodukte, die auf relativ niedrigem Qualifikationsstandard hergestellt werden können, werden in der Dritten Welt kostengünstiger angeboten. Das ist auch die einzige Chance der Armen dieser Erde, sich aus der Armut herauszuarbeiten. Eine Entwicklungspolitik, die lediglich Almosen spendet, wirft ihre Brosamen in ein Fass ohne Boden. III.
Bildung
Uns bleibt die weltwirtschaftliche Marküücke intelligenter Produkte. Dazu sind qualifizierte Arbeitnehmer unerlässlich. Bildung wird überall zur Schlüsselfrage der Beschäftigung. Freilich, das Gesicht der Bildung verändert sich. Es geht nicht um einfache Wissensanhäufung. Das Wissen können wir in Computern lagern. Es muss nicht mehr gepaukt werden. Die Kapazität unseres Gehirns ist zudem nicht sehr viel größer als die Gehirnkapazität unserer Vorfahren aus dem Neandertal, wie kluge Anthropologen herausgefunden haben. Es ist aussichtslos, das mögliche Wissen in Köpfen speichern zu wollen. Deshalb ist der Versuch, in Kinderköpfe alles denkbare Wissen zu trichtern, bodenlos. Das Lernen des Lernens muss gelernt werden. Zu viel Wissen behindert das Lernen. Wir müssen unsere Köpfe frei machen für kreatives Wissen. Kreativität entwikkelt sich nicht im lufdeeren Raum. Es wird von unseren Vorstellungen vom lebenswerten Leben getrieben. Deshalb müssen wir fähig sein zu wissen, was wir wissen wollen. Das gelingt nicht ohne Wertmaßstäbe. Erziehung wird zum Herzstück der Bildung. Denn nur sie befähigt uns, den Wissensschrott zu entsorgen. Der Umschlag neuen Wissens wird immer schneller. Neues Wissen veraltet über Nacht. Also müssen wir uns von der Vorstellung verabschieden, Wissen sei lediglich Sache des ersten Lebensdrittels. Was die Kinder heute lernen, wird später zum Teil nicht mehr gebraucht. Und was Studenten im ersten Semester an Wissen „in sich reinziehen", ist manchmal im zehnten Semester überholt. Was in der
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Schule gelernt wird, reicht nicht mehr füir's ganze Leben. Überlange Schul- und Studienzeiten sind deshalb eine Verschwendung. Das Zeitbudget des Lernens, das wir in der Jugend verbrauchen, muss über das ganze Leben verteilt werden. Lebenslanges Lernen ist angesagt. Das muss nicht zur Verschulung der Gesellschaft fuhren. Das duale System unserer Lehrlingsausbildung könnte geradezu ein Modell für die Weiterentwicklung unseres Bildungssystems werden. Lernen im Ernstfall des Lebens ist die pädagogische Maxime der dualen Ausbildung. Sie weist die Richtung für ein Bildungssystem, das nicht auf die Jungen beschränkt ist. Unternehmen müssen nicht nur Investitionsplanung betrieben. Zu einer weitsichtigen Personalplanung gehört lebenslange Qualifikation der Arbeitnehmer. Qualifikation ist die modernste Vermögensform. Ideen werden wichtiger als Besitz. Das traditionelle Kapital wird an Bedeutung verlieren. Die Absatzzeiten werden kürzer, als die Entwicklungszeiten sind. Das verstärkt den Trend von Besitzen zum Mieten und unterminiert die dominierende Position des klassischen Kapitals.
IV.
Neue Zeitrhythmen
Die in der Industriegesellschaft dressierten Arbeitszeitgewohnheiten haben sich überlebt. Wahrscheinlich war es in der Durchbruchsphase der Industriegesellschaft unumgänglich, die entlaufenen Bauernsöhne und heimatlosen Handwerksburschen mit geradezu militärischem Muster in die Disziplin des Fließbandes zu zwingen: „Im Gleichschritt marsch". Auf Sirenengeheul ging's los. Auf Sirenengeheul begann der Feierabend. Die Grenze zwischen Erwerbsarbeit und Kindheit auf der einen Seite und zum Ruhestand auf der anderen wurden nach kollektiven Einheitsdaten geregelt. Doch das Kolonnendenken kommt außer Tritt. Wir können wieder zu alten Zeitordnungen zurückkehren, in denen Lebens· und Arbeitsrhythmus besser synchronisiert sind, als das in der Industriegesellschaft gelang. Der Übergang von der Erwerbsarbeit in den Altersruhestand muss nicht mehr so abrupt geschehen, wie dies in den letzten 200 Jahren organisiert wurde. Übergänge können sachter sein. Arbeitszeiten werden maßgeschneidert. Freilich in der allgemeinen Flexibilisierung brauchen wir Ruhezonen. Festund Sonntage sind kulturelle Errungenschaften, die nicht verwirtschaftet werden dürfen, wenn die Zeitordnung nicht zu einem Zeitbrei degenerieren soll.
V.
Dienstleistung
Neue Beschäftigungen werden im Diensdeistungsbereich zu finden sein, wobei Diensdeistung keineswegs nur eine sektorale Angelegenheit ist. Service wird alle
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Wirtschaftsbereiche erfassen. Der Kundendienst wird die Produktion antizipieren. Und wenn wir uns schließlich mit Technik eingemauert haben, wird — zunächst vielleicht unbemerkt — eine Gegenbewegung entstehen. Die menschliche Dienstleistung von Angesicht zu Angesicht wird eine neue Nachfrage entwickeln. Die Unternehmer, die diese Marktlücke rechtzeitig entdecken, werden die Gewinner sein. Beratung, Pflege, Hauswirtschaft sind neue Wachstumsfelder. Unsere Berufsordnungen haben allerdings den Zugang zu diesen neuen Feldern stark eingeengt. Wir verlangen für einfache Handreichungen schon ein Diplom. Jene, die nie die Befähigung zur Computergesellschaft erlangen, weil ihnen dazu die Begabung fehlt, werden vielleicht Beschäftigung finden in Bereichen, in denen menschliche Zuwendung gefragt ist. Und Zuwendung ist mindestens so wichtig wie die Fähigkeit, einen Computer zu bedienen. Soziale Kompetenz trifft sich auf gleicher Höhe mit der technischen. Beratung und Hilfe von Mensch zu Mensch schaffen Beschäftigungschancen. Das werden die großen Apparate nicht leisten. Auch der Sozialstaat wird den „kleinen Kreisen" unter die Arme greifen müssen. VI.
Globalisierung
Nationalökonomie ist ein nostalgischer Begriff. Die Finanzströme haben sich längst der Zuständigkeit der nationalen Finanzminister entzogen. So schnell läuft kein Finanzminister, wie die Finanz- und Kapitalströme sich auf der Datenautobahn bewegen. Was bleibt den Nationen? „Die Menschen". Und jene Völker, die diese gut hegen und pflegen, werden die Gewinner im globalen Wettlauf sein. VII.
Unternehmenskultur
Der wichtigste Produktionsfaktor ist der Mensch. Unternehmensstrategen, die das vergessen, werden Schiffbruch erleiden. Motivation ist ein Leistungsmotor, und Identifikation mit dem Unternehmen ist eine Motivationsvoraussetzung. Unternehmen, die sich nur als Kapitalsammelstelle verstehen, werden keine Mitarbeiterloyalität aufbauen können. Ein Management, das sich lediglich als Funktionär der Börse versteht, wird versagen. Die institutionellen Anleger, die heute hier und morgen dort anlegen, machen jede langfristige Unternehmensstrategie unmöglich. Ihr Bruder, der Jobhopser, den nichts mit dem Unternehmen verbindet als das tägliche Einkommen, hat die Motivation eines Tagelöhners, und die reicht nicht für den langfristigen unternehmerischen Erfolg. Große Unternehmen haben nicht in Tageskursen gedacht. Mit der Mentalität der Börsenmakler hätte Columbus nie Amerika entdeckt. Der Unternehmer der Zukunft
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wird Innovator und Kombinator sein und die hohe Kunst besitzen müssen, die Interessen von Arbeitnehmern, Kunden und Kapitalgebern in der Balance zu halten. VIII. Sozialstaat Ohne Arbeit kein Sozialstaat. Sein wichtigstes Mitbringsel ist Solidarität. Ohne Zusammenhalt überlebt keine Gesellschaft. „Wenn jeder an sich denkt, ist auch an alle gedacht." Mit dieser Maxime zerfällt jede Gesellschaft. Als die Res publica aus den Herzen der römischen Bürger verschwand, brach das römische Imperium zusammen. In Zeiten des Ost-West-Gegensatzes hatte der Sozialstaat im Westen einen festeren Platz als heute, denn er war Teil der Legitimationsgrundlage des Westens. Mit dem Wegfall dieses Gegensatzes sind Hemmungen weggebrochen, und die Gefahr ist groß, dass das gesamte Leben verwirtschaftet wird. Aber eine Marktwirtschaft ohne Sozialstaat ist nicht überlebensfähig. Erst nachdem die großen sozialen Risiken - Unfall, Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit - aus dem Unternehmen externalisiert wurden, hatte eine neue unternehmerische Ratio Spielraum, die sich an Markt und Gewinn orientierte. Vielleicht bestand das Dilemma der DDR-Wirtschaft auch darin, dass der Betrieb gleichzeitig Sozialstaat war. Die Arbeitslosenversicherung war im Betrieb installiert. Unproduktive Arbeitnehmer waren im Betrieb abgesichert. Sie waren „arbeitslos" im Betrieb. Wohin eine Marktwirtschaft ohne Sozialstaat fuhrt, kann in Moskau studiert werden. Die Chicago-Boys hatten den russischen Reformern empfohlen: „Markt, Markt schafft Wohlstand". Der Wohlstand ist in Zypern und an der Riviera zu besichtigen, wo die russische Mafia ihren Wohlstand hat. Der Sozialstaat freilich kann unterschiedlich organisiert sein. Zwei Solidaritätsformen sind mit der menschlichen Natur verbunden: 1. „Einer für alle und alle für einen" ist die Grundlage des Fürsorgeprinzips, mit dessen Hilfe die Menschheit überhaupt erst überlebte. 2. Das Prinzip der Gegenseitigkeit „Leistung für Gegenleistung" ist ein Emanzipationsprinzip der Gesellschaft. Mit dem Tausch überwanden die Menschen die engen Stammesgrenzen. „Aug' um Aug", „Zahn um Zahn" bändigte mit Hilfe des Gegenseitigkeitsprinzips die blinde Rachsucht. Die goldene Regel „Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg' auch keinem andern zu" war die Installation eines rücksichtsvollen Moralsystems. Die beitragsbezogene Sozialversicherung ist eine moderne Ausprägung des Gegenseitigkeitsprinzips. Sie gewährt nicht huldvoll Leistungen durch die Obrigkeit, sondern löst Ansprüche durch Vorleistung aus. Gegenseitigkeit ist damit auch ein Stabilisator des Leistungsprinzips und schützt den Sozialstaat vor Uberforderung. Denn wer mehr Leistung verlangt, muss höhere Beiträge zahlen. Da die
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Beitragsbelastung ihre Grenzen hat, gibt es auch eine eingebaute Grenze für Leistungsausweitung. Ein Sozialstaat, der sich nur auf die Bedürftigen konzentriert, bestraft Arbeit und Sparsamkeit. In seiner Logik liegt: „Versauf Dein Häuschen, bevor Du krank, alt oder pflegebedürftig wirst. Dann wird Dir geholfen." Fürsorge bleibt ein unverzichtbares Sozialprinzip. Denn von der Wiege bis zur Bahre sind wir eingebettet in asymmetrische Sozialverhältnisse. Fürsorge darf jedoch nicht das einzige Sozialprinzip bleiben. „Versuche nicht, ein soziales Problem durch Barmherzigkeit zu lösen, wenn Gerechtigkeit verlangt ist.". Das Prinzip der Äquivalenz ist ein Gerechtigkeitsprinzip. Es macht z.B. einen qualitativen Unterschied aus, ob Renten auf staatlicher Versorgung basieren oder auf selbst erarbeiteten Beitragsansprüchen beruhen. Mich stören die Versuche, den Sozialstaat auf einer tabula rasa neu zu errichten. Im Sozialstaat sind Ansprüche enthalten, die man nicht einfach annullieren kann, weil ganze Lebensplanungen damit verbunden sind. Beitragsansprüche haben einen eigentumsähnlichen Charakter. Deshalb wäre der Umbau eines Sozialstaates zu einem Fürsorgesystem die Neuerrichtung eines wohltätigen Untertanenstaates. Mein Sozialstaat ist das nicht. Die fortgesetzte Aufforderung zum „Ruck" ist eine verbale Kraftmeierei, die offenbar jede Bewegung schon für Fortschritt hält. Die Lösungen, die wir suchen, liegen zwischen Festhalten und Zerstören. Man reißt kein Haus ein, bevor man ein neues gebaut hat. Der Umbau ist deshalb dem Neubau vorzuziehen.
Der Ökonom als Politiker - Europa, Geld und die soziale Frage (hrsg. v. W. Hankel, Κ. A. Schachtschneider und J. Starbatty) © Lucius & Lucius, Stuttgart, 2003
Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik im Wandel Wolfgang Clement „Wege entstehen dadurch, dass man sie geht." Fran% Kafka
I.
Deutschland braucht Reformen
Das Jahr 2003 markiert einen Wendepunkt in der deutschen Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik. Die Bundesregierung hat die Stellschrauben neu justiert für eine Politik, die zu mehr Beschäftigung und Wachstum führen wird. Viel zu lange schon wurde versucht, diese notwendigen grundlegenden Veränderungen hinauszuzögern. Dadurch hat sich ein Reformstau aufgebaut, der endlich aufgelöst werden musste. Die strukturellen Probleme, die unserer Wirtschaft die Luft zum Atmen nehmen und sich immer gravierender als Wachstums- und Beschäftigungsbremse bemerkbar machen, mussten angegangen werden. Der Globalisierungsprozess und die demographische Entwicklung setzen neue Rahmendaten. Die Globalisierung drückt sich in einer weltweiten Zunahme insbesondere von Güter- und Kapitalströmen und einer zunehmenden Arbeitskräftewanderung aus. Diese Entwicklung ist vor allem auf die fortschreitende weltweite Öffnung der Märkte, sinkende Transportkosten sowie technischen Fortschritt in der Informations- und Kommunikationsindustrie zurückzuführen. Der intensivierte Güterhandel erhöht die Wahlmöglichkeiten der Konsumenten, verstärkt den Wettbewerb zwischen den Unternehmen und damit deren Anreiz, mit immer wieder neuen und besseren Produkten und Produktionsmethoden am Markt aufzutreten. Ebenso eröffnet die Globalisierung mobilen Produktions faktoren Standortalternativen. Das intensiviert den internationalen Wettbewerb und erhöht den Druck auf die einzelnen Volkswirtschaften, günstige Standortbedingungen zu schaffen. Falsche, d.h. die Standortattraktivität mindernde wirtschaftspolitische Weichenstellungen werden in Zeiten fortschreitender Globalisierung immer schneller spürbar. Durch die zunehmende internationale Arbeitsteilung verschieben sich langfristig die Produktionsstrukturen in den einzelnen Ländern. Für Deutschland bedeutet dies einen Wandel weg von arbeitsintensiven, bei uns relativ teuren Gütern und eine zunehmende Spezialisierung auf kapital- und wissensintensive Produkte. Von dieser strukturellen Verschiebung sind insbesondere niedrig qualifizierte Arbeitskräfte betroffen. Dieser Prozess ist in Deutschland längst in vollem Gan-
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ge, wie die zunehmende Verlagerung arbeitsintensiver Produktionen z.B. in die mittel- und osteuropäischen Länder und die steigende Arbeitslosenquote unter den gering Qualifizierten zeigen. Diese ist von 1975 bis 2000 von 6 auf etwa 20 Prozent gestiegen. Die zunehmende Alterung unserer Gesellschaft stellt darüber hinaus insbesondere unsere sozialen Sicherungssysteme vor große Herausforderungen. Es müssen Finanzierungsstrukturen gefunden werden, die bei einer alternden und schrumpfenden Bevölkerung nachhaltig sind. Nur so rechnen sich auch in Zukunft Investitionen in Deutschland und nur so können Arbeitsplätze in ausreichender Zahl entstehen. Darüber hinaus hat unsere Wirtschaft nach wie vor die finanzielle Belastung durch die deutsche Wiedervereinigung zu verkraften. Die Transfers in die neuen Bundesländer betragen jährlich vier Prozent des gesamtdeutschen Bruttoinlandsprodukts, sprich: über 80 Mrd. Euro. Diese einzigartige Herausforderung hat kein anderes Land in Europa zu meistern. Die nationale Wirtschaftspolitik braucht also große Gestaltungskraft, um wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen zu schaffen. All diese strukturellen Anforderungen müssen in einer schwierigen konjunkturellen Situation bewältigt werden. Der Absturz der Aktienkurse sowie die Bedrohungen durch Terrorismus und Krieg haben das Vertrauen von Konsumenten und Investoren weltweit geschwächt. Das deutsche Wirtschaftswachstum lag mit 0,2 Prozent in 2002 weit hinter den Erwartungen zurück. Für 2003 rechnet die Bundesregierung zwar mit einem geringen Wachstum des Bruttoinlandsprodukts, gleichwohl wird dies nicht ausreichen, um das derzeit drängendste Problem, die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit, deutlich zurückzuführen. Deshalb sind jetzt strukturelle Veränderungen notwendig. Dazu gibt es keine Alternative. Aber nicht nur die konjunkturelle Lage, sondern vor allem die längerfristige Wachstumsentwicklung in Deutschland gibt uns Anlass zum Handeln. Die durchschnittlichen jährlichen Wachstumsraten fielen von 8,9 Prozent in den 50er Jahren über 4,4 Prozent in den 60ern, 2,7 Prozent in den 70ern und 2,2 Prozent in den 80ern auf nur noch 1,5 Prozent in den 90er Jahren. Einen weiteren Aufschub der Reformen können wir uns daher nicht leisten, denn der Preis dafür wäre u.a. ein weiteres Absinken unseres Potentialwachstums, das bereits heute mit 1 V2 Prozent um 3Λ Prozentpunkte unter dem europäischen Durchschnitt liegt. In der Folge würde sich auch die Arbeitslosigkeit weiter erhöhen. Seit über zwei Jahrzehnten sind Millionen von Menschen in Deutschland arbeitslos. Mit jedem konjunkturellen Abschwung hat sich der Sockel der Arbeitslosigkeit erhöht. Experten schätzen die Gesamtzahl der Arbeitslosen — die stille Reserve eingerechnet - inzwischen auf 6 bis 7 Millionen Menschen. Jeder Tag, der taten-
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los verstreicht, macht es schwerer, die strukturellen Probleme nachhaltig zu lösen. Die Bundesregierung hat sich vorgenommen, die negative Spirale aus zu geringem Wirtschaftswachstum und zu hoher und verhärteter Arbeitslosigkeit zu durchbrechen. Ziel unserer Politik für Beschäftigung und Wachstum ist es, Deutschland bis zum Jahr 2010 wieder zur Vollbeschäftigung zu fuhren. Dies ist ein ehrgeiziges, aber kein unrealistisches Ziel. Es ist aber nur erreichbar, wenn alle bereit sind, grundlegende Veränderungen zu akzeptieren. Insbesondere muss es gelingen, die Effizienz unseres Wirtschaftssystems zu steigern, indem unnötige Regulierungen beseitigt werden, der Wettbewerb mehr Spielraum bekommt und die Märkte sich weiter öffnen können. Nur so werden Eigeninitiative und Unternehmergeist in Deutschland wieder gestärkt und mehr wirtschaftliche Dynamik erzeugt.
II.
Reformen für mehr Wachstum und Beschäftigung in Einklang mit sozialer Gerechtigkeit
Die bereits von der Bundesregierung umgesetzten wie auch die geplanten Strukturreformen („Agenda 2010") richten sich an dem Leitgedanken aus, Eigeninitiative und eigenverantwortliches Handeln des Einzelnen stärker in den Vordergrund zu rücken. Es muss eine neue Balance gefunden werden zwischen dem, was der Staat tun soll, und dem, was der Einzelne leisten muss. Das Verhältnis zwischen Eigenverantwortung, Kreativität und Risikobereitschaft auf der einen und Solidarität, sozialer Gerechtigkeit und ökologisch verantwortungsbewusstem Handeln auf der anderen Seite ist neu auszutarieren. Das bedeutet, mit neuem, kritischen Blick zu überprüfen, ob das, was der Staat per Gesetz und Verordnung regelt, nicht besser in der Verantwortung des einzelnen aufgehoben wäre, insbesondere wenn es Beschäftigung und Wachstum behindert. Dieses Prinzip verlangt auch, die soziale Dimension der Marktwirtschaft neu zu definieren und sie in einen deutlicheren Zusammenhang mit ihren Auswirkungen auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu stellen. An erster Stelle muss dabei die Einsicht stehen, dass es zurzeit nicht mehr um die Verteilung von Zuwächsen gehen kann. Im Gegenteil, manche Leistungen und Ansprüche, die durchaus einmal berechtigt gewesen sein mögen, müssen zurückgeschnitten werden, weil sich ihre Wirkungen mittlerweile als wirtschaftspolitisch kontraproduktiv erweisen. Sozialpolitik muss wieder produktiver werden. Eine so verstandene Reform unserer sozialstaatlichen Regelungen hat nichts mit Sozialabbau zu tun. Im Gegenteil, sie ist ein Beitrag zu mehr sozialer Gerechtigkeit. Ich halte es für sozial ungerecht, wenn einzelne Gruppen zu Lasten der anderen Bevölkerungskreise ihre Privilegien verteidigen. Es ist auch nicht sozial
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gerecht, wenn Millionen von Menschen in unserem Land von der Teilnahme am Arbeitsmarkt ausgeschlossen werden. Soziale Gerechtigkeit heißt nicht „Gleichmacherei", sondern Chancengleichheit und Solidarität. Daher setze ich mich dafür ein, dass alle Menschen in Deutschland die Chance bekommen, ihre Begabungen produktiv für die Gesellschaft einzusetzen. Jeder soll seinen Beitrag leisten können — niemand ist ohne irgendein Talent.
III.
Die Reformagenda
Die Bundesregierung setzt mit der Agenda 2010 für mehr Wachstum und Beschäftigung darauf, die Beteiligung am Arbeitsmarkt zu erhöhen, die Eigenverantwortung zu stärken, individuelle Bildungschancen zu verbessern und fur intergenerative Gerechtigkeit zu sorgen. Die einzelnen Reformmaßnahmen sind das Resultat eines Prozesses, in dem alle Vorschriften und Regelungen daraufhin überprüft wurden, ob sie sich beschäftigungsfördernd auswirken oder den Beschäftigungsaufbau behindern. Wir haben uns in jedem Einzelfall gefragt: Ist der jeweilige Schutzzweck der Regelung nach wie vor gerechtfertigt und wenn ja, ist diese Regelung tatsächlich geeignet, diesen Zweck zu erfüllen? So werden derzeit alle Regelungsbereiche wie mit einem Geigerzähler auf ihre Beschäftigungswirkung hin untersucht. Besonders stark fiel der Ausschlag bei Regelungen aus, die zwar die Arbeitsplatzbesitzer schützen, sich aber für diejenigen, die Arbeit suchen, als echtes Hindernis erweisen. Dies betrifft sowohl Teile des Arbeitsrechts wie auch des Handwerks- und Leistungsrechts. Sehr stark fiel auch die Reaktion bei den hohen Lohnnebenkosten aus, die aus der Funktionsweise unserer sozialen Sicherungssysteme resultieren. In allen betroffenen Bereichen setzen wir mit unseren konkreten Reformmaßnahmen an. Der Bundeskanzler hat in der „Agenda 2010" die notwendigen Reformschritte skizziert. Sie bildet ein konsistentes Gesamtpaket, das, wenn es vollständig und rasch umgesetzt wird, über sinkende Lohnnebenkosten, Impulse für Investitionen und Konsum, verbesserte Anreizmechanismen auf der Angebots- und Nachfrageseite des Arbeitsmarktes sowie das Fördern von Selbständigkeit und Eigeninitiative dazu beiträgt, das Wachstumspotenzial der deutschen Volkswirtschaft zu erhöhen und für mehr Beschäftigung zu sorgen. Unser Reformkonzept entspricht in vielen Punkten dem, was der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in seinem Jahresgutachten 2002/2003 als „20-Punkte-Programm für Beschäftigung und Wachstum" gefordert hat. Wir haben zügig mit der Umsetzung der Reformmaßnahmen begonnen, um nicht wertvolle Zeit zu verlieren.
Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik im Wandel
IV.
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Arbeitsmarktpolitik
Den Kernpunkt des Reformpaketes bildet die Arbeitsmarktpolitik. Der Schlüssel zur Belebung der Wachstumskräfte Hegt auf dem Arbeitsmarkt. Grundlage für die Arbeitsmarktreformen sind einerseits die Vorschläge der Hartz-Kommission, die vorrangig darauf abzielen, die Effizienz der Arbeitsvermittlung zu erhöhen, und andererseits die in der „Agenda 2010" genannten Maßnahmen, mit denen in erster Linie die Anreizbedingungen auf dem Arbeitsmarkt verbessert werden sollen. Zu Beginn des Jahres 2003 haben wir das erste und zweite Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt in Kraft gesetzt. Ziel der Gesetze, die auf den Vorschlägen der Hartz-Kommission basieren, ist es, die Effizienz der Arbeitsvermitdung zu steigern. Die schnelle Vermittlung zurück in den Arbeitsmarkt stellt sicher, dass Arbeitslose nicht durch langen Ausschluss vom Arbeitsmarkt wichtige Fähigkeiten und Kenntnisse verlieren. Denn dadurch sinken ihre Chancen auf Reintegration enorm. Sie trägt außerdem dazu bei, die Ausgaben der Arbeitslosenversicherung zu begrenzen. Außerdem haben wir mit dem Gesetzespaket über die neuen Mini- und Midi-Jobs das Potenzial des Niedriglohnsektors mobilisiert, die Zeitarbeit als Brücke in den Arbeitsmarkt gestärkt und mit der Ich-AG neue Wege in die Selbständigkeit eröffnet. All dies sind Maßnahmen, die zu mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt beitragen und den unterschiedlichen Fähigkeiten und Bedürfnissen der Menschen gerecht werden. Sie basieren auf dem Grundgedanken, dass Arbeit, und zwar auch in Form eines Minijobs oder einer Zeitarbeit, besser ist als Arbeitslosigkeit. Von der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe, die nicht nur Bestandteil der ,Agenda 2010" ist, sondern auch von der Hartz-Kommission vorgeschlagen wurde, erwarten wir wichtige Anreizeffekte zur Aufnahme einer regulären Beschäftigung im Niedriglohnbereich. Gleiches gilt auch für die in der „Agenda 2010" genannten verbesserten Möglichkeiten zum anrechnungsfreien Hinzuverdienst. Mit der Zusammenlegung dieser beiden parallel laufenden bedürftigkeitsabhängigen Transferleistungen wollen wir außerdem Ineffizienzen und „Verschiebebahnhöfe" beseitigen. Arbeitslosen- und Sozialhilfe definieren einen Anspruchslohn; er macht die Aufnahme einer geringer entlohnten Tätigkeit unattraktiv. Dies liegt daran, dass die Möglichkeiten, neben den Lohnersatzleistungen eigenes Einkommen zu erwirtschaften aufgrund der Anrechnungsmodalitäten sehr begrenzt sind. Die Transferentzugsrate, d.h. der Verzicht auf Unterstützungsleistungen pro zusätzlichem Euro selbst verdienten Einkommens, beläuft sich auf 80 bis 100 Prozent. Damit wird nahezu jeglicher Anreiz für einen Arbeitslosen, neben der Arbeitslosen- oder Sozialhilfe durch Arbeit zum eigenen Lebensunterhalt beizutragen, im Keim erstickt. Verbesserte Hinzuverdienstmöglichkeiten korrigieren diesen Fehlanreiz und können als Brücke in die Erwerbstätigkeit wirken.
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Über die Vorschläge der Hartz-Kommission hinausgehend sieht die ,Agenda 2010" eine verkürzte Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes vor. Damit wird auf verbesserte Anreize zur Aufnahme einer Arbeit abgezielt. Altere Leistungsempfänger sollen gleich zu Beginn der Arbeitslosigkeit aktiviert werden. Dies aus dem Gedanken heraus, dass die Eingliederungschancen dann am größten sind. Wir wollen außerdem der Tendenz entgegen wirken, dass das Arbeitslosengeld als Brücke in den Vorruhestand genutzt wird. Auf die Arbeitsleistungen der Alteren können wir - nicht zuletzt vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung - nicht verzichten. Die Begrenzung des Arbeitslosengeldbezuges bietet auch die Möglichkeit, die gesparten Ausgaben in Form von sinkenden Beitragssätzen der Arbeitslosenversicherung an Arbeitnehmer und Arbeitgeber zurückzugeben. Dadurch sinken die Lohnnebenkosten, was sich positiv für die Beschäftigung auswirken wird. Neben den Reformmaßnahmen auf der Arbeitsangebotsseite setzt die ,Agenda 2010" auch auf der Arbeitsnachfrageseite an. Die Maßnahmen haben zum Ziel, den Unternehmen einen flexibleren Personaleinsatz zu ermöglichen und ihre Planungssicherheit zu erhöhen. Dies lässt sich am Beispiel des Kündigungsschutzes anschaulich zeigen. Sinn und Zweck unseres Kündigungsschutzes ist es, Arbeitnehmer vor Willkür zu schützen und dazu beizutragen, dass Arbeitgeber durch Weiterbildung in ihre Arbeitnehmer investieren. Wie ein Januskopf hat der Kündigungsschutz aber auch ein zweites Gesicht. Denn er kann sich für diejenigen, die keine Arbeit haben, als Einstellungshindernis erweisen. Insbesondere kleine und mitdere Betriebe müssen befürchten, ihre Beschäftigtenzahl in Zeiten schlechterer Auftragslagen nicht schnell genug wieder reduzieren zu können und stellen daher zurückhaltend ein. Aus diesem Grund wollen wir die Regelungen zum Kündigungsschutz so ausbalancieren, dass sowohl für Arbeitsplatzsicherheit als auch für mehr Flexibilität und Rechtssicherheit gesorgt ist. Die gleiche Ambivalenz zeigt sich im Bereich der Sozialauswahl bei betriebsbedingten Kündigungen. Diese dient einerseits dazu, soziale Härten abzufedern, kann aber andererseits die Leistungsfähigkeit der Belegschaft schwächen und damit den Bestand des Betriebes als solchen gefährden. Daher sollten wir uns auf die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter und Unterhaltsverpflichtungen des Arbeitnehmers als Kriterien für die Sozialauswahl beschränken. Davon müssen dann Ausnahmen möglich sein, um auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten Leistungsträger weiter beschäftigen zu können. Mehr Flexibilität wird auch durch erleichterte Möglichkeiten zur befristeten Beschäftigung und erhöhte Planungssicherheit für Arbeitgeber und Arbeitnehmer durch eine wahlweise Abfindungsregelung bei betriebsbedingten Kündigungen geschaffen. Die Bundesregierung hat sich ihrer Verantwortung gestellt, beschäftigungsfördernde Rahmenbedingungen zu gestalten, indem sie diese arbeitsmarktpolitischen Reformschritte zügig umgesetzt hat. Gefordert sind aber auch die Tarif-
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partner. Sie haben es in der Hand, durch verantwortungsvolle Tarifpolitik den Nährboden für mehr Beschäftigung zu bereiten. Dazu zählt auch eine stärkere Bereitschaft, jenseits vom Flächentarifvertrag betriebliche Bündnisse zur Beschäftigungssicherung zu ermöglichen. Die Gegebenheiten in den verschiedenen Regionen, Branchen und Betrieben sowie die Qualifikationen der Arbeitnehmer variieren zu stark, als dass ein starrer, uniformer Tarifvertrag diesen unterschiedlichen Bedingungen in jedem Falle gerecht werden könnte. Die Tarifvertragsparteien haben darauf reagiert und sich z.B. im Juli 1999 im Rahmen des Bündnisses für Arbeit dazu bereit erklärt, tarifliche Wahl- und Ergänzungsmöglichkeiten, tarifvertragliche Korridore und Offnungsklauseln zu erweitern, um betriebs- und praxisnahe Regelungen von Flächentarifverträgen zu stärken. Die Bundesregierung erwartet, dass die Tarifpartner diese Zusage praxisgerecht einlösen. V.
Mittelstandspolitik
Für eine stärkere Wachstums- und Beschäftigungsdynamik sind Selbständigkeit und Eigeninitiative zentral. In Deutschland geht diese Dynamik vom Mittelstand aus, denn 99,7 Prozent aller Unternehmen in Deutschland sind mittelständisch. Hier liegt der Wachstums- und Beschäftigungsmotor der deutschen Wirtschaft. Daher spielt neben Reformen auf dem Arbeitsmarkt auch die Förderung des Mittelstandes eine zentrale Rolle in unserem Reformkonzept. Unsere Mittelstandsoffensive verbessert die Gründungsbedingungen für kleine und mitdere Unternehmen, endastet sie von Bürokratie, sichert ihre Finanzierung und stärkt Ausbildung und Innovation. Gründer und Kleinunternehmen werden mit den im „small business act" enthaltenen Maßnahmen unterstützt. Dazu gehören u.a. eine Anhebung der Umsatzgrenze, bis zu der die Unternehmen von der Umsatzsteuerpflicht befreit sind, sowie vereinfachte Buchführungspflichten. Erleichterten Zugang zu Finanzmitteln erhalten mittelständische Unternehmen durch die zur Mittelstandsbank des Bundes verschmolzenen Förderinstitute Kreditanstalt fiir Wiederauflau und Deutsche Ausgleichsbank, unter deren Dach alle Förderprogramme zusammengeführt werden. Alle finanzielle Unterstützung durch den Staat hilft jedoch nur beschränkt, wenn dieser die unternehmerische Initiative z.B. durch Genehmigungszwänge und zeitraubende Verwaltungsverfahren bremst. Daher muss durch Bürokratieabbau entschlossen für Abhilfe gesorgt werden. Zu diesem Zweck hat die Bundesregierung den Masterplan Bürokratieabbau ins Leben gerufen. Er zielt darauf ab, bürokratische Hemmnisse u.a. dadurch zu beseitigen, dass geltende Rechts- und Verwaltungsvorschriften vereinfacht bzw. abgeschafft, neue Vorschriften wirtschafts- und bürgerfreundlich gestaltet und Geschäftsprozesse der Bundesverwaltung durch Re-Organisation und IT-Einsatz optimiert werden. Er schließt
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auch den Abbau bestehender statistischer Meldepflichten ein, insbesondere durch ein stärkeres Nutzen vorhandener Verwaltungsdaten. Ein besonderes Hemmnis für eigeninitiatives und selbständiges Handeln stellen manche Bestimmungen in unserer Handwerksordnung dar. Ihre Reform bildet daher einen wichtigen Schritt zur Modernisierung unserer Wirtschaft. Eine Berufszugangsvoraussetzung wie der Meisterbrief ist nur für diejenigen Gewerke gerechtfertigt, von denen Gefahren für die Gesundheit oder das Leben Dritter ausgehen können. Gesellen, die über eine langjährige Berufserfahrung verfügen, sollen sich auch ohne zusätzliche Prüfung selbständig machen können. Für „einfache" Tätigkeiten ist keine Meisterprüfung notwendig. Das Inhaberprinzip, nach dem der Unternehmenseigner einen Meisterbrief haben muss, ist nicht mehr zeitgemäß. In einem ganz Europa umfassenden Markt führt der Meisterbrief als Berufszugangsvoraussetzung dazu, dass Inländer gegenüber Ausländern diskriminiert werden, die einem solchen Erfordernis nicht unterliegen. Er schränkt das Potenzial für neue Betriebsgründungen in unverhältnismäßig hohem Maße ein. Ich bin mir sicher, dass das deutsche Handwerk auch ohne den Zwang zur Meisterprüfung mit der gewohnt hohen Qualität arbeiten wird. Durch die Zulassungsfreiheit zahlreicher Gewerbe wird der Wettbewerb im Handwerk gestärkt. Das Angebot für die Verbraucher verbessert sich, insbesondere mit Blick auf kleinere Arbeiten, die unter der alten Regelung vielfach in Schwarzarbeit, Eigenleistung oder gar nicht erbracht wurden. Gerade in diesem Bereich besteht ein Potenzial für Neugründungen und für kleinere Handwerksbetriebe. Der erleichterte Berufszugang im Handwerk wird daher zu neuer Dynamik und zu mehr Arbeitsplätzen führen.
VI.
Märkte, Finanzen und Steuern
Was auf dem Markt für Handwerksleistungen richtig ist, ist auch auf anderen Märkten nicht falsch: Offenere und flexiblere Strukturen stärken den Wettbewerb. Er ist der beste Garant dafür, dass sich dynamische Wachstumskräfte entwickeln. Der Wettbewerb zwingt die Unternehmen dazu, ständig nach Neuem, Innovativem zu suchen, um sich Vorsprungsgewinne zu sichern. Daher müssen wir auch auf den Güter- und Kapitalmärkten weitere Schritte zur Marktöffnung machen. Im Energie- und Telekommunikationssektor sind weitgehend liberalisierte Strukturen realisiert, die den Verbrauchern bereits deutliche Vorteile verschafft haben. Dagegen besteht in anderen Bereichen, wie z.B. im Verkehrs-, Wasser- und Agrarsektor, noch Handlungsbedarf. Trotz der jetzt notwendigen Neuverschuldung bleibt es Ziel der Bundesregierung, durch Konsolidierung haushaltspolitischen Spielraum zurückzugewinnen,
Wirtschafte- und Arbeitsmarktpolitik im Wandel
103
um konjunkturgerechtes Reagieren zu ermöglichen und notwendige staatliche Investitionen tätigen zu können. In der Steuerpolitik zielen wir darauf ab, die Steuerbelastung von Bürgerinnen und Bürgern sowie Unternehmen weiter zu senken und Steuerschlupflöcher zu beseitigen. Mit dem Vorziehen der zweiten Steuerreformstufe 2005 sinkt der Eingangssteuersatz auf noch nie da gewesene 15 Prozent, der Spitzensteuersatz auf 42 Prozent. Eine gerechte und nachhaltige Politik erfordert es gleichzeitig, Subventionen abzubauen und keine neuen Subventionstatbestände einzuführen. Diesen Weg geht die Bundesregierung. VII.
Modernisierung und Erneuerung für den Standort Deutschland
Mit der Reformagenda der Bundesregierung eröffnen sich bei gleichzeitig besser werdenden gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen gute Chancen für die deutsche Wirtschaft. Das zügige Umsetzen der Reformen ist die Voraussetzung dafür, dass der Wirtschaftsstandort Deutschland auch in Zukunft wettbewerbsfähig bleibt. In der globalen Wissensgesellschaft können wir mit unseren althergebrachten Strukturen langfristig nicht mehr bestehen. Das Voranschreiten auf den alten, ausgetretenen Pfaden führt uns nicht mehr weiter. Wir müssen modernisieren und erneuern, um an dem Festhalten zu können, was uns wichtig ist: Wohlstand und Gerechtigkeit für alle Bürgerinnen und Bürger in unserem Land. Ich bin fest davon überzeugt, dass sich unser Reformkurs mittelfristig für uns alle auszahlen wird. Unsere Grundvoraussetzungen sind dabei sehr gut. Deutschland ist als größte Volkswirtschaft Europas zugleich auch der wichtigste Markt auf dem Kontinent. Mit der beschlossenen Osterweiterung der Europäischen Union um zehn weitere Mitglieder entsteht ein Binnenmarkt mit ca. 450 Millionen Einwohnern. Für Deutschland eröffnen sich hierdurch große Chancen. Die Stärke Deutschlands ist seine nach wie vor hohe Wettbewerbsfähigkeit. Diese beruht auf guten Rahmenbedingungen für die Ansiedlung von Investitionen: stabiles Preisniveau, niedrige Steuern, sozialer Frieden, vor allem aber gut ausgebildete Arbeitskräfte und eine Führungsposition in der technologischen Entwicklung. So hat sich Deutschland zu einem der wichtigsten Standorte für Unternehmen der Biotechnologie in Europa entwickelt. Auf diese Stärken wollen wir setzen und diese Standortvorteile weiter ausbauen. Dazu müssen wir unsere Chancen, die sich aus den Ausgangsbedingungen ergeben, entschlossen nutzen. Der eingeschlagene Reformkurs erfordert eine gewaltige Kraftanstrengung aller Akteure in Wirtschaft und Politik. Er verlangt uns ein großes Durchhaltevermögen ab, denn die über Jahrzehnte aufgestauten Proble-
104
Wolfgang Clement
me lassen sich nicht von heute auf morgen lösen. Aber zu unserem Reformkurs der Modernisierung und Erneuerung gibt es keine Alternative. Wir stehen alle in der Verantwortung, unseren individuellen Beitrag für die Modernisierung unserer Gesellschaft zu leisten, damit wir und die uns nachfolgenden Generationen auch in Zukunft von Wachstum, Wohlstand und sozialer Gerechtigkeit profitieren können.
Der Ökonom als Politiker - Europa, Geld und die soziale Frage (hrsg. v. W. Hankel, Κ. A. Schachtschneider und J. Starbatty) © Lucius & Lucius, Stuttgart, 2003
Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz und der Artikel 2 des EG-Vertrages - nicht mehr benutzte Instrumente für Wachstum und Beschäftigung Herbert Ehrenberg
Am 8. Juni 1967 wurde im Deutschen Bundestag das „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft" beschlossen. § 1 dieses Gesetzes schreibt vor: „Bund und Länder haben bei ihren wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu beachten. Die Maßnahmen sind so zu treffen, daß sie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum beitragen." § 2 schreibt dann einen Jahreswirtschaftsbericht vor; hervorzuheben sind außerdem die §§ 5 und 6, in denen eine antizyklische Haushaltspolitik bei Etataufstellung und ein antizyklischer Haushaltsvollzug vorgeschrieben werden. Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz als eine Art „Grundgesetz der Wirtschaftspolitik" wurde mitten in der ersten Rezession der Nachkriegszeit verabschiedet. Das Gegeneinanderwirken der Geld- und Kreditpolitik und der Wirtschafts- und Finanzpolitik seit dem Winter 1965/66 hatten im September 1966 zu rückläufiger Industrieproduktion und steigenden Erwerbslosenzahlen geführt, und diese gleich unerfreulichen Entwicklungen setzten sich von Monat zu Monat fort. Wie groß der Rückschlag war, wurde am treffendsten im Jahresgutachten 1967/68 des Sachverständigenrates beschrieben. Dort hieß es: „Derart scharf und umfassend wie in der Bundesrepublik zwischen Herbst 1966 und Frühjahr 1967 ist nach dem Zweiten Weltkrieg die Nachfrage noch in keinem der großen westeuropäischen Industrieländer zurückgegangen. Während der Abschwungphase der vorangegangenen drei Wachstumszyklen wurde in der Bundesrepublik zwar in einzelnen Bereichen die Produktion gedrosselt; im Ganzen aber hatte sich lediglich das Expansionstempo abgeschwächt. Im ersten Halbjahr 1967 lag das reale Bruttosozialprodukt, das bereits im zweiten Halbjahr 1966 nicht mehr gewachsen war, um fast 2 v.H. unter dem entsprechenden Vorjahresstand. Im Spätsommer 1967 unterschritt die Industrieproduktion noch den vergleichbaren Stand von 1965. Im ersten Halbjahr 1967 waren bei den Arbeits-
106
Herbert Ehrenberg
ämtern fast 300.000 mehr Arbeitslose gemeldet als ein Jahr zuvor."1 Bundeswirtschaftsminister Professor Karl Schiller war schon für den wirtschaftspolitischen Teil der Regierungserklärung vom 13. Dezember 1966 verantwortlich; die dort angekündigte neue Wirtschaftspolitik stiess freilich weitgehend auf Unverständnis. Es fehlten auch die gesetzlichen Voraussetzungen, das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz war noch in den Beratungen, doch es musste vorher begonnen werden. Darum wurde die Erarbeitung der Instrumente zur Uberwindung der Konjunkturflaute und zur Sicherung eines gleichgewichtigen Wachstums unverzüglich aufgenommen. Bereits im Februar 1967 legte der Bundeswirtschaftsminister eine Zielprojektion für 1967 vor. Im Mai 1967 stimmte das Wirtschaftskabinett der mittelfristigen Zielprojektion bis 1971 zu. In dieser Projektion wurde angestrebt, auf der Grundlage eines realen wirtschaftlichen Wachstums von vier Prozent bis 1971 des Zieldreieck des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes zu realisieren. Dabei wurden in dieser Zielprojektion folgende Daten festgelegt: •
Stabilität des Preisniveaus ist erreicht bei einer Veränderung des Preisniveaus von jährlich ein Prozent,
•
Vollbeschäftigung bei einer Arbeitslosenquote von 0.8 Prozent,
•
Außenhandelsgleichgewicht bei einem Außenbeitrag von einem Prozent.
Erstmalig wurden damit in der Bundesrepublik für das berühmte „magische Dreieck" verbindliche Daten gesetzt, die von der Wirtschaftspolitik gleichzeitig und gleichmäßig anzustreben sind. Um diese Zielprojektion zu realisieren, wurde in einem bei der Bürokratie ungewohnten Tempo ein umfassendes Konjunkturund Strukturprogramm des Bundes vorbereitet. Bereits am 19. Januar beschloss das Kabinett einen Eventualhaushalt für zusätzliche öffentliche Investitionen in Höhe von 2,5 Mrd. DM. Doch während der Sachverständigenrat im Frühjahr 1967 dringend ein zweites Konjunkturprogramm forderte, hielt die Bundesbank weitere zusätzliche öffentliche Investitionen nicht für notwendig. Doch am 12. April 1967 erfolgte auf Grund der Initiative des Bundeswirtschaftsministers der Kabinettsbeschluss über die vorsorgliche Vorbereitung eines zweiten Konjunktur- und Strukturprogramms. Dieses Programm wurde mit einem Investitionsvolumen von 5,3 Mrd. DM angesetzt und als gemeinsames Programm des Bundes, der Länder und Gemeinden am 13. August 1967 vom Konjunkturrat gebilligt. Der Deutsche Bundestag verabschiedete das zweite Investitions- und Strukturprogramm am
1 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 1967/68, „Stabilität im Wachstum", S. 1.
Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz
107
6./8. September. Mit diesem Programm wurde insgesamt ein Investitionsvolumen von mehr als 10 Mrd. DM mobilisiert. Die Grundlinien dieses Konzeptes waren von Karl Schiller und Klaus Dieter Arndt bereits auf der wirtschaftspolitischen Tagung der SPD vom 3. bis 5. Oktober 1963 in Essen vorgetragen worden. Schillers Leitformel: „Die dreifache Kombination von dynamischer Marktwirtschaft, monetärer und fiskalischer Globalsteuerung und Wohlfahrtspolitik hat sich als diejenige Lösung erwiesen, die sich auf der Höhe der Zeit befindet. Und im Sinne dieser Kombination, die dem Markte gibt, was des Marktes ist, nämlich die eigenverantwortliche, wettbewerbliche Regelung der einzelwirtschaftlichen Beziehungen, und die dem Staate gibt, was des Staates ist, nämlich die Verantwortlichkeit für die gesamtwirtschaftlichen Aufgaben, im Sinne dieser Kombination müssen wir auch in Zukunft vorgehen."2 Auf der gleichen Tagung legte Klaus Dieter Arndt dar, dass es bei entsprechender Anwendung des von der modernen Theorie zur Verfügung gestellten wirtschaftspolitischen Instrumentariums möglich ist, •
das „magische Dreieck" zu einem „Viereck" zu erweitern, indem den drei bekannten Komponenten das Ziel „gerechte Einkommens- und Vermögensverteilung" hinzugefügt wird und
•
dass diese vier Ziele miteinander realisierbar sind, wenn eine entsprechende Koordination der Wirtschafts- und Finanzpolitik bei langfristiger Rahmenplanung stattfindet.
I.
Beschäftigungserfolge der Antizyklik
Das Investitionsprogramm von 1967 brachte große beschäftigungspolitische Erfolge. Von 1967 bis 1970 stieg die Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer von 21,1 auf 22,2 Millionen, die Arbeitslosenzahl ging von 459.000 auf 149.000 zurück3. Es wurde aber nicht „Wachstumspolitik um jeden Preis" betrieben, sondern stets an ein gleichgewichtiges Wachstum gedacht. Auch die beiden Investitionsprogramme wurden gezielt zur Strukturverbesserung eingesetzt. Allein von den rund 10 Mrd. DM zusätzlicher öffentlicher Investitionen, die mit dem zweiten Konjunkturprogramm ausgelöst wurden, entfielen 2,2 Mrd. DM auf das Zo„Stabilität und Aufstieg", Wirtschaftspolitische Tagung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 3. bis 5. Oktober 1963 im Städtischen Saalbau, Essen, Seiten 33 und 141 ff. 2
Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, „Statistisches Taschenbuch 1950-1990", Tabellen 2.5 , 2.10 und 1,5. 3
108
Herbert Ehrenberg
nenrandgebiet und die Bundesausbaugebiete. Im Juli 1968 hatte das Kabinett außerdem nach der Vorlage des Bundeswirtschaftsministers ein Strukturprogramm „Ruhr-Saar-Zonenrandgebiet-Zonenausbaugebiete und -orte" beschlossen, mit dem in den Jahren 1968 bis 70 ein Investitionsvolumen von rund I,3 Mrd. DM zur Verbesserung der Infrastruktur in den wirtschaftsschwachen Regionen mobilisiert wurde. Zusammen mit den Investitionen von rund 640 Millionen DM aus dem im Frühjahr 1968 beschlossenen ERP-Sonderprogramm wurden also bis 1970 Investitionen zur Verbesserung der Infrastruktur in den wirtschaftsschwachen Regionen in Höhe von rund 2 Mrd. DM mobilisiert. Und trotz der in den Jahren 1967 undl968 zusätzlichen Nettokreditaufnahmen von 6,6 und 5,8 Millionen DM hatte der Bund in den Jahren 1969 und 1970 wieder einen positiven Finanzierungssaldo. II.
Erste Ölpreiskrise
Die von den OPEC-Staaten 1973/74 inszenierte Ölpreiskrise führte 1975 zu dem ersten Wachstums- und Beschäftigungseinbruch nach der hausgemachten Krise 1966/67. Das reale Bruttoinlandsprodukt ging um 1,4 Prozent zurück, die Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer sank auf 22,5 Millionen, die Arbeitslosenzahl stieg auf 1.074.000, die höchste Zahl seit 1955. Drastische Verknappung und entsprechende Verteuerungen des (kurzfristig) unersetzbaren Faktors Mineralöl führten zu weltweiten wirtschaftlichen Verwerfungen mit harten Beschäftigungseinbrüchen. Nach anfanglichem Zögern übernahm die Bundesregierung die auf den Weltwirtschaftsgipfeln dem „Modell Deutschland" zugewiesene Rolle als „Konjunkturlokomotive". Das 16-Milliarden-Zukunftsprogramm öffentlicher Investitionen und eine Reihe weiterer zusätzlicher Maßnahmen im Rahmen einer antizyklischen Haushaltspolitik führten bis 1980 zu einem Anstieg der Beschäftigtenzahl um 1,4 auf 23,9 Millionen. Die Arbeitslosenzahl verminderte sich allerdings „nur" auf 889.000 (Arbeitslosenquote 3,8 Prozent). Starke Schulabgangsjahrgänge und genereller Anstieg der Zahl der Erwerbspersonen und der Erwerbsquote erklären die große Differenz. Der sozialdemokratischen Wirtschaftspolitik wurde für diesen Zeitraum bescheinigt, dass sich „die in der Bundesrepublik ungeliebte Lokomotivstrategie als ein brillanter, seitdem nicht wiederholter Erfolg erwiesen" hatte.4 Der Einsatz des heute so gerne geschmähten Keynesschen Instrumentariums hatte fast lehrbuchartig gewirkt - doch dann kam die zweite Ölpreiskrise. Trotz der erfolgreichen Lokomotivrolle der Bundesrepublik bei der Bekämpfung der Scharpf, F., „Sozialdemokratische Krisenpolitik in Europa", Frankfurt/New York 1987, S. 185.
4
Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz
109
Beschäftigungsfolgen der ersten Ölpreiskrise gab es keine vergleichbaren Reaktionen gegenüber der zweiten Verteuerungswelle der Ölkartells. Statt des wirtschafts- und finanzpolitischen Gegensteuerns durch zusätzliche öffentliche Investitionen gab es prozyklische Sparaktionen, obwohl jetzt ein dramatischer Anstieg der Arbeitslosenzahl stattfand. Monetarismus und Angebotstheorie hatten von den USA und Großbritannien ausgehend auch Mitteleuropa erreicht, in der Bundesrepublik paarten sie sich mit massiver Sozialstaatskritik. III.
Wir brauchen eine Renaissance des Soziaistaates
Drei Jahrzehnte lang entwickelte sich die Bundesrepublik in einer marktwirtschaftlichen Ordnung mit strenger Sozialbindung, der positive Produktionsfaktor „Sozialstaat" gab dem Standort Deutschland einen Vorsprung vor vielen seiner Handelspartner. Die Bundesrepublik Deutschland galt weltweit als Vorbild ökonomischer Effizienz und sozialer Stabilität. Dann kamen mit „Reaganomics" und „Thatcherismus" aus Kalifornien und Großbritannien neue Heilslehren nach Mitteleuropa. Monetaristen und Angebotspolitiker haben es geschafft, antizyklische Finanzpolitik und wirtschaftspolitische Globalsteuerung als keynesianische „Rezepte von gestern" zu diskriminieren und in den meisten Staaten Europas die politischen Entscheidungen auf Verbesserung der Angebotsbedingungen zu konzentrieren. Die beschäftigungspolitischen Misserfolge dieser Politik wurden ignoriert oder schöngeredet, ständige Hinweise auf den globalisierten Wettbewerb und bessere Standortbedingungen in Billiglohnländern dienten zugleich als Drohungen gegen gewerkschaftliche Lohnforderungen und Begründungen für den Ruf nach weiteren Senkungen der Unternehmenssteuern und Kürzungen sozialer Leistungen plus Abbau von Arbeitnehmerrechten. Dieser mit dem Sieg der „konservativen Konterrevolution in der Wirtschaftspolitik"5 eingeleitete WetÜauf um den Sozialabbau bekam in den neunziger Jahren in Deutschland eine neue Variante. Es scheint, dass mit dem Wegfall der „Bedrohung durch den realen Sozialismus" ein Teil der politischen und unternehmerischen Klasse glaubt, auf die Sozialbindung der Marktwirtschaft verzichten zu können. Dies ist ein politischer und ökonomischer Irrtum: Aus sozialen und ökonomischen Gründen muss der Sozialstaat erhalten werden, kurzfristige Aktiengewinne gewährleisten keine Produktivität; die wird vor allem von der Motivation der Mitarbeiter und klugem Management bestimmt. Beides James Tobin, „Die konservative Konterrevolution in der Wirtschaftspolitik", in: „Der österreichische Weg aus der Weltwirtschaftskrise", herausgegeben von der SPÖ, Wien 1982, S. 223 ff. 5
110
Herbert Ehrenberg
ist immer noch in Deutschland vorhanden, aber mit sinkender Tendenz. Präsidenten der Spitzenverbände und dem „shareholder-value-Idol" nachjagende Manager geben sich viel Mühe, diese Abwärtsentwicklung zu forcieren. Ein Vergleich der ökonomischen Daten in den letzten drei Jahrzehnten6 zeigt die für Wohlstand und Beschäftigung verheerende Wirkung der konservativen Konterrevolution: In den siebziger Jahren hatte die Bundesrepublik einen Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von
105,6 %
die Bruttoanlageinvestitionen erhöhten sich um
75,1 %
die öffentlichen Investitionen um
53,1 %
die Unternehmens- und Vermögenseinkommen stiegen brutto um
70,4 %
netto um
63,6 %
und die Lohn- und Gehaltssumme brutto um netto um Die Arbeitslosenquote lag 1979 bei
112,3 % 98,0 % 3,8 %
In den achtziger Jahren hatte die Bundesrepublik einen Zuwachs des BIP von
51,1 %
die Bruttoanlageinvestitionen erhöhten sich um
35,1 %
die öffentlichen Investitionen gingen zurück um
- 1,6 %
die Unternehmens- und Vermögenseinkommen stiegen brutto um
87,2 %
netto um
98,6 %
und die Lohn- und Gehaltssumme stieg brutto um
39,9 %
netto um
32,7 %
Die Arbeitslosenquote lag 1989 bei
7,9 %
Quellen: Statistisches Bundesamt, Erste Ergebnisse der Inlandsproduktsberechnung Jan. 2003 und Jan. 1999. BMA, „Statistisches Taschenbuch", 2002 und 1950-1990. VDR, „Rentenversicherung in Zahlen" 1993 und 2001. Deutsche Bundesbank, „Ergebnisse der gesamtwirtschaftlichen Finanzierungsrechnung für Deutschland", 1991 bis 2000. Monatsberichte April 2003 und November 1982. 6
Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz
111
Von 1991 bis 2000 hatte die Bundesrepublik einen Zuwachs des BIP von
35,1 %
die Bruttoanlageinvestitionen erhöhten sich um
21,7 %
die öffentlichen Investitionen sanken um
- 10,0 %
die Unternehmens- und Vermögenseinkommen stiegen brutto um
29,7 %
netto um
27,1 %
und die Lohn- und Gehaltssumme stieg brutto um
27,4 %
netto um
18,4%
Die Arbeitslosenquote lag 2000 bei
10,7 %
Die realen Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts stiegen im Zehnjahresdurchschnitt in den •
siebziger Jahren um 3,0
•
in den achtziger Jahren um 1,8 und
•
von 1991 bis 2000 um 1,5 Prozent.
Für Arbeitnehmer wird bei Berücksichtigung der Kaufkraftentwertung daraus ein Anstieg der Nettorealverdienste •
in den siebziger Jahren von
20,6 %
•
in den achtziger Jahren von
1,7 %
•
und von 1991 bis 2000 von
2,7 %
Nach den Wachstums- und beschäftigungspolitischen Rezepten des Neoliberalismus •
strikte Lohnzurückhaltung,
•
Kürzung öffentlicher Leistungen und
•
Steuersenkungen für Unternehmen
hätte es in den achtziger und neunziger Jahren einen Wachstums- und Beschäftigungsboom geben müssen, alle Komponenten der wirtschaftlichen Ent-
112
Herbert Ehrenberg
wicklung zeigten eine Übererfüllung der angebotspolitischen Forderungen, in den siebziger Jahren umgekehrt. Die Nettolöhne und Gehälter lagen in den siebziger Jahren im Wachstum um 1/3 höher als die Unternehmens- und Vermögenseinkommen, in den Achtzigern blieben sie um das Dreifache zurück. Von 1991 bis 2000 lag der Anstieg der Unternehmenseinkommen um fast 1/3 höher als bei den Löhnen. Das wirtschaftliche Wachstum und die Beschäftigung richteten sich aber nicht nach den Formeln der Angebotstheorie, sie bewegten sich umgekehrt. Die beste Entwicklung bei Wachstum und Beschäftigung gab es mit kräftig steigenden Löhnen, das überproportionale Ansteigen der Unternehmer- und Vermögenseinkommen wirkte auf die wirtschaftliche Entwicklung destabilisierend. Parallel zur Lohnentwicklung entwickelte sich in diesen drei Jahrzehnten auch die Renten- und Sozialhilfeanpassung: •
In den siebziger Jahren erhöhten sich die Standardrenten nach 45 Versicherungsjahren um 115,4 %,
•
in den achtziger Jahren um 40,2 % und
•
von 1991 bis 2000 um 17,2 in den alten und um 100,2 % in den neuen Bundesländern.
Der Regelsatz für die Hilfe zum Lebensunterhalt erhöhte sich in den drei Zeiträumen um 102,0 %, 35,2 % und 21,0 %. Der Preisindex für die Lebenshaltung aller Verbraucher erhöhte sich •
in den siebziger Jahren um 55.7 %,
•
in den achtziger Jahren um 25,9 %,
•
von 1991 bis 2000 um 22,6 %.
In den siebziger Jahren nahmen alle Bevölkerungsgruppen am steigenden Wohlstand teil, Arbeitnehmer und Sozialleistungsempfanger mehr als die Bezieher von Unternehmenseinkommen. In den achtziger Jahren hatten die Arbeitnehmer real kaum noch Zuwachs, bei den Renten und bei der Sozialhilfe war es ein wenig besser. Von 1991 bis 2000 hatten dann Arbeitnehmer und Rentenempfänger dicke reale Verluste bei kräftigem Anstieg der Unternehmens- und Vermögens einkommen. IV.
Beschäftigungspolitische Lehren
Schon die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der letzten drei Jahrzehnte gibt Auskunft über geeignete und nicht geeignete beschäftigungspolitische Instru-
Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz
113
mente. Noch deutlicher wird dies, wenn man das letzte Jahrzehnt in drei Abschnitte unterteilt. Beginnen wir mit dem beschäftigungspolitischen Flop des Standortsicherungsgesetzes. Mit diesem Gesetz wurden ab 1.1.1994 die Körperschaftssteuer von 50 auf 45 und der Spitzensteuersatz für gewerbliche Einkommen von 53 auf 47 Prozent gesenkt, gleichzeitig trat ein Sparpaket mit Kürzungen öffentlicher Leistungen von 21 Mrd. DM in Kraft. Als die versprochenen Erfolge sich nicht einstellten, folgte das Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung. Es enthielt die gleiche Maßnahmenkombination aus Senkungen von Unternehmenssteuern und Kürzungen sozialer Leistungen, doch die sozialen Einschnitte waren härter. Gipfelpunkt: Die Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auf 80 Prozent. Gleichzeitig wurde die Vermögenssteuer ab 1.1.1997 gestrichen.7 Die Beschäftigung aber reagierte nicht nach der neoliberalen Vorgabe. Von 1993 bis 1997 gab es einen Rückgang der beschäftigten Arbeitnehmer um knapp 400.000 und die registrierte Arbeitslosigkeit stieg von 3,4 auf 4,4 Millionen. Die Nettorealverdienste der Arbeitnehmer gingen in diesem Zeitraum um 7,7 Prozent zurück. Die stets beklagten Lohnnebenkosten haben unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit nicht beeinträchtigt, der Außenhandelssaldo stieg von 60,3 auf 116,5 Mrd. DM. 1998 wurde die aktive Arbeitsmarktpolitik kräftig erhöht, die öffentlichen Investitionen erhöhten sich vom Tiefstand 1997 bis 2000 um 4,2 Prozent, die Arbeitslosenzahl ging auf 3,9 Millionen zurück. Ab 1998 veränderten sich die realen Lohnzuwächse ins Positive. Der Anstieg der Nettorealverdienste betrug bis 2000 1,7 Prozent. Der Versuch einer Kombination aus Nachfrage- und Angebotspolitik zeigte erste Früchte, die Wiedereinführung der Lohnfortzahlung und das volle Krankengeld stärkten die Kaufkraft bei den Arbeitnehmern. Dann kam die Steuerreform. Im Jahre 2000 betrug das Bruttoinlandsprodukt 2.030 Mrd. Euro, um bis 2002 auf 2.108 Mrd. zu steigen. Die gemeinschaftlichen Steuern betrugen 436 Mrd.., sie wurden mit der Steuerreform auf 414,0 Mrd. (5,1 Prozent) Euro gesenkt. Diese Verringerung des Steueraufkommens gegenüber dem Bruttoinlandsprodukt (plus 3,9 %) war aber bei den einzelnen Steuerarten sehr unterschiedlich8: •
7
Die Lohnsteuer sank um 2,6 % auf 132,2 Mrd.,
Vgl. Herbert Ehrenberg, „Die große Standortlüge", Bonn 1997, S. 24 ff.
Monatsberichte der Deutschen Bundesbank, April 2002, Tabelle VIII/5 und 6, Tabelle IX/5 und 8.
8
114
Herbert Ehrenberg
•
die veranlagte Einkommensteuer um 38,5 % auf 7,5 Mrd. und
•
die Körperschaftssteuer um 87,7 % auf 2,9 Mrd. Euro,
•
die Kapitalertragssteuern erhöhten sich um 7,7 % auf 22,5 Mrd. Euro,
•
die Umsatzsteuern sanken um 1,9 % auf 138,2 Mrd. Euro, aber
•
die Mineralölsteuer erhöhte sich um 11,5 % auf 42,2 Mrd.,
•
die Tabaksteuer um 20 % auf 13,8 Mrd. und
•
die Stromsteuer um 51,9 % auf 5,1 Mrd. Euro.
Von 2000 bis 2002 gab es massive Rückgänge bei den gemeinschaftlichen Steuern (exorbitant bei der Körperschaftssteuer, aber auch bei der veranlagten Einkommensteuer), kräftige Zuwächse bei den „reinen Bundessteuern", kaum Bewegung bei den „reinen Ländersteuern". Gekniffen waren die Kommunen. Wenig Bewegung bei den Grundsteuern, aber ein Rückgang bei der Gewerbesteuer um etwa 18 Prozent auf 22,5 Mrd. Euro (das letzte Quartal 2002 liegt noch nicht vor). Die damit verbundene Schwächung der Gemeindefinanzen trug wesentlich zum Rückgang der öffentlichen Investitionen bei, die 2002 mit 33,7 Mrd. Euro den niedrigsten Stand seit der deutschen Einheit erreichten (1992 47 Mrd. Euro). Aber auch die Bruttoanlageinvestitionen der Unternehmen gingen 2001 um 22,5 Mrd. auf 416,3 Mrd. Euro zurück, 2002 nochmals um 26 Mrd. Euro, obwohl die Unternehmens- und Vermögenseinkommen 2002 um 4,2 Prozent gestiegen waren, die Arbeitnehmerentgelte (einschl. der Lohnnebenkosten) nur um 1 Prozent. Wie schon das Standortsicherungsgesetz gezeigt hat, bringen Steuersenkungen allein keinen Wirtschaftsaufschwung, es muss eine Verbesserung der Nachfrage hinzukommen. Daran mangelt es zur Zeit im privaten und öffentlichen Bereich. Die Einzelhandelsumsätze, die 2001 (preisbereinigt) um 0,2 Prozent gestiegen waren, zeigen für 2002 einen Rückgang um 2,2 Prozent. Die Sparquote, die in den konjunkturell besseren Jahren 1999 und 2000 bei 9,8 Prozent gelegen hatte, stieg über 10,1 auf 10,4 Prozent im Jahre 2002, den höchsten Wert seit 1996. Für das erste Quartal 2003 meldet das DIW einen Anstieg auf 10,5 Prozent. Für private Investitionen fehlt es an Nachfrage, bei öffentlichen Investitionen vor allem an Geld bei den Städten und Gemeinden, auf die etwa zwei Drittel der öffentlichen Investitionen entfallen. Doch öffentliche Investitionen sind immer noch der zuverlässigste Hebel, um wirksame Beschäftigungseffekte auszulösen, und niemand kann widerlegen, dass zusätzliche Infrastrukturinvestitionen zu mehr Aufträgen im Maschinenbau, in der Meß- und Regeltechnik, bei Nutzfahrzeugen und vor allem in der Bauwirtschaft führen.
Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz
115
Das von der Bundesregierung vorgesehene zinsverbilligte Investitionsprogramm liegt hier richtig, aber die Kreditfähigkeit der Kommunen ist längst überschritten. Der Bund könnte hier kurzfristig helfen, indem er die seit 1988 bestehende Einschränkung der Verwendung des Bundesbankgewinns aussetzt. 7 Mrd. DM bzw. 3,5 Mrd. Euro dürfen in den Haushalt eingestellt werden, der Rest wird zur Schuldentilgung verwendet. Auch der zur Tilgung des Erblastenfonds bestimmte Rest (2002 1,9 Mrd. Euro) gehört in den Bundeshaushalt. V.
Widerlegung der angebotspolitischen Irrlehren
Zwei Jahrzehnte angebotspolitischer Diskussion und entsprechendes Handeln — mit Ausnahme der Jahre 1998-2000 — haben die Bundesrepublik Deutschland verändert, der Sozialstaatsauftrag des Grundgesetzes wurde ignoriert oder sogar in Frage gestellt. Parallel zu der seit Jahrzehnten auf den Menschen lastenden Arbeitsplatzlücke vermehrte sich die Zahl der Sozialhilfe- und Arbeitslosenhilfeempfänger; 2001 waren es 4,2 Millionen9 bzw. 5,1 Prozent der Bevölkerung, die nach Überprüfung ihrer eigenen und der Einkommensverhältnisse unterhaltsverpflichteter Verwandten von den Sozial- bzw. Arbeitsämtern Unterstützungen erhielten. Davon können sie leben, aber doch sehr am Rande der Gesellschaft. 1980 waren 973.000 (1,6 Prozent der Bevölkerung) in dieser Situation. Das reale Bruttoinlandsprodukt ist aber in den letzten zwei Jahrzehnten — mit Ausnahme der Jahre 1982 und 1993 - ständig gewachsen. Damit entspricht es der ökonomischen Logik, in dieser mehr als Vervierfachung der Zahl der Sozialund Arbeitslosenhilfeempfänger vor allem eine Frage der Verteilung, nicht der Höhe des Volkseinkommens zu sehen. Ökonomische Logik ist freilich mit dem Siegeszug der „konservativen Konterrevolution in der Wirtschaftspolitik" und dem damit korrespondierenden Absolutheitsanspruch des „deformierten Neoliberalismus" ins Abseits geraten. Aber der Absolutheitsanspruch der neoliberalen Angebotspolitik hat nicht nur in der Arbeitslosen- und Sozialhilfestatistik seine Spuren hinterlassen, sondern auch in den Köpfen der Menschen. Die Vorherrschaft der angebotsorientierten MikroÖkonomen auf den wirtschaftswissenschaftlichen Lehrstühlen, in den Verbänden der Wirtschaft und den „volkswirtschaftlichen" Abteilungen der Banken sowie in der Wirtschafts- und Finanzpolitik hat sich weitgehend durchgesetzt, vor allem in den Haushaltsausschüssen der Parlamente. Besonders deutlich wird dies bei den Lohnnebenkosten und dem Jammern um die zu hohe Abgabenquote. Der neoliberale Zeitgeist fordert seit Jahrzehnten eine Absenkung der LohnneBundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Statistisches Taschenbuch 2002, Tab. 814 und 816 und Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes vom 21. August 2002. 9
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benkosten, doch die Größenordnung ist unklar. Der BDI geht 2001 für Westdeutschland von 81 Prozent der Direktentgelte aus, für Ostdeutschland von 70 Prozent. Im Jahreswirtschaftsbericht 2003 werden 41,3 Prozent Beitragssätze zur Sozialversicherung auf die Bruttolöhne und -gehälter für 2002 angeführt.10 Beide Angaben wecken Mißtrauen. Der BDI hat schon 1995 erklärt: „Auf jeden 100-DM-Schein, den Sie für Ihre Arbeitsleistung bekommen, legte die Firma 1994 weitere 80,20 DM an Personalzusatzkosten drauf." Daran hat sich 2001 kaum etwas geändert, nur für Ostdeutschland werden jetzt 70 Prozent ausgewiesen. Doch dort betrug die Arbeitslosenquote 17,7 gegenüber 7,7 Prozent in Westdeutschland.11 Im Jahreswirtschaftsbericht werden die amtlichen Beitragssätze auf die Bruttolöhne bezogen, ohne zu berücksichtigen, dass es in der Sozialversicherung Beitragsbemessungsgrenzen gibt. Diese lagen 2002 in der Renten- und Arbeitslosenversicherung in Westdeutschland bei 4.500 Euro monatlich, in Ostdeutschland bei 3.750 Euro, in der Krankenversicherung generell bei 3.375 Euro.12 Das monatliche Durchschnittseinkommen der 34,6 Millionen Arbeitnehmer lag bei 2.200 Euro.13 Wieviel die Sozialbeiträge, bezogen auf die Bruttolöhne und gehälter ausmachen, ergibt sich aus keiner Statistik. Doch es dürften reichlich weniger sein als 41,3 Prozent. Auch beim Jammern über die Abgabenquote lohnt sich ein Blick in die Statistik. Unter zwanzig OECD-Staaten belegten wir den 8. Platz von unten, unter den 15 EU-Staaten den 4. Platz. Unter den 15 EU-Staaten hatten nur Irland, Portugal und Spanien niedrigere Abgabenquoten.14 Die deutsche Finanzstatistik weist für 2001 39,1 Prozent Abgabenquote aus, von 1976 bis 1982 schwankten die Abgabenquoten zwischen 39,3 und 39,8 Prozent. Trotz der Kosten der Deutschen Einheit hatten wir 2001 leicht niedrigere Abgabenquoten als in der zweiten Hälfte der 70er Jahre.
10
Jahreswirtschaftsbericht 2003, Schaubild 8.
11 Institutsverlag, Köln: „Kosten, die keiner kennt", 1995 und BDI, „Für ein attraktives Deutschland", Berlin, 20. Januar 2003. 12
BMA, „Statistisches Taschenbuch 2002", Tabelle 7.8.
13 Statistisches Bundesamt, „Erste Ergebnisse der Inlandsproduktsberechnung", Jan. 2003, S. 13.
•4 Monatsbericht des BMF, April 2003, Tabelle 8 und 14.
Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz
VI.
117
Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz wieder anwenden
Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz half uns die Rezession von 1967 zu überwinden und leistete auch nach dem Konjunktureinbruch durch die erste Ölpreiskrise gute Dienste. In der ersten Zielprojektion wurde das Zieldreieck dieses Gesetzes auf der Grundlage eines realen Wachstums von vier Prozent angestrebt, ein Wachstumsziel, das 1968 5,5 Prozent brachte. 1969 waren es 7,4 und 1970 dann 5,1 Prozent. Nimmt man langfristig 2,5 Prozent als Möglichkeit zur Erfüllung der Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes an (Wachstum unter dieser Grenze bringt keine Verbesserung der Beschäftigung, denn dort liegt die übliche Produktivitätsgrenze), dann zeigen sich deutlich die Unterschiede in den einzelnen Jahrzehnten: •
In den siebziger Jahren lagen die Jahre 1974/75 unterhalb dieser Marke, in den Achtzigern 1984 und 1988/1989 und in den Neunzigern waren es nur die Jahre 1990/91. Erst im Jahre 2000 wurden dann wieder 3 Prozent reales Wachstum erreicht, um dann über 0,6 auf 0,2 Prozent abzusacken.
•
Von 1970 bis 1979 gab es zwei Jahre mit einem realem Wachstum unterhalb der Produktivitätssteigerung, von 1980 bis 1989 sieben Jahre und von 1990 bis 1999 acht Jahre, in denen die Produktivitätsgrenze nicht erreicht wurde.
Und die zwei Jahre, die sehr viel bessere Wachstumsergebnisse hatten, waren 1990 mit 5,7 und 1991 mit 5,1 Prozent. Diese Jahre schlossen an die ersten drei Jahre nach Verabschiedung dieses Gesetzes an. Der Vereinigungsboom um die deutsche Einheit setzte sich über alle angebotspolitischen Grundsätze hinweg, doch 1992 kam der Rückschlag - wie 1966/67 kräftig durch falsche Maßnahmen der Bundesbank mit vorangetrieben. Das immer noch geltende Stabilitäts- und Wachstumsgesetz wurde seit 1980 bis auf die zwei genannten Ausnahmen nicht angewendet, das „magische Dreieck" fast ständig verfehlt, von dem durch Klaus-Dieter Arndt so hervorragend dargestellten Viereck gar nicht zu reden. Die im Abschnitt „Renaissance des Sozialstaates" angeführten Tabellen zeigen deutlich, dass seit den siebziger Jahren von einer „gerechten Einkommens- und Vermögensverteilung" keine Rede mehr sein kann. Von 1992 bis 2002 entwickelte sich das Bruttoinlandsprodukt von 1.613 auf 2.112 Mrd. Euro (30,9 %), das Volkseinkommen stieg von 1.243 auf 1.560 Mrd. Euro (25,5 %), die Bruttolöhne und -gehälter von 750 auf 913 Mrd. Euro (21,9 %), die Unternehmens- und Vermögenseinkommen von 326 auf 428 Mrd. Euro (31,2 %) und die Abschreibungen von 231 auf 320 Mrd. Euro (38,5 %). Und dies sind die Bruttoeinkommen; die Nettobezüge werden seit einigen Jahren von der amtlichen Statistik nicht mehr ausgewiesen; dort ist der Abstand noch sehr viel größer, wie die Entwicklung der Lohnsteuer und der Vermögens- und
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Einkommensteuer beweist. 1979 betrugen die Lohnsteuer und die Summe aus Einkommen-, Körperschaft-, Kapitalertrags-, Gewerbe- und Vermögensteuer jeweils 8,9 Prozent des Volkseinkommens, 1992 waren es 10,4 Prozent bei der Lohnsteuer und 5,7 Prozent bei den Vermögens- und Einkommensteuern. 2002 hatte sich die Lohnsteuer auf 8,5 Prozent des Volkseinkommens ermäßigt; die Steuern auf Unternehmens- und Vermögenseinkommen lagen nur noch bei 3,4 Prozent.15 Warum bei diesem Verteilungsstand die paritätische Finanzierung der Sozialbeiträge den Arbeitgebern nicht zuzumuten ist, dagegen die Arbeitnehmer zusätzlich belastet werden, obwohl deren Einkommen brutto 1/3 weniger gestiegen sind als die Unternehmens- und Vermögenseinkommen, kann niemand begründen, aber es wurde gemacht und soll z.B. beim Krankengeld wiederholt werden. Zurückbleibende Löhne und Sozialeinkommen verschlechtern weiter die Stimmung, es wird inzwischen immer öfter über die Gefahr einer Deflation gesprochen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung beschrieb in der ersten Hälfte Mai die Konjunkturlage wie folgt: „Die Ursachen für die Wachstumsschwäche liegen im Wesentlichen in der schwachen Binnenkonjunktur. Eine starke Verunsicherung der Konsumenten und Investoren sowie eine zögerliche Geldpolitik sind hierfür maßgeblich. Vieles spricht dafür, dass die Unsicherheit nicht in nachhaltig verschlechterten Angebotsbedingungen begründet ist. Hierzu gibt die Lohnentwicklung keinen Anlass. Die ausgeprägte Lohnzurückhaltung stärkte eher die Angebotsbedingungen, sie schwächte aber die Nachfrage. Die akkumulierte Wettbewerbsstärke der deutschen Unternehmen auf den Auslandsmärkten konnte zwar die Schwäche der Gesamtnachfrage mildern, nicht aber die Ausfälle der Binnennachfrage voll kompensieren. Damit liegt ein im Vergleich zu früheren Zyklen neuer Typus nachfragebedingter Stagnation und damit verbundener Unsicherheit vor, der die Wirtschaftspolitik zu zögerlich begegnet."16 Bei dieser ökonomischen Lage ist antizyklische Finanzpolitik dringend notwendig, aber der Bundesfinanzminister reagiert auf die Steuerschätzung vom 15. Mai 2003, die für dieses Jahr einen Einbruch bei den Steuereinnahmen von 8,7 Mrd. Euro, für die nächsten fünf Jahre von 126,4 Mrd. Euro voraussagt, mit der Ankündigung von Sparen und Haushaltskürzungen. Die §§ 5 und 6 des immer noch geltenden Stabilitäts- und Wachstumsgesetz sind im Bundesfinanzministerium scheinbar nicht bekannt. Vorübergehende Kreditnachfrage des Bundes ist so notwendig; sie sollte mittelfristig durch den Einsatz von Reserven und Steuererhöhungen dort, wo die Nachfrage nicht unmittelbar berührt wird, abgelöst werden. 15
Quellen wie in Fußnote 6.
16
DIW-Wochenbericht, 20/2003, S. 323 f.
Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz
VII.
119
Strukturpolitischer Einsatz der Goldreserven
Deutschland verfügt über beachtliche stille Reserven aus der bis 1987 nach dem Einstandspreis bewerteten Goldreserven. In der Bilanz der Bundesbank zum 31. Dezember 2002 wurden Währungsreserven von 104 Milliarden Euro ausgewiesen, davon 36,2 Mrd. Goldreserven. Die Deutsche Bundesbank ist nach § 12 des Bundesbankgesetzes „von Weisungen der Bundesregierung unabhängig", aber das Schreiben der Bundesbank vom März 2003 „Wege aus der Krise - Wirtschaftspolitische Denkanstöße für Deutschland" gibt für Verhandlungen eine gute Grundlage. Wenn die Bundesbank von der Bundesregierung grundlegende Reformen fordert, (u.a. dass die „Privatisierungspotenziale .... konsequent genutzt werden"), sollte die Bundesbank auch ihre eigenen Möglichkeiten einsetzen. Auch nach dem schrittweisen Verkauf der nicht von der EZB gebundenen Goldreserven (rd. 33 Mrd. Euro) hätten wir noch Währungsreserven von rund 70 Mrd. Euro, weit mehr als alle unsere Handelspartner. Die Bundesbank hält nach den USA die mit Abstand größten Goldreserven in der Welt, gefolgt von Frankreich, Italien und der Schweiz. Großbritannien verfugt über Goldreserven von einem guten Hundertstel der deutschen, dort wurden am 27.11.2001 wieder 20 Tonnen Gold verkauft. Das reale Wachstum Großbritanniens lag 2001 bei 2,2 Prozent, Deutschland bei 0,6 Prozent. Die Bundesbank ist mit 1,2 Mrd. Euro an der EZB beteiligt und stellt 12,3 Mrd. Euro als Währungsreserven, 15 Prozent in Gold und 85 Prozent in Devisen. Rund 33 Mrd. Euro aus Goldreserven sind frei verfügbar. Und über Reserven entscheidet letzten Endes der Aktionär, und das ist der Bund. Selbst die Schweiz hat tranchenweise ihr Gold verkauft, Belgien und die Niederlande auch. Ein Abkommen der Notenbanken beschränkt bis 2004 den Verkauf auf 400 Tonnen. Inzwischen hält selbst der Bundesbankpräsident es für vernünftig, "einen Teil der Goldreserven" für „außergewöhnliche Katastrophenfälle" zu nutzen17, freilich erst nach 2004 wegen des Abkommens mit den Notenbanken. Vorweg sollte sofort beschlossen werden, die Bestimmung, dass nur 3,5 Milliarden Euro des Bundesbankgewinns in den Haushalt eingestellt werden dürfen, aufzuheben. Auch der zur Tilgung des Erblastenfonds bestimmte Rest — das waren 2002 1,9 Milliarden Euro — gehört in den Bundeshaushalt. Langfristige Schuldentilgung ist bei dieser schlechten Konjunkturlage nicht vordringlich. Mit einem solchen Konzept würde es gelingen, die verbesserte Arbeitsvermitt17
Interview in der „Stuttgarter Zeitung" vom 22.08.2002.
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lung mit mehr Arbeitsangeboten zu bedienen und generell wieder auf einen Wachstumspfad zu kommen, der unserer Produktivität entspricht Lasst uns endlich mit dem Verkauf der Goldreserven anfangen, um dann den Kampf um eine Erhöhung der Begrenzung aufzunehmen. Der Bund sollte die Erlöse in einen Fonds für Infrastrukturmaßnahmen einbringen und den Gemeinden nach Art. 104a des Grundgesetzes Finanzhilfen für bedeutsame Investitionen geben. Mit diesen überflüssigen Reserven könnte der Bund einen Wachstumsschub auslösen; die Länder brauchen mittelfristig für sich und die Kommunen auf Dauer eine bessere Finanzgrundlage. Dies könnte über eine Vermögensteuer finanziert werden.
VIII. Wiedereinführung der Vermögensteuer Steuern auf „Vermögen und Vermögensverkehr" gibt es in zwei Drittel der OECD-Staaten, zum Teil mit sehr viel höheren Anteilen an den staatlichen Gesamteinnahmen, als es vor 1997 in Deutschland war. In den USA und Japan beträgt dieser Anteil mehr als ein Zehntel der Gesamteinnahmen, in der Schweiz und Luxemburg werden rund sieben Prozent erreicht. Die Erhebung der Vermögensteuer ist auch nicht verfassungswidrig. Das Bundesverfassungsgericht hat 1995 in seinem Urteil nicht die Abschaffung der Vermögensteuer verlangt, sondern in der unterschiedlichen Bewertung der Vermögen einen Verstoß gegen das Gleichheitsprinzip gesehen. Der Bundesregierung wurde aufgegeben, die Bewertung des Immobilienvermögens bis Ende 1996 verfassungskonform zu ändern. Da dies nicht erfolgte, lief die Erhebung dieser Steuer zum 31.12.1996 aus. Die Vermögensteuer steht den Ländern zu. Darum macht es Sinn, dass die Ministerpräsidenten — von denen sich die Regierungschefs von Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein schon einmal positiv dazu geäußert haben — einen Gesetzentwurf im Bundesrat einbringen würden. Da auch die Haushalte der meisten christdemokratisch regierten Länder ebenfalls große Finanznöte haben (und noch mehr die Kommunen), wäre eine Ablehnung dieses Vorhabens kaum zu Hause zu vertreten. Wenn die Einführung einer Vermögenssteuer noch durch eine „Steuer auf Devisengeschäfte" ergänzt würde, könnte man auch dafür sorgen, dass sich die Finanzmärkte nicht weiter von der Produktionssphäre abkoppeln und Fehlallokationen durch Großanleger und Spekulanten unterbleiben. Bereits in den siebziger Jahren hat der amerikanische Nobelpreisträger für Ökonomie, James Tobin, eine Reform des Weltwährungssystems vorgeschlagen. Wichtigster Punkt: Die Erhe-
Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz
121
bung einer „Steuer auf Devisengeschäfte in Höhe von einem Prozent".18 Für den Geldumtausch, für Handel und Tourismus eine zumutbare Verteuerung, aber spürbar für den Devisenhandel mit spekulativem Hintergrund. Es geht also um eine „Entschleunigung" von Geldkapitalbewegungen, um das Abkappen ihrer spekulativen Funktion, ohne ihre Lenkungsfunktion zu behindern.19 Ein langwieriger Prozess, aber er muss in Bewegung gesetzt werden, er würde zur Beruhigung an den Finanzmärkten führen und außerdem Mittel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit bringen. Gleichzeitig gäbe es die Chance, den Menschen die Furcht vor der Globalisierung zu nehmen: „Der ökonomischen muß die sozialpolitische Globalisierung folgen, soll das Problem einer zwischenstaatlichen wie innergesellschaftlichen Polarisierung in Arm und Reich gelöst werden."20 IX.
Vereinbarkeit mit den Europäischen Verträgen?
Auch wer bereit ist, sich auf makroökonomische Begründungen einzulassen, wird fragen, ob man denn heute noch nach einem Gesetz von 1967 Politik machen könne. Weder die heute scheinbar alles beherrschende Globalisierung noch die Maastricht-Kriterien waren damals bekannt. Doch hier sei auf den Vertrag von Amsterdam vom 2. Oktober 1997 verwiesen. Dort werden im Artikel 2 der Europäischen Gemeinschaft folgende Aufgaben gestellt: „Aufgabe der Gemeinschaft ist es, durch die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes und einer Wirtschafts- und Währungsunion sowie durch die Durchführung der in den Artikel 3 und 4 genannten gemeinsamen Politiken und Maßnahmen in der ganzen Gemeinschaft eine harmonische, ausgewogene und nachhaltige Entwicklung des Wirtschaftslebens, ein hohes Beschäftigungsniveau und ein hohes Maß an sozialem Schutz, die Gleichstellung von Männern und Frauen, ein beständiges, nichtinflationäres Wachstum, einen hohen Grad von Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz der Wirtschaftsleistungen, ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität, die Hebung der Lebenshaltung und der Lebensqualität, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern." 21
18 James Tobin, „A Proposal for International Monetary Reform", in: „Eastern Economic Journal" 4/1978, S. 153 ff. 19 Jörg Huffschmid, „Eine Steuer gegen die Währungsspekulation?", in: „Blätter für deutsche und internationale Politik", 8/1995, S. 1004. 20 21
Christoph Butterwegge, „Wohlfahrtsstaat im Wandel", 3. Auflage, Opladen 2001, S. 209. Der „Vertrag von Amsterdam", herausgegeben vom Presse- und Informationsamt der
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Diese Aufgabenstellung enthält wirtschafte- und finanzpolitisch die gleichen Ziele wie das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz, geht allerdings vom sozialen Schutz bis zur Verbesserung der Umweltqualität und der Lebenshaltung weit darüber hinaus. Aber in der deutschen (wahrscheinlich auch anderswo) Öffentlichkeit wird hierüber nicht gesprochen, um so mehr über den Vertrag von Maastricht und den sich hier anschließenden Stabilitätspakt. Artikel 104 des EGVertrages22 schreibt den Mitgliedsstaaten vor, „übermäßige öffentliche Defizite" zu vermeiden und gibt der Kommission eine Reihe von Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten, dargestellt in dreizehn Unterpunkten. Die immer wieder zitierten Referenzwerte finden sich nicht im Vertrag, sondern in einer Protokollnotiz, nämlich •
„3 % für das Verhältnis zwischen dem geplanten oder tatsächlichen öffentlichen Defizit und dem Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen,
•
60 % für das Verhältnis zwischen dem öffentlichen Schuldenstand und dem Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen."23
Wilhelm Nöllings zu Beginn der Einführung des Euro gemachte Voraussage wird leider voll bestätigt: „Die WU wird den weltweiten Zug zur Vernachlässigung sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit verstärken, indem sie zur Entfesselung des Wettbewerbs und Vergötzung des Geldes, d.h. zur Verbreitung materialistischer Wertvorstellungen ganz entscheidend beiträgt. Damit wird sie den sozialen Zusammenhalt komplexer Gesellschaften schwächen. Der schon lange in Gang befindliche Wertewandel wird intensiviert: Er wird zur Entwurzelung, Orientungs- und Heimadosigkeit vieler Europäer beitragen."24 Und leider gilt auch Folgendes: „Kurzfristigkeit des Denkens und Planens, offenes Misstrauen gegen Sozialpolitik zum Schutze anderer, Steuervermeidung bis an die Grenzen der Legalität, Steuerhinterziehungen und entsprechend motivierte Kapitalflucht, erhebliche Zunahme der Schwarzarbeit und jedweder Ausnutzung sozialer Leistungen, klar um sich greifende Korruption und Unverständnis für Anliegen der Arbeitnehmer in den Betrieben, Verdichtung der Arbeitsanforderungen verbunden mit Entlassungen, um Produktivität und Gewinnmargen unter allen Umständen zu erhöhen, kennzeichnen den Trend der Veränderungen
Bundesregierung, Bonn 1998, S. 56. 22
Ebenda, S. 103 ff.
23
Ebenda, S. 287.
Wilhelm Nölling, „Euro - der Sozialstaatsbruch", in: W. Hankel et al., "Die Euro-Illusion Ist Europa noch zu retten?", Reinbek bei Hamburg 2001, S. 108. 24
Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz
123
von Gesellschaft und Wirtschaft."25 Wir brauchen eine Renaissance des Sozialstaates und eine Neuorientierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Die beschäftigungspolitischen Erfolge, die von der zwischen 1999 und 2000 versuchten Kombination zwischen Nachfrage und Angebotspolitik ausgingen, sollten nach dem Rückschlag der Jahre 2001 und 2002 wieder aufgenommen und auf Europa übertragen werden Der Artikel 2 des Vertrages von Amsterdam gibt hierzu jeden Rückhalt. Noch einmal Wilhelm Nölling: „Wer zur Währungsunion Ά1 sagt, muss zum Primat der Gerechtigkeit 'B' sagen, d.h. muss Chancengleichheit und eine Auswahl an Arbeitsplätzen gewähren, muss Steuergerechtigkeit und wirksame Mechanismen zur Ausschaltung von Korruption und Missbrauch staatlicher Leistungen ergreifen, muss jedem im Wettbewerb Herausgeschleuderten oder Zukurzgekommmenen entweder die Chance zur Reintegration verschaffen oder das soziale Netz zur Existenzsicherung aufspannen."26 Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz und der Artikel 2 der Europäischen Gemeinschaft spielen in der Finanz- und Wirtschaftspolitik keine Rolle mehr. Bei den europäischen Diskussionen haben die Referenzwerte aus der Protokollnotiz und die vorgesehenen Sanktionen des Stabilitätspaktes die Vorherrschaft übernommen. Antizyklik kann — wenn man sich strikt an die Referenzwerte hält — nicht mehr stattfinden, jedenfalls nicht auf dem Kreditwege. Wilhelm Nöllings obige Forderung ist nur mit mehr Arbeitsplätzen zu erreichen, aber bisher hat noch keiner der vielen Kritiker des Sozialstaates sagen können, wie man ohne zusätzliche Mittel dahin kommt. Es gibt inzwischen viel Kritik an dem Stabilitätspakt, vor allem in Frankreich, aber auch Kommissionspräsident Prodi hat sich schon abfällig geäußert. Die europaweite Konjunkturlage fordert aber schnelles Handeln, der Artikel 2 des EG-Vertrages gibt die Legitimation dazu. Die starren Referenzwerte müssen flexibilisiert werden, sie dürfen nur noch gelten in Volkswirtschaften mit einem realen Wachstum über 2,5 Prozent. Bis zur Erreichung dieser Wachstumsgrenze müssen Überschreitungen möglich sein, ohne dass es konjunkturschädliche Sanktionen gibt. Nur so können die Ziele des Artikels 2 des EG-Vertrages erreicht werden.
25
Ebenda, S. 127.
* Ebenda, S. 190.
Der Ökonom als Politiker - Europa, Geld und die soziale Frage (hrsg. v. W. Hankel, Κ. A. Schachtschneider und J. Starbatty) © Lucius & Lucius, Stuttgart, 2003
Sozialprinzip und Weltwirtschafts Verfassung am Beispiel von WTO und ILO Angelika Emmerich-Fritsche
Die Verbindung von Sozialunion und Wirtschafts- und Währungsunion ist noch nicht einmal auf europäischer Ebene hinreichend.1 Auf Weltebene ist die Einheit des wirtschaftlichen und des Sozialen mangels entsprechender weltweiter Solidarität überhaupt noch nicht versucht und auch nicht absehbar.2 Erst unter Einbeziehung des Sozialprinzips wird eine Weltwirtschaftsverfassung rechtlich vollständig.3
I.
Gründe für die Integration des Sozialprinzips in die Weltwirtschaftsverfassung
1.
Fairer Wettbewerb
Der Wettbewerb ist nur freiheitlich, wenn er fair ist, d.h. die miteinander ringenden Kräfte annähernd im Gleichgewicht sind.4 Menschenunwürdige Arbeitsbedingungen, sind in diesem Sinne unlauter und unfair5 und sind nicht durch das Prinzip freien Wettbewerbs gerechtfertigt. Die Ausnutzung des internationalen Rechtsgefälles durch inländische Unternehmen zum Zwecke der Umgehung
1 Dazu W. Hankel/ W. Nölling/K. Α Schachtschneiderl ]. Starbatty, Die Euro-Klage. Warum die Währungsunion scheitern muß, 1998, S. 27 ff., 126 ff., 192 ff., 247 ff.; W. Nölling, Euro - Der Sozialstaatsbruch, in: W. Hankel, W. Nulling Κ Α Schachtschneider, J. Starbatty, Die EuroIllusion. Ist Europa noch zu retten?, 2001, S. 107 ff.; Κ. A. Schachtschneider, Euro - Der Rechtsbruch, in: dies., Die Euro-Illusion, S. 25 (47 ff.). 2
E. Treutner, Globalisierung und Regulierung im Bereich der Sozialpolitik, in: R. Voigt (Hrsg.), Globalisierung des Rechts, 1999 / 2000, S. 321 (328 ff.). 3
Dazu M. Reuß, Menschenrechte durch Handelssanktionen. Die Durchsetzung sozialer Standards im Rahmen der WTO, 1999, S. 119 ff.; Κ Α. Schachtschneider, Grenzen der Kapitalverkehrsfreiheit, in: ders. (Hrsg.), Rechtsfragen der Weltwirtschaft, 2002, S. 253 (289 ff.). 4
Vgl. Kant, Zum ewigen Frieden, ed. Weischedel, Bd. 9, S. 226 (Β 65/A 64); BGH vom 13.5.1977 - "Weltweit-Club", GRUR 1977, 646 ff.
5
Dazu L· P. Feld, Sozialstandards und Welthandelsordnung, in: Außenwirtschaft 1996, S. 57 ff.
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Angelika Emmerich-Fritsche
deutscher Arbeitsschutzbestimmungen kann als sittenwidrig i. S. d. § 1 UWG eingestuft werden.6 Außerdem ist es ein sittenwidriges Verhalten im Wettbewerb, wenn Waren nur deshalb besonders billig angeboten werden, weil sie im Ursprungsland unter Verletzung elementarer internationaler Sozialstandards produziert worden sind.7 Allerdings begründet nach der Praxis in Deutschland die Mißachtung von internationalen Bestimmungen nur dann einen Wettbewerbsverstoß, wenn diese nach dem Recht des jeweiligen Staates innerstaatlich gelten und Rechte und Pflichten begründen sollen.8 Aus dem Prinzip des fairen Wettbewerbs kann allerdings nicht eine weltweite Angleichung der Sozialstandards auf dem Niveau der Industrieländer gefordert werden. Niedrigere soziale Kosten stellen sich aus der Sicht der Entwicklungsund Schwellenländer als „komparative Kostenvorteile", also als Wettbewerbsvorteile dar, die nicht per se unfairer sind als etwa der technische Vorsprung der Unternehmen der Industrieländer. Zur Verwirklichung eines fairen Wettbewerbs ist vorgeschlagen worden, daß die Staaten auf der Basis der Freiwilligkeit Großregionen fairen Handels (fair trade spties) einrichten, die nur den Wettbewerbern Zugang erlauben, welche die minimalen Sozialstandards erfüllen.9 2.
Sozialprotektionismus
Aufgrund der wirtschaftlichen Globalisierung befürchtet die westliche Zivilisation einen „race to the bottom" und will ihre (oft hart erkämpften) sozialen Errungenschaften verteidigen.10 Die Forderung, dem sogenannten Sozialdumping entgegenzuwirken und für alle am Welthandel teilnehmenden Länder geltende Sozialstandards zu formulieren, diese in multilaterale Regelwerke einzubringen und auch wirksam durchzusetzen, geht auf das 19. Jahrhundert zurück.11 Zum ' Vgl. A. Baumbach / W. Hefermehl, Wettbewerbsrecht, 22. Aufl. 1991, S. 624, Rn. 219c.; BGH „Weltweit-Club", GRUR 1977, 672, 674; H. Oesterhaus, Die Ausnutzung des internationalen Rechtsgefälles und Paragraph 1 UWG, 1991. ι Zurückhaltend allerdings BGH v. 9.5.1980, in: NJW 1980, 2018 ff. W. Däubler; Sozialstandards im internationalen Wirtschaftsrecht, in: F. Graf v. Westphalen / O. Sandrock, Lebendiges Recht, FS R. Trinkner, 1995,475 (489).
8
9
O. Höffe, Demokratie im Zeitalter der Demokratie, 1999, S. 409.
10 S. F. Franke, Sozialdumping, durch Schwellenländer? Begründungen und Probleme der Forderung nach Sozialstandards, in: H. Berg (Hrsg.), Globalisierung der Wirtschaft. Ursachen - Formen - Konsequenzen, 1999, S. 157 (163). 11
S. F. Franke, Sozialdumping, S. 157.
Sozialprinzip und Wirtschaftsverfassung am Beispiel von W T O und ILO
127
erstenmal wurde der Vorwurf des „Sozialdumpings" 1927 im Rahmen der Internationalen Wirtschaftskonferenz des Völkerbundes erhoben.12 Heute wird er vor allem von westlichen Industrieländern an Entwicklungsländer gerichtet, die mit technologisch anspruchsvolleren Produkten auf den Weltmarkt drängen (sogenannte Schwellenländer).13 Der Begriff des Sozialdumpings bezieht sich darauf, daß Produkte auf dem Weltmarkt billiger angeboten werden können, weil bestimmte soziale Kosten mangels entsprechender sozialer Sicherungen nicht entstehen (Bsp. Kinderarbeit).14 Unter „Dumping" im engen Sinn versteht man ein Preisverhalten, das darauf abzielt, auf ausgewählten Auslandsmärkten Produkte zu Preisen anzubieten, die - unter Berücksichtigung von Transportkosten und Besteuerungsunterschieden — unterhalb der eigenen heimischen Kosten liegen, um so Wettbewerber auszuschalten.15 Das sogenannte Sozialdumping ist nur dann Dumping im Sinne des Anti-Dumpingrechts, wenn die Arbeitsbedingungen in den betreffenden Ländern im Exportsektor gegenüber dem heimischen Sektor abweichen. In der Regel ist dies nicht der Fall.16 Es ist zu überlegen, ob darüber hinaus auch in einem weiteren Sinn von „Sozialdumping" gesprochen werden kann, wenn die Schwelle der Menschenwürde unterschritten wird. Hingegen sollte nicht schon die Unterbietung nationaler Sozialstandards als „Sozialdumping" bezeichnet werden. Das Leistungsprinzip, welches das Eigentum rechtfertigt17 und auf dem der menschliche Wettbewerb basiert, duldet keine gutbezahlte Trägheit. Protektionismus, der „schändliche Völkergeiz"18 als Motiv rechtfertigt außenwirtschaftliche Abschottung ebenfalls nicht. Andererseits ist es problematisch, wenn die globalisierenden Unterneh-
12 S. F. Franke, Sozialdumping, S. 157; D. Meyer, Sozialstandards und neue Welthandelsordnung, in: D. Fritz-Assmus / E. Tuchtfeldt (Hrsg.), Die Ordnung des Welthandels, 1997, S. 105 (118). 13
S. F. Franke, Sozialdumping, S. 157.
14
S. F. Franke, Sozialdumping, S. 157.
15 S. F. Franke, Sozialdumping, S. 158; D. Meyer, Sozialstandards und neue Welthandelsordnung, S. 118; vgl. Art. VI GATT mit Art. 2 Übereinkommen zur Durchführung des Artikels VI des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens 1994 v. 15.4.1994, EGAB1. 1994 L 336/103 sowie die Antidumping-Verordnung (EG) Nr. 384/96 v. 22.12. 1995, EGAB1 1996, L 56/1. 16
Dazu D. Meyer, Sozialstandards und neue Welthandelsordnung, S. 118 ff.
17 BVerfGE 1, 264 (277 f.); 24, 220 (226); 97, 350 (371); Κ. A. Schachischneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum. Aspekte freiheitlicher Eigentumsgewährleistung, in: J. Isensee / H. Lecheler (Hrsg.), Freiheit und Eigentum, FS W. Leisner, 1999, S. 743 (760, 775 f.).
Κ A. J Hochheim (pseudonym: Justus Sincerus Veridicus), Von der europäischen Republik: Plan zu einem ewigen Frieden, 1796, S. 9. 18
128
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men, die, wenn man so will, eine res publica darstellen19, von dem Weltangebot billiger Arbeitskräfte profitieren, um so die Standards, über die ein innerstaatlicher Konsens besteht, zu unterlaufen. Von Hayek steht der nationalen „künstlichen Wirtschaftssolidarität" nicht zu Unrecht kritisch gegenüber. „Es ist weder notwendig noch wünschenswert, daß die Staatsgrenzen mit großen Unterschieden im Lebensstandard zusammenfallen, daß die Zugehörigkeit zu einer Nation das Anrecht auf einen Anteil an einem Kuchen geben sollte, der von dem der Angehörigen anderer Nationen völlig verschieden ist. Wenn die Produktionskräfte der verschiedenen Länder als ausschließliches Eigentum jeder Nation als eines Ganzen behandelt werden, wenn internationale Wirtschaftsbeziehungen statt solcher zwischen Individuen immer mehr zu Beziehungen zwischen ganzen Staaten werden, die als Handelsfirmen organisiert sind, dann werden sie notgedrungen zur Ursache von Reibungen und Neid zwischen ganzen Nationen."20 Hohe Sozialstandards begünstigen in den Industriestaaten die Arbeitslosigkeit, insbesondere bei einfacher Arbeit. Der innenpolitische soziale Konsens wird sich demnach durch den Globalisierungsdruck teilweise nach unten orientieren. Somit ist der Globalisierungsdruck geeignet, die tarifpolitische Waffengleichheit zu Lasten der Arbeitnehmer zu verschieben. Hier gegebenenfalls einzugreifen und auszugleichen ist nicht Aufgabe der Weltwirtschaftsverfassung, sondern des jeweiligen Staates. Es fehlt insoweit am grenzüberschreitenden oder globalen Tatbestand.21 Die Weltwirtschaftsverfassung muß den Staaten aber diese Möglichkeit lassen. Im übrigen sind die Arbeitnehmer der westlichen Welt der Konkurrenz aus den Billiglohnländern und den hiervon profitierenden Unternehmen nicht hoffnungslos ausgeliefert. Die Arbeitnehmer der Industrienationen können gegenüber den Arbeitnehmern der Billiglohnländer bessere Ausbildungschancen und Qualifikationsmöglichkeiten und infolgedessen eine höhere Produktqualität in die Waagschale werfen, wenn sie verstehen, sie zu nutzen.22
19 Κ Α. Schachtschneider, Eigentümer globaler Unternehmen, in: Β. N. Kumar, Μ. Osterloh, G. Schreyögg, FS H. Steinmann, 1999, S. 414 ff., 418 ff., 426 ff.; ders., Grenzen der Kapitalverkehrsfreiheit, in: ders. (Hrsg.), Rechtsfragen der Weltwirtschaft, 2002, S. 253 (320 ff.); vgl. auch A. Schern, Die Multinationale Unternehmung als Mitder zwischen privater Freiheit und öffentlichem Interesse, in: Κ. A. Schachtschneider (Hrsg.), Rechtsfragen der Weltwirtschaft, 2002, S. 353 ff. 20
F. A. v. Hayek, Der Weg zur Knechtschaft, 1945, S. 272.
21
Vgl. D. Meyer, Sozialstandards und neue Welthandelsordnung, S. 113.
JB. v. Plate, Grundelemente der Globalisierung, Informationen zur politischen Bildung, 263, 2. Quartal 1999, S. 4.
22
Sozialprinzip und Wirtschaftsverfassung am Beispiel von WTO und ILO
3.
129
Menschenrechtliche Begründung: Zur Universalität der Menschenrechte und des Sozialprinzips
Grund allen Rechts, auch der Menschenrechte ist mit Kant nicht der Trieb nach Selbsterhaltung und Selbstverwirklichung, sondern die Freiheit des Menschen.23 „Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinem Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht"24, das „unabhängig von allem rechtlichen Akt, jedermann von Natur zukommt".25 Danach genießen alle Menschen das gleiche Recht auf Freiheit, also Gleichheit in der Freiheit26. Nach Kant ist die Menschheit in der Person des Menschen das Objekt der Achtung, die er von jedem Menschen fordern kann und auf der seine Würde, sein absoluter innerer Wert, beruht. Das „aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Wert, d. i. einen Preis, sondern einen inneren Wert, d. i. Würde."27 Der „Mensch kann von keinem Menschen (weder von anderen noch so gar von sich selbst) bloß als Mittel, sondern muß jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden und darin besteht eben seine Würde (die Persönlichkeit)..."28 Daraus folgt unmittelbar, daß Sklaverei, Zwangsarbeit und ausbeuterische Kinderarbeit ohne weitere Materialisierung aus dem universellen Menschenwürdegebot verboten sind.29 Grund der menschlichen Würde ist für Kant die Autonomie des menschlichen Willens, die Fähigkeit des vernünftigen Wesens zur (Selbst-)Gesetzgebung unter der Bedingung des kategorischen Imperativs.30 In diesem Sinne formuliert Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte UN-Charta das Weltrechtsprinzip31: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie Vgl. Kant, Uber den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, ed. Weischedel, Bd. 9, S. 143 (A 231, 232) ff.
23
2< 25
Kant, Metaphysik der Sitten (1797 / 1798), ed. Weischedel, Bd. 7, S. 345 (AB 45).
Kant, Metaphysik der Sitten, S. 345 (AB 45).
Dazu M. Kriele, Freiheit und Gleichheit (1983), in: ders. (Hrsg.), Recht, Vernunft, Wirklichkeit, 1990, S. 143 ff.; Κ Λ. Schachtschneider, Res publica res populi. Grundlegung einer Allgemeinen Republiklehre. Ein Beitrag zur Freiheits-, Rechts- und Staatslehre, 1994, S. 4, 34, 40. 26
27
Kant, Metaphysik der Sitten, S. 9 (68).
28
Kant, Metaphysik der Sitten, S. 600 (A 140).
29
S. F. Franke, Sozialdumping , S. 160.
30
Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Bd. 6, S. 63 (BA 70)ff.
31 KA. Schachtschneider, Res publica res populi, S. XII; ders., Vom liberalistischen zum republikanischen Freiheitsbegriff, in: ders. (Hrsg.), Wirtschaft, Gesellschaft und Staat im Umbruch. FS der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-
130
Angelika Emmerich-Fritsche
sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen". „Der Begriff der Freiheit eines jeden, „sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinem Gesetz zusammen bestehen kann"32, stellt das Menschenrechtskonzept im Gegensatz zum liberalistischen Modell a priori in einen sozialen Bezug. 33 Recht ist „die Einschränkung der Freiheit eines jeden auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit von jedermann, sofern diese nach einem allgemeinen Gesetz möglich ist".34 Kant erklärt das Rechtsprinzip oder das Recht auf eine in diesem Sinne soziale Rechtsordnung zum Menschenrecht. Der Mensch hat „als Person" zwar „einen Eigenwert", ist aber „gemeinschaftsbezogen" und „gemeinschaftsgebunden". 35 Dem entspricht das Prinzip der Mitmenschlichkeit 36 oder das Sozialprinzip37, das aufs engste mit der Menschenwürde und dem Freiheitsprinzip verbunden ist. Materialisiert wird es durch die Menschenrechte 38 , weil es die Voraussetzungen für deren Inanspruchnahme schafft. 39 Das Sozialprinzip, das durchaus rechtlich verpflichtet 40 , steht einem rein liberalistischen Individualismus entgegen.
FS der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg 75 Jahre nach Errichtung der Handelshochschule Nürnberg, 1995, S. 418 (420); den., Die Würde des Menschen, in: Mut zur Ethik, 1997, S. 277 (282). 52 Metaphysik der Sitten, S. 345 (AB 45). S. König, Begründung der Menschenrechte: Hobbes - Locke - Kant, 1994, S. 244 f.; Κ Α. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, im Erscheinen, 11. Kap. 33
Μ Kant, Gemeinspruch, S. 144 (A 233, 234). BVerfGE 4, 7 (15 f.); 24, 119 (144); 27,1 (6 f.); 30, 1 (20); 45, 127 (227); 50, 290 (353); 56, 37 (49); 65,1 (44).
35
Κ A. J Hochheim (Justus Sincerus Veridicus), Von der europäischen Republik, S. 68 f.; Aristoteles, Politik. Schriften zur Staatstheorie, hrsg. v. F. F. Schwarz, 1989, S. 152, 1295b 23 f.; dazu Κ. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 234 ff. 36
Dazu Κ Α. Schachtschneider, Das Sozialprinzip. Zu seiner Stellung im Verfassungssystem des Grundgesetzes, 1974; ders., Res publica res populi, S. 234 ff.; ders. / A. Emmerich-Fritsche, in: W. Hankel / dies., Revolution der Krankenversicherung, 2002, S. 19 ff. 37
H. F. Zacher, Das soziale Staatsziel, in: HStR, Bd. I, 1987, § 25, S. 1045 (1078 ff.); Κ Α. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Wirtschaftsund Sozialwissenschaftliche Fakultät, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, 2001, S. 32 f. 38
39
BVerfGE 33, 303 (331); M. Kriele, Einfuhrung in die Staatslehre, 5. Aufl. 1994, S. 219, 334.
Vgl. BVerfGE 5, 84 (197 f.); W. Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, in: E. Benda (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1994, S. 427 (528 f.).
40
Sozialprinzip und Wirtschaftsverfassung am Beispiel von W T O und ILO
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Zum Sozialprinzip als Prinzip der Mitmenschlichkeit gehört insbesondere die Pflicht zur Hilfeleistung in Not 41 , aber auch die Ermöglichung eines menschenwürdigen Lebens in Selbständigkeit.42 Die (in staatlichen Ordnungen oft strafbewehrte) Pflicht zur Hilfeleistung43 besteht nicht nur innerhalb der staatlichen Gemeinschaft. Die Menschenrechte gelten unmittelbar unter den Menschen, allerdings ungesichert, wenn die betreffenden Menschen durch keine staatliche Rechtsordnung verbunden sind.44 Die klassische Einteilung der Menschenrechte in liberale, politische und soziale Rechte 45 wird aber oft dahingehend verstanden, daß damit eine Teilbarkeit der Menschenrechte in ihrer Begründung und Geltung oder eine Rangordnung verbunden sei, etwa in dem Sinn, daß nur die liberalen Abwehrrechte universell gelten würden 46 oder Freiheitsrechte erst nach Verwirklichung der wirtschaftlichen und sozialen Rechte gewährt werden könnten 47 . Die Menschenrechte sind jedoch unteilbar.48 Soziale Rechte folgen wie die übrigen Menschenrechte aus der Idee der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Sie sichern die Selbständigkeit des Menschen, die essentiell für die Verwirklichung
Vgl. dazu P. Singer, Famine, Affluence, and Morality, Philosophy & Public Affairs, Vol. 1, Nr. 3,1972, 229 ff. 41
42
Vgl. BVerfGE 1, 97 (105); Κ Α. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 244 f.
Vgl. § 323c: „Wer bei Unglücks fallen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft."
43
Vgl. Hobbes, Leviathan, hrsg. V.J. P. Mayer, 1980,1,14., 15. Kap., S. 118 ff.; Locke, Über die Regierung II, hrsg. v. W. Euchner, 1. Aufl. 1977, 2. Kap., S. 201 ff.; Kant, Metaphysik der Sitten, S. 430 (A 163,164 / Β 193,194) f.
44
45
G. Jeltinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl. 1919, S. 87, 94 ff.
M. Kriele, Freiheit und Gleichheit, S. 162 ff.; G. Lohmann / S. Gosepath, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Philosophie der Menschenrechte, 1. Aufl. 1998, S. 7 (13 ff.); P. Koller, Der Geltungsbereich der Menschenrechte, in: G. Lohmann / S. Gosepath, Philosophie der Menschenrechte, S. 112; vgl. dazu auch Λ. Wildt, Menschenrechte und moralische Rechte, in: G. Lohmann / S. Gosepath, Philosophie der Menschenrechte, S. 124 (139 ff.). 46
Vgl. Chinesische Regierung, Human Rights in China, White Paper, Information Office of the State Council, 1991, Fn. 11.
47
Schlußerldärung der Wiener Weltkonferenz über die Menschenrechte, Wiener Erklärung und Aktionsprogramm v. 12.7.1993, 1.5, in: Gleiche Menschenrechte für alle, Bonn 1994, S. 16; General Assembly resolution 48/141 vom 20.12.1993 über den Hochkommissar für Menschenrechte, A/RES/48/141, 7.1.1994, Nr. 3 (b); G. Lohmann / S. Gosepath, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Philosophie der Menschenrechte, S. 16; H. v. Senger, Der Menschenrechtsgedanke im Lichte chinesischer Werte, in: W. Schweidler (Hrsg.), Menschenrechte und Gemeinsinn, 1988, S. 267 ff. 48
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seiner Freiheit ist.49 Unmittelbar aus der Menschenwürde folgt ein Recht auf Existenzminimum (vgl. Art. 22 Allg.MRK), das mit dem Recht auf Leben und Gesundheit verbunden ist.50 Ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit ist Voraussetzung für ein selbstbestimmtes, menschenwürdiges Leben, ja für das Leben überhaupt, weshalb der Staat auch für die materiellen Voraussetzungen eines menschenwürdigen Daseins sorgen muß.51 Menschenrechte auch als soziale Rechte zu verstehen, gebietet also die Verfassung der Menschheit des Menschen52, das Weltrechtsprinzip, welches Art. 1 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung (Allg.MRK)51 formuliert hat. Danach sollen sich alle Menschen im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.54 Hiermit ist das Sozialprinzip als menschheitliches Prinzip 55 angesprochen. Die Freiheit des Menschen setzt das Sozialprinzip als Chancengleichheit voraus. Bestimmte materiale soziale Forderungen sind damit noch nicht verbunden.56 Kant hielt die ökonomische Ungleichheit der Menschen: mit dem Grundsatz rechtlicher Gleichheit grundsätzlich für vereinbar, verlangte aber die Durchlässigkeit des Systems und damit Chancengleichheit: „Jedes Glied desselben muß zu jeder Stufe eines Standes in demselben ... gelangen dürfen, wozu ihn sein Talent, sein Fleiß und sein Glück hinbringen können..." 57 Dazu gehört die potentielle Möglichkeit des Rollentausches zwischen den Wirtschaftsteilnehmern.58 Kersting
W. Schild, Freiheit - Gleichheit - „Selbständigkeit" (Kant), in: J. Schwartländer (Hrsg.), Menschenrechte und Demokratie, 1981, S. 147, 151 ff.; vgl. a. J. Ebbinghaus, Das Kantische System der Rechte des Menschen, 1968, S. 186 ff. 49
50
Vgl. S. Gosepath, Zu Begründungen sozialer Menschenrechte, S.165.
51 Vgl. BVerfGE 40, 121 (133); 82, 60 (85); S. Gosepath, Zu Begründungen sozialer Menschenrechte, S. 157. 52 Vgl. Κ A. Schachtschneider, Das Sozialprinzip, S. 17 f., 19 f., 68; P. Häberlt, Grundrechte im Leistungsstaat, WDStRL 30 (1972), S. 69 ff., 80 ff., 90 ff.; vgl. a. A. D. Mursmek, Grundrechte als Teilhaberechte, soziale Grundrechte, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (HStR), Bd. V, 1992, § 112, S. 243 (Rn. 44 ff.). 53
Von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10.12.1948 beschlossen.
H.-J. Heinde, 50 Jahre UN-Menschenrechtserklärung, Humanitäres Völkerrecht, 1998, 229 (229 f.).
54
55
Dazu Κ Α. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 234 ff.
56
S. König, Begründung der Menschenrechte, S. 291 ff.
57
Kant, Über den Gemeinspruch, S. 147 (A 239).
58 Α. Α.: A. Wildt, Menschenrechte und moralische Rechte, in: S. Gosepath / G. Lohmann, Philosophie der Menschenrechte, S. 139.
Sozialprinzip und Wirtschaftsverfassung am Beispiel von WTO und ILO
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interpretiert diese Formel eng nur im Sinne des Abbaus rechtlicher Schranken, nicht auch materieller Chancengleichheit.59 Die Menschenrechte, insbesondere auch die sozialen, sind „aus der Not entwickelt, weil das eigentliche Menschenrecht, die politische Freiheit, deren Verwirklichung den Weg zu einem gemeinsamen Leben in Würde ebnet, nicht durchgesetzt ist."60 Weil Menschenrechte in ihrem universellen Sinn Rechte der Menschen gegeneinander sind, geht es letztlich auch bei den sozialen Rechten um das Recht, nicht der nötigenden Willkür eines anderen ausgeliefert zu sein. Das ist aber der Fall, wenn ein Mensch trotz seines Fleißes und seines Talentes für seine Arbeit keinen Lohn erhält, der ausreicht, um mit seiner Familie ein nach den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten angemessenes oder zumindest menschenwürdiges Leben zu führen, obwohl der Arbeitgeber zur Zahlung eines solchen Lohnes wirtschaftlich in der Lage wäre. Daraus folgt, daß auch das Menschenrecht auf „faire" oder „angemessene Bezahlung" von Arbeit grundsätzlich ein Menschenrecht ist. Ein Prinzip maximalistisch verstandener, materieller Verteilungsgerechtigkeit61 muß dafür nicht bemüht werden. Die Angemessenheit der Arbeitsbedingungen und Löhne ergibt sich nur dann aus dem marktlichen Spiel der Wirtschaftskräfte, wenn unter diesen Chancengleichheit in dem Sinne herrscht, daß die echte Möglichkeit vertraglicher Einigung besteht und nicht die Arbeitgeberseite ausschließlich einseitig die Arbeitsbedingungen diktiert, für die Arbeitnehmer also keine Wahlmöglichkeiten bestehen. Subsidiär besteht jedenfalls insoweit eine Schutzpflicht der Staaten62 und der internationalen Gemeinschaft. 63 Weil die Erfüllung dieser Schutzpflicht eine gewisse soziale und rechtliche Ordnung voraussetzt, ist mit den sozialen und politischen Rechten, wie Art. 28 der UN-Menschenrechtserklärung formuliert, der ,.Anspruch" jedes Menschen „auf eine soziale und internationale Ordnung, in welcher die in der vorliegenden Erklärung aufgeführten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können",
59 W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, 1984, S. 234, 243 f f , 246. 60
Κ Α. Schachtschneider, Die Würde des Menschen, S. 277 (285).
61
Dazu Ch. R. Beify Political Theory and International Relations, S. 125 ff.; Κ. Μ. Meessen, Vom Anti-Protektionismus zur Fortentwicklung der internationalen Wirtschaftsordnung, in: Neuer Protektionismus in der Weltwirtschaft und EG-Handelspolitk, 1985, S.81 (84 f.); S. Gosepath, Zu Begründungen sozialer Menschenrechte, S. 173 ff.; M. Walser, Lokale Kritik globale Standards. Zwei Formen moralischer Auseinandersetzung, 1996, S. 37 ff. 62
Zur Schutzpflichtlehre J. Isensee, Abwehrrecht und Schutzpflicht, in: HStR, Bd. V, 1992, § 111, S. 143 ff. 63
Vgl. zum Europarecht A. Emmerich-Fritsche, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der EG-Rechtsetzung, 2000, S. 353 ff.
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verbunden. Die Freiheit ist mit allen Menschen geboren und nicht nur mit den Bürgern privilegierter Staaten. Die allgemeine Freiheit läßt sich nur verwirklichen, „wenn sich alle Menschen im Geiste der Brüderlichkeit begegnen" (Art. 1 Allg.MRK). In diesem Sinne ist das Solidaritätsprinzip auch ein menschheitliches und kein nur nationalstaatliches Prinzip.64 Das Prinzip der Brüderlichkeit (Sozialprinzip) kennt keine Staatsgrenzen.65 Mangels anderer Bestimmungen ist das Sozialprinzip auch im Weltmaßstab durch die Menschheit des Menschen, die Menschenwürde, materialisiert. Die Menschenwürde anderer nicht zu verletzen, ist nicht nur unerzwingbare Menschenliebe, sondern darüber hinaus auch Rechtspflicht, wenn dies dem Einzelnen möglich und zumutbar ist (z.B. gegenüber Angehörigen, Strafbarkeit der unterlassenen Hilfeleistung)66. Für die Menschheit ist der Schutz dessen, was die Menschen rechtlich verbindet, die Verfassung des Menschen, die Achtung seiner Würde, solidarische (Rechts-)Pflicht. Aufgabe des Rechts ist es also, nicht nur eine nationale, sondern eine weltweite Verwirklichung des Prinzips des guten Lebens aller in allgemeiner Freiheit herzustellen.67 Kann dies aus Freiheitsgründen nicht im Wege eines Weltsozialstaates erfolgen68, bleibt jedenfalls die Ebene der völkerrechtlichen Kooperation, auf der das Weltsozialprinzip, wenn nicht als Grundsatz „internationaler Verteilungsgerechtigkeit"69, so doch zumindest als Grundsatz „internationaler Chancengleichheit" verwirklicht werden könnte.70 Schon die Weimarer Verfassung forderte in Art. 162: „Das Reich tritt für eine zwischenstaatliche Regelung der Rechtsver-
64
Dazu J. Delbrück, Völkerrecht und Weltfriedenssicherung, in: D. Grimm (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaft, Bd. 2, S. 1976 ff.; / . 'Becker, Entwicklungskooperation in einem sich wandelnden Weltsystem, 1982, S. 138 ff.; E. Riedel, Menschenrechte der dritten Dimension, EuGRZ 1989, 9 (18). 65
Κ Α. Schachtschneider, Die Republik der Völker Europas, ARSP-Beiheft 71,1997,169.
66
Vgl. 0. Höffe, Demokratie im Zeitalter der Demokratie, S. 416 f.; vgl. auch Kant, Metaphysik der Sitten, S. 603 (A 143,144). 67
Vgl. Κ. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. XII; W. Kersting, Weltfriedensordnung und globale Verteilungsgerechtigkeit, in: R. Merkel / R. Wittmann (Hrsg.), Zum ewigen Frieden", 1996, S. 172 (198); 0 . Höffe, Eine Weltrepublik als Minimalstaat, in: R. Wittmann / R. Merkel (Hrsg.), 1996, S. 154 (165 ff.). 68
Dazu H. Steiger, Brauchen wir eine Weltrepublik?, Der Staat 42 (2003), 249 ff.
69
Vgl. dazu sehr weitgehend Ch. R. Beit% Political Theory and International Relations, 1979, S. 125 ff.
70
W. Kersting, Philosophische Friedenstheorie und internationale Friedensordnung, in: Ch. Chwazcza / ders., Politische Philosophie der internationalen Beziehungen, 1998, S. 523 (547 f.).
Sozialprinzip und Wirtschaftsverfassung am Beispiel von WTO und ILO
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hältnisse der Arbeiter ein, die für die gesamte arbeitende Klasse der Menschheit ein allgemeines Mindestmaß der sozialen Rechte erstrebt." Insoweit haben auch die Industriestaaten gegenüber den Entwicklungsländern und deren Menschen eine Pflicht, durch ihre Gesetzgebung und in internationalen Verträgen auf Regelungen, die faire wirtschaftliche Beziehungen fördern, hinzuwirken. Auch das ist eine Schutzpflicht. Aufgrund ihrer Eigenart weisen soziale Menschenrechte einige Unterschiede zu den liberalen Abwehrrechten auf.71 Soziale Rechte können oft nicht durch bloße staatliche Zurückhaltung und größtmögliche Privatheit verwirklicht werden, sondern verlangen ein positives Handeln der verpflichteten politischen Gemeinschaft. Somit sind die sozialen Rechte gegenüber den politisch Verantwortlichen, die sich durch solche Rechte in ihrem GestaltungsSpielraum beschränkt sehen, nur schwer durchsetzbar.72 Deshalb werden sie von den Staaten oft nicht als subjektive Rechte, manchmal sogar nur als unverbindliche, nicht justiziable Programmsätze angesehen.73 Verbindlich sind die sozialen Menschenrechte aber jedenfalls in ihrer objektiven Dimension. 74 Daraus folgt ein Anspruch auf hinreichende Erfüllung der aus der objektiven Grundrechtsdimension folgenden Schutzpflicht, ein Schutzanspruch, welcher durch die individuelle Betroffenheit und das Untermaßverbot bestimmt wird.75 Als Leistungsrechte sind soziale Menschenrechte dem Problem der Knappheit unterworfen, können also grundsätzlich nur auf eine unter den jeweiligen Umständen bestmögliche Versorgung und eine Politik, welche diese ermöglicht, gerichtet sein. Ein Schutzanspruch findet seine Grenzen oft am Grundsatz „ultra posse nemo obligator"76. Dieser GrundDazu 0. Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, S. 75 ff.; G. Lohmann / S. Gosepath, Einleitung, in: Philosophie der Menschenrechte, S. 15 ff.; D. Murswiek, Grundrechte als Teilhaberechte, soziale Rechte, in: HStR, Bd. V, § 112, S. 243, Rn. 49 ff. 71
D. Murswiek, Grundrechte als Teilhaberechte, soziale Rechte, in: HStR, Bd. V, § 112, S. 243, Rn. 49 ff. 72
Dazu allgemein Κ A/exy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 454 ff.; R. Kreide, Soziale Menschenrechte und Verpflichtungen, in: M. Anderheiden / S. Huster / S. Kirste (Hrsg.), Globalisierung als Problem von Gerechtigkeit, ARSP Beiheft 79 (2001), S. 141 ff. 73
7
Anniversary Conference of the National Bank of Belgium Brussels' Initiative (1998): Convergence - Coherence - Adjustment: The need for the convergence in the area of economic policy and coherence in terms of mentalities of the EU Member States with a view to future cooperation and adjustment in the EMU, Konrad Adenauer Foundation, Brussels Gordon, R.J. (1995): Is there a trade-off between unemployment and productivity growth?, NBER Working Paper No. 5081 Gordon, R.J. (2000): Does the "New Economy" Measure up to the Great Inventions in the Past?, NBER Working Paper No. W7833 IMF (2000): World Economic Outlook, The International Monetary Fund, Washington DC Nicoletti, G., S. Scarpetta, and O. Boylaud (2000): Summary indicators of product market regulation with an extension to employment protection legislation, OECD Economic Department Working Papers. No. 226, www.oecd.org/ eco/eco OECD (2000): Economic Outlook No. 68, OECD Paris Olson, M. (1982): The Rise and Decline of Nations, New Haven: Yale University Press
244
Rolf Η. Hasse und Marek Mora
Sachs, J., C. Zinnes, and Y. Eilat (2000): Benchmarking Competitiveness in Transition Countries, CAER II Discussion Paper 62, Harvard Institute for International Development Several EU documents Von der Groeben, H., J. Thiesing and C.-D. Ehlermann (Hrsg.): Kommentar ψπι EU-/EG-Vertrag, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden
Der Ökonom als Politiker - Europa, Geld und die soziale Frage (hrsg. v. W. Hankel, Κ. A. Schachtschneider und J. Starbatty) © Lucius & Lucius, Stuttgart, 2003
Europa auf dem Wege zu einer wirtschaftlichen und politischen Einheit Claus Köhler I.
Wilhelm Nölling: ein Europäer
„ ... Die Idee einer .Europawährung 2000' lebt und fordert uns heraus, die Voraussetzungen zu nennen, den Zeitbedarf für ihre schrittweise Realisierung zu veranschlagen, die Komplexität der Zusammenhänge aufzuzeigen, an der Verbesserung der Zustände mitzuarbeiten und vor allem die zu erreichenden Vorteile vermehrter währungspolitischer Kooperation aufzuzeigen und einsichtig zu machen." (Nölling 1987, S. 47) Das war Nöllings Anliegen, das er zwölf Jahre vor der Verwirklichung der Europäischen Währungsunion (EWU) äußerte. Das waren seine Leitlinien, für die er sich wissenschaftlich und politisch einsetzte. Er sah die für ihn unabdingbaren Voraussetzungen, die wirtschaftliche, soziale und politische Union als Voraussetzung einer Währungsunion, nicht gegeben. Der Zeitrahmen mit vorgegebenen Terminen erschien ihm zu strikt. Die Komplexität der Zusammenhänge war für ihn vor allem im politischen Bereich nicht ausreichend analysiert. Vertretbar war für ihn eine Integrationsentwicklung über das Wirksamwerden von Marktprozessen. Das bedeutete für ihn eine Parallelwährung, die die jeweilige nationale Währung verdrängt und ersetzt. Gänzlich ausgeschlossen war für ihn eine institutionelle Lösung. „Dabei wird ein großer Sprung nach vorn, d. h. eine Währungsunion per Erlaß, für so unrealistisch gehalten, daß weitere Erörterungen dieser Option überflüssig erscheinen müssen." (Nölling 1988, S. 277) Aber gerade diese Option, das ist meine Meinung, war die Option, den Integrationsprozess in Europa voranzubringen. Die Hamburger Beiträge zur Wirtschafts- und Währungspolitik in Europa wurden von Wilhelm Nölling herausgegeben. Sie sollen Informationen vermitteln, den Dialog unter Wissenschaftlern und Politikern ermuntern und aufzeigen, was realistischerweise verlangt und getan werden kann. Damit leistete der Herausgeber einen Beitrag zu einer sachlichen Diskussion der Probleme. Dabei ist es leider nicht geblieben. Wenn sich ein Wissenschafder und Politiker wie Wilhelm Nölling für einen bestimmten Weg zur Währungsunion einsetzt, muss er tief verletzt sein, wenn man (Altbundeskanzler Helmut Schmidt) ihn als Nörgler, Querulanten, Miesmacher, geschichtslosen Fachidioten und schlechten Patrioten bezeichnet. (Nölling 1998, S. 28)
246
Claus Köhler
Der Verfasser dieser Zeilen hat frühzeitig darauf hingewiesen, dass bei freiem Geld- und Kapitalverkehr und festen Wechselkursen in der EG eine nationale Geldpolitik nur schwer durchzusetzen ist. „So besteht ein konstanter Druck in Richtung auf die Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion." (Köhler 1992, S. 9) Wer ihm, aus welchen Gründen immer, nicht nachgeben will, riskiert, dass die Freizügigkeit im Geld- und Kapitalverkehr wieder eingeschränkt wird oder er müsste das Festkurssystem der EG durch flexible Wechselkurse ersetzen. Beides hätte den Integrationsprozess in Europa zurückgeworfen. Ihre Verwirklichung bedeutete, was in einer Zwischenüberschrift zum Ausdruck kam. „Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion: Qualitätssprung der wirtschaftspolitischen Kooperation". (Köhler 1990, S. 122) So wie Wilhelm Nölling unangenehm von unsachlichen Vorwürfen berührt war, ging es auch mir, als ich las: „... Die Währungsunion soll und wird eine Umwälzung der europäischen wirtschaftlichen Grundlagen bewirken und, wie es Revolutionen oder Abenteuer so an sich haben, ist der Ausgang nicht berechenbar und es erscheint deshalb gerechtfertigt, von Euro-Hasardeuren zu sprechen." (Nölling 1998, S. 45) Ich gestehe, auch mir ist es lieber, mich sachlich auseinanderzusetzen, als mich gegen den Vorwurf eines Hasardeurs zu wehren. Wenn eine Diskussion über ein existentielles Thema so hohe Wellen schlägt, kommt es wohl gelegentlich zu Urteilen, bei denen die Wahrscheinlichkeit, dass sie eintreten, nicht zutreffend berechnet ist. „Die einheitliche Währung ist in der gegenwärtigen Wirtschaftslage zum Scheitern verurteilt, zumal die wichtigste Voraussetzung, die politische Union sowie die Wirtschafts- und Sozialunion, nicht geschaffen sind." (Nölling (1998), S. 31) Im Jahre 2003, vier Jahre nach Schaffung der Europäischen Währungsunion, kann von Scheitern keine Rede sein. Im Gegenteil, die EWU hat dem Integrationsprozess neue Impulse gegeben. All das bisher Gesagte gehört der Vergangenheit an. Es ist Zeit, in die Zukunft zu blicken, in der es genügend zu lösende Probleme gibt. Folgen wir Wilhelm Nölling in seinem Plädoyer, was zu tun ist. Man findet es auf jeder Innenseite seiner Schriftenreihe Hamburger Beiträge: „Für die Arbeit des Politikers wie des Ökonomen als Politikberater gibt es nur eine Begründung: Sie muß helfen, die wirtschaftliche und soziale Lage der anvertrauten Menschen zu verbessern. Wie kann dies in Europa erreicht werden angesichts zunehmender Massenarbeitslosigkeit, großer Unterschiede im wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsstand und immer engerer wirtschaftlicher Verflechtungen der Volkswirtschaften?" II.
Die schrittweise Integration
Das Europa der EU mit 15 Ländern und der EWU mit 12 Staaten ist schrittweise verwirklicht worden. Das geschah in einem langsamen Prozess mit Fortschrit-
Europa auf dem Weg zu einer wirtschaftlichen und politischen Einheit
247
ten und Rückschritten. (Schultz 1994, S. 393 ff.) Im September 1946 fordert der britische Premierminister Winston Churchill in einer Rede in Zürich, die Vereinigten Staaten von Europa zu gründen. Fünf Jahre später wird die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl EGKS ins Leben gerufen, der sechs europäische Staaten angehören (1951). Es vergehen weitere sechs Jahre bis in Rom die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG und die Europäische Atomgemeinschaft EAG entstehen (1957). Später fusionieren die drei Gemeinschaften zu den Europäischen Gemeinschaften (1967). Die 1968 unterzeichnete Zollunion wird 1977 vollendet. Auf vielen wirtschaftlichen Gebieten schreitet die Integration der an Zahl zunehmenden EG-Mitgliedsländer fort. In der Steuerpolitik ζ. B. einigt man sich auf Mindestsätze für die Mehrwertsteuer und die Verbrauchssteuern für Alkohol, Tabak und Mineralöl (1991). Auch die europäische politische Zusammenarbeit nimmt mit dem Davignon-Bericht langsam Gestalt an (1970). Sie erhält mit der Einheitlichen Europäischen Akte EEA, die auch einen Rahmen für die außenpolitische Zusammenarbeit zieht, weitere Impulse (1985). Für die Bevölkerung wird ein Europapass eingeführt (1970). Sie kann direkt die Abgeordneten zum Europaparlament wählen (erstmals 1979). In der „Feierlichen Deklaration zur Europäischen Union" (1983) soll die Gemeinschaft zu einem einheitlichen Binnenmarkt bei verstärkter wirtschaftlicher und politischer Kooperation erweitert werden. Nach schwierigen Verhandlungen wird die EU Anfang 1993 geschaffen. Die Bevölkerung erhält eine Unionsbürgerschaft. Sie gewährt Reisefreiheit in der EG, das Kommunalwahlrecht am Wohnsitz, diplomatischen und konsularischen Schutz und ein Petitionsrecht beim Europäischen Parlament. Uber das Für und Wider einer Europäischen Währungsunion konnte sehr lange nachgedacht werden. Schon Ende 1969 fassten die Staats- und Regierungschefs dazu einen grundsätzlichen Beschluss: „Sie bekräftigen ihren Willen, den für die Stärkung der Gemeinschaft und für die Entwicklung zur Wirtschaftsunion erforderlichen weiteren Ausbau beschleunigt voranzutreiben. Sie sind der Auffassung, dass der Prozeß der Integration zu einer Gemeinschaft der Stabilität und des Wachstums führen muß. Zu diesem Zweck sind sie übereingekommen, daß im Rat, ausgehend vom Memorandum der Kommission vom 12. Februar 1969 und in enger Zusammenarbeit mit dieser, im Laufe des Jahres 1970 ein Stufenplan für die Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion ausgearbeitet wird. Die Zusammenarbeit in Währungsfragen sollte sich auf die Harmonisierung der Wirtschaftspolitik stützen (Ziffer 8)." (Kompendium 1974, S. 14 f.) Entsprechend diesem Beschluss legt der luxemburgische Ministerpräsident Werner einen Stufenplan (Werner-Bericht) vor. Die Wechselkurse zwischen den Mitgliedstaaten werden innerhalb einer Bandbreite um die Paritäten (Währungsschlange) stabilisiert (1972). Mit Beginn des Jahres 1979 wird die Währungsschlange durch das Europäische Währungssystem EWS abgelöst. In seinem Mit-
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telpunkt steht eine Europäische Währungseinheit, die European Currency Unit ECU. Der Europäische Rat beschließt 1989 einen von den Gouverneuren der nationalen Zentralbanken unter Vorsitz des Kommissionspräsidenten Delors vorgelegten Plan zur Schaffung einer Europäischen Währungsunion in drei Stufen. Auf der Gipfelkonferenz in Maastricht 1992 einigten sich die Regierungsund Staatschefs, die Europäische Währungsunion im Rahmen der Europäischen Union voranzubringen. In der Stufe 1 zur Errichtung einer EWU (1990 - 1993) wurde in einem Ausschuss der Präsidenten der nationalen Zentralbanken die Geldpolitik stärker koordiniert. Zu Beginn der Stufe 2 (1993 - 1998) wurde ein Europäisches Währungsinstitut EWI gegründet. Ein Rat des EWI, bestehend aus einem Direktorium und den Präsidenten der nationalen Zentralbanken bereiteten die Gründung eines Europäischen Systems der Zentralbanken vor. Mit der Stufe 3 (ab 1999) trat die Europäische Währungsunion in Kraft. Die nationalen Währungen wurden durch die gemeinsame Währung Euro abgelöst. Die Geld- und Kreditpolitik liegt seitdem in Händen der Europäischen Zentralbank. Entscheidungsgremium ist ein Zentralbankrat bestehend aus einem Direktorium und den Präsidenten der nationalen Zentralbanken. Ab Anfang 2002 wurden die umlaufenden nationalen Geldscheine und Münzen durch Euro-Noten und Euro-Münzen abgelöst. Seit dem 1. März 2002 ist in den zwölf Mitgliedstaaten der EWU der Euro das alleinige - gesetzliche — Zahlungsmittel. Das wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Zusammenwachsen Europas vollzieht sich in kleinen Schritten. Das Tempo dieser Entwicklung ist auf den einzelnen Gebieten recht unterschiedlich. Aber wenn immer auf einem Teilgebiet die Harmonisierung abgeschlossen ist, gehen davon Impulse für eine weitere Integration aus. Als man begann, den Handel innerhalb der EWG zu liberalisieren, entstand eine Freihandelszone. Da sich der Handel in einem solchen Fall den Weg über die Niedrigzollländer sucht, bestand bald ein Zwang einen einheitlichen Außentarif und damit eine Zollunion zu schaffen. Einheitliche Zollsätze machten größere Unterschiede in der Wirtschaftspolitik der Mitgliedsländer besonders spürbar. Es wurde notwendig, die Wirtschaftsunion zu verwirklichen. Ein Binnenmarkt in der EU kann nur bei einer einheitlichen Währung funktionieren. Dann aber werden Unterschiede in den Steuersystemen der Mitgliedsländer spürbar. So bemüht man sich, „faire" Steuersysteme in der Gemeinschaft zu schaffen. Die finanzpolitische Harmonisierung rückt näher. Auch hier wird man den Zeitraum, in dem man eine gemeinsame Finanzpolitik verwirklichen kann, eher nach Jahrzehnten als nach Jahren bemessen müssen.
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III.
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Probleme der Krönungstheorie
Dem schrittweisen Vorgehen wird die These entgegengehalten, vor der Einführung einer einheitlichen Währung in Europa zunächst „die wichtigsten Voraussetzungen, die politische Union sowie die Wirtschafts- und Sozialunion" (Nölling 1998, S. 31) zu verwirklichen. Der wirtschaftliche und politische Integrationsprozess soll zunächst verwirklicht werden. Als Krönung und Abschluss dieser Entwicklung könnte man dann die Währungsunion realisiert werden. Die Währungsunion ist in diesem Fall das Ergebnis einer vollendeten allgemeinen Integration. Es wird dabei aber nicht die Frage gestellt, ob man eine Wirtschafts- und Sozialunion ohne eine einheitliche Währung überhaupt schaffen kann. Die einheitliche Währung und die dabei auftretenden Spannungen auf wirtschaftlichen und sozialen Gebieten schaffen erst den Druck, der die allgemeine Integration vorantreibt. Der EG-Vertrag (EGV 1992, Art. 2) verlangt, einen Gemeinsamen Markt, eine Wirtschaftsunion und eine Währungsunion zu errichten. Angestrebt werden ferner eine harmonische, ausgewogene und nachhaltige Entwicklung des Wirtschaftslebens, ein hohes Beschäftigungsniveau, ein hohes Maß an sozialem Schutz, die Gleichstellung von Männern und Frauen, ein beständiges nichtinflationäres Wachstum, einen hohen Grad an Wettbewerbsfähigkeit, Verbesserung der Umweltqualität, Hebung der Lebenshaltung und der Lebensqualität, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt und Solidarität zwischen den Mitgliedern. Welche dieser Aufgaben sollte gelöst werden, bevor man, der Krönungstheorie folgend, eine Währungsunion schaffen kann? Die Antwort kann nur lauten, den Integrationsprozess auf allen genannten Gebieten so gut wie möglich voranzubringen. Wenn immer sich eine Chance bietet, einzelne Gebiete zu harmonisieren, muss sie ergriffen werden. Das war bei der Währungsunion der Fall. Geduld hat man aufgebracht, denn zwischen dem ersten Beschluss des Europäischen Rates, eine Währungsunion zu schaffen (1969), und dem Beginn der Währungsunion (1999) lag immerhin ein Zeitraum von 30 Jahren.
IV.
Ein ermutigender Anfang der Währungsunion
Die ersten vier Jahre einer einheitlichen Währung in Europa haben sich vor allem auf drei Gebieten positiv ausgewirkt. Der Binnenmarkt wurde monetär abgesichert, die internationale Wettbewerbsfähigkeit in den Ländern der EWU verbessert und die Geld- und Kreditpolitik in der EWU gestärkt. Anfang 1993 wurde in der EU der Binnenmarkt verwirklicht. Seitdem besteht „ein Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Diensdeistungen und Kapital ... gewährleistet ist." (EGV 1992, Art. 14). Ein solcher Markt ist auf Dauer nur mit einer einheitlichen Währung überlebensfä-
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hig. Das wird deutlich, wenn man sich vorstellt, in dem gemeinsamen Markt Bundesrepublik Deutschland würden die Bundesländer unterschiedliche Währungen besitzen, deren Wechselkurse schwanken. Man könnte kaum noch von einem gemeinsamen Markt sprechen. Mit Schaffung der EWU ist der europäische Binnenmarkt dauerhaft gesichert. Er kann nicht mehr dadurch beeinträchtigt werden, dass die Wechselkurse einzelner nationaler Währungen schwanken. Der Wettbewerb kann sich frei entfalten. Länder in der Größenordnung Deutschlands, Frankreichs, Italiens oder Spaniens sind heute kaum mehr in der Lage, allein hochtechnologische Güter zu produzieren. Dazu gehören ζ. B. der Airbus oder die Weltraumrakete Ariane. Der Ausweg besteht darin, dass die Europäer solche Produkte gemeinsam produzieren. Solange eine Währungsunion nicht bestand, mussten die beteiligten Unternehmen in den verschiedenen Staaten damit rechnen, dass Wechselkursschwankungen zwischen den Währungen dieser Staaten die Kalkulationen negativ beeinflussten. Dem konnte nur begegnet werden, indem man die Währungen mit Hilfe von Termingeschäften und Derivaten absicherte. Das aber verursachte zusätzliche Kosten. Bei den Konkurrenten am Weltmarkt, den USA, Rußland, Indien, Japan und China, entstanden diese Kosten nicht. Sie haben alle eine einheitliche Währung. Die europäische Industrie war durch die notwendigen Absicherungstransaktionen ihrer jeweiligen Währung gegenüber den Konkurrenten benachteiligt. Die EWU hat die Unternehmen von dieser Last befreit. Ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit hat sich verbessert. Die Geld- und Kreditpolitik wurde in den Jahren, bevor die EWU geschaffen wurde, geschwächt. Das folgte aus der zunehmenden Freizügigkeit der grenzüberschreitenden Geld- und Kapitalbewegungen. War die Preisstabilität in Deutschland bedroht, dann erhöhte die Deutsche Bundesbank die Geldmarktzinsen. Sie erwartete, dass dann auch die Zinsen am Einlagen- sowie am Kreditmarkt steigen und die Renditen am Rentenmarkt sich erhöhen würden. Am Rentenmarkt aber trat oft das Gegenteil ein. Die Renditen sanken. Ursache waren die Erhöhungen der Geldmarktsätze. Im Ausland wurde zutreffend analysiert: Die Bundesbank hält die D-Mark stabil. Das führte dazu, dass ausländische Investoren „in die D-Mark gingen". Sie kauften am Rentenmarkt deutsche Wertpapiere. Die Kurse stiegen, die Renditen sanken. Es entstanden inverse Zinsstrukturen. Die kurzfristigen Zinssätze lagen niedriger als die langfristigen Zinsen. Die Stabilitätspolitik der Bundesbank wurde dadurch erschwert. Nachdem die europäische Währungsunion geschaffen worden war, änderte sich das. Die Geld- und Kreditpolitik der Europäischen Zentralbank wurde wieder geschärft. Das liegt daran, dass der Anteil grenzüberschreitender monetärer Transaktionen in der EWU deutlich niedriger ist als dieser Anteil in Deutschland.
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Befriedigt nahm man zur Kenntnis, dass es in den vergangenen vier Jahren gelang, den Binnenwert des Euro, der für das tägliche Leben der Bürger bedeutsam ist, stabil zu halten. Sorgenvoll hat die Öffentlichkeit dagegen die Entwicklung des Außenwerts des Euro beobachtet. Er verringerte sich zunächst und schwankte zwischen 1,16 US-$ je € und 0,85 US-$ je €. Vergleicht man das mit den Kursschwankungen der D-Mark und rechnet die D-Markkurse in USDollarkurse für den Euro um, dann hat man bei der D-Mark weit stärkere Schwankungen zu konstatieren. Die Bandbreite betrug 1,43 US-Dollar je € und 0,56 US-$ je €. Entscheidet sich eine Regierung für frei schwankende Wechselkurse gegenüber den Währungen der Partnerländer, dann muss man mit schwächeren oder stärkeren Kursausschlägen rechnen. Sie folgen keinesfalls immer wirtschaftlichen Gesetzen. Vielmehr werden sie auch von anderen Einflüssen, so ζ. B. von Erwartungen, die von wirtschaftlichen Vorgängen unabhängig sind, bestimmt. Es soll nicht verschwiegen werden, dass die anfängliche Abwertung des Euro in einer konjunkturell schwachen Periode die wirtschaftliche Entwicklung im Euro-Raum positiv beeinflusste. V.
Koordinierung der Wirtschaftspolitik
Die fehlende einheitliche Wirtschaftspolitik in der EWU ist eine offene Flanke. Sie Schritt für Schritt zu schließen, verlangt viel Zeit. So ist es erforderlich, diese Zeit zu überbrücken. Das geschieht durch eine Koordinierung der Wirtschaftspolitik zwischen den Mitgliedstaaten. Der Vertrag über die Europäische Gemeinschaft stellt fest: „Die Mitgliedstaaten betrachten ihre Wirtschaftspolitik als eine Angelegenheit von gemeinsamen Interesse und koordinieren sie im Rat ..." (EGV 1992, Art. 99, Abs. 1). Damit wird festgestellt, dass die Wirtschaftspolitik eines Mitgliedstaates nicht nur nach eigenen Interessen gestaltet werden darf. Es ist das Interesse der gesamten EU zu berücksichtigen. Der Weg, nach gemeinsamen Interessen zu handeln, wird durch die „Grundzüge der Wirtschaftspolitik" bestimmt, die jährlich festgelegt werden. Sie sind die Basis für die Kooperation in der Wirtschaftspolitik. Der EG-Vertrag sieht vor, dass die Wirtschaftsund Finanzminister der EU auf Empfehlung der Kommission einen Entwurf für die Grundzüge der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft erstellen. Auf der Grundlage dieses Berichts erörtern die Staats- und Regierungschefs eine Schlussfolgerung für die gemeinsame Wirtschaftspolitik. Sie wiederum dient den Wirtschafts- und Finanzministern als Basis für eine Empfehlung, in der die Grundzüge dargelegt werden. Das Europäische Parlament wird von ihnen über die Empfehlungen unterrichtet. Als Beispiel sollen hier die „Empfehlung des Rates vom 15. Juni 2001 zu den Grundzügen der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft" dienen. (Empfehlungen 2001, S. 76 ff.) Der Rat hat in diesen Grundzügen Emp-
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fehlungen für acht Gebiete gegeben. Seine Forderungen sind: 1. Wachstumsund stabilitätsorientierte makroökonomische Politik sicherstellen, 2. Qualität und dauerhafte Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen verbessern, 3. die Arbeitsmärkte stärken, 4. effiziente Produktmärkte (Waren und Diensdeistungen) gewährleisten, 5. Effizienz und Integration des EU-Marktes für Finanzdienstleistungen fördern, 6. unternehmerische Initiative ermutigen, 7. eine wissensbasierte Wirtschaft fördern und 8. die ökologische Nachhaltigkeit sicherstellen. Der Rat gibt aber nicht nur allgemein gehaltene Empfehlungen, sondern er beschließt dazu länderspezifische wirtschaftspolitische Leitlinien. So wurde ζ. B. der Bundesrepublik Deutschland aufgegeben, „den Risikokapitalmarkt durch anhaltende Bemühungen um die Schaffung eines investitions- und unternehmerfreundlicheren steuerlichen und regulatorischen Rahmens weiterentwickeln." (Empfehlungen 2001, S. 95) Die wirtschaftliche Entwicklung in jedem Mitgliedstaat und in der Gemeinschaft wird von der Kommission und dem Rat überwacht. Es wird überprüft, ob die Wirtschaftspolitik in den Mitgliedstaaten mit den Grundzügen vereinbar ist. Dieses Verfahren zwingt die Mitgliedstaaten, sich mit den Empfehlungen in ihrer Wirtschaftspolitik auseinanderzusetzen. Auf diesem Wege wird die Koordinierung der Wirtschaftspolitik in der EU so eng wie möglich gestaltet. Es wird dadurch sichergestellt, dass die Wirtschaftsleistungen der Mitgliedstaaten konvergieren. Das vom Rat über die Grundzüge der Wirtschaftspolitik informierte Europäische Parlament äußert sich dazu in einer eigenen Stellungnahme. Dabei gibt es häufig Anstöße, um die Integration voranzubringen. So hieß es in der „Entschließung des Europäischen Parlaments vom 15. Mai 2001 zu der Empfehlung der Kommission für die Grundzüge der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft im Jahr 2001." (Empfehlung 2001, S. 61 ff.) Das Europäische Parlament „wünscht in diesem Sinne die rasche Aufnahme eines Dialogs über die Schaffung einer politischen Regelung zur Koordinierung der Wirtschaftspolitiken, die — über die Bestimmungen in den Grundzügen der Wirtschaftspolitik hinausgehend — darauf abzielt, jährlich die Konvergenz der Steuerund Haushaltspolitiken der Mitgliedstaaten im Eurogebiet sicherzustellen (Ziffer 14)." (Empfehlung 2001, S. 65) Ein solcher Wunsch des Europäischen Parlaments führt dazu, dass die Kommission einen Dialog organisiert. Er wird auch zu einem Ergebnis führen. Der daraus resultierende Konvergenzfortschritt mag minimal sein. Das aber ist der Weg, auf dem die Integration vorankommt, auch wenn es vom Beschluss der Staates- und Regierungschefs bis zur Gründung der EWU 30 Jahre gedauert hat.
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VI.
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Verringerung der Arbeitslosigkeit
Es gibt eine unabdingbare Regel, die eingehalten werden muss, um Arbeitslosigkeit zu verringern. Sie lautet: Die Zuwachsrate des realen Bruttoinlandsprodukts muss höher sein als die Wachstumsrate des Produktionspotenzials. Die Wachstumsrate des Produktionspotenzials hat zwei Bestandteile: Einmal die Veränderungsrate des Arbeitspotenzials; sie ergibt sich aus Veränderungen der Bevölkerung und der Erwerbspersonenquote; eine positive Rate des Arbeitspotenzials bedeutet, dass mehr Menschen auf den Arbeitsmarkt streben und eine Beschäftigung suchen. Zum anderen wird die Wachstumsrate des Produktionspotenzials von der Zuwachsrate der Arbeitsproduktivität bestimmt; eine zunehmende Arbeitsproduktivität bedeutet, dass weniger Arbeitskräfte benötigt werden, um die Produktion der Vorperiode zu erstellen. Diese freigesetzten Arbeitskräfte drängen ebenfalls auf den Arbeitsmarkt und suchen Beschäftigung. Die Wachstumsrate des Produktionspotenzials in der Bundesrepublik Deutschland liegt bei 1,5 vH. Soll das zusätzliche Angebot an Arbeitskräften kompensiert werden, dann muss die Fortschrittsrate des tatsächlichen realen Bruttoinlandsprodukts um diese 1,5 vH zunehmen. Erst wenn das reale BIP schneller zunimmt als 1,5 vH, sinkt die Arbeitslosigkeit. Leider ist das nicht immer der Fall. Wenn die Zuwachsrate des realen BIP unter 1,5 vH liegt, also unter der Wachstumsrate des Produktionspotenzials, dann nimmt die Arbeitslosigkeit sogar weiter zu. Diese Zusammenhänge sind allgemein anerkannt. In den Empfehlungen des Rates, die Wachstums- und stabilitätsorientierte makroökonomische Politik sicherzustellen, heißt es: „Auf kurze Sicht sollte sie [die makroökonomische Politik] die Fortdauer eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und die umfassende Ausschöpfung des gegenwärtigen Wachstumpotenzials zum Ziel haben. Auf mitdere Sicht sollte sie zur Schaffung von Rahmenbedingungen beitragen, mit denen ein angemessener Umfang von Ersparnis und Investitionen gefördert wird, so dass sich die Wirtschaft auf einen tragfähigen, höheren und inflationsfreien Wachstums- und Beschäftigungspfad bewegt." (Empfehlung 2001, S. 76) Die EU fordert mit anderen Worten, dass sich die Arbeitslosigkeit kurzfristig weder erhöht noch verringert. Erst auf mittlere Sicht soll das Wirtschaftswachstum auf einen Pfad einschwenken, auf dem die Arbeitslosigkeit abnimmt. Die Mitgliedstaaten der EWU müssen jährlich aktualisierte Stabilitätsprogramme vorlegen, mit denen sie ihre Wirtschaftspolitik erläutern. Auch hier hat man erkannt, dass die Arbeitslosigkeit nur zu verringern ist, wenn die Zuwachsrate des tatsächlichen realen BIP die Wachstumsrate des Produktionspotenzials übersteigt. So war im Stabilitätsprogramm fur das Jahr 1999 der Bundesregierung zu lesen: „Das in der mittelfristigen Projektion bis 2002 unterstellte Wachstum von knapp 2 Vi vH übersteigt die erwartete Zuwachsrate des Produktionspotentials.
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Dies fuhrt bei der im Basisjahr feststellbaren Unterauslastung zum Ende des Projektionszeitraums hin zu einer weitgehenden Auslastung der Produktionskapazitäten." (Stabilitätsprogramm 1999, S. 9) Immer wieder ist zu konstatieren, dass die wirtschaftspolitischen Ziele hochgesteckt sind. Häufig ist die Wirtschaftspolitik jedoch nicht in der Lage, sie auch zu erreichen. VII.
Preisstabilität sichern
Für die Bürger ist Preisstabilität ein hohes Gut. Teile des Einkommens, die man heute zurücklegt, sollten morgen die gleiche Kaufkraft wie heute haben. Unternehmen sollten in einem Umfeld stabiler Preise investieren. Preissteigerungen würden sie verleiten, wegen erwarteter zusätzlicher Gewinne Kapazitäten zu erweitern. Preissteigerungen aber rechtfertigen keine zusätzlichen Kapazitäten. Sie würden nicht ausgelastet. Konjunkturelle Rückschläge wären unvermeidlich. Dieses Idealbild ist nicht zu verwirklichen. Geringe Preissteigerungsraten sind unvermeidlich. Das kann an statistischen Unzulänglichkeiten liegen. Auch Rigiditäten bei produktivitätsstarken Unternehmen können ein Grund für leichte Preissteigerungen sein. Das ist der Fall, wenn, bei gegebener durchschnittlicher Zuwachsrate der Arbeitsproduktivität, Unternehmen mit unterdurchschnittlicher Zunahme der Arbeitsproduktivität ihre Preise erhöhen, Unternehmen mit überdurchschnittlichem Produktivitätsfortschritt aber nicht entsprechend senken. Eine Preissteigerungsrate von Null ist dann nicht zu erwarten. Die Europäische Zentralbank misst Preis Stabilität an den Verbraucherpreisen. „Preisstabilität wird definiert als Anstieg des Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) für das Euro-Währungsgebiet von unter 2 % gegenüber dem Vorjahr. Im Einklang mit dieser Definition muß Preis Stabilität mittelfristig beibehalten werden." (EZB 1999, S. 51) Die EZB schrecken also nicht kurzfristige Ausschläge des Preisindex. Sie strebt an, dass in einer mitderen Frist die Preissteigerungsraten nicht höher sind, als in ihrer Definition festgelegt. Vier Jahre nach Beginn der EWU kann man feststellen, dass ihr das weitgehend gelungen ist. Die EZB folgt einer Zwei-Säulen-Strategie. Die erste Säule ist ein Referenzwert für die Geldmenge M3. Diesen Referenzwert kann man auch als eine Orientierungsgröße für die gesamte monetäre Expansion ansehen. Sie ist kein Geldmengenziel. Auch hier spielt die Zuwachsrate des Produktionspotenzials eine wichtige Rolle. Sie wird der Bemessung des Referenzwertes zugrunde gelegt. Allerdings hätte man sich gewünscht, dass auch ein Zuschlag für eine bessere Ausnutzung des Produktionspotenzials berücksichtigt worden wäre. Ferner legt die EZB ihrem Referenzwert die Annahme zugrunde, dass sich die Umlaufsgeschwindigkeit von M3 trendmäßig jährlich verringert. Bisher hat sie von Jahr zu Jahr die Wachstumsrate des Produktionspotenzials im EWU-Raum mit 2 % bis 2 Vz %
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beziffert und die Abnahme der Umlaufsgeschwindigkeit von M3 mit V2 % bis 1 %. „Unter Berücksichtigung der Definition von Preisstabilität und dieser beiden Annahmen beschloss der EZB-Rat, den bisherigen Referenzwert für das Geldmengenwachstum, nämlich eine Jahreswachstumsrate von 4 Vi % für M3, erneut zu bestätigen." (EZB 2001 I, S. 11) Die zweite Säule, auf der die Strategie der EZB fußt, kann man als konjunkturelle Säule bezeichnen. Hier werden die zukünftige Preisentwicklung und ihre Risiken auf der breiten Grundlage einer Vielzahl von Indikatoren beurteilt. Die Lohn- und Wechselkursentwicklung werden hier ebenso beachtet wie Erwartungen in der Wirtschaft. So schwierig, wie die Diagnose von Einflüssen und Risiken auf die Preisentwicklung ist, so kompliziert verläuft auch der Transmissionsmechanismus. Die EZB hat ihn anschaulich dargestellt. (EZB 2001 II, S. 43) Die EZB bestimmt die Geldmarktsätze. Das hat einen entsprechenden, wenn auch ungewissen Einfluss auf die Marktzinsen, aber auch auf die Zinserwartungen. Kredite, Geldmenge und Wechselkurse werden davon beeinflusst. Sie wirken auf Angebot und Nachfrage von Gütern und Dienstleistungen. Alle diese Faktoren beeinflussen aber auch die Lohnabschlüsse, die ihrerseits auf die vorher geschilderten Größen zurückwirken. Alles zusammen beeinflusst die heimischen Preise. Hinzu kommen Preisveränderungen aus dem Ausland, die auch von Wechselkursänderungen berührt werden. Heimische Preisänderungen und Einfuhrpreisänderungen bestimmen schließlich die Entwicklung des Harmonisierten Verbraucherpreisindex in der EWU. Der EG-Vertrag verpflichtet das Europäische System der Zentralbanken, die allgemeine Wirtschaftspolitik der Gemeinschaft zu unterstützen, „soweit dies ohne Beeinträchtigung des Zieles der Preisstabilität möglich ist." (EGV 1992, Art. 105) Das bedeutet, dass die EZB ihre Zinspolitik auch an konjunkturellen Problemen orientiert, sofern Preisstabilität besteht und Risiken für Preissteigerungen nicht sichtbar sind. Umgekehrt ist die Finanzpolitik der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft bedeutsam für die Preisentwicklung. Die Bestimmung: „Die Mitgliedstaaten vermeiden übermäßige öffentliche Defizite." (EGV 1992, Art. 104, Abs. 1) soll helfen, unerwünschte Preiseffekte zu vermeiden. Ergänzt wird diese Bestimmung durch einen Stabilitäts- und Wachstumspakt, der quantitative Grenzen für Defizite im öffentlichen Haushalt und für Schulden der öffentlichen Hände aufzeigt. (Köhler 2000, S. 98 ff. und S. 192 ff.) Für die EZB sind diese Bestimmungen eine Hilfe bei ihrem Bemühungen, Preisstabilität zu sichern: „In particular, the Stability and Growth Pact aims to limit the risks to price stability that might otherwise arise from national fiscal policy." (EZB 2001 II, S. 17) Diese Bestimmungen für das System der Europäischen Zentralbank und für die Finanzpolitik der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft kann man in dem Satz zusammenfassen: Eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik ist nur zu erwar-
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ten, wenn die Geld- und Kreditpolitik und die Finanzpolitik, vor allem ausgerichtet auf die Ziele hoher Beschäftigungsstand und Preis Stabilität, zusammenwirken. VIII. Chancen für eine tripolare Währungsordnung Das Weltwährungssystem war über Jahrzehnte durch eine Vielzahl von nationalen Währungen gekennzeichnet. Nach dem Zusammenbruch des Festkurssystems von Bretton Woods im Jahre 1973 war und ist kaum jemand bereit, zu absolut festen Wechselkursen zurückzukehren. Andererseits hat das gegenwärtige System frei schwankender Wechselkurse erhebliche Nachteile. Wechselkursschwankungen beeinflussen Preise und Wirtschaftswachstum, verzerren grenzüberschreitende Handels- und Dienstleistungsströme und beeinflussen Zinssätze. Die Spekulationen gegen Währungen asiatischer Länder in der zweiten Hälfte des Jahres 1997 und die katastrophalen wirtschaftlichen Folgen für diese Länder machten deutlich, dass eine stabilere Währungsordnung notwendig ist. Die Chancen dafür sind gestiegen, nachdem Europa eine einzige Währung, den Euro, besitzt. Damit sind die gegenwärtig relevanten Währungen auf drei zusammengeschmolzen: den US-Dollar, den Euro und den Yen. Wilhelm Nölüng sieht diese Probleme ebenfalls. „Die in den Börsenstürmen vom Sommer und Herbst 1998 deutlich gewordene Brüchigkeit der internationalen Währungsordnung, in deren Mittelpunkt der US-Dollar steht, hat die Frage nach grundsätzlichen Reformen und Alternativen wiederbelebt." (Nölling 1998, S. 6) Eine verbesserte Währungsordnung sollte zwei Aufgaben erfüllen. Einmal muss sie ermöglichen, dass der internationale Handel wechselkursneutral abgewickelt wird. Wechselkursschwankungen dürfen die grenzüberschreitenden Waren- und Diensdeistungstransaktionen nicht verzerren (Schaffung von Handelsneutralität). Zum anderen muss dafür gesorgt werden, dass zinsinduzierte Geld- und Kapitaltransaktionen spannungsfrei abgewickelt werden können (Schaffung von Kapitalverkehrsneutralität). Eine solche Währungsordnung könnte zwischen den USA, der EWU und Japan vereinbart werden. Anderen Währungen stünde es frei, sich diesem System anzuschließen, Korblösungen zu treffen, ihre Währungen weiterhin frei schwanken zu lassen oder andere Wege zu gehen. Mit der tripolaren Währungsordnung käme mehr Stabilität in das globale Wechselkurssystem. Handelsneutralität der Wechselkursentwicklung bedeutet feste reale Wechselkurse. Die Wechselkurse zwischen US-Dollar, Euro und Yen müssten den Differenzen der Preissteigerungsraten zwischen USA, EWU und Japan folgen. Wenn diese drei Länder einen solchen Willen deutlich bekunden, notfalls auch durch Devisenmarktinterventionen, dann folgt der Markt, einschließlich der Spekulation, solchen Pfaden. An der Sicherstellung solcher Pfade würde die Spekulation verdienen.
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Kapitalverkehrsneutralität der Wechselkursentwicklung bedeutet, dass die Zinsdifferenzen zwischen den drei teilnehmenden Staaten etwa den Differenzen der Preissteigerungsraten entsprechen. Ist das gegeben, dann ist es für Investoren gleichgültig, in welchem der drei Länder sie ihre Gelder anlegen. Geschieht dies in einem Land mit hohen Zinsen, weil dort die Preissteigerungsraten hoch sind, dann verliert der Investor den Zinsvorteil, wenn er später seine Anlagewährung in die eigene Währung zurücktauscht. Diese hat nämlich wegen der Preisdifferenzen aufgewertet. Destabilisierende Spekulationen sind auch in einem solchen relativ stabilen Wechselkurssystem nicht ausgeschlossen. Analysiert man solche spekulativen Attacken, dann hat man zu konstatieren, dass sie nur möglich sind, wenn die Spekulanten sich zunächst in den Besitz der zu attackierenden Währung setzen, und zwar oft im Gegenwert von Milliarden US-$. (Köhler 1998, S. 191 ff.) Dem kann man nicht begegnen mit einer Steuerbelastung von Devisentransaktionen, wie ζ. B. der Tobin-Steuer. Eine solche Steuer wird die Spekulation nicht abhalten, wenn sie, wie in Asien geschehen, in wenigen Tagen eine Währungsabwertung bis zu 30 vH auslöst und entsprechende Gewinne erzielt. Begegnen kann man solchen spekulativen Attacken durch mehr Transparenz. Die nationalen Bankenaufsichtsbehörden müssten rechtzeitig informiert werden von der Absicht von Banken, Kredite in nationalen Währungen in Beträgen im Wert von einigen hundert Millionen US-Dollar zu gewähren. Sie müssten das Recht haben, solche Kreditaufnahmen zu verbieten.
IX.
Zur Erweiterung der EU und der EWU
Wenn in einer Integrationsgemeinschaft ein großer Schritt getan wird, wie das in der EU mit Schaffung der EWU geschah, dann ist grundsätzlich eine Periode der Konsolidierung und Vertiefung angesagt. Dazu wird es nicht kommen. Die EU sieht sich der Herausforderung gegenüber, bis zu 13 Staaten in ihre Gemeinschaft aufzunehmen. Es handelt sich überwiegend um Staaten, die vom Kommunismus und einem planwirtschaftlichen System befreit sind. Wenn sie die Mitgliedschaft in der EU anstreben, dann kann man sie ihnen auf längere Zeit nicht verwehren. Das ist das politische Problem. Wirtschaftlich gibt es Kriterien für die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten. (Köhler 1999, S. 110 ff.) Verlangt wird einmal, dass die Preissteigerungsraten der Beitrittskandidaten nur geringfügig von den in der EU abweichen. Das gilt zweitens auch für die langfristigen Zinsen. Drittens muss eine auf Dauer tragbare Finanzlage der öffentlichen Hand gegeben sein. Öffentliches Defizit und öffentlicher Schuldenstand sind dabei quantitativ begrenzt. Was die Wechselkurse der Währungen der Beitrittskandidaten betrifft wird viertens verlangt, dass die Kandidaten mindestens zwei Jahre vor ihrem Beitritt Mitglied des Europäischen Wäh-
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rungssystems sind und am Wechselkursmechanismus teilnehmen. Die Staaten, die den Beitritt wünschen, sind bestrebt, die Kriterien zu erfüllen. Ein fünftes Kriterium, dass die Pro-Kopf-Einkomen der Beitrittskandidaten vom Durchschnitt der EU-Mitgliedsländer nicht erheblich abweichen dürfen, hat es nie gegeben. Es spielte vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion keine Rolle. Viele der Beitrittskandidaten in Ostmitteleuropa und der Türkei besitzen ein ProKopf-Einkommen, das deutlich unter dem Durchschnitt der heutigen EUMitgliedsländer liegt. (Köhler 2000, S. 149) Wahrscheinlich wird man bemüht sein, die Beitrittstermine der heutigen Kandidatenländer nach diesem „fünften Kriterium" etwas hinauszuschieben. Ein Staat, der Mitglied der EU geworden ist, wird grundsätzlich auch Mitglied der EWU. Sie sind dort Mitglieder mit einer Ausnahmeregelung. Vollmitglieder können sie erst werden, wenn neben einem hohen Grad an dauerhafter Konvergenz auch die innerstaatlichen Rechtsvorschriften der Kandidatenländer den Bedingungen des EG-Vertrages angepasst sind. Dazu gehört vor allem die Sicherung der Unabhängigkeit der nationalen Zentralbank. Sie sind in der Zeit, in der sie den Status eines Mitgliedstaates mit Ausnahmeregelung einnehmen, nicht berechtigt, an der Geld- und Kreditpolitik der EZB mitzuwirken. Der Erweiterte EZB-Rat, dem diese Länder angehören, entscheidet nur über allgemeine Angelegenheiten. Dazu gehören u. a. die Statistiken, die erhoben werden sollen, die Berichtstätigkeiten der EZB, die Standardisierung der Buchhaltung im ESZB und die Beschäftigungsbedingungen, die für das Personal festzulegen sind. Volle Mitglieder der EWU werden diese Länder der EU erst, nachdem ein Aufnahmeverfahren durchlaufen ist: „Mindestens einmal alle zwei Jahre bzw. auf Antrag eines Mitgliedstaats, für den eine Ausnahmeregelung gilt, berichten die Kommission und die EZB dem Rat nach dem Verfahren des Artikels 121 Absatz 1 [„... inwieweit die Mitgliedstaaten bei der Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion ihren Verpflichtungen bereits nachgekommen sind."]. Der Rat entscheidet nach Anhörung des Europäischen Parlaments und nach Aussprache im Rat, der in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs tagt, auf Vorschlag der Kommission mit qualifizierter Mehrheit, welche der Mitgliedsstaaten, für die eine Ausnahmeregelung gilt, die auf den Kriterien des Artikels 121 Absatz 1 beruhenden Voraussetzungen erfüllen [Konvergenzkriterien], und hebt die Ausnahmeregelung der betreffenden Mitgliedstaaten auf." (EGV 1992, Art. 122) Wird ein solcher Beschluss gefasst, ist das betreffende Land von da ab volles Mitglied der EWU. Der Euro wird dort gesetzliches Zahlungsmittel. Das Land nimmt an den geld- und kreditpolitischen Entscheidungen des EZB-Rates teil.
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Der Ökonom als Politiker - Europa, Geld und die soziale Frage (hrsg. v. W. Hankel, Κ. A. Schachtschneider und J. Starbatty) © Lucius & Lucius, Stuttgart, 2003
Die Osterweiterung der Europäischen Union: Perspektiven für Hamburg und den Norden Deutschlands Thomas Mirow I. Mit der anstehenden Erweiterung der Europäischen Union um 10 weitere Staaten überwindet unser Kontinent endgültig viereinhalb Jahrzehnte einer widernatürlichen, schmerzlichen Teilung. In der gegenwärtigen, schwierigen Phase der internationalen Politik, die von massgeblichen Paradigmenwechseln geprägt ist, ist dies ein politischer Fortschritt von historischer Dimension. Die anstehende Erweiterung stellt zugleich die bisher größte Herausforderung an die Europäische Union dar: In ganz Europa wird deshalb zu Recht die Frage gestellt, ob die Union hinreichend auf diese Erweiterung vorbereitet ist oder ob das ohnehin schon fragile Konstrukt der Gemeinschaft mit 25 Mitgliedern endgültig überfordert sein wird. Der Europäische Konvent und in der Folge die Mitgliedstaaten tragen deshalb eine große Verantwortung, wenn sie gegenwärtig darum ringen, die Union auf eine neue Grundlage zu stellen, die gleichermaßen den Ansprüchen demokratischer Legitimation wie denen an die administrative Effizienz genügt. Neben diesen für die Zukunft des gesamten Kontinents essentiellen Fragen, die durch die Erweiterung aufgeworfen werden, ergeben sich aus der Neugestaltung Europas auch wichtige regionale, insbesondere regionalwirtschaftliche Folgewirkungen, die für die Lebenswirklichkeit vieler Menschen kaum weniger bedeutsam sind, etwa bezogen auf Hamburg und den Norden Deutschlands. Mit diesem Thema befasst sich der folgende Beitrag.
II. In der ursprünglichen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft der Römischen Verträge bildete Westdeutschland die zugleich östlichste und nördlichste Grenze. Erst mit den Erweiterungen der siebziger, achtziger und neunziger Jahre kam man dem Anspruch auf ein „vereintes Europa" auch geographisch spürbar näher. Jetzt, mit der für den 1. Mai 2004 geplanten abermaligen Erweiterung um gleich 10 Staaten, darunter das gesamte Baltikum und die wichtigsten Länder
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Mitteleuropas, erhält die Europäische Union noch einmal ein gänzlich neues Gesicht. Kein Land der bisherigen Europäischen Union ist davon so unmittelbar betroffen wie die Bundesrepublik Deutschland. Die Ostgrenze unseres Landes wird nicht länger die Ostgrenze der Europäischen Union sein. Das wiedervereinigte Deutschland liegt von nun an im Herzen der Union. Diese neue Union wird 475 Millionen Menschen zählen. Es entsteht der größte Binnenmarkt der Welt. Und die Chancen für ein vergleichsweise rasches Zusammenwachsen der Volkswirtschaften von bisherigen und neu hinzukommenden Mitgliedstaaten stehen nicht allzu schlecht — nicht nur, weil die Beitrittsverhandlungen mit größerer Sorgfalt als je zuvor geführt wurden, sondern vor allem, weil der Integrationspozeß schon seit vielen Jahren im Gange ist, also nicht erst mit der förmlichen Mitgliedschaft beginnt. Mit Hilfe zahlreicher bilateraler Abkommen und im allseitigen Wissen um das gemeinsame Ziel der späteren Mitgliedschaft wurde eine weitgehende Liberalisierung des Handels zwischen den künftigen Mitgliedern und der bisherigen EU ebenso bereits erreicht wie eine organisierte Zusammenarbeit in wichtigen wirtschaftlichen und finanziellen Fragen. Die Europäische Union hat die notwendigen Anpassungsprozesse in den Beitrittstaaten während der vergangenen Jahre mit gezielten Programmen auch finanziell unterstützt: Seit dem Jahr 2000 erhielten die Transformationsländer aus dem PHARE-Programm 6,2 Milliarden Euro für die Stärkung ihrer Institutionen und der öffentlichen Verwaltungen, gut 4,2 Milliarden im Rahmen des ISPAProgramms für Verbesserungen der Verkehrs- und Umweltstruktur und noch einmal 2,8 Milliarden aus dem Programm SAPARD für die Anpassung ihrer Landwirtschaft und der ländlichen Entwicklung. Weitere Hilfen — etwa ein neues Programm zur Umstrukturierung der Landwirtschaft in den Beitrittsländern, das in den Jahren 2004 bis 2006 5,1 Milliarden Euro umfassen soll — sind vertraglich vereinbart, ohne daß hierdurch die Gesamtausgaben der EU wesentlich steigen sollen. Insgesamt wurden für diese Maßnahmen in den Jahren 2004 bis 2006 21,7 Milliarden eingeplant. Die rasche Entwicklung marktwirtschaftlicher Strukturen in den Transformationsländern hat in den letzten Jahren nicht zuletzt dafür gesorgt, daß in erheblichem Maße westeuropäische Unternehmen in Produktionsanlagen und Unternehmen der Region investiert haben. Manche industrielle Produktionsverlagerung, auch aus Norddeutschland, nach Polen, in die tschechische Republik oder Ungarn war dabei für die bisherigen Standorte durchaus schmerzlich. Insgesamt aber sind vernünftige Arbeitsteilungen zwischen arbeitsintensiven Abläufen einerseits und kapital- bzw. forschungsintensiven Wertschöpfungsketten andererseits für alle Beteiligten sinnvoll.
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Regionalwirtschaftliche Analysen, etwa die von Konrad Lammers1, kommen vor diesem Hintergrund deshalb zu einer zuversichtlichen Einschätzung der wirtschaftlichen Chancen für die neuen EU-Staaten. Zusammenfassend heißt es dort: „Es gibt bislang keine Anzeichen dafür, daß die Beitrittsländer bei weiteren Integrationsschritten in der wirtschaftlichen Entwicklung gegenüber Westeuropa zurückbleiben... Im Gegenteil, die Beitrittsländer haben gute Chancen aufzuholen. Weil die Beitrittskandidatenländer über Ausstattungs- und Kostenvorteile beim Faktor Arbeit verfügen, sind die Voraussetzungen gut, daß sie sich weiter in die europäische Arbeitsteilung integrieren und dadurch ihre Aufholprozesse vorantreiben."
III. Die Folgewirkungen dieses schon deutlich vorangeschrittenen wirtschaftlichen Integrationsprozesses für Hamburg und den Norden Deutschlands sind schon seit längerem spürbar. Die gefährlich periphere wirtschaftsgeographische Lage Norddeutschlands, die bis in die achtziger Jahre den ohnehin lastenden Strukturwandel noch verschärfte, konnte schrittweise überwunden werden. Wer einen sehr konkreten Eindruck dieses Wandels gewinnen will, der werfe einen Blick auf die Entwicklung des Hamburger Hafens: Die starken Wachstumsraten der letzten Jahre sind das folgerichtige Ergebnis von umfangreichen Infrastrukturinvestitionen — insbesondere die Fahrrinnenanpassung und der Bau einer der weltweit leistungsfähigsten Umschlags anlagen in Altenwerder — sowie der konsequenten Rückgewinnung wachsender Märkte in Hamburgs traditionellen „Hinterland", nicht zuletzt durch intensive logistische Verknüpfungen etwa mit Ganz-Container-Shutdezügen, die die Hansestadt mitderweile täglich mit Warschau, Prag und Budapest verbinden. Betrachtet man aus heutiger Sicht die wirtschaftlichen Perspektiven der EUErweiterung für den Norden Deutschlands, so wird man sich dabei in erster Linie auf das nahegelegene Mitteleuropa und auf das Baltikum konzentrieren. Denn die Erweiterung der Europäischen Union um diese Länder bedeutet nichts anderes als das Wiedererstehen einer zeitgemäßen Hanse. Sämtliche Staaten der Ostseeregion, des Mare Balticum, werden dann der Europäischen Union angehören, mit der einen, überaus wichtigen Ausnahme Russland, auf die noch zurückzukommen sein wird.
1 Aus dem H W W A im vergangenen Jahr („Die Osterweiterung aus raumwiitschaftlicher Perspektive - Prognosen regionalökonomischer Theorien und Erfahrungen aus der bisherigen Integration in Europa").
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Diese Region war über Jahrhunderte eine Zone äußerst fruchtbarer Austauschbeziehungen — und sie hat alle Chancen, dies wieder zu werden. Sicherlich sind die Strukturunterschiede und das Wohlfahrtsgefälle rund um die Ostsee heute noch beträchtlich, doch gerade in diesen Unterschieden liegen auch gute Chancen für Innovation, Wachstum und Strukturwandel.
IV. So günstig indes die Voraussetzungen dafür sind, daß die anstehende EUErweiterung dem Norden Deutschlands zugute kommt, so wenig sollte man darauf bauen, daß sich die Erwartungen gleichsam von selbst erfüllen. Alles spricht vielmehr dafür, daß man sich auch in diesem Falle Wachstumszugewinne durch aktives Handeln wird verdienen müssen. Dabei dürften sechs Tätigkeitsfelder von besonderem Belang sein. Erstens wird es für den Norden Deutschlands noch wichtiger werden, zu regionaler Kooperation zu finden. Kleinregionen werden dem Wettbewerbsdruck in der Europäischen Union in Zukunft kaum standhalten können. So wie Unternehmen heute fusionieren, um die notwendige kritische Marktgröße zu erreichen, so wie Mittelständler Netzwerke bilden, um ihren Kunden gemeinsam leistungsfähige Angebote unterbreiten zu können, müssen auch die norddeutschen Länder über die offenbar kaum verrückbaren Grenzen hinweg, ihre Kooperation energisch vorantreiben, wenn sie nicht zurückfallen wollen. Es wird unerlässlich sein, daß die norddeutschen Länder ihre knappen Ressourcen noch stärker bündeln, zum Beispiel weil es sonst nicht möglich sein wird, die technologischen Spitzeneinrichtungen an ihren Hochschulen ausreichend zu finanzieren. Sie werden sich innerhalb der Europäischen Union und auch auf den Weltmärkten mit einem klaren Leistungsprofil präsentieren müssen, wenn internationale Unternehmen sie weiterhin oder auch wieder verstärkt auf ihrer Rechnung haben sollen, denn die grundlegenden ökonomischen Rahmenbedingungen werden sich in Mitteleuropa immer weniger unterscheiden und zugleich wird der Faktor Arbeit in den neuen Mitgliedsstaaten noch auf lange Zeit deutlich günstiger sein. Dabei sollte man auch im Auge behalten, wie sich andernorts in Europa Regionen als starke „Pressure Groups" konstituieren, etwa London, die Ile-de-France, die Region Rotterdam und Antwerpen oder der Süden Deutschlands. Zweitens: Regionen beziehen einen Großteil ihrer Kraft aus den jeweiligen Metropolen. Sie bilden das ökonomische und kulturelle Gravitationszentrum und wirken profilbildend. Hamburg als Metropole des deutschen Nordens ist dafür ein anschauliches Beispiel:
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als Außenwirtschaftszentrum mit gewachsenen Verbindungen zu den neuen Märkten in Mittel- und Osteuropa, als Logistik- und Distributionsdrehscheibe Nordeuropas, als international bedeutende Medien- und Multimediametropole, als modernes industrielles Zentrum mit einer hochspezialisierten, wissensbasierten Produktion, die vom Flugzeugbau bis zur Bio- und Medizintechnik reicht, als Zentrum fur hochwertige Dienstleistungen, deren Angebotspalette die Finanzwirtschaft, internationale Rechts- und Wirtschaftsberatungen, aber auch hochwertiges Engineering Know How umfaßt, als Standort zahlreicher leistungsfähiger Forschungs- und Bildungseinrichtungen sowie als attraktive Kultur- und Bw«/metropole. Es wird deshalb darauf ankommen, mit strategischen Projekten wie den konsequenten Ausbau der zivilen Luftfahrtindustrie, die Weiterentwicklung der Logistikfunktionen des Hafens, die Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur auch mit Hilfe privater Finanzierungsmodelle, die Stärkung der Wissenschafts- und Forschungskapazitäten, den Bau einer strahlungskräftigen, bestandsfähigen HafenCity oder die Modernisierung von Messe und Kongress-Zentrum diese Kernfunktionen weiter zu stärken. Dabei wird man in den bevölkerungsschwächeren, ländlichen Teilen des Nordens immer •wieder dafür werben müssen, daß die Stärkung dieser Kernkompetenzen in Hamburg auch ihnen unmittelbar zugute kommt und nicht in Konkurrenz zu ihnen geschieht. Drittens: Dank der Brückenschläge über den großen Belt und am Öresund sind gute Voraussetzungen dafür gegeben, daß ein neues nordeuropäisches Kräftedreieck zwischen den Metropolen Hamburg, Berlin und dem Großraum Kopenhagen/Malmö entsteht. Weiter östlich liegen die Großstädte Helsinki, Danzig und — außerhalb der EU — St. Petersburg. Hinzu kommen wichtige städtische Zentren wie Kiel, Lübeck, Lund oder Heisingborg und Stettin. Diese Gebiete haben große Potentiale. Je für sich genommen dürften sie aber nicht stark genug sein, um sich im europäischen Wettbewerb zu behaupten. Gemeinsam hingegen könnten sie die „kritische Masse" erreichen, um in der EU eine Spitzenposition zu erlangen. Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit innerhalb der erweiterten EU ist deshalb nicht nur eine Frage von Kultur und Tradition, sondern für den Norden auch der notwendige Versuch, die im Vergleich zu anderen Regionen wie dem Ruhrgebiet
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oder der Grenzregion Rheinland/Niederlande/Belgien sehr geringe Bevölkerungsdichte zumindest teilweise zu kompensieren. Gegenwärtig werden in der gesamten Ostseeregion Güter und Diensdeistungen im Wert von rund 900 Milliarden Euro erstellt. Das Gesamtvolumen des Binnenhandels beträgt ca. 100 Milliarden Euro. Und obgleich die Ostsee gerade einmal 0,1 % der Weltozeanfläche umfasst, macht der Ostseeverkehr bereits sieben Prozent des Weltseetransports aus, das sind etwa 350 Millionen Tonnen Güter jährlich. Wenn das Bruttoinlandsprodukt in den Transformationsländern in den nächsten 20 Jahren weiter kräftig wächst, wird sich auch die Arbeitsteilung im Ostseeraum weiter aus differenzieren und die Transport- und Handelsvolumina werden steigen. Allein für den Transportsektor rechnen Fachleute mit einem Mengenwachstum in diesem Jahrzehnt um 50 Prozent. Die Schaffung einer funktionsfähigen Infrastruktur, also effiziente transnationale Netze, wird deshalb wesentlich über den Wachstumserfolg im Ostseeraum entscheiden. Neue wirtschaftliche Beziehungen benötigen reale Entwicklungsachsen. Wirtschaftliche Dynamik erzeugt Verkehr. Schätzungen gehen davon aus, daß in diesem Jahrzehnt in der Ostseeregion der Verkehr auf den Straßen um 100 Prozent, auf der Schiene bis zu 50 Prozent und auf der „nassen Autobahn" Ostsee um bis zu 85 Prozent zunehmen wird. Dies unterstreicht den enormen Nachholbedarf, der im Bereich der Infrastruktur abzuarbeiten ist, damit sich das Beispiel vervielfältigen kann, das Schweden und Dänemark gegeben haben: durch die Fertigstellung der Öresund-Brücke wachsen Kopenhagen und Malmö zu einem auch international wettbewerbsfähigen Wirtschaftszentrum zusammen mit drei Millionen Einwohnern und einer ausgezeichneten Forschungsdichte, eine Entwicklung, in die beide Länder 20 Milliarden Euro investieren. Bei der Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur ist aus ökologischen wie ökonomischen Gründen gewiss dem Schienen- und Schiffsverkehr eine Vorrangstellung einzuräumen. Es gibt jedoch auch eine Reihe von Straßenprojekten, die für die Entwicklung einer funktionierenden Ostseeregion hohe strategische Bedeutung haben, dazu zählen vor allem die sogenannte „Via Hanseatica", d.h. eine leistungsfähige Verbindung von St. Petersburg über die baltischen Republiken und Kaliningrad bis nach Danzig, Stettin und Lübeck wie auch, längerfristig, die „Via Baltica" von Helsinki über Tallin, Riga, Kaunas und Warschau nach Berlin. Viertens: Bei der anstehenden Erweiterung der Europäischen Union dürfen die Verantwortlichen nicht den Fehler der deutschen Vereinigung wiederholen und verschweigen, daß der Integrationsprozeß in Mitteleuropa den Menschen auch Opfer abverlangt und mit Risiken verbunden ist, die gemeistert werden müssen. Allzuoft sind an sich gute und richtige Entwicklungen dadurch beschädigt wor-
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den, daß in der Öffentlichkeit überzogene Erwartungen geweckt wurden, die dann dem Vergleich mit der Realität nicht standhalten konnten. So steht heute fest, daß die Heranführung der neuen Bundesländer an die sogenannten alten Länder allein in den ersten zehn Jahren mit einem in der Geschichte bisher einmaligen Finanztransfer von etwa 750 Milliarden Euro verbunden war. Und dennoch sollen die im sogenannten Solidarpakt II gebündelten Anstrengungen noch gut fünfzehn Jahre fortgeführt werden. Denn die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der neuen Länder beträgt auch heute noch nicht mehr als zwei Drittel der alten Länder, und gegenwärtig ist eine Schließung dieser Lücke kaum absehbar. Die Anstrengungen der Europäischen Union, um Mitteleuropa an den Durchschnitt der bisherigen Mittgliedstaaten heranzuführen - das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen in den Beitrittsländern liegt gegenwärtig bei etwa 50% der bisherigen EU - werden trotz der erheblichen Wachstumsdynamik noch sehr erheblich sein müssen, — und die öffentlichen Haushalte lassen bekanntlich wenig Spielraum für große zusätzliche Ausgabenblöcke. Ob die lobenswerten gegenwärtigen Bemühungen, dies alles im Wege von Umverteilungen innerhalb des EU-Budgets zu erreichen, wirklich ausreichen werden, erscheint durchaus fraglich. Ohne eine schrittweise Angleichung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse wird die Europäische Union indes zwangsläufig neue Verwerfungen mit möglichen, tiefgreifenden politischen Folgen erleben. Nur allmählich steigende Einkommensniveaus und eine mittelfristige Annäherung der Löhne und Gehälter zwischen alter und neuer EU werden verhindern können, daß Migrationsbewegungen und Sozialdumping gerade in den Grenzregionen zu erheblichen Belastungen führen. Alles spricht deshalb dafür, daß für längere Zeit eine aktive Strukturpolitik mit nicht unerheblichem finanziellen Aufwand notwendig sein wird, um den angestrebten Integrationsprozeß innerhalb der erweiterten EU sicherzustellen. Fünftens: Die Kooperationsanstrengungen im nördlichen Mitteleuropa dürfen nicht an der polnischen Ostgrenze enden. Russland kann aufgrund seiner Größe und angesichts seiner Geographie niemals Mitglied der Europäischen Union sein, wenn diese ihre Kohäsion nicht gänzlich verlieren will. Aber die Europäische Union muß zu Russland besondere, enge Beziehungen, gerade auch auf wirtschaftlicher Ebene anstreben, damit nicht an der Westgrenze dieses Riesenreichs ein neuer Armutsgraben entsteht. Und Russland bietet, in dem Maße wie gegenwärtig die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen nachhaltig an Stabilität gewinnen, jedenfalls in den westlichen Metropolregionen auch ökonomisch ausgezeichnete Chancen. Dabei richten sich die Blicke vieler in Russland auf Deutschland, für den Norden gewiß eine große zusätzliche Chance.
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Sechstens: Nicht nur die Europäische Union muß sich selbst in die Lage versetzen, die anstehende Erweiterung politisch und ökonomisch zu verkraften und sich dementsprechend neu zu organisieren. Wir brauchen auch in Deutschland eine gebündelte Kraftanstrengung, um unser politisches, unser ökonomisches und unser soziales Grundgerüst auf einen neuen, für das größere Europa tauglichen Stand zu bringen. Dazu gehören die Reformen unserer sozialen Sicherungssysteme oder des Arbeitsrechts, über die gegenwärtig in unserem Lande so leidenschaftlich gestritten wird, ebenso wie eine grundlegende FöderalismusReform, die für klare Zuständigkeits-Abgrenzungen und Verantwortlichkeiten sorgt, damit wir nicht in einem lähmenden System von Abstimmungs- und Ausgleichsmechanismen verharren. Je besser es gelingt, die Erweiterung der Europäischen Union zum Katalysator für Reformen auch im Innern unseres Landes werden zu lassen, desto größer sind die Chancen, daß der hoch erfreuliche politische und kulturelle Zugewinn, der in dem neuerlichen Zusammenwachsen des westlichen mit dem östlichen Europa liegt, auch die dringend benötigten, ökonomischen Wachstumsimpulse auslöst — und dies nicht zuletzt im Norden Deutschlands.
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Noch ist Europas Zukunft nicht verloren Christa Rand^jo-Plath Der Politiker aus Leidenschaft, der Wissenschaftler von Rang und das unbequeme Zentralbankmitglied Dr. Wilhelm Nölling wird 75 Jahre. Dies ist Grund genug, um über "Unser Geld"1, über die Europäische Verfasstheit und die Verfassung nachzudenken. Schließlich hat der Jubilar allen genug Kopfschmerzen bereitet, die sich für die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion auf dem Weg zu "mehr" Europa eingesetzt haben. Zu unterstreichen bleibt, dass seinen Gegenkurs keine anti-europäischen oder nationalistischen Argumente bestimmt haben, die gerade in der Bundesrepublik Deutschland so virulent waren. Vor einem "Fiasko für Wirtschaft und Politik" warnte Wilhelm Nölling, als der Vertrag von Maastricht und damit die Wirtschafts- und Währungsunion Gestalt annahm. Weder die "Karolingische Münzreform" noch die Unbillen des Hamburger Thalers oder die Geschichte des deutschen Geldes im wunderschönen Hamburger Zollmuseum konnten ihn davon überzeugen, dass der Abschied von der D-Mark richtig war. Das schmerzte persönlich wegen der Freundschaft, das beunruhigte politisch wegen der Funktionen als Landeszentralbankpräsident, Wissenschaftler und Autor. Aber das ist Vergangenheit wie auch die "Streitigkeiten" bis hin zum Bundesverfassungsgericht. Wilhelm Nölling hat die politische und intellektuelle Elite häufig kritisiert und mit Dante (Göttliche Komödie, Fegefeuer, 16.Gesang) formuliert: "Daher, wenn heut die Welt entgleist, so liegt in euch der Grund, in euch ist er zu suchen, so kannst Du einsehen, dass nur schlechte Führung der Grund ist, der die Welt verkommen lässt." Wilhelm Nölling ist Teil dieser Elite und ist deswegen so liebenswert, weil er sich selbst seinem eigenen kritischen Urteil stellt, ohne die Vorliebe für geistige Flirtversuche zu verlieren. Das legitimiert zu Weitblick. Insofern lohnt sich ein Blick in Europas Verfasstheit und Verfassung. Die Politische Union als Debattenthema hat die Währungsunion eingeholt, auch wenn der Euro sich bisher nicht als "Schmiermittel" für die politische Union erwiesen hat.
1 So der Titel eines Buches von W. Nölling: Unser Geld - der Kampf um die Stabilität der Währungen in Europa, Berlin und Frankfurt 1993. Englischsprachige Ausgabe: Monetary Policy in Europe after Maastricht, St. Martin's Press, London- New York 1993.
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I.
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Eine europäische Verfassung wird gebraucht
Die Enttäuschung über den Vertrag von Nizza, die Querelen über die Arbeitsteilung zwischen der Europäischen Union und den Nationalstaaten und die Herausforderung, eine europäische Identität und ein europäisches Profil im Zeitalter der Globalisierung zu finden, haben eine fruchtbare Debatte über die Standortbestimmung Europas in Gang gesetzt. Es geht nicht mehr um die Frage, ob wir Europa brauchen und wollen. Schließlich sind die Interdependenzen von äußerer und innerer Sicherheit, von Wirtschaft, Umwelt, Verkehr, Wohlstand und Arbeitsplätzen in den EU Mitgliedstaaten eine Realität. Europa hat bereits mit dem Binnenmarkt und der einheitlichen Währung rechtzeitig auf die Herausforderungen der Globalisierung der Märkte geantwortet — auch wenn es immer noch Schwachstellen in der Realisierung des Gemeinsamen Marktes gibt. Europa hat auch embryonale staatsbürgerliche Rechte und Pflichten geschaffen — vom kommunalen Wahlrecht für EU-Bürger bis hin zur EU-Grundrechtscharta mit zentralen klassischen, aber auch modernen Staatsbürgerschaftsrechten. Aber immer noch ist die Frage offen, wie viel Europa und welches Europa gewollt und gebraucht wird, wenn Europa zu einer "immer engeren Union der Völker" zusammenwachsen soll. Die Einrichtung des Konvents — eine langjährige Forderung des Europäischen Parlaments — war eine historische Chance, um Europa einen verbesserten Vertrag und eine europäische Verfassung zu geben. Europa ist nämlich nicht in bester Verfassung, weil der politische Entscheidungsprozess und die Gesetzgebungsverfahren in den verschiedenen Politikbereichen in äußerst komplexen Fragestellungen weder demokratisch noch transparent noch bürgernah sind. Auch vermischen sich ständig grundsätzliche Positionierungen, Empfehlungen und Leitlinien mit konkreter Gesetzgebung auf unterschiedlichen Ebenen. Die Europäische Union ist kein Staat wie die Nationalstaaten. Sie ist ein "aliud" mit Merkmalen der Staatlichkeit. Von daher muss für jeden deutlich werden, welche Aufgaben die Union hat und von welchen Leitlinien sie sich bewegen lässt. Zum bestehenden Modell der Montesquieschen Gewaltenteilung hinzukommen muss eine Mehr-Ebenen-Demokratie, so dass sichtbar wird, was warum auf europäischer oder auf nationaler Ebene geregelt wird. Die Einladung zum Dialog über Ziele, Grundsätze und Normen einer europäischen Verfassung ist also ausgesprochen. Dieser Dialog kann sich allerdings nicht auf die „Herrschafts-Ebene" beschränken. Auch Internet-Chats reichen nicht aus, um ein „Bürger-Europa", eine europäische Republik, zu schaffen. Die Europäische Union hat Grenzen ihres Handelns, wenn es um die Beteiligung der Bevölkerung geht. Die absurde Geschichte des einheitlichen Wahlrechts zum Europäischen Parlament hat diesen Zustand dokumentiert. Zwei Fragen an die Völker und Bürgerinnen Europas wären aber legitim:
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1.
Soll sich die Europäische Union eine Verfassung geben?
2.
Gibt es eine Zustimmung zum Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents?
Gerade die unterschiedlichen Traditionen der heutigen 15 und künftigen 25 EUMitgliedstaaten laden zu einer derartigen Bürgerbefragung ein, auch wenn sie sich aus institutionellen Gründen nicht an die Stelle der bisherigen Ratifizierungsinstrumente setzen darf. Schließlich entscheiden Nationen, nicht die Bevölkerung über weitere Integrationsfortschritte. Der Maastricht-Prozess in Deutschland hat gezeigt, wie sträflich und leichtsinnig die Information und Beteiligung der Bürger vernachlässigt worden sind. Die Europa-Wahl 2004 kann mit der Abstimmung über die Europäische Verfassung verbunden werden. II.
Grundsätze einer europäischen Wirtschaftspolitik konstitutionalisieren
Gerade im Bereich der Wirtschaft wird deutlich, dass eine Regelungsnotwendigkeit besteht. Die Wirtschafts- und Währungsunion ist ein Teil der politischen Union und hat neben dem Binnenmarkt dazu beigetragen, dass Europa in der Welt ökonomisch von Gewicht ist. Die Europäische Union verfügt über den größten Binnenmarkt der Welt mit 370 Millionen Verbrauchern, mit einem den USA vergleichbaren Anteil von 18 % am Welthandel und 19,9 % am Weltbruttosozialprodukt (2001). Dennoch kennzeichnen Europa weiterhin Schwächen: schwaches Wirtschaftswachstum, Abhängigkeit von der Weltkonjunktur, zu hohe Arbeitslosigkeit und Armut, mangelnder wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt und - bei allem Fortschritt - immer noch Mängel in den Strukturreformen, vor allem im Finanzmarkt- und Diensdeistungsbereich. Das wird sich mit der Erweiterung auch nicht automatisch ändern. Die privaten Akteure haben sich bereits seit langem in globalen Zusammenhängen positioniert, während die Politik in ihren Regelungen auf nationale Räume beschränkt bleibt. Das bedeutet, dass die Handlungsräume von Politik und Wirtschaft auseinanderfallen. Eine Wirtschaftsordnung kann und muss dazu beitragen, dass Gemeinwohlinteressen beachtet und durchgesetzt werden. Dies ist derzeit in der Europäischen Union nicht möglich. Von daher wird eine europäische Wirtschaftsverfassung gebraucht, die rechtsstaatliche und demokratische Defizite überwindet. Gleichzeitig kann damit auch zum Konstitutionalismus im Weltmaßstab und zum Aufbau eines globalen Regelwerkes beigetragen werden. Der europäische Binnenmarkt und die Währungsunion sind politisch erreichte Ziele, die effizienter, transparenter und demokratischer umgesetzt werden müssen. Von daher stellt sich die Frage, ob und wie die konkreten Visionen des Pro-
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zesses von Lissabon - wie auf dem EU-Gipfel im Frühjahr 2000 beschlossen — konstitutionalisiert werden können und sollen. Bereits der erste Vorschlag des Europäischen Parlaments zur Gründung der Europäischen Union vom 14. Februar 1984 (sogenannter Spinelli-Entwurf) setzte auf ein dem europäischen Wirtschafts- und Sozialmodell angemessenes Spannungsverhältnis zwischen sozialer Marktwirtschaft, Wachstum, Wettbewerb, Vollbeschäftigung, soziale Integration, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt sowie auf Freiheit und Solidarität. Die Bejahung der Marktwirtschaft war ein konstitutives Element, die Anerkennung der Grenzen der Marktwirtschaft und die Verneinung der Marktgesellschaft ebenfalls. Es ist in diesem Zusammenhang interessant festzustellen, wie wenige EUMitgliedstaaten wie die Bundesrepublik Deutschland eine Art Wirtschaftsverfassung haben, während eine Finanzverfassung überall Realität ist. In den skandinavischen Verfassungen wie in Deutschland oder Italien gibt es die Sozialpflichtigkeit des Eigentums. Andere betonen wie z.B. die Verfassungen von Italien, Griechenland, Portugal, Luxemburg sowie Spanien das Recht auf Arbeit als Teil der Wirtschaftsverfassung. Eine ordnungspolitische Orientierung beschränkt sich auf die Eigentumsgarantie. Der EWG-Vertrag als ein System zur Gewährung der Freiheits- und Gleichheitsrechte kann somit als Projekt von Grundfreiheiten und Wettbewerbsregeln betrachtet werden, die konstitutiv für die Union wirken. Allerdings gibt es Grenzen, weil es keine echte Staatlichkeit der EU in der Wirtschaftsgestaltung gibt, so dass die Union von ihrer Ausstrahlung auf die Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten abhängig ist. Allerdings geben die Kartell-, Fusions· und Subventionsaufsicht, die Gleichstellung von privaten und öffentlichen Unternehmen im Gesellschaftsrecht, die Deregulierungszwänge der vier Grundfreiheiten im Binnenmarkt sowie das gemeinschaftliche Vergaberecht der Gemeinschaft Gestaltungsfreiräume und Steuerungsmöglichkeiten.
III.
Eine europäische Wirtschaftsverfassung bedeutet Fortschritt
Eine europäische Wirtschaftsverfassung muss immer auch im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Wirtschaftsverfassungen der EU-Mitgliedstaaten gesehen werden. Der Vertrag baut auf dem Wettbewerb als Integrationskonzept auf sowie auf der Integration von unten, d.h. durch Handlungen der EUMitgliedstaaten und der Marktakteure, und lässt neben diesem gleichzeitig Solidarität und staatliche Intervention zu. Schließlich zielt die europäische Integration im Bereich Wirtschaft darauf ab, dass ein europäischer Mehrwert erreichbar ist und der gemeinsame Markt zur Wohlstandssteigerung beiträgt. Von daher ist der EWG-Vertrag vom Europäischen Gerichtshof mit Gutachten vom 14.12.1991 zu recht als "die grundlegende Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft"
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klassifiziert worden. Damit wurde die EG zu einem föderativen Hoheitsträger, der bis zu diesem Urteil funktional auf die Wirtschaft beschränkt war. Der Vertrag baut auf dem Wettbewerb als Integrationskonzept auf, auch auf der Integration von unten, d.h. durch Handlungen der EU-Mitgliedstaaten und der Marktakteure, und lässt neben diesem gleichzeitig Solidarität und staatliche Intervention zu, fordert sie gar ein - wie z.B. in der Handelspolitik, der Agrarpolitik und im EGKS-Vertrag oder im Zusammenhang mit den Fragen des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts. Bei Beibehaltung eines hohen Autonomiegrades der EU-Mitgliedstaaten in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, der Wirtschaftspolitik und Industriepolitik, in der Steuerpolitik und Haushaltspolitik muss es zu einer weiteren Vergemeinschaftung der Politikbereiche kommen, weil nur ein integriertes und gemeinschaftliches Vorgehen zu dem optimalen Policy Mix führen kann, den Europa braucht. Hier liegt die neue Herausforderung, auf die Europas Mitgliedstaaten mit Leerformeln und Handlungsschwäche antworten. Eine Wirtschaftsverfassung als Teil der europäischen Verfassung muss Aussagen zur Wirtschaftsordnung treffen. In den Verträgen von Maastricht und Amsterdam heißt es, dass die Wirtschaftspolitik "dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" verpflichtet ist. Aber eine jegliche Zeit hat ihre Verfassung, und eine Verfassung hat den ihr eigenen Raum- und Zeithorizont. Anders als die Währungspolitik ist die Wirtschaftspolitik nicht vergemeinschaftet worden, sondern nur eine Angelegenheit von gemeinsamem Interesse. Regelungen und Institutionen wurden eingeführt, weil die Geldpolitik zentralisiert und einer föderalen Autorität, dem ESZB übertragen wurde. Gemeinschaftliche Kompetenzen und Instrumente in der Wirtschaftspolitik werden in der Verfassungsdebatte des Europäischen Konvents strikt abgelehnt. Dies ist erstaunlich, weil der EU-Gipfel 2000 in Lissabon die Lissabon-Strategie mit qualitativen und quantitativen Zielen, Benchmarking und Indikatoren einstimmig beschlossen hat und an ihm alle weiteren Frühjahrsgipfel sowie die jährlichen Grundzüge der Wirtschaftspolitik und die Leitlinien der Beschäftigungspolitik festgehalten haben. Die europäische Wirtschaftsordnung hat hierdurch eine Gestaltung erfahren, die in den bisherigen Verträgen nicht enthalten ist. Die wirtschaftspolitische Realität verlangt eine Antwort von Verfassungsqualität. IV.
Anforderungen an eine europäische Verfassung
Globale Weltmarktzwänge unterstellen in diesem Jahrhundert die Ohnmacht staatlichen Handelns und der Primat der Wirtschaft, vor allem der 100 größten transnational agierenden Unternehmen. Das muss nicht sein. Wenn eine multipolare Weltordnung gebaut wird, außen- und sicherheitspolitisch wie auch wirtschaftspolitisch, wird es möglich sein, eine staatliche Ordnungspolitik durchzusetzen, die gemeinwohlorientiert sein kann. Die Europäische Union, bereits heu-
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te der größte Binnenmarkt der Welt mit der Erweiterung um zehn Staaten noch attraktiver, hat mit der Entwicklung von Freihandelszone und Binnenmarkt Fortschritte bei Sozial-, Umwelt- und Verbraucherschutzstandards verbunden, zugleich auch mehr demokratische Kontrolle eingeführt. Das Beispiel Europäische Integration macht Schule, wenn auch abgeschwächt, in der Schaffung von regionalen Ordnungsräumen in Asien, Afrika und Lateinamerika. Dieser Weg ist vielversprechend, weil er nicht auf Konfrontation, sondern auf die Partnerschaft von Regionen stetzt. Jede Region hat ihre Verantwortung für Global Governance, die gerade in der heutigen Zeit gebraucht wird, die aber an keine Weltmacht delegiert werden kann. Von daher bedarf die Europäische Union mehr denn je einer konkreteren Gestaltung und Gestalt - in der Außen- und Innenpolitik, aber vor allem in der Wirtschaftspolitik. Es bedarf eines Ordnungsrahmens über die Geldpolitik hinaus. Eine europäische Wirtschaftsverfassung kann eine Antwort bieten. Darum geht es vor allem: (1) Die Wirtschaftsverfassung muss zur Zukunftsorientierung beitragen und das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft, an der alle teilhaben können, als Grundsatz in Art. 2 — 4 EG-Vertrag vorgeben. Die Zielvorgaben des EU-Gipfels von Lissabon, nachhaltiges Wachstum und Wettbewerbsund Zukunftsfähigkeit, Vollbeschäftigung und soziale Eingliederung sowie Diensdeistungen von allgemeinem Interesse als dem Wettbewerb gleichwertige Politik sollten dort in die Verfassung aufgenommen werden. (2) Die Methode der offenen Koordinierung muß unter Berücksichtigung der Wechselwirkungen (policy mix) in den Bereichen Wettbewerbsrecht, staatliche Beihilfen, Industrieangelegenheiten, Finanzdienstleistungen, Verbraucherschutz, Steuern sowie Entwicklungspolitik, Umweltpolitik, Arbeitspolitik, Verkehrspolitik organisiert werden. Alle tragen ihren Teil zu einem integrierten Markt und einer sozial- und umweltverträglichen Wirtschaft bei. Sie können nicht isoliert betrachtet werden. Nicht zuletzt sollten die wirtschaftsrechtlichen Bestimmungen in einem Kapitel zusammengefasst werden. Der Europäischen Kommission sollte die Koordinierungskompetenz zustehen. Die Koordinierung der interdependenten Bereiche Wirtschaft, Arbeit, Umwelt und Soziales sollte als Gemeinschaftsinstrument kodifiziert werden. Dabei muss diese Koordinierung auf die Grundzüge der Wirtschaftspolitik, die Beschäftigungsleitlinien, den Stabilitäts- und Wachstumspakt und das Verfahren der multilateralen Überwachung angewandt werden. Die Rolle der Kommission muss dadurch gestärkt werden, dass sie Vorschläge und nicht Empfehlungen vorlegt wie in einem EG-Gesetzgebungsverfahren. Das Europäische Parlament und der Rat müssen zu einer Art „Gemeinsamem Standpunkt" finden, sonst fehlt wirtschaftspolitischen Entscheidungen die demokratische Legitimation.
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(3) Die Förderung von öffentlichen und privaten Investitionen ist neben der Preisstabilität und der haushalts- und fiskalpolitischen Disziplin unabdingbarer Faktor für Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung. Sie sollte deswegen nicht nur in die Grundsätze der wirtschaftspolitischen Koordinierung in Europa aufgenommen, sondern ihr sollte zudem durch die Verstärkung der bisherigen Koordinierung zu einer positiven wirtschaftlichen Koordinierung eine stärkere Durchsetzbarkeit gegeben werden. Dazu sollte ein Investitions- und Wachstumspakt entwickelt oder in den Stabilitäts- und Wachstumspakt integriert werden. (4) Angesichts der immer größeren Anzahl grenzüberschreitender Fusionen und deren erheblichen Auswirkungen insbesondere im Hinblick auf die Beschäftigungssituation sollten die Art. 81 bis 87 EG-Vertrag um die Anforderung an Vollbeschäftigung und der Missbrauchstatbestand um den möglichen Schaden für Beschäftigte ergänzt werden. Bei der Wettbewerbspolitik sollten der spezifische Charakter der Leistungen der Daseinsvorsorge und die Auswirkungen auf die Beschäftigung berücksichtigt werden. Das Beschlussfassungsverfahren sollte so geändert werden, dass für den Erlass allgemeiner Verordnungen das Mitentscheidungsverfahren eingeführt wird. Auch muss die öffentliche Daseinsvorsorge gleichwertig zur Wettbewerbspolitik organisiert werden, damit sie ihre gesellschaftliche Funktion erfüllen kann. (5) Die Regelungen zum ESZB sollten in den Teil "Wirtschaftsverfassung" integriert werden, die Bestimmung des Inflationsziels sollte politischen Gremien übertragen werden. Ferner sollten die Mitglieder des Direktoriums durch das Europäische Parlament bestätigt werden und die summarischen Protokolle der EZB-Sitzung sind zu veröffentlichen genauso wie das anonymisierte Sitzungsprotokoll. (6) Alle Wirtschaftpolitiken müssen in das Verfahren der Mitentscheidung integriert werden, um der Wirtschaftspolitik die notwendige demokratische Legitimation zu geben. Für die Handlungsfähigkeit der EU ist die Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip zum Mehrheitsprinzip in der EUSteuerpolitik notwendig.
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Koordinierung der Wirtschaftspolitiken als europäische Aufgabe
Die Interdependenz der europäischen Volkswirtschaften macht eine neue Verfassungsgestaltung erforderlich. Sie ist zweckmäßig, wenn man bedenkt, dass 90 % aller Güter und Diensdeistungen auf dem Heimatmarkt Europa produziert, angeboten und umgesetzt werden. Sie ist nützlich, wenn man die Wachstums-
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und Beschäftigungsverluste bedenkt, die ein unabgestimmtes, nicht koordiniertes Vorgehen auf der EU-Ebene z.B. in den Bereichen Energiewirtschaft, UMTSLizenzen, Innovation, Forschung und Entwicklung und Informationsgesellschaft oder Modernisierung der Infrastrukturen bewirkt hat. Koordinierung ist der europäische Auftrag. Seit dem EU-Gipfel von Lissabon 2000 gibt es die Koordinierung der Wirtschaftspolitiken, die dazu beitragen soll, dass Europa die zukunkftsfähigste Region der Welt auf der Grundlage einer wissensbasierten Gesellschaft und eines ausgewogenen Gesellschaftsmodells wird und wirtschaftlichen Wohlstand, nachhaltiges Wachstum und Solidarität verbindet. Diese Koordinierung widerspricht dem Grundsatz der Subsidiarität nicht. Sie ist politisch geboten und zweckmäßig. Sie muß dem Euro-Raum das notwendige internationale Gesicht geben, aber gleichzeitig auch eine "vergemeinschaftete" Koordinierung in der Verantwortung der Europäischen Kommission unter Beteiligung des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rates organisieren. Die Vorschläge des Europäischen Konvents sind wenig innovativ und nicht ehrgeizig genug, um die Synergieeffekte zu organisieren, die in dem Potential der Interdependenz und der Ressourcen stecken. Die Lyrik von Artikel 1-14 des Entwurfs einer europäischen Verfassung ist ein Armutszeugnis für den europäischen Gemeinschaftsgeist und spiegelt eher den Willen zu einem Europa des Wiener Kongresses als eines Europas wider, das im Zeitgeist von Globalisierung und Erweiterung auf ein dynamisches und gemeinschaftliches Europa setzt. Das Risiko eines Rückschritts a la Blair ist gegeben. Dennoch: jedes Risiko bedeutet auch eine Chance, die genutzt werden kann und muss. Eine Europäisierung bestimmter Politikbereiche bedeutet nicht den Verlust nationaler Souveränität, sondern organisiert Souveränitätsgewinne für alle, wie sich das an der Einführung der Währungsunion gezeigt hat. Die Steuerungs- und Gestaltungsfähigkeit der staatlichen Ebene kann auf diese Art und Weise sogar zurückgewonnen werden. Dabei muss es aber materiellrechtlich und institutionell eine klare Kompetenzabgrenzung geben. Neben der Parlamentarisierung der Europäischen Union muss es zu einer demokratisch legitimierten europäischen Exekutive kommen. Diese Aufgabe muss der Europäischen Kommission zugesprochen werden. Sie vollzieht damit die gewünschte "economic governance", und nicht wie bisher der Europäische Rat oder gar der Präsident der EuroGruppe. Die Gewaltenteilung zwischen den Organen der Europäischen Union ist anerkennungswürdig, und deswegen sollte ein Verfassungsvertrag das vom Europäischen Gerichtshof entwickelte Prinzip des institutionellen Gleichgewichts vertraglich fesdegen.
Noch ist Europas Zukunft nicht verloren
VI.
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Welches Europa gewollt wird
Die D-Mark mag Willy Nölling wie den meisten Deutschen immer noch als das Symbol der nationalen Einheit erscheinen. Sie ist in der Tat unverbrüchlich mit der Bildung von den Nationalstaaten im 19. Jahrhundert verbunden. Und so ist die Einfuhrung des Euro unumwunden ein Kind der Europäischen Integrationsgeschichte im Zeitalter der Globalisierung. Es kann sein, dass mit der Einfuhrung des Euro vergleichsweise große Visionen verbunden waren wie mit der Nationalisierung von Währung. Es war aber im 19. Jahrhundert allerdings genauso falsch wie heute, die Anmutung von Visionen dem Geld zu übertragen. Währungspolitik und Zentralbanken haben andere Aufgaben zu leisten, als das Banner einer Ersatzreligion vor sich her zu tragen. Die deutsche Einheit als Prozess erhielt eine Eigendynamik, die völlig ahistorisch war, weil die Unausweichlichkeit einer schnellen, kostspieligen und nicht unproblematischen Wiedervereinigung an der deutsch-deutschen Währungsunion festmachte: „Wenn wir nicht die DMark bekommen, werden wir dort hingehen, wo die D-Mark ist!". Eine derartige „Volksabstimmung" stand nicht hinter der Euro-Einführung, die trotz Erfolg und Stabilität nicht zu den politischen Fortschritten des europäischen Einigungswerkes führte, wie erhofft worden war. Europa bewies einmal mehr, dass ohne Visionen, kühn Handelnde und engagierte Völker eine europäische Politikgestaltung nicht funktionieren kann. Die Europäische Zentralbank und eine einheitliche Geldpolitik können eine europäische Wirtschaftsverfassung nicht kompensieren. Im Gegenteil: die europäische Geldpolitik wird im Gegensatz zur amerikanischen Geldpolitik in ihrem Handlungsspielraum eingeschränkt. Europäisches Sendungsbewusstsein charakterisiert das Werden und Wachsen Europas — negativ als koloniale oder hegemoniale Mächte, positiv als gedanklichgeistiges oder ideologisches Konstrukt, wie dies die Europäische Charta der Grundrechte so richtig ausdrückt. Es scheint fast, als wolle sich dieses alte Europa verabschieden von der „Torheit der Regierenden", von der die so brillante Historikerin Barbara Tugendhat in Erinnerung geschichtlicher Tragödien berichtete, und auf den Weg zu einem besseren Regieren machen. Allerdings reicht das zaghafte Bekenntnis eines EU-Gipfels von Laeken 2002 über „Good Governance" nicht, wenn Worte alles sind und im Sumpf von Institutionen und Egoismen verschlungen werden. Von daher stellen sich gerade heute die Fragen wieder: Warum Europa, welches Europa und wie soll Europa verfasst sein? Europas Verfasstheit ist ein Jammertal. In ihm kann niemand bleiben. Die Wahl gibt es nur zwischen Rückfall in Zeiten des Wiener Kongresses oder mehr Europa. Menschen und Völker sind dabei weiter als Regierungen. Das war nicht immer so. Es sollte allen zu denken geben, das Europas Bürgerinnen für eine vergemeinschaftete Außen- und Sicherheitspolitik sind, weil sie Angst um den Bestand von Frieden und Stabilität haben, dass sie Ordnungsrahmen bejahen, um europäisch globalen Herausforderungen trotzen zu können. Die Heimat Europa wird
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Christa Randzio-Plath
gebraucht - für Zukunft und Alltag. Und hier schließt sich dann der Kreis: die Gemeinschaftswährung, der Euro, ist und bleibt ein Bindeglied. VII.
Schlussbemerkung
Die EU-Integrationsgeschichte hat gezeigt, dass Friede, Freiheit, Wettbewerb, soziale Gerechtigkeit, Solidarität und Kohäsion gemeinsame Wege sein können. Aber es bleibt eine Herausforderung für die Union, wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt nachhaltig zu organisieren und das europäische Modell zu bewahren, das gleichzeitig auf Wettbewerb und Wohlstand für alle setzt. Der große Schriftsteller und Europäer Stefan Zweig, der sich selbst seihen Heimatbrief als Europäer und Bürger eines nicht vorhandenen Staates Europa schrieb, schlußfolgert zu Recht in seinen angesichts des Irak-Krieges und der Identitätskrise Europas wiederum aktuellen "Essays 1929-1942": "Niemals war die Absonderung von Staat zu Staat in Europa größer, vehementer, bewußter, organisierter als heute: Mit Verordnungen, wirtschaftlichen Maßnahmen, mit Autarkie sperrt sich ein Staat gegen den anderen in gewaltsamen Isolationen. Aber während sie sich abschließen, ist ihnen doch allen bewußt, dass europäische Wirtschaft und europäische Politik ein gemeinsames Schicksal sind, dass einer gemeinsamen Weltkrise kein Land sich durch eine Absperrung entziehen kann, weil die Sorge, wie in Faustens Tragödie, wenn man auch die Türen abschließt, durch das Schlüsselloch eindringt. Brust an Brust in einem entschiedenen Ringkampf stehen jetzt die beiden Anschauungen, Nationalismus und Ubernationalismus, gegeneinander, es gibt kein Zurückweichen mehr vor dem Problem, und die allernächste Zeit muss schon offenbar machen, ob die Staaten Europas auf ihrer gegenwärtigen wirtschaftlichen und politischen Befeindung beharren oder diesen kraftverschwendenden Konflikt durch eine völlige Vereinigung, durch eine überstaatliche Organisation endgültig lösen wollen. " Europa ist wahrlich nicht alles. Aber ohne Europa und seine richtige Verfasstheit ist nur wenig möglich — weder Frieden und Stabilität in Europa noch auf der Welt, weder mehr Gerechtigkeit noch Wohlfahrt für alle. Der Beitrag Europas ist heute mehr gefordert denn je.
Der Ökonom als Politiker - Europa, Geld und die soziale Frage (hrsg. v. W. Hankel, Κ. A. Schachtschneider und J. Starbatty) © Lucius & Lucius, Stuttgart, 2003
Deutschland nach dem Konventsentwurf einer „Verfassung für Europa" Karl Albrecht Schachtschneider
Der Europäische Rat hat bei der Regierungskonferenz in Thessaloniki am 19. und 20. Juni 2003 den „Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa" ( E W ) , den der Präsident des (sogenannten) Verfassungskonvents, Valery Giscard d'Estaing, vorgelegt hatte, als „historischen Schritt zur Förderung der Ziele der europäischen Integration" begrüßt, weil der Vertragsentwurf (u.a.) „unsere Union ihren Bürgern näher bringe" und „das demokratische Wesen unserer Union stärke". Das Studium des Papiers bestätigt diese Einschätzung nicht. Die europäische Integration macht zwar den entscheidenden Schritt zum existentiellen Staat der Union im Rahmen eines echten Bundesstaates, entfernt sich aber weiter von den Prinzipien einer freiheitlichen Demokratie. Die Abhandlung will zur Dogmatik der existentiellen Staatlichkeit der Länder, des Bundes und der Union im europäisierten Deutschland beitragen.
I.
Existentielle Staaten und existentielle Staatlichkeit im Bundesstaat
1. Es gibt keinen allseits oder auch nur vielerseits anerkannten oder gar einen völkerrechtlich verbindlichen Begriff des Bundesstaates1. Kriterium des Bundesstaates, wie ihn die herrschende Staatsrechtslehre in Deutschland vom Staatenbund unterscheidet, ist die Staatseigenschaft der Gliedstaaten neben der Staatseigenschaft des Zentralstaates, also ein vertikal geteilter Gesamtstaat 2 , der aus zwei 1
Vgl. Κ Stent, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland (Staatsrecht), Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 648, 661; Κ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rdn. 217, S. 96; O. Kimminich, Der Bundesstaat, HStR, Bd. I, 1987, § 26, Rdn. 5 ff.; Tb. Maun% Staatlichkeit und Verfassungshoheit der Länder, HStR, Bd. IV, 1990, § 94, Rdn. 12; J. Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, HStR, Bd. IV, 1990, § 98, Rdn. 1 ff.; vgl. St. Oerter, Föderalismus, in: R. v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, Theoretische und dogmatische Grundzüge, 2003, S. 63 ff., der S. 71 von Mischsystemen spricht; vgl. aber BVerfGE 4 , 1 1 5 (141), das vom „Wesen des Bundesstaats" spricht. 2
1.d.S. all die Lehren, welche die originäre Staatlichkeit von Bund und Ländern als Kriterium des Bundesstaates sehen, etwa Κ Stern, Staatsrecht I, S. 644, 651, 654, 660 f., 666 ff.; R. Heripg, in: Maunz/Dürig, GG, Komm., 1980, Art. 20 IV, Rdn. 2 ff.;/. Isensee, HStR, Bd. IV, § 98,
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Karl Albrecht Schachtschneider
(oder auch drei3) politischen Organisationsebenen mit Staatseigenschaft besteht. Der Bundesstaatsbegriff kann nicht von der ,äußeren Souveränität' der Gliedstaaten abhängig gemacht werden4, die in der Bundesverfassung geregelt und aus guten Gründen weitestgehend dem Gesamtstaat überantwortet wird (vgl. Art. 32 GG) 5 . Die Souveränität war das maßgebliche Kriterium des Staates in der vom monarchischen Prinzip bestimmten Bundesstaatslehre des deutschen Konstitutionalismus, zu Recht6. Im Republikanismus, in dem die Staatsgewalt Sache des Volkes ist (res publica res populi), ist die Teilung der Ausübung der Staatsgewalt auf unterschiedliche Volksverbände kein begriffliches Hindernis geteilter existentieller Staatlichkeit7. Die Souveränität ist ein monarchischer Begriff und gehört nicht in eine vom Freiheitsprinzip bestimmte Rechtslehre. Der staatsrechtliche, nicht monarchische, Bundesstaatsbegriff muß ein Kriterium aufweisen, das den echten Bundesstaat substantiell vom unechten Bundesstaat, dem föderalisierten, wenn man das Wortspiel mitmacht, dem bundesstaatlichen (nicht etwa dem bloß dezentralisierten) Einheitsstaat, für den die Bundesrepublik Deutschland ein Beispiel gibt (dazu II.), unterscheidet. Dieses Kriterium ist, wie es Carl Schmitt
Rdn. 4; Th. Maun% HStR, Bd. IV, § 94, Rdn. 2 f., 14 ff.; 0. Kimminich, HStR, Bd. I, § 26, Rdn. 5,14,19 f., 40 (eher zurückhaltend); zur Rechtsprechung Hinweise in Fn. 73 und 79. 3
Eine Unterscheidung des Zentralstaates oder Oberstaates vom Gesamtstaat im Sinne der Dreistaatenlehre (insbesondere H. Nawiasky, Allgemeine Staatslehre, Zweiter Teil, Staatsgesellschaftslehre, 2. Bd., Staatsfunktion; Staatsmittel, Staatsgewalt Staatsleben, Staatenwelt, 1955, S. 203; ders., Allgemeine Staatslehre, Dritter Teil, Staatsrechtslehre, 1956, S. 151 ff.; i.d.S. BVerfGE 6, 309 (363 f.); vgl. O. Kimminich, HStR, Bd. I, § 26, Rdn. 7, 19 f.) vermag für die Lehre von der existentiellen Staatlichkeit Bedeutung zu entfalten, wird aber im Folgenden nicht dogmatisiert. * Κ Stern, Staatsrecht I, S. 645; 0. Kimminich, HStR, Bd. I, § 26, Rdn. 6, 11 ff., 15 ff. (21), 40; R. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Komm., Art. 20 IV, Rdn. 8 f.; J. Isensee, HStR, Bd. IV, § 98, Rdn. 65 ff.; so schon G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1913, 7. Neudruck 1960, S. 769 f.; G. Anschüt^ Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, Kommentar, 14. Aufl. 1933 (WRV), Anm. 4 zu Art. 1; vgl. auch C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 371 ff. 5 Vgl. 0. Kimminich, HStR, Bd. I, § 26, Rdn. 6, 21 f. 6
U. Scheuner, Struktur und Aufgabe des Bundesstaates in der Gegenwart. Zur Lehre vom Bundesstaat, D Ö V 1962, 641 f.; vgl. O. Kimminich, HStR, Bd. I, § 26, Rdn. 11 ff., 15 ff.; St. Oerter, Föderalismus, S. 78 ff., 83 ff. 7
Zum Begriff der existentiellen Staatlichkeit zu 2; vgl. Κ Α. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union. Ein Beitrag zur Lehre vom Staat nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag über die Europäische Union von Maastricht, in: W. Blomeyer/K. A. Schachtschneider (Hrsg.), Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft, 1995, S. 75 ff., 103,115 f.
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gelehrt hat, das des wirklichen Bundes8, der Bundes- oder Verfassungsvertrag der verbündeten Staaten, der als Bund einen Bundesstaat hervorbringt. Die deutsche Staatsrechtslehre der Gegenwart geht, soweit ich sehe9, auf dieses entscheidende Merkmal nicht ein, sondern ordnet durch Bünde gegründete Bundesstaaten wie Georg Jellinek zu den völkerrechtlichen Staatenbünden. Daß diese Lehre zu kurz greift, erweist die Europäische Union mit den Europäischen Gemeinschaften, die das Bundesverfassungsgericht darum als Staatenverbund10 begreift und der Hoheitlichkeit (Hoheitsgewalt) zugemessen wird 11 . Hoheitlichkeit aber ist, freiheitlich dogmatisiert, Staatlichkeit12. Daß der Staatenverbund ein staatsrechtlicher Bundesstaat sein kann, hat Carl Schmitt herausgestellt13. Das hängt vom Staatsbegriff ab. „Der Staat (civitas) ist die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen", lehrt Kant 14 , also auch ein Bund. Weil sich mittels des
» Verfassungslehre, 1928, 8. Aufl. 1993, S. 363 ff, 389 f.; i.d.S. auch BVerfGE 1, 299 (315); 13, 54 (78), wo ohne weitere Konsequenzen vom „Bündnis" gesprochen wird; entgegengesetzt G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 777 ff.; auch Κ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rdn. 218, S. 97. » Vgl. Κ Stern, Staatsrecht I, S. 644 ff.; ]. hensee, HStR, Bd. IV, § 98, S. 517 ff.; Κ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rdn. 269, S. 117, nur am Rande im Rahmen der Erörterung der Bundestreue. BVerfGE 89,155 (184, 186,188 ff.); prägend P. Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, HStR, Bd. VII, 1992, § 183, Rdn. 38, passim; ders. u.a., Die rechtliche Struktur der Europäischen Union als Staatenverbund, in: A. v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht. Theoretische und dogmatische Grundzüge, 2003, S. 900, 904 f. (Intensität „mehr als Staatenbund, weniger als Bundesstaat" (?)); vgl. B. Kahl, Europäische Union: Bundesstaat - Staatenbund - Staatenverbund? Zum Urteil des BVerfG vom 12. Oktober 1993, in: Der Staat 33 (1994), S. 241 ff. 10
» Vgl. EuGH Rs. 26/62 (van Gend & Loos), Slg. 1963, 1 ff, Rdn. 9 und 10.; auch BVerfGE 22, 293 (296); 31,145 (174); 89, 155 (175,184,186 f.); dazu Κ Α. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 87 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, 4. Aufl. 2003, S. 64 ff.; P. Kirchhof, Die rechtliche Struktur der Europäischen Union als Staatenverbund, S. 904. 12 Κ Α. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 75 ff, 79 ff, 87 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 42 ff, 52 ff.; ders., Der Anspruch auf materiale Privatisierung. Exemplifiziert am Beispiel des staatlichen und kommunalen Vermessungswesens in Bayern, 2003 (i.E.), S. 268 ff, 291 ff. 13 Verfassungslehre, S. 366 ff.; auch H. Namasky, Allgemeine Staatslehre, II, 2, S. 206, bezeichnet den Bundesstaat als „qualifizierten Staatenbund". 14 Metaphysik der Sitten, ed. Weischedel, Bd. 7, S. 431; W. Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, HVerfR, 2. Aufl. 1994, S. 454, 461, 465; Κ Α. Schachtschneider, Res publica res populi. Grundlegung einer Allgemeinen Republiklehre. Ein Beitrag zur Freiheits-, Rechtsund Staatslehre, 1994, S. 519 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 49.
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völkerrechtlichen Vertrages Menschen verbinden, vertreten durch ihre staatlichen Organe (Staaten im engeren Sinne15), ergibt sich die funktionale und auch institutionelle Staatlichkeit des Bundes aus der zitierten freiheitlichen Definition des Staates. Jelüneks Begriff war monarchisch16, jedenfalls nicht freiheitlich; denn „Herrschen ist", lehrt Georg Jelünek, „die dem Staat notwendige Tätigkeit, .. ."17. Das ist in einer republikanischen Lehre, also einer Staatslehre der Republik, die eine Freiheitslehre sein muß18, im Ansatz nicht mehr richtig. Der Bund des hündischen, also echten Bundesstaates muß selbst kein existentieller Staat sein, sondern kann der vertragliche Bund existentieller Staaten mit begrenzten Aufgaben und Befugnissen und insbesondere ohne eigenständige demokratische Legitimation durch ein Bundesvolk sein. Diese Verbindung kann man als Staatenverbund bezeichnen, der ein durch die Substantialität der funktionalen und institutionellen Staatlichkeit des Bundes gekennzeichneter Staatenbund ist. Der Bund kann aber auch selbst ein existentieller Staat mit existentieller Staatlichkeit in Aufgaben, Befugnissen, Organisationen und Verfahren und vor allem demokratischer Legitimation durch ein verfaßtes Staatsvolk/Bundesvolk sein. Bund ist nicht nur die Verbindung, sondern auch die durch die Verbindung geschaffene Institution, wie der Bund der Bundesrepublik Deutschland19 oder die Europäische Union, kurz Union genannt, oder die Europäischen Gemeinschaften, meint also nicht die Länder bzw. die Mitgliedstaaten und schließt diese als Organisationsbegriff auch nicht ein. Der Bund und die Union werden im Folgenden auch als Gemeinschaftsstaat bezeichnet. Die Staatlichkeit des Gemeinschaftsstaates kann funktional, institutionell oder auch legitimatorisch unterschiedlich intensiv sein. Im echten Bundesstaat beruht sie mit Carl Schmitt auf einem Bund von Staaten, ist also ein Staatenbund, der mit gewisser Substanz den Status eines Bundesstaates erreicht, also eines Staates im funktionellen oder auch institutionellen Sinne, wie etwa die Europäische Union. Der Gemeinschaftsstaat eines solchen echten Bundesstaates bedarf der demokratischen Legitimation durch ein Bundesvolk, muß also wegen des demokratischen Prinzips ein existentieller Staat sein. Immer ist die Funktion des Bundes oder eben Gemeinschafts15 Κ Α. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 18, 100, 161 f.; ders., Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 76.
Vgl. 0. Kimminich, HStR, Bd. I, § 26, Rdn. 21; St. Oerter, Föderalismus, S. 78 ff., 83 ff. 17 Allgemeine Staatslehre, S. 772 f.; zur Herrschaftslehre kritisch Κ Α. Schachtschneider, publica res populi, S. 71 ff.; ders., Freiheit in der Republik, Manuskript 2003, 3. Kap.
Res
18 Vgl. Κ Α. Schachtschneider, Res publica res populi. Grundlegung einer Allgemeinen Republiklehre. Ein Beitrag zur Freiheits-, Rechts- und Staatslehre, 1994; ders., Freiheit in der Republik, i.E. 19
Dazu O. Kimminich, HStR, Bd. I, § 26, Rdn. 40 ff.
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staates eines Staatenbundes staatlich, weil sie Sache von Völkern ist, ganz unabhängig davon, wie die Verbindlichkeit der Verträge der Völker von den verbundenen Staaten begründet, gehandhabt oder erklärt wird20. Es gibt keinen qualitativen Unterschied des Geltungsgrundes von Völkerrecht und Staatsrecht, sondern nur einen Unterschied der Verbindlichkeiten von Rechtsakten, weil es keinen Unterschied des Geltungsgrundes von Rechtsakten gibt. Dieser ist immer der Wille der Menschen, die sich zu einem Staat vereinigt haben, eines Volkes also (dazu 2.); denn alles Recht beruht auf der Freiheit21. 2. Der existentielle Staat ist die als Staat verfaßte Bürgerschaft in ihrer Gesamtheit, das Volk, welches die nicht übertragbare Hoheit hat, das Volk also, von dem nach Art. 20 Abs. 2 S. 1 G G alle Staatsgewalt ausgeht, der Staat im weiteren Sinne22. Die Bürgerschaft als das Volk ist die meist gewachsene, wesentlich aber willentliche, also durch Verfassungsgesetz verfaßte, Lebens-, Friedens- und Schicksalsgemeinschaft23. Die Hoheit des Volkes ist die gemeinsame Macht (Handlungsfreiheit und Handlungsmöglichkeit) der Bürger, die verfassungsgesetzlich organisiert ist. Der existentielle Staat als verfaßte Bürgerschaft ist die Rechtsgemeinschaft, in welcher Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit Wirklichkeit finden (finden sollen); denn der politische Wille des existentiellen Staates ist der vereinigte allgemeine Wille der Bürger. Existentielle Staatlichkeit ist funktional die Hoheitlichkeit der Bürgerschaft, ausgeübt vom Volke selbst durch Wahlen und Abstimmungen oder durch besondere Organe der Gesetzgebung, vollziehenden Gewalt oder Rechtsprechung (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG). In der freiheit20 Κ Α. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 111; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 54 f.; dazu Ch. Amrhein-Hofmann, Monismus und Dualismus in den Völkerrechtslehren, 2003, S. 79 ff. (Dualismus), S. 152 ff. (völkerrechtsprimärer Monismus), S. 245 ff. (Monismus und Primat des innerstaatlichen Rechts), S. 296 ff. (duale Rechtsordnung); A. Emmerich-Fritsche, Recht und Zwang im Völkerrecht, insbesondere im Welthandelsrecht, in: Κ. A. Schachtschneider (Hrsg.), Rechtsfragen der Weltwirtschaft, 2002, S. 123 ff., insb. S. 28 ff.; D. I. Siebold, Die Welthandelsorganisation und die Europäische Gemeinschaft. Ein Beitrag zur globalen wirtschaftlichen Integration, 2003, S. 201 ff. 21
Κ A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 275 ff., 325 ff., 519 ff., 637 ff.; ders., Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 75 ff., 79 ff., 87 ff.; ders., Die Republik der Völker Europas, ARSP, Beiheft 71 (1997), S. 154 ff.; ders., Freiheit in der Republik, 2. Kap., IV und 5. Kap., II; ders., Sittlichkeit und Moralität. Fundamente von Ethik und Politik in der Republik, i.E. (Homepage: http://www.oer.wiso-uni-erlangen/Schriftenverzeichnis/Dokumente_zum_Herunterladen.de/hmd) 22
Κ Α. Schachtschneider; Res publica res populi, S. 519 ff.; ders., Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 76 ff. (auch zum Folgenden), 93, 103, 115 f.; ders., Die Republik der Völker Europas, S. 162; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 52 ff. 23
I.d.S. auch P. Kirchhof, Die rechtliche Struktur der Europäischen Union als Staatenverbund, S. 909 ff.
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liehen Demokratie, in der Republik also, ist ausschließlich Hoheitlichkeit oder eben Staatsgewalt rechtens, die Sache eines Volkes als existentiellem Staat ist oder, wie meist gesagt wird, demokratisch legitimiert ist; denn „alle Staatsgewalt geht vom Volke aus" (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG). Der Leitgedanke des existentiellen Staates ist: Res publica res populi. Ein echter Bundesstaat kann somit, wenn nicht auch der Bund ein existentieller Staat ist, wegen des demokratischen Prinzips nur die Staatsgewalt der verbundenen Völker als existentieller Staaten gemeinschaftlich ausüben, aber auch nur insoweit, als ihm die Hoheitsrechte der Mitgliedstaaten zur Ausübung übertragen sind24. Eine originäre Hoheitsgewalt hat ein echter Bundesstaat, der kein existentieller Staat ist, trotz existentieller Staatlichkeit mangels eigenen Volkes nicht. Er ist Republik der Republiken, ein „Föderalism freier Staaten" im Sinne Kants25. Die Hoheitsgewalt eines solchen Bundesstaates muß wegen der demokratischen Legitimation derart beschränkt sein, daß die Politik von den Einzelstaaten, vor allem von deren Parlamenten, verantwortet werden kann. Die Politik muß Sache der verbundenen Völker, der Gliedstaaten also, sein. Sie muß wegen des Prinzips der Gesetzlichkeit26 im Wesentlichen27 in einzelstaatlichen Gesetzen beschlossen liegen. Die Aufgaben und noch mehr die Befugnisse des echten Bundesstaates ohne existentiellen Gemeinschaftsstaat können darum um des demokratischen Prinzips willen nur eng begrenzt sein (Prinzip der begrenzten Ermächtigung)28. Ein solcher Bundesstaat kann nicht die Aufgaben und Befugnisse haben, die der existentielle Staat benötigt, um seinen Zweck, das gute Leben aller in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit29, zu erreichen. Die Institutionen und die Organisation des Bundes oder der Union einer solchen Verbindung oder Organisation von Völkern/Staaten, wie sie meist als bloßer Staatenbund erfaßt wird, müssen
24
So für die Europäische Union Κ Λ. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 87 ff.; ders., Die Republik der Völker Europas, S. 161 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 60 ff. (70 f.); P. Kirchhof, Die rechtliche Struktur der Europäischen Union als Staatenverbund, S. 904 ff.; i.d.S. BVerfGE 89,155 (188 f.). 25 Zum ewigen Frieden, ed. Weischedel, Bd. 9, S. 208; Κ. A. Schachtschneider, Republik der Völker Europas. S. 165 ff. 26
Κ Α. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 92 ff.
27
Zur Wesentlichkeitslehre etwa BVerfGE 33, 1 (10 f.); 89,155 (191 f.); 95, 267 (387 f.); 98, 218 (251 ff.); Κ Α. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 120 ff. a» BVerfGE 89, 155 (181, 191 ff.); Κ Α. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 96, 113; P. Kirchhof, Die rechtliche Struktur der Europäischen Union als Staatenverbund, S. 898, 903 ff. 29
Κ Α. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 350 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 5.
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nicht denen der demokratisch bestimmten Einzelstaaten entsprechen, vor allem also keine unmittelbar demokratisch legitimierte Gesetzgebung einrichten. Das organisatorische Homogenitätsprinzip gilt für den unechten Bundesstaat, in dem der Zentralstaat und die Gliedstaaten existentielle Staaten sind und darum um des genannten Staatszweckes willen demokratische Republiken, soziale Rechtsstaaten sein müssen. Die Verfassungshomogenität30 ist im unechten Bundesstaat schon deswegen geboten, weil das Volk jedes Einzelstaates ein Teil des Bundesvolkes ist und ein Bund nicht die Verfassung, die mit dem Menschen geboren ist31, ändern, jedenfalls nicht die Strukturprinzipien des politischen Lebens wechseln kann. Die Verfassungsgesetze müssen der menschheitlichen Verfassung gemäß sein. Dieses Homogenitätsprinzip gilt darum auch im echten Bundesstaat mit existentiellem Gemeinschaftsstaat. Die Politik muß in echten Bundesstaaten ohne existentiellen Gemeinschaftsstaat, wie gesagt, in der Substanz, im Wesentlichen Sache der Einzelstaaten bleiben. Wenn die verbundenen Staaten in solchen Bundesstaaten zugunsten des Bundes entmachtet werden, sind sie entdemokratisiert und die Völker büßen ihre politische Freiheit ein. Der Bundesstaat wird demokratiewidrig, wie derzeit die Europäische Union32. Zur existentiellen Staatlichkeit gehört die Gebietshoheit und zur Gebietshoheit die Befugnis und die Befähigung, die Gesetze durchzusetzen und das Recht zu verwirklichen33. Das besagt aber im Bundesstaat wie in jedem Staatenbund und Staatenverbund nicht, daß jeder der verbundenen Staaten, der Bund und die Gliedstaaten, die eigenen Gesetze vollziehen können muß. Auch im (unechten) Bundesstaat Deutschland führen grundsätzlich und in der Regel die Länder die Bundesgesetze aus, sogar als eigene Angelegenheit (Art. 83 GG). Das ist in der Europäischen Union nicht anders. Die Mitgliedstaaten haben die Verpflichtung, das Gemeinschaftsrecht anzuwenden (Art. 10 EGV)34, grundsätzlich mit Vorrang vor der nationalen Rechtsordnung35. Die Aufgaben und Befugnisse sind im Th. Mating Verfassungshomogenität von Bund und Ländern, HStR, Bd. IV, 1990, § 95, S. 443 ff.; Κ Stern, Staatsrecht I, S. 646, 704 ff.; J. Isensee, HStR, Bd. IV, § 98, Rdn. 79. 30
31
Κ Α. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 83 ff.
32
Dazu Hinweise in Fn. 133.
Κ Α. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 81 ff.; den., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 52 f., 54 ff.
33
34
Κ. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 109 f.
Der weitgehende Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem mitgliedstaatlichen Recht ist so gut wie unangefochten; vgl. EuGH - Rs. 26/62 (Van Gend & Loos), Slg. 1963, 1 ff.; EuGH - Rs. 6/64 (Costa/ENEL), Slg. 1964, 1251 ff.; EuGH - Rs. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft), Slg. 1970, 1125 ff.; BVerfGE 31, 145 (173 f.); 37, 271 (279 ff.); 58, 1 (28); 73, 339 (366 ff.); 75, 223 (244 f.); vgl. auch BVerfGE 89, 155 (182 f f , 190 f , 197 ff.); P. Kirchhof, HStR, Bd. VII, § 183, Rdn. 66; E. Klein, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäi35
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Karl Albrecht Schachtschneider
Bundesstaat, sei er echt oder unecht, zwischen dem Gemeinschaftsstaat und den Einzelstaaten geteilt oder eben verbunden. Das gilt namentlich für die eng verzahnte, „kooperative" Rechtsprechung36, wie das im Vorabentscheidungsverfahren des Art. 234 EGV besonders augenfällig ist. Die vertikale Teilung der für einen existentiellen Staat notwendigen Aufgaben und Befugnisse unter den Staaten gehört zum Wesen des Bundesstaates und stellt weder die funktionale und institutionelle Staatlichkeit noch auch eine existentielle Staatseigenschaft des Gemeinschaftsstaates oder gar der Einzelstaaten in Frage. Die Aufgaben und Befugnisse, also die Staatlichkeit, sind auf Organisationen verteilt, welche insgesamt die Staatsgewalt ausüben. Das ist die Staatsgewalt entweder eines Volkes oder die Staatsgewalt mehrerer verbundener Völker, die von den Gemeinschaftsorganen gemeinschaftlich ausgeübt wird, wie derzeit von der Union37. Die Staatsgewalt kann auch zwischen den Völkern der Einzelstaaten und dem Gemeinschaftsvolk/dem Unionsvolk des Gemeinschaftsstaates/der Union geteilt sein, wenn der Gemeinschaftsstaat/die Union eine eigenständige demokratische Legitimation hat. Jede der Organisationen der Staatlichkeit hat, staatsrechtlich betrachtet, die Staatseigenschaft, deren Legalität von der demokratischen Legitimation abhängt. Um es zu wiederholen: Existentielle Staatlichkeit des Gemeinschaftsstaates bedarf der Trägerschaft durch ein (verfasstes) Gemeinschaftsvolk, also originärer, eigenständiger Hoheit. Bloß begrenzte Staatlichkeit kann durch die Übertragung von begrenzten Hoheitsrechten der verbundenen Völker demokratisch legitimiert werden. Die Völkerrechtssubjektivität ist eine andere Frage. Sie bestimmt die Staatseigenschaft der Organisationen nicht. 3. Der Entdemokratisierung wirkt eine eigenständige demokratische Legitimation des Bundes entgegen, die ein Bundesvolk voraussetzt, also einen existentiellen Staat als Bund. Ein Beispiel gibt die Bundesrepublik Deutschland, die allerdings ein Bundesstaat ohne wirklichen Bund, also ein unechter Bundesstaat, ist (dazu II.). Ein solcher existentieller Bund kann nur auf einem Verfassungsakt des Bundesvolkes beruhen, nicht auf einem Bundesvertrag, der kein Bundesvolk hervorzubringen vermag. Der Bundesvertrag kann die Gründung des existentiellen Staates durch den Akt des Gesamtvolkes, mit dem dies sich eine Verfassung gibt,
sehen Gemeinschaft, WDStRL 50 (1991), S. 64; Η. P. Ipsen, Die Bundesrepublik Deutschland in den Europäischen Gemeinschaften, HStR, Bd. VII, 1992, § 181, Rdn. 58 ff.; vgl. auch Th. Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. 1999, Rdn. 615 ff., S. 228 ff.; Κ Α. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 104 ff.; ders./A. Emmerich-Fritsche, Das Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, DSWR 1999, S. 81 ff., 116 ff.; den., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 79 ff. 16 Vgl. BVerfGE 89, 155 (174 f.); dazu Κ. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 104 f.. 37
Vgl. die Hinweise in Fn. 98.
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nur vorbereiten. Die Menschen, die ein Volk bilden wollen oder auch zu bilden verpflichtet sind, weil sie sonst nicht miteinander im Recht leben können (Recht auf Recht und Pflicht zum Recht)38, können freiheitlich, also rechtens, nur selbst, alle miteinander als pouvoir constituent das Verfassungsgesetz schaffen, das sie zu einem Volk, einem existentiellen Staat, macht. Das demokratische Prinzip, das jede freiheitliche Bundesstaatslehre leiten muß, steht einer geteilten existentiellen Staatlichkeit nicht entgegen, bei der die Aufgaben und Befugnisse zwischen den Einzelstaaten und dem Gemeinschaftsstaat, dem Bund, wenn man so will, den Gliedstaaten und dem Zentralstaat, geteilt sind. Freilich müssen die Einzelstaaten und der Gemeinschaftsstaat existentielle Staaten sein, die aus der Logik des Bundesstaates aus unterschiedlichen Völkern bestehen, wenn auch das Gemeinschaftsvolk identisch ist mit Völkern aller Einzelstaaten. Jedenfalls muß der Gemeinschaftsstaat eigenständig demokratisch legitimiert sein, wodurch ihm originäre, vom Bundesvolk durch das Bundesverfassungsgesetz begründete, Hoheitsrechte ermöglicht werden. Durch ein einen existentiellen Gemeinschaftsstaat begründendes Bundesverfassungsgesetz kann und wird regelmäßig ein unechter Bundesstaat entstehen, wenn nämlich auch die Gliedstaaten im Wesentlichen von dem Bundesverfassungsgesetz verfaßt werden und der Zentralstaat nicht auf einem Bundesvertrag beruht. Ein Beispiel gibt die Bundesrepublik Deutschland. Die Teilung der Aufgaben und Befugnisse zwischen den Einzelstaaten und dem Gemeinschaftsstaat kann von den Einzelstaaten auch in einem Bundesvertrag mit dem Gemeinschaftsstaat vereinbart werden, der durch eine Bundesverfassung des Bundesvolkes ein existentieller Staat ist. Dies wäre ein echter Bundesstaat, der auf einem Bundesvertrag und zusätzlich auf einem Verfassungsakt des Bundesvolkes beruht, also auf eigenständiger demokratischer Legitimation des Gemeinschaftsstaates - vielleicht das Modell für Europa. Die Regelungen über Vertragsänderungen in Art. 48 EUV und verstärkt über Änderungen des „Vertrages über die Verfassung" der Europäischen Union in Art. IV-6 E W gehen in diese Richtung; denn die Organe der Union sind in die Vertragsänderungsverfahren einbezogen. Nach Art. IV-6 E W hat der Europäische Rat bestimmende Befugnisse in den Vertragsänderungsverfahren, jedenfalls kann er Vertragsänderungen verhindern. Allerdings fehlt es am Unionsvolk als legitimierendem Gesamtvolk des Gemeinschaftsstaates. 4. Einen Bund können nur Völker miteinander schließen, welche die Bundeshoheit haben. Die Bundeshoheit gehört zur Verfassungshoheit und ist ein Teil der
38
Dazu Κ Α. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 290 ff.; ders., Freiheit in der Republik, 2. und 5. Kap.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 42 ff. (50); ders., Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 76 ff., 79 ff.; grundlegend Kant, Metaphysik der Sitten, § 8, auch § 44, S. 365 f., 430 ff.
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Staatsgewalt eines Volkes 39 . Ein als Staat organisiertes Volk als existentieller Staat hat die eigenständige, originäre Staatsgewalt einschließlich der Verfassungshoheit40. Verfassungshoheit und Bundeshoheit sind Teil der politischen Freiheit des Volkes, der Bürgerschaft. Die Verfassungshoheit, nicht anders als die Bundeshoheit, sind unaufhebbarer Bestand der existentiellen Staatlichkeit eines Volkes, ganz unbeschadet einer Bundespflicht zur homogenen Verfassungsordnung, wie sie im Unionsrecht in Art. 6 Abs. 1 und 2 EUV und auch im Entwurf des Verfassungsvertrages in Teil I Art. 2 vorgeschrieben ist41. Bundeshoheit des Volkes heißt auch, daß ein existentieller Staat das Recht hat, den vereinbarten Bund zu verlassen, zu separieren, ohne mittels Bundeszwanges (vgl. Art. 37 Abs. 1 GG), gar mittels militärischen Zwanges 42 , im Bund gehalten zu werden befürchten zu müssen. Der Bund ist für Georg Jellinek das Kriterium des Staatenbundes, den er streng vom Bundesstaat unterscheidet, weil der Staatenbund zwar Vereinsgewalt, aber keine Staatsgewalt habe 43 . Konsequent läßt Jellinek einen Vertrag als Grundlage eines Bundesstaates nicht genügen44. Nach Carl Schmitt setzt umgekehrt ein Bundesstaat eine vertragliche, also bündische, Grundlage voraus 45 . Das Austrittsrecht (Sezessionsrecht) gehört zum Wesen des Bundes 46 . Eine dauerhaf-
Dazu Κ Α. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 83 ff. (87 f.); vgl. iL Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 3. Aufl. 2002, S. 116 ff.
39
C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 388 ff.; Κ Α. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 84 ff., 87 ff.; vgl. auch ders., Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 79 ff.; i.d.S. auch P. Kirchhof, Die rechtliche Struktur der Europäischen Union als Staatenverbund, S. 909 ff. 40
Auch Art. 28 Abs. 1 GG schreibt den Ländern die Homogenität ihrer Verfassungen mit dem Grundgesetz vor, aber die Bundesrepublik Deutschland ist kein bündischer Bundesstaat. Die Verfassungsprinzipien, die den Ländern in Art. 28 Abs. 1 GG vorgeschrieben sind, folgen durchgehend aus Art. 20 GG, der ohnehin fur die gesamte Staatlichkeit in Deutschland gilt; dazu Th. Maunsj HStR, Bd. IV, § 95, S. 443 ff.; vgl. schon C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 375 ff. 41
Die Befugnis, militärischen Zwang als Mittel des Bundeszwanges zu üben, ist streitig, dafür C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 380 (der die Bundesexekution nicht als Krieg einstuft); zur Praxis in der Weimarer Republik (Fall Sachsen 1923, Fall Preußen 1932) 0. Kimminich, HStR, Bd. I, § 26, Rdn. 34; dagegen etwa Th. Maun£ in: Maunz/Dürig, GG, Komm., 1960, Art. 37, Rdn. 49; B. Piervth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Komm., 5. Aufl. 2000, Art. 37, Rdn. 3; W. Erbguth, in: M. Sachs, Grundgesetz, 1996, Art. 37, Rdn. 13; auch Κ Α. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 116, Fn. 195. 42
43
Allgemeine Staatslehre, S. 762 ff., 769 ff.
44
Allgemeine Staatslehre, S. 774, 777 ff.
45
Verfassungslehre, S. 365 ff.
46
C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 374 f.
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te Bundespflicht oder ein Austrittsverbot ist jedoch entgegen der Lehre von Georg Jellinek47 nicht das Kriterium des Bundesstaates, jedenfalls nicht des echten Bundesstaates, sondern das eines bundesstaatlichen Einheitsstaates, eines unechten Bundesstaates, und das auch nur in normalen Lagen. Ein Volk, das die Bundespflicht nicht einzuhalten vermag oder dazu nicht bereit ist, muß den Bund, also den echten Bundesstaat, verlassen oder wird notfalls ausgeschlossen. Ein Recht zur Separation vom unechten Bundesstaat besteht in existentiellen Lagen, im Rahmen der clausula rebus sie stantibus (vgl. Art. 62 WVK)48 (dazu II, 2.).
II.
Bundesrepublik Deutschland als unechter Bundesstaat existentielle Staatlichkeit der deutschen Länder
1. Die Bundesrepublik Deutschland gilt weithin wie die Schweizerische Eidgenossenschaft, die Republik Osterreich, die Vereinigten Staaten von Amerika u.a. Staaten als Bundesstaat, wäre aber nur ein echter Bundesstaat, wenn (u. a.) die existentielle Verfassungshoheit und damit die Bundeshoheit der Länder respektiert würden, wenn also der Bund ein echter Bund wäre. Art. 20 Abs. 1 GG verfaßt die „Bundesrepublik Deutschland" als „demokratischen und sozialen Bundesstaat", in dem nach Absatz 2 Satz 1 dieses als unabänderlich deklarierten (Art. 79 Abs. 3 GG) und fundamentalen Artikels des Verfassungsgesetzes „alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht". Dieses Volk ist das deutsche Volk (argumentum aus der Präambel, aus Absatz 4 des Art. 20 GG und aus anderen Bestimmungen)49. Weil die Staatsgewalt des Bundes somit nicht auf der Staatsgewalt der Länder gründet, sondern die Hoheit des deutschen Volkes, des Bundesvolkes, also dessen Freiheit50 in Einheit (vgl. die Präambel des Grundgesetzes in der Fassung des Einigungsvertrages vom 31. August 1990)51,
47
Allgemeine Staatslehre, S. 762 ff. (767), 769 ff.
Zu diesem völkerrechtlichen Prinzip allgemein W. Heintschel v. Heinegg, Die völkerrechtlichen Verträge als Hauptrechtsquelle des Völkerrechts, in: K. Ipsen, Völkerrecht, 4. Aufl. 1999, S. 172 ff.; Λ Verdnss/B. Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984, § 828 ff., S. 526 ff.; vgl. auch Κ Lorenz Schuldrecht, Bd. I, Allgemeiner Teil, 14. Aufl. 1987, § 21 III, S. 322 f.
48
« BVerfGE 83, 37 (50 ff.); 83, 60 (70 ff.); Κ. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 1201; ders., Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 135 ff.; den., Die Republik der Völker Europas, S. 161 ff.; P. Kirchhof, Die rechtliche Struktur der Europäischen Union als Staatenverbund, S. 912. Zur staatlichen Hoheit als der politischen Freiheit des Volkes als der Bürgerschaft Κ. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 76 f., auch S. 79 ff.; ders., Der Anspruch auf materiale Privatisierung, S. 268 ff., 291 ff. 50
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Einigungsvertrages vom 31. August 1990)51, ist, kann der Bundesstaat, den das Grundgesetz verfaßt, kein echter Bundesstaat sein; denn er ist trotz bündischer Elemente kein wirklicher, vertraglicher Bund. Vielmehr ist die Bundesrepublik Deutschland ein in Länder gegliederter bundesstaatlicher Verfassungsstaat, ein föderalisierter Einheitsstaat52, ein unechter Bundesstaat, in den Kategorien Carl Schmitts „ein Bundsstaat ohne hündische Grundlage"53. Das Bundesverfassungsgericht freilich spricht in Ε 60, 175 (209); 64, 301 (317) vom „betont föderal gestalteten Bundesstaat des Grundgesetzes". Hingewiesen sei auf die Kompetenz-Kompetenz des Bundes, allgemein als ein Kriterium des (unechten) Bundesstaates eingestuft54, die bekanntlich zu einer weitgehenden Entmachtung der Landesparlamente gefuhrt hat55. Zum fragwürdigen Ausgleich sind die Befugnisse des Bundesrates wegen der „sachlichen Unitarisierung", der Tendenz zu einheitlichen Lebensverhältnissen im unechten Bundesstaat, vor allem „bei der Gesetzgebung" (Art. 50 GG), derart gestärkt, daß der deutsche Parteienstaat56 wegen der dadurch möglich gewordenen Oppositionsblockaden kaum noch regierbar ist57. Die herrschende Meinung stellt sogar die einzelnen Länder zur Dispositionen eines verfassungsändernden Gesetzes des Bundes, wenn nur die Bundesstaatlichkeit als solche erhalten bleibe („labiler Bundesstaat")58 und sieht die Länder dem Bund nicht gleich-, sondern untergeordnet, zumal das Bundesrecht 51 Zur Freiheit und Einheit Deutschlands Κ Α Schachtschneider (Ο. Gast), Sozialistische Schulden nach der Revolution. Kritik der Altschuldenpolitik. Ein Beitrag zur Lehre von Recht und Unrecht, 1996, S. 78 ff. 52
Κ Α. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S.115 f., 136 ff.; 1.d.S. auch St. Oerter, Föderalismus, S. 83; vgl. schon H. Naiviasky, Allgemeine Staatslehre, II, 2, S. 203 f., der einen Bundesstaat, dem die „Kompetenzabgrenzung" überwiesen sei, als „dezentralisierten Einheitsstaat" auffaßt. 53 Verfassungslehre, S. 389 f. μ BVerfGE 75, 223 (242)); dazu Th. MaunZ HStR, Bd. IV, § 94, Rdn. 16; J. Isensee, HStR, Bd. IV, § 98, Rdn. 82, 90 f.; P. Kirchhof, Die rechtliche Struktur der Europäischen Union als Staatenverbund, S. 900, 906, 914; vgl. auch St. Oerter, Föderalismus, S. 91 ff. 55
Vgl. Κ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, S. 99, Rdn. 221; O. Kimminich, HStR, Bd. I, § 26, Rdn. 57; ]. Pietqcker, Zuständigkeitsordnung und Kollisionsrecht im Bundesstaat, HStR, Bd. IV, 1990, § 99, Rdn. 4; Κ Α. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 136 ff. 56 Dazu Κ Α. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 772 ff., 1045 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 36 ff., 192 ff. 57
Dazu R. Sturm, Zur Reform des Bundesrates. Lehren eines internationalen Vergleichs der Zweiten Kammer, Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 29-30/2003, S. 24 f. se BVerfGE 5, 34 (38); O. Kimminich, HStR, Bd. I, § 96, Rdn. 39; ]. Isensee, HStR, Bd. IV, § 98, Rdn. 262 ff., insb. Rdn. 278; so schon C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 389 f.
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nach Art. 31 G G das Landesrecht breche59. Art. 31 G G ist die Logik der Kompetenzordnung, kein Ausdruck der Unterordnung60. Immerhin sprechen die Bundesaufsicht nach Art. 84 Abs. 3 und 4 GG und der Bundeszwang nach Art. 37 G G für eine Überordnung des Bundes über die Länder61, wenn man Rechtsverhältnisse, Rechte und Pflichten, überhaupt in der Kategorie Über- und Unterordnung bewerten will. An sich widerspricht das dem Prinzip Freiheit62. Die vielen weiteren Aspekte des unitarischen, existentiellen Charakters des Bundes im grundgesetzlichen Bundesstaat können hier nicht dargelegt werden. Bemerkt sei, daß die europäische Integration weiter an der Substanz der Staatlichkeit der deutschen Länder zehrt. Die unechte Bundesstaatlichkeit Deutschlands folgt bundesstaatsdogmatisch wesentlich daraus, daß ausweislich der Präambel das „Deutsche Volk" das Grundgesetz gegeben hat und „die Deutschen in den Ländern ..." „die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet" haben, nicht die Völker der Länder. Das Grundgesetz ist kein Bundesvertrag oder Bundesverfassungsvertrag, sondern eine unitarische Bundesstaatsverfassung63, deren Regelungen, soweit sie einschlägig sind, für den Bund und für die Länder gelten. Der unechte Bundesstaat ist durch mehr oder weniger starke Elemente eines Bundesstaates föderalisiert, ist aber nicht durch dessen wesentliches Element, den vertraglichen Bund, und darum an sich auch und insbesondere nicht durch das Recht der Länder zu separieren (dazu 2.) bestimmt, weil er auf einem Verfassungsakt des Bundesvolkes gründet, welches als solches nicht in Landesvölker geteilt ist64. Die Präambel spricht vom „gesamten Deutschen Volk", für welches das Grundgesetz gelte. Freilich ist die Bundesrepublik Deutschland, unbeschadet des Einflusses der Besatzungsmächte, aufgrund der Beschlüsse der Landtage (18., 20. und 21. Mai
59
O. Kimminich, HStR, Bd. I, § 26, Rdn. 40, 42, 48; J. Isensee, HStR, Bd. IV, § 98, Rdn. 91 f.; genau J. Pietyker, HStR, Bd. IV, § 99, Rdn. 24 ff.; auch BVerfGE 1 , 1 4 (31 f.); 13, 54 (78). Μ I.d.S. differenzierend J. Pietyker, HStR, Bd. IV, § 99, Rdn. 24 ff.; auch Tb. Bd. IV, § 94, Rdn. 15 f. 61
Zu Recht zurückhaltend Tb. Maun% HStR, Bd. IV, § 94, Rdn. 18 f.
62
Κ Α. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 76 f., 79 ff. (83 ff.), 102.
MaunHStR,
63
Zum unitarischen Bundesstaat Κ Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962; den., Grundzüge des Verfassungsrechts, S. 99, Rdn. 221; ]. Isensee, HStR, Bd. IV, § 98, Rdn. 4; O. Kimminich, HStR, Bd. I, § 26, Rdn. 10, 49 ff., 56; E. Sarlevil, Das Bundesstaatsprinzip. Eine staatsrechtliche Untersuchung zur Dogmatik der Bundesstaatlichkeit des Grundgesetzes, 2000, S. 13 f.; grundlegend H. Triepel, Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Recht, 1907. μ Dazu ]. Isensee, HStR, Bd. IV, § 98, Rdn. 45 ff., 58 ff., der weitergehend Landesvölker negiert und lediglich „eine zwiefache Organisation des Volkes zum Staat eines identischen Volkes" erkennt.
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1949), die das Grundgesetz angenommen haben, gegründet worden, also doch namens der Völker der Länder, von den Landtagen repräsentiert65. Nur der bayerische Landtag hat mit 101 gegen 63 Stimmen das Grundgesetz abgelehnt (20. Mai 1949), aber gegen 6 Stimmen die Geltung des Grundgesetzes auch im Freistaat Bayern beschlossen, wenn es von der Mehrheit der übrigen Länder angenommen werde. Vor allem beruht die Bundesrepublik Deutschland nicht wie das Deutsche Reich Bismarcks auf einem Bund, dem „ewigen Bund" deutscher Fürsten (Präambel der Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. April 1871)66. Schon die Weimarer Republik war kein echter Bundes Staat mehr67, wenn überhaupt ein Bundesstaat und nicht ein dezentralisierter Einheitsstaat. Die Bundesrepublik Deutschland ist entgegen dem grundgesetzlichen Wort für den Zentralstaat „Bund" kein Bund der Länder, obwohl sich wichtige Länder, insbesondere der Freistaat Bayern (Verfassung vom 2. Dezember 1946), vor der Konstituierung der Bundesrepublik Deutschland staatlich verfaßt hatten. In Identität mit dem Deutschen Reich (in der Verfassung der Weimarer Republik)68 hat sich die Bundesrepublik Deutschland durch gesamtstaatlichen Akt verfaßt69, zumal unter dem Regime der westlichen Besatzungsmächte, also nicht in politischer Freiheit der Länder, die sich, wie der Freistaat Bayern, dem Oktroi der Besatzungsmächte beugen mußten70. Immerhin hat das Bundesverfassungsgericht in Ε 13, 54 (788) ausgesprochen: „Die Rechtskreise zwischen Gesamtstaat und Gliedstaaten und zwischen den Gliedstaaten werden durch das Bündnis der Gliedstaaten geschaffen, das der Bundesstaat begrifflich voraussetzt." Diese Aussage ist für die Bundesrepublik Deutschland Fiktion. Eine Bundesstaatlichkeit Deutschlands war aber durchaus
65 Dazu R. Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, HStR, Bd. 1,1987, § 6, Rdn. 86.
" Dazu O. Kimminich, HStR, Bd. I, § 26, Rdn. 30; auch St. Oerter, Föderalismus, S. 76 ff. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 389 ff.; a. A. G. Anschüt%, WRV, Anm. 4 und 5 zu Art. 1, aber im Sinne des unechten Bundesstaates; vgl. O. Kimminich, HStR, Bd. I, § 26, Rdn. 32 ff. 67
ω BVerfGE 3, 288 (319 f.); 5, 85 (126); 6, 309 (336, 363); 11, 150 (158); 18, 353 (354); 36, 1 (15 f.); 77,137 (155 ff.); Κ Α. Schachtschneider (Ο. Gast), Sozialistische Schulden nach der Revolution, S. 45, 64 ff., 91 f. 69
Κ Stern, Staatsrecht I, S. 657 f.
Dazu R. Mußgnug, HStR, Bd. I, § 6, Rdn. 85. Das Schreiben der Militärgouverneure der amerikanischen, britischen und französischen Zone vom 12. Mai 1949 machte die Annahme des Grundgesetzes von der Zustimmung von zwei Dritteln der Volksvertretungen der deutschen Länder abhängig.
70
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der politische Wille der Deutschen71. Dementsprechend erklärt Art. 21 Abs. 2 G G Parteien für verfassungswidrig, die darauf ausgehen, „den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden". Dieses Verbot richtet sich auch gegen die Sezession72. Jedes Verfassungsgesetz regelt den Bundesstaat in je eigener Weise. 2. Die existentielle Staatlichkeit des Bundes der Bundesrepublik Deutschland wird nicht als Widerspruch zu einer funktionalen und institutionellen, durchaus substantiellen Staatlichkeit der Länder Deutschlands gesehen, wie sie allseits anerkannt ist73. Sie ist auch kein Widerspruch zur existentiellen Staatlichkeit der Länder, deren Kern es ist, das Schicksal in die eigene Hand nehmen zu können, also zu einer Verfassungshoheit 74 und damit zu einer Bundeshoheit der Länder, welche diese im „Bund" wie »Bundesländer' verbindet, die den Bund, wenn es nötig ist, aus eigenem Entschluß verlassen dürfen. Ein Recht der Länder, in existentiellen Lagen aus der Bundesrepublik Deutschland auszuscheiden, respektiert deren existentielle Staatlichkeit75. Der Freistaat Bayern hat in Art. 178 seiner Verfassung die Freiwilligkeit des Bundes zum Ausdruck gebracht:
Κ Stem, Staatsrecht I, S. 666 f.; 0. Kimminich, HStR, Bd. I, § 26, Rdn. 35; E. Sarievil, Das Bundesstaatsprinzip, S. 260. 71
72 Vgl. Η. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Komm., 2001, Art. 21, Rdn. 520 ff. 73
BVerfGE 1, 14 (34); 36, 342 (360 f.); 72, 330 (388); Κ Stern, Staatsrecht I, S. 644 f., 651, 654, 660 ff., 666 ff.; 0. Kimminich, HStR, Bd. I, § 26, Rdn. 14, 19 f., 40; R. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Kommentar, 1980, Art. 20 IV, Rdn. 2 ff.; J. Isensee, HStR, Bd. IV, § 98, Rdn. 4, 64 ff., 68 („Staatlichkeit" der Länder „im Sinne des Grundgesetzes"), 69 ff., 268; so auch E. Sarlevil, Das Bundesstaatsprinzip, S. 211 ff., 255 ff. Die Verfassungsordnung der Länder ist an sich zu respektieren, BVerfGE 11, 77 (85 f.); 27, 44 (56); 34, 9 (19 f.); 36, 342 (360 f.; 60,175 (209); 64, 301 (317); dazu J. Isensee, HStR, Bd. IV, § 98, Rdn. 78 ff. (relativierend). 74
C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 371 ff., insb. S. 374 ff. Ein Separationsrecht wird in der gegenwärtigen staatsrechtlichen Literatur, soweit ich sehe, nicht behandelt; für J. Isensee, HStR, Bd. IV, § 98, Rdn. 62, liegt es „schlechthin außerhalb des Verfassungshorizonts des Grundgesetzes, eben weil es den ,ewigen Bund' nicht in Frage stellen läßt und weil es auch keine eigenständigen Landesvölker mehr kennt; diese", seien „aufgegangen in dem einen deutschen Staatsvolk"; diese Rhetorik versucht Dogmatik erst gar nicht. H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 848 f., weist das Austrittsrecht aus dem Bundesstaat, im Gegensatz zu dem aus Supranationalen Organisationen (auch S. 767), ohne Begründung zurück. Bemerkenswert aber D. Ooering (Dr. phil.), Friedlicher Austritt. Braucht die Europäische Union ein Sezessionsrecht?, 2002, der seine Frage bejaht und dessen Argumente auch für den deutschen Bundesstaat ergiebig sind. 75
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„Bayern wird einem künftigen deutschen demokratischen Bundesstaat beitreten. Er soll auf einem freiwilligen Zusammenschluß der deutschen Einzelstaaten beruhen, deren staatsrechtliches Eigenleben zu sichern ist". Wenn die existentielle Staatlichkeit der Länder, die sich in deren Verfassungsgesetzen, deren Organisations- und Repräsentationsformen und weitestgehend in deren Selbstverständnis, jedenfalls im Freistaat Bayern (vgl. etwa Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 BV), ausdrückt76 und die den Ländern für die Lebensbewältigung auch nicht abgesprochen werden kann, ein Kriterium des echten Bundesstaates ist, müßte eine Verfassungsreform Deutschlands den Ländern, um deren existentiellen Staatlichkeit gerecht zu werden, das Separationsrecht zugestehen, also Deutschland in einen wirklichen Bund, einen echten Bundesstaat, zurückverwandeln, bündisch reformieren. Das Separationsrecht der Länder wird wegen der Transformation der Europäischen Union zum existentiellen Staat (dazu III.) selbst existentiell, weil die substantielle, ja existentielle europäische Staatlichkeit die Bundespflichten der Länder trotz des verfassungsgesetzlichen Integrationswillens in der Präambel des Grundgesetzes und trotz des Europaartikels des Grundgesetzes (Art. 23) übersteigt und darum nicht zur Disposition der Mehrheitsentscheidungen in den Organen des Bundes steht. Der Integrationsschritt, der mit dem Verfassungsvertrag der Europäischen Union unternommen werden soll, würde die Staatlichkeit der Länder ausweislich des Teiles I, Art. 5 Abs. 1 des Entwurfs überhaupt beenden; denn der Entwurf akzeptiert nach der grammatischen Interpretationslogik trotz der Achtung der „nationalen Identität ihrer Mitgliedstaaten die in deren grundlegender politischer und verfassungsrechtlicher Struktur einschließlich der regionalen und kommunalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt", nur noch „regionale Selbstverwaltung", nicht Staaten innerhalb der Mitgliedstaaten, schon gar nicht existentielle Staaten. Auch die unechte Bundesstaatlichkeit, die das Grundgesetz verfaßt und mittels seiner Unabänderlichkeitsentscheidung in Art. 79 Abs. 3 besonders schützt, verbietet eine Entstaatlichung der Länder zu regionalen, dezentralen Selbstverwaltungskörperschaften77. Die Länder haben zwar durch das Grundgesetz ihre existentielle Staatlichkeit im Gesamtstaat Bundesrepublik Deutschland weitestgehend zurückgestellt oder genauer: zurückstellen müssen, nicht aber aufgegeben. Vielmehr ruht diese existentielle Staatlichkeit der Länder, um sich in existentieller Lage zu erheben. Ihre existentielle Staatlichkeit ist gewissermaßen suspendiert und kann, wenn es die 7«
Dazu J. Isensee, HStR, Bd. IV, § 98, Rdn. 69 ff.
BVerfGE 34, 9 (19 f.); Th. Maun^ HStR, Bd. IV, § 94, Rdn. 2 ff.; K. Stern, Staatsrecht I, S. 645; 0. Kimminich, HStR, Bd. I, § 26, Rdn. 39; ]. Isensee, HStR, Bd. IV, § 95, Rdn. 64 ff., der zu einer einheitsstaatlichen (unitaristischen) Dogmatik der Staatlichkeit der Länder tendiert, allerdings wenig klar. 77
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Lage gebietet, aktiviert werden. Eine solche Lage schafft eine europäische Integration, welche den Länder den „Besitzstand" der unechten Bundesstaatlichkeit streitig macht, mit dem sich die Länder, zumal die über Jahrhunderte gewachsenen Länder wie Bayern, im Rahmen der Bundesrepublik Deutschland begnügen konnten, nicht aber im Rahmen eines europäischen Bundesstaates, der Deutschland funktional weitgehend die existentielle Staatlichkeit nimmt und damit die Staatlichkeit der Länder, die auch im unechten Bundesstaat besteht78, entwertet. Ein Austrittsrecht der Länder aus der Bundesrepublik Deutschland besteht in normalen Lagen nicht und ist nicht der verfaßte Wille der Länder, allenfalls der des Freistaates Bayern ausweislich des zitierten Art. 178 BV. Das Austrittsrecht ist den Ländern aber in existentiellen Lagen geblieben, auch und gerade wenn der Bund die Grundlagen des grundgesetzlichen Bundesstaates verläßt. Dieses Austrittsrecht erwächst der ruhenden (suspendierten, latenten) existentiellen Staatlichkeit der Länder. Es ist die Logik der existentiellen Staatlichkeit der Länder, deren Einheit im Bund aufgrund des gesamtstaatlichen Verfassungsgesetzes, des Grundgesetzes, ihre Eigenständigkeit nicht aufhebt. Die Länder haben durch ihre vollentwickelte Staatlichkeit die Möglichkeit der eigenen Politik und damit auch die politische Verantwortung für das Schicksal ihrer Bürger. Sie sind insbesondere eigenständig demokratisch legitimiert und haben originäre Staatsgewalt, eine „nicht vom Bund abgeleitete, sondern von ihm anerkannte Hoheitsmacht"79, nämlich ein eigenes Volk (Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG)80. „Volk im Sinne dieser Verfassungsnormen ist die Gesamtheit der in dem jeweiligen Wahlgebiet ansässigen Deutschen ..." (BVerfGE 83, 60 (71)). „Es gehört zum Wesen des Bundes, daß die Frage der Souveränität zwischen Bund und Gliedstaaten immer offenbleibt, solange der Bund als solcher neben den Gliedstaaten als solchen existiert", hat Carl Schmitt erkannt81. Die Verletzung der bundesstaatlichen Rechte der Länder kann im Verfassungsprozeß, etwa im Bund-Länder-Streit nach Art. 93 Abs. 1 Ziff. 3 GG oder im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Ziff. 2 GG geklärt werden. Diese Rechtsschutzmöglichkeiten nehmen den deutschen Ländern 78
Hinweise in Fn. 73.
™ BVerfGE 1, 14 (34); 6, 309 (346 f.); 34, 9 (19 f.); 60, 175 (209); 81, 310 (331); Tb. Maun^ HStR, Bd. IV, § 94, Rdn. 3; Κ Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Komm., Art. 20 IV, Rdn. 10; K. Stern, Staatsrecht I, S. 667, 669; dazu E. Sarlevil, Das Bundesstaatsprinzip, S. 111 ff., 255 ff. μ BVerfGE 8, 104 (116), „Staatsorgan Landesvolk"; 83, 37 (53), „territorial begrenzter Verband", „das (Landes)Volk"; Κ Stern, Staatsrecht I, S. 669; R. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 II, Rdn. 101; M. Herdegen, Strukturen und Institute des Verfassungsrechts der Länder, HStR, Bd. IV, 1990, § 97, Rdn. 8; a.A. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 389; folgend J. Isensee, HStR, Bd. IV, § 98, Rdn. 45 ff., 60 f., ohne Schmitt zu zitieren. β· Verfassungslehre, S. 371 ff. (Zitat S. 373).
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aber nicht das Recht, sich in existentieller Lage durch Austritt aus der Bundesrepublik Deutschland vor einer ländergefährdenden Politik des Bundes oder auch der Europäischen Union, für deren Politik freilich der Bund verantwortlich ist82, zu schützen. In existentieller Lage kann dem Bundesverfassungsgericht nicht das letzte Wort über das Schicksal eines Landes zugestanden werden; denn das Bundesverfassungsgericht ist ein Bundesorgan und die Verfassungsrichter werden von Bundesorganen (Bundestag und Bundesrat je zur Hälfte, Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG) gewählt83. Zudem ist auf Rechtsschutz durch das parteienoligarchische Bundesverfassungsgericht in Sachen europäischer Integration wenig Verlaß, seit das Gericht die große Europapolitik von seiner Rechtsverantwortung ausnimmt und der Verantwortung von Regierung und Parlament ausliefert84. Die bundesstaatlich für Deutschland und Europa wesentliche Friedensfunktion hat das Bundesverfassungsgericht, nicht anders als den Grundrechtsschutz85, abgeschoben. Das Recht muß auch für außergewöhnliche Lagen Sorge tragen. Man denke an Entwicklungen zur Rechdosigkeit, wie etwa ein gänzlicher Verfall der Sozialstaatlichkeit86 durch den kapitalistischen Liberalismus der Unionspolitik, der den Bund nicht veranlaßt, die Union zu verlassen, oder auch an Angriffskriege, an denen sich der Bund oder auch die Union entgegen Art. 26 Abs. 1 GG beteiligen. Das Austrittsrecht im Entwurf des Verfassungsvertrages der Europäischen Union (Art. 1-59 E W ) erweist, daß ein Austrittsrecht ein Wesensmerkmal eines echten Bundesstaates ist. Es ist auch im unechten Bundesstaat ein Notrecht in existentieller Lage. Sonst ist der Staat ein Einheitsstaat ohne existentielle Elemente87. Als weitere Rechtsgrundlage des Separationsrechts der Länder sei auf das Das Maastricht-Urteil hat zu Recht das gemeinschaftsrechtliche Mehrheitsprinzip für Politiken eingeschränkt, welche „elementare Interessen" der Mitgliedstaaten, insbesondere deren Verfassungen, betreffen, die nicht gegen die Stimme des betroffenen Staates beschlossen werden dürfen (BVerfGE 89, 155 (184); vgl. Κ Α. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 124 ff. 82
83
I.d.S. argumentiert auch C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 371 f.
μ BVerfGE 97, 350 (374), Euro-Beschluß; dazu Κ Α. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 36 ff.; ders., Die Rechtsverweigerung im Euro-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, in: W. Hankel/W. Nölling/K. A. Schachtschneider/J. Starbatty, Die Euro-Illusion. Ist Europa noch zu retten?, 2001, S. 274 ff. (299 ff.). Vgl. BVerfGE 37, 271 (281 f.); 73, 359 (374, 386 f.); 89, 155 (174 f.); dazu Κ Α. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 104 f.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 138 ff.; ders.IΑ Emmerich-Pritsche, Das Verhältnis des Europäischen Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht Deutschlands, DSWR 1999, S. 81 ff., 116 ff. 85
Zum Verfassungsrang des Sozialprinzips, welches das Verfassungsgesetz nicht aufgeben darf, BVerfGE 84, 90 (121); Κ. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 4 ff, 9 ff., 96 ff., 103 ff. 86
87
Ganz so C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 373 ff.
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Widerstandsrecht aus Art. 20 Abs. 4 GG hingewiesen. Jeder Bund kann aus wichtigem Grunde gelöst werden, auch wenn er an sich unauflöslich geschlossen ist, selbst die Ehe, christlich Sakrament oder heiliger Stand, dennoch profan so gut wie ohne Grund scheidbar.
III.
Substantielle und existentielle Staatlichkeit der Union
1. Die Europäische Union entwickelt sich in ihren Institutionen, Organen, Aufgaben und Befugnissen, sowie in ihren Instrumenten und Handlungsweisen vom Staatenverbund europäischer Völker88, also einem föderalen echten Bundesstaat, mehr und mehr zum unitarischen unechten Bundesstaat, als wären die Unionsbürger ein Volk. Wenn die substantielle, d.h. eine weitgehende, für das gemeinsame Leben wichtige, gewissermaßen existentielle, Staatlichkeit der Union, die nur einem existentiellen Staat zukommt, nicht schon mit dem Vertrag von Maastricht89 erreicht war, so wird der entscheidende Schritt der Verfassungsvertrag der Europäischen Union sein, dessen Entwurf am 20. Juli 2003 in Thessaloniki vom Präsidenten des Verfassungskonvents den Staats- und Regierungschefs unterbreitet wurde. Der Union mangelt jedoch noch der Träger existentieller Staatlichkeit, das Staatsvolk oder Unionsvolk, das die Staatsgewalt der Union demokratisch legitimieren könnte90. Der Verfassungsvertrag konzipiert aber ein erstes Element eines Unionsvolkes und damit eines existentiellen Unionsstaates, die unmittelbare Vertretung der „Bürgerinnen und Bürger" durch das Europäische Parlament (Art. 1-45 Abs. 2 E W ) . Der Staatenverbund ist durch die Gemeinschaftsverträge organisiert, welche die vornehmlich wirtschaftliche Integration vom Gemeinsamen Markt der Römischen Verträge (1957) zum Binnenmarkt der Einheitlichen Europäischen Akte (1986) bis hin zur Wirtschafts- und Währungsunion des Maastricht-Vertrages
88
So BVerfGE 89,155 (184,186,188 ff., 190); weitere Hinweise in Fn. 10.
So Κ A. Schachtscbneider, Verfassungsbeschwerde gegen das Zustimmungsgesetz zum Vertrag über die Europäische Union vom 7. Februar 1992, vom 18. Dezember 1993 (MaastrichtVerfassungsbeschwerde), in: I. Winkelmann (Hrsg.), Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1993, 1994, S. 129 ff., 386 ff.; a.A. BVerfGE 89, 155 (188); dazu Κ Α. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 87 ff., insb. S. 92 ff.; den., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 60 ff. 85
w BVerfGE 89, 155 (184 ff., 188); Κ Α. Schachtschneider; Die Republik der Völker Europas, S. 166, 173; dazu ders.. Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 111 ff.; den., Das Recht und die Pflicht zum Ausstieg aus der Währungsunion, in: W. Hankel u.a., Die EuroIllusion. Ist Europa noch zu retten?, 2001, S. 323 ff.; P. Kirchhof, Die rechtliche Struktur der Europäischen Union als Staatenverbund, S. 900 f., 906; zur Problematik eines „Gesamtvolkes" oder „föderalen Staatsvolkes" St. Oerter, Föderalismus, S. 106,107 ff.
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(1992) vertieft haben. Gleichzeitig ist die Europäische Gemeinschaft der ursprünglich sechs auf fünfzehn Mitgliedstaaten erweitert worden und soll im nächsten Jahr weitere zehn vornehmlich mittel- und osteuropäische Staaten aufnehmen. Zwei weitere osteuropäische Staaten, Bulgarien und Rumänien, sollen im Jahre 2007 hinzukommen. Auch die Türkei bereitet sich auf ihre Aufnahme vor. Irgendwann werden Weißrußland, die Ukraine und schließlich Rußland der Gemeinschaft angehören wollen. Die institutionellen Regelungen des Vertrages von Nizza (2000), der die Zusammenarbeit der erweiterten Gemeinschaft gestaltet, inzwischen auch von Irland angenommen, stellen nicht zufrieden. Eine neue Gestalt soll die Europäische Union durch den Verfassungsvertrag91 erhalten, den ein „Konvent zur Zukunft Europas", auch Europäischer Konvent oder Verfassungskonvent genannt, erarbeitet und im Juni und Juli 2003 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat. Im Rahmen der Regierungskonferenz im Dezember 2003 in Laeken/Brüssel sollen die Staats- und Regierungschefs das Vertragswerk, möglichst unverändert, so der Konventspräsident Valery Giscard d'Estaing, annehmen. Die dann 25 Mitgliedstaaten einschließlich der Beitrittsländer sollen den Vertrag im Mai 2004 völkervertraglich vereinbaren und schließlich nach den innerstaatlichen Zustimmungsverfahren bis zum Jahre 2006 ratifizieren92. Manche integrationistischen Staatsrechtslehrer meinen, daß schon jetzt ein „Verfassungsverbund" unter den Mitgliedstaaten bestehe93, welcher lediglich institutionell, prozedural und material zum Verfassungsstaat vervollkommnet werden müsse. Die Integrationspolitiker wollen das bisher erfolgreiche Konzept fortsetzen, die Integration durch begrenzte Schritte zum „vereinten Europa" (Präambel und Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG), zu entwickeln und bis zur Unumkehrbarkeit zu führen. Auf diese Weise vermeiden sie und wollen sie vermeiden, alle Völker, insbesondere die Deutschen, selbst über die Integrationsentwicklung abstimmen zu lassen. Die Integrationisten dürfen damit rechnen, daß der Europäische Gerichtshof, der „Motor Kritisch zum Begriff „Verfassungsvertrag" P. Kirchhof, Die rechtliche Struktur der Europäischen Union als Staatenverbund, S. 895 ff., weil der „Tatbestand der .Verfassung' im Staatsrecht grundsätzlich nur der Grundordnung eines Staates zugesprochen" werde. 91
Vgl. die Erklärung des Europäischen Rates von Laeken vom 14./15. Dezember 2001 „Die Zukunft der Europäischen Union"; dazu Th. Oppermann, Vom Nizza-Vertrag 2001 zum Europäischen Verfassungskonvent 2002/03, DVB1 2003,1 ff. 92
Etwa I. Perntce, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, WDStRL 60 (2001), S. 163 ff.; vgl. den., Deutschland in der Europäischen Union, HStR, Bd. VIII, 1995, § 191, Rdn. 62 ff. (Rdn. 68: „supranationale Verfassung der Union); i.d.S. auch St. Oerter, Föderalismus, S. 117 ff.; schon Η. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, 2, 33 ff., S. 64 ff, hat das Primärrecht als „materielle Verfassung der Gemeinschafen" dogmatisiert; so auch (noch) BVerfGE 22, 293 (296); dagegen P. Kirchhof, Die rechtliche Struktur der Europäischen Union als Staatenverbund, S. 895, 904. 93
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der Integration"94, jedwedes Verfahren akzeptieren wird, welches die europäische Integration zu Vereinigten Staaten von Europa, dem Beispiel der Vereinigten Staaten von Amerika folgend 95 , mit eigenständiger, substantieller, ja originärer, Staatlichkeit96 vorantreibt und dadurch den integrationistischen Traum von einer wirtschaftlichen und militärischen Großmacht Europa ohne Rücksicht auf die ökonomischen und politischen Verwerfungen, die mit dieser Integration verbunden sind, wahrmacht. Europa verheißt den durch das Unrecht des Zweiten Weltkrieges, zumal die Verbrechen des „Dritten Reiches", im Nationalbewußtsein tief gekränkten Deutschen eine neue nationale Identität, die des Europäers. Ob auch das Bundesverfassungsgericht jeden Integrationsschritt hinnehmen wird, steht dahin. Wirklicher Rechtsschutz ist, wie gesagt, jedenfalls in Integrationssachen von diesem apologetischen Gericht nicht zu erwarten, wie der EuroBeschluß erwiesen hat (BVerfGE 97, 350 ff.). 2. Der Vertrag über die Europäische Union, vereinbart in Maastricht am 7. Februar 1992, wegen des Maastricht-Prozesses vor dem Bundesverfassungsgericht 97 erst am 1. November 1993 in Kraft getreten, hat die Europäischen Gemeinschaf-
H. Steinberger; Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, WDStRL 50 (1991), S. 12, 38; E. Klein, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, WDStRL 50 (1991), S. 62, 64, 72; U. DiFabio, Der neue Art. 23 des Grundgesetzes. Positivierung vollzogenen Verfassungswandels oder Verfassungsneuschöpfung?, Der Staat 32 (1993), S. 214; F. Ossenbühl, Maastricht und das Grundgesetz - eine verfassungsrechtliche Wende?, DVB1. 1993, 635; J. Wolf, Die Revision des Grundgesetzes durch Maastricht. Ein Anwendungsfall des Art. 146 GG, JZ 1993, 597; Κ Α Sehachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 108; deutlich P. Kirchhof, Die rechtliche Struktur der Europäischen Union als Staatenverbund, S. 895, 923; M. Zulee& Die Rolle der rechtsprechenden Gewalt in der europäischen Integration, JZ 1994, 4, weist diesen Vorwurf zurück; ebenso ders., Recht und Arbeit 1994, 77 ff.; den., Der rechtliche Zusammenhalt der Europäschen Gemeinschaft, III, S. 19 f., VII, S. 34 ff.; abgewogen Η. P. Ipsen, HStR, Bd. VII, § 181, Rdn. 32; dazu Jh. Oppermann, Europarecht, S. 152 f., Rdn. 384 ff. 94
Das sei, meint, auf eine Rede des Bundeskanzler vom 6. Mai 1993 gestützt, das Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil „derzeit nicht beabsichtigt", BVerfGE 89,155 (189).
95
Vgl. schon P. Badura, Bewahrung und Veränderung demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassungsstruktur in den Internationalen Gemeinschaften, W D S t R L 23 (1966), S. 34 ff. (57, 59 ff.); H.-P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, § 9, Rdn. 61, S. 232; vgl. auch BVerfGE 22, 293 (295 f.); 89, 155 (175, 187); dazu kritisch Κ Α. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 103; ders., Das Recht und die Pflicht zum Ausstieg aus der Währungsunion, in: Die Euro-Illusion, S. 329 f.; weitere Hinweise in Fn. 118. 96
BVerfGE 89, 155 ff.; Dokumentation des Verfahrens mit Einführung von I. Winkelmann, Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1993, 1994; zur Rechtslage nach dem Urteil Κ Α. Schachtschneider (Verfahrensbevollmächtigter der allein zugelassenen Verfassungsbeschwerde M. Brunners), Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 75 ff. 97
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ten zusammengefaßt und eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (Titel V des EUV), aber auch eine polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen (Titel VI des EUV, zuvor: Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres) vereinbart. Die Union ist nicht nur stetig erweitert, sondern nicht zuletzt auch durch die Verträge von Maastricht (1992/93), Amsterdam (1997) und auch Nizza (2000) derart vertieft worden, daß sie aufgrund der ihnen von den Mitgliedstaaten übertragenen Hoheitsrechte schon jetzt Aufgaben und Befugnisse eines existentiellen Staates ausübt, sowohl in der Rechtsetzung, als auch und vor allem in der Rechtsprechung. Herausragende Einrichtung der existentiellen Staatlichkeit ist die Währungsunion mit den einen einheitlichen Staat symbolisierenden Geldzeichen, Euro und Cent, die seit 2002 in den Ländern der Eurozone (zur Zeit zwölf) genutzt werden. Die Ermächtigungen in den Gemeinschaftsverträgen, der Sache nach die Ubertragung von Hoheitsrechten zur gemeinschaftlichen Ausübung der Staatsgewalt98 (Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG), welche die Zustimmung der nationalen Gesetzgeber gefunden haben (vgl. Art. 59 Abs. 2 GG), sind weit und offen und gewinnen durch den Verfassungsvertrag keinesfalls an Bestimmtheit. Allein die ausschließlichen Zuständigkeiten der Union, die in Teil I Art. 12 des Entwurfs des Verfassungsvertrages aufgelistet sind, nämlich (u.a.) „die Währungspolitik für die Mitgliedstaaten, die den Euro eingeführt haben, die gemeinsame Handelspolitik, die Zollunion,...", weiterhin die „für das Funktionieren des Binnenmarktes erforderlichen Wettbewerbsregeln", sind denkbar weit, so daß die Politik im Rahmen dieser Zuständigkeiten nicht vorhergesehen werden kann. Hinzukommen die „geteilten Zuständigkeiten", deren Hauptbereiche Art. 1-13 Abs. 2 E W nennt, nämlich (u.a.) „Binnenmarkt, Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, Landwirtschaft und Fischerei, ausgenommen..., Verkehr und transeuropäische Netze, Energie, Sozialpolitik hinsichtlich der in Teil III genannten Aspekte, wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt, Umwelt, Verbraucherschutz, gemeinsame Sicherheitsanliegen im Bereich des Gesundheitswesens", die zwar nur nach Maßgabe der näheren Regelungen vor allem im Teil III des Verfassungsvertrages, der weitestgehend die alten Bestimmungen enthält, ermächtigt, aber doch die umfassende politische Verantwortung der Union erweist. Besonders weit ermächtigt Art. 1-14 E W die Union, die Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik zu koordinieren. Sie kann „Grundzüge der Wirtschaftspolitik" und „Leitlinien für die Beschäftigungspolitik", wohlgemerkt der Mitgliedstaaten, beschließen. Dazu war sie durch Art. 99 und Art. 128 EGV auch bisher
Κ Α. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 87 ff. (92 f.); der:., Die Republik der Völker Europas, S. 161 ff., 165 ff.; den., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 60 ff., insb. S. 70 ff.; P. Kirchhof, HStR, Bd. VII, § 183, Rdn. 69; den., Die rechtliche Struktur der Europäischen Union als Staatenverbund, S. 905, 914; i.d.S. auch BVerfGE 89,155 (189). 58
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schon ermächtigt, allerdings hatte sie von dieser Befugnis noch keinen Gebrauch gemacht. Die Grund2üge und Leitlinien werden für die Mitgliedstaaten eine wenn auch schwache Verbindlichkeit haben, wie die näheren Vorschriften im Teil III, Art. 68 und 95, erweisen. In Art. 1-17 E W wird die (kleine) Generalklausel, jetzt „Flexibilitätsklausel" genannt, beibehalten, wonach die Union sich die „erforderlichen Befugnisse" selbst einräumen kann, wenn das „erforderlich erscheint, um eines der Ziele dieser Verfassung zu verwirklichen". Das bedarf außer dem Vorschlag der Kommission der Zustimmung des Europäischen Parlaments und des einstimmigen Beschlusses des Ministerrates. Nach Art. 308 EGV können nur Ziele „im Rahmen des Gemeinsamen Marktes" diese Kompetenz-Kompetenz begründen, die schon bisher derart extensiv genutzt wurde, daß das Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil gemahnt hat, derartige Vertragsauslegungen oder Vertragsfortbildungen dürfen nicht zu Vertragsänderungen entarten". Der Entwurf wiederholt gar die große Generalklausel des Art. 6 Abs. 4 EUV (ursprünglich Art. F Abs. III), wonach „die Union sich mit den Mitteln ausstattet, die zum Erreichen ihrer Ziele und zur Durchführung ihrer Politiken erforderlich sind", der das Bundesverfassungsgericht die rechtliche Verbindlichkeit abgesprochen hat100. Ihre Ermächtigung war derart grenzenlos, daß, um den Vertrag über die Europäische Union zu retten, selbst die Bundesregierung, die Mitgliedstaaten und die Kommission im Maastricht-Prozeß erklärt haben, daß diese Ermächtigung keine Kompetenz-Kompetenz sei101. Jetzt steht die Klausel, etwas modifiziert, im Titel VII des Teils I über die Finanzen der Union (Art. 1-53 Abs. 1 E W ) und ist dadurch gegenständlich zumindest eingeschränkt, betrifft aber doch die Finanzierung der Union, die freilich ohne Zustimmung der Mitgliedstaaten nicht festgelegt werden kann (Art. 1-53 Abs. 3 S. 2 E W ) . Hingewiesen sei auch auf die Rechtsprechungsbefugnisse des Europäischen Gerichtshofs, der durch seine denkbar weite Praxis der Grundfreiheiten, der Grundrechte, des Wettbewerbsrechts, zumal für die als öffentliche Unternehmen eingestuften staatlichen Verwaltungen, und weitere Vertragsbestimmungen fast unbegrenzte Möglichkeiten zur Gestaltung/Umwälzung der Politik in der Union einschließlich der Mitgliedstaaten hat. Von begrenzten Ermächtigungen der Uni-
99
BVerfGE 89, 155 (210); vgl. Κ. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 122 f.; P. Kirchhof, Die rechtliche Struktur der Europäischen Union als Staatenverbund, S. 916 ff.
">o BVerfGE 89, 155 (194, 197 f.); vgl. Κ Α. Schachtschneider; Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 122 f. '»' BVerfGE 89, 155 (194, 197 f.); dazu Κ Α. Schachtschneider, Verfassungsbeschwerde gegen den Vertrag über die Europäischen Union, Dokumentation Winkelmann, S. 398 f., 438 ff.
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on, deren Politik mittels der Gemeinschaftsverträge von den Parlamenten der Mitgliedstaaten verantwortet werden kann, weil sie hinreichend voraussehbar sei102, kann keine Rede sein. Das gilt erst recht für die Ermächtigungen des entworfenen Ver fas sungsver träges. Die substantielle Staatlichkeit der Union soll durch den Verfassungsvertrag verstärkt werden, sowohl institutionell als auch funktionell und materiell. Die institutionelle Umgestaltung wird die durch die völkerrechtliche Souveränität' der Mitgliedstaaten charakterisierten Formen der internationalen Zusammenarbeit weiter zurückdrängen und die supranationalen, ja einzelstaatlichen, nationalen, Formen der Integration ausbauen, nämlich das Amt eines „Präsidenten des Europäischen Rates", der für zweieinhalb Jahre gewählt wird und kein einzelstaatliches Amt innehaben darf (Art. 1-21 E W ) , und das Amt eines „Außenministers der Union", der auch einer der „stellvertretenden Präsidenten der Europäischen Kommission" ist (Art. 1-27 E W ) , einführen, ab 1. November 2009 die „Europäischen I