Der Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und politischer Führung: Ein Beitrag zu Geschichte und Rechtsstellung des Bundesverfassungsgerichts [1 ed.] 9783428480104, 9783428080106


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German Pages 287 Year 1994

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Der Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und politischer Führung: Ein Beitrag zu Geschichte und Rechtsstellung des Bundesverfassungsgerichts [1 ed.]
 9783428480104, 9783428080106

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RICHARD

HÄUSSLER

Der Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und politischer Führung

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 661

Der Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und politischer Führung Ein Beitrag zu Geschichte und Rechtsstellung des Bundesverfassungsgerichts

Von

Richard Häußler

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Haussier, Richard: Der Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und politischer Führung : ein Beitrag zu Geschichte und Rechtsstellung des Bundesverfassungsgerichts / von Richard Haussier. — Berlin : Duncker und Humblot, 1994 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 661) Zugl.: Würzburg, Univ., Diss., 1993 ISBN 3-428-08010-6 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Druck: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-08010-6

Meinen Eltern Irmgard und Karl Häußler

Vorwort Dieses Buch war eine schwere Geburt und wie jede Erstgeburt ein großes Familienereignis. Gedankt sei allen Geburtshelfern, insbesondere Herrn Prof. Dr. Alexander Blankenagel, der das Werk von der Auswahl des Themas bis zur Drucklegung begleitet und mein Schaffen mit stets offenem Ohr betreut hat. Für mündliche und schriftliche Auskünfte zum historischen Teil der Arbeit danke ich Herrn Prof. Dr. Benda, für Informationen zum Grundvertragsprozeß Herrn Prof. Dr. Blumenwitz. Für die finanzielle Beteiligung an den Druckkosten bedanke ich mich bei der Julius-Maximilians-Universität Würzburg und bei der Regierung von Unterfranken. Sie haben die Arbeit mit einem Förderpreis der Unterfränkischen Gedenkjahr Stiftung bedacht. Ein Wort des Dankes geht auch an meine Würzburger Freunde: A x e l Gerlach, Β irte Palke, V i k t o r Kaiser, M o n i k a und A x e l Weihprecht, Marion Bogel, Dietmar Lang sowie Barbara und Ulrich Tröger. Sie alle haben zur Geburt des Buches teils durch geduldiges Zuhören, teils durch wertvolle Anregungen beigetragen. Dietmar Lang hat sich der besonderen Mühe unterzogen, Tipp- und Rechtschreibfehler aus dem Manuskript zu eliminieren. Nicht zuletzt danke ich meinen Eltern, die mich bei der Arbeit an diesem Buch, i m Referendariat und i m Studium nach Kräften unterstützt haben. Ohne sie wäre es nicht zur Vorlage der Dissertation gekommen. Die Arbeit ist daher meiner Mutter und meinem Vater gewidmet. Würzburg, den 28.2.1993 Richard

Häußler

Inhaltsverzeichnis Einleitung

19

1. Teil Kleine Streitgeschichte zwischen Bonn und Karlsruhe A. Die Ära Adenauer (1949 - 1963)

22

I. Der Status-Streit

23

II. Die EVG-Kontroverse

28

III. Die Richterwahlnovelle

39

IV. Der Fernseh-Streit

47

B. Die Zeit der sozial-liberalen Koalition

52

I. Die Ära Brandt (1969 - 1974)

52

1. Die Reformdebatte — ein Exkurs

53

2. Der Prozeß um den Grundlagenvertrag

54

II. Die Ära Schmidt (1974 - 1982)

64

1. Der Streit um die Abtreibungsentscheidung

66

2. Der Höhepunkt der Auseinandersetzungen: Das Jahr 1978

69

2. Teil Allgemeine Grundlagen A. Eingriffsmöglichkeiten

75

I. Grundbegriffe

76

II. Eingriffsarten

77

nsverzeichnis

10 Β. Eingriffsschranken

80

I. Schranken verfassungsändernder Gesetze (Art. 79 GG)

80

1. Immanente Schranken und Art. 79 Abs. 3 GG

81

2. Normadressat und Normzweck

86

3. Systemimmanente Modifizierungen?

87

4. Rechtsstaatsprinzip und Art. 79 Abs. 3 GG

88

5. Inhaltliche Offenheit der unantastbaren Prinzipien

90

6. Umkehrschluß aus Art. 79 Abs. 3 GG?

91

7. Auswahlkriterien für änderungsfeste Konkretisierungen?

91

8. Statisches oder dynamisches Verständnis?

93

II. Schranken einfacher Gesetze (Art. 93, 94 GG)

94

1. Formelle Schranken

95

2. Materielle Schranken

96

III. Schranken faktischer Eingriffe

99

IV. Schranken gehäufter Eingriffe

100

3. Teil Sachbezogene Eingriffsgesetze A. Kassation I. Der Konflikt in Südafrika II. Kassation und deutsches Verfassungsrecht

102 102 104

1. Direkte Kassation

104

2. Indirekte Kassation

109

B. Normenwiederholungen I. Normenwiederholung und Gesetzeskraft II. Normenwiederholung und Rechtskraft

110 112 113

1. Rechtskraft und Verfassung

113

2. Rechtskraft und ΒVerfGG

115

3. Rechtskraftbedingtes Wiederholungsverbot?

117

III. Normenwiederholung und Bindungswirkung

119

1. Verfassungsrechtliche Gehorsamspflicht

119

2. Verfassungsrechtliche Gehorsamspflicht und § 31 Β VerfGG

123

3. Bindungsbedingtes Wiederholungsverbot

128

4. Grenzen des Wiederholungsverbots

128

nsverzeichnis C. Authentische Interpretation

129

I. Präzedenzfälle in Österreich und Deutschland II. Interpretation von Vereinbarkeitserklärungen

131 132

III. Vereinbarkeitserklärungen durch einfaches Gesetz

135

IV. Vereinbarkeitserklärungen durch Verfassungsänderung

135

1. Spezifizierte Vereinbarkeitserklärungen

135

2. Pauschale Vereinbarkeitserklärungen

138

3. Pauschale „Klarstellungen" und völkerrechtliche Verträge

139

4. Teil Institutionelle Eingriffsgesetze A. Abschaffung des Bundesverfassungsgerichts

144

I. Abschaffung durch einfaches Gesetz

145

II. Grundfragen einer Verfassungsrevision

146

III. Ersatzlose Streichung des BVerfG?

148

1. Demokratieprinzip und BVerfG

149

2. BVerfG und Bundesstaatsprinzip

151

3. Gewaltenteilung und BVerfG

153

a) Die Kontrollen im Überblick

154

b) Bedeutung der richterlichen Kontrolle

156

c) Notwendigkeit der zentralen Normenkontrolle?

157

4. BVerfG und Vorrang der Verfassung

158

5. BVerfG und Rechtsstaatsprinzip

160

IV. Ersetzung

164

1. Ersetzung durch ein Oberstes Bundesgericht

165

2. Ersetzung durch eine dritte Kammer

165

B. Streichung einzelner Verfahrensarten I. Streichung der Individualverfassungsbeschwerde

169 169

1. Streichung durch einfaches Gesetz

171

2. Streichung durch Verfassungsänderung

172

II. Streichung der abstrakten Normenkontrolle

174

1. Streichung durch einfaches Gesetz

176

2. Streichung durch Verfassungsänderung

177

12

nsverzeichnis

C. Richterwahl mit Beiräten oder einfachen Mehrheiten I. Die Wahl mit einfacher Mehrheit

178 179

1. Die rechtspolitische Diskussion

179

2. Die verfassungsrechtliche Diskussion

180

II. Die Wahl mit Beiräten

188

1. Die rechtspolitische Argumentation

189

2. Die verfassungsrechtliche Argumentation

190

D. Richterschubgesetze

193

I. Roosevelts Streit mit dem Supreme Court II. Richterschübe nach deutschem Recht 1. Organisationsreformen — ein Exkurs

193 195 196

2. Machtbedingte Richterschübe

197

3. Prozeßbedingte Richterschübe

198

E. Bindung an Feststellungen des Gesetzgebers

199

I. Die rechtspolitische Diskussion

199

II. Die verfassungsrechtliche Diskussion F. Erhöhung der Abstimmungsmehrheiten I. Die Zweidrittelmehrheit

203 209 209

1. Die rechtspolitische Argumentation

210

2. Die verfassungsrechtliche Argumentation

212

II. Das einstimmige Votum

216

5. Teil Faktische Eingriffe A. Urteils-, Gerichts- und Richterschelte

219

I. Kritik von Privatleuten

220

II. Kritik von Amtsinhabern

222

1. Befassungskompetenz

223

2. Kompetenzausübung

224

III. Private Äußerungen von Amtsinhabern

231

IV. Folgen rechtswidriger Urteilsschelte

233

nsverzeichnis Β. Unterlassen der Richterwahl und „Austrocknen" des Gerichts I. Wahlpflicht

234 236

II. Ordnungsgemäße Besetzung

238

1. Wahlverzögerung

239

2. Wahlverschleppung

241

3. Wahlboykott

244

III. Wahlerzwingung

246

C. „Überspielen" durch Schaffung vollendeter Tatsachen

247

I. Historische Streitfälle in Weimar und Bonn

247

II. Das verfassungsrechtliche Überspielungsverbot

249

1. Verhältnis zum Streitgegner

251

2. Verhältnis zum BVerfG

253

III. Folgen von Verbotsmißachtungen

255

6. Teil Abwehr von Eingriffen A. Offizielle Erklärungen

257

B. Gerichtsentscheidungen

258

I. Ordentliche Entscheidungsbefugnisse II. Außerordentliche Entscheidungsbefugnisse?

259 262

Schlußbemerkung

268

Literaturverzeichnis

272

Abkürzungsverzeichnis* AltK ARD ARSP BAÖRVR BayVerfGH BayVGH Β DIP Β HE BoK BT-Drs. I BT-Prot. X CDU/CSU CDU-Dok. Diss. Dok. DP DSt DtZ EVG EvStL FAZ FDP FR FSCH GB GeschO GvB HA-Prot. HbDStR HbStR HbVerfR

Alternativkommentar zum Grundgesetz (siehe Verlag Luchterhand) Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht (Publikationsreihe) Bayerischer Verfassungsgerichtshof Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Blätter für deutsche und internationale Politik Bund der Heimatlosen und Entrechteten (aufgelöste Partei) Bonner Kommentar zum Grundgesetz (siehe Verlag C. F. Müller) Bundestag-Drucksachen, 1. Wahlperide Bundestag-Protokolle, 10. Wahlperiode Christlich Demokratische Union / Christlich Soziale Union Dokumentation der CDU von 1978 (siehe CDU-Bundesgeschäftsstelle) Dissertation Dokumentation Deutsche Partei (aufgelöst) Der Staat (Zeitschrift) Deutsch-deutsche Rechts-Zeitschrift Europäische Verteidigungsgemeinschaft Evangelisches Staatslexikon (siehe Herzog, Roman) Frankfurter Allgemeine Zeitung Freie Demokratische Partei Frankfurter Rundschau Festschrift Gesamtdeutscher Block (aufgelöste Partei) Geschäftsordnung Der Grundlagenvertrag vor dem BVerfG, Dok. des Presse- und Informationsdienstes der Bundesregierung Protokolle des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates Handbuch des Deutschen Staatsrechts (siehe Anschütz, Gerhard) Handbuch des Staatsrechts (siehe Isensee, Josef) Handbuch zum Verfassungsrecht (siehe Benda, Ernst)

* Für alle gängigen juristischen Abkürzungen wird auf das von Hildebert Kirchner und Fritz Kastner herausgegebene Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache (3. Aufl. Berlin/New York 1983) verwiesen.

16 HHA-Prot. HHW

Abkürzungsverzeichnis

= Haushaltsausschuß-Protokolle = Hessische Hochschulwochen für staatswissenschaftliche Fortbildung (Publikationsreihe) JMin = Justizminister Komm. = Kommentar KPD = Kommunistische Partei Deutschlands (verboten) KSZE = Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa KudW = Der Kampf um den Wehrbeitrag (Dok., siehe Heydte, Karl August Freiherr von der) LitV = Literaturverzeichnis LK = Leipziger Kommentar zum StGB (siehe Jescheck, Hans-Heinrich) LT = Landtag MDHS = Maunz / Dürig / Herzog / Scholz: GG-Kommentar (siehe Maunz, Theodor) MSBKU = Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer: BVerfGG-Kommentar (siehe Maunz, Theodor) NATO = North Atlantic Treaty Organisation (Nordatlantikpakt) NSDAP = Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei ÖVerfGH = Österreichischer Verfassungsgerichtshof PdW = Prüfe Dein Wissen (Publikationsreihe; siehe Herzog, Roman) RA = Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages RI = Richterbundinformationen (Beilage zur DRiZ) RuS = Recht und Staat (Publikationsreihe) RV = Reichsverfasssung SaarlVerfGH = Saarländischer Verfassungsgerichtshof SED = Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (DDR) SÖR = Schriften zum Öffentlichen Recht (Publikationsreihe) SPD = Sozialdemokratische Partei Deutschlands SRP = Sozialistische Reichspartei (verboten) StGH = Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich StL = Staatslexikon (siehe Görres-Gesellschaft) StR = Staatsrecht Stzg = Sitzung SudG = Der Streit um den Grundvertrag, Dok. (siehe Cieslar, Eve) SZ = Süddeutsche Zeitung UNO = United Nations Organisation (Vereinte Nationen) USA = United States of America (Vereinigte Staaten von Amerika) Verf = Verfassung Verfgbkt = Verfassungsgerichtsbarkeit VerfGH = Verfassungsgerichtshof VerfPR = Verfassungsprozeßrecht VerfR = Verfassungsrecht VerwPR = Verwaltungsprozeßrecht vMK = von Mangoldt / Klein: GG-Kommentar (siehe Mangoldt, Hermann von) vMü = von Münch: GG-Kommentar (siehe Münch, Ingo von)

Abkürzungsverzeichnis VVDStRL

= Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer

WV

= Weimarer Verfassung

ZAÖRVR

= Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

ZBR

= Zeitschrift für Beamtenrecht

ZDF

= Zweites Deutsches Fernsehen

ZG

= Zeitschrift für Gesetzgebung

ZParl

= Zeitschrift für Parlamentsfragen

ZSCH

= Zeitschrift

2 Häußler

Einleitung Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit einer Konfliktsituation, dem Streit zwischen politischer Führung in Bonn und dem B V e r f G in Karlsruhe. Bei diesem Konflikt stehen i m Normalfall die Regierung und die sie tragende parlamentarische Mehrheit auf der einen Seite. Sie sollen hier vereinfachend als politische Führung bezeichnet werden. A u f der anderen Seite stehen der Präsident und die übrigen Richter des B V e r f G . 1 Streitigkeiten können auf verschiedene Weise entstehen. Ein Konflikt kann sich etwa daran entzünden, daß das BVerfG in rascher Folge mehrfach gegen die Bonner Mehrheit entscheidet oder daß es ein für die Regierungspartei politisch besonders wichtiges Gesetz aufhebt. Die politische Führung kann dabei — zu Recht oder zu Unrecht — den Eindruck gewinnen, daß das B V e r f G ihren Entscheidungsspielraum zu sehr beschränkt. 2 Die parlamentarische Mehrheit w i r d dann versucht sein, ihrer Verärgerung über die Richter in Karlsruhe Luft zu machen und Maßnahmen gegen das BVerfG zu beschließen. Die häufigste und naheliegendste Reaktion auf unerwünschte Urteile ist eine abwertende Äußerung über das Gericht. M a n spricht dann von einer Urteilsoder Gerichtsschelte. Die Regierungspartei kann aber auch erwägen, eine mißliebige Entscheidung per Gesetz aufzuheben (Kassation). Schließlich kann sie versuchen, in personeller Hinsicht mehr Einfluß auf das Gericht zu gewinnen, indem sie die Zahl der Richter vergrößert und ihr genehme Richter nachwählt (Richterschub). I m äußersten Fall kann die Regierungsmehrheit ein Gesetz einbringen, das die Abschaffung des B V e r f G vorsieht. Solche Konflikte zwischen Politik und Verfassungsjustiz sind keineswegs rein theoretischer Natur. In anderen Staaten ist es wiederholt zu schweren Zusammenstößen gekommen. Beispielsweise hat in den 50er Jahren das südafrikanische Parlament versucht, ein Urteil des obersten Gerichts aufzuheben und die zu Entscheidung berufene Kammer zu entmachten. 3 Z w e i Jahrzehnte zuvor hat i n den Vereinigten Staaten von Amerika Präsident Roosevelt ein Richterschubgesetz 1

In seltenen Fällen kommt es vor, daß die parlamentarische Mehrheit ihrer Regierung nicht folgt (z. B. im Status-Streit; unten 1. Teil A I) oder daß ein Richter des BVerfG dem Plenum offen widerspricht (z. B. Willi Geiger beim Plenumsbeschluß vom 8.12.52 im Rahmen der EVG-Kontroverse; unten 1. Teil A II). 2 Die Frage, ob das BVerfG tatsächlich den Entscheidungsspielraum des Parlaments und der Regierung zu sehr eingeschränkt hat, wird nicht näher behandelt. Auf entsprechende Literatur wird unten 1. Teil Β I I Nr. 1 hingewiesen (vgl. auch Wewer, BVerfG, S. 310-335). 3 Zu Südafrika siehe 4. Teil A I. 2*

Einleitung

20

vorgeschlagen, durch das er den Supreme Court mit seinen Gefolgsleuten „ v o l l packen" wollte („court-packing-bill")· 4 Nicht zuletzt ist daran zu erinnern, daß 1933 in Österreich und 1964 in Zypern das Verfassungsgericht ganz abgeschafft wurde. 5 A u c h in Deutschland gab es eine Reihe von Konflikten zwischen obersten Gerichten und politischer Führung. 6 Diese Auseinandersetzungen erreichten aber nicht annähernd die Schärfe der ausländischen Konflikte. I n der Geschichte der Bundesrepublik blieb es in aller Regel bei reinen Gerichtsschelten, wobei sich manche Politiker allerdings ganz erheblich im Ton vergriffen. Nur einmal versuchte die Regierung Adenauer, durch eine Änderung des Richterwahlrechts die Besetzung des Gerichts in ihre Hände zu bekommen. 7 Das Ziel der vorliegenden Arbeit besteht zum einen darin, einen Einblick in die Entstehungsbedingungen solcher Konflikte zu geben. Z u m anderen soll geklärt werden, welche Maßnahmen in rechtlicher Hinsicht bei einem K o n f l i k t erlaubt und verboten sind. Aus diesem Grund werden in dem einführenden geschichtlichen Teil die Konflikte zwischen Bonn und Karlsruhe ausführlich dargestellt. Es werden nicht nur die Höhepunkte der Auseinandersetzungen aufgezeigt, sondern auch die historisch-politischen Zusammenhänge geschildert. Damit soll zugleich ein Beitrag zu der noch ungeschriebenen Geschichte des BVerfG geleistet werden. In dem juristischen Hauptteil der Arbeit werden dann die Maßnahmen, die die politische Führung in einem Konflikt ergreifen kann, systematisiert und rechtlich geprüft. Dabei werden alle Maßnahmen, die zu einer Beeinträchtigung von Ansehen, Unabhängigkeit oder Einfluß des Gerichts führen, als Eingriffe bezeichnet. Die rechtlichen Schranken dieser Eingriffe werden zuerst allgemein und dann i m Einzelfall herausgearbeitet. Dabei wird unterschieden zwischen Eingriffsgesetzen und faktischen Eingriffen. I m einen Fall leitet die Regierungspartei ein formelles Gesetz in die Wege, durch das beispielsweise der Richterwahlmodus in ihrem Sinne verändert wird. I m anderen Fall handelt sie informell, indem sie sich etwa abwertend über das Gericht äußert oder indem sie vollendete Tatsachen schafft und damit das Gericht „überspielt". 8 4 Zu den USA siehe 4. Teil D I. 5 Zu Österreich und Zypern vgl. 4. Teil A I. 6 Hier werden die Konflikte des 19. Jahrhunderts zwischen obersten Landesgerichten und Landesherren nicht weiter verfolgt (zum kurhessischen Fall von 1850: Huber, Verfassungsgeschichte III, S. 908-929; zu einem ähnlichen Fall: Frotscher, Auseinandersetzungen, S. 383-402). Diese Konflikte sind für die Verfgbkt in demokratischen Staaten wenig ergiebig. Hingegen wird auf den Eisenbahnstreit der Weimarer Republik eingegangen, der zum Rücktritt des Präs. des StGH, Walter Simons, führte (unten 5. Teil C I). 7 Dazu unten 1. Teil A I I I und 4. Teil D I.

Einleitung

21

In dem juristischen Hauptteil nehmen die Eingriffsgesetze den breitesten Raum ein. Sie können sich etwa gegen die Rechtsprechung des Gerichts richten. Dazu zählt neben der Kassation von Entscheidungen beispielsweise auch der Neuerlaß aufgehobener Gesetze (Normenwiederholung). Soweit es um die Korrektur von Sachentscheidungen geht, handelt es sich um sachbezogene Eingriffsgesetze. Den Regierungsparteien kann es aber auch um eine Korrektur der rechtlichen Grundlagen des Gerichts gehen. Dann richtet sich der Eingriff gegen das BVerfG als Institution, so daß von institutionellen Eingriffsgesetzen gesprochen wird. Hier reicht die Palette von der Abschaffung der Verfassungsbeschwerde 9 über Richterschubgesetze bis zur Bindung an Feststellungen des Gesetzgebers. 10 Es hat sich i m Rahmen dieser Arbeit rasch erwiesen, daß es für die politische Führung eine unübersehbare Fülle von Eingriffsmöglichkeiten gibt. Angesichts der Vielzahl theoretisch denkbarer Eingriffe beschränkt sich die vorliegende Arbeit auf Fälle, die praktisch vorgekommen sind, und auf Vorschläge, die in politischen Debatten oder wissenschaftlichen Publikationen ernsthaft vertreten wurden. Soweit es sich um gesetzliche Maßnahmen handelt, wird stets die Verfassungsmäßigkeit eines einfachen Gesetzes geprüft. Da die Regierungsparteien nur selten über die für eine Verfassungsänderung erforderliche Zweidrittelmehrheit verfügen (Art. 79 Abs. 2 GG), wird die Rechtmäßigkeit von verfassungsändernden Gesetzen nur ausnahmsweise erörtert. Die Rechtmäßigkeit einer Verfassungsrevision wird insbesondere bei der Frage der Abschaffung des BVerfG geprüft. 1 1 Denn es ist von besonderem theoretischem Interesse, ob das BVerfG an der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 G G teilnimmt und damit selbst unantastbar ist. M i t dieser Frage w i r d gleichsam das Grundverständnis des B V e r f G berührt. Zugleich w i r d daran deutlich, daß die rechtliche Prüfung der Eingriffe auch einen Beitrag zur Klärung der Rechtsstellung des BVerfG leistet. Abgeschlossen w i r d der rechtliche Hauptteil schließlich durch eine Erörterung der Abwehrmöglichkeiten, die dem B V e r f G bei einem Konflikt mit der politischen Führung zur Verfügung stehen. In der Schlußbemerkung wird dann kurz erörtert, wie stark oder schwach die Position des B V e r f G in einem Konflikt ist.

8 Die Frage stellte sich z. B. im Rahmen des Grundlagenvertragsprozesses (1. Teil Β I Nr. 2). In rechtlicher Hinsicht wird sie unten, 5. Teil C, erörtert. 9 Dazu 4. Teil Β I. 10 Dieser Gedanke geht auf den Abg. Dichgans (CDU) zurück (näher unten 1. Teil Β I Nr. 1 und 4. Teil E). n Außerdem bei der Frage der Streichung von Verfahrensaiten (4. Teil B) und bei dem Problem der Authentischen Interpretation (1. Teil C).

Erster Teil

Kleine Streitgeschichte zwischen Bonn und Karlsruhe Das Verhältnis von Bonn und Karlsruhe war in den letzten vier Jahrzehnten überwiegend durch respektvolle Distanz geprägt. Das gute K l i m a gegenseitiger Achtung war so dominant, daß die harten Worte, die besonders in den Anfangsjahren des Gerichts gefallen sind, rasch in Vergessenheit gerieten. Die i m folgenden dargestellten Konflikte sind an sich nicht typisch für die Stimmung zwischen Bonn und Karlsruhe. Sie zeigen aber, daß ein latentes Spannungsverhältnis zwischen Verfassungsjustiz und politischer Führung besteht und damit ein nicht nur theoretisches Konfliktpotential.

A. Die Ä r a Adenauer (1949-1963) Die zweifellos heftigsten Auseinandersetzungen hatte das BVerfG gleich zu Beginn seines Bestehens auszutragen. Eine breite Öffentlichkeit wurde auf diese Anfangskonflikte während der EVG-Kontroverse i m Dezember 1952 aufmerksam. Dagegen wurden der „Status-Streit" (1952/53) und der Konflikt um die Verfassungsgerichtsnovelle (1955/56) nur von Wenigen wahrgenommen. Z u einer neuerlichen Auseinandersetzung kam es 1961 nach dem Rechtsstreit um die Deutschland-Fernsehen-GmbH. Die tiefere Ursache der Konflikte muß darin gesehen werden, daß in rechtlicher wie politischer Hinsicht zunächst erhebliche Unsicherheiten über die Stellung des BVerfG i m Staatsgefüge bestanden. 1 Juristisch war das BVerfG gleichsam auf dem Reißbrett entstanden. So ist es verständlich, daß sich bald einige Regelungsfehler zeigten. Politisch war unklar, wie das Gericht von seinen Befugnissen Gebrauch machen würde und welchen Anteil an staatsleitenden Entscheidungen es zu treffen hätte. Zudem gab es nicht nur unter Staatsrechtlern, sondern auch bei führenden Politikern wie Heuss und Adenauer Vorbehalte gegenüber der Letztentscheidung politischer Fragen durch ein Gericht. 2

ι Ähnlich Schwarz, Geschichte II, S. 171. Die Skepsis konservativer Staatsrechtslehrer beruhte auf der Einschätzung C. Schmitts, daß bei einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit die Politik nichts gewinnen, die Justiz aber alles verlieren könne (Nachweise bei Laufer, Politischer Prozeß, S. 22/ 23, Wittig, Rücksichten, S. 137/138 und Dolzer, Stellung, S. 39-43). Von der Gefahr 2

Α. Die Ära Adenauer

23

I. Der Status-Streit Symptomatisch für diese Ungewißheiten war der Streit um den Status des BVerfG. Dieser Streit wurde von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet gleichsam i m Schatten der großen Politik ausgetragen. Dabei ging es um eine ganze Reihe organisatorischer und protokollarischer Fragen: Hat das BVerfG einen eigenen Titel i m Haushaltsplan des Bundes? Kann sich das BVerfG selbst verwalten und dazu eine Geschäftsordnung erlassen? Wer stellt die Beamten, Angestellten und Arbeiter des B V e r f G ein? Muß das BVerfG über den Dienstweg mit Bundesrat und Bundestag konferieren? Welche Rechte und Pflichten haben die einzelnen Mitglieder des BVerfG? Diese und einige andere Punkte waren nicht explizit geregelt. Hinter den Detailproblemen stand aber i m wesentlichen nur eine Rechtsfrage: Ist das B V e r f G so zu behandeln wie die übrigen Bundesgerichte oder genießt es eine Sonderstellung? Die Staatspraxis machte zunächst keine Unterschiede zwischen B V e r f G und Bundesgerichtshof. In den Jahren 1951 und 1952 waren beide Gerichte organisatorisch dem Ressort des Justizministers eingegliedert und erschienen in dessen Haushaltsplan. Demzufolge hatte das Justizministerium die Dienstaufsicht für alle Fragen der Gerichtsverwaltung und stellte die höheren Beamten des BVerfG ein. Der Präsident des B V e r f G mußte auf dem Dienstweg an die Bundesregierung herantreten und konnte nur über sie mit Bundesrat und Bundestag konferieren. Dies schloß Selbstverwaltung und Geschäftsordnungsautonomie weitgehend aus. 3 Gegen die Einbindung in die Justizverwaltung des Bundes regte sich in Karlsruhe bald Widerstand. Denn die notwendigen Verwaltungsentscheidungen wurden in Bonn äußerst schleppend getroffen. Bei der Eröffnung des BVerfG i m Herbst 1951 war nämlich längst nicht für alle räumlichen und sachlichen Arbeitsbedingungen gesorgt. Der Umbau des Gerichtsgebäudes war noch nicht abgeschlossen. Das Prinz-Max-Palais hatte noch keinen größeren Sitzungssaal. Oftmals mußten sich zwei Verfassungsrichter einen Arbeitsraum teilen, und wissenschaftliche Hilfskräfte fehlten völlig. Als schließlich i m Januar 1952 die ersten Hilfskräfte bewilligt wurden, dauerte es noch fast ein halbes Jahr bis das Justizministerium die Einstellungen vornahm. 4 Die neuen Mitarbeiter wurden schließlich aus Platzder Juridifizierung der Politik und der Politisierung der Justiz ging noch Löwenstein, Verfassungslehre (1959), S. 261-265 aus. Zur Haltung von Adenauer und Heuss: Baring, Kanzlerdemokratie, S. 224; Sternberger, Erprobung der Staatsorgane, S. 363. 3 Ein internes Gutachten des Justizministeriums von Oberlandesgerichtsrat Dr. Winners gibt die Rechtslage wieder (Abdruck bei Schiffers, Verfgbkt, S. 467-471). Am 29.4.52 hat die BReg einen entsprechenden Grundsatzbeschluß gefaßt (Booms, Kabinettsprotokolle 1952, S. 245). Zum ganzen: Laufer, Politischer Prozeß, S. 256-261. 4 Zunächst fand am 7.1.52 eine Besprechung der Probleme mit Staatssekretär W. Strauß statt (Schiffers, Verfgbkt, S. 466/467). Als keine wesentliche Verbesserung eintrat, richtete die SPD eine Große Anfrage an die BReg (BT-Drs. I Nr. 3371). Es kam

24

1. Teil: Streitgeschichte

mangel alle zusammen in einem großen Raum untergebracht, der eigentlich als Gerichtsbibliothek dienen sollte. 5 Aus Bonner Sicht waren die organisatorischen Mängel verständlich. Das M i n i sterium war durch die nötige Reform der Justizgesetze und den Aufbau der anderen Bundesgerichte schlicht überlastet. I n Karlsruhe fühlte man sich allerdings vernachlässigt und war über einige Verwaltungsentscheidungen besonders verärgert. So wurde den Richtern, die wegen der Wohnungsnot in Karlsruhe noch keine dauernde Bleibe gefunden hatten, nur einmal i m Vierteljahr die Heimreise zu ihren Familien ersetzt. Erstattet wurde aber nur eine Bahnfahrkarte der dritten Wagenklasse. 6 Den Verfassungsrichtern wurden durch solche Entscheidungen die Vorteile eigener Verwaltungsbefugnisse klar vor Augen geführt. 7 Bereits wenige Monate nach seinem Bestehen setzte das BVerfG eine Kommission zur Klärung der Statusfrage ein. 8 I m März 1952 legte ihr Berichterstatter Gerhard Leibholz dem Plenum des BVerfG ein Gutachten vor. Der Grundgedanke des Gutachtens war, daß das BVerfG kein gewöhnliches Bundesgericht sei, sondern zugleich ein Verfassungsorgan, das mit Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung auf einer Stufe stehe. Diese Gleichrangigkeit schließe eine organisatorische Abhängigkeit vom Justizministerium aus und bedinge ein gewisses Maß an Selbstverwaltung. Dem BVerfG stehe daher ein eigener Titel i m Haushaltsplan des Bundes zu. Es besitze die Befugnis, seinen Etat selbst aufzustellen, zu verwalten und unmittelbar gegenüber dem Finanzministerium zu vertreten. Das BVerfG müsse wie Bundestag und Bundesrat das Recht haben, seine Beamten selbst einzustellen und alle internen Angelegenheiten durch eine Geschäftsordnung zu regeln. Schließlich stünden auch die Mitglieder des BVerfG in einem besonderen Amtsverhältnis und seien keine gewöhnlichen Bundesrichter. 9 Das Gutachten von Richter Leibholz war i m Gericht selbst nicht unumstritten. Seine Auffassung setzte sich aber i m Plenum mit 20 : 2 Stimmen durch und fand in der Denkschrift des B V e r f G vom 27.6.1952 ihren Niederschlag. Die Denkschrift wurde bald als „Status-Bericht" des BVerfG bekannt und konsequenteram 11.6.52 zu einer Debatte über die Arbeitsfähigkeit des BVerfG, in der alle Mängel zur Sprache kamen (BT-Prot. I S. 3600-3607). 5 Illustrativ sind die Darstellungen von Pfeiffer, Karlsruhe, S. 10-19, und Geiger, Vierzig Jahre, S. 357/358. 6 Höpker-Aschoff, in: Leibholz, Materialien, S. 153. Umstritten war auch die Frage, ob die Verfassungsrichter als Mitglieder einer obersten Bundesbehörde eine Gehaltszulage bekamen (Booms, Kabinettsprotokolle 1953, S. 528). 7 Auch Konrad Adenauer glaubte, daß das BVerfG schlecht ausgestattet sei und deshalb „vom Bundesjustizministerium weg" wolle (Gotto, Tagebuch Lenz, S. 377). 8 Anscheinend bestand die Kommission nur auf dem Papier und trat nie zusammen (Laufer, Politischer Prozeß, S. 281 Fn. 8). 9 Die Stellungnahmen zum Status-Streit sind dokumentiert bei Leibholz, Materialien, S. 109-221. Ergänzend sind bei Schiffers, Verfgbkt, S. 467-486 Dokumente aus dem Justizministerium abgedruckt.

Α. Die Ära Adenauer

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weise bereits unter Umgehung des Dienstweges an die obersten Bundesorgane verschickt. Das BVerfG verlieh der Satus-Denkschrift dadurch Nachdruck, daß Vizepräsident Katz und Verfassungsrichter Fröhlich sie persönlich Bundeskanzler Adenauer überbrachten. 10 Es ist unklar, ob die Rechtsauffassung des Gerichts beim Justizminister sofort auf taube Ohren stieß. Jedenfalls holte Dehler i m Herbst 1952 die Stellungnahmen der beiden Richter ein, die gegen das Gutachten votiert hatten. Das waren nicht zufällig zwei enge Freunde: der ehemalige Ministerialrat i m Justizministerium und Referent für das BVerfGG W i l l i Geiger und der Präsident des BVerfG, Dehlers Parteifreund Hermann Höpker-Aschoff. 1 1 Den einen kannte er aus gemeinsamen Bamberger Zeiten, mit dem anderen hatte er im Parlamentarischen Rat zusammengearbeitet und in Bonn sogar i m selben Haus gewohnt. Beide konnten für ihre abweichende Ansicht gewichtige juristische Argumente anführen, weil die Rechtstradition eine verwaltungsrechtliche Selbständigkeit von Gerichten nicht kannte. 1 2 Wahrscheinlich gaben aber nicht allein die juristischen Argumente den Ausschlag für den Entschluß Dehlers, auf der Zuständigkeit des Justizministeriums zu beharren. In politischer Hinsicht war es zum einen bedeutsam, daß auch die übrigen Gerichte mehr Selbstverwaltung forderten. A u f dem 40. Deutschen Juristentag von 1953 wurde die „Entfesselung der Dritten Gewalt" eingehend erörtert. 1 3 Dem Ministerium drohte somit ein größerer Zuständigkeitsverlust. Z u m anderen kam es beim Rechtsstreit über die EVG-Verträge i m Winter 1952/53 zu einer harten Auseinandersetzung zwischen Justizminister Dehler und dem BVerfG. Das bewirkte sicher auch in der Status-Frage eine Verhärtung der Fronten. 1 4 Dehler betraute jedenfalls i m März 1953 den Bonner Staatsrechtler Richard Thoma mit der Erstattung eines Gegengutachtens. Thoma vertrat — wie vor ihm Geiger und Höpker-Aschoff — die Ansicht, daß man aus dem i m Grundgesetz 10 Die Übergabe erfolgte am 1.7.52 (Booms, Kabinettsprotokolle 1952, S. 427 mit Fn. 69). Die Denkschrift ist bei Leibholz, Materialien, S. 144-149 abgedruckt. Die Mehrheitsverhältnisse teilte Vizepräsident Katz der Regierung mit (in: Leibholz, Materialien, S. 156). 11 Siehe Geiger, Begegnungen mit Thomas Dehler, S. 94-103, Maasen / Hucko, Thomas Dehler als Justizminister, S. 74 und Der Spiegel 1953, H. 7, S. 8 ff. (Portrait von Höpker-Aschoff). 12 Geiger und Höpker-Aschoff, in: Leibholz, Materialien, S. 137-144, 149-156. Willi Geiger hat seinen Standpunkt später revidiert (Erfahrungen, S. 28/29). Im Schrifttum wurde die Schlüssigkeit der Status-Denkschrift immer wieder in Frage gestellt (z.B. Forsthoff, Umbildung, S. 170; Dolzer, Stellung, S. 44-47). Eine gründliche Auseinandersetzung mit allen Einzelfragen ist bei Sattler, Rechtsstellung, S. 129-230 zu finden. Er schließt sich weitgehend dem Gutachten von Leibholz an. η Werner, Juristentag, S. 625-627; Husen, Die Entfesselung der Dritten Gewalt, S. 49-62. 14 Ebenso Baring, Kanzlerdemokratie, S. 250/251. Darauf läßt auch der Bericht der FAZ vom 12.10.52 S. 3 schließen.

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nicht verwendeten Begriff des Verfassungsorgans keine derart weitgehenden Rechte des Gerichts ableiten könne. Rechtspolitisch hielt Thoma die Forderung nach mehr Selbständigkeit für teilweise berechtigt. V o m geltendem Verfassungsrecht sei sie aber nicht gedeckt. 1 5 Das Gutachten verfehlte seine Wirkung auf das Bundeskabinett nicht. Die Bundesregierung billigte am 29. M a i 1953 grundsätzlich folgenden von Justizminister Dehler vorgeschlagenen Beschluß: „1. Das Bundesverfassungsgericht untersteht de lege lata in verwaltungs- und haushaltsmäßiger Hinsicht dem Bundesminister der Justiz. 2. Gegen eine anderweitige gesetzliche Regelung im Sinne der Vorschläge des Bundesverfassungsgerichts bestehen verfassungsrechtliche Bedenken, da jede Verwaltungstätigkeit im Staate bei einem parlamentarisch verantwortlichen Minister enden muß. 3. Zulässig ist eine Sonderbehandlung des Haushalts des Bundesverfassungsgerichts dahin gehend, daß die Anmeldungen des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts in jedem Falle der Bundesregierung ausdrücklich mitgeteilt und dem Bundestag mit vorgelegt werden, wenn sie im Haushaltsplan nicht berücksichtigt sind." 1 6 Vorerst sollte allerdings eine erneute Stellungnahme des BVerfG abgewartet werden. Das B V e r f G blieb die Antwort auf das Gutachten von Prof. Thoma nicht schuldig und beharrte in einem zweiten Plenumsbeschluß auf seinem Sonderstatus. 1 7 Letztlich bestimmten aber Bundestag und Bundesrat, welche Status-Ansicht die Staatspraxis prägen würde. Die gesetzgebenden Körperschaften hatten zu entscheiden, ob das BVerfG einen eigenen Haushaltstitel bekommen würde, die Dienstaufsicht über die eigenen Beamten erhalten sollte und seine Verwaltung selbst organisieren durfte. Interessanterweise standen hier die Karten für die Regierung von Anfang an schlecht. Der Rechtsexperte der SPD, A d o l f Arndt, hatte schon 1951 einen eigenen Haushaltstitel für das B V e r f G gefordert. 1 8 Noch vor Veröffentlichung des „Status-Berichtes" stimmten anläßlich einer Aussprache über die Arbeitsfähigkeit des B V e r f G auch Sprecher der Regierungsfraktionen dieser Forderung der SPD zu. Einhellig plädierten die Abg. Greve (SPD), Laforet (CSU) und Schneider (FDP) für einen eigenen Haushalt des B V e r f G . 1 9

15 Thoma sprach von „offensichtlich unzulässiger Begriffsjurisprudenz" (Abdruck in Leibholz, Materialien, S. 161-194 (166); Auszug in Häberle, Verfgbkt, S. 254-272). 16 Booms, Kabinettsprotokolle 1953, S. 317/318 mit Fn. 18. 17 Titel: „Bemerkungen des BVerfG zu dem Rechtsgutachten von Professor Richard Thoma" (Leibholz, Materialien, S. 194-207). is BT-Prot. I S. 6753. Zur Person siehe Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, S. 688-690 sowie die hervorragende Biographie von Dieter Gosewinkel, Adolf Arndt, Bonn 1991. 19 Stzg vom 11.6.52; BT-Prot. I S. 9601 und 9606/9607.

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Als dann am 27.6.52 die Status-Denkschrift verschickt und kurz darauf in der Fachpresse veröffentlicht wurde, 2 0 sprach sich auch der Bundesrat bei erster Gelegenheit, am 24.10.52, für eine eigenen Haushaltstitel des B V e r f G aus. Bereits für den Nachtragshaushalt 1952 sollte das BVerfG v o m Ressort des Justizministeriums gelöst werden. 2 1 Wenngleich die rasche Umsetzung des Status-Berichtes auch i m Bundestag einige Befürworter fand, so sprachen doch praktische Gründe gegen eine Strukturänderung des Haushaltsplanes i m Rahmen eines Nachtragsetats. Daher wurde die Status-Frage vorerst verschoben. 22 Eine endgültige Entscheidung wurde allerdings unausweichlich, als i m Frühsommer 1953 zwei statusrelevante Vorlagen zur Beratung anstanden: der Haushaltsentwurf für das Jahr 1953 und der Entwurf für ein neues Bundesbeamtengesetz. Für das Haushaltsgesetz 1953 schlug der Bundesrat erneut einen Sonderplan BVerfG v o r , 2 3 und für § 173 B B G regte die SPD eine Änderung an. Das BVerfG sollte fortan, ebenso wie Bundesrat und Bundestag, selbst die Dienstherrentätigkeit über seine Beamten ausüben. 24 Es muß überraschen, daß die parlamentarische Entscheidung ohne aufsehenerregende Debatte getroffen wurde. Das lag daran, daß die Bundesregierung letztlich einer Auseinandersetzung mit dem Parlament aus dem Wege ging. Es zeichnete sich nämlich i m M a i und Juni 1953 eine parteiübergreifende Mehrheit für die Sonderstellung des B V e r f G ab. Eine Vorreiterrolle übernahm dabei der Ausschuß für Beamtenrecht. 2 5 Bei der zweiten Lesung des Bundesbeamtengesetzes erhob der Abgeordnete Wagner (SPD) die Forderung, daß der Präsident des BVerfG die volle Dienstaufsicht über seine Beamten erhalten sollte. Dem schloß sich der Vorsitzende des Ausschusses Kleindienst (CSU) an. Er erklärte zwar fürs Protokoll, daß diese Entscheidung unter dem Vorbehalt späterer Änderung stehe. Der von der SPD vorgeschlagene § 173 B B G wurde aber erst einmal beschlossen. 26 20 Die Dritte Gewalt vom 1.8.52 (2.Jahrgang H. 23) S. 5-11; Nennstiel, Echo der Denkschrift, S. 10 berichtet von überwiegend positiven Leserzuschriften. 21 Beschluß vom 24.10.52; BR-Prot. 1952, 94. Stzg, S. 31 (vgl. auch BT-Drs. I Nr. 3800, Anlage 2, S. 32). 22 Schoettle (SPD) und Laforet (CSU) waren am 25.3.53 für die sofortige Umsetzung (BT-Prot. I S. 12475/12476). Dagegen waren Erler (SPD), BT-Prot. I S. 12427, und Renner (SPD), BR-Prot. 1953, S. 163. Im Nachtragshaushalt 52 blieb es bei der alten Regelung (BGBl 1953, I I S. 106). 23 Renner, BR-Prot. 1953, S. 599/600, begründete den Beschluß (BR-Prot. 1953, S. 602). Der Beschluß vom 19.12.52 ist wiedergegeben in BT-Drs. I Nr. 4000, Anlage, S. 14. Die SPD brachte am 18.3.53 im Bundestag einen gleichlautenden Antrag ein (Umdruck Nr. 803). 24 Der Antrag auf Umdruck Nr. 913, Ziff. 23/24 wurde einen Tag vor der zweiten Lesung eingebracht. 25 Im Ausschuß für Beamtenrecht wurde die Frage zunächst offen gelassen (AusschußProt. I, 223./224. Stzg S. 2 und 243. Stzg S. 4). 26 Stzg vom 13.5.53; BT-Prot. I S. 13075/13076 (Reden) und S. 13080 (Abstimmung).

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Der Bundesregierung wurde rasch klar, daß sie auch in der Haushaltsfrage einen schweren Stand hätte. In Abwesenheit von Justizminister Dehler lenkte das Kabinett daher ein. Es teilte dem Haushaltsausschuß mit, der Standpunkt der Bundesregierung sei zwar unverändert, es werde „aber dem Bundestag die Entscheidung anheim gestellt 4 '. 2 7 Die Mehrheit i m Haushaltsausschuß war damit von jeder politischen Rücksichtnahme befreit. C D U / CSU und SPD stimmten daher gemeinsam für den Sonderetat des BVerfG. I m Haushaltsausschuß votierten nur die Abgeordneten der FDP dagegen. 28 Ihr Justizminister Thomas Dehler ergriff erst bei der wenig später folgenden Plenumsdebatte das Wort und verteidigte zum letztenmal seinen Standpunkt. 2 9 Außer ihm gab kein anderer Vertreter der Regierungsparteien eine öffentliche Erklärung ab. Dennoch stimmte die breite Mehrheit der Abgeordneten für den Antrag der Opposition und gewährte dem BVerfG ein eigenes Budget. 3 0 Damit hatte sich die Status-Ansicht des BVerfG in der Staatspraxis durchgesetzt. Das Parlament hat seither den Sonderstatus des BVerfG wiederholt bestätigt. 3 1

I I . Die EVG-Kontroverse Während der Status-Streit in der Öffentlichkeit nur wenig Beachtung fand 3 2 und i m wesentlichen zwischen den beteiligten Staatsorganen ausgetragen wurde, war der Streit um die Wiederbewaffnung ein öffentliches Thema ersten Ranges. Die Debatte setzte mit Ausbruch des Koreakrieges ein. Adenauer nutzte den Zeitpunkt, um in der Öffentlichkeit sein Programm eines deutschen Wehrbeitrages vorzustellen. Durch den militärischen Beitrag sollte die außenpolitische Souveränität zurückgewonnen und gleichzeitig die Integration in die westlichen Bündnisse erreicht werden. 3 3 Bald legte sich Adenauer auf den Vorschlag des französischen Ministerpräsidenten Pleven fest. 3 4 Dieser Pleven-Plan sah eine supranatio-

27 Stzg vom 2.6.53; Booms, Kabinettsprotokolle 1953, S. 327. Ausschuß-Prot. I, 244. Stzg, S. 8/9. Die Empfehlung des Haushaltsauschusses ist in BT-Drs. I Nr. 4500 (Gesamtplan S. 10) und Nr. 4507 (Einzelplan) enthalten. 29 Stzg vom 25.6.53; BT-Prot. I S. 13720/13721. Dehler hat seine Rechtsauffasung in einem Schreiben an Globke vom 29.4.53 dargelegt (Schiffers, Verfgbkt, S. 478-485). 30 Für die SPD begründeten die Abg. Ritzel und Dr. Greve den Antrag (BT-Prot. I S. 13719/13720; Abstimmung S. 13724). Das Haushaltsgesetz 1953 ist abgedruckt bei Schiffers, Verfgbkt, S. 485/486. 31 Nachweise bei Leibholz, Beitrag, S. 50-57; zuletzt hat es 1961 den Sonderstatus der Verfassungsrichter in § 69 DRiG anerkannt (Kommers, Politics, S. 85). 32 Der Status-Bericht wurde offiziell am 19.1.53 der Presse übergeben (JZ 53, S. 157/ 158). Die FAZ vom 20.01.53 berichtet entsprechend einer DPA-Meldung kurz über den Inhalt, verzichtet aber auf jede Kommentierung. Der Spiegel der Jahre 1952/53 berichtet über den Status-Streit nicht. 33 Einen Überblick zur Außenpolitik Adenauers bieten: Morsey, Bundesrepublik, S. 27-37 sowie Hillgruber, Deutsche Frage, S. 47-59. 28

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naie Armee vor, in der deutsche und französische Kontingente unter einer gemeinsamen Führung die Sicherheitsinteressen Westeuropas wahrnehmen sollten. I m folgenden wurden zwei Vertragswerke ausgearbeitet: der Deutschlandvertrag, der am 26.5.52 in Bonn unterzeichnet wurde, und der EVG-Vertrag, der einen Tag später am 27.5.52 in Paris unterschrieben wurde. Innenpolitisch stieß die Wiederbewaffnung vor allem auf den Widerstand überzeugter Pazifisten. Gustav Heinemann verließ aus diesem Grund das Kabinett Adenauer und die C D U . M i t Ulrich Noack und Martin Niemöller gründete er die „Notgemeinschaft für den Frieden Europas", aus der 1952 die Gesamtdeutsche Volkspartei (GVP) hervorging. 3 5 Seine Partei verfocht wie die ganze Opposition auch ein nationales Anliegen. Adenauers Option für den Westen ging nämlich soweit, daß er für alle Zeiten die Bindung an die Westalliierten festschreiben w o l l t e . 3 6 Damit ging jeder Verhandlungsspielraum mit dem Osten verloren. Die von breiten Kreisen der Bevölkerung ersehnte Wiedervereinigung schien in weite Ferne zu rücken. In der SPD war man zudem der Ansicht, daß der Deutschlandvertrag den Alliierten zu weitgehende Vorbehaltsrechte beließ. Kurt Schuhmacher glaubte, daß Adenauer zu schnell Zugeständnisse gemacht hätte und daß bei taktischerem Verhandeln ein Mehr an Gleichberechtigung herausgekommen wäre. 3 7 Die Regierung hatte somit für die Verträge nur eine einfache Mehrheit i m Bundestag. Kurt Schuhmacher beauftragte daher seinen Parteifreund A d o l f Arndt mit einer verfassungsrechtlichen Prüfung. Arndt kam zu dem Ergebnis, daß die Einführung der Wehrpflicht, der Erlaß von Verteidigungsgesetzen und der Aufbau einer Wehrverwaltung des Bundes nicht ohne Grundgesetzänderung möglich waren. Da der Regierung die erforderliche Zweidrittelmehrheit fehlte, erhob die SPD-Fraktion am 31.1.52 beim BVerfG eine Normenkontrollklage. 3 8 Die Regierung reagierte anfangs gelassen auf den Antrag der SPD. Sie hielt die Klage schon für unzulässig, weil die Verträge die parlamentarische Beratung bislang nicht passiert hatten und damit formell noch nicht Gesetz waren. Die Klage sei zudem unbegründet, weil für den Wehrbeitrag keine Verfassungsänderung nötig sei. Der Umkehrschluß aus Art. 4 Abs. 3 und Art. 26 Abs. 1 G G ergebe, daß die allgemeine Wehrpflicht i m Grundgesetz vorgesehen sei und durch einfaches Gesetz eingeführt werden könne. Die Zuständigkeit des Bundes zu

34 Dazu informativ: Herbst, Option für den Westen, S. 87/88. 35 Vgl. Doering-Mantteuffel, Ära Adenauer, S. 73-77. 36 Die Bindungsklausel wurde auf Drängen der CDU-Fraktion bei Nachverhandlungen abgeändert (Morsey, Bundesrepublik, S. 30). 37 Ausführlich: Herbst, Option für den Westen, S. 107 -109; Gosewinkel, Adolf Arndt, S. 283-286. 38 Im folgenden kann nur über die Hauptanträge des Prozesses berichtet werden. Die vollständigen Prozeßakten sind von Karl August von der Heydte herausgegeben worden: „Der Kampf um den Wehrbeitrag" (= KudW), 3 Bände, München 1952, 1953, 1958.

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Gesetzgebung und Verwaltung liege in der Natur der Sache. I m übrigen sei die Übertragung von Befugnissen auf die E V G nach Art. 24 Abs. 1 und 2 G G ohne Verfassungsänderung möglich. Beide Seiten beauftragten eine ganze Reihe namhafter Juristen mit der Erstellung von Rechtsgutachten. Die Meinungen gingen erwartungsgemäß auseinander. 3 9 Teils wurde mit der SPD auf das Fehlen einer verfassungsrechtlichen Grundlage abgestellt, teils betonte man mit der Regierung, daß das Grundgesetz die Remilitarisierung nicht verbiete. Die schwierige Rechtslage war sicher einer der Gründe dafür, daß die anfängliche Siegesgewißheit in Bonn verlorenging. I m Sommer des Jahres 1952 fürchtete die Regierung eine Niederlage in Karlsruhe. Der merkwürdige Stimmungsumschwung wird vielfach darauf zurückgeführt, daß aus Karlsruhe schlechte Nachrichten durchgesickert seien. 4 0 In der Tat reichten sich i m Prinz-Max-Palais Vertreter aller Parteien die K l i n k e in die Hand. Da aber noch keine einzige Urteilsberatung stattgefunden hatte, kann keiner der Bonner Gäste mehr als einzelne Lageeinschätzungen in Erfahrung gebracht haben. Die Angst vor der Niederlage hatte eine weitere Ursache: Bei der Erstbesetzung des Gerichts waren die Sitze zwischen Regierung und Opposition so verteilt worden, daß die regierungsnahen Richter i m scheinbar wichtigeren Zweiten Senat (Staatsrechtssenat) die Mehrheit hatten und die oppositionsnahen Richter i m Ersten Senat (Grundrechtssenat). Daher kam schon bald das Wort vom „schwarzen" und vom „roten" Senat auf. Für das EVG-Verfahren war nun aber der Erste Senat zuständig, in dem die SPD-nahen Juristen mit 7 von 12 Richtern i m Übergewicht waren. 4 1

39 Für die Zulässigkeit der Klage votierten (nach KudW): Menzel I S. 121-138, Forsthoff I S. 354-365, Rosenberg I S. 365-369; Kraus I I S. 517-527. Gegen die Zulässigkeit der Klage lag kein Gutachten vor. In der Sache folgten im Organstreit bzw. im Gutachtenverfahren der SPD: Kraus I S. 139-147, I I S. 530-558; Smend I S. 148-155, I I S. 559-580; Menzel I S. 280-323; Schätzel I S. 323-354, I I S. 620-650; Forsthoff I I S. 312-336; Löwenstein I I S. 337401; Klein II S. 456-516; Maunz I I S. 591-619. Der Auffassung der Regierung folgten: Süsterhenn I S. 260-271; Mangoldt I S. 271 280, I I S. 72-93; Kaufmann I I S. 42-71, I I I S. 314-329; Scheuner I I S. 94-154, I I I S. 330-360; Thoma IIS. 155-176; Weber I I S. 177-190; Wehberg I I S. 191-200; Wolff I I S. 202-214; Hettlage/ Heydte I I S. 666-674. 40 Baring, Kanzlerdemokratie, S. 223; Schwarz, Geschichte II, S. 172. Diese Annahme beruht auf den Tagebuchnotizen von Staatssekretär Otto Lenz (Gotto, Tagebuch Lenz, S. 266, 273, 375, 377/378). Er hat wahrscheinlich die Bedeutung der Gespräche falsch eingeschätzt. 41 Genaue Zuordnung bei Baring, Kanzlerdemokratie, S. 222. In einem Schreiben von Geiger an Dehler vom 21.12.51 (Schiffers, Verfgbkt, S. 462-465) wird deutlich, daß die unterschiedliche politische Besetzung absichtlich erfolgte. Wie der ehemalige Pressesprecher des BVerfG Willms (BVerfG, S. 279) berichtet, entstand das Wort vom roten und schwarzen Senat im Gericht selbst, nicht (wie Laufer, Politischer Prozeß, S. 474 meint) bei Adenauers Pressegesprächen, dem sog. Kanzlertee.

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Adenauer und sein Justizminister Dehler befürchteten nun ein parteipolitisches Votum. Daher versuchten sie, die Zuständigkeit im Gericht zu verlagern. Der Bundespräsident hatte damals die Möglichkeit, beim BVerfG ein Rechtsgutachten anzufordern. 4 2 Dafür war das Plenum zuständig. Adenauer veranlaßte deshalb Theodor Heuss am 10.6.1952, einen entsprechenden Gutachtenauftrag an das BVerfG zu richten. Dieser Antrag wurde in Karlsruhe positiv aufgenommen; war er doch geeignet, den Verdacht der parteipolitischen Urteilsfärbung auszuräumen und die Last der Verantwortung „auf breite Schultern' 4 zu verteilen. 4 3 Die SPD hingegen sah ihr schwebendes Verfahren konterkariert. A d o l f Arndt war der Meinung, daß das Gutachtenverfahren nicht zulässig sein konnte, wenn in derselben Sache bereits ein Urteilsverfahren anhängig war. Darum war er nicht bereit, aufgrund des Gutachtenauftrags den Normenkontrollantrag zurückzuziehen. 4 4 Denn das Gutachten konnte i m Gegensatz zum Urteilsverfahren keine die Regierung bindende Entscheidung bringen. Daraufhin fiel i m Wiederbewaffnungsstreit die erste Entscheidung. Das BVerfG wies den Normenkontrollantrag der SPD als derzeit unzulässig ab. 4 5 Solange noch keine parlamentarische Beratung der Verträge stattgefunden habe, fehle es an einem hinreichenden Prüfungsgegenstand der Normenkontrolle. Ein Gesetzgebungsbefehl liege noch nicht vor. Bei völkerrechtlichen Verträgen sei die Normenkontrolle erst nach Verabschiedung durch den Bundestag möglich. Der Opposition nützte der Einwand nichts, daß der Vertragsinhalt bereits unabänderbar feststand und daß die Regierungsmehrheit sicher zu erwarten war. Der „rote Senat" hatte also sehr begriffsjuristisch entschieden und die politischen Erwartungen der SPD enttäuscht. Die Freude der Regierung über den Juli-Sieg in Karlsruhe währte nur kurz. I m Herbst verbreiteten sich Gerüchte, daß die Verträge i m Plenum scheitern würden. 4 6 Anscheinend hielt die Regierung ihre rechtliche Argumentationsbasis selbst nicht für besonders tragfähig. Adenauer rechnete jedenfalls damit, daß einige konservative Richter aus Rechtsgründen gegen die Verträge votierten,

42 § 97 Β VerfGG a.F. lautete: (I) Der Bundestag, der Bundesrat und die Bundesregierung können in einem gemeinsamen Antrag das Bundesverfassungsgericht um die Erstattung eines Rechtsgutachtens über eine bestimmte verfassungsrechtliche Frage ersuchen. (II) Dasselbe Recht steht dem Bundespräsidenten zu. (III)Das Rechtsgutachten wird vom Plenum des Bundesverfassungsgerichts erstattet. 43 Richter Friesenhahn, zitiert nach Baring, Kanzlerdemokratie, S. 225. 44 Gosewinkel, Adolf Arndt, S. 303. Arndts Rechtsansicht wird gestützt durch das Gutachten von Kraus, KudW II, S. 517-527 (525-527). Er versuchte vergeblich BPräs Heuss umzustimmen (Gosewinkel, Adolf Arndt, S. 305/306). 45 BVerfGE 1, 396-415 = KudW I, S. 436-446. 46 Baring, Kanzlerdemokratie, S. 239/240. Dies dürfte wieder daran gelegen haben, daß Staatssekretär Lenz die Andeutungen Höpker-Aschoffs (Gotto, Tagebuch Lenz, S. 475/480) fälschlich als sichere Auskunft angesehen hat.

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1. Teil: Streitgeschichte

während die anderen ihrer Parteilinie treu blieben. 4 7 Wieder herrschte i m Kabinett gedrückte Stimmung, obwohl in Karlsruhe noch keine Vorentscheidung gefallen war und die mündliche Verhandlung vom 8. Dezember noch ausstand. Die Angst vor der Niederlage ging soweit, daß die Regierung den Ausgang des Verfahrens nicht mehr in Ruhe abwarten konnte. Justizminister Dehler, der sich bei seinen temperamentvollen Reden oft zu unüberlegten Attacken hinreißen ließ, warnte i m Oktober 52 auf dem Parteitag der FDP eingehend vor den Gefahren des Kommunismus und fügte hinzu: er könne nur hoffen, daß sich der sozialistische Geist in Karlsruhe nicht durchsetzen werde. 4 8 War diese Äußerung schon ein „Fauxpas", so erst recht die amtliche Stellungnahme i m Bulletin vom November. 4 9 M i t erkennbarem Bezug zum EVG-Verfahren war zu lesen: „Das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung erklärt, nicht in die politische Entscheidungsfreiheit der Organe der Gesetzgebung eingreifen zu wollen, . . . Verließe es diese Richtschnur nur ein einziges Mal, so würde es das Ende der deutschen Verfassungsjustiz bedeuten." Anscheinend gab es auch Überlegungen, notfalls durch Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes den Durchbruch der Vertragsgesetze zu erzwingen. 5 0 Adenauer entschloß sich vorerst zu einem neuerlichen prozessualen Schachzug. Der Plan hatte zwei Elemente. Erstens sollte verhindert werden, daß die SPD nach Verabschiedung der Vertragsgesetze erneut Klage erheben konnte. Daher mußte die parlamentarische Debatte nach der zweiten Lesung abgebrochen werden, so daß die notwendige dritte Lesung fehlte. Zweitens sollte versucht werden, die Entscheidung vor den „schwarzen Senat" zu bringen. Dazu mußte eine Organklage angestrengt werden. Die Idee zu dieser gegen die SPD-Fraktion als parlamentarische Minderheit gerichteten Organklage kam von Justizminister Dehler. Der Klageantrag lautete: „1. Die Antragsgegner verstoßen dadurch gegen das Grundgesetz, daß sie dem Deutschen Bundestag und der antragstellenden Mehrheit des Bundestages das Recht bestreiten, die Gesetze über den Deutschland-Vertrag und den EVGVertrag mit der in Artikel 42 Abs. 2 S. 1 GG vorgeschriebenen (einfachen) Mehrheit zu verabschieden. 2. Der Deutsche Bundestag ist berechtigt, die Gesetze über den Deutschland-Vertrag und den EVG-Vertrag mit der in Artikel 42 Abs. 2 S. 1 GG vorgeschriebenen Mehrheit zu verabschieden." 51 47 Baring, Kanzlerdemokratie, S. 239; Sternberger, Erprobung der Staatsorgane, S. 364. 48 Volles Zitat bei Baring, Kanzlerdemokratie, S. 251 (vgl. auch Der Spiegel, 1953, H. 34, S. 12). 49 Abgedruckt bei Dopatka, Umwelt, S. 64 und Baring, Kanzlerdemokratie, S. 234/ 235. 50 Schwarz, Geschichte II, S. 176; Baring, Kanzlerdemokratie, S. 252/253; näher unten A. III. 51 Abgedruckt bei Baring, Kanzlerdemokratie, S. 235.

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Als Adenauer diesen Plan seinen Parteifreunden eröffnete, soll es „auch manchem seiner treuen Anhänger die Sprache verschlagen" haben. 5 2 Der Gedanke, daß die Opposition die Verfassung verletzte, wenn sie im Parlament ihre Rechtsauffassung vortrug, war schlicht undemokratisch. So bekennt auch Kurt Georg Kiesinger, der dazu bestimmt wurde, die vorgeblich verletzten Rechte der Parlamentsmehrheit vor Gericht zu vertreten, daß er „nicht immer mit einem guten Gewissen" m i t w i r k t e . 5 3 In Karlsruhe sorgte der Eingang der Klage am 6.12.52 für kein geringes Aufsehen. Der Versuch, die Entscheidung v o m Plenum auf den Zweiten Senat zu verlagern, war durchsichtig. Zudem lasteten die jüngsten Bonner Kommentare schwer auf dem Gericht. M a n kam zu der Überzeugung, daß nun die Autorität des Gerichts auf dem Spiele stand. Das Plenum beschloß daher mit 20 : 2 Stimmen, den prozeßbegleitenden Erklärungen der Regierung entgegenzutreten und der mit der Organklage bezweckten Zuständigkeitsmanipulation einen Riegel vorzuschieben. Das anstehende Gutachtenverfahren sollte fortgeführt werden und dessen Entscheidung sollte den weiteren Gerichtsverfahren als verbindliche Grundlage dienen. Z u Beginn der mündlichen Verhandlung verlas der Präsident des Gerichts eine entsprechende Erklärung, in der die Selbstbindung des Gerichts klar zum Ausdruck k a m . 5 4 Die Vertreter der Regierung hatten damit nicht gerechnet und sahen sich um die Früchte des von Adenauer eingefädelten Manövers gebracht. Nach Rücksprache mit Bonn wurde eine Sitzungsunterbrechung beantragt. I m Kabinett war die Aufregung groß. Die Regierung fühlte sich zu Unrecht benachteiligt und in der Befürchtung bestärkt, daß die Vertragswerke in Karlsruhe scheitern würden. Deshalb suchte man nach einem Ausweg: Der Bundespräsident mußte den Gutachtenauftrag zurücknehmen. Dadurch konnte man Zeit gewinnen und erreichen, daß allein der Zweite Senat entscheiden würde. Noch am selben Abend erschien Adenauer mit mehreren Ministern und Staatssekretären in der V i l l a Hammerschmidt. Heuss war anscheinend rasch überzeugt. Auch ihm mißfiel die Vorstellung, daß die von der politischen Mehrheit getragenen Verträge vor Gericht scheitern würden. Er erklärte sich zur Rücknahme des Gutachtenauftrags bereit. 5 5 52 Paul Sethe, Die gelähmte Hauptstadt, FAZ vom 19.12.52, S. 1. Lenz berichtet, daß die Abg. Jäger (CSU) und Weber (CDU) sowie die ganze DP gegen die Klage waren. Der DP-Abg. Ewers hätte Adenauer beteuert, daß er wie eine „treue deutsche Eiche" zu seinem Kabinett stehe, aber diese Klage nicht mittragen könne. Er wäre dabei vor Erregung „blaurot" angelaufen und wäre „kurz vor einem Schlaganfall" gestanden (Gotto, Tagebuch Lenz, S. 486-488). 53 Kiesinger, Erinnerungen, S. 432 (ähnlich: S. 437). 54 Interessanter Weise stammte die mündliche Verlautbarung (FAZ vom 12.12.52 S. 3) aus der Feder von Gerhard Leibholz, während die amtliche Erklärung (FAZ vom 15.12.52 S. 1; BVerfGE 2, 79-98) von Ernst Friesenhahn verfaßt wurde (Baring, Kanzlerdemokratie, S. 242). 3 Häußler

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Dabei hat Heuss die innenpolitischen Folgen dieses Schrittes wohl nicht klar übersehen. Der Eindruck war unvermeidbar, daß der Bundespräsident seine parteipolitisch neutrale Stellung aufgegeben und sich auf die Seite der Regierungskoalition gestellt hatte. Zudem wirkte die am 10.12.52 erfolgte Rücknahme des Gutachtenauftrags als Geste des Mißtrauens gegenüber den Karlsruher Richtern. Heuss selbst hatte schon wenig später Zweifel an der Richtigkeit der Rücknahme. Nach Jahren erklärte er, daß dies in seiner Laufbahn der Entschluß gewesen sei, von dem er am wenigsten wisse, ob er richtig gehandelt habe. 5 6 In der Presse war nun jedenfalls nicht ganz zu Unrecht von einer Verfassungskrise die Rede. 5 7 Zwar hielt sich die Opposition, die bis zum Schluß vergeblich versucht hatte, Heuss von seinem Entschluß abzubringen, mit K r i t i k zurück. Die Regierung sparte aber zur Begründung ihres Vorgehens nicht mit Vorwürfen gegenüber dem BVerfG. Adenauer selbst stand beim Kanzlertee vom 10.12.52 eher im Hintergrund. 5 8 Er lächelte nur beifällig, als sein Justizminister in Rage kam. Dehler erklärte, der Karlsruher Beschluß sei „ v ö l l i g rechtlos", verstoße gegen das Grundgesetz und gegen das Bundesverfassungsgerichtsgesetz und sei schlechthin ein „ n u l l u m " . 5 9 Als daraufhin einige besorgte Anwälte telegraphierten: „Durch letzte Vorgänge tief bestürzt, bitten dringend: verhindert weitere für Ansehen von Justiz und Staat unerträgliche Schritte gegenüber höchstem deutschen Gericht." antworteten Justizminister Dehler und Staatssekretär Dr. Walter Strauss: „Sie verkennen die Lage vollständig. Das Bundesverfassungsgericht ist in einer erschütternden Weise vom Wege des Rechts abgewichen und hat dadurch eine ernste Krise geschaffen. . . , " 6 0 Das Kabinett mußte bald feststellen, daß die Öffentliche Meinung auf die harte Gerichtsschelte mit Ablehnung reagierte. Selbst die regierungsfreundliche Presse konnte es nicht nachvollziehen, daß eine rein prozessuale Entscheidung ausrei-

55 Die Bemerkung Dehlers, der Präsident sei auf Grund seines Amtseides zur Rücknahme verpflichtet, spielte bei der Entscheidung für Heuss keine Rolle (Baring, Kanzlerdemokratie, S. 244-247; anders noch Laufer, Politischer Prozeß, S. 404). 56 Baring, Kanzlerdemokratie, S. 249. Heuss hat die Rücknahme in einer Rundfunkrede gerechtfertigt (FAZ vom 12.12.52 S. 3). 5v FAZ vom 10.12.52 S. 1 und vom 12.12.52 S. 1. Am 12.12.52 erklärte Adenauer bereits abschwächend, es liege weder eine Regierungskrise noch ein Verfassungskonflikt vor (FAZ vom 13.12.52 S. 1). 58 Er sagte öffentlich nur, daß er die versöhnlichen Töne, die Heuss gegenüber dem BVerfG gefunden habe, nicht befürworten könne (Morsey / Schwarz, Teegespräche 1950-54, S. 384). Im Kabinett sprach Adenauer unverblümt von „Rechtsbruch" (Gotto, Tagebuch Lenz, S. 494; ähnlich S. 554, 629). 59 Zitiert nach Baring, Kanzlerdemokratie, S. 250 (siehe auch Der Spiegel, 1952, H. 51, S. 9). Das Lächeln Adenauers verbürgt uns Rapp, Journalisten, S. 283. 60 Abgedruckt bei Laufer, Politischer Prozeß, S. 469 und Baring, Kanzlerdemokratie, S. 251/252.

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chenden Anlaß für derart ausfallende K r i t i k abgeben sollte. 6 1 Zudem war der bald darauf veröffentlichte Beschluß i m Grunde einleuchtend. 6 2 Wenn nämlich ein Senat die Entscheidung des Plenums einholen muß, soweit er von der Rechtsprechung des anderen Senats abweichen w i l l (§ 16 Abs. 1 BVerfGG), dann muß er doch erst recht gebunden sein, wenn das Plenum bereits entschieden hat. I m Hörfunk und in politischen wie kulturellen Zeitschriften gab es aus diesem Grund auch klare Stellungnahmen gegen die Regierung. Schließlich ergriffen die Länderchefs bei einem gemeinsamen Treffen in Stuttgart am 16./17. Dezember Partei für das Gericht. 6 3 Adenauer war nun klug genug, zumindest äußerlich auf Versöhnungskurs zu gehen. Der Präsident des BVerfG Höpker-Aschoff hatte für den 19. Dezember einen Besuch in Bonn angekündigt. Er wollte den Konflikt durch persönliche Gespräche mit Justizminister Dehler und Bundespräsident Heuss ausräumen. 64 Adenauer nützte das Treffen zwischen Heuss und Höpker-Aschoff, indem er persönlich eine von der Bundesregierung beschlossene Ehrenerklärung für das BVerfG in der V i l l a Hammerschmidt vorbeibrachte. Darin heißt es: 6 5 „Das Bundeskabinett stellt einmütig fest, daß es niemals daran gedacht hat, die Rechte und die Würde des Bundesverfassungsgerichts anzutasten oder auch nur in Zweifel zu ziehen. Das Bundeskabinett achtet das Bundesverfassungsgericht als integrierenden Bestandteil des demokratischen Rechtsstaats. Die rechtliche Beurteilung, die das Bundeskabinett gegenüber dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Dezember 1952. . . ausgesprochen hat, schließt keine Beeinträchtigung der Stellung des Bundesverfassungsgerichts in sich." Damit war die Krise offiziell beigelegt. Inoffiziell blieb das Verhältnis zwischen Bonn und Karlsruhe gespannt. Das Gutachtenverfahren war zwar beendet. I m nun anhängigen Organstreitverfahren war aber eine Niederlage der Regierungsparteien absehbar. A m 7.5.53 wies der Zweite Senat die Organklage als

61 Baring, Kanzlerdemokratie, S. 252. Die FAZ vom 20.12.52 S. 2 fand Dehlers Kritik „Erschütternd". 62 BVerfGE 2, 79-98 = KudW II, S. 812-822. Die Fachliteratur stimmte dem BVerfG weitgehend zu (Flume, Beschluß, S. 65-70; Giese, Verbindlichkeit, S. 389-398). Willi Geiger veröffentlichte dazu ein Sondervotum. Das Plenum habe über die Bindungsfrage unbefugter Weise entschieden, weil kein Antrag auf Entscheidung dieser Frage vorgelegen habe und kein Verfahren vorhergegangen sei (FAZ vom 19.12.52 S. 3; KudW II, S. 822-828). Das Sondervotum wurde anscheinend vom Plenum des BVerfG mißbilligt (FAZ vom 19.12.52 S. 3; Baring, Kanzlerdemokratie, S. 254 —siehe aber die Darstellung Geigers in: FAZ vom 22.12.52 S. 3). 63 Rundfunk: Sternberger, Erprobung der Staatsorgane, S. 352-366. Presse: Frankfurter Hefte, 1953, S. 1-5; Die Gegenwart, 1953; S. 1/2; Der Spiegel, 1952, H. 51, S. 4. Zum Treffen der Länderchefs: Baring, Kanzlerdemokratie, S. 255. 64 Die „Geheimsitzung" von Heuss und Höpker-Aschoff (FAZ vom 20.12.52 S. 1) trug anscheinend nicht zu einem Abbau der sachlichen Gegensätze, aber zum Erhalt der persönlichen Freundschaft bei (Baring, Kanzlerdemokratie, S. 256). Nur Heuss, nicht Höpker-Aschoff, zeigte sich von der Ehrenerklärung befriedigt (FAZ vom 22.12.52 S. 3). 65 Zitiert nach Baring, Kanzlerdemokratie, S. 256. *

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unzulässig zurück: 6 6 Weder die parlamentarische Mehrheit noch die parlamentarische Minderheit sei organisatorisch hinreichend verfestigt, um i m Organstreitverfahren als Partei mit eigenen Rechten auftreten zu können. I m übrigen sei eine Rechtsverletzung auch nicht erkennbar, wenn die Opposition lediglich von ihrem parlamentarischen Rederecht Gebrauch mache. Auch der „schwarze Senat" hatte nun seine Anhängerschaft, die C D U und ihre Regierung, enttäuscht. Für Dehler als geistigen Vater der Klage war das besonders bitter. Obwohl auch er die Ehrenerklärung unterschrieben hatte, wiederholte er i m Frühjahr 1953 seine Vorwürfe. Der Beschluß v o m Dezember habe mit Recht und Justiz nichts zu t u n . 6 7 Es sei seine Aufgabe als Justizminister, darauf hinzuweisen und das BVerfG zu überwachen. 6 8 Diese Äußerungen schadeten Dehler selbst in den eigenen Reihen. Hatte die Gerichtsschelte bei der Rücknahme des Gutachtens noch einen tagespolitischen Zweck erfüllt, so war sie nun inopportun und verletzte die Kabinettsdisziplin. Der auf Ausgleich bedachte Theodor Heuss kam zu der Überzeugung, daß dieses Verhalten für einen Justizminister untragbar sei, und Dehlers Freundschaft mit Höpker-Aschoff ging endgültig in die Brüche. Der Gerichtspräsident verwahrte sich in einer Rundfunkrede gegen die neuerliche K r i t i k und das Plenum des BVerfG veröffentlichte tags darauf eine Erklärung, in der es eine Wächterrolle des Justizministers klar zurückwies. 6 9 Dehlers Ärger über das BVerfG wurde sicher dadurch verstärkt, daß nach Abschluß der dritten Lesung der Vertragsgesetze eine zweite Klage der SPD ins Haus stand. Bundespräsident Heuss war zu seiner neutralen Position zurückgekehrt. Er hatte erklärt, daß er die Vertragsgesetze in keinem Fall vor der Normenkontrollentscheidung des Ersten Senats ausfertigen werde. Damit begann für die Regierung erneut das Zittern. I m Frühsommer 53 schien eine Entscheidung in der Sache unumgänglich. Die Niederlage vor dem „roten Senat" drohte zudem noch in den Wahlkampf für den Zweiten Bundestag zu fallen.

66 BVerfGE 2, 143-181 = KudW III, S. 127-148. Das BVerfG folgte weitgehend dem Plädoyer Arndts (Gosewinkel, Adolf Arndt, S. 340). 67 Zuschrift an Die Gegenwart, 1953, S. 300. Dehler hat an dieser Meinung noch Jahre später festgehalten: Dehler, Rechtsstaat, S. 136. 68 Darstellung bei Laufer, Politischer Prozeß, S. 470-472. 69 FAZ vom 16.3.53 S. 1; Baring, Kanzlerdemokratie, S. 259/260; Teilabdruck der Plenumserklärung bei Laufer, Politischer Prozeß, S. 471. Höpker-Aschoff sagte in seiner Rundfunkrede: „Wenn im Jahre 1913 ein westfälischer Amtsrichter solche Kritik durch den königlich-preußischen Justizminister erfahren hätte, so würde er . . . die Disziplinargerichte angerufen haben. Sie, Herr Minister, können sicher sein, daß der Disziplinarsenat des Oberlandesgerichtes Hamm und der Große Disziplinarsenat beim Kammergericht. . . ihm Recht gegeben hätten. Aber der königlichpreußische Justizminister von 1913 würde sich niemals unterfangen haben, an den Entscheidungen eines Amtsrichters solche Kritik zu üben . . . " (FAZ vom 17.3.52 S. 3).

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Im BVerfG war man allerdings nach Eingang der Klage i m M a i 1953 entschlossen, den Ausgang der Wahlen v o m Herbst abzuwarten. Z u m einen schien ein Wechsel der Mehrheitsverhältnisse nicht ausgeschlossen, zum anderen war nach dem Tode Stalins eine neue Verhandlungsrunde denkbar. 7 0 Die politische Entwicklung ging in eine ganz andere Richtung. A m 16. Juni 1953 kam es in Ostberlin zu Arbeiterprotesten, die am 17. Juni zu einem Aufstand eskalierten. Das Ulbricht-Regime rief sowjetische Panzer zu Hilfe und schlug den Aufstand blutig nieder. A l l e Parteien, die zuvor Verhandlungen mit dem Osten gefordert hatten, lagen nun i m Stimmungstief. Adenauers „Politik der Stärke" schien der einzig realistische Weg. Seine Regierungskoalition aus C D U , FDP, B H E und DP erzielte im Herbst 1953 einen „Erdrutschsieg" mit einer Mehrheit von über 68 Prozent der Mandate. 7 1 Damit hatten die EVG-Verträge i m Bundestag und bald auch i m Bundesrat eine Zweidrittelmehrheit. Der Weg für eine rein politische Lösung schien frei. Bei der Regierungsbildung gab es für die Öffentlichkeit allerdings eine Überraschung: Thomas Dehler wurde nicht wieder zum Justizminister berufen. A n seine Stelle trat sein Fraktionskollege Fritz Neumayer. Dehler schied aus dem Kabinett aus und erhielt als Entschädigung nur den Vorsitz der FDP-Gruppe i m Bundestag. In Bonn verbreitete sich das Gerücht, Bundespräsident Heuss habe sich geweigert, die Ernennungsurkunde zu unterzeichnen. 72 M i t Sicherheit hat sich Heuss klar gegen Dehler ausgesprochen. 73 Der eigentliche Motor des Geschehens war aber Gerichtspräsident Höpker-Aschoff. Er suchte Heuss und die FDP-Verhandlungsführer auf und machte seinen Parteifreunden klar, daß er im Falle einer erneuten Ernennung Dehlers als Gerichtspräsident zurücktreten werde. Daraufhin ließ die eigene Fraktion Dehler fallen. 7 4 Für das BVerfG erwies es sich damit überraschenderweise als günstig, daß sein Präsident eine politische Heimat hatte.

™ Schwarz, Geschichte II, S. 177 sieht andere Ursachen für das Abwarten des Gerichts. Er glaubt, Adenauer habe „dem Karlsruher Gericht den Schneid abgekauft". Abwarten ist aber bei vielen Gerichten üblich, wenn damit gerechnet wird, daß sich eine Sache „von selbst" erledigt. 71 Das entsprach nur 63,8 Prozent der Stimmen (Angaben bei Laufer, Politischer Prozeß, S. 414/415). 72 Ob das zutrifft, ist nicht endgültig geklärt (vgl. Ott, Thomas Dehler, S. 142; Schwarz, Geschichte II, S. 201; Baring, Kanzlerdemokratie, S. 260). 7 3 Das geht aus dem Begleitschreiben von Heuss zu Dehlers Entlassungsurkunde hervor. Dieser außergewöhnliche Brief ist abgedruckt bei Ott, Thomas Dehler, S. 142/ 143. 74 Ott, Thomas Dehler, S. 142. F. J. Strauß berichtet, Höpker-Aschoff habe sich direkt an Adenauer gewandt und damit gedroht, die Wiederernennung Dehlers könne das EVGVerfahren „negativ beeinflussen". Strauß war darüber „empört": „Ich hätte es bis zu diesem Zeitpunkt für schlechterdings unmöglich gehalten, daß ein Richter . . . sich praktisch mit einem Veto in die Personalentscheidungen der Regierung einmischte. Das war, als ob ein Schiedsrichter plötzlich seine Rolle vergißt und den Fußball in eine bestimmte Richtung schlägt" (Strauß, Erinnerungen, S. 255/256).

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1. Teil: Streitgeschichte I m Normenkontrollverfahren wartete der Erste Senat nun auf neue Beschlüsse

aus Bonn. Dort hätte man durch eine Ergänzung des Grundgesetzes und durch eine erneute Verabschiedung der Vertragsgesetze alle verfassungsrechtlichen Zweifel ausräumen können. Z u diesem Schritt konnte sich die Regierungskoalition aber nicht entschließen. Denn damit wäre das Eingeständnis verbunden gewesen, möglicherweise verfassungswidrig gehandelt zu haben. Die Regierungsjuristen ersonnen darum einen anderen Plan: die „authentische Interpretation". Ihr Konzept hatte zwei Bausteine. In einem neu einzufügenden Art. 142 a G G stellte der verfassungsändernde Gesetzgeber fest, daß die Verträge v o m M a i 52 mit dem Grundgesetz vereinbar waren. Diese Selbstinterpretation war der erste Baustein. W e i l damit aber keine ausdrückliche Textänderung verbunden war, konnte Art. 79 Abs. 1 G G verletzt sein. Darum mußte als zweiter Baustein mit Art. 79 Abs. 1 S. 2 G G eine Ausnahme v o m Textänderungsgebot eingefügt werden. 7 5 Gegen dieses Vorgehen kamen rasch verfassungsrechtliche Bedenken auf: Durfte sich der verfassungsändernde Gesetzgeber von den i h m in Art. 79 G G auferlegten Beschränkungen selbst lösen? Konnte er Feststellungen über die Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit von Gesetzen treffen, obwohl das doch eigentlich Aufgabe des B V e r f G war? Waren anfänglich nichtige Gesetzesbeschlüsse rückwirkend heilbar? Die SPD-Opposition vertrat jedenfalls in der Bundestagsdebatte den Standpunkt, daß derartige authentische Interpretationen verfassungswidrig seien. 7 6 Die Regierungsmehrheit hielt dem ihr überzeugendes Wahlergebnis entgegen. Damit sei die nötige demokratische Legitimation für den Beitritt zur E V G gegeben. Der Bundestag verabschiedete am 26.2.54, der Bundesrat am 19.3.54 die Verfassungsnovelle. Auch Bundespräsident Heuss war von der Verfassungsmäßigkeit der Novelle überzeugt. Ende März 1954 verkündete er die Verfassungsänderung und fertigte die Vertragsgesetze aus. M i t der Hinterlegung der Vertragsurkunden in Bonn und Paris waren der EVG-Vertrag und der Deutschlandvertrag ratifiziert. 7 7 I m Normenkontrollverfahren stellte sich nun eine zusätzliche Rechtsfrage: Konnte das B V e r f G die Verträge noch aufheben oder war die Bundesrepublik bereits unwiderruflich völkerrechtlich gebunden? Dem Ersten Senat wurden zu all diesen Fragen erneut mehrere Gutachten vorgelegt. 7 8

75 Art. 142 a GG ist mittlerweile gestrichen (Abdruck unten 3.Teil C), Art. 79 Abs.l S. 2 GG ist noch in Kraft. 76 Nachweise bei Klein, KudW III, S. 584/585. Zur schwierigen politischen Lage der SPD: Gosewinkel, Adolf Arndt, S. 348-350. 77 Am 28.3.54 wurde die Verfassungsänderung verkündet, am 29.3.54 die Vertragsgesetze (KudW III, S. 490). Am 29.3.54 wurde der Deutschlandvertrag in Bonn hinterlegt, am 30.3.54 der EVG-Vertrag in Paris (Europa-Archiv, 1954, S. 6544).

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Es kam jedoch weder zu einer mündlichen Verhandlung noch zu einer Entscheidung in der Sache. Denn i m August 1954 lehnte der wichtigste Vertragspartner die Ratifizierung der EVG-Verträge ab. A m 30.8.54 votierte die Französische Nationalversammlung nach einer bewegten Debatte mehrheitlich gegen die gemeinsame europäische Armee. Die Europarmee bedeutete für Frankreich einen Souveränitätsverlust, der mit dem hergebrachten Großmachtdenken konservativer Kreise unvereinbar war. Solange die französischen Streitkräfte i m IndochinaKrieg gebunden waren, sahen sie in der gemeinsamen Armee eine notwendige Entlastung. Als aber durch Intervention Stalins ein für Frankreich akzeptabler Frieden in Südostasien zustandegekommen war, konnten sich die „Europäer" i m französischen Parlament nicht mehr durchsetzen. 79 Adenauer, der bis zuletzt auf die E V G gesetzt hatte, sprach von einem „schwarzen Tag für Europa". 8 0 A l l e weitergehenden Pläne für eine Europäische Politische Gemeinschaft waren damit Makulatur geworden. In Karlsruhe hingegen wird mancher Richter das Scheitern der E V G mit einem weinenden und einem lachenden Auge verfolgt haben. Denn i m EVG-Prozeß fiel damit der Vorhang. 8 1

I I I . Die Richterwahlnovelle M i t dem Ende der EVG-Kontroverse kehrte zwar eine gewisse Beruhigung zwischen Bonn und Karlsruhe ein. Das Verhältnis blieb aber belastet, weil die nötige Reform des B V e r f G G in Bonn auf die lange Bank geschoben wurde. Noch immer war aufgrund der gesetzlichen Geschäftsverteilung der Erste Senat mit Verfassungsbeschwerden überlastet, während der Zweite Senat nur fünf oder sechs Verfahren pro Jahr zu bearbeiten hatte. Richter Geiger sprach davon, daß der Gesetzgeber sich einer Verfassungsverletzung schuldig mache, wenn er weiter untätig bleibe. 8 2 Das Plenum des BVerfG richtete i m Dezember 1954 an das Justizministerium eine Denkschrift. Darin wurden die wichtigsten Reformpunkte zusammengestellt: Änderung der Geschäftsverteilung, Einführung eines Vorprüfungsverfahrens für die Verfassungsbeschwerde, Aufhebung des Zwangs zur mündlichen Verhandlung und Abschaffung des Gutachten Verfahrens. 83

78 Gutachten wurden nur von der SPD-Fraktion beigebracht: Löwenstein, KudW III, S. 540-559, Giese, KudW III, S. 559-565 und Klein, KudW III, S. 566-591. Zur Frage der völkerrechtlichen Bindung nahm nur Arndt, KudW II, S. 537/538 Stellung. 79 Schwarz, Geschichte II, S. 226-229; Herbst, Option für den Westen, S. 88-100. 80 Zitat nach Morsey, Bundesrepublik, S. 36. 81 Nach Laufer, Politischer Prozeß, S. 418 wurde weder der Normenkontrollantrag zurückgenommen, noch das Verfahren offiziell eingestellt. Es wurde schlicht nicht weitergeführt. 82 Geiger, Reform, S. 211 (im Frühjahr 1955 verfaßt).

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Während Justizminister Neumayer zunächst eine auf diese Verfahrensfragen beschränkte „kleine Reform" ins Auge faßte, dachten andere Köpfe im Kabinett an eine weitergehende Reform. 8 4 Adenauer war bereits bei der EVG-Krise zu der Überzeugung gekommen, daß es — wie in den U S A — das gute Recht der Regierung sein müsse, die Richter allein zu bestimmen. 8 5 Während der E V G Kontroverse im Winter 1952/53 wurden dann im Kabinett verschiedene Überlegungen angestellt, durch eine Reform des Verfassungsgerichts den Durchbruch i m Wehrstreit zu erzwingen. 8 6 A l l e Pläne, das BVerfGG zu ändern, wurden aber letztlich verworfen. Die Regierung erkannte, daß die Umbildung des Gerichts während des EVG-Verfahrens „politisch ein Fehler" wäre und von der Öffentlichkeit „als Verstoß gegen demokratische Spielregeln" bewertet werden würde. 8 7 Als i m Herbst 1955 die ersten großen Nachwahlen zum B V e r f G anstanden, schien die Zeit für eine Änderung des Richterwahlrechts gekommen. Der Regierungsentwurf enthielt neben den vom BVerfG angeregten verfahrenstechnischen Änderungen den Plan zur Umstrukturierung des Gerichts. Ziel der „großen Reform" war es, das aus zwei Senaten bestehende Gericht langfristig auf eine Spruchkammer mit neun Richtern umzustellen. Amerikanischem Vorbild folgend sollten darin vorwiegend Berufsrichter sitzen, die von der Regierungsmehrheit bestimmt wurden. U m dieses Fernziel zu erreichen, enthielt der am 3.6.55 veröffentlichte Entwurf folgende mittelfristige Lösung: Die Senate sollten von z w ö l f auf sieben Richter verkleinert und der Anteil der Berufsrichter erhöht werden. Bei der Frage des

83 Die Denkschrift ist bislang nicht veröffentlicht. Sie wurde am 23.12.54 an die Bundesregierung gerichtet und am 25.1.55 überarbeitet. Ihr Inhalt geht hervor aus Geiger, Reform, S. 214-217 und Willms, Reform, S. 126/127. 84 Der Abg. Greve (SPD) glaubte, daß der Entwurf „in der Giftküche des Bundeskanzleramts und unter Giftführung von Herrn Staatssekretär Globke entstanden" sei (BTProt. I I S. 7950). JMin Neumayer räumte ein, daß die Idee zur Änderung des Wahlrechts nicht aus seinem Hause stammte (BT-Prot. I I S. 7955). 85 Dies geht einerseits aus Booms, Kabinettsprotokolle 1952, S. 131/132 hervor und andererseits aus Gotto, Tagebuch Lenz, S. 279. Dieser Ansicht waren auch andere Regierungspolitiker: von Brentano, von Merkatz und Tilmans (Booms, Kabinettsprotokolle 1952, S. 237/238 und Gotto, Tagebuch Lenz, S. 293). 86 Gedacht wurde erstens an eine Richterwahl mit einfacher Mehrheit (Schwarz/ Morsey, Teegespräche 1950-54, S. 389; Gotto, Tagebuch Lenz, S. 495). Die FAZ vom 11.12.52 S. 3 („Einfache Mehrheit für die Bundesrichter?") berichtete davon. Zweitens wurde erwogen, mehrere Verfassungsrichter zum Rücktritt zu bewegen; „damit wäre das Gericht gesprengt" (Gotto, Tagebuch Lenz, S. 480, 493). Drittens wurde überlegt, die gesetzliche Zuständigkeit der Senate nach § 14 BVerfGG so zu ändern, daß für alle EVG-Klagen der Zweite Senat zuständig wäre (Gotto, Tagebuch Lenz, S. 513, 516; ähnlich Adenauer, in: Booms, Kabinettsprotokolle 1952, S. 237/238). S7 Gotto, Tagebuch Lenz, S. 500 (ähnlich S. 563). Noch die FAZ vom 21.1.54 S. 4 berichtet, daß die BReg die Reform nicht „aus aktuellem Anlaß", d.h. nicht während des EVG-Verfahrens, vornehmen wolle. Zu den ersten Vorstößen siehe auch Gosewinkel, Adolf Arndt, S. 338 mit Fn. 542; Kommers, Politics, S. 132.

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Wahlrechts wurde die bisher geltende qualifizierte Mehrheit nicht v ö l l i g abgeschafft, aber auf den ersten Wahlgang beschränkt. Falls die erforderliche Mehrheit von drei Vierteln i m Bundestag bzw. zwei Dritteln i m Bundesrat nicht sofort erreicht wurde, sollte unverzüglich ein zweiter Wahlgang folgen, in dem die einfache Mehrheit genügte. 8 8 Die Änderung wurde damit gerechtfertigt, daß sich der bestehende Wahlmodus nicht bewährt habe. Während der EVG-Krise war es nämlich mehr als zwei Jahre lang nicht gelungen, eine offene Richterstelle neu zu besetzen. Wenngleich die Hintergründe der offensichtlich taktischen Verzögerung nie richtig aufgeklärt wurden, 8 9 hatte sich ein schwerer Mangel des Dreiviertel Wahlrechts gezeigt. Die Richterwahl konnte aus politischen Gründen verschleppt, theoretisch sogar v ö l l i g blockiert werden. Bei der Wahl durch einfache Mehrheiten war das nicht zu befürchten. Die Opposition merkte sofort, daß das Hauptanliegen des Entwurfs ein anderes war: ihr Mitspracherecht bei den Richterwahlen sollte ausgeschaltet werden. Bei erster Gelegenheit, während der laufenden Haushaltsdebatte, erklärte die SPD öffentlich ihr „ N e i n " zum Entwurf. Der Abg. Greve (SPD) hielt der Regierung am 14.6.55 vor, sie wolle das Verfassungsgericht zum Instrument ihrer Politik umformen. 9 0 Aber auch die Richter in Karlsruhe waren gegen die Wahlrechtsnovelle. Das Ansehen des Gerichts als neutrale Instanz konnte verlorengehen, wenn seine Richter allein von den Regierungsparteien gewählt wurden. Der neue Präsident des BVerfG, Josef Wintrich, und Verfassungsrichter Bernhard W o l f f rieten anläß88 BT-Drs. II, Nr. 1662, S. 1-4; Abdruck unten 4.Teil D I. 89 Der am 14.2.1952 ausgeschiedene Kurt Zweigert stand der Regierung nahe. Darum hatte sie politisch das „Vorschlagsrecht". Die Öffentliche Meinung glaubte, die SPD verzögere die Nachwahl, um ihre Mehrheit im Ersten Senat auszubauen (Kommers, Politics, S. 131). Adolf Arndt hat dem energisch widersprochen (BT-Prot. II S. 7969). Die SPD habe bereits frühzeitig dem am 18.3.54 gewählten Nachfolger, Karl Heck, zugestimmt. Das wird durch die Notizen des Staatssekretär Lenz vom 14.11.52 bestätigt. Heck nahm die Wahl aber zunächst nicht an, weil er nicht am KPD-Prozeß mitwirken wollte (Gotto, Tagebuch Lenz, S. 475). Es bleibt unklar, warum danach kein anderer Kandidat gefunden wurde. Wie Gosewinkel, Adolf Arndt, S. 338/339 mit Fn. 546 und S. 474/475 mit Fn. 166/167 zeigt, liegen zu der Wahlverzögerung eine ganze Reihe von Dokumenten in verschiedenen Archiven. Bis jetzt fehlt aber über die Vorgänge letzte Klarheit (ebenso: Kröger, Richterwahl, S. 95/96). Sicher ist, was bereits die Abg. Bucher (FDP) und Gille (BHE / GB) erklärten: Die SPD trifft keine Alleinschuld an der Verzögerung (BT-Prot. I I S. 7957/7960). Umgekehrt ist aber auch eine absichtliche Wahlverschleppung der Regierungsseite wenig wahrscheinlich (a. Α.: Laufer, Politischer Prozeß, S. 247/248; Billing, Richterwahl, S. 194/ 195). Vielmehr hatten vermutlich beide Seiten zu viel Angst, einen „unsicheren Kantonisten" zu wählen. Keine Seite war aber bereit, einem profilierten Mann der Gegenseite zuzustimmen (ähnlich Gosewinkel, Adolf Arndt, S. 475 mit Fn. 167). 90 BT-Prot. I I S. 4752-4756; Laufer, Politischer Prozeß, S. 180.

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lieh einer Anhörung vor dem Rechtsausschuß des Bundesrates von der geplanten Regelung ab. Verfassungsrichter Leibholz ging noch einen Schritt weiter. Er trat bei einer Diskussion mit Heidelberger Studenten am 18.6.55 an die Öffentlichkeit. Das „kunstvolle Gleichgewicht der Gewalten" sei bedroht, wenn das BVerfG zum „Regierungsgericht" umgestaltet werde. 9 1 Wenige Tage später, am 24.6.55, veröffentlichte das B V e r f G einen nicht minder eindeutigen Plenumsbschluß. Darin heißt es, die Gesetzesinitiative sei „keine Verbesserung, sondern geradezu eine Verschlechterung des jetzigen Wahl Verfahrens. . . . Schon die Gefahr, daß die nach einem solchen Verfahren gewählten Richter als Vertreter einer politischen Richtung erscheinen könnten, sollte es ausschließen, das bisherige Verfahren in der vom Regierungsentwurf vorgeschlagenen Weise zu ändern." 92 Trotz der klaren Worte aus Karlsruhe kam es nicht, wie mehrfach zu lesen ist, 9 3 zu einem Aufstand der Öffentlichen Meinung. In der Presse gab es zwar kritische Stellungnahmen. 9 4 Diese finden sich aber vorwiegend auf den Seiten Drei, Vier oder Fünf. Einige einflußreiche politische Blätter berichteten über den Regierungsentwurf gar nicht. 9 5 Inhaltlich dürfte die Kommentierung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung typisch gewesen sein. Sie hielt den Entwurf nicht für einen Anschlag auf das B V e r f G . 9 6 Der Wahlmodus sei i m Grunde reformbedürftig, der Regierungsentwurf verfehle jedoch sein Ziel und bringe „Eine zu einfache L ö s u n g " . 9 7 Die juristische Fachwelt reagierte auf die Gesetzesinitiative verhalten. V o n den Standesverbänden bezog lediglich der Anwaltsverein kritisch Stellung. 9 8 In 91 FAZ vom 18.6.55 S. 4 und SZ vom 23.6.55 S. 5; vgl. auch Leibholz, Strukturprobleme, S. 182. 92 Der Textauszug wurde vom Abg. Metzger (SPD) am 27.10.55 im Bundestag (Prot. II S. 5939) vorgelesen. Bis auf die Debattenzitate ist der Wortlaut der Erklärung nicht bekannt. Ihr Inhalt wird referiert in der FAZ vom 25.6.55 S. 3. 93 Billing, Richterwahl, S. 138; Dopatka, Umwelt, S. 43; Bachof, Richterliche Kontrollfunktion, S. 45; Metzger, BT-Prot. I I S. 5936; Bahlmann, Mitwirkung, ZRP 73, S. 288. 94 Zitiert werden mit kritischen Äußerungen folgende überregionale Zeitungen: Stuttgarter Zeitung vom 18.6.56, Münchner Merkur vom 24.6.55 (Rene Marcie) und Deutsche Zeitung vom 15.6.55. Nach Laufer politischer Prozeß S. 182 auch: Frankfurter Neue Presse und Stuttgarter Nachrichten (ohne Datum). An regionalen Zeitungen werden zitiert: Rhein-Neckar-Zeitung vom 14.6.55, Mannheimer Morgen vom 15.6.55; und Fuldaer Volkszeitung vom 13.6.55. Keine Erwähnung in der Würzburger Main-Post vom Juni 55. 95 Keine Erwähnung in: Frankfurter Hefte, Der Spiegel und Die Gegenwart von 1955. Die Gegenwart berichtet erst im Rückblick kritisch (1956 S. 393/394). 96 Diesen Titel trug ein Aufsatz von Adolf Arndt (Die Justiz 1955, S. 170/171). Zu Arndts Haltung siehe Gosewinkel, Adolf Arndt, S. 470-479. 97 Titel des Kommentars von Hans Baumgarten in der FAZ vom Sa 25.6.55 S. 1. 98 Erklärung des Verfassungsausschusses des Deutschen Anwaltsvereins unter dem Vorsitz von Oscar Toepfer im Anwaltsblatt 1956, S. 7/8.

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der Fachliteratur fand man zwar ablehnende Positionen. 9 9 Die auflagenstarke Neue Juristische Wochenschrift brachte dagegen einen für die Regierung positiven Beitrag von Bundesrichter W i l l m s , dem ehemaligen Pressesprecher des BVerfG. W i l l m s stellte sogar die Frage, ob der geltende Wahlmodus mit qualifizierten Mehrheiten verfassungsmäßig sei, plädierte i m übrigen aber für eine neutrale Lösung: Falls keine Einigung zwischen den Parteien möglich sei, solle ein Richtergremium entscheiden. 1 0 0 Die eigentliche Kontroverse fand somit nicht in der Öffentlichkeit, sondern in den Bonner Entscheidungsgremien statt. Hier stieß die Regierung schon früh auf Widerstände. A m 24. Juni 1955 nahm der Bundesrat nach Art. 76 Abs. 2 S. 1 G G erstmals Stellung: Eine Änderung des Richterwahlmodus sei „nicht geboten" und in der Form wie sie der Regierungsentwurf vorsehe „weder in diesem Zeitpunkt noch zu einem späteren Zeitpunkt . . . tragbar". 1 0 1 Gleichzeitig stellte die Regierung fest, daß sie ihren Zeitplan nicht einhalten konnte. M i t der Verabschiedung des Gesetzes vor den Richternachwahlen i m Herbst 1955 war nicht mehr zu rechnen. U m zu verhindern, daß durch die Neubesetzung von acht Richterstellen die Größe des Gerichts auf Dauer festgelegt wurde, brachte die Regierung in aller Eile ein Überbrückungsgesetz ein. Inhaltlich sah das Gesetz vor, daß die neuen Richter nur auf ein Jahr gewählt wurden. Über die endgültige Besetzung der Senate sollte dann i m Herbst 1956 entschieden werden. Dieses Maßnahmegesetz war bereits v o m B V e r f G angeregt und während der Debatte i m Bundesrat befürwortet w o r d e n . 1 0 2 I m Bundestag lehnte die Opposition das Gesetz allerdings ab, weil sie grundsätzlich gegen eine Organisationsreform votierte. Einwände gegen die ungewöhnlich kurze Amtszeit wurden durch das Versprechen ausgeräumt, daß nach einem Jahr keine neuen Richter gewählt, sondern soweit wie möglich alte Richter übernommen würden. Das „Blitzgesetz" vom 5.8.55 hatte also lediglich den Sinn, die geplante Organisationsreform offen zu halten. 1 0 3 Die Erste Lesung der eigentlichen Novelle brachte für die Regierung eine Ernüchterung. I m Bundestag lehnten nicht nur die Sprecher der SPD, sondern

99 Gross, Betrachtungen, DVB1 55, S. 459; Schultz, Blick, MDR 55, S. 271; Rinck, Reform, S. 16. Scharfe Kritik war nur in hierzulande wenig gelesenen Blättern anzutreffen: Rene Marcie, (Österreichische) Juristische Blätter, 1955, H. 222, S. 3 - 6 und Günther Rösner, Neue Justiz (DDR), 1956, S. 506-508. 100 Willms, Kunstvolles Gleichgewicht, S. 1209-1211. ιοί BT-Drs. II, Nr. 1662, S. 19. 102 Vgl. FAZ vom 25.6.55 S. 3 und Laufer, Politischer Prozeß, S. 184. 103 Die Formulierung stammt von Laufer, der das Gesetz zu Unrecht als Akt der Diskriminierung des BVerfG auffaßt (Politischer Prozeß, S. 183-185).

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auch die Redner der kleineren Regierungsparteien (FDP / B H E / DP) die vorgesehene Änderung des Wahlmodus ab. Der Vertreter der C D U , Werner Weber, rechtfertigte zwar die Reformbedürftigkeit der geltenden Regelung, ließ aber die Bereitschaft zu einer anderen Lösung erkennen. 1 0 4 I m Rechtsausschuß des Bundestages waren die Vertreter der Regierungsparteien zunächst bemüht, mit der Opposition in allen Fragen Übereinstimmung zu erzielen. Wie bei der Verabschiedung des BVerfGG war man der Ansicht, daß eine Reform von derart eminenter Bedeutung für das Verfassungsleben von möglichst großem Konsens getragen sein müßte. Die erstrebte Einigung kam aber nur in den verfahrenstechnischen Fragen zustande. Die Geschäftsverteilung wurde neu geregelt, das Vorprüfungsverfahren für die Verfassungsbeschwerde eingeführt, das Gutachtenverfahren gestrichen und der Zwang zu mündlicher Verhandlung aufgehoben. Dagegen blieben das Problem der Verkleinerung des Gerichts und die Wahlrechtsfrage bis zuletzt umstritten. 1 0 5 Zwar rückten die CDU-Vertreter bereits in der ersten Sitzung von dem Regierungsmodell ab. Es zeigte sich aber, daß auch sie den Einfluß der Opposition bei den Richterwahlen schmälern wollten. Der Abgeordnete Wahl ( C D U ) machte den Vorschlag einer Vergrößerung des Wahlmännerausschusses. Falls im ersten Wahlgang keine Dreiviertelmehrheit zustande käme, sollte i m zweiten Wahlgang der Ausschuß von 12 auf 38 Köpfe vergrößert werden. Dann wurde mit Zweidrittelmehrheit entschieden. Da die SPD damals weniger als 33 Prozent der Mandate hatte, war sie auch für dieses Modell nicht zu gewinnen. 1 0 6 Die Opposition wollte auf ihre Mitwirkungsrechte nicht verzichten und war darum auf den „status quo ante" eingeschworen. Darum lehnte sie auch den Vorschlag der Regierungsparteien ab, einen Juristenbeirat einzuschalten. Dieser Beirat sollte aus zwei Rechtsprofessoren, zwei Bundesgerichtspräsidenten und zwei, später drei, Landesverfassungsgerichtspräsidenten bestehen. Der Beirat sollte eingeschaltet werden, wenn i m ersten Wahlgang keine Einigung erreicht wurde. Dann durfte er aber nicht, wie verschiedentlich vorgeschlagen, 1 0 7 anstelle des Ausschusses die Richter wählen. Dies hätte Art. 94 Abs. 1 S. 2 G G verletzt. Denn die Verfassungsrichter müssen von Bundesrat und Bundestag gewählt werden. 1 0 8 Der Beirat sollte lediglich einen Vorschlag unterbreiten, 104 Stzg vom 27.10.55; BT-Prot. I I S. 5941-5944. 105 Zudem war die Schweigepflicht der Wahlmänner streitig. Zum ganzen: Laufer, Politischer Prozeß, S. 189-195. 106 Billing, Richterwahl, S. 141/142. ιόν Willms, Kunstvolles Gleichgewicht, NJW 55, S. 1211; Baumgarten, FAZ vom 25.6.55 S. 1. Die Idee geht wohl auf Höpker-Aschoff zurück (vgl. Schultz, Blick, MDR 56, S. 273). Ähnliche Vorschläge unterbreitete schon Wilhelm Throm, Was ist in Karlsruhe reformbedürftig? FAZ vom 16.12.52 S. 2.

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der dann v o m Wahlmännerausschuß mit einfacher Mehrheit angenommen werden konnte. 1 0 9 Die Opposition erkannte, daß auch bei diesem Vorschlag der zweite Wahlgang entscheiden würde. Die SPD vermutete, daß im Beirat ebenso ein konservatives Übergewicht herrschen würde wie i m Parlament. Deshalb sei die Beiratslösung nur eine „gute Tarnkappe" der einfachen Richterwahl. 1 1 0 Zudem erhob die SPD verfassungsrechtliche Bedenken. Art. 94 Abs. 1 S. 2 G G gebiete es, daß der Bundestag seine Wahlentscheidung allein treffe. Er könne und dürfe seine Verantwortung nicht an Dritte abgeben. Nachdem der Rechtsausschuß sich mehr als ein halbes Jahr vergeblich um einen Konsens bemüht hatte, war die Regierungsmehrheit entschlossen, die „ B e i ratslösung" gegen die Stimmen der Opposition durchzusetzen. Bei der Zweiten und Dritten Lesung des Gesetzes am 20.6.56 kam es zu einem mehrstündigen Schlagabtausch zwischen Regierung und Opposition. Die Kontroverse erreichte ihren Höhepunkt, als A d o l f Arndt folgenden Beschluß seiner Partei verlas: Die SPD werde erstens an Wahlen nicht teilnehmen, sobald und solange der Beirat mitwirke. Sie werde zweitens unter Beteiligung des Beirats zustandegekommene Wahlen nicht anerkennen und drittens „jedes demokratische und v o m Grundgesetz zugelassene M i t t e l in Anspruch nehmen, um diesen Versuch einer Gleichschaltung des Bundesverfassungsgerichtes zu bekämpfen." 1 1 1 Obgleich der demokratische Konsens damit ernsthaft gefährdet war, entschied sich die Mehrheit in namentlicher Abstimmung für die „Beiratslösung". Außer der SPD stimmten die FDP und der GB / B H E gegen den E n t w u r f . 1 1 2 Die beiden kleineren Parteien waren zwischenzeitlich aus der Regierung ausgeschieden, aber durch Abspaltungen merklich geschwächt. Die Öffentlichkeit wurde trotz der heftigen Debatte auf das Thema nicht in besonderem Maße aufmerksam, weil zur selben Zeit i m Bundestag das wesentlich schlagzeilenträchtigere Thema der Wehrpflicht diskutiert wurde. Dabei zog die SPD sogar demonstrativ aus dem Plenarsaal aus. Soweit die Presse über die Verfassungsgerichtsnovelle berichtete, war das Echo überwiegend negativ. Nur selten wurde die Entscheidung als Schritt zur Entpolitisierung der Richterwahl angesehen. 113 Überwiegend sah man darin einen Versuch der Regierung, die Opposition zu schwächen und das B V e r f G auf Regierungskurs zu bringen. 1 1 4

!°8 Diesen Einwand brachte Justizminister Neumayer bereits in der Ersten Lesung des Gesetzes am 27.10.55 vor (BT-Prot. I I S. 5931). •09 BT-Drs. II, Nr. 2388, S. 6/7; Abdruck unten 4. Teil D II. •io Greve (SPD), BT-Prot. I I S. 7953. in BT-Prot. II S. 7970. 1 '2 Einige Abgeornete von FDP und GB / BHE stimmten dafür. Die DP stimmte nicht geschlossen ab (BT-Prot. I I S. 8033-8037). 113 FAZ vom 21.6.56 S. 1.

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Der Bundesrat war in dieser Situation bemüht, die Konfrontation mit der SPD zu vermeiden. Zudem hielten auch die CDU-Ministerpräsidenten den Bundestagsbeschluß für verfassungsrechtlich bedenklich. Der Bundesrat rief darum den Vermittlungsausschuß an. Dort wurde am 5. Juli 1956 schließlich doch noch ein Kompromiß gefunden. Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg Gebhard M ü l l e r ( C D U ) , später selbst Präsident des BVerfG, machte den „erlösenden V o r s c h l a g " : 1 1 5 Die Mehrheitsparteien verzichteten auf den umstrittenen Beirat. A n seiner Stelle erhielt das BVerfG ein allerdings unverbindliches Vorschlagsrecht. I m Gegenzug erklärte sich die Opposition mit der geplanten Verkleinerung des Gerichts einverstanden. Außerdem akzeptierte die SPD eine Senkung des Quorums. I m Bundestag sollte statt der Dreiviertelmehrheit fortan wie i m Bundesrat eine Zweidrittelmehrheit genügen. Der Kompromiß wurde von Bundesrat und Bundestag mit überwältigender Mehrheit angenommen 1 1 6 und ist noch heute geltendes Recht. Dadurch wurde zwar die Gefahr der Verzögerung oder Blockierung von Richterwahlen nicht beseitigt, sondern nur unwesentlich verringert. Den Regierungsparteien gelang es aber, ihren Einfluß auf die Zusammensetzung des B V e r f G zu verstärken. 1 1 7 Denn die SPD besaß in dem zwölfköpfigen Wahlmännerausschuß mit ihren vier Vertretern keine Sperrminorität mehr. I m zweiten und i m dritten Deutschen Bundestag konnte sie nur mit Hilfe des FDP-Mannes Regierungskandidaten ablehnen. Für die FDP saß allerdings Thomas Dehler im Wahlmännerausschuß, der seit der EVG-Krise an einer Korrektur der Besetzung des „roten Senats" interessiert war. Vieles spricht dafür, daß er bei den Nachwahlen 1956 mit der Regierung an einem Strang zog.

114 SZ vom 5.5.56 S. 4 (Ein Gericht wartet auf seine Reform. Kritisches Für und Wider zu dem Gesetzentwurf — gemäßigte Kritik), vom 23.6.56 S. 3 (Kampf um die Verfassungsjustiz — scharfe Kritik). Ferner werden mit kritischen Stellungnahmen angeführt: Die Stuttgarter Zeitung vom 18.6.56 und die Frankfurter Neue Presse vom 27.7.56. Wenig Kritik übt Die Zeit in der Rubrik Wichtig und Warum (28.6.56 S. 2; 12.7.56 S. 2). Von den regionalen Zeitungen wird nur eine ablehnende Äußerung der Braunschweiger Zeitung vom 21.6.56 zitiert. Die Würzburger Main-Post vom Juni/Juli 1956 berichtet von der Novelle nicht. Von den politisch-kulturellen Zeitschriften bezieht nur Die Gegenwart, 1956, S. 393/ 394 kritisch Stellung. Der Spiegel und die Frankfurter Hefte von 1956 streifen das Thema nicht. In den Fachzeitschriften äußerten sich kritisch: Gross, Betrachtungen, DVB1 56, S. 440-442 und Schultz, Blick, MDR 56, 440-442. Auf unkommentierte Tatsachendarstellung beschränkt sich Nennstiel, Reform, S. 2-6. Im übrigen wird die Entstehungsgeschichte nicht oder nur kurz und kommentarlos referiert. us Laufer, Politischer Prozeß, S. 198. "6 Nachweise bei Eichborn, Wahl, S. 54. 117 Im Ergebnis ebenso: Seifert, Restauration und Grundgesetz, S. 52, Rupp, Geschichte, S. 144 und Dopatka, Umwelt, S. 43.

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Jedenfalls wurden anläßlich der Verkleinerung der Senate die bestehenden Ungleichgewichte beseitigt. Saßen vorher sieben oppositionsnahe Richter auf den insgesamt z w ö l f Stühlen des Ersten Senats, so wurde durch die Stellenstreichung ein Patt von 5 : 5 hergestellt. I m Zweiten Senat wurde die Regierungsdominanz von ursprünglich 8 : 4 Richtern auf ein Verhältnis 6 : 4 reduziert. 1 1 8 Wenngleich die Regierung 1963 bei der zweiten Verkleinerung der Senate ihre Vorschlagsrechte noch auf ein Verhältnis von 5 : 3 in beiden Senaten ausbauen konnte, war die Reform für die C D U kein durchschlagender Erfolg. Z u m einen blieb die C D U stets auf die FDP angewiesen. Ihr mußten Zugeständnisse in Form eines Richtersitzes je Senat gemacht werden. Z u m anderen erreichte die SPD-Opposition langfristig im Bundestag wieder die 33-Prozent-Marke. Der heilsame Zwang zum Kompromiß blieb erhalten.

I V . Der Fernseh-Streit Auch nach der Verfassungsgerichtsnovelle blieb das Verhältnis der Regierung Adenauer zu den Karlsruher Richtern getrübt. Das zeigte sich bei den mündlichen Verhandlungen i m Parteispenden- und i m Konkordatsprozeß. 1 1 9 Besonders augenfällig wurde das schlechte K l i m a 1961 nach der Entscheidung über das Zweite Deutsche Fernsehprogramm. Adenauer war nach seinem deutlichen Wahlsieg 1957 zu der Überzeugung gekommen, daß bei den nächsten Wahlen Radio und Fernsehen eine weit größere Rolle spielen würden als bisher. Er glaubte, daß die Rundfunkreporter in ihrer Mehrzahl der Opposition nahestünden und daß die SPD auf die bestehenden Runkfunkanstalten der Ländern einen zu großen Einfluß ausüben w ü r d e . 1 2 0 Aus diesem Grund versuchte er, neben den bestehenden Landessendern mehrere Rundfunkanstalten des Bundes ins Leben zu rufen. Er plante einen neuen Kurzwellensender, „ D i e Deutsche Welle", einen neuen Langwellensender, den „Deutschlandfunk", und ein neues Fernsehprogramm, das „Deutschlandfernsehen". Die Sendeanstalten sollten durch einen Staatsvertrag mit den Ländern gegründet werden. Die von 1958 bis 1960 geführten Verhandlungen erwiesen sich jedoch als außerordentlich schwierig. Denn im Grunde waren alle Ministerpräsidenten — ganz gleich welcher politischen Richtung — an einer Beteiligung des Bundes i m Rundfunkbereich nicht interessiert. Sie stimmten lediglich der us Die „Richterstellen-Arithmetik" folgt Kommers, Politics, S. 128-138. Die Zurechnung des Präsentationsrechts besagt nicht, daß die Richter Parteileute sind. Denn die Vorschläge einer Seite können von der anderen Seite abgelehnt werden. Das bewirkt, daß Vertreter eines extremen Parteiflügels nicht ins BVerfG kommen und daß oft Richter ohne Parteibuch gewählt werden. 119 Dazu Rupp, Umgang, S. 374-376, Laufer, Politischer Prozeß, S. 476-477 und Gosewinkel, Adolf Arndt, S. 485. 120 Schwarz, Geschichte III, S. 167.

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Schaffung der Hörfunksender zu, weil „ D i e Deutsche W e l l e " und der „Deutschlandfunk" in erster Linie für den Auslandsempfang gedacht waren. Bei dem Fernsehprojekt der Regierung machten sie hingegen keine Zugeständnisse. 121 Adenauer war entschlossen, das zweite Fernsehprogramm notfalls i m Alleingang durchzusetzen. Er gründete am 25. Juli 1960 auf privatrechtlichem Wege die Deutschland-Fernsehen-GmbH. Der Bund war Hauptgesellschafter der G m b H mit 12.000 von 23.000 D M Stammkapital. Die Länder sollten als weitere Gesellschafter hinzutreten mit einem Anteil von insgesamt 11.000 D M . Bei Gründung der Gesellschaft wurden sie durch Bundesjustizminister Schäffer als „Treuhänder" vertreten. Adenauers Konzeption sah vor, daß die Gesellschafterversammlung keinen unmittelbaren Einfluß auf die Programmgestaltung hatte. Sie bestimmte lediglich die Satzung und hatte das Recht, den Aufsichtsrat zu wählen. Der Aufsichtsrat war das zentrale Gremium und bestand aus zehn staatlichen Vertretern und fünf Vertretern gesellschaftlicher Gruppen. Er hatte die Programmgestaltung zu überwachen und wählte den Fernsehintendanten, der die Aufgaben eines Geschäftsführers der G m b H wahrnahm. Die Deutschland-Fernsehen-GmbH trug in erster Linie die Programmverantwortung. Sie mußte die Fernsehsendungen nicht in eigener Regie herstellen. Vielmehr sollten andere privatwirtschaftliche Gesellschaften, insbesondere die 1958 von mehreren Pressekonzernen gegründete „Freies Fernsehen G m b H " als Programmanbieter auftreten. Die Reaktion der Länder auf Adenauers Privatfernsehen war ablehnend. Keines der elf Länder trat der Gesellschaft bei und übernahm den vorgesehenen Anteil von 1.000 D M . Der „Treuhänder", Justizminister Schäffer, übertrug darum am 25.8.1960 alle Anteile an den Bund zurück. Die „Deutschland-Fernsehen-GmbH" war damit zu hundert Prozent in der Hand des Bundes. Die Landespolitiker der C D U / C S U suchten gleichwohl mit ihrem Kanzler den Ausgleich. In einem Verwaltungsabkommen vom November 1960 anerkannten die Ministerpräsidenten der unionsregierten Länder das Recht des Bundes, ab 1.1.1961 — vorläufig mit Hilfe der Deutschland-Fernsehen-GmbH — Sendungen auszustrahlen. 122 Die SPD-regierten Länder Hamburg, Niedersachsen, Bremen und Hessen richteten dagegen mehrere Klagen ans BVerfG, die in Karlsruhe zu einem Verfahren verbunden wurden. I m Mittelpunkt des Prozesses stand der Bund-Länder-Streit nach A r t 93 Abs. 1 Nr. 3 G G . 1 2 3 Kernfrage des Rechtsstreits war, ob der Bund die Befugnis besitzt, ein eigenes Fernsehprogramm auszustrahlen.

121 Laufer, Politischer Prozeß, S. 450; BVerfGE 12, 212/213. 122 Laufer, Politischer Prozeß, S. 455. 123 Daneben wurde das Rundfunkmonopol der Landessendeanstalten nach § 3 des ARD-Staats Vertrages Gegenstand eines Normenkontrollantrages der Hansestadt Hamburg (dazu BVerfGE 12, 223-243).

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Während die Länder die Rundfunkhoheit als Teil der Kulturhoheit nach Art. 30 GG für sich reklamierten, leitete der Bund sein Senderecht aus mehreren Rechtsnormen ab. Teils berief er sich auf das Fernmeldemonopol der Post nach Art. 73 Nr. 7, 87 Abs. 1 GG, teils leitete er eine Zuständigkeit kraft Sachzusammenhangs mit der Auswärtigen Gewalt (Art. 33 GG) ab und teils begründete der Bund seine Kompetenz aus der Natur der Sache, insbesondere weil gegenüber der ostdeutschen Propaganda eine „Repräsentation nach innen" notwendig sei. 1 2 4 Die SPD-regierten Länder wurden i m Prozeß durch A d o l f Arndt vertreten. Ihm gelang es, die Aufmerksamkeit der Richter auf zwei weitere Punkte zu lenken. Erstens war der Bund nunmehr alleiniger Gesellschafter der GmbH. Die Regierung konnte in der „Gesellschafterversammlung" das Fernsehen nach Belieben umstrukturieren, so daß die Gefahr eines Regierungsfernsehens entstand. Damit war die durch Art. 5 G G geforderte Freiheit des Rundfunks vom Staat nicht gewährleistet. Zweitens hatte der Bund bei Schaffung der DeutschlandFernsehen-GmbH mit den Ländern nicht richtig verhandelt. Zwar wurden die CDU-Ministerpräsidenten parteiintern rechtzeitig informiert. Die übrigen Länder erfuhren aber erst kurz vor Gründung der G m b H von den Plänen der Regierung und wurden damit praktisch vor vollendete Tatsachen gestellt. Nach Arndts Ansicht wurde damit die Gleichheit der Länder mißachtet und die Pflicht des Bundes zu länderfreundlichem Verhalten verletzt. 1 2 5 Die Vertreter der Bundesregierung, Staatssekretär Anders und Rechtsanwalt Möhring, vermochten beide Argumente nicht zu entkräften. Bei der Frage der Rundfunkfreiheit konnten sie zwar auf die Beteiligung der Kirchen und Gewerkschaften i m Aufsichtsrat verweisen. Bei der Darstellung von Adenauers Verhandlungsführung machten sie aber eine äußerst unglückliche F i g u r . 1 2 6 Staatssekretär Anders bestritt nämlich, daß die SPD-regierten Länder erst vier Tage vor Gründung der G m b H informiert wurden. Er wurde allerdings durch einen Brief von Ministerpräsident Altmeier ( C D U ) widerlegt, in dem alle anderen Termine als Parteigespräche bezeichnet wurden. A m Ende der mündlichen Verhandlung wurde Staatssekretär Anders mit Hilfe des Briefes regelrecht in die Enge getrieben. 1 2 7 Für Beobachter des Prozeßverlaufes war daher weder die einstweilige Anordnung vom 17.12.1960 überraschend 128 noch das endgültige Verbot der Deutsch124 Hier können nur einige Argumente wiedergegeben werden. Der ganze Streit mit allen Akten wurde dokumentiert von Regierungsdirektor am BVerfG Günter Zehner: Der Fernsehstreit vor dem BVerfG, 2 Bände, Karlsruhe 1964. »25 Zur Rolle Arndts ausführlich: Gosewinkel, Adolf Arndt, S. 502-508. 126 Das war nicht nur die Einschätzung des Spiegels (1960 H. 50, S. 25-28), sondern auch die Meinung von Innenminister Schröder (BT-Prot I I I S. 8411). 127 Brief und mündliche Befragung sind bei Zehner, Fernsehstreit II, S. 11-13 und S. 284-288 abgedruckt. 1 28 BVerfGE 12, 36-45. Nach der einstweiligen Anordnung rechneten mit einer Niederlage: Die Zeit vom 23.12.60S. 1, Der Spiegel, 1961, H. 1,S. 15, Albers, Frankfurter Hefte, 1960, H. 12, S. 853 und Wagner, Die politische Meinung, 1961, H. 56, S. 8-

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land-Fernsehen-GmbH am 28. Februar 1961. 1 2 9 Überraschend war nur, daß das BVerfG den Ländern in nahezu allen Punkten Recht gab und dem Bund jedwede Beteiligung am deutschen Fernsehen absprach. Das Kabinett reagierte auf die Entscheidung anfangs verhalten. Beim Kanzlertee vom 2.3.61 fiel keine K r i t i k , und Adenauer gab die Devise aus, daß nun die Länder das Problem des Zweiten Deutschen Fernsehens lösen müßten. 1 3 0 Die Stimmung im Kabinett scheint erst nach Durchsicht der schriftlichen Gründe den Tiefpunkt erreicht zu haben. Das BVerfG begnügte sich nämlich nicht mit der Klärung der Kompetenzfrage. Es fügte unter ausführlicher Begründung hinzu, daß der Verhandlungsstil Adenauers in dreifacher Hinsicht den Grundsatz der Bundestreue verletzt habe. Die Ungleichbehandlung der Länder, die Bestellung eines „Treuhänders" gegen deren W i l l e n und die Schaffung vollendeter Tatsachen seien verfassungswidrig gewesen. Außerdem rückte es die Deutschland-Fernsehen-GmbH in die Nähe des nach 1933 betriebenen und von Art. 5 Abs. 1 G G gerade verbotenen Staatsrundfunks. 131 Während die Öffentlichkeit das Fernsehurteil überwiegend positiv aufnahm, 1 3 2 war Adenauer über die vernichtende Beurteilung seines Vorhabens und seines Verhandlungsstils sicherlich verärgert. Bei der wenige Tage später angesetzten Haushaltsdebatte stand er zudem vor der mißlichen Lage, die nicht unerheblichen Kosten des Fernsehprojekts rechtfertigen zu müssen. Denn der Bund hatte nicht nur die Gründungskosten der Deutschland-Fernsehen-GmbH zu tragen, sondern auch eine Ausfallhaftung für die „Freies Fernsehen G m b H " übernommen. Der Schaden wurde auf etwa 120 M i l l i o n e n D M geschätzt. Adenauer wählte den A n g r i f f als M i t t e l der Verteidigung und erklärte am 8. März 1961 vor dem Bundestag: „Sobald wir im Besitz des Urteils waren und unsere besonders Sachverständigen sich durchgearbeitet hatten, ist das Kabinett zu einer Sitzung zusammengetreten, um zu diesem Urteil und zu diesem Fernsehstreit Stellung zu nehmen. Die Beschlüsse, die das Kabinett gefaßt hat, sind einstimmig gefaßt worden. Das Kabinett war sich darin einig, daß das Urteil des Bundesverfasungsgerichts falsch ist, meine Damen und Herren." 133

129 BVerfGE 12, 205-264. "30 Morsey / Schwarz, Teegespräche 1959-61, S. 472-484 (480). •31 BVerfGE 12,254-264. Gegen diese Urteilspassage richtete sich auch die juristische Kritik (vgl. Zeidler, Fernseh-Urteil, S. 399-404). Dagegen stimmen Laufer, Politischer Prozeß, S. 461 und Rupp, Entwicklungslinien, S. 130-134 dem Urteil zu. 132 Positiv urteilten: Der Spiegel, 1961, H. 11, S. 15-27, Die Zeit vom 3.3.61 S. 1 und Müller-Meiningen jr., Eine Lektion für Bonn, SZ vom 1.3.61, S. 1. Weitere Nachweise bei Dopatka, Umwelt, S. 82. Hingegen kommentierte die FAZ vom 1.3.61 S. 1 zurückhaltender: Das Urteil entspreche der Verfassung. Eine Zuständigkeit des Bundes wäre aber wünschenswert. 133 BT-Prot. I I I S. 8308. Die ungewöhnliche Formulierung „besonders Sachverständige" steht im Wortprotokoll.

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Als es daraufhin bei der Opposition Gelächter und Protest gab, fügte der Kanzler abschwächend hinzu, das Urteil müsse aber den Gesetzen entsprechend beachtet werden. Adenauers durchaus überlegter A n g r i f f auf das BVerfG sorgte i m Bundestag für Zündstoff. Während der mehrtägigen Haushaltsdebatte kam das FernsehUrteil immer wieder zur Sprache. Die Redner von SPD und FDP wiesen die Urteilsschelte des Kanzlers energisch zurück. Oppositionsführer Fritz Erler erklärte „ i n Ländern mit alter demokratischer Tradition wäre nach einem solchen Urteil die Regierung zurückgetreten", zumindest „hätte der Regierungschef . . . seine verantwortlichen Berater entfernt". 1 3 4 Die Vertreter der Regierungsparteien sahen dagegen keinerlei Anlaß zum Rücktritt. Aus ihren Reihen war das Urteil schon vorher kritisiert worden. 1 3 5 Bemerkenswerterweise vermieden es aber fast alle Redner der C D U / CSU, von einem falschen Urteil zu sprechen. Justizminister Schäffer versuchte sich sogar durch den Hinweis aus der Affäre zu ziehen, er sei erst am Sonntag vor Gründung der Fernseh-GmbH informiert worden und habe sich dabei ganz auf seine Juristen verlassen. 1 3 6 Lediglich Innenminister Schröder verteidigte die Kabinettslinie und nahm das Kanzlerwort vom falschen Urteil auf. Die Entscheidung habe die jahrelangen Bemühungen der Regierung um einen Kompromiß mit den Ländern nicht beachtet. Es sei „tief betrüblich", daß der Bund nun noch weniger Kompetenzen habe als in der Weimarer Republik. Damit werde „Weimar noch nachträglich dementiert". Schröder fuhr fort: „Meine Damen und Herren, wenn man aus einer solchen Perspektive die deutsche Gegenwart und die deutsche Zukunft sehen will, dann kann einem angst und bange werden. Das sage ich ihnen ganz offen." 1 3 7 Die Presse kommentierte die Urteilsschelte unterschiedlich. Die regierungsfreundliche Frankfurter Allgemeine Zeitung fand die Verstimmung i m Kabinett 134 BT-Prot. I I I S. 8317. Ähnlich äußerte sich Ewald Bucher für die FDP (S. 8325). Am zweiten Tag der Haushaltsdebatte war Gustav Heinemann Hauptredner der Opposition (S. 8399-8405). Adolf Arndt sprach von einem „unmöglichen Verhalten in einem Rechtsstaat" (S. 8421). 135 BT-Präs. Gerstenmaier und Fraktionsvorsitzender Krone hatten sich bereits am Vortag bei der Fraktionsbesprechung der CDU / CSU kritisch zum Urteil geäußert (MainPost vom 8.3.61 S. 1). Besonders harte Kritik gab es in regierungsnahen politischen und juristischen Zeitschriften (Wagner, Die politische Meinung, 1961, H. 58, S. 5/6; Martini, Die Dritte Gewalt, 1961, H. 5, S. 1 -6; Bergein, Die Dritte Gewalt, 1961, H. 7, S. 4-89). Verfassungsrichter Geiger entgegnete dieser Kritik (Gefährliche Spekulationen, S. 1-3). 136 BT-Prot. I I I S. 8413/8414. 137 BT-Prot. I I I S. 8407; Schröder sprach weder davon, daß die Karlsruher Richter der Regierung einen „Denkzettel" verpassen wollten, noch nannte er das Urteil „fatal". Die entsprechenden Darstellungen der SZ vom 10.3.61 S. 2/3, ihr folgend Zeidler, Femseh-Urteil, S. 366, sind unrichtig. 4*

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verständlich. 1 3 8 Hingegen bewerteten die Süddeutsche Zeitung und das Wochenblatt Die Zeit Adenauers und Schröders Äußerungen mit: „unerhörter V o r w u r f 4 und „schlechter S t i l " . 1 3 9 Rhetorisch treffsicher setzte der Präsident des BVerfG, Gebhard M ü l l e r , 1 4 0 einen Schlußstrich unter die Debatte. Er veröffentlichte am 15. März 1961 eine ganz apodiktisch gefaßte Erklärung, die in den meisten Tageszeitungen abgedruckt wurde: „1. Jedermann steht es frei, Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts kritisch zu würdigen oder auch für falsch zu halten. 2. Kein Verfassungsorgan ist nach der grundgesetzlichen Ordnung befugt, zu beschließen, ein Spruch des Bundesverfassungsgerichts entspreche nicht dem Recht. 3. Der Boden einer sachlichen Kritik wird verlassen, wenn dem Gericht unterstellt wird, eine Entscheidung sei durch Ressentiments beeinflußt. Dieser in der Öffentlichkeit gegen das Gericht erhobene Vorwurf wird mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen." 141 In politischer Hinsicht lösten schließlich die Ministerpräsidenten der Länder das Problem des zweiten Fernsehsenders. Unmittelbar nach Erlaß des Urteils begannen sie mit gemeinsamen Verhandlungen, die noch 1961 zur Gründung des Zweiten Deutschen Fernsehens führten. Das Z D F ist heute eine Gemeinschaftseinrichtung der Länder und eine öffentlich-rechtliche Sendeanstalt.

B. Die Zeit der sozial-liberalen Koalition I . Die Ä r a Brandt (1969-1974) Als W i l l y Brandt i m Jahre 1969 ins Kanzleramt einzog, war das Verhältnis der SPD zum BVerfG traditionell gut. Dabei waren sich die führenden Köpfe der sozial-liberalen Regierung durchaus bewußt, daß nach der herkömmlichen Besetzung von 5 : 3 Richterstellen die konservativen Richter ein leichtes Übergewicht hatten. Bei den ersten Nachwahlen zum BVerfG drängte die SPD darum auf eine den neuen Mehrheiten entsprechende Sitzverteilung. Sie erreichte jedoch 138 FAZ vom 9.3.61 S. 1. 139 Sethe, Schlechter Stil, Die Zeit vom 17.3.61, S. 1; Müller-Meiningen jr., Ein unerhörter Vorwurf, SZ vom 10.3.61, S. 3. ho Gebhard Müller war bereits als Ministerpräsident von Baden-Württemberg ein Gegner des Bundesfernsehens. Sehr fraglich ist aber, ob die Feststellung von Schwarz, Geschichte III, S. 167 zutrifft, daß Müller Anteil am Scheitern des Adenauer-Fernsehens hatte. Denn das Urteil wurde vom Zweiten Senat gefällt. Gebhard Müller hatte aber den Vorsitz im Ersten Senat. 141 Abdruck in SZ vom 16.3.61 S. 2, FAZ vom 16.3.61 S. 4 und DRiZ 1961, S. 124. Der dritte Punkt der Presseerklärung betrifft vermutlich die oben erwähnten Stellungnahmen in regierungsnahen Zeitschriften (Fn. 135). Denn die Formulierung Müllers ähnelt stark der Erwiderung Geigers (Gefährliche Spekulationen S. 1).

Β. Die Zeit der sozial-liberalen Koalition

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nur im Zweiten Senat ein Patt von 4 : 4 Sitzen, mußte dafür aber der Union das Zugeständnis machen, daß ihr früherer Innenminister Ernst Benda ( C D U ) neuer Präsident des B V e r f G w u r d e . 1 4 2 7. Die Reformdebatte

— ein Exkurs

W i e harmonisch das Verhältnis zwischen BVerfG und Regierung anfangs war, zeigte ein Vorstoß aus den Reihen der Unionsparteien. Schon während der Großen Koalition hatte sich der C D U - A b g . Hans Dichgans 1 4 3 als engagierter Verfechter der Totalrevision des Grundgesetzes einen Namen gemacht. Dabei war er in seinen R e d e n 1 4 4 und Schriften 1 4 5 auch für eine grundlegende Reform des BVerfG eingetreten. Er wünschte ein Einheitsgericht nach dem V o r b i l d des Supreme Court der Vereinigten Staaten und glaubte, daß das B V e r f G sich ganz i m Gegensatz zu dem amerikanischen Gericht zu sehr in politische Entscheidungen einmische und den Gestaltungsspielraum der Parlamente zu stark einenge. Als i m März 1970 die Erste Lesung der Vierten Verfassungsgerichtsnovelle anstand, unterbreitete Dichgans eine Reihe von Änderungsvorschlägen. Davon wurden einzelne Ideen „als bedenklicher Versuch" gewertet, „unbequeme K r i t i k des BVerfG mithilfe eines Kunstgriffs zu erschweren". 1 4 6 Dichgans schlug insbesondere vor, die Abstimmungsmehrheiten i m Gericht zu ändern. Für die Feststellung, daß ein Gesetz verfassungswidrig ist, genügt nach § 15 Abs. 3 S. 2 Β VerfGG die einfache Mehrheit. Dichgans war das zu wenig. Wenn das Gericht die Rechtsansicht von Bundesregierung, Bundestag, Bundesrat und Bundespräsident nicht teile, müsse es einen höheren Grad an „Rechtsgewißheit" besitzen. Deswegen sollte künftig in § 15 Abs. 3 S. 2 Β VerfGG eine Zweidrittelmehrheit festgeschrieben werden. 1 4 7 Dichgans schlug außerdem vor, daß das Verfassungsgericht mehr den Charakter einer Revisionsinstanz annehmen solle. Es solle nicht mehr wie bisher nach 142 Waldinger, Wahl, S. 87-91, 99; Kommers, Politics, S. 130, 140-143; Kröger, Richterwahl, S. 97/98; Frank, Richterwahlen, S. 42-44; Dopatka, Umwelt, S. 44-46. 143 Hans Dichgans (1907-1980) gehörte von 1961 bis 1972 dem Parlament an. Seine Memoiren wurden vom Bundestag hrsg.: Abgeordnete des Deutschen Bundestags. Aufzeichnungen und Erinnerungen, Band 1, Boppard 1982, S. 81-225. 144 BT-Prot. V S . 11677-11679. Die Novelle war bereits im Frühjahr 1969 eingebracht worden, konnte aber aus Zeitgründen bis zum Ende der Legislaturperiode im Herbst 1969 nicht mehr verabschiedet werden (RA-Prot. V, 117. Stzg, S. 10-21 und 125. Stzg, S. 12). 145 Dichgans, Unbehagen, S. 260-266, Überlegungen, S. 154-192. 146 Rupp, RA-Prot. VI, 17. Stzg, Anlage 4, S. 5. 147 Dichgans stellte zuerst die Frage, ob ein einstimmiges Votum nötig sei (BT-Prot. V S. 11877-11679). Später vertrat er die Ansicht, die Mehrheit im BVerfG solle der Mehrheit im Bundestag entsprechen (Überlegungen, S. 189-192; BT-Prot. V I S. 1908). Erst im RA kam der endgültige Vorschlag eines Zweidrittelquorums (RA-Drs. VI, Nr. 14, S. 7 — Abdruck unten 4. Teil F.).

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1. Teil: Streitgeschichte

§ 26 B V e r f G G über alle Sachfragen selbst Beweis erheben, sondern sich auf die Klärung der Rechtsfragen beschränken. Durch Einfügung eines neuen § 26 a B V e r f G G wollte Dichgans das Gericht an die Tatsachenfeststellungen und Prognoseentscheidungen des Gesetzgebers binden, solange kein Fall offenkundigen Mißbrauchs v o r l a g . 1 4 8 Wenngleich Dichgans ein gewisser Reformidealismus nicht abgesprochen werden kann, so ist doch nicht zu verkennen, daß beide Vorschläge einen starke Schwächung des B V e r f G bewirkt hätten. 1 4 9 Denn i m Verfassungsprozeß fallen nicht selten Entscheidungen nur mit einfacher Mehrheit und auch die Tatsachenfeststellung hat eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Politisch waren die Vorschläge aus Sicht der C D U / C S U sogar unklug. Denn dadurch wären in erster Linie ihre Möglichkeiten als Oppositionspartei beschränkt worden, vor dem BVerfG eine Korrektur der von der Regierungsmehrheit getragenen Gesetze zu erreichen. Aber auch die Regierungsparteien dachten nicht machtpolitisch. Ihnen ging es um eine Verbesserung der institutionellen Stellung des BVerfG. Aus diesem Grund meldete der Sprecher der SPD, Claus A r n d t , 1 5 0 schon frühzeitig „große Bedenken" a n . 1 5 1 Unter diesen Umständen kam der Anhörung der Verfassungsr i c h t e r 1 5 2 und Staatsrechtslehrer i m Rechtsausschuß besondere Bedeutung z u . 1 5 3 Als sie teils aus verfassungsrechtlichen, teils aus verfassungspolitischen Gründen beide Vorschläge ablehnten, entschied sich eine breite Mehrheit im Rechtsausschuß gegen die Erhöhung des Abstimmungsquorums. 1 5 4 Den Vorschlag zur Einführung eines § 26a BVerfGG nahm Dichgans sogar selbst zurück. 1 5 5 2. Der Prozeß um den Grundlagenvertrag Das gute Verhältnis trübte sich erst in der zweiten Legislaturperiode der sozialliberalen Koalition ein. Dabei bedeutete das Verfahren um den Grundlagenvertrag 148

Abdruck unten 4. Teil E sowie bei Geck, Vorwort, S. 5; Dopatka, Umwelt, S. 66; Bach, Prognosen, S. 66/67. 149 Geiger, Lage, S. 126-130; Dopatka, Umwelt, S. 65-67. 150 Claus Arndt, Sohn von Adolf Arndt, war von 1969-72 und von 1974-76 im Bundestag. Seine Memoiren wurden vom Bundestag herausgegeben: Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Aufzeichnungen und Erinnerungen, Band 5, Boppard 1988, S. 9-114. •si BT-Prot. V I S. 1914. 152 Am 23.4.70 fand in Karlsruhe eine Anhörung statt. Vor dem RA sprachen Gerichtspräsident Müller, Vizepräsident Seuffert sowie die Richter Geiger, Haager, Leibholz und Rupp-von Brünnek (RA-Prot. VI, 13. Stzg). 153 Am 4.6.70 wurden die Gutachter Frowein und Rupp gehört (RA-Prot. VI, 17. Stzg). Am 17.6.70 sprach Friesenhahn (RA-Prot. VI, 18. Stzg). 154 Von den 25 Abg. stimmten bei einer Enthaltung 9 für den Vorschlag (RA-Beschlußprotokoll VI, 23. Stzg, S. 5). Die Union hatte aber insgesamt 12 Sitze. 155 RA-Beschlußprotokoll VI, 23. Stzg, S. 6. Auch im Wortprotokoll findet sich keine Erklärung.

Β. Die Zeit der sozial-liberalen Koalition

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einen Wendepunkt. Z u m einen stellte sich die Frage, ob das B V e r f G durch die Terminplanung der Regierung überspielt worden sei. Z u m anderen belastete die Affäre um das Schimpfwort eines hohen SPD-Politikers die Beziehungen. Das Verfahren um den Grundlagenvertrag kann nur auf dem Hintergrund der innen- und außenpolitischen Entwicklung verstanden werden. A m Anfang der 70er Jahre war eine starke Polarisierung der gesellschaftlichen Kräfte eingetreten. Die vordem gemeinsam regierenden Volksparteien C D U und SPD hatten sich nämlich wegen der neuen Ostpolitik von W i l l y Brandt hoffnungslos zerstritten. Vielen Konservativen war der Preis, den die Regierung für die Ost-West-Entspannung zahlte, zu hoch. Sie konnten sich mit den i m Moskauer und Warschauer Vertrag enthaltenen Zugeständnissen in den Grenzfragen nicht abfinden. Der Parteienstreit eskalierte, als nach dem gescheiterten Mißtrauensvotum v o m A p r i l 1972 für das Ende des Jahres Neuwahlen ausgeschrieben wurden und die Bundesregierung in Verhandlungen mit der D D R über den Grundlagenvertrag eintrat. Der Grundlagenvertrag wurde rasch zum Wahlkampfthema. Während die Regierung Brandt / Scheel darin den Schlußstein ihrer Entspannungspolitik sah und der Bevölkerung in beiden Teilen Deutschlands menschliche Erleichterungen versprach, befürchteten C D U und CSU die völkerrechtliche Anerkennung der D D R . Aus Sicht der Unionsparteien wurde der Einheitsanspruch Deutschlands für das Linsengericht gutnachbarlicher Beziehungen geopfert. Den damit verbundenen verfassungsrechtlichen Bedenken zum Trotz war der Grundlagenvertrag populär. Noch in der heißen Phase des Wahlkampfes am 8. November 1972 paraphiert, verhalf er SPD und FDP zu einem überzeugenden Wahlsieg. Damit war freilich die Verfassungsmäßigkeit des Vertrages nicht geklärt. Die C D U / CSU-Fraktion hielt es aber aus politischen Gründen nicht für opportun, nach der verlorenen W a h l den Streit in Karlsruhe fortzuführen. Ä h n l i c h urteilten die CDU-geführten Landesregierungen. A u c h die Bayerische Staatsregierung war in einer ersten Abstimmung gegen den Gang nach Karlsruhe. 1 5 6 Der Parteivorsitzende der CSU, Franz Josef Strauß, dachte anders. Er hielt die deutsche Frage für zu bedeutend, um aus tagespolitischen Gründen auf eine Klärung der Rechtslage zu verzichten. Strauß setzte es durch, daß das Bayerische Kabinett ein zweites M a l über die Klage beriet. Er selbst war als Gast anwesend. Strauß mußte am Kabinettstisch sein ganzes Gewicht als Parteichef in die Waagschale werfen, bis sich die Staatsregierung nach mehrstündiger Debatte mit knapper Mehrheit für den Klageantrag entschied. 1 5 7

156 Im Kabinett waren zunächst nur Max Streibl und Fritz Pirkl für die Klage (Strauß, Erinnerungen, S. 451; Blumenwitz, Grundvertrag, S. 5/6). Ausführlich zur Haltung der CDU: Haftendorn, Sicherheit und Entspannung, S. 393-398; Blumenwitz, Grundvertrag, S. 4-6. 157 Strauß, Erinnerungen, S. 451 /452. Nach Auskunft von Prof. Blumenwitz votierten insbesondere Franz Heubl und Hans Maier gegen die Klage.

1. Teil: Streitgeschichte

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Der Bayerische Ministerpräsident Alfons Goppel (CSU) stellte daher am 28. M a i 1973 einen Normenkontrollantrag gegen den Grundlagenvertrag. M i t der Prozeßvertretung wurde der noch junge Augsburger Völkerrechtsprofessor Dieter Blumenwitz beauftragt, der zusammen mit dem Amtschef der Bayerischen Staatskanzlei, Rainer Kessler, in relativ kurzer Zeit die notwendigen Schriftsätze ausarbeiten mußte. Denn die Bundesregierung hatte bereits für den 20. Juni 1973 den endgültigen Abschluß des Grundvertrages durch einen offiziellen Notenaustausch eingeplant. Der Klageantrag stieß in der Öffentlichkeit auf wenig Verständnis. Obwohl sich die Bayerische Staatsregierung in vielen Punkten auf die herrschende Staatsrechtslehre und die Rechtsprechung des B V e r f G berufen konnte, wurden dem Antrag nur geringe Erfolgsaussichten eingeräumt. 1 5 8 Die Bundesregierung reagierte aber keineswegs gelassen, sondern entrüstet. Sie befürchtete, was zugleich die heimliche Hoffnung der Bayerischen Kläger war: Das BVerfG konnte dem Vertrag eine verfassungskonforme

Auslegung

geben, die den Gedanken der Wiedervereinigung und das Fortbestehen der nationalen Einheit zum Inhalt hatte. Das hätte sachlich eine wesentliche Erweiterung des Grundvertrages bedeutet, vermutlich aber sein Scheitern bewirkt. Denn die D D R hatte genau diese Punkte beharrlich bestritten. Der „Grundlagenvertrag 44 war als politischer Kompromiß nur zustande gekommen, weil die juristischen Grundfragen teils ausdrücklich, teils durch mehrdeutige Formeln und teils stillschweigend ausgeklammert w u r d e n . 1 5 9 Zunächst konzentrierten sich die Bemühungen der Bayerischen Staatsregierung auf den Erlaß einer einstweiligen Anordnung, die den endgültigen Abschluß des Grundlagenvertrages am 20. Juni verhindern sollte. Obwohl die Zeit bereits drängte, blieb der erste Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung erfolglos. 1 6 0 A l l e acht Richter waren der Meinung, daß der Antrag zu früh gestellt und darum unzulässig sei. Denn der Bundespräsident hatte das Grundvertragsgesetz noch nicht ausgefertigt. 1 6 1

158 Ein näheres Eingehen auf die schwierigen, verfassungs- und völkerrechtlichen Fragen des Grundvertragsprozesses ist hier nicht möglich. Vgl. Theodor Schramm, Das Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zur DDR nach dem Grundvertrag, 2. Aufl., Köln u.a. 1975. 159 Ausdrücklich auf den fortbestehenden Dissens wiesen hin die Präambel des Vertrages („unbeschadet der unterschiedlichen Auffassungen . . . zu grundsätzlichen Fragen, darunter der nationalen Frage"), der Protokollvermerk zur Frage der Staatsangehörigkeit und der „Brief zur Deutschen Einheit". Mehrdeutig war etwa der Begriff des „Ständigen Vertreters 44, den die DDR als echten Botschafter, die Bundesrepublik als besonderen Vertreter einstufte. Stillschweigen herrschte z.B. über den Rechtscharakter der deutschdeutschen Grenze. 160 Der Prozeß wurde dokumentiert von Cieslar / Hampel / Zeitler, Der Streit um den Grundvertrag, München 1973 (= SudG) und vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Der Grundlagenvertrag vor dem BVerfG, Karlsruhe 1975 (= GvB).

Β. Die Zeit der sozial-liberalen Koalition

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Die vier der sozial-liberalen Koalition nahestehenden Richter fügten aber hinzu, daß schon deswegen keine einstweilige Anordnung ergehen könne, weil der Antrag in der Hauptsache offensichtlich unbegründet sei. Dem widersprachen zwar die anderen vier Richter mit dem zutreffenden Hinweis, daß das BVerfG bei einstweiligen Anordnungen grundsätzlich nicht auf die Erfolgsaussichten der Hauptsache abstellt. Die Regierung konnte aber den unterschiedlichen Voten entnehmen, daß in Zukunft nicht mit einer Mehrheit gegen den Grundvertrag zu rechnen war. Sie hatte Grund zum Optimismus. Aus ihrer Siegesgewißheit wurde die Bundesregierung gerissen, als die Bayerische Staatsregierung gegen den der FDP nahestehenden Richter Rottmann einen Befangenheitsantrag stellte. Bei Erfolg des Antrags wäre den vier konservativen Richter nur noch drei regierungsnahe Richter gegenübergestanden. 162 Richter Rottmann hatte nämlich kurz vor Prozeßbeginn beim FDP-Kreisverband in Karlsruhe einen Vortrag über den Grundlagenvertrag gehalten. Die Badischen Neuesten Nachrichten vom 28.4.73 berichteten, 1 6 3 daß Rottmann eindeutig für den Grundvertrag plädiert und den Fortbestand der staatlichen Einheit Deutschlands strikt abgelehnt habe. Der Verdacht der Voreingenommenheit war also nicht einfach von der Hand zu weisen. Durch die dienstliche Stellungnahme von Richter Rottmann wurde er scheinbar entkräftet. Rottmann erklärte, der Zeitungsbericht gebe den Inhalt seines Vortrags „auch nicht annähernd wieder". Zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des Grundlagenvertrags habe er nicht Stellung genommen. 1 6 4 Daraufhin wies der Zweite Senat i m Ergebnis einstimmig den Befangenheitsantrag a b . 1 6 5 Der Bayerischen Staatsregierung fiel nun allerdings ein Brief in die Hände, 1 6 6 in dem Richter Rottmann einen Gegner der sozial-liberalen Koalition von der Ostpolitik zu überzeugen sucht. Darin schreibt er unter anderem, der Artikel in den Badischen Neuesten Nachrichten gebe die Ergebnisse seines Vortrags „ m i t einigen Vergröberungen . . . zutreffend w i e d e r " . 1 6 7 Richter Rottmann gelang es 161 Abdruck der einstweiligen Anordnung mit den „concurring opinions" in BVerfGE 35, 193-202 (= SudG S. 74-81 = GvB S. 39-44). Zu Recht kritisch: Friesenhahn, Hüter, S.190/191. 162 Eine Vertretungsregel für abgelehnte Richter gab es damals nicht. § 19 Abs. 4 Β VerfGG ist erst 1986 eingeführt worden (Schiaich, BVerfG, Rn.69). 163 Abdruck in SudG S. 15/16. 164 Abdruck in SudG S. 18/19. Zusammenfassende Wiedergabe in BVerfGE 35, 171 / 172. 165 Die Mehrheitsbegründung (BVerfGE 35,173 -175 = SudG S. 21 - 23 = GvB S. 415 417) ist bis heute umstritten. Das Sondervotum von Richter Wand (BVerfGE 35, 175177 = SudG S. 24/25 = GvB S. 417-419) zeigt die Gegenposition (ebenso Klein, in: Benda/Klein, VerfPR, Rn. 171). '66 Der Brief war an den Karlsruher Altstadtrat Gutmann (NPD) gerichtet, der das Schreiben an die Presse gab. Die Bayerische Staatsregierung erfuhr davon durch einen Artikel der Welt vom 14.6.73 (abgedruckt in SudG S. 29). 167 Der Brief ist abgedruckt in GvB S. 422/423 (siehe auch BVerfGE 35, 246 (247) = SudG S. 30/31).

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1. Teil: Streitgeschichte

nicht, die offenkundige Diskrepanz zu seiner dienstlichen Stellungnahme überzeugend darzustellen und den Verdacht der Befangenheit auszuräumen. Der zweite Ablehnungsantrag der Bayerischen Staatsregierung gegen Richter Rottmann hatte darum E r f o l g . 1 6 8 Nach diesem Beschluß vom 16. Juni 1973 mußte die Regierung Brandt / Scheel ein Wochenende lang um den Grundvertrag bangen. Denn nun hatten rein rechnerisch die konservativen Richter ein Übergewicht von vier zu drei Stimmen. Konnte unter diesen Umständen der für den 20. Juni 1973 geplante Notenaustausch, der die volle inner- und zwischenstaatliche Wirksamkeit des Grundlagenvertrags bringen sollte, noch stattfinden? Oder würde die neuerlich von der Bayerischen Staatsregierung beantragte einstweilige Anordnung das vorläufige Aus des Grundvertrages bringen? Die Bonner Regierung fürchtete das Schlimmste, war aber keineswegs bereit, den Grundlagenvertrag, das Prunkstück ihrer Politik, aufzugeben. Noch am selben Tag, an dem der Befangenheitsbeschluß verkündet wurde, am Samstag den 16.6.73 um 18 Uhr, fand die mündliche Verhandlung zur einstweiligen Anordnung statt. Die Verhandlung wurde nur wenige Stunden zuvor telegraphisch anberaumt, so daß die Verfahrensbeteiligten mit dem Hubschrauber anfliegen mußten. Der Prozeß um den Grundlagenvertrag erreichte seinen dramatischen Höhepunkt. Die Bundesregierung entsandte mit Egon Bahr und Gerhard Jahn zwei wichtige Minister. M i t Hinblick auf die Geheimhaltungsbedürftigkeit der Vertragsverhandlungen erreichten sie den Ausschluß der Öffentlichkeit. 1 6 9 Verfahrensrechtlich wurde allein über die Frage entschieden, ob eine Verschiebung des für die kommende Woche geplanten Notenaustausches bis zur Hauptsacheentscheidung am 31. Juli 1973 möglich war. Nach § 32 BVerfGG war dabei das Interesse des Freistaats Bayern am Aufschub mit dem Vollzugsinteresse der Bundesregierung abzuwägen. Da die Erfolgsaussichten unberücksichtigt blieben, mußte dabei zugunsten Bayerns unterstellt werden, daß der Grundvertag verfassungswidrig war, und zugunsten des Bundes war anzunehmen, daß er mit dem Grundgesetz in Einklang stand.

168 BVerfGE 35, 246-257 = SudG S. 36-44 = GvB S. 432-438. Dazu gibt es ein Sondervotum der Richter Hirsch, Seuffert und Rupp. Sie stützen ihre Gegenansicht auf die zweite dienstliche Stellungnahme Rottmanns (Abdruck in SudG S. 32-34 = GvB S. 438/439). Danach habe sich die Formulierung „zutreffend" nur auf einen Punkt bezogen, nämlich auf Rottmanns Ansicht, daß das Deutsche Reich staatsrechtlich untergegangen sei. Die drei Richter meinen, Rottmann sei nicht bewußt gewesen, daß diese Rechtsfrage im Grundlagenprozeß eine Rolle spielen würde. Daher bestehe der Verdacht der Befangenheit nicht (zu Recht kritisch: Geck, HbStR II, § 55 Rn.39). 169 Über die mündliche Verhandlung wurde nur ein Formalprotokoll geführt (GvB S. 59/60). Zum Inhalt der Unterredungen gibt es weder amtliche Aufzeichnungen noch Tonbandaufnahmen. Auch der Tatbestand der Entscheidung (BVerfGE 35, 259 ff.) ist bewußt lückenhaft.

Β. Die Zeit der sozial-liberalen Koalition

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Die Bayerische Staatsregierung konnte darauf hinweisen, daß mit dem Notenaustausch eine vom B V e r f G nicht mehr aufhebbare äußere Bindung eintreten würde. Dieser Nachteil war gravierend. Unterstellte man, daß der Vertrag verfassungswidrig war, so konnte sich der Bund i m Außen Verhältnis trotzdem nicht mehr lösen. Ein normenverwerfendes Urteil hatte für den Kläger keinen echten Wert mehr. Die Bundesregierung trug dagegen vor, daß auch das Hinausschieben der Ratifikation bis Ende Juli schwere Folgen hätte. Die unmittelbar bevorstehenden KSZE-Verhandlungen in Helsinki sollten unter gemeinsamer Teilnahme der beiden deutschen Staaten stattfinden. Solange das besondere Verhältnis der deutschen Staaten zueinander nicht geklärt sei, könnte erstens das Mißverständnis einer völkerrechtlichen Anerkennung aufkommen. Zweitens sollte am 21. Juni i m Weltsicherheitsrat die Entscheidung über den gemeinsamen Eintritt der deutschen Staaten in die U N O fallen. Da die Vier Mächte in der gemeinsamen Erklärung v o m 9.11.72 bereits zugestimmt hätten, könnte auch ein einseitiger Eintritt der D D R in die U N O nicht mehr verhindert werden. Drittens bestünde die Gefahr, daß die D D R eine v o m B V e r f G gewonnene Auslegung nicht akzeptieren und nach erreichter außenpolitischer Anerkennung aus dem Grundlagenvertrag „fortlaufen" werde. 1 7 0 Unterstellte man, daß der Vertrag verfassungsmäßig war, so wurde im Ergebnis rechtmäßiges Regierungshandeln verhindert. Die Bayerische Staatsregierung zog alle drei Punkte umgehend in Zweifel. Sie wies darauf hin, daß die Bundesregierung bereits bei den Vorbereitungsverhandlungen zur K S Z E mit DDR-Delegationen zusammen an multilateralen Gesprächen teilgenommen hatte, ohne daß daraus Mißverständnisse entstanden waren. I m übrigen könnten diese Mißverständnisse durch Vorbehaltserklärungen ausgeräumt werden. Ebensowenig drohe ein einseitiger Eintritt der D D R in die U N O . Denn die Bundesregierung könnte die befreundeten Westmächte ohne weiteres veranlassen, ihre Zustimmung zur Aufnahme der D D R bis zum Abschluß des Grundlagenvertrages aufzuschieben. Schließlich drohe auch nicht das Scheitern des Grundlagenvertrages. Letztendlich war aber dieser zentrale Punkt für alle Beteiligten schwer einschätzbar. Das BVerfG stand also bei seiner Abwägung eines sicheren Nachteils für die Entscheidungsmacht des Gerichts gegenüber einem möglichen, aber drastischen Eingriff in die Entscheidungsbefugnisse der Regierung vor keiner einfachen Aufgabe. 170 Die Argumentation ergibt sich aus den im Vorfeld eingereichten Schriftsätzen der BReg vom 2.6./14.6.73 (SudG S. 68-72, 90-92) und den Erwiderungen Bayerns vom 17.6.73 (Fernschreiben der Staatskanzlei, SudG S. 94-96 und des Bayerischen Prozeßvertreters, SudG S. 97-99). Ergänzend sei auf die späteren Stellungnahmen der jeweiligen Prozeßvertreter hingewiesen (einerseits Kriele, Unabhängige Entscheidung, S. 193-195, Recht und Politik, S. 779/780, andererseits Blumenwitz, Judicial-self-restraint, S. 467/468, Grundvertrag, S. 1-24).

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1. Teil: Streitgeschichte

Dabei entschied sich der Zweite Senat am Montag dem 18.6.73 einstimmig gegen den Erlaß einer einstweiligen Anordnung. Das Interesse an einer termingerechten Ratifikation überwiege das Aufschubinteresse. Die Folgen einer Verzögerung seien unübersehbar. Nicht einmal die Wahrscheinlichkeiten der Entwicklung ließen sich kalkulieren. Außerdem könne nur durch einen gemeinsamen U N O Beitritt das besondere Verhältnis beider Staaten nach außen wirkungsvoll unterstrichen werden. Das einstimmige Votum beendete die parteipolitischen Spekulationen und trug zur Akzeptanz der Entscheidung maßgeblich b e i . 1 7 1 Das Gericht wies die Bundesregierung zudem für künftige Verfahren auf eine Verhaltenspflicht hin. I m Beschluß vom 18. Juni und i m Endurteil vom 31. Juli 1973 betonte es, daß es mit der Entscheidung des Grundgesetzes für eine verfassungsrechtliche Überprüfung völkerrechtlicher Verträge unvereinbar sei, wenn „die Exekutive ein beim Bundesverfassungsgericht anhängiges Verfahren überspielt und durch eine Maßnahme endgültig das Urteil dieses Gerichts um einen Teil seiner Wirkung b r i n g t . " 1 7 2 Das änderte freilich nichts daran, daß mit dem Notenaustausch vom 20. Juni 1973 vollendete Tatsachen geschaffen wurden, die letztlich für die nachfolgende Gerichtsentscheidung unumkehrbar waren. Das BVerfG war sich selbst darüber i m klaren, daß das Endurteil nur noch für die innerstaatliche Ordnung und für die Folgeverträge Bedeutung haben konnte. 1 7 3 Später ist darüber gerätselt worden, ob das BVerfG tatsächlich durch das Prozeßverhalten oder die Terminplanung der Regierung überspielt w u r d e . 1 7 4 Der unangenehme Eindruck bleibt, daß die sozial-liberale Führung auf das gerichtliche Verfahren nicht die gebührende Rücksicht genommen hat. Sie hat zwar den

Für die bayerischen Prozeßvertreter war die Entscheidung (BVerfGE 35, 257-263 = SudG S. 99-103 = GvB S. 69-72) angesichts des Prozeßverlaufs überraschend (Blumenwitz, Grundvertrag, S. 16). Sie wurde von konservativer Seite nicht kritiklos hingenommen (Fromme, Was für Nachteile? FAZ vom 19.6.73, S. 1 =SudGS. 107; Scheuner, Leserbrief, FAZ vom 19.6.73, S. 5; Friesenhahn, Hüter, S. 188-191). Gelegentlich wird vermutet, daß die konservativen und progressiven Richter einen „politischen Kompromiß" geschlossen hätten, wobei die eine Seite bei der einstweiligen Anordnung, die andere Seite im Endurteil Zugeständnisse gemacht hätte (Zündorf, Ostverträge, S. 314; Haftendorn, Sicherheit und Entspannung, S. 399). 172 BVerfGE 35, 258 (262) = SudG S. 99 (102) = GvB S. 69 (72); ebenso BVerfGE 36, 1 (15) = SudG S. 283 (293) = GvB S. 383 (401). 173 BVerfGE 35, 257 (263) = SudG S. 99 (103). Soweit das BVerfG im Endurteil (E 36, 1 (35/36) = SudG S. 306/307) im Hinblick auf den Estoppel-Grundsatz anderer Ansicht ist, trifft das völkerrechtlich schon deswegen nicht zu, weil das Gericht selbst vor dem Notenaustausch die zwischenstaatliche Bedeutungslosigkeit des Endurteils festgestellt hat (ähnlich Zündorf, Ostverträge, S. 318). 174 Daß das BVerfG überspielt wurde, nehmen an: Kröger, in: Schwarz, Handbuch Außenpolitik, S. 644, Friesenhahn, Hüter, S. 188/189 und Klein, VerfPR, S. 617. Dagegen lehnen dies Kriele, Unabhängige Entscheidung, S. 194 und Eisner, Bedeutung, S. 951 ab.

Β. Die Zeit der sozial-liberalen Koalition

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Termindruck nicht allein geschaffen. Die Klage gegen den Grundvertrag wurde knapp einen Monat vor Notenaustausch und damit zu spät eingereicht. Aber die sozial-liberale Führung hat den Termindruck ausgenützt und verschärft. Sie hat den Bundespräsidenten nicht gebeten, die Ausfertigung des Vertragsgesetzes auszusetzen. Sie hat sich nicht um eine Verschiebung des Notenaustausches bemüht und sie hat während des Prozesses am 15.6.73 den Antrag auf Aufnahme in die U N O gestellt. 1 7 5 Erst dadurch entstand die Gefahr der Aufnahme der D D R vor der endgültigen Klarstellung des besonderen Verhältnisses beider Staaten. I m Prozeß hat die Regierung diese Möglichkeit stark aufgebauscht. Sie hat verschwiegen, daß die drei Westmächte nicht an einer möglichst schnellen Aufnahme der deutschen Staaten interessiert waren, und daß in der U N O eine formlose Vertagung leicht erreichbar w a r . 1 7 6 Der gemeinsame Eintritt beider Staaten ist letztlich erst am 18.9.73 erfolgt, während der Prozeß bereits am 31.7.73 zu Ende war. Schon an diesen Daten wird deutlich, daß in bezug auf die Vereinten Nationen keine Eile geboten war. I m entscheidenden Punkt, der Gefahr des Scheiterns der Verträge, hat die Bundesregierung aber nicht übertrieben. Noch am 14. Juni hat die DDR-Führung durch Außenminister Otto Winzer ihre kompromißlose Haltung in der nationalen Frage deutlich gemacht. 1 7 7 Auch die spätere Reaktion der SED auf das Grundvertragsurteil 1 7 8 zeigt, daß eine völkerrechtlich wirkende, vorherige Gerichtsentscheidung eine politische Krise geschaffen hätte. Die offene Zurückweisung der Verträge durch die D D R lag i m Bereich des Möglichen. I n Erkenntnis dieser Gefahr hat das BVerfG von sich aus „judicial-self-restraint" geübt. 1 7 9 Daher ist es i m wesentlichen Punkt von der Bundesregierung nicht überspielt worden. Durch den engen Zeitplan der Bundesregierung war aber die Atmosphäre zwischen Bonn und Karlsruhe belastet. Die unmittelbar folgende Hauptverhandlung v o m 19. Juni war nicht geeignet, das K l i m a zu verbessern. Die Regierung wurde durch Ministerialdirektor Bahlmann und ihre Prozeßbevollmächtigten, den 175 Vgl. Weber/Jahn, Synopse, S. 1036. Zum Termindruck: Blumenwitz, SudG S. 98, Grundvertrag, S. 12/13. 176 Das hat F. J. Strauß zum Vorwurf des Prozeßbetruges bewegt (Erinnerungen, S. 454). 177 Abdruck in SudG S. 355-363 (361); vgl. Völkel, Reaktion, S. 140-149. 178 Das Neue Deutschland bezeichnete das Festhalten des Gerichts an der Einheit Deutschlands als politischen Revanchismus, der auf den „Müllhaufen der Geschichte" gehöre (Zitat in SudG S. 362-364). Die Verärgerung über das Urteil trug zur Verschlechterung des deutsch-deutschen Verhältnisses im Herbst 1973 bei. Die DDR-Führung erhöhte im Widerspruch zum Geist des Verkehrsabkommens den Zwangsumtausch drastisch und führte als Reaktion auf die Errichtung des Bundesumweltamtes in Berlin vertragswidrige Kontrollen des Transitverkehrs durch (Jäger/Link, Geschichte V / 1 , S. 232/233). 179 Die juristische Begründung für die politisch verständliche Zurückhaltung fehlt in BVerfGE 35, 257 (263) = SudG S. 99 (103) weitgehend. Das Gericht hat sicher nicht nach dem Grundsatz „fiat jus, pereat mundus" gehandelt.

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1. Teil: Streitgeschichte

jungen Kölner Professor Martin Kriele und den Karlsruher Rechtsanwalt Dr. Leverenz, vertreten. Es wirkte wenig taktvoll, daß Ministerialdirektor Bahlmann beharrlich die Zurückhaltung des Gerichts i m außenpolitischen Bereich einforderte.

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Zudem mußte das BVerfG erkennen, daß die Bundesregierung am Verhandlungstisch nicht mit demselben Nachdruck die nationale Einheit betonte wie i m Gerichtssaal. DDR-Staatssekretär Michael K o h l hatte nämlich den Empfang des „Briefs zur Deutschen Einheit" bestritten. Nach einem Beweisantrag des Bayerischen Prozeßvertreters konnte die Bundesregierung aber nur einen äußerst dürftigen Empfangsbeleg vorlegen. Ein namentlich nicht erkennbarer DDR-Beamter hatte den Erhalt eines nicht näher qualifizierten Schreibens quittiert. 1 8 1 Zwar hat das B V e r f G dem Formmangel letzten Endes keine völkerrechtliche Relevanz beigemessen. Die allen diplomatischen Gepflogenheiten widersprechende Zustellung offenbarte aber, daß die Bundesregierung entgegen ihren Beteuerungen die nationale Frage am Verhandlungstisch mit wenig Nachdruck behandelte. 1 8 2 Das Vertrauen der Karlsruher Richter in die Regierung wurde zusätzlich durch eine Pressenotiz vom 27.6.73 gestört. Der Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen, Johann Georg Reißmüller, schrieb nämlich in der Kommentarkolumne, daß ein „führender Politiker der größeren Bonner Regierungspartei" gesagt habe, man werde sich von den „acht Arschlöchern in Karlsruhe" doch nicht die ganze Ostpolitik kaputt machen lassen. 1 8 3 Der Präsident des B V e r f G Ernst Benda war über diese Mißachtung des Gerichts mit Recht verärgert und verlangte Aufklärung. Er beraumte für den 16. Juli eine Sitzung des Plenums an, in der eine Entschließung gegen den stillosen Politiker beschlossen werden sollte. Für das böse Wort fand sich aber kein Urheber. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hielt ihre Quellen geheim und auch die Klärungsversuche der Unionsparteien waren erfolglos. Vergeblich wurden zwei parlamentarische A n f r a g e n 1 8 4 gestellt und auch der Vorstoß des rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Helmut K o h l ( C D U ) i m Bundesrat erbrachte nichts. 1 8 5

180 Abdruck des Plädoyers in SudG S. 229-238 (231 -235). Ebf. kritisch: Friesenhahn, Hüter, S. 192/193. 181 Zur völkerrechtlichen Relevanz der Quittung vgl. das Gutachten von Doehring/ Ress, SudG S. 265-279 einerseits, die Entgegnung der BReg, SudG S. 280-283 andererseits. 182 Zur Briefübergabe siehe Zündorf, Ostverträge, S. 275. 183 Reißmüller, Die Regierung wirds schon recht machen, FAZ vom 27.6.73, S. 1. 184 Anfrage vom 6.7.73, BT-Drs. VII, Nr. 893, S. 2/3 und Anfrage vom 19.7.73, BT-Drs. VII, Nr. 982, S. 2-4. Bei der sog. Verfassungsdebatte vom 14.2.74 wurde das Thema nochmals von Alfred Dregger (CDU) aufgegriffen. Friedrich Schäfer (SPD) erwiderte, das Wort sei nicht gefallen (BT-Prot. V I I S. 5011/5021). 185 BR-Prot. 1973, S. 253-257; FAZ vom 7.7.73 S. 1 und 5.

Β. Die Zeit der sozial-liberalen Koalition

63

Die Bundesregierung erklärte anfangs nur, daß weder W i l l y Brandt noch Egon Bahr den Kraftausdruck gebraucht hätten. Später fügte sie hinzu, auch ein anderes M i t g l i e d der Bundesregierung sei nicht bekannt. 1 8 6 Justizminister Jahn (SPD) ging mit seiner Erklärung am weitesten: „ E i n M i t g l i e d der Regierungskoalition, ein Mitglied, das nicht benannt worden ist, ist verleumdet w o r d e n . " 1 8 7 Die SPDFührung hingegen hüllte sich in Schweigen und nährte damit den Verdacht, daß der Ausdruck wirklich gefallen i s t . 1 8 8 Z u der geplanten Entschließung des BVerfG kam es nicht. A m Dienstag zuvor fuhr Justizminister Jahn überraschend nach Karlsruhe und glättete die Wogen. Nach einem Gespräch mit Präsident Benda, Vizepräsident Seuffert und den Richtern Rasehorn und Wand wurde eine gemeinsame Presseerklärung abgegeben, in der sich die Verfassungsorgane ihres gegenseitigen Respekts und ihrer Loyalität versicherten. Damit galt die Angelegenheit für das Gericht als „erledigt". 1 8 9 Etwa zwei Wochen später, am 31. Juli 1973, erging das Grundvertragsurteil. Es brachte aus Sicht der Regierung sicher keine Verbesserung des Klimas zwischen Bonn und Karlsruhe. Zwar wies der Zweite Senat — wie erwartet — die Klage des Freistaats Bayern ab. Er legte aber den Grundvertrag verfassungskonform aus und hielt an der staatlichen Einheit Deutschlands, am Wiedervereinigungsgebot und an der völkerrechtlichen Nichtanerkennung der D D R fest. Zugleich wurden der Bundesregierung für den Abschluß der Folgeverträge Pflichten auferlegt und der gesamte Inhalt des Urteils für verbindlich erklärt. 1 9 0

'86 Vgl. die Kurzberichte in der FAZ vom 11.7.73 S. 5 und vom 12.7.73 S. 3. 187 BR-Prot. 1973, S. 255. Die FAZ vom 7.7.73 S. 2 sprach von „Theaterdonner" und kommentierte unter dem Titel: „Jahn weicht aus". Die FAZ wies darauf hin, daß der führende SPD-Politiker nicht notwendig der Regierung angehören müsse. iss Dopatka, Umwelt, S. 83 und Zündorf, Ostverträge, S. 314 halten das Zitat nicht für authentisch. Dagegen gehen der Richter Geiger (Grundlagenvertrag, S. 55) und die Historiker Jäger / Link (Geschichte V / 2 , S. 60) ebenso wie meine Gesprächspartner Prof. Benda und Prof. Blumenwitz von der Echtheit aus. Dafür spricht nicht nur die Seriosität der FAZ. Der Ausspruch paßt auch gut in die psychische Lage der SPD-Fraktion während des Prozesses. Die Spekulation, daß Herbert Wehner der Vater des Spruches sei (Schueler, Die Zeit vom 24.2.78, S. 9; ihm folgend Geißler, in: CDU-Dok., Vorwort, S. 23) entbehrt einer ausreichenden Grundlage. Herbert Wehner war zwar bekannt für markige Sprüche. Er stand aber damals nicht in Verdacht. Vielmehr ruhte der Verdacht auf Horst Ehmke. Ihm schreiben die Publizisten Koch (Willy Brandt, S. 421) und Kusserow (Richter in Deutschland, S. 163) das Wort zu. Da hierfür ein klarer Quellennachweis fehlt, kann der Verdacht nicht als bestätigt gelten. 189 FAZ vom 14.7.73 S. 1 mit Kommentar „Die Angelegenheit" S. 2; Der Spiegel, 1973, H. 28, S. 16 und H. 29, S. 22. 190 BVerfGE 36, 1 (36) = SudG S. 284 (386). Das stand in Widerspruch zur st. Rspr. des BVerfG, wonach nur die tragenden Gründe verbindlich sind. Die Anordnung war wohl der Ausdruck eines im Prozeß gewachsenen Mißtrauens gegenüber der BReg (kritisch Zündorf, Ostverträge, S. 317; Schiaich, BVerfG, Rn.452).

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1. Teil: Streitgeschichte

Politisch schien es, als habe der Grundvertragsprozeß zwei Sieger. Denn die Bundesregierung begrüßte das Urteil ebenso wie der Freistaat Bayern. 1 9 1 Sozialliberale Politiker haben aber später das Urteil immer wieder in die Liste der „Grenzüberschreitungen' 4 des Gerichts eingereiht und damit gezeigt, wie wenig ihnen die darin enthaltenen Bindungen behagten. 1 9 2 Hingegen konnte der Initiator der Klage, Franz Josef Strauß, noch bei der Abfassung seiner Memoiren ein Triumpfgefühl nicht unterdrücken: „Das Ziel Bayerns, das Ziel der CSU, mein Ziel war erreicht. 4 4 1 9 3 In Wahrheit hat das BVerfG beiden Parteien etwas und keinem alles gegeben. I m Eilverfahren hat es trotz rechtlicher Bedenken die neue Politik der Bundesregierung passieren lassen und dem Vertrag zur zwischenstaatlichen Wirksamkeit verholfen. I m Hauptsacheverfahren hat es trotz politischer Bedenken dem Freistaat Bayern Recht gegeben und das traditionelle Staatsverständnis innerstaatlich aufrechterhalten.

I I . Die Ä r a Schmidt (1974-1982) Nach dem Grundvertragsurteil war nicht nur das Verhältnis der Regierung zum BVerfG abgekühlt. V o r allem die der Regierung nahestehenden gesellschaftlichen Gruppen sahen in Karlsruhe zunehmend einen Hemmschuh für fortschrittliche Politik. Besonders die Nachwuchsorganisationen der Regierungsparteien waren vom BVerfG enttäuscht. Das zeigten die Demonstrationen gegen das Hochschulurteil und gegen den Radikalenbeschluß. 1 9 4 Aber auch gegen das Abtreibungsurteil und gegen das Urteil zur Wehrdienstverweigerung, das sog. Postkartenurteil, machte die sozial-liberale Jugend F r o n t . 1 9 5 Verärgert waren auch viele sozialdemokratische Juristen und Politiker. Sie sahen das Reformwerk ihrer Regierung gefährdet und warfen dem BVerfG vor, es verschiebe die Gewichte zwischen Parlament und Justiz. 1 9 6 Als Beispiele für den „judicial activism 44 des Verfassungsgerichts führten sie neben dem Grundvertragsurteil vor allem das Diätenurteil und das Abtreibungsurteil a n . 1 9 7 Diese K r i t i k wurde in zahlreichen Aufsätzen und bei mehreren Diskussionsveranstaltungen vertreten. Wie die Sondervoten der ebenfalls dem sozial-liberalen Spektrum 191 Zu den ersten Reaktionen: Cramer, Grundlagenvertrag, S. 120/121 und Eisner, Bedeutung, S. 947. Die ersten Stellungnahmen Bayerns sind in SudG S. 307-311 abgedruckt. •92 Vgl. unten I I Nr. 1 und Fromme, FAZ vom 7.6.78, S. 5. •93 Strauß, Erinnerungen, S. 456. •94 BVerfGE 35, 79 ff. (Hochschule); BVerfGE 39, 334 ff. (Radikale). 195 BVerfGE 39, 1 ff. (Abtreibung); BVerfGE 48, 127 ff. (Ersatzdienst). •96 Nachweise bei Vogel, Videant Judices, S. 665. Besonders deutlich: Holtfort, Wandlung, S. 64-74. •97 BVerfGE 36, 1 ff. (Grundvertrag); BVerfGE 39, 1 ff. (Abtreibung); BVerfGE 40, 296 ff. (Diäten).

Β. Die Zeit der sozial-liberalen Koalition

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zugeordneten Richter Simon, Hirsch und Rupp-von Brünneck zeigten, 1 9 8 war dieser K r i t i k ein sachlicher Kern schwer abzusprechen. Indessen wurde in Stil und Inhalt der Rahmen sachlicher K r i t i k oft verlassen. V o r allem die regierungsnahe Presse polemisierte zunehmend. Da war vom BVerfG als „Obergesetzgeber" zu lesen und von „Konterkapitänen" in Karlsruhe die Rede. 1 9 9 Rudolf Augstein sprach schon vor Erlaß des Abtreibungsurteils spöttisch von „Unseres Herrgotts Kanzlei" und nach Verkündung der Entscheidung überschrieb „ D e r Spiegel" seinen Bericht mit „Zuchtmeister für Bonn und Bürger". 200 I m selben Maße wie die progressive Publizistik das BVerfG attackierte und „problematisierte", fand das Gericht bei konservativen Blättern Beifall und Rückhalt. A u c h die Unionsparteien nahmen die Verfassungsjustiz regelmäßig in Schutz, wenn ein sozial-liberaler Politiker sich abwertend über das BVerfG äußerte. A u f diese Weise geriet das Gericht zeitweise stärker in den Parteienkonflikt, als es seiner neutralen Stellung zuträglich war. Die sozial-liberale Regierung befand sich angesichts der aus dem eigenen Lager kommenden Gerichtsschelte in einer zwiespältigen Situation. A u f der einen Seite fand sie die K r i t i k an manchen Urteilen nur zu berechtigt und war selbst über einige Niederlagen verärgert. Besonders die Urteile zur Haushaltsüberschreitung von 1973 und zur Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung mußten wie Nadelstiche w i r k e n . 2 0 1 Denn die Haushaltsentscheidung 202 rügte die Etatüberschreitung des ehemaligen Finanzministers und späteren Bundeskanzlers Schmidt, und das Urteil zur Öffentlichkeitsarbeit beanstandete den Einsatz staatlicher Pressedienste für den Wahlkampf der Bundesregierung von 1976. 2 0 3 A u f der anderen Seite war die Regierung durchaus der Meinung, daß sie dem BVerfG als Verfassungsorgan Loyalität schuldete. V o r allem Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel bemühte sich um ein gutes Verhältnis zum Gericht. 198 BVerfGE 35,148-150 (Hochschule); BVerfGE 39,68-95 (Abtreibung); BVerfGE 48, 185-206 (Postkartenurteil). 199 Leicht, SZ vom 17.4.78 (Obergesetzgeber); Robinsohn, Das verkehrte Grundgesetz, S. 44-53 spricht vom „Übergesetzgeber". Diese Formeln lehnen sich an das Sondervotum der Richter Simon und Rupp-von Brünneck zum Hochschulurteil an. In BVerfGE 35, 79 (150) heißt es, das BVerfG habe sich „an die Stelle des Gesetzgebers" gesetzt. Schueler, Die Zeit vom 24.2.78, S. 9 -11 spricht von Konterkapitänen. Mengen, Vorwärts vom 20.4.78, S. 3 (= CDU-Dok. S. 178) redet vom Karlsruher Imperativ als vierter Gewalt. 200 Der Spiegel, 1975, H. 6, S. 22 und H. 10, S. 62. Ähnlich: Schueler, Die Zeit vom 28.2.75, S. 1 „Die Sittenwächter der Nation" und der Kommentar der FR vom 26.2.75 S. 3, „Die Karlsruher Enzyklika". 201 Ebenso Jäger / L i n k , Geschichte V / 2 , S. 59. 202 BVerfGE 45, 1 ff. (Haushaltsüberschreitung). 203 BVerfGE 44, 125 ff. (Öffentlichkeitsarbeit). Zwar hatten alle Bundeskanzler seit Adenauer in Wahlkampfzeiten die staatliche Öffentlichkeitsarbeit intensiviert und für ihre Zwecke genutzt. Die Klage galt aber als klarer Erfolg der Opposition. 5 Häußler

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1. Teil: Streitgeschichte

Zudem teilte die Regierung nicht immer die K r i t i k ihrer linken Parteiflügel. Daher ermahnte Bundeskanzler Schmidt seine Hamburger Genossen an ihre Gehorsamspflicht gegenüber dem BVerfG, als sie sich über den Radikalenbeschluß hinwegsetzen w o l l t e n . 2 0 4 Die Regierung war also zwischen Loyalität und Verärgerung hin- und hergerissen. Sie mußte aus politischen Gründen auf ihre „Basis" und aus verfassungsrechtlichen Gründen auf das BVerfG Rücksicht nehmen. Beides war aber nicht immer unter einen Hut zu bringen. Sie dämpfte zwar überwiegend den aus ihrem Lager kommenden Unmut, fiel aber auch immer wieder in den Chor der Kritiker ein. Das zeigte sich exemplarisch beim Streit um die Fristenlösung.

1. Der Streit um die

Abtreibungsentscheidung

Die Reform des noch aus dem Reichsstrafgesetzbuch von 1872 stammenden § 218 StGB war in der Öffentlichkeit äußerst umstritten. Während Gewerkschaften, Fraueninitiativen und zahlreiche Intellektuelle dafür eintraten, daß der Schwangerschaftsabbruch in den ersten drei Monaten straflos bleiben sollte, erwiesen sich die Kirchen und die Unionsparteien als erbitterte Gegner. Nachdem die Sozialdemokraten die Fristenlösung i m Bundestag entgegen der ursprünglichen Regierungsvorlage und gegen den Einspruch des Bundesrates durchgesetzt hatten, beantragten die C D U / CSU-Fraktion und mehrere unionsregierte Länder beim BVerfG die abstrakte Normenkontrolle. 2 0 5 Dabei zeichnete sich schon früh ein Scheitern ab. Denn das BVerfG erließ noch am Tag der Veröffentlichung des Gesetzes eine einstweilige Anordnung, die das Inkrafttreten der Fristenregelung verhinderte und übergangsweise ein Indikationenmodell in Kraft setzte. 2 0 6 Gleichwohl rechneten die Sozialdemokraten mit einem Prozeßerfolg. 2 0 7 Sie hofften auf ein Patt i m Ersten Senat. Eine 4 : 4 — Entscheidung hätte bereits genügt. Daher war die Enttäuschung groß, als der Inhalt des Abtreibungsurteil knapp einen Monat vor der eigentlichen Verkündung bekannt wurde. A R D und Z D F meldeten am 26.1.75, daß in Karlsruhe die Entscheidung gegen die Fristenlösung bereits gefallen sei. Z w e i Richter schrieben im Augenblick an ihren Sondervoten. 2 0 8 204 FAZ vom 27.11.78 S. 4. 205 Der juristische Streit kann hier nicht vertieft werden. Eine Prozeßdokumentation wurde von Claus Arndt, Benno Erhard und Lieselotte Funcke herausgegeben: Der § 218 vor dem BVerfG, Karlsruhe 1979. Einen guten Überblick über die ganze Abtreibungsdebatte bietet Borowsky, 1969-1982, S. 66-72. 206 BVerfGE 37, 324 ff. (einstweilige Anordnung). 207 Neumaier, Die Zeit vom 31.1.75, S. 8; Schiller, Karlsruhe als Notbremse der C D U / C S U , S. 655-657. 208 Die Welt vom 27.1.75 S. 1; FAZ vom 28.1.75 S. 1/2; Schueler, Vor-Urteil, Die Zeit vom 31.1.75, S. 1. Das Durchsickern der Nachricht wurde mit dem alljährlich

Β. Die Zeit der sozial-liberalen Koalition

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Bundesjustizminister Vogel hielt es zwar für selbstverständlich, daß sich die Bundesregierung zu einem Urteil erst nach seiner Verkündung äußert. 2 0 9 Bundeskanzler Helmut Schmidt kritisierte aber schon vorher in einem Fernsehinterview mit dem Nachrichtenmagazin Panorama das Urteil. Es müsse „einen schon sehr wundern", daß das B V e r f G zu einem anderen Ergebnis komme als die Obersten Gerichte in Österreich, Frankreich und in den USA. Er fürchte, es handele sich um ein „zu w e i t , . . ., vorgetriebenes Richterrecht". Auch andere Entscheidungen erweckten den Eindruck, daß sich das BVerfG auf dem „Pfad" des „Ersatzgesetzgebers" befinde. Daher sei es abzusehen, daß in den nächsten Monaten die Frage eingehend erörtert werde, „nach welchen Gesichtspunkten eigentlich die obersten Richter ausgewählt und bestellt w e r d e n " . 2 1 0 Auch die Vizepräsidentin des Bundestages, Lieselotte Funcke (FDP), kritisierte schon vor der Verkündung das Urteil: Die betroffenen Frauen könnten dieses Urteil „nicht akzeptieren und nicht respektieren." 2 1 1 Die Unionsparteien blieben darauf die Antwort nicht schuldig. Der Parteichef der C D U , Helmut K o h l , erklärte, das Verhalten des Kanzlers sei „dem Rechtsstaat abträglich". Der als moderat geltende Vorsitzende des Rechtsausschusses, Carl Otto Lenz ( C D U ) , fügte hinzu, die vorzeitige K r i t i k könnte als Versuch verstanden werden, „das BVerfG unter Druck zu setzen". 2 1 2 Diesen V o r w u r f wiederholten die Unionsparteien noch einmal während der Haushaltsdebatte. 213 Auch Verfassungsgerichtspräsident Ernst Benda wandte sich, als sich nach dem Urteil die Wogen geglättet hatten, gegen die Vorabveröffentlichung und die vorzeitige Kritik. Sie gefährde die Unabhängigkeit der Rechtsprechung. 2 1 4 Aus ähnlichen Gründen werteten auch andere Persönlichkeiten des Öffentlichen Lebens 2 1 5 und viele Pressekommentatoren die Vorabkritik negativ. 2 1 6 stattfindenden Presseempfang des BVerfG in Verbindung gebracht (Dopatka, Umwelt, S. 107 Fn. 526). 209 DRiZ 1975, RI, S. 12. 210 Das von Peter Merseburger am 3.2.75 geführte Interview wurde auszugsweise abgedruckt: Die Welt vom 5.2.75 S. 5 (vgl. auch Jäger/Link, Geschichte V / 2 , S. 60). 2i! Die Welt vom 28.1.75 S. 1/2. 212 Zitate aus FR vom 5.2.75 S. 1/2; ähnlich SZ vom 5.2.75 S. 2. 213 Strauß (CSU), BT-Prot. V I I S. 10975/10976 und Carstens (CDU), BT-Prot. V I I S. 11020/11021 kritisierten am 19.3.75 Bundeskanzler Schmidt, der sich verteidigte (BT-Prot. V I I S. 11012/11013). 214 Gerichtspräsident Benda und der Deutsche Richterbund haben dieses Verhalten später beim Deutschen Presserat beanstandet (Dopatka, Umwelt, S. 115/116; DRiZ 75, RI, S. 12; DRiZ 76, RI, S. 16). Daraufhin wurden die Presserichtlinien geändert, so daß ein Urteil jetzt nicht mehr ohne schwerwiegenden Grund vorab veröffentlicht werden soll (Abdruck und rechtliche Wertung der Presserichtlinien bei Wassermann, Justiz und Medien, S. 44/45 mit Anhang). Eine gleichartige Vereinbarung wurde mit den öffentlichrechtlichen Fernsehanstalten getroffen (Geiger, Erfahrungen, S. 30-32). 215 Insbesondere der jetzige Präs. des BVerfG Roman Herzog erklärte, Schmidt habe „daneben gegriffen" (FAZ vom 7.2.75 S. 5; FR vom 7.2.75 S. 4). Ähnlich reagierte der Deutsche Richterbund (Fn. 214). Wissenschaftliche Kritik kam von Prof. R. Hofmann, FAZ vom 10.3.75, S. 7. 5:

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1. Teil: Streitgeschichte

Das änderte aber nichts daran, daß Helmut Schmidt mit seiner Urteilsschelte die Stimmung der sozial-liberalen Wähler traf. Denn die Abtreibungsentscheidung war — wie eine Meinungsumfrage ergab — keineswegs populär. 2 1 7 Für den Tag der Urteilsverkündung meldeten mehrere Frauenorganisationen und alternative Gruppen in Karlsruhe Demonstrationen an. SPD und Gewerkschaften hatten Mühe, ihre Mitglieder von der Beteiligung abzuhalten. Ein Polizeiaufgebot von mehreren Hundertschaften hatte die Aufgabe, die Bannmeile um das Gericht zu schützen. Letztlich verlief die Urteilsverkündung aber ungestört. Die Demonstrationen in Karlsruhe und in anderen Großstädten, an denen sich mehrere Tausende beteiligten, hatten weniger Zulauf als erwartet und blieben friedlich. 2 1 8 In welchem Maße das Urteil Emotionen wachrief, zeigte sich in der Nacht vom 4. auf den 5. März 1975. I m Schutz der Dunkelheit wurde auf das Gerichtsgebäude ein Bombenanschlag verübt, 2 1 9 zu dem sich später eine „revolutionäre Frauengruppe" bekannte. 2 2 0 Personen wurden nicht verletzt. Es entstand aber ein Sachschaden von 80.000 D M . Das ganz aus Glas bestehende Foyer des Karlsruher Gerichts wurde verwüstet. Justizminister Vogel fuhr noch am selben Tag nach Karlsruhe, um die Solidarität der Bundesregierung mit dem B V e r f G zu bekunden. Er verurteilte i m Namen aller demokratischen Kräfte den Anschlag.

216

In der Presse waren gegen die Vorabkritik: Hansen, Die Welt vom 7.2.75, S. 4 und Fromme, FAZ vom 29.1.75, S. 1, FAZ vom 3.2.75 S. 8. Die regierungsnahe Presse fand die Kritik zwar sachlich richtig, sah in der Vorabschelte aber „kein Zeichen kluger Zurückhaltung" (FR vom 7.2.75 S. 3; ähnlich Leicht, SZ vom 5.2.75, S. 2 und Schueler, Die Zeit vom 31.1.75, S. 1). 217 Nach einer Umfrage des Allensbacher Instituts für Demoskopie waren 50% der Bevölkerung gegen das Urteil und nur 32 % dafür. 18 % der Bevölkerung äußerten ihre Meinung nicht (FAZ vom 7.3.75 S. 5). Das Gericht verlor nach einer anderen Umfrage kurzfristig an Ansehen (DRiZ 1975, RI, S. 16; Dopatka, Umwelt, S. 102/103). 218 Einen guten Stimmungsbericht liefert Fromme, FAZ vom 26.2.76, S. 3. Zum Geschehen im Gerichtssaal Dopatka, Umwelt, S. 113/114. 2 '9 Die Presse berichtete nur in Kurznotizen, am ausführlichsten die FAZ (5.3.75 S. 1; 6.3.75 S. 2; 7.3.75 S. 5 und 12.3.75 S. 3) und die Welt (5.3.75 S. 1; 7.3.75 S. 2), aber auch die SZ vom 7.3.75 S. 2 und die FR vom 6.3.75 S. 1. Der Anschlag wurde wegen der gleichzeitigen Entführung von Peter Lorenz (Oppositionsführer im Berliner Abgeordnetenhaus, CDU) durch die „Bewegung 2.Juni" nicht sehr beachtet. 220 Trotz des Bekennerschreibens wurde wegen der Ähnlichkeit des verwendeten Sprengstoffs mit anderen Anschlägen auch ein Zusammenhang zur Terrorszene vermutet (FAZ vom 12.3.75 S. 3; SZ vom 7.3.75 S. 2). Nach Auskunft des Direktors beim BVerfG Dr. Zierlein (Schreiben vom 29.7.92) wurde der Anschlag bis heute nicht aufgeklärt. Auf einen ersten Bombenanschlag in den 50er Jahren weist Willi Geiger, Vierzig Jahre, S. 357 hin.

Β. Die Zeit der sozial-liberalen Koalition

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2. Der Höhepunkt der Auseinandersetzungen: Das Jahr 1978 Nach dem Abtreibungsurteil nahm in den Reihen der sozial-liberalen Koalition die K r i t i k am BVerfG ständig zu. Die Regierung dachte zwar nicht ernsthaft an eine Reform des Richterwahl Verfahrens, versuchte aber 1975 bei den Nachwahlen zum BVerfG ihren Einfluß zu verstärken. Angesichts der Mehrheit der Unionsparteien i m Bundesrat, gelang ihr dies nicht. Sie konnte lediglich einen Wechsel des Vorschlagsrechts erreichen, so daß nunmehr i m Ersten Senat ein Patt von 4 : 4 Sitzen herrschte, während die Union i m Zweiten Senat wieder ein Übergewicht von 5 : 3 Richterstühlen innehatte. 2 2 1 Damit konnte sie freilich die K r i t i k der „linken Öffentlichkeit" am Gericht nicht zum Verstummen bringen. Diese Kritik erreichte 1978 ihren Höhepunkt. Der Spiegel veröffentlichte unter dem Adenauerwort „Dat ham w i r uns so nich vorjestellt" eine mehrteilige Serie über das B V e r f G , 2 2 2 die später unter dem Titel „Richter machen Politik" als Buch erschien. Die Spiegel-Redakteure listeten eine Vielzahl von „Grenzüberschreitungen" des Gerichts auf und vermuteten eine Allianz der „roten Roben in Karlsruhe" mit den „schwarzen Politikern in Bonn".223 Z u gleicher Zeit griffen mehrere sozialdemokratische Politiker und Juristen zur Feder und verfaßten Aufsätze, die sich nicht mehr auf eine reine Rechtsprechungskritik beschränkten, sondern Vorschläge enthielten, das Verfassungsgericht in eine „demokratieangemessene" Rolle zurückzuführen. 2 2 4 Dabei wurden meistens die Abschaffung der abstrakten Normenkontrolle 2 2 5 und die Einführung eines Zwei-Drittel-Abstimmungsquorums 2 2 6 als Heilmittel empfohlen. Den äußeren Anlaß für die zunehmende Gerichtsschelte bildete das am 13. A p r i l 1978 verkündete Ersatzdiensturteil. Die sozial-liberale Koalition hatte auf Druck ihrer linken Parteiflügel beschlossen, die als unglücklich empfundene Gewissensüberprüfung bei der Wehrdienstverweigerung abzuschaffen. Für die

221 Waldinger, Wahl, S. 99/100; Frank, Richterwahlen, S. 44/45. 222 Der Spiegel, 1978, H. 44, S. 38-57; H. 45, S. 71-89; H. 46, S. 84-98; H. 47, S. 78-98. Lamprecht / Melanowski, Richter machen Politik, S. 10/13. Der Spiegel, 1979. H. 8, S. 3 weist auf das Buch seiner Redakteure hin. 224 Formulierung von Holtfort, Vorschläge, S. 191. 225 Holtfort, Vorschläge, S. 197; Zweigert / Dietrich, BVerfG, S. 28; Lamprecht / Melanowski, Richter machen Politik, S. 43; Landfried, BVerfG und Gesetzgeber, S. 175177; Lange, Wie in der Residenz des Rechts die Bonner Politik gestoppt wird, FR vom 8.2.79, S. 14/15. 226 Holtfort, Vorschläge, S. 196-199; Dopatka, Vorschläge, S. 19, Umwelt, S. 73/74; Der Spiegel, 1975, H. 10, S. 67, 1978, H. 47, S. 98; Lamprecht / Melanowski, Richter machen Politik, S. 53/54; Lange, Wie in der Residenz des Rechts die Bonner Politik gestoppt wird, FR vom 8.2.79, S. 14/15.

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1. Teil: Streitgeschichte

Anerkennug als Kriegsdienstverweigerer sollte eine postkartengroße Erklärung genügen, daß man den Dienst mit der Waffe aus Gewissensgründen ablehne. Damit wurde faktisch ein Wahlrecht zwischen Wehr- und Ersatzdienst begründet. Das BVerfG hob die Regelung aus Gründen der Wehrgerechtigkeit (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 12 a, GG) auf. Der Zivildienst war damals die weitaus angenehmere Alternative, so daß durch die Postkartenregelung eine sachlich nicht gerechtfertigte Privilegierung unehrlicher Wehrpflichtiger entstehen konnte. 2 2 7 Gegen das „Postkartenurteil" ging zunächst die sozialliberale Parteijugend i m Verein mit den Interessengruppen der Wehrdienstverweigerer auf die Straße. In mehreren Universitätsstädten fanden Demonstrationen gegen das Urteil statt. Einige Studenten verbrannten ostentativ ihre Wehrpässe. 2 2 8 Das BVerfG wurde als „Vollstreckungsgehilfe der C D U / C S U " bezeichnet und von den Jungsozialisten zum „Grundrechtsbeeinträchtigungsgericht" degradiert. 2 2 9 Die Jungen Demokraten sprachen von einem „auf höchster Ebene legalisierten Verfassungsbruch" und forderten die „Entmythologisierung des Karlsruher Götterrates". 2 3 0 Demgegenüber hielten sich die führenden Politiker der SPD / FDP — Koalition auffällig zurück. Der dem rechten Parteiflügel zugeschriebene Verteidigungsminister Hans Apel (SPD) sprach sogar von einem guten Urteil für die Wehrpflichtigen. 2 3 1 Die innenpolitischen Sprecher von SPD und FDP, die maßgeblich an der Ausarbeitung der Postkartenregelung beteiligt waren, übten nur moderate K r i tik. 2 3 2 Das Urteil beließ ihnen nämlich die Möglichkeit, von der Gewissensprüfung abzusehen, wenn der Zivildienst als lästige Alternative ausgestaltet wurde. U m so mehr mußte es verwundern, daß wenige Wochen später immer mehr sozialdemokratische Spitzenpolitiker dem Gericht vorwarfen, es habe seine Zuständigkeiten überschritten. 2 3 3 Bereits im Sondervotum des Verfassungsrichters Hirsch war von der Gefahr die Rede, daß sich das BVerfG v o m Hüter zum Herrn der Verfassung aufschwinge. 2 3 4 Die plakative Formel wurde nun vielfach aufgegriffen und zur feststehenden Tatsache erhoben. 227 BVerfGE 48, 127-184. Die juristische Auseinandersetzung kann hier nicht vertieft werden. Eine Dokumentation des Rechtsstreits wurde vom Prozeßbevollmächtigten des Freistaats Bayern herausgegeben: Blumenwitz, Wehrpflicht und Ersatzdienst, MünchenWien 1978. 228 Vgl. Die Welt vom 15.4.78 S. 2. 229 Zitate aus Die Welt vom 14.4.78 S. 5 und 15.4.78 S. 2. 230 Zitat nach Marqua, DRiZ 1978, RI, S. 17 (vgl. auch CDU-Dok. S. 181/182). 231 Die Welt vom 15.4.78 S. 1 und FAZ vom 25.4.78 S. 12. Demgegenüber übte der Vorwärts vom 20.4.78 S. 3/4, 6/7 in zwei Artikeln massive Kritik am BVerfG (vgl. CDU-Dok. S. 176-179). 232 FAZ vom 14.4.78 S. 2; Die Welt vom 14.4.78 S. 5. Die nordrhein-westfälische FDP konnte sich nicht zu einer „Mißbilligung", sondern nur zu einem „Bedauern" entschließen (Die Welt vom 24.4.78 S. 2). 233 Nach Fromme, FAZ vom 7.6.78, S. 5 kritisierten Schmidt, Vogel und Börner das BVerfG. Die Kritik von Vogel wird in der Main-Post vom 23.5.78 S. 1/3 und in Die Welt vom 24.5.78 S. 5 wiedergegeben.

Β. Die Zeit der sozial-liberalen Koalition

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Besonders deutlich artikulierte der hessische Ministerpräsident Holger Börner den Unmut der sozialdemokratischen Politiker über das BVerfG: „Wir haben hier Anlaß zu ernster Sorge: Bescheidet sich eigentlich noch das Bundesverfassungsgericht mit der Rolle eines ,Hüters der Verfassung' oder tritt es zunehmend auch mit rechtspolitischen Anweisungen im Stile verbindlicher Mustergesetze als ,Herr der Verfassung' und ,Herrscher der Verfaßten' hervor? . . . Im steigenden Maße diktiert es in die Entscheidungsgründe die für den Gesetzgeber verbindliche Alternativlösung oder ein verfassungskonformes Auslegungskorsett hinein, das den politischen Bewegungsspielraum der Nullgrenze nähert.. ." Es „verläßt zunehmend die Linie richterlicher Zurückhaltung und drängt mit gesetzgeberischen Handlungsanweisungen ungehemmt in die politische Machtkonkurrenz. Diese Neigung tritt auch dort zutage, wo die Rechtsbasis dem unbefangenen Betrachter so unklar und mehrdeutig erscheint, daß die Grenze zwischen Rechtserkenntnissen und politischen Bekenntnissen fließend wird . . . Diese fortschreitende Entmächtigung des Parlaments scheint mir nicht die Krönung des Rechtsstaats zu sein." 2 3 5 Gegenüber den zunehmenden Angriffen aus dem sozial-liberalen Lager fand das BVerfG in den Unionsparteien einen nicht ganz uneigennützigen Verteidiger. Die i m Wahlkampf stehende Hessische C D U beantragte i m Landtag eine Aktuelle Stunde und kritisierte Börners Rede eingehend. Der C D U - A b g . Lengemann nannte Börner sogar einen „Brandstifter in der Maske des Biedermannes". 2 3 6 Auch die Bonner Bundeszentrale der C D U überzog bei ihren Erwiderungen. Der Parteivorsitzende Helmut K o h l warf der SPD einen „hemdsärmeligen Umgang" mit dem Grundgesetz 2 3 7 vor und sein Parteisekretär Heiner Geißler gab unter dem Titel „ D i e SPD und das Recht" eine Dokumentation zu den Rechtsverletzungen der Regierung heraus und versuchte eine „Rechtsüberwindungsstrategie" der SPD nachzuweisen. 2 3 8 Dagegen dürfte die Vermutung zutreffen, daß die kritischen Äußerungen führender Sozialdemokraten nicht rein zufällig zeitgleich mit dem 11. Bundeskongreß des D G B zusammentrafen. 2 3 9 Denn das Jahr 1978 bedeutete auch deswegen

234 BVerfGE 58, 185-206 (201). Entsprechend überschrieb Der Spiegel, 1978, H. 16, S. 22 seinen Urteilsreport. 235 Die Rede wurde am 21.5.78 in Kassel vor dem rechtspolitischen Kongreß der SPD zu Ehren von Gustav Radbruch gehalten (FR vom 22.5.78 S. 4; SZ vom 22.5.78 S. 2; FAZ vom 23.5.78 S. 5 mit Kommmentar von J.G. Reißmüller S. 12). Sie ist abgedruckt unter dem Titel „ A n die Hüter der Verfassung" in der FR vom 30.5.78 S. 4. 236 FR vom 1.6.78 S. 19; vgl. auch FAZ vom 1.6.78 S. 3. Vorher hatte die CDU bereits bei einer Pressekonferenz das Verhalten Börners angegriffen (FAZ vom 23.5.78 S. 6), die SPD es verteidigt (FAZ vom 24.5.787 S. 5). 237 FAZ vom 17.4.78 S. 4. Dagegen verwahrte sich Willy Brandt (CDU-Dok. S. 172). 238 CDU-Bundesgeschäftsstelle: Die SPD und das Recht. Verfassungsverstöße der SPD und ihre Ursachen, Bonn 1978 (= CDU-Dok.). Die Welt vom 23.5.78 S. 6 schreibt, die Wirkung der Dokumentation sei rasch „verpufft" (kritisch Lamprecht / Melanowski, Richter machen Politik, S. 114).

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1. Teil: Streitgeschichte

den Höhepunkt der Auseinandersetzungen um das BVerfG, weil sich erstmals die Gewerkschaften zu Wort meldeten. Die Arbeitgeber hatten nämlich gegen das v o m Parlament mit parteiübergreifender Mehrheit verabschiedete Mitbestimmungsgesetz Verfassungsbeschwerde erhoben. 2 4 0 Dabei erhofften sich die Unternehmer weniger eine Aufhebung des Gesetzes als eine verfassungskonforme Auslegung. Sie wollten, daß das B V e r f G ein „ B i s hierher und nicht weiter" aussprach. 241 Die Gewerkschaften sahen damit die inhaltlich weiterreichende Montan-Mitbestimmung gefährdet und wollten sich ihre Mitbestimmungszukunft nicht verbauen lassen. Zunächst versuchten sie, durch Verlassen der Konzertierten A k t i o n die Arbeitgeber zur Rücknahme der Verfassungsbeschwerde zu bewegen. 2 4 2 Als dies nicht gelang, mahnten sie i m Vorfeld des Prozesses beim B V e r f G massiv richterliche Zurückhaltung an. Der DGB-Vorsitzende Oskar Vetter erklärte mit drohendem Unterton, wenn die Verfassungsrichter die Zeichen der Zeit nicht erkennen würden, verwiesen sie die Gewerkschaften auf einen anderen W e g . 2 4 3 A n anderer Stelle erinnerte er an den großen Streik um die Montanmitbestimmung von 1953. 2 4 4 Der nordrhein-westfälische Arbeits- und Sozialminister Fahrtmann (SPD) fügte kurz vor Prozeßbeginn hinzu, es müsse einen schlimmen „anti-parlamentarischen Effekt" haben, wenn „acht beamtete Richter" sich über den W i l l e n der Mehrheit des Volkes und des Bundestages hinwegsetzten. Ein restriktives Urteil aus Karlsruhe werde „mehr schaden als Tausende Extremisten". Das Plenum des BVerfG sah darin den „unverhüllten Versuch, auf das Gericht zugunsten einer Seite Pressionen auszuüben" und wies Fahrtmann mit einem einstimmigen Beschluß in die Schranken. 2 4 5 In dieser Situation war es wiederum für die Bundesregierung nicht einfach, das Gleichgewicht zwischen Loyalität und politischem Interesse zu wahren. Justizminister Vogel versuchte zwar durch einen sehr versöhnlichen Aufsatz, die K r i t i k einzudämmen. 2 4 6 Bundeskanzler Schmidt hatte aber bei einer Podiumsdis239 Konservative Beobachter vermuteten eine planmäßige Kampagne (Fromme, FAZ vom 7.6.78, S. 5; Blumenwitz, Wehrpflicht und Ersatzdienst, S. 23). Das wird von Willi Geiger, Erfahrungen, S. 32 wohl zu Recht bestritten. 240 Zum juristischen Streit und seinen politischen Hintergründen: Robert, Mitbestimmung und Grundgesetz, S. 22-39. 241 Der Spiegel, 1978, H. 2, S. 71. 242 Oskar Vetter, in: Der Spiegel, 1978, H. 4, S. 26-28. 243 Ausführliche Zitate bei Jäger/Link, Geschichte V / 2 , S. 62; vgl. auch Die Welt vom 25.5.78 S. 1. 244 FAZ vom 30.11.78 S. 9; vgl. Borowsky, 1969-1982, S. 65. 245 Die Äußerungen Fahrtmanns werden in der FAZ vom 2.12.78 S. 5, in Die Welt vom 2.12.78 S. 2 und im Plenumsbeschluß des BVerfG vom 6.12.78 zitiert. Der Beschluß ist abgedruckt bei Stürner, Fair Trial, S. 1 und DRiZ 79, RI, S. 1 (mit Kommentar von Rainer Voss „Disqualifiziert!"). Siehe ferner: FAZ vom 9.12.78 S. 5 und Die Welt vom 8.12.78 S. 6.

Β. Die Zeit der sozial-liberalen Koalition

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kussion vor der Evangelischen Akademie in Tutzing am 1. Oktober 1978 eine viel beachtete Kontroverse mit dem Präsidenten des BVerfG. A n der vom Fernsehen übertragenen Podiumsdiskussion wirkten der Bundespräsident Walter Scheel, Bundestagspräsident Karl Carstens sowie Bundeskanzler Helmut Schmidt und Gerichtspräsident Ernst Benda mit. Das Thema „ D i e Zukunft unserer Demokratie" war — wie ein Kritiker meinte — nicht dazu angelegt, „daß irgendeinem etwas aufregend Neues . . . e i n f ä l l t " . 2 4 7 Spannung kam erst auf, als Bundeskanzler Schmidt unter Erwähnung des Diätenurteils von der Notwendigkeit der Selbstbeschränkung des BVerfG sprach. Nicht jeder könne „seine Kompetenzen bis an den Rand ausschöpfen w o l l e n " . 2 4 8 Verfassungsgerichtspräsident Benda reagierte darauf unerwartet scharf. Er kritisierte „die Bemerkungen, mit denen der Herr Bundeskanzler es für geschmackvoll hielt, vor diesem Forum Urteile über ein anderes ihm nicht unterstehendes Verfassungsorgan auszusprechen." Die These, Verfassungsorgane sollten ihre Kompetenzen nicht bis an den Rand ausschöpfen, sei „verfassungsrechtlich nicht haltbar". Jedes Verfassungsorgan habe „die ihm auferlegten Rechte und Pflichten wahrzunehmen — mehr nicht, aber auch nicht w e n i g e r . " 2 4 9 I m übrigen wolle er dem Eindruck entgegentreten, „als gehöre es zu den Aufgaben des Chefs der Bundesregierung, dem obersten Gericht eines Landes, das auch ein Verfassungsorgan ist, Zensuren zu erteilen." In der dadurch angespannten Atmosphäre entgegnete Bundeskanzler Schmidt halb dozierend, halb konziliant: „Was w i r wahrscheinlich alle miteinander noch ein bißchen lernen müssen, ist das Ertragen von K r i t i k , . . . . K e i n Verfassungsorgan kann davon ausgehen, es sei über K r i t i k erhaben." Der kurze Fernsehdisput wurde in der Öffentlichkeit stark beachtet, 2 5 0 wobei sich die Kommentatoren mehrheitlich auf die Seite Helmut Schmidts stellten. 2 5 1 246 Vogel, Videant Judices, S. 665-668. Der Aufsatz fand sogar in der Tagespresse Beachtung: SZ vom 2.10.78 S. 2 und FAZ vom 4.10.78 S. 6. 247 Leicht, Staatsverdrossenheit — mehr als modisches Unbehagen? SZ vom 2.10.78, S.4. 248 Die ganze Diskussion ist in der Reihe dtv-dokumente erschienen: Norbert Schreiber (Hrsg.), Die Zukunft unserer Demokratie, München 1979, S. 76-147 (Zitate auf S. 121/ 122, 125/126 und 134/135). Vgl. auch SZ vom 5.10.78 S. 11. 249 An dieser Auffassung hält er bis heute fest (Benda, in: Benda /Klein, VerfPR, Rn. 69). 250 SZ vom 2.10.78 S. 1/2/4 und vom 5.10.78 S. 10/11; Der Spiegel, 1978, H. 44, S. 38/39; FAZ vom 2.10.78 S. 2. 251 Schmidts Kritik hielten für berechtigt: Der Spiegel, 1978, H. 44, S. 38/39; Lamprecht / Melanowski, Richter machen Politik, S. 9/10; Leicht, SZ vom 2.10.78, S. 4; Däubler / Küsel, Verfassungsgericht und Politik, S. 7/8; Dopatka, Umwelt, S. 84 Fn. 384; sehr einseitig: Massing, Verfassungskonsens als Alibi, S. 119-125. Steffani, Verfassungskonsens als Problem, S. 125-132 zeigt in seiner Erwiderung mehr Verständnis, spricht aber von einer „Überreaktion" (S. 127). Dagegen stellt sich Geiger, Gegenwartsprobleme, S. 132/133 auf die Seite Bendas.

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1. Teil: Streitgeschichte

Dabei blieben allerdings zwei Punkte weitgehend unbeachtet. Erstens war aufgrund der anhaltenden K r i t i k aus Regierungskreisen das Vertrauen der Bevölkerung in das B V e r f G bereits gesunken. 2 5 2 Zweitens konnte man angesichts des bevorstehenden Mitbestimmungsverfahrens vermuten, daß die K r i t i k des Kanzlers nicht rein akademischer Natur war. Seine mahnenden Worte fielen daher zumindest zur U n z e i t . 2 5 3 A m ersten Verhandlungstag bekundete die Bundesregierung durch das Erscheinen von gleich drei Ministern ihr eminentes Interesse am Ausgang des Verfahrens. Auch Arbeitgeber und Gewerkschaften erschienen mit ihren Spitzenvertretern. Anfänglichen Anspielungen auf den gleichzeitig stattfindenden Metallerstreik zum T r o t z 2 5 4 konnte konstatiert werden, daß die vier Verhandlungstage „ohne jeden äußeren D r u c k " abliefen. 2 5 5 Das am 1. März 1979 verkündete Mitbestimmungsurteil 2 5 6 brachte — entgegen allen Unkenrufen 2 5 7 — einen erstaunlich klaren Sieg der Arbeitnehmer. Der Erste Senat beschränkte sich allein auf eine verfassungsrechtliche Prüfung des angegriffenen Gesetzes und gab den Arbeitgebern keinen Schutzbrief gegen weitergehende Mitbestimmungsmodelle. Die sozial-liberalen Politiker zeigten sich „ t i e f bef r i e d i g t " 2 5 8 und viele regierungsnahe Publizisten stellten fest, das Gericht habe zur Tugend der Selbstbeschränkung zurückgefunden. Damit flaute die öffentliche K r i t i k am BVerfG ab und bewegte sich fortan wieder in rein wissenschaftlichen Bahnen. 2 5 9

252 Das ergab eine Umfrage des Infas-Institutes (Holtfort, Wandlung, S. 65). Verfassungsrichter Hirsch äußerte darum die Befürchtung, das Gericht sei im Moment „gefährdet wie noch nie" (Der Spiegel, 1978, H. 48, S. 49). 253 Nach Auskunft von Prof. Benda kam es später zwischen den beiden Kontrahenten zu einem klärenden Gespräch unter vier Augen. Dabei wurde dem sachlichen Gegensatz zumindest die persönliche Schärfe genommen. 254 Söring, Die Welt vom 29.11.78, S. 3. 255 Fromme, FAZ vom 30.11.78, S. 9. Das entsprach auch der Ansicht von Prof. Benda. Am Prozeßende bescheinigten sich die Parteien, daß ein faires und sachliches Gespräch möglich gewesen sei (Die Welt vom 2.12.78, S. 4). 256 BVerfGE 50, S. 290 ff. 257 Der Spiegel, 1979, H. 6, S. 14 hatte nur einen „halben Sieg" vorhergesagt. 258 Der Spiegel, 1979, H. 10, S. 22. 259 Die Einschätzung folgt Jäger/Link, Geschichte V / 2 , S. 62/63. Sie trifft sich mit der 1979 getroffenen Feststellung von Däubler / Küsel: „Kritik am Verfassungsgericht ist nicht mehr populär" (Verfassungsgericht und Politik, S. 8).

Zweiter Teil

Allgemeine Grundlagen Bei den weitaus meisten Konflikten spielt die politische Seite die aktive Rolle. Wenn sie sich in ihrer Politik durch die Verfassungsjustiz behindert fühlt, dann ist sie versucht, Maßnahmen gegen das Verfassungsgericht zu ergreifen. Diese Maßnahmen der Regierungsmehrheit werden i m folgenden als Eingriffe bezeichnet. Sie bilden den Gegenstand der öffentlichen Auseinandersetzung und können daher als Ansatzpunkt der Systematisierung dienen. Unter Eingriff w i r d dabei jedes gegen das Gericht als Ganzes oder gegen dessen Entscheidungen gerichtete Verhalten verstanden, das objektiv geeignet ist, Ansehen, Unabhängigkeit oder Einfluß des BVerfG zu schwächen. Wesentlich ist dabei, daß die Wirkungsmöglichkeiten des B V e r f G im politischen Leben sowohl durch rechtliche als auch durch faktische Maßnahmen verringert werden können. Nicht entscheidend ist, ob die jeweilige Regierungsmehrheit subjektiv in der Absicht handelt, das Verfassungsgericht zu schwächen. Denn dies wird selten das alleinige Ziel des Handelns sein und noch seltener öffentlich erklärt werden. I m übrigen können objektiv einschneidende Maßnahmen stets rechtliche Bedenken auslösen und unabhängig von der subjektiven Zielsetzung der Politiker zum Konflikt führen. 1

A. Eingriffsmöglichkeiten M a n kann die Eingriffe nach verschiedenen Kriterien einteilen: nach dem Zweck des Eingriffs (Ausschaltung oder Einflußnahme), nach dem Zeitpunkt des Eingriffs (vor oder nach einer wichtigen Gerichtsentscheidung), nach der Zahl der Eingriffshandlungen (Einzeleingriff oder Eingriffshäufung), nach dem M i t t e l des Eingriffs (formelles Gesetz oder informelles Handeln) und nach dem Gegenstand des Eingriffs (Gerichtsentscheidungen oder Gerichtsorganisation).

1 Soweit Zweifel darüber bestehen, ob mit Eingriffen vertretbare Ziele verfolgt werden können, wird das rechtspolitische Für und Wider erörtert. Das ist etwa bei den Vorschlägen des Abg. Dichgans der Fall (vgl. 4. Teil Ε I, F I Nr. 1).

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2. Teil: Grundlagen I . Grundbegriffe

Für die rechtliche Erörterung spielt die Einteilung nach dem Zweck des Eingriffs keine Rolle. Z u m einen können mit einem Eingriff mehrere Ziele gleichzeitig verfolgt werden. Z u m anderen treten einige Motive nur selten offen zutage. Auch die Einteilung nach dem Zeitpunkt des Eingriffs hat keine große Bedeutung. 2 Oft kann man nicht klar bestimmen, ob ein Eingriff aus Verärgerung über eine alte Entscheidung oder aus Angst vor einem ähnlichen neuen Urteil unternommen wird. Für die juristische Untersuchung ist hingegen die Einteilung nach dem Eingriffsmittel besonders wichtig. Denn die Regierungsmehrheit kann gegen das B V e r f G i m wesentlichen auf zwei Arten vorgehen: Sie kann ein formelles Parlamentsgesetz in die Wege leiten oder informell auf das BVerfG einwirken. Theoretisch besteht bei dem formellen W e g stets die Möglichkeit, ein einfaches oder ein verfassungsänderndes Gesetz zu erlassen. Praktisch ist die Möglichkeit der Verfassungsrevision wegen der notwendigen Zweidrittelmehrheit (Art. 79 Abs. 2 GG) oft versperrt. 3 Der informelle Weg kann durch das Unterlassen von Handlungen (z.B. der Richterwahl), durch Erklärungen führender Politiker oder durch Parlaments- und Kabinettsbeschlüsse beschritten werden. In diesen Fällen ist von faktischen Eingriffen die Rede, die den Eingriffsgesetzen begrifflich gegenübergestellt werden. I m folgenden dient die Einteilung nach dem Eingriffsmittel als Grundraster. Innerhalb der Eingriffsgesetze w i r d desweiteren nach dem Eingriffsgegenstand unterschieden. Der Eingriff kann sich entweder gegen das Gericht selbst oder gegen seine Rechtsprechung richten. I m einen Fall geht es der Regierungsmehrheit um eine bestimmte Sache, i m anderen Fall um eine Veränderung des BVerfG als Institution. Daher werden Maßnahmen, die sich gegen Entscheidungen des BVerfG richten, sachbezogene Eingriffe genannt. Maßnahmen, die das Verfahren oder die Verfassung des Gerichts betreffen, werden dagegen als institutionelle Eingriffe bezeichnet. 4 Schließlich spielt bei der rechtlichen Erörterung auch die Anzahl und Verflechtung der Eingriffe eine nicht zu unterschätzende Rolle. Zwar geht die theoretische Darstellung von der Modellannahme des Einzeleingriffs aus. In der Praxis muß 2

Diese Einteilung liegt der Dissertation von Schreiber zugrunde. Er bezeichnet alle vor Erlaß des Urteils liegenden Maßnahmen als präventive Eingriffe, alle nach Erlaß des Urteils erfolgenden Maßnahmen als repressive Eingriffe (Schreiber, Reaktionen, S. 25, 71/72). 3 Aus diesem Grund wird regelmäßig nur das einfache Gesetz erörtert. Falls aber eine Verfassungsrevision bereits einmal erwogen wurde (z.B.: Authentische Interpretation, 3. Teil C) oder von besonderem theorteichen Interesse ist (z.B.: Abschaffung des BVerfG, 4. Teil A), wird darauf näher eingegangen. 4 Diese Einteilung geht auf Eichenberger, Unabhängigkeit, S. 152-161 und Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 353-355 zurück.

Α. Eingriffsmöglichkeiten

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sich die Parlamentsmehrheit aber keineswegs mit einer Eingriffshandlung begnügen. Falls ein Eingriffsakt fehlschlägt, kann ein anderer nachgeschoben werden. Werden gleichzeitig oder nacheinander mehrere voneinander unabhängige Eingriffe unternommen, so liegt eine rein quantitative Häufung vor. In diesem Fall ist von kumulativen Eingriffen die Rede. I m Gegensatz dazu können verschiedene Maßnahmen derart kombiniert werden, daß sie einem gemeinsamen Z i e l dienen und sich gegenseitig ergänzen. Die Regierung kann beispielweise zur Durchsetzung ihrer politischen Linie einerseits die Richterzahl drastisch erhöhen und mehrere ihr nahestehende Richter nachwählen (Richterschub) und andererseits ein vom Gericht für verfassungswidrig erklärtes Gesetz neu erlassen (Normenwiederholung). 5 Werden verschiedene Maßnahmen in dieser Weise verknüpft, gewinnt der Eingriff eine neue Qualität. M a n kann von einem kombinierten Eingriff sprechen. I I . Eingriffsarten Die verschiedenen Eingriffsarten werden i m folgenden in drei Schritten behandelt: erstens sachbezogene Eingriffsgesetze, zweitens institutionelle Eingriffsgesetze und drittens faktische Eingriffe. Sachbezogene Eingriffsgesetze liegen vor, wenn das Parlament während oder nach einem gerichtlichen Verfahren ein Gesetz erläßt und dadurch Ansehen, Unabhängigkeit oder Einfluß des BVerfG schwächt. Ein Eingriff liegt nicht schon darin, daß der Gesetzgeber überhaupt in bezug auf ein verfassungsgerichtliches Verfahren tätig wird. Denn die Legislative verliert ihr Recht zu Erlaß, Aufhebung und Änderung von Gesetzen nicht dadurch, daß in einer Sache ein Normenkontrollverfahren anhängig ist oder war. Entscheidend ist vielmehr, ob durch den Gesetzgebungsakt gleichzeitig Ansehen, Unabhängigkeit oder Einfluß des BVerfG in Frage gestellt werden. Es ist daher kein sachbezogener Eingriff, wenn Bundestag und Bundesrat während der verfassungsgerichtlichen Prüfung das umstrittene Gesetz ändern. Dadurch erledigt sich zwar der Verfassungsprozeß. Ansehen und Einfluß des BVerfG bleiben aber unberührt. Letztlich wird der Zweck des Verfahrens, die Wahrung der Verfassung, auf andere Weise erreicht, wenn der Gesetzgeber gleichsam in vorauseilendem Gehorsam die N o r m ändert. 6 Ebenso liegt kein Eingriff vor, wenn der Gesetzgeber nach einem Urteil die Verfassung ändert. Dadurch wird zwar die bisherige Interpretation der Vorschrift hinfällig. Die gerichtliche Auslegung wird aber nicht in Zweifel gezogen, so daß das Ansehen des BVerfG ebenso unberührt bleibt wie sein Recht zur Verfassungsinterpretation. 7 5 Dieser Fall hat sich etwa in Südafrika ereignet. Historische Darstellung unten 3. Teil A I, rechliche Darstellung 4. Teil D I I Nr. 3. 6 Auch Herzog, MDHS, Art. 97 Rn. 12 hält dies für rechtlich unbedenklich, macht allerdings für Mißbrauchsfälle eine Ausnahme.

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2. Teil: Grundlagen

Hingegen w i r d die Interpretationsbefugnis in Frage gestellt, wenn das Parlament während eines schwebenden Verfahrens in Gesetzesform feststellt, die umstrittene N o r m sei mit dem Grundgesetz vereinbar (authentische Interpretation). Noch stärker wird der Einfluß des Gerichts geschwächt, wenn nach dem Prozeß das Urteil des B V e r f G korrigiert oder relativiert wird. Dabei ist sicher der Erlaß eines Gesetzes zur Aufhebung der Entscheidung (Kassation) ein Extremfall, während der nochmalige Erlaß eines für verfassungswidrig erklärten Gesetzes (Normenwiederholung) nicht stets einen obstinaten Charakter tragen muß. Besonders wenn zwischen Urteil und Normenwiederholung längere Zeit verstrichen ist, werden Ansehen und Entscheidungsmacht des Gerichts nur in geringem Maße berührt. Institutionelle Eingriffsgesetze liegen vor, wenn der parlamentarische Gesetzgeber Verfassung oder Verfahren des Gerichts ändert und dadurch Ansehen, Unabhängigkeit oder Einfluß des Gerichts schwächt. A l l e i n der Umstand, daß der Gesetzgeber eine Änderung des Β VerfGG oder des Grundgesetzes vornimmt, deutet noch nicht auf einen Eingriff hin. Denn in den vergangenen Jahrzehnten sind mehrfach Reformen zur Reorganisation und zur Arbeitsentlastung des BVerfG notwendig geworden. 8 Entscheidend ist vielmehr, ob durch eine Reform die neutrale Rolle des Verfassungsgerichts gefährdet wird und ob die Arbeits- und Wirkungsmöglichkeiten der Senate objektiv beeinträchtigt werden. Es wäre daher kein institutioneller Eingriff, wenn man für Verfassungsbeschwerden nach amerikanischem Muster das „ w r i t of certiori" einführen würde. 9 Dann bliebe es dem B V e r f G überlassen, ob es eine Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung annimmt oder nicht. Dadurch verlöre zwar der Bürger ein Verfahrensrecht. 10 Das Gericht wäre aber in seinem Handlungsspielraum nicht eingeschränkt. Es könnte frei darüber befinden, ob es auch in hochpolitischen Fällen entscheidet oder ob es wie der Supreme Court der U S A in diesen Fällen keine Entscheidung trifft („political-questiondoctrine")· 1 1 Auch die Einführung des Anwaltszwanges für bestimmte Verfahren 7 Dagegen hält Eichenberger, Unabhängigkeit, S. 152-154 die Verfassungsrevision für einen allerdings grundsätzlich zulässigen Eingriff. « Zu den fünf Novellen und zur Grundgesetzänderung 1969 siehe Heyde, Änderungen, S. 229-240 und Wöhrmann, Reformvorschläge, S. 1346-1356. Abdruck der Texte bei Pestalozza, VerfPR, § 2 Rn. 7-12. 9 Entsprechende Überlegungen gab es bereits 1954/55 (vgl. (Benda, in: Benda / Klein, VerfPR, Rn. 328; BT-Drs. I, Nr. 1662, S. 14) und 1969/70 (Dichgans, RA-Prot. VI, 23. Stzg, S. 8). Der neueste Regierungsentwurf enthält sehr ähnliche Elemente (DRiZ 92, S. 270/271). 10 Deswegen äußern Stern, StR II, S. 961/962, Benda, in: Benda/Klein, VerfPR, Rn. 330 und Rupp, RA-Prot. VI, 17. Stzg, Anlage 4, S. 3 verfassungsrechtliche Bedenken. Die Entstehungsgeschichte des Art. 94 Abs. 2 S. 2 GG spricht aber für die Verfassungsmäßigkeit des „writ of certiori" (Heyde, Änderungen, S. 244). •ι Zur amerikanischen Staatspraxis: Brugger, Verfgbkt, S. 10-13, 17-20; Dolzer, Stellung, S. 100-109.

Α. Eingriffsmöglichkeiten

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würde nur die Verfahrensbeteiligten, nicht aber das BVerfG, einschränken. 1 2 Ein Eingriff liegt hingegen vor, wenn die Verfassungsbeschwerde gestrichen wird. Denn dadurch werden die Entscheidungsmöglichkeiten des Gerichts verringert. Seine Bedeutung i m Verfassungsleben w i r d geschwächt. Die institutionellen Eingriffe kann man danach untergliedern, ob sie das BVerfG ganz oder teilweise betreffen. Bei der Abschaffung ist das Gericht als Ganzes berührt. Wichtige Teilaspekte sind die Verfassung und das Verfahren des Gerichts (Art. 94 Abs. 2 S. 1 GG). Die Gerichtsverfassung ist tangiert, wenn der Modus der Richterwahl geändert w i r d (Wahl mit Beiräten oder einfachen Mehrheiten). Sie ist auch betroffen, wenn die Zahl der Richter drastisch erhöht wird und nur regierungsnahe Richter nachgewählt werden (Richterschub). Dagegen ist das verfassungsgerichtliche Verfahren berührt, wenn einzelne Verfahrensarten gestrichen (ζ. B.: Abschaffung der abstrakten Normenkontrolle) oder allgemeine Verfahrensregeln geändert werden. Ein Eingriff in das allgemeine Verfahrensrecht liegt vor bei der Bindung an Feststellungen des Gesetzgebers und bei der Erhöhung der Abstimmungsmehrheit in den Senaten. Faktische Eingriffe sind dadurch gekennzeichnet, daß Parlament und Regierung Ansehen, Unabhängigkeit oder Einfluß des Verfassungsgerichts in anderer Weise als durch Erlaß eines Gesetzes schwächen. Theoretisch könnte man auch bei diesen informellen Maßnahmen zwischen sachbezogenen und institutionellen Eingriffen trennen. W i r d der Erlaß eines verfassungsgerichtlichen Urteils durch das Schaffen vollendeter Tatsachen verhindert, so ist dieses „Überspielen" ein sachbezogener Eingriff. Unterbleibt die Nachwahl eines Richters solange, bis das Gericht nicht mehr beschlußfähig ist, dann stellt das sog. „Austrocknen" einen institutionellen Eingriff dar. Allerdings lassen sich bei faktischen Eingriffen entscheidungs- und gerichtsbezogene Elemente oft schwer trennen. W i r d etwa eine Entscheidung des BVerfG vom Parlament nicht beachtet, indem z.B. ein Gesetzgebungsauftrag nicht erfüllt wird, dann liegt in der Mißachtung der Entscheidung stets auch eine Mißachtung des Gerichts. 1 3 Ebenso kann man bei massiver K r i t i k am BVerfG sachbezogene und institutionelle Elemente kaum voneinander trennen. Wenn von einem fehlerhaften Urteil die Rede ist, bedeutet dies stets auch, daß das Gericht die Kunst der Auslegung nicht hinreichend beherrscht. Urteils- und Gerichtsschelte gehen zudem oft Hand in Hand. Sie werden darum auch gemeinsam erörtert.

•2 Für Anwaltszwang plädieren Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn. 279-283, Rinken, AltK, Art. 93 Rn. 76 und Kutscher, Geschäftslast, S. 150/151. 13 Dieser Fall hat sich 1963 in Zypern ereignet (unten 4. Teil A). Er wird aber nicht näher besprochen. Denn die Mißachtung von Gerichtsentscheidungen verstößt bei uns wegen § 31 BVerfGG eindeutig gegen geltendes Recht.

2. Teil: Grundlagen

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Β. Eingriffsschranken Ein Eingriff in die Stellung des BVerfG ist nur rechtmäßig, wenn die von der Rechtsordnung vorgegebenen Grenzen gewahrt werden. Diese Eingriffsschranken hängen davon ab, welches M i t t e l zum Eingriff eingesetzt wird. Bei informellem Handeln ist die Regierungsmehrheit an das gesamte Recht gebunden. Bei formellem Handeln durch einfaches Parlamentsgesetz ist sie nur an die Verfassung gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG). Bei verfassungsändernden Gesetzen reduziert sich der Umfang der Rechtsbindung ein drittes Mal. Die Legislative ist als „pouvoir constituant institue" i m wesentlichen nur durch Art. 79 G G gebunden. 1 4 I . Schranken verfassungsändernder Gesetze (Art. 79 G G ) Der Eingriff durch verfassungsänderndes Gesetz eröffnet dem Gesetzgeber zwar theoretisch den größten Handlungsspielraum. Praktisch bereitet dieser Weg aber die meisten Schwierigkeiten. Denn für Verfassungsrevisionen gelten in formeller Hinsicht strenge Anforderungen. Die formellen Schranken sind in Art. 79 Abs. 1 S. 1 G G und in Art. 79 Abs. 2 G G niedergelegt. Danach muß das Gesetz den Verfassungstext ausdrücklich ändern. Dieses Prinzip der „Urkundlichkeit und Einsichtbarkeit" 1 5 der Textänderung dient dazu, Verfassungsdurchbrechungen zu verhindern. Es darf mit anderen Worten keine stillschweigenden und verdeckten Änderungen des Grundgesetz geben. Die Änderung des Verfassungsrechts muß offen und damit i m Rampenlicht der Öffentlichkeit erfolgen. 1 6 Ferner bedarf die Verfassungsänderung der Zustimmung einer Zweidrittelmehrheit in Bundesrat und Bundestag. Eine so hohe Mehrheit ist aber nur schwer zu erreichen. Denn die Opposition wird nicht an einer Schwächung des B V e r f G interessiert sein. Für sie bedeutet der Gang nach Karlsruhe eine Möglichkeit, Gesetze der Regierungsmehrheit zu Fall zu bringen. Ebenso benötigen die Länder das BVerfG, um sich gegen den nach Art. 31 G G stärkeren Bund durchzusetzen. Sie werden einer Schwächung des Gerichts i m Bundesrat kaum zu zwei Dritteln zustimmen. Ein verfassungsändernder Eingriff ist praktisch nur denkbar, wenn eine Partei oder Koalition bundesweit über Zweidrittelmehrheiten verfügt. Diese Konstellation ist relativ selten. Bislang ist sie nur zweimal, von 1953 bis 1955 und von 1966 bis 1969, aufgetreten. 17 14

Auf die Schranken einer Totalrevision nach Art. 146 GG n.F. kann hier nicht eingegangen werden. Die überwiegende Meinung geht dahin, daß auch dabei die Schranken des Art. 79 Abs. 3 GG gelten (Scholz, MDHS, Art. 146 Rn. 14, 15, 23; Campenhausen, vMK, 3.Aufl., Art. 146 Rn. 17; Herdegen, Verfassungsänderungen, S. 28/29; a.A. Seifert /Hömig, Art. 146 Rn. 5). 15 BVerfGE 9, 334 (336). 16 Dazu ausführlich unten 3. Teil C. 17 Vgl. Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 116.

Β. Eingriffsschranken

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Der Verfassungsänderung sind aber auch materielle, d. h. inhaltliche Schranken gesetzt. Bei den inhaltlichen Grenzen kann man absolute, heteronome und autonome Schranken trennen. 1 8 Die absoluten Schranken beruhen auf dem Gedanken tatsächlicher oder moralischer Unmöglichkeit, wobei insbesondere die Schranken des überpositiven Rechts eine Rolle spielen. 1 9 Die heteronomen Schranken beruhen auf dem Einfluß einer fremden Rechtsmacht (z.B.: besatzungs- und völkerrechtliche Bindungen). Die autonomen Schranken sind schließlich in der Verfassung selbst wurzelnde und damit selbstgesetzte Schranken. Für den Schutz des BVerfG spielen ausschließlich die autonomen Schranken eine Rolle. I m Mittelpunkt steht dabei Art. 79 Abs. 3 GG, der eine Beeinträchtigung der in Art. 1 und 20 G G niedergelegten Grundsätze verbietet. Art. 79 Abs. 3 G G ist selbst unantastbar. 20 Er wird daher als eine Ewigkeitsgarantie bezeichnet. 2 1 Bei der Handhabung dieser „interessantesten N o r m des Grundgesetzes" 2 2 bestehen allerdings erhebliche Schwierigkeiten. So ist unklar, ob Art. 79 Abs. 3 GG die einzige materielle Schranke der Verfassungsrevision bildet oder ob es daneben andere ungeschriebene Schranken („immanente" Schranken) gibt. Ferner herrscht Streit über den Zweck der Ewigkeitsklausel und schließlich erwachsen aus der Verweisung auf die Art. 1 und 20 G G eine ganze Reihe von Zweifelsfragen, die i m folgenden vorab geklärt werden.

1. Immanente Schranken und Art. 79 Abs. 3 GG Die inhaltlich sehr verschiedenen Theorien zu den immanenten Schranken der Verfassungsänderung reichen bis in die Zeit der Weimarer Republik zurück. Sie sind zumeist in einer Situation entstanden, in der die Verfassung keine Ewigkeitsgarantie aufwies. 2 3 Ihr gemeinsamer Ausgangspunkt ist der Gedanke, daß der verfassungsändernde Gesetzgeber theoretisch in der Lage ist, eine vollkommene •8 Diese Unterscheidung ist bei Evers, BoK, Art. 79 Abs. 3 Rn. 41/46/65 und Kirchhof, HbStR I, § 19 Rz.24-27 zu finden. Sie geht auf Walter Jellinek, Grenzen der Verfassungsgesetzgebung, Berlin 1932 zurück. Die Existenz überpositiven Rechts ist umstritten (vgl. Doehring, StR, S. 185-192), wird aber von BVerfGE 1, 14 (18); 3, 225 (233); 10, 59 (181); 15, 126 (144) 29, 166 (176) anerkannt. Kirchhof, HbStR I, § 19 Rz.27 spricht von politisch-ethischer Unmöglichkeit. Im Augenblick spielt diese Frage bei den sog. Mauerschützenprozessen wieder eine Rolle (vgl. LG Berlin, JZ 92, S. 691 -695). 20 Maunz/Dürig, MDHS, Art. 79 Rn. 50; Evers, BoK, Art. 79 Abs. 3 Rn. 133-136; Ridder, AltK, Art. 79 Rn. 29; Jarass / Pieroth, Art. 79 Rn. 10; Hesse, Grundzüge, Rn. 707; a. Α.: Bryde, vMü, Art. 79 Rn. 27. 21 Rechts vergleichend: Häberle, Ewigkeitsklauseln, S. 81-105. 22 Klein, vMK, Art. 79 Anm. V I Nr. 2 a, S. 1881. 23 Da es auch in der Schweiz keine inhaltlichen Schranken der Verfassungsrevision gibt, wurde die Diskussion dort in verstärktem Maße fortgeführt. Die Schweizer Staatsrechtslehre lehnt immanente Schranken überwiegend ab (Müller, Materiale Schranken, S. 197/198 m. w.N.). 6 Häußler

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2. Teil: Grundlagen

Umgestaltung des Systems zu bewirken. Er kann i m Extremfall die Demokratie in eine Diktatur umwandeln. Ein solches Vorgehen ist aber von der Befugnis, die Verfassung zu ändern, kaum gedeckt. Änderung ist etwas anderes als Abschaffung oder Austausch. Dem Begriff „ändern" wohnt ein Moment des Bewahrens inne. Der Verfassungsänderung sind daher gewisse Schranken immanent. Dieser Grundgedanke hat verschiedene Ausprägungen erfahren. 2 4 A m bekanntesten wurde die Theorie Carl Schmitts. Er brachte die Lehre von den immanenten Schranken auf die Formel, daß „Identität und Kontinuität der Verfassung" gewahrt bleiben müßten. 2 5 Carl Schmitt unterschied zwischen der „positiven Verfassung" als der politischen Grundentscheidung des Verfassungsgebers 26 und dem Verfassungsgesetz als dem juristischem Niederschlag dieser Entscheidung. Für ihn ist die politische Grundentscheidung das Wesentliche. Der Verfassungsgesetzgeber ist daher durch die Verfassung nicht ermächtigt, diese Grundentscheidung des Verfassungsgebers zu revidieren. Legal ist somit nur eine Änderung, die Identität und Kontinuität der Verfassung wahrt. Die Kontinuität ist verletzt, wenn die verfassungsgebende Gewalt — z.B. vom K ö n i g auf das V o l k — wechselt (VerfassungsVernichtung). 27 Die Identität der Verfassung wird verletzt, wenn die politischen Grundentscheidungen aufgehoben werden (Verfassungsbeseitigung). 28 Als politische Grundentscheidung der Weimarer Republik wertete Carl Schmitt das Prinzip der konstitutionellen und föderalen Demokratie. 2 9 Die Staatsrechtslehre der Weimarer Republik lehnte die Existenz immanenter Schranken überwiegend ab. 3 0 Ihre Skepsis wird häufig auf den damals herrschenden Gesetzespositivismus zurückgeführt. Daran ist richtig, daß man mit den klassischen Mitteln der Gesetzesauslegung nur schwer zu immanenten Schranken kommen konnte. M a g auch die Vokabel „ändern" in Art. 76 W V vom Wortsinn her eine Beschränkung nahegelegt haben, so sprach doch der erklärte W i l l e der Weimarer Verfassungsväter ebenso wie die staatsrechtliche Tradition für eine unumschränkte Befugnis. 3 1 Carl Schmitts Theorie immanenter Schranken weist allerdings auch logische Brüche auf. 3 2 Er zeigt nicht, warum die politische Grundentscheidung des Volkes 24 Hier können nicht einmal die wichtigsten Ansätze dargestellt werden. Einen Überblick bietet Evers, BoK, Art. 79 Abs. 3 Rn. 13/14. Inhaltlich geht Ehmke auf die wichtigsten Theorien ein (Beiträge, S. 29-83). 25 Schmitt, Verfassungslehre, S. 103. 26 Schmitt, Verfassungslehre, S. 20-25. 27 Zum Begriff aaO. S. 99; zum Verbot aaO. S. 103/104. 28 Zum Begriff aaO. S. 99; zum Verbot aaO. S. 104/105/113. 29 Schmitt, Verfassungslehre, S. 23-25 und 104/105. 30 Typisch Anschütz, Kommentar, S. 349-352; Nachweise bei Huber, Verfassungsgeschichte VI, S. 420; Thoma, HbDStR II, S. 154. 31 Belege bei Anschütz, Kommentar, S. 350 Fn. 1.

Β. Eingriffsschranken

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unverrückbar sein muß. Das V o l k als Verfassungsgeber kann doch zumindest theoretisch den W i l l e n haben, kommende Generationen nicht inhaltlich zu binden und sie nicht vor die Alternative Gehorsam oder Revolution zu stellen. 3 3 Ein anderer innerer Widerspruch liegt darin, daß einerseits die Existenz immanenter Schranken gegen den W i l l e n der Weimarer Verfassungsväter auf die politische Grundentscheidung des Volkes gestützt wird, andererseits aber der Inhalt dieser politischen Entscheidung nicht mit Hilfe historischer Materialien, sondern durch Auslegung der Verfassung gewonnen wird. Eine Schwäche der Lehre von den immanenten Schranken besteht außerdem darin, daß sich ihre Befürworter in zahlreichen Fragen uneins sind. Der Konsens darüber, daß es ungeschriebene Grenzen der Verfassungsänderung gibt, kann den Dissens nicht verdecken, der bei der Frage besteht, wie diese Schranken aussehen. Es läßt sich nämlich bei einer Verfassung ohne Ewigkeitsklausel oft nur schwer bestimmen, welche Artikel i m einzelnen die „Identität" einer Verfassung ausmachen oder zu ihrem „ K e r n " gehören. Diese K r i t i k muß zu einer nicht geringen Einschränkung der Theorie immanenter Schranken führen. Es ist zwar richtig, daß es in jeder Verfassung einen Bestand besonders wesentlicher Regelungen geben muß, bei deren Änderung keine systemkonforme Fortentwicklung vorliegt, sondern eine Systemüberwindung. Werden diesen zentralen Vorschriften geändert, liegt keine zeitbedingte Verfassungsentwicklung, sondern ein weltanschaulich bedingter Verfassungswechsel vor. Dieser Grundgedanke ist in deskriptiv-politologischer Hinsicht für jede Verfassung bedeutsam. Er gestattet aber nicht ohne weiteres präskriptivjuristische Schlußfolgerungen. Sonst wird aus dem Sein ein Sollen hergeleitet und damit gegen Denkgesetze verstoßen. Vielmehr muß für jede Verfassung einzeln geprüft werden, ob sie für den Systemwechsel offen ist oder ihn als Verfassungsbruch verbietet. In den 50er Jahren hat Horst Ehmke die Theorie der immanenten Schranken neu belebt. 3 4 Sein Ansatz beschränkt sich von vornherein auf die Frage, ob aus dem Wesen des demokratischen Rechtsstaats ungeschriebene Änderungsverböte resultieren. Dabei hat er die historische Tradition der Verfassungsbewegung für einen demokratischen Verfassungsbegriff fruchtbar gemacht und aus ihm „materiale", d. h. ungeschriebene inhaltliche Schranken der Verfassungsrevision hergeleitet.

3

2 Ausführliche Kritik bei Ehmke, Beiträge, S. 45-60. 33 Dies ist zugleich die traditionelle Argumentation gegen Ewigkeitsklauseln (vgl. Evers, BoK, Art. 79 Abs. 3 Rn. 67). 34 Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, Berlin 1953 (Abdruck in Beiträge, S. 21-83). Außer Ehmke hat Brun-Otto Bryde in Anknüpfung an Schmitt und Kelsen eine weitere Theorie entwickelt, auf die hier aber nicht häher eingegangen werden kann (Verfassungsentwicklung, S. 227-235 und 246-252).

6*

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2. Teil: Grundlagen

Für Ehmke ist die Verfassung Beschränkung und Rationalisierung der Macht und dient der Entfaltung eines freien Verfassungslebens. 35 Demzufolge sind die Grenzen der Verfassungsänderung dann erreicht, wenn die Beschränkung und Rationalisierung der Macht aufgehoben und der politische Lebensprozeß gelähmt wird. Bestimmte Einzel- und Gruppeninteressen (Menschenwürde, Glaubensfreiheit, Versammlungsrecht, etc.) sind vor der W i l l k ü r des Staates ebenso geschützt wie der freie Prozeß demokratischer Willensbildung (Art. 5, 21, 38 G G u.a.m.). Der große Vorzug dieser Konzeption, an die Konrad Hesse 3 6 und Peter Häberle anknüpfen, besteht darin, daß die Existenz immanenter Schranken — i m Gegensatz zu Carl Schmitt — nicht formal aus dem Begriff der Verfassungsänderung und der Priorität des Verfassungsgebers begründet wird, sondern „material" aus dem Zweck der geschriebenen Verfassung und ihrer tradierten Ideale. Demnach gibt es nicht in allen Verfassungen unüberberwindbare Vorschriften. Ungeschriebene Änderungsverbote sind aber speziell i m Typus der rechts staatlichen Demokratie angelegt. Es ist daher das Verdienst Ehmkes die Existenz immanenter Schranken auf ein neues Fundament gestellt zu haben. 37

Allerdings muß die Theorie Ehmkes mit einer doppelten Einschränkung versehen werden. Erstens ist der Rückgriff auf i m traditionellen Verfassungsdenken angelegte Schranken nicht möglich, wenn der Verfassungsgeber sich bei einer neuen Verfassung bewußt gegen eine Ewigkeitsgarantie entscheidet. Zweitens ist auch der von Ehmke entwickelte demokratische Verfassungsbegriff vielfach nicht in der Lage, eine zweifelsfreie Abgrenzung zwischen antastbarem und unantastbarem Bereich der Verfassung zu liefern. Unter der Geltung des Grundgesetzes stellt sich allerdings das Problem der genauen Bestimmung des unabänderbaren Kerns der Verfassung ohnedies in anderer Weise. Denn Art. 79 Abs. 3 G G enthält bereits wichtige „materiale" Schranken der Verfassungsrevision. Insofern ist zu klären, ob neben Art. 79 Abs. 3 G G noch andere immanente Schranken bestehen. Während Ehmke, Häberle und Bryde die Möglichkeit weiterer immanenter Schranken bejahen, 3 8 dominiert in der Staatsrechtslehre die Ansicht von der Ausschließlichkeit des Art. 79 Abs. 3 GG. Diese ablehnende Haltung w i r d teilweise explizit formuliert. 3 9 Teilweise kommt sie dadurch zum Ausdruck, daß andere Schranken unerwähnt bleiben. 4 0 35 Ehmke, Beiträge, S. 91-93. 36 Hesse, Grundzüge, Rn. 702-707. Es bleibt unklar, ob er wie Ehmke über Art. 79 Abs. 3 GG hinausgehende Schranken bejaht. 37 Häberle, Abhörentscheidung, S. 150/151. Er hat sich Ehmke weitgehend angeschlossen (Ewigkeitsklauseln, S. 97). 38 Ehmke, Beiträge, S. 100-102; Häberle, Ewigkeitsklauseln, S. 86/87; Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 237. 39 Maunz-Dürig, MDHS, Art. 79 Rn. 24 (gegen Ehmke S. 5 Fn. 5); Evers, BoK, Art. 79 Abs. 3 Rn. 94/95; Klein, vMK, Art. 79 IV Nr. 3 Fn. 130; Stern, StR I, S. 116/

Β. Eingriffsschranken

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Für die Annahme weiterer immanenter Schranken spricht, daß auch die Änderbarkeit der Revisionsnormen (Art. 79 Abs. 1 und 2 GG) nicht explizit geregelt ist. Selbst die Frage der Unantastbarkeit des Art. 79 Abs. 3 G G entbehrt der ausdrücklichen Regelung. Indessen hindern diese offenen, formellen Fragen nicht die Annahme einer inhaltlichen Ausschließlichkeit in bezug auf den materiellen Kern der Verfassung. Die Verhandlungen i m Parlamentarischen Rat lassen nicht auf die Existenz weiterer immanenter Schranken schließen. Zwar hat i m Parlamentarischen Rat der Abgeordnete Rudolf Katz (SPD) die Meinung vertreten, daß die Aufzählung der geschützten Grundsätze nicht abschließend sein könne. 4 1 Er war jedoch der Ansicht, daß die wesentlichen Prinzipien der Verfassung ohnedies unantastbar seien und daß daher die Regelung des Art. 79 Abs. 3 G G gestrichen werden solle. Dieser Konzeption ist die Mehrheit ersichtlich nicht gefolgt. Vielmehr hat sie Anträge auf Erweiterung der unantastbaren Grundsätze um Art. 19 Abs. 2 und 4 G G abgelehnt. 4 2 Die Entstehungsgeschichte des Art. 79 Abs. 3 G G spricht daher eher für den abschließenden Charakter der Norm. Auch der Inhalt des Art. 79 Abs. 3 G G legt eine Ausschließlichkeit in bezug auf immanente Schranken nahe. Die Bestimmung bezieht nicht nur einzelne Grundsätze ein, sondern verweist auf mehrere durch Stellung und Inhalt hervorgehobene, grundlegende Verfassungsentscheidungen. M a g man auch einzelne, zentral erscheinende Prinzipien — wie Art. 19 Abs. 4 G G — vermissen, so w i r d man doch nicht um die Bewertung herumkommen, daß die geschützten Grundsätze genügen, um der bei einer weitgehenden Änderbarkeit der Verfassung eintretenden Instabilität des Systems vorzubeugen. Das zentrale Anliegen der Theorie der immanenten Schranken, eine vollkommene Umgestaltung des Systems zu verhindern, erfüllt Art. 79 Abs. 3 GG. Zugleich beseitigt er durch seine explizite Aufzählung der geschützten Grundsätze das Hauptproblem der wissenschaftlichen Theorien. Er stellt klar, welche Verfassungsgrundsätze leitend und identitätsprägend sind. Damit wird die Beschreibung des unantastbaren Kerns der Verfassung erheblich erleichtert. Daher ist die A n nahme berechtigt, daß der materielle Kern der Verfassung in Art. 79 Abs. 3 G G abschließend umschrieben ist.

117; Murswieck, Verfassunggebende Gewalt, S. 173; Schlink, Abhör-Urteil, S. 96/97; Löwenstein, KudW III, S. 547. 40 Keine Erwähnung im Abhör-Urteil (BVerfGE 30, 1 ff.), bei Ridder, AltK, Art. 79, Jarass / Pieroth, Art. 79, Badura, StR und Ellwein, HbVerfR. 41 Füßlein, in: Doemming, Entstehungsgeschichte, S. 585/586. 4 2 Füßlein, in: Doemming, Entstehungsgeschichte, S. 587.

86

2. Teil: Grundlagen 2. Normadressat

und Normzweck

Die Theorie der immanenten Schranken verliert damit allerdings nicht jede Bedeutung. Insbesondere kann sie für die Frage nach dem Zweck des Art. 79 Abs. 3 G G wichtig werden. Denn der Sinn der Ewigkeitsklausel ist umstritten. Während das B V e r f G i m A b h ö r - U r t e i l 4 3 den Normzweck allein darin gesehen hat, einer revolutionären Bewegung den Schein der Legalität zu nehmen, herrscht in der L e h r e 4 4 die Ansicht, daß sich Art. 79 Abs. 3 G G auch an den „irrenden verfassungsloyalen Gesetzgeber" 4 5 wendet und ihm als Korrektiv dient. Der Ansicht des B V e r f G steht dabei die Entstehungsgeschichte des Art. 79 Abs. 3 G G zur Seite. Dem Parlamentarischen Rat ging es darum, im Falle einer Wiederholung der Machtergreifung von 1933 allen antidemokratischen Kräften den Deckmantel der Legalität zu nehmen. 4 6 Der Wortlaut des Art. 79 Abs. 3 G G unterscheidet jedoch nicht zwischen loyalen und illoyalen, demokratischen und undemokratischen Kräften. Er knüpft an das Gesetz an und beschränkt damit jeden Verfassungsgesetzgeber. Er formuliert auch nicht negativ ein Diktaturund Machtmißbrauchsverbot, sondern verweist positiv auf unantastbare Grundsätze der Verfassung. Insofern geht der Wortlaut des Art. 79 Abs. 3 G G über die erklärte Absicht der Verfassungsväter hinaus. Diese Feststellung darf aber nicht zu einer teleologischen Reduktion der N o r m verleiten. Eine Korrektur des überschießenden Wortlauts käme nur in Betracht, wenn die weitergehende Auslegung objektiv sinnwidrig wäre. Es lassen sich aber einige Gründe dafür finden, daß Art. 79 Abs. 3 GG unantastbare Prinzipien festschreibt. Man kann seinen Sinn etwa darin sehen, daß die Identität der Verfassung gewahrt w i r d (kontinuitätswahrender Zweck). Daher ist Art. 79 Abs. 3 G G geradezu als Rezeption der Lehre Carl Schmitts bezeichnet worden. 4 7 Das ist aber schon in historischer Hinsicht eine äußerst zweifelhafte These. 4 8 V o r allem spricht Art. 146 G G gegen die Annahme, daß es dem Parlamentarischen Rat in erster Linie um die äußere Verfassungskontinuität ging. Daher ist die Identitätswahrung sicher nur ein untergeordneter Zweck der Vorschrift.

43 BVerfGE 30, 1 (24); anders das Sondervotum aaO. S. 41/42. 44 Evers, BoK, Art. 79 Abs. 3 Rn. 112/115; Bryde, vMü, Art. 79 Rn. 28; Badura, EvStL, Stw Verfassung, V.C.l; Hall, Abhörentscheidung, S. 135. 45 Bryde, vMü, Art. 79 Rn. 28. 46 Füßlein, in: Doemming, Entstehungsgeschichte, S. 586. 47 Maunz/Dürig, MDHS, Art. 79 Rn. 24; Klein, vMK, Art. 79 IV Nr. 2 b, S. 1883; Stern, StR I, S. 114. 48 C. Schmitt wurde in den 30er Jahren zu einem der führenden Juristen des Dritten Reichs. Nichts spricht für die Annahme, daß der Parlamentarische Rat seine Theorie in das Herzstück des Grundgesetzes einfließen lassen wollte (ebf. ablehnend Evers, BoK, Art. 79 Rn. 66; Bryde, vMü, Art. 79 Rn. 24; Alberts, Änderungsbefugnisse, S. 29; Murswieck, Verfassungsgebende Gewalt, S. 171-173).

Β. Eingriffsschranken

87

Vielmehr ging es in erster Linie um die Wahrung der i m Nationalsozialismus mißachteten Werte und der durch das Grundgesetz zurückgewonnen Freiheiten (freiheitssichernder Zweck). Diese inhaltliche Zielsetzung deckt sich mit dem von Ehmke formulierten materialen Verfassungsverständnis. Die Beschränkung und Rationalisierung staatlicher Macht sollen bewahrt, die Entfaltung eines freien Verfassungslebens garantiert werden. Der Hauptzweck des Art. 79 Abs. 3 G G besteht i m Erhalt der den demokratischen Rechtsstaat prägenden materialen Aspekte: bürgerliche Freiheit, demokratische M i t w i r k u n g und kontrollierte Staatsmacht. Art. 79 Abs. 3 G G bezweckt damit nicht nur die Abwehr eines Totalangriffes. Er verhindert auch die teilweise Aufgabe elementarer Grundsätze und bewahrt damit vor dem Fehlgriff des i m Grunde loyalen Gesetzgebers. Vielleicht liegt darin sogar seine praktisch wichtigste Aufgabe.

3. Systemimmanente

Modifizierungen?

Der Normzweck ist auch maßgeblich für die Frage, ob die von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Grundsätze in keiner Weise tangiert werden dürfen oder Sachbedürfnissen entsprechend abgewandelt werden können. In seiner Abhör- Entscheidung hat das BVerfG betont: „Grundsätze werden als Grundsätze von vornherein nicht »berührt' , wenn ihnen i m allgemeinen Rechnung getragen und sie nur für eine Sonderlage entsprechend deren Eigenart aus evident sachgerechten Gründen modifiziert werden." 4 9 Während das B V e r f G also die Möglichkeit systemimmanenter Modifizierungen befürwortet, ist dies in der Lehre auf scharfen Widerspruch gestoßen 50 und w i r d heute mehrheitlich 5 1 abgelehnt. Diese K r i t i k ist berechtigt. Denn die Argumentation des B V e r f G mit dem Wortlaut ist wenig überzeugend. Zwar dulden Grundsätze in der Rechtswissenschaft zumeist Ausnahmen. Es gibt aber auch ausnahmslos geltende Prinzipien 5 2 und die Formulierung in Art. 79 Abs. 3 GG, daß die Grundsätze des Art. 1 und

49 BVerfGE 30, 1 (24). so Häberle, Abhörentscheidung, S. 149/150; Hall, Abhörentscheidung, S. 136; Alberts, Änderungsbefugnisse, S. 139-141, Auflösung, S. 320; Schlink, Abhör-Urteil, S. 103; Dürig, MDHS, Art. 10 Rn. 39. Ebenso bereits das Sondervotum BVerfGE 30, 1 (41/42). 51 Evers, BoK, Art. 79 Abs. 3 Rn. 149-151; Bryde, vMü, Art. 79 Rn. 28; Pappermannn, vMü, Art. 10 Rn. 37; Jarass / Pieroth, Art. 79 Rn. 6; Hesse, Grundzüge, S. 264 Fn. 7; Stern, StR I, S. 116, 173/174; Badura, EvStL, Stw Verfassung, V.C.l; Erichsen, Verfgbkt II, S. 20. Ridder, AltK, Art. 79 Rn. 36 spricht sogar von einem „intellektuell anspruchslosen Mogelversuch". Dagegen haben sich dem BVerfG angeschlossen: Herzog, MDHS, Art. 20 I Rn. 25 und V I I Rn. 37; Kirchhof, HbStR I, § 19 Rz.66/70; Seifert / Hömig, Art. 79 Rn. 5. Ähnlich bereits die Substanztheorie bei Klein, vMK, Art. 79 V I I Nr. 3 b, S. 1893. 52 Z.B.: Art. 102 GG. Vgl. Alberts, Änderungsbefugnisse, S. 31.

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2. Teil: Grundlagen

20 G G „nicht berührt" werden dürfen, legt eine solche ausnahmslose Geltung nahe. V o r allem schließt der Zweck des Art. 79 Abs. 3 GG, einen änderungsfesten Kern der Verfassung festzulegen, jede Modifikation durch den Gesetzgebers aus. Art. 79 Abs. 3 G G könnte einer Machtergreifung nicht den Mantel der Legalität nehmen, wenn sich der Verfassungsgesetzgeber i m Bereich der Art. 1 und 20 G G auf die „Systemimmanenz" oder „Sachgerechtigkeit" seiner Eingriffe berufen dürfte. Es ist zwar richtig, daß einige der in Art. 1 und 20 GG enthaltenen Prinzipien keine strikten Forderungen beinhalten. Insbesondere verlangt der Gewaltenteilungsgrundsatz keine volle Funktionentrennung. Andere Grundsätze, wie der Schutz der Menschenwürde, beanspruchen hingegen strenge Beachtung. Die Zulässigkeit systemimmanenter Modifizierungen ist somit eine Frage des Inhalts der jeweiligen Prinzipien und keine Frage ihrer Änderbarkeit.

4. Rechtsstaatsprinzip

und Art. 79 Abs. 3 GG

I m Rahmen des Art. 79 Abs. 3 G G ist unklar, ob das Rechtsstaatsprinzip als Ganzes von der Ewigkeitsgarantie erfaßt ist. Denn der Verweis auf Art. 20 GG macht nur deutlich, daß die Teilung der Staatsgewalt (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG) und ihre Bindung an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) unantastbar sind. Beide Grundsätze sind aber nur Teilgehalte des Rechtsstaatsgedankens. Fraglich ist, ob das Prinzip als Ganzes in Art. 20 G G aufgenommen ist oder ob nur seine speziell genannten Teile gemeint sind. Angesichts des in Art. 20 GG benutzten „Telegrammstils", in dem Vieles mit wenigen Worten vorweggenommen wird, was später näher ausgeführt ist, wäre es vorschnell, die Möglichkeit einer solchen andeutenden Einbeziehung auszuschließen. Das BVerfG hat daher in mehreren Entscheidungen 5 3 vor dem Abhör-Urteil die Verankerung des Rechtsstaatsprinzips in Art. 20 G G angenommen und ist danach kommentarlos auf diese Linie zurückgekehrt. 5 4 I m Abhör-Urteil hat es hingegen erklärt, das Rechtsstaatsprinzip als Ganzes sei nicht in Art. 20 G G enthalten. 5 5 Ä h n l i c h unklar verhält sich das Schrifttum. A u f der einen Seite wird das Rechtsstaatsprinzip regelmäßig i m Rahmen des Art. 20 G G erörtert. A u f der anderen Seite finden sich bei der Kommentierung des Art. 79 Abs. 3 G G zahlreiche Stimmen, wonach der Rechtsstaatsgedanke als Ganzes nicht in Art. 20 G G enthalten und damit nicht von der Ewigkeitsgarantie erfaßt sei. 5 6 53 Grundlegend: BVerfGE 2, 380 (381). 54 BVerfGE 35, 41 (45); 39, 128 (143). 55 BVerfGE 30,1 (24/25). Das Sondervotum hat die Frage offen gelassen (aaO. S. 40). 56 Siehe etwa Jarass / Pieroth, Art. 20 Rn. 21 einerseits und Art. 79 Rn. 9 andererseits. Gegen die Einbeziehung des Rechtsstaatsprinzips: Evers, BoK, Art. 79 Abs. 3 Rn. 202/ 203; Kirchhof, HbStR, § 19 Rz.73; Seifert / Hömig, Art. 79 Rn. 4. Nicht explizit, aber sinngemäß auch Ridder, AltK, Art. 79 Rn. 36-38 und Schlink, Abhör-Urteil, S. 95/96.

Β. Eingriffsschranken

89

Die Frage muß jedoch einheitlich beantwortet werden. Denn Art. 79 Abs. 3 G G verweist auf die in Art. 20 G G enthaltenen Grundsätze. M a g man auch m i t Recht bezweifeln, ob alle Konkretisierungen dieser Prinzipien an der Ewigkeitsgarantie teilhaben, so ist eine ähnliche Zweigleisigkeit bei den Grundsätzen selbst nicht möglich. Sie sind „ex lege" geschützt, soweit sie in Art. 20 G G enthalten sind. Dafür daß in Art. 20 G G das Rechtsstaatsprinzip als Ganzes verankert ist, finden sich in der Entstehungsgeschichte des Art. 20 G G zahlreiche Belege. Das Wort v o m „sozialen Rechtsstaat" erscheint bereits i m ersten Entwurf zu dieser Grundsatznorm. 5 7 Daß die Formel v o m „sozialen Rechtsstaat", die übrigens auf Carlo Schmid (SPD) zurückgeht, 5 8 in der Endfassung des Art. 20 G G nicht wiederkehrt, hat hingegen keine inhaltliche Bedeutung. Denn in bezug auf das Rechtstaatsprinzip bestand i m Parlamentarischen Rat ein überparteilicher Konsens. 59 Die Betonung seiner Teilgehalte, der Gewaltenteilung und der Gesetzesbindung, kann vielmehr damit erklärt werden, daß die Abgeordneten den grundlegenden Unterschied des von ihnen projektierten Rechtsstaates zum Gewaltenmonismus kommunistischer Systeme einerseits und zur Gesetzesverachtung faschistischer Regime andererseits hervorheben w o l l t e n . 6 0 I m übrigen zeigt auch die Entstehungsgeschichte des Art. 79 Abs. 3 GG, daß das Rechtsstaatsprinzips zum unantastbaren Kern der Verfassung gehört. Denn in der Begründung des allgemeinen Redaktionsauschusses zu der von ihm vorgeschlagenen Verweisung auf die Art. 1 und 20 GG heißt es, daß die „hier normierte demokratisch-rechtsstaatliche Grundordnung" nicht in ihr Gegenteil verkehrt werden dürfe. Zudem lautete eine ebenfalls v o m Redaktionsausschuß vorgeschlagene, ausführlichere Fassung: „Eine Änderung des Grundgesetzes ist unzulässig, die den Grundsatz der unmittelbaren Geltung der Grundrechte (Art. 1) oder die demokratische, republikanische und rechtsstaatliche Ordnung (Art. 21) antastet." 61 Daß das Rechtsstaatsprinzip schließlich „expressis verbis" weder in Art. 20 G G noch in Art. 79 G G genannt wird, bedeutet keine inhaltliche Abkehr. Das wird daran deutlich, daß die Formel vom „sozialen Rechtsstaat" i m Homogenitätsprinzip des Art. 28 Abs. 1 G G Aufnahme fand.

57

Matz, in: Doemming, Entstehungsgeschichte, S. 195. Menger, Rechtsstaat, S. 3 unter Berufung auf eine mündliche Auskunft des Abg. von Mangoldt. 59 Schmidt-Aßmann, HbStR I, § 24 Rn. 45 Fn. 11 ; Otto, Staatsverständnis, S. 65,175/ 176. 60 Menger, Rechtsstaat, S. 4 spricht von einer „doppelten Frontstellung gegen die eigene Vergangenheit und gegen die östliche Gegenwart". Beide Zitate bei Füßlein, in: Doemming, Entstehungsgeschichte, S. 586. Der dort erwähnte Art. 21 entspricht dem Art. 20 GG in der endgültigen Fassung. 58

2. Teil: Grundlagen

90

Die Einbeziehung des Rechtstaatsprinzips in den unantastbaren Kern der Verfassung, liegt nicht nur historisch nahe. Gerade wenn man den Zweck des Art. 79 Abs. 3 G G darin sieht, eine Umgestaltung des Systems in sein Gegenteil zu verhindern, wird man auf die i m Rechtsstaatsgebot enthaltenen Forderungen nach Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit, nach umfassendem Gerichtsschutz und rechtlichem Gehör nicht verzichten können. Insbesondere einem materialen Verständnis der Verfassung erschließt sich das Rechtsstaatsprinzip als notwendiges M i t t e l zur Beschränkung und Rationalisierung der Macht und zur Gewährleistung eines freien Verfassungslebens. Dem entspricht es, daß in der Literatur das Rechtsstaatsprinzip überwiegend zu dem von Art. 79 G G geschützten Kern gerechnet w i r d . 6 2 Wenn man demgegenüber die inhaltliche Unschärfe des Rechtsstaatsprinzips und die Unsinnigkeit der Perpetuierung seiner zahllosen Verästelungen als Argumente gegen seine Einbeziehung in den Kern der Verfassung vorbringt, so sind damit i m Grunde Probleme berührt, die in gleicher Weise auch bei den übrigen von Art. 79 Abs. 3 G G geschützten Prinzipien anzutreffen sind. Denn der Rechtsstaatsbegriff ist nicht unklarer und konkretisierungsbedürftiger als der Sozialstaatsgedanke oder das Bundesstaatsprinzip.

5. Inhaltliche

Offenheit der unantastbaren

Prinzipien

Damit ist zugleich das Problem berührt, daß viele der in Art. 1 und 20 G G angesprochenen Prinzipien inhaltlich offen sind und keinen zeitlos feststehenden Inhalt haben. Sie können nach Ort und Zeit unterschiedlich verstanden werden. 6 3 So bezeichnen sich kommunistische Einparteienregime ebenso als Demokratien wie parlamentarische Mehrparteiensysteme. Soll Art. 79 Abs. 3 G G seinem Zweck als „Revolutionsverbot" gerecht werden, so muß daher die Assoziationsbreite dieser Begriffe eingeengt werden. Nicht jedes beliebige Verständnis der Grundsätze kann zulässig sein. Damit stellt sich aber die Frage, welches Verständnis der geschützten Prinzipien zugrunde zu legen ist. Erkennt man den Zweck des Art. 79 Abs. 3 G G darin, die Grundentscheidungen der Verfassung zu bewahren, so gibt es im Grunde nur eine zutreffende Antwort: Die Prinzipien müssen aus dem Kontext der Verfassung heraus verstanden werden. 6 4

62 Schmidt-Aßmann, HbStR I, § 24 Rz.90; Herzog, MDHS, Art. 20 I Rn. 32, V I I Rn. 36; Bryde, vMü, Art. 79 Rn. 42; Stern, StR I, S. 172/173; Hesse, Grundzüge, Rn. 705/706; Alberts, Auflösung, S. 322; Hall, Abhörentscheidung, S. 136; Häberle, Abhörentscheidung, S. 152/153. 63 Darauf weist Herzog, MDHS, Art. 20 I Rn. 24 hin. 64 Allg. Meinung: Bryde, vMü, Art. 79 Rn. 39; Hesse, Grundzüge, Rn. 703; Alberts, Änderungsbefugnisse, S. 33.

91

Β. Eingriffsschranken 6. Umkehrschluß

aus Art. 79 Abs. 3 GG?

Diese einfache Feststellung ist aber nicht ganz so umproblematisch wie es den Anschein hat. Denn wenn man die Prinzipien im Lichte des Grundgesetzes versteht, so bedeutet dies notwendig, daß einige ihrer Konkretisierungen an der Unantastbarkeit teilnehmen. Sieht man etwa das Demokratieprinzip i m Sinnzusammenhang der Verfassung, so sind damit untrennbar das Recht auf freie M e i nungsäußerung, freie, geheime und gleiche Wahlen sowie das Mehrparteienprinzip verbunden. 6 5 Damit geraten die Art. 5, 21 und 38 G G in den unantastbaren Bereich. Dies steht aber in merkwürdigem Kontrast zu der Tatsache, daß der Verfassungsgeber nur zwei Artikel für unverbrüchlich erklärt hat. Der Umkehrschluß aus Art. 79 Abs. 3 G G scheint also gerade solche „Kettenreaktionen" zu verbieten. 6 6 Damit stellt sich aber die Frage, wie dieser Widerspruch zu beheben ist. M a n könnte daran denken, daß nur die Grundsätze, nicht aber ihre Konkretisierungen änderungsfest sein sollen. Dies würde aber letztlich den Zweck des Art. 79 Abs. 3 GG darauf reduzieren, unklare Formeln zu erhalten. Sie könnten einer Umwälzung des Systems nicht i m Wege stehen. Man könnte den Widerspruch auch dadurch beheben, daß man zur Konkretisierung nur Grundsätze heranzieht, die von der Rechtsprechung entwickelt wurden und nicht in der Verfassung stehen. Damit würden aber wesentliche Inhalte ausgeklammert, während Bestimmungen unantastbar werden könnten, die dem Verfassungsgesetzgeber für die Aufnahme ins Grundgesetz nicht wichtig genug erschienen. Der Widerspruch, der in der Verweisung auf offene Prinzipien einerseits und in der Beschränkung auf wenige Grundsätze andererseits liegt, läßt sich daher i m Ergebnis nicht harmonisieren. Da Art. 79 Abs. 3 G G nur einen Sinn gewinnen kann, wenn man seine Grundsätze konkretisiert, bedeutet dies zwangsläufig, daß der Umkehrschluß aus Art. 79 Abs. 3 G G unzulässig ist.

7. Auswahlkriterien

für änderungsfeste

Konkretisierungen?

Die Feststellung, daß nicht nur die in Art. 1 und 20 G G enthaltenen Prinzipien selbst unantastbar sind, sondern auch einige ihrer Konkretisierungen, führt zu weiteren schwierigen Fragen. Denn es ist nicht einfach möglich, alle Konkretisierungen dieser Grundsätze in den Schutzbereich des Art. 79 Abs. 3 G G einzubeziehen. Den Art. 1 und 20 G G kommt nämlich in der Judikatur des BVerfG eine lückenschließende Funktion zu. Der Rückgriff auf die allgemeinen Grundsätze ist besonders bei Art. 20 G G häufig, wenn konkretere Regeln i m Grundgesetz 65 Hesse, Grundzüge, Rn. 704/705. 66 Ridder pocht mit „stählerner Hartnäckigkeit" auf diesem Umkehrschluß (Altk, Art. 79 Rn. 35). Er wird aber auch von Maunz / Dürig, MDHS, Art. 79 Rn. 5 mit Fn. 5 und Schlink, Abhör-Urteil, S. 97 verwendet.

92

2. Teil: Grundlagen

fehlen. Fungieren die geschützten Grundsätze aber in gewisser Hinsicht als Auffangnormen, 6 7 so müßte der Kern der Verfassung immer mehr anschwellen, wenn man alle Konkretisierungen in die Ewigkeitsgarantie einbeziehen wollte. Gleichzeitig wäre es aber nicht einsichtig zu machen, daß beispielsweise ein Rückwirkungsverbot i m Steuerrecht unantastbar sein sollte. Es muß daher eine Auswahl zwischen den „essentialia" und den „accidentialia" der geschützen Grundsätze getroffen werden. Dabei besteht Einigkeit darüber, daß nur die wesentlichen Konkretisierungen der Art. 1 und 20 G G an der Ewigkeitsgarantie teilnehmen können. Die Konkretisierungen müssen für das Prinzip schlechthin prägend und darum unabdingbar sein. Fraglich ist allerdings, wie man die unverzichtbaren Elemente eines Prinzips von den verzichtbaren Elementen trennt, welche Unterscheidungskriterien zwischen wesentlichen und unwesentlichen Konkretisierungen verwendet werden. A u f dieses Problem hat insbesondere Alberts aufmerksam gemacht. Er schlägt vor, die Conditio-sine-qua-non-Formel anzuwenden: Wenn ein Rechtsprinzip auch ohne ein bestimmtes Teilprinzip wirksam bleibe, dann sei das Teilprinzip entbehrlich. 6 8 Dieser Lösungsweg mag anschaulich sein, er hat jedoch einen grundlegenden Mangel: Die Übertragung einer Kausalitätstheorie von der Ebene der Tatsachen auf die Ebene der Begriffe kann nicht gelingen. Die als Korrektiv wirkende, zumindest gedankliche Wiederholung eines Experiments ist bei Begriffen nicht möglich. Roman Herzog w i l l demgegenüber danach unterscheiden, ob sich eine Konkretisierung ausschließlich einem oder mehreren Grundsätzen der Art. 1 und 20 G G zuordnen läßt. Ist das der Fall, so wird sie von Art. 79 Abs. 3 G G erfaßt. Entsteht die Konkretisierung aber aus der Gesamtschau mehrerer Artikel, zu denen nicht nur Grundsätze der Art. 1 und 20 G G gehören, wird die Konkretisierung nicht geschützt. 6 9 A u c h dieser Versuch einer rein formalen Trennung verspricht wenig Erfolg. Z u m einen wird nicht berücksichtigt, daß einige Verfassungsbestimmungen, wie Art. 38 GG, selbst Ausdruck von Grundsätzen der Art. 1 und 20 G G sind. Z u m anderen dürfte bei vielen Konkretisierungen ein Streit entbrennen, ob sie reiner oder vermischter Natur sind. Z u m Beispiel könnte die Chancengleichheit der Parteien, obwohl für die Demokratie konstituierend, auch als Derivat der Art. 3, 21 G G betrachtet und für änderbar erklärt werden. Mögen daher die von Alberts und Herzog vorgeschlagenen formalen Kriterien als grobe Richtungsweiser nützlich sein, so kommt man doch bei der Feststellung der wesentlichen Konkretisierungen nicht ohne inhaltliche Überlegungen aus.

67

Herzog, MDHS, Art. 201 Rn. 27 hat auf die Auffangfunktion aufmerksam gemacht. Alberts, Änderungsbefugnisse, S. 43-46. 69 Herzog, MDHS, Art. 20 I Rn. 28/29. 68

Β. Eingriffsschranken

93

Demgemäß hat Evers vorgeschlagen, bei der Bestimmung der änderungsfesten Konkretisierungen inhaltlich abzuwägen. In diese Güterabwägung sei zum einen die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, zum anderen der Zweck des Art. 79 Abs. 3 G G und der Gedanke der Einheit der Verfassung einzustellen. Außerdem hält er es für zulässig, wertemäßige Rangunterschiede und sachliche Bedürfnisse zu berücksichtigen. 7 0 Evers hält damit den Kreis inhaltlicher Auswahlkriterien weitgehend offen. Er überläßt es einer umfassenden und damit notwendig unklaren Abwägung, welche Konkretisierungen an der Unantastbarkeit teilnehmen. Die sicher notwendige Berücksichtigung materieller Kriterien führt damit im Einzelfall zu einem wenig vorhersehbaren Abwägungsergebnis. U m diese Ungewißheit zu vermeiden, ist es erforderlich, die Gewichte bei einer solchen gedanklichen Abwägung von vornherein klar festzulegen. Insbesondere muß der Zweck des Art. 79 Abs. 3 G G gegenüber allen anderen Auswahlkriterien Vorrang haben. Sieht man diesen Zweck nicht nur darin, eine Umkehr des Systems durch seine Widersacher zu verbieten, sondern auch darin, den Kern der Verfassung zu schützen, so kommt es für die Trennung wesentlicher und unwesentlicher Konkretisierungen darauf an, inwieweit sie für die Verfassung als Ganzes prägend sind. Folgt man dem materialen Verständnis, so ist es entscheidend, inwieweit ein Teilprinzip zur Beschränkung und Rationalisierung staatlicher Macht und zur Entfaltung eines freien Verfassungslebens beiträgt. Gegenüber diesem Zweck müssen die übrigen von Evers genannten Kriterien zurücktreten. Ergänzend können auch andere Ewigkeitsklauseln rechtsvergleichend herangezogen werden. 7 1

8. Statisches oder dynamisches Verständnis? M i t der Auslegung der unantastbaren Grundsätze aus dem Kontext der Verfassung ist noch ein weiteres Problem verbunden. Es stellt sich die Frage, ob i m Laufe der Zeit, wenn sich die Konkretisierungen einzelner Prinzipien nach und nach ändern, auch die Grundsätze inhaltlich modifiziert werden. Ist damit der Kern der Verfassung wandelbar 7 2 oder anreicherungsfähig? 73 Sieht man den Grund für die Unantastbarkeit der Art. 1 und 20 G G allein in der Entscheidung des Verfassungsgebers und in seiner Priorität gegenüber dem Verfassungsgesetzgeber, so bleibt für ein dynamisches Verständnis des Art. 79 Abs. 3 G G kein Raum. Dann können zur Bestimmung des Kerns der Verfassung

70 Evers, BoK, Art. 79 Abs. 3 Rn. 156/157. Darauf weist Häberle, Ewigkeitsklauseln, S. 96-98 hin. 72 Häberle, Ewigkeitsklauseln, S. 102. 73 Stern, StR I, S. 117.

94

2. Teil: Grundlagen

nur Grundsätze herangezogen werden, von denen sich der Parlamentarische Rat bei den Beratungen des Grundgesetzes leiten ließ. Dadurch kommt der historischen Argumentation ein besonderes Gewicht zu. Stellt man nicht allein auf den subjektiven W i l l e n des „pouvoir constituant" ab, sondern betont man mehr objektiv den Zweck der Verfassung, dann ist der Einbau späterer Erkenntnisse denkbar. Oft zeigt sich erst nach dem theoretischen Entwurf des Verfassungsgebers, daß in der Praxis des Verfassungslebens weitere Grundsätze zur Begrenzung der Macht notwendig werden. Diese können in solchem Maße zur Rationalisierung der Macht beitragen, daß sie systemtragend werden. Beispielweise ist der vom B V e r f G entwickelte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit für das moderne Grundrechts- und Rechtsstaatsverständnis von so zentraler Bedeutung, daß er zum Kern der Verfassung gerechnet werden m u ß . 7 4 Allerdings ist ein solcher Wandel im Verständnis des Verfassungskerns nur in sehr begrenztem Umfang verfassungsrechtlich anzuerkennen. Denn zum einen muß eine flexible Verfassungsentwicklung möglich bleiben. Das verbietet ein überproportionales Wachstum des unveränderbaren Kerns. Z u m anderen kann Art. 79 Abs. 3 G G seine Aufgabe als Norm des Verfassungschutzes nicht erfüllen, wenn der Eindruck interpretatori scher Beliebigkeit entsteht. 75 Der in Art. 79 Abs. 3 G G geschützte Verfassungskern ist daher nur in geringem Umfang entwicklungsfähig. Er steht i m großen und ganzen fest und ist damit vorwiegend statischer Natur.

I I . Schranken einfacher Gesetze (Art. 93, 94 G G ) Oft verfügt die Regierungspartei i m Parlament nicht über eine Zweidrittelmehrheit. Dann kommt nur das Mittel des einfachen Gesetzes in Betracht. 7 6 W e i l die Legislative dabei nach Art. 20 Abs. 3 GG an die ganze Verfassung gebunden ist, kann ein Eingriffsgesetz aus vielen Gründen verfassungsrechtlich bedenklich sein. Allgemeine Aussagen lassen sich nur über institutionellen Eingriffsgesetze treffen, d.h. über Änderungen des Β VerfGG. Bei ihnen gelten stets dieselben formellen Erfordernisse und oft werden dieselben materiellen Schranken (Art. 93 und 94 GG) aktuell.

74 Dies wird jedoch überwiegend abgelehnt; vgl. BVerfGE 30, 1 (25), Seifert-Hömig, Art. 79 Rn. 4. 75 Daher ist Evers, BoK, Art. 79 Abs. 3 Rn. 145-147 gegen jeden Wandel. 76 Die Möglichkeit von Notstandsgesetzen im Verteidigungsfall wird hier nicht näher erörtert. Das BVerfG ist insoweit durch Art. 115 g und h GG geschützt. Dazu ausführlich: Benda, Verteidigungsfall, S. 793-808.

Β. Eingriffsschranken 7. Formelle

95

Schranken

In formeller Hinsicht stellt sich zunächst die Frage nach der Gesetzgebungskompetenz. Da die Art. 93 Abs. 2 und 94 Abs. 2 G G für institutionelle Regelungen ein „Bundesgesetz" verlangen, ist der Bund ausschließlich zuständig. Diese Regelungsbefugnis erstreckt sich auf „Verfassung" und „Verfahren" des BVerfG (Art. 94 Abs. 2 S. 1 GG). Art. 74 Nr. 1 G G spricht etwas ausführlicher von „Gerichtsverfassung" und „gerichtlichem Verfahren". Gemeint ist in beiden Vorschriften das gleiche: das gesamte Organisations- und Prozeßrecht. 7 7 Art. 94 Abs. 2 S. 1 G G stellt als „lex specialis" zu Art. 74 Nr. 1 G G lediglich klar, daß die für die anderen Gerichte geltende Gesetzgebungsbefugnis in entsprechender Weise auch für das B V e r f G als Verfassungsorgan gilt. Es besteht nur ausnahmsweise keine konkurrierende, sondern eine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes. 7 8 I m Gesetzgebungsverfahren stellt sich die Frage, ob institutionelle Gesetze der Zustimmung des Bundesrats bedürfen. Nach Art. 77 Abs. 3 S. 1 G G bedürfen Bundesgesetze nur dann der Zustimmung, wenn dies an anderen Stellen des Grundgesetzes angeordnet ist. Ein solches Zustimmungserfordernis ist für das Verfassungsgerichtsgesetz nicht vorgeschrieben. M a n könnte es aber Art. 84 Abs. 1 G G entnehmen. 7 9 Denn die Länder sind nach § 31 Abs. 1 BVerfGG an die Entscheidungen des BVerfG gebunden und müssen sie nach § 35 B V e r f G G gegebenenfalls vollstrecken. Die Bindung der Behörden an die Entscheidungen des B V e r f G und ihre Pflicht zur Vollstreckung fixieren aber letztlich nur i m einfachen Recht die bereits i m Grundgesetz angelegte Gehorsamspflicht gegenüber dem B V e r f G . 8 0 Sie bewirken daher bei den Ländern keine zusätzliche Verwaltungsbelastung, so daß der innere Grund für das Zustimmungserfordernis nach Art. 84 Abs. 1 G G nicht gegeben ist. 8 1 Das B V e r f G G ist daher ein reines Einspruchsgesetz. 82 Das gilt erst recht für alle institutionellen Änderungsgesetze, bei denen die §§ 31, 35 B V e r f G G unberührt bleiben. Denn Änderungsgesetze bedürfen nur der Zustimmung, wenn sie selbst einen zustimmungsbedürftigen Inhalt haben. 8 3

77 Ausführlich zu den beiden Begriffen: Stern, BoK, Art. 94 Rn. 108 -117 und Maunz, MSBKU, Vorb. Rn. 33. 78 Spezialität und Ausschließlichkeit nimmt auch Stern, BoK, Art. 94 Rn. 97/109 an. 79 Zur Frage, ob man aus Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG ein Zustimmungserfordernis ableiten kann, unten 4. Teil C I Nr. 2. 80 Ausführliche Begründung unten 3. Teil Β I I I Nr. 1. 8 1 Ebenso Geiger, BVerfGG, S. 1-3. 8 2 Ebenso Laufer, Politischer Prozeß, S. 170; Holtfort, Vorschläge, S. 21; Geiger, BVerfGG, S. 1-3. 83 Vgl. Seifert / Hömig, Art. 78 Rn. 4 m.w.N.

96

2. Teil: Grundlagen 2. Materielle

Schranken

Der einfache Gesetzgeber ist bei institutionellen Gesetzen auch inhaltlich gebunden. Er darf die Leitlinien der ranghöheren Verfassung nicht revidieren (Art. 20 Abs. 3 GG). Dabei enthalten die Art. 93 und 94 G G wichtige inhaltliche Schranken. Insbesondere hat Art. 94 Abs. 2 S. 1 G G auch materielle Bedeutung. Er ist nicht allein eine Kompetenznorm. Denn der einfache Gesetzgeber ist nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, Gerichtsorganisation und Verfassungsprozeß zu regeln. Bundestag und Bundesrat haben den verfassungsrechtlichen Auftrag, in einem formellen Gesetz die Verfassung und das Verfahren des Gerichts auszugestalten. 84 Dieser Gesetzgebungsauftrag hat sich auch nicht dadurch erledigt, daß 1951 das Β VerfGG erlassen wurde. 8 5 Vielmehr besteht der Gesetzgebungsauftrag als Erhaltungsauftrag fort. Verfassung und Verfahren des Gerichts müssen nicht nur geregelt werden, sondern auch geregelt bleiben. 8 6 Dieser Erhaltungsauftrag erstreckt sich nicht nur formell auf den Fortbestand eines Gesetzes, sondern auch materiell auf die Weitergeltung bestimmter Garantien. Die in Art. 94 Abs. 1 G G verankerten Berufsrichter-, Hälftigkeits- und Inkompatibilitätsregeln müssen ebenso bewahrt werden wie die in Art. 94 Abs. 2 S. 1 G G vorgeschriebene Gesetzeskraft der Urteile. V o r allem muß die gesetzliche Regelung aber die Funktionsfähigkeit des BVerfG garantieren. Das Prinzip der Funktionsfähigkeit wird bei einem Vergleich von Art. 94 Abs. 2 S. 1 G G mit Art. 115g G G deutlich. I n Art. 115g Abs. 1 S. 1 G G w i r d für den Verteidigungsfall das ausdrückliche Verbot ausgesprochen, die Stellung des BVerfG zu beeinträchtigen. 8 7 Das Beeinträchtigungsverbot soll, wie Art. 115g Abs. 1 S. 2 G G zeigt, die Funktionsfähigkeit des B V e r f G in Kriegszeiten sichern. Der Bundestag hatte zwar erwogen, das Beeinträchtigungsverbot aus dem Notstandsrecht herauszunehmen und in Art. 94 G G einzufügen. Er kam aber zu dem Ergebnis, daß diese Textgestaltung i m Grunde überflüssig wäre. Denn das BVerfG sei zum einen in Friedenszeiten nicht in besonderer Weise gefährdet. Z u m anderen enthalte die Verfassung bereits ein allgemeines Verbot, andere Verfassungsorgane in ihrer Tätigkeit zu behindern. 8 8 84 Meyer, vMü, Art. 94 Rn. 4; Stern, BoK, Art. 94 Rn. 94. 85 Die Regel „cessante ratione legis cessat ipsa lex" ist nicht anwendbar. Der Zweck des Art. 94 Abs. 2 S. 1 GG ist auf die dauernde Existenz eines Verfassungsgerichtsgesetzes gerichtet. Dieser Zweck wurde mit dem Erlaß des BVerfGG nur auf Zeit, d.h. nur partiell, erreicht, so daß keine völlige Zweckerreichung vorliegt. Zu dem gemeinrechtlichen Rechtssatz und seiner verfassungsrechtlichen Verankerung: Löwer, Cessante Ratione, S. 35. 86 Inhaltich ebenso: Stern, BoK, Art. 94 Rn. 95 und Maunz, MSBKU, Vorb. Rn. 33. 87 Die Beschränkung des Beeinträchtigungsverbots auf den Verteidigungsfall ergibt sich nicht aus dem Wortlaut, aber aus dem Textzusammenhang (Herzog, MDHS, Art. 115 g Rn. 9).

Β. Eingriffsschranken

97

Das Schrifttum ist dieser Rechtsauffassung gefolgt und geht davon aus, daß die Funktionsfähigkeit des BVerfG auch in Friedenszeiten verfassungsrechtlich garantiert i s t . 8 9 Denn das Grundgesetz kann nur dann unmittelbare Rechtsgeltung (Art. 20 Abs. 3 GG) erlangen, wenn alle von der Verfassung konstituierten Staatsorgane ihre Funktionen erfüllen. A l l e Verfassungsorgane müssen deswegen funktionsfähig sein. Allerdings war es dem Parlamentarischen Rat durchaus bewußt, daß das BVerfG ohne eine detailliertere Regelung nicht ins Verfassungsleben treten konnte. Daher hat er dem einfachen Gesetzgeber in Art. 94 Abs. 2 G G die Aufgabe übertragen, die Funktionsfähigkeit des Gerichts herzustellen. Der Gesetzgeber war somit von Anfang an verpflichtet, die gesetzlichen Voraussetzungen für ein funktionierendes Gericht zu schaffen. Nach Erlaß des B V e r f G G hat sich der Herstellungsauftrag zwar in einen Erhaltungsauftrag gewandelt. Der Regelung des Art. 94 Abs. 2 S. 1 GG blieb aber der Gedanke der Funktionsfähigkeit immanent. Art. 94 Abs. 2 S. 1 G G verbietet der Legislative den Erlaß von Vorschriften, die die Funktionsfähigkeit des Gerichts beeinträchtigen (negativer Aspekt). Zugleich fordert er v o m Gesetzgeber, gesetzliche Abhilfe zu schaffen, wenn die Funktionsfähigkeit des Gerichts gefährdet ist (positiver Aspekt). 9 0 Während das Prinzip der Funktionsfähigkeit in erster Linie die Gerichtsorganisation betrifft, setzt Art. 93 G G dem gesetzgeberischen Ermessen in bezug auf das Prozeßrecht Schranken. Der Zuständigkeitsbereich des B V e r f G wird nämlich, wie Art. 93 Abs. 1 Nr. 5 G G zeigt, i m wesentlichen durch das Grundgesetz bestimmt. Nach Art. 93 Abs. 2 GG darf der einfache Gesetzgeber den Zuständigkeitsbereich zwar erweitern. Nach allgemeiner Meinung ist diese Befugnis allerdings begrenzt. 9 1 Praktisch bedeutsamer ist es, daß der einfache Gesetzgeber den Zuständigkeitsbereich des BVerfG nicht einschränken darf. Das ergibt der Umkehrschluß aus Art. 93 Abs. 2 GG. Es folgt aber auch aus dem Vorrang der Verfassung (Art. 20 88 BT-Drs. V, Nr. 1879, S. 28/29. Die Begründung stellt gedanklich auf das Prinzip der Organ treue ab. 89 Herzog, MDHS, Art. 115 g Rn. 16; Schmidt-Bleibtreu / Klein, Art. 115 g Rn. 2; Seifert-Hömig, Art. 115 g Rn. 1; Versteyl, vMü, Art. 115 g Rn. 2; Stern, StR II, S. 1361/ 1362; Benda, Verteidigungsfall, S. 794/795; Lemke, Vorläufiger Rechtsschutz, S. 75; Billing, Richterwahl, S. 110/111. 90 In dieser Hinsicht ist der mahnende Appell Geigers von 1955 zu verstehen: der Gesetzgeber mache sich einer Verfassungsverletzung schuldig, wenn er den ernsten Organisationsproblemen des Gerichts nicht abhelfe (Reform, S. 211; zum Zusammenhang oben 1. Teil A III). 9· Teils wird angenommen, daß dem BVerfG nur verfassungsrechtliche Streitigkeiten und Streitigkeiten gleichen Ranges übertragen werden dürfen (Maunz, MDHS, Art. 93 Rn. 3, MSBKU, Vorb. Rn. 5; Meyer, vMü, Art. 93 Rn. 68). In BVerfGE 31, 371 (377) blieb es offen, ob dem zu folgen ist. Teils wird angenommen, daß das BVerfG jedenfalls nicht überlastet werden dürfe. Die Funktionsfähigkeit des Gerichts müsse erhalten bleiben (Stern, BoK, Art. 93 Rn. 851/852; Jarass / Pieroth, Art. 93 Rn. 1). 7 Häußler

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2. Teil: Grundlagen

Abs. 3 GG). Daher darf der einfache Gesetzgeber die i m Grundgesetz begründeten Verfahrensarten nicht abschaffen. 92 Das Grundgesetz enthält bei den Zuständigkeitsregeln auch einige spezielle Verfahrensbestimmungen. I m Bereich des besonderen Verfahrensrechts hat der einfache Gesetzgeber darum manchmal wenig Spielraum. Insbesondere das A n tragsrecht ist in Art. 93 und 100 GG meist klar geregelt und mitunter als subjektivöffentliches Recht ausgestaltet. Ist das Antragsrecht i m Grundgesetz festgelegt, so darf der einfache Gesetzgeber den Kreis der Antragsberechtigten nicht einschränken. 93 Jede Regel, die objektiv den Zugang zum B V e r f G verhindert, ist verfassungswidrig. 9 4 Aus diesem Grund kann die in § 63 B V e r f G G enthaltene Aufzählung der i m Organstreit Antragsberechtigten nicht abschließend sein. Nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 G G steht allen vom Grundgesetz mit eigenen Rechten ausgestatteten „Beteiligten" ein Antragsrecht zu. Einen Organstreit können darum auch politische Parteien führen, soweit sie um ihren besonderen verfassungsrechtlichen Status kämpfen. 9 5 § 63 BVerfGG ist daher insoweit verfassungswidrig, als er das A n tragsrecht „ n u r " auf bestimmte Bundesorgane und deren Teile beschränkt. 9 6 Der Kreis der Antragsteller darf zwar regelmäßig nicht objektiv beschränkt werden. Das schließt aber die Schaffung subjektiver Zugangshindernisse grundsätzlich nicht aus. Darunter sind solche Prozeßvoraussetzungen zu verstehen, die der Antragsberechtigte zumutbarer Weise erfüllen kann. Daher kann der einfache Gesetzgeber beispielweise den Anwaltszwang einführen. 9 7 Eine Ausnahme gilt nur dann, wenn das Grundgesetz selbst bereits subjektive Zugangshindernisse vorsieht. Dann kann der einfache Gesetzgeber sie nicht verschärfen. Genügen nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 G G für die abstrakte Normenkontrolle „Meinungsverschiedenheiten" oder „ Z w e i f e l " über die Vereinbarkeit einer Norm mit dem Grundgesetz, dann kann der einfache Gesetzgeber nicht fordern, daß es bereits zu einem konkreten Streitfall gekommen ist. 9 8 Schwieriger zu 92 Vgl. unten 4. Teil Β I Nr. 1 und II Nr. 1. 93 Ebenso Stern, BoK, Art. 94 Rn. 104. Zu den Grenzen von Verfassungsänderungen im Bereich des Antragsrechts siehe Alberts, Änderungsbefugnisse, S. 142. 94 Die Unterscheidung zwischen objektiven und subjektiven Zugangshindernissen folgt der Terminologie der Drei-Stufen-Theorie zu Art. 12 GG (dazu Jarass / Pieroth, Art. 12 Rn. 20-25). 95 BVerfGE 1, 208 (223/224); 44, 125 (137). 96 In der Sache sind das BVerfG und die h.M. der gleichen Ansicht (Ulsamer, MSBKU, § 63 Rn. 6; Leibholz / Rupprecht, BVerfGG, § 63 Rn. 6; Lechner, BVerfGG, § 63 Anm. 1; Schiaich, BVerfG, Rn. 82; Klein, in: Benda/ Klein, Verf-PR, Rn. 614; Löwer, HbStR II, § 56 Rn. 17; Stern, BoK, Art. 93 Rn. 87/91; Seifert/Hömig, Art. 93 Rn. 4; Jarass/ Pieroth, Art. 93 Rn. 5; Lorenz, Organstreit, S. 243/256; Goessl, Organstreitigkeiten, S. 77-79; a.A: Geiger, BVerfGG, § 63 Anm. 3). Allerdings wird das Wort „verfassungswidrig" auffällig vermieden. 97 Das wäre aber kein Eingriff (näher oben 2. Teil A II). 98 Zu diesem Vorschlag unten 4. Teil Β I I Nr. 1.

Β. Eingriffsschranken

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beantworten ist die Frage, ob der Gesetzgeber verlangen darf, daß gerade der Antragssteller die „ Z w e i f e l " hegt oder daß ein anderes staatliches Organ von der Verfassungswidrigkeit einer Regelung ausgeht und damit verschiedener Meinung ist (§ 76 BVerfGG). Der Wortlaut des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 G G läßt die Frage offen, wer die „ Z w e i f e l " hegen muß oder zwischen wem die „Meinungsverschiedenheiten" bestehen sollen. Daher spricht vieles dafür, daß der Gesetzgeber diese Frage nach Art. 94 Abs. 2 S. 1 G G regeln durfte. Demgegenüber w i r d eingewandt, daß die abstrakte Normenkontrolle ein objektives Verfahren sei und letztlich dem Interesse der Allgemeinheit an Rechtssicherheit diene. Nach dem Zweck der Vorschrift komme es nur darauf an, daß Zweifel bestehen, nicht bei wem. Entsprechend sei auch Art. 13 Abs. 2 W V , der historische Vorläufer des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, ausgelegt worden. Daher sei § 76 B V e r f G G ganz oder teilweise verfassungswidrig. 9 9 Aber auch nach dieser Meinung müssen die Zweifel und Meinungsverschiedenheiten eine gewisse Relevanz haben. 1 0 0 Es kann nicht sein, daß ein vereinzelter Pressekommentar den Anlaß für ein Normenkontrollverfahren gibt. Das Problem besteht nun darin, daß die Relevanz von Zweifeln oder Meinungsverschiedenheiten letztlich nur daran festgemacht werden kann, wieviele oder welche Personen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit einer Norm haben. Damit w i r d über den Umweg der Relevanzprüfung i m Ergebnis eingeräumt, daß die Frage, wer zweifelt oder wer verschiedener Meinung ist, unausweichlich ist. W e i l die Frage von Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 G G nicht beantwortet wird, kann es dem einfachen Gesetzgeber nicht verwehrt sein, diese Lücke zu schließen und nach Art. 94 Abs. 2 S. 1 GG festzulegen, wessen Zweifel und wessen abweichende Meinung relevant ist. § 76 B V e r f G G ist darum verfassungsmäßig. 101

I I I . Schranken faktischer Eingriffe Da die politische Führung bei informellem Handeln an das gesamte Recht gebunden ist, können faktische Eingriffe unter den verschiedensten Gesichtspunkten rechtliche Bedenken auslösen. Dementsprechend lassen sich kaum Kriterien 99 Völlige Nichtigkeit nehmen an: Söhn, Abstrakte Normenkontrolle, S. 301-303; Renck, Verfassungsmäßigkeit,S. 251;Stern,BoK,Art. 93Rn. 215;Rinken,AltK,Art. 93 Rn. 22. Teilweise Nichtigkeit befürworten: Ulsamer, MSBKU, § 76 Rn. 52; Schiaich, BVerfG, Rn. 82. Das Wort „verfassungswidrig" vermeiden: Löwer, HbStR II, § 56 Rn. 55; Klein, in: Benda/Klein, VerfPR, Rn. 665/666; Meyer, vMü, Art. 93 Rn. 39. 100 Löwer, HbStR II, § 56 Rn. 55; a. A. Renck, Verfassungsmäßigkeit, S. 250. 101 Ebenso Geiger, BVerfGG, §76 Anm. 8; Leibholz / Rupprecht, BVerfGG, §76 Rn. 4. Die Frage hat im Grunde nur theoretische Bedeutung, weil jeder Antragsteller leicht behaupten kann, er selbst bezweifle die Verfassungsmäßigkeit der umstrittenen Norm. Das BVerfG mußte darum noch nicht darüber entscheiden, ob auch fremde Zweifel ausreichen. *

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2. Teil: Grundlagen

finden, die für alle oder jedenfalls für viele informelle Eingriffe von Bedeutung sind. V o n allgemeiner Bedeutung ist i m wesentlichen nur die rechtliche Schranke der Verfassungsorgantreue. Bundestag und Bundesregierung sind wie das B V e r f G Verfassungsorgane. Sie sind verschiedene Teile des Staatsganzen. Die verschiedenen Staatsgewalten stehen aber nicht unvermittelt nebeneinander, sondern sind, wie Art. 35 G G zeigt, i m Rahmen ihrer durch die verfassungsmäßige Ordnung bestimmten Aufgaben zum Zusammenwirken verpflichtet. 1 0 2 Diese Pflicht zum wechselseitigen Beistand (Organtreue) ist letztlich ein Ausfluß von Art. 20 Abs. 2 S. 2 G G . 1 0 3 Denn die Vorstellung der staatliche Einheit bildet die gedankliche Grundlage der Gewaltenteilung. Das Prinzip der Organtreue verpflichtet in positiver Hinsicht zu gegenseitiger Hilfe, Unterstützung und Loyalität (Art. 35 GG) und es verbietet in negativer Hinsicht die Mißachtung, Behinderung oder Beeinträchtigung anderer Staatsorgan e . 1 0 4 Aus diesem Grund müssen Bundesregierung und Bundestag auch bei informellen Maßnahmen gegenüber dem B V e r f G „den selbstverständlichen Respekt" wahren, „auf den jedes Verfassungsorgan einen Rechtsanspruch besitzt." 1 0 5 Ferner dürfen sie auch durch faktische Eingriffe nicht die Funktionsfähigkeit des B V e r f G beeinträchtigen. 1 0 6 Das würde gegen das i m Prinzip der Organtreue enthaltene Behinderungsverbot verstoßen. I m extremen Fall einer gewaltsamen Behinderung kann sogar eine Straftat nach §§105 Abs. 1 Nr. 3, 106 Abs. 1 Nr. 2 c StGB vorliegen.

I V . Schranken gehäufter Eingriffe Eingriffshäufungen bestehen oft aus faktischen und gesetzlichen Elementen. Handelt es sich um mehrere voneinander unabhängige Akte, dann kann bei diesen kumulativen Eingriffen jeder Einzelakt isoliert geprüft werden. Es bestehen jeweils die für den gesetzlichen oder faktischen Einzeleingriff geltenden Schranken. Anders ist dies bei kombinierten Eingriffen. 1 0 7 In diesem Fall werden mehrere Einzelakte so miteinander verknüpft, daß sie sich gegenseitig ergänzen und einem 102 Zu diesem gedanklichen Hintergrund des Art. 35 GG vgl.: BVerfGE 7, 183 (190); 31, 33 (46); 42, 91 (95). 103 Die Verankerung in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG ist umstritten. Wie hier: Herzog, MDHS, Art. 20 V Rn. 61. Schenke, Verfassungsorgantreue, S. 26 führt das Prinzip auf das „Gebot der Gewinnung staatlicher Einheit durch Integration" zurück. 104 Zum Inhalt der Organtreuepflicht: BVerfGE 35, 121 (199) BVerfGE 45, 1 (39); Schenke, Verfassungsorgantreue, S. 19; Seifert / Hömig, vor Art. 38 Rn. 3. i° 5 Bemerkungen des BVerfG zu dem Rechtsgutachten von Prof. Richard Thoma, JÖR 6, S. 206/207 (unten 5. Teil A I I Nr. 2). 106 Zutreffend: BT-Drs. V, Nr. 1879, S. 28/29. ιόν Zu den Begriffen oben 2. Teil A I Nr. 1.

Β. Eingriffsschranken

101

gemeinsamen Ziel dienen. Bei kombinierten Eingriffen kann die rechtliche Prüfung nicht die Augen davor verschließen, daß die verschiedenen Teilakte letztlich eine Einheit b i l d e n . 1 0 8 Es besteht eine ähnliche Situation, wie wenn eine Sachlage durch verschiedene Gesetzbücher geregelt wird. Dann muß auch die Gesamtrechtslage ermittelt und als Ganzes verfassungsrechtlich untersucht werden. 1 0 9 Bei kombinierten Eingriffen hat die Gesamtbetrachtung zur Folge, daß nicht nur alle Teilakte für sich genommen der Verfassung entsprechen müssen, sondern auch der Eingriff als Ganzes. Daher sind in einem ersten Schritt die Teilelemente auf ihre Rechtmäßigkeit zu prüfen und in einem zweiten Schritt der Gesamteingriff. Dabei ist es letztlich ausschlaggebend, ob das Gesamtziel des kombinierten Eingriffs mit der Verfassung vereinbar ist.

108 Eine Gesamtbetrachtung nahm auch die Appellationskammer im südafrikanischen Streitfall vor (unten 3. Teil A I). Die Begründung zum Urteil über den „High Court of Parliament Act" ist bei Löwenstein, Konflikte, S. 283 wiedergegeben. 109 Diese Meinung wird im Naßauskiesungsbeschluß, BVerfGE BVerfGE 58, 300 (335/336), in bezug auf öffentlich-rechtliche und privatrechtliche Eigentumsbestimmungen vertreten.

Dritter

Teil

Sachbezogene Eingriffsgesetze Sachbezogene Eingriffe liegen vor, wenn die politische Führung versucht, eine Entscheidung des Gerichts inhaltlich zu beeinflussen oder nachträglich zu korrigieren. Die Annahme liegt nahe, daß dem Gericht hier geringere Gefahren drohen als bei einem institutionellen Eingriff. Insofern kann von einem relativ milden Eingriff gesprochen werden. Dabei darf aber nicht vergessen werden, daß das Vertrauen der Bürger in ein Gericht rasch schwindet, wenn es anderen Mächten gelingt, dessen Entscheidungen zu manupulieren oder zu entwerten.

A. Kassation In modernen Demokratien kann man es sich schwer vorstellen, daß das Parlament den Spruch eines Verfassungsgerichts schlichtweg aufhebt oder abändert. Ein Blick in die internationale Staatenwelt zeigt aber, daß eine solche Kassation kein rein theoretisches Phänomen ist. Anfang der 50er Jahre wurde beispielsweise in Südafrika aus Anlaß der Einführung der Apartheidgesetze der Versuch einer Kassation unternommen.

I . Der Konflikt in Südafrika Die Verfassung der Südafrikanischen Union kannte einige „entrenched provisions", die i m Gegensatz zur übrigen Verfassung nur mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der Delegierten bei einer gemeinsamen Sitzung von Ober- und Unterhaus geändert werden durften. Z u diesen „eingegrabenen", also fest verankerten Bestimmungen gehörte das Wahlrecht der Farbigen in der Kapprovinz. 1 Als 1948 der Führer der Nationalen Partei, Francois Malan, mit knapper Mehrheit an die Macht kam, war ihm das Farbigen Wahlrecht ein Dorn i m Auge. Er forderte nämlich eine räumliche und kulturelle Trennung der Rassen (Apart1

Die Ausführungen zum Südafrikanischen Recht folgen Wyk, Judicial Review, S. 675 - 680. Bei ihm sind die genauen Fundstellen der Verfassungsbestimmungen, Gesetze und Urteile zu finden. Darstellungen des Konflikts in deutscher Sprache bieten Zimmermann, Recht in Südafrika, S. 32/33, Seelmann-Eggebert, Weg in die Krise, S. 118-120, Schreiber, Reaktionen, S. 17-19. Aus zeitgenössischer Sicht berichtet Löwenstein, Konflikte, S. 277-283.

Α. Kassation

103

heid). Seine Nationale Partei ging von der Überlegenheit der weißen Rasse aus und war grundsätzlich gegen die politische M i t w i r k u n g der schwarzen und farbigen Bevölkerung. 2 Malan versuchte zunächst, das Wahlrecht der Farbigen durch ein einfaches Gesetz, den „Separate Representation of Voters A c t " , weitgehend auszuschalten. Als die Appellationskammer am höchsten Gericht von Südafrika das Gesetz aufhob, setzte Malan zu einem zweiten Vorstoß an. Das Parlament beschloß 1952 mit den Stimmen der Nationalen Partei den „ H i g h Court o f Parliament A c t " . Dieses Gesetz sah vor, daß auf Antrag der Regierung gegen jedes letztinstanzliche Urteil eine Berufung an das Parlament möglich sei. Das Parlament konnte dann in einer gemeinsamen Sitzung von Ober- und Unterhaus als höchster Gerichtshof letztverbindlich entscheiden. 3 Natürlich legte die Regierung umgehend das Urteil über das Farbigenwahlrecht vor. Die Appellationskammer des „Supreme Court of South Africa" war allerdings schneller. Das Gericht hob auch den „ H i g h Court of Parliament A c t " auf und verhinderte damit i m letzten Moment die Kassation seiner Entscheidung. Den Farbigen brachte diese Entscheidung allerdings nur eine kurze Schonfrist. Zwar gab Francois Malan den Streit mit dem Gerichtshof vorerst auf. Sein Nachfolger G. H. Strijdom setzte aber 1955/56 zum dritten und entscheidenden Schlag an. M i t den Stimmen der Nationalen Partei änderte er die Zusammensetzung von Parlament und Gericht. Durch den „Senate A c t " reformierte er das Oberhaus. Er führte das Prinzip der Mehrheitswahl ein und erhöhte die Zahl der Oberhaussitze drastisch. Damit erreichte er für seine Partei rein rechnerisch die Mehrheit von zwei Dritteln der Ober- und Unterhausmandate. Zugleich veränderte er i m „Appellate Division Quorum A c t " die Zusammensetzung der Appellationskammer. Sie hatte nun elf statt bisher fünf Richter. Die neuen Richter wurden aber von der Regierungspartei bestimmt. Damit vergrößerte Strijdom seinen Einfluß i m Gericht. A m Ende konnte die Nationale Partei daran gehen, das Farbigenwahlrecht endgültig abzuschaffen. Der „Seperate Representation of Voters A c t " wurde erneut beschlossen und die Appellationskammer ließ dieses M a l das Gesetz passieren. Damit hatte die Nationale Partei ihr Z i e l erreicht, obwohl sie in der Wählerschaft nach wie vor keine Zweidrittelmehrheit hatte. 4

2 Die Politik der Apartheid wird bei Seelmann-Eggebert, Weg in die Krise, S. 116118 eingehend beschrieben. 3 Der Inhalt des Gesetzes wird bei Löwenstein, Konflikte, S. 281 wiedergegeben. 4 Berühmt wurde allerdings das Sondervotum von Richter Schreiner, der die drei Gesetze als Gesamtpaket ansah, das insgesamt mit der Verfassung unvereinbar sei (Schreiber, Reaktionen, S. 19). Nach Zimmermann, Recht in Südafrika, S. 35 wurde er deswegen auch nie zum Kammervorsitzenden ernannt, obwohl er nach den dortigen Gepflogenheiten als dienstältester Richter mehrmals an der Reihe war.

104

3. Teil: Sachbezogene Eingriffsgesetze I I . Kassation und deutsches Verfassungsrecht

Der südafrikanische Fall zeigt, daß das Parlament eine Gerichtsentscheidung nicht nur direkt durch ein Gesetz kassieren kann, sondern auch indirekt, indem es sich selbst als Revisionsinstanz einsetzt und anschließend die Aufhebung des Urteils beschließt. M a n kann also den Fall einer direkten Kassation durch ein Aufhebungsgesetz v o m Fall einer indirekten Kassation durch ein Einsetzungsgesetz unterscheiden. 1. Direkte

Kassation

Die Aufhebung einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung ist in Deutschland in mehrfacher Hinsicht verfassungsrechtlich bedenklich. Sie könnte einen Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG), ein Entzug des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG), ein verbotenes Einzelfallgesetz (Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG) und eine Verletzung des Gewaltenteilungsprinzips (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG) darstellen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, daß von einer Verletzung der sachlichen Unabhängigkeit nach Art. 97 Abs. 1 G G wenigstens dann nicht die Rede sein kann, wenn die Kassation ein singulärer Vorgang bleibt. Denn der Gesetzgeber wird erst tätig, wenn das Verfassungsgericht bereits entschieden hat. Die spätere Korrektur des Urteils ändert aber an der ursprünglichen Handlungsfreiheit des Gerichts nichts mehr. Auch ein Entzug des gesetzlichen Richters ist nicht mehr möglich, wenn der Prozeß abgeschlossen ist. 5 Das B V e r f G hat als gesetzlicher Richter entschieden und damit die prozessualen Rechte der Parteien nach Art. 101 Abs. 1 S. 2 G G gewahrt. Die zeitlich nachfolgende Kassation greift nicht mehr in das gerichtliche Verfahren ein, sondern entwertet allein das gerichtlich gefundene Entscheidungsergebnis. In der Kassation kann allerdings ein Einzelfallgesetz i.S. des Art. 19 Abs. 1 S. 1 G G liegen. Hat das BVerfG auf Grund einer Urteilsverfassungsbeschwerde zu Gunsten des Bürgers entschieden und ändert das Parlament die Entscheidung zum Nachteil des Bürgers ab, so liegt ein verbotenes Einzelfallgesetz vor. Denn dann w i r d für einen konkreten Fall der Grundrechtsschutz des Bürgers außer Kraft gesetzt und damit Art. 19 Abs. 1 S. 1 G G verletzt. Dem Art. 19 Abs. 1 S. 1 G G kann allerdings kein generelles Verbot von Kassationen entnommen werden. Hebt der Gesetzgeber etwa ein i m Bund-LänderStreit oder i m Organstreit ergangenes Urteil auf, so greift der Gedanke des Grundrechtsschutzes nicht mehr. Das bundesdeutsche Verfassungsrecht kennt somit kein pauschales Verbot von Einzelfallregelungen. 6 5 Vgl. Maunz, MDHS, Art. 101 Rn. 12.

Α. Kassation

105

Ein generelles Verbot von Kassationen kann daher nur auf dem Prinzip der Gewaltenteilung beruhen. Dies setzt voraus, daß das Parlament beim Erlaß eines Aufhebungsgesetzes funktionell in den Bereich der rechtsprechenden Gewalt eingreift und daß eine derartige Übernahme von Rechtsprechungsfunktionen unzulässig ist. Der Erlaß eines Aufhebungsgesetzes geschieht zwar der Form nach in einem Gesetzgebungsverfahren und erscheint daher auf den ersten Blick als Ausübung legislativer Befugnisse. Inhaltlich w i r d aber durch die Kassation eines Urteils der Rechtsstreit wiederaufgenommen und anders entschieden: Das Parlament tritt an die Stelle des Gerichts und urteilt über verfassungsrechtliche Streitigkeiten. Die Entscheidung über verfassungsrechtliche Streitigkeiten ist aber nach dem Bonner Grundgesetz eine Aufgabe der rechtsprechenden Gewalt. Das zeigt sich schon daran, daß die zentralen verfassungsgerichtlichen Verfahrensarten in Art. 93, 99 und 100 G G verankert sind, also textsystematisch i m Abschnitt „ D i e Rechtsprechung" stehen. Versteht man den Begriff der rechtsprechenden Gewalt formell, d.h. als die Gewalt, die den Richtern durch andere Verfassungsbestimmungen zugewiesen ist, 7 so liegt ohne jeden Zweifel eine Rechtsprechungsaufgabe vor. Denn die Entscheidung verfassungsrechtlicher Streitfragen wird dem BVerfG in einer ganzen Reihe von Verfassungsbestimmungen (Art. 18 S. 2, 21 Abs. 2 S. 2, 41 Abs. 2, 61, 84 Abs. 4, 93, 98 Abs. 2 und 5, 99, 100, 126 GG) zugewiesen. Z u m selben Ergebnis kommt man aber auch, wenn man den Begriff der Rechtsprechung — wie das BVerfG — materiell bestimmt, d.h. unter Rückgriff auf das traditionelle und v o m Parlamentarischen Rat erweiterte B i l d des richterlichen Betätigungsfeldes. 8 M a n kann hier zum einen feststellen, daß sich das richterliche Prüfungsrecht ebenso wie die Staatsgerichtsbarkeit bereits in der Weimarer Republik als Rechtsprechungsaufgaben herauskristallisiert haben. 9 Z u m anderen hat der Parlamentarische Rat bewußt die verfassungsgerichtlichen Zuständigkeiten vergrößert und damit den Begriff der rechtsprechenden Gewalt erweitert. 1 0 Schließlich ist auch die verfassungsgerichtliche Tätigkeit autoritative, 6 BVerfGE 25, 371 (398); Seifert / Hömig, Art. 19 Rn. 3; ausführlich Schneider, Gesetzgebung, §3 Rn. 44-48. Auch für die Weimarer Verfassung nahm die h.L. die Zulässigkeit von Einzelfallgesetzen an (Huber, Verfassungsgeschichte VI, S. 414/415). 7 Diesen formellen Ansatz verfolgt Herzog, MDHS, Art. 92 Rn. 34, 42-50 (kritisch: Achterberg, BoK, Art. 92 Rn. 66). 8 BVerfGE 22, 49 (74/75) geht von einem materiellen Verständnis aus, definiert den materiellen Rechtsprechungsbegriff aber nicht. Die Umschreibung folgt den von Achterberg, BoK, Art. 92 Rn. 92 -111 aufgestellten Kriterien. 9 Die volle inzidente Normenkontrolle wurde vom RG seit 1925 ausgeübt (Rinken, AltK, vor Art. 93 Rn. 33/34). Der Staatsgerichtshof war im wesentlichen für BundLänder-Streitigkeiten und für Anklagen gegen Minister, Kanzler und Reichspräsident zuständig (Stern, StR II, S. 972-975). 10 Insbesondere betonte der Abg. W. Strauß, daß die Normenkontrolle von allen Beteiligten als Rechtsprechungsaufgabe verstanden worden sei (HA-Prot. S. 274; näher unten 4. Teil A IV Nr. 2).

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3. Teil: Sachbezogene Eingriffsgesetze

am Recht orientierte Streitentscheidung durch unbeteiligte Dritte. 1 1 Die Entscheidung über verfassungsrechtliche Streitfragen ist daher stets — auch bei der abstrakten Normenkontrolle 1 2 — Ausübung rechtsprechender Gewalt. 1 3 Damit stellt sich die Frage, ob der Gesetzgeber ausnahmsweise eine Funktion der rechtsprechenden Gewalt wahrnehmen darf. A n sich fordert Art. 20 Abs. 2 S. 2 G G keine strenge Einhaltung der organisatorischen Gewaltentrennung. Solange das Gleichgewicht der Gewalten nicht gefährdet ist, dürfen Organe einer Gewalt auch Aufgaben einer anderen Gewalt wahrnehmen. Es kommt nur darauf an, daß der Kernbereich der jeweiligen Gewalt ihren Organen vorbehalten bleibt. Ist dies der Fall, dann ist die sog. Funktionenverschränkung zulässig. 1 4 Soweit es aber um Aufgaben der rechtsprechenden Gewalt geht, begründet Art. 92 G G einen strengeren Maßstab. Durch die Formel „ D i e rechtsprechende Gewalt ist den Richtern anvertraut" wird das Prinzip der Gewaltenteilung konkretisiert. 1 5 Damit wird es ausgeschlossen, daß richterliche Aufgaben von anderen Staatsgewalten wahrgenommen werden. Die Rechtsprechung ist nur den Richtern anvertraut, nicht der Regierung und auch nicht dem Parlament. 1 6 Die Richter besitzen die Alleinentscheidungskompetenz. 1 7 Dadurch daß die Rechtsprechung den Richter „anvertraut" ist, haben sie zugleich die Letztentscheidungsbefugnis. 18 Die Letztentscheidungsbefugnis ergibt sich zum einen aus dem Sinn des gerichtlichen Verfahrens, einen Streit durch Anwendung des Rechts beizulegen und damit Rechtsfrieden zu schaffen. Dieses Ziel könnte nicht erreicht werden, wenn der Streit durch eine andere staatliche Gewalt fortgeführt werden dürfte. • ι Diese Elemente der richterlichen Tätigkeit werden in unterschiedlicher Akzentuierung zur Definition des Rechtsprechungsbegriffs verwendet: Bettermann, HbStR III, § 73 Rn. 39/43/46; Stern, StR II, S. 898; Meyer, vMÜ, Art. 92 Rn. 8; Wassermann, AltK Art. 92 Rn. 28/30; Achterberg, BoK, Art. 92 Rn. 110/111; Seifert/ Hömig, vor Art. 92 Rn. 1; Hesse, Grundzüge, Rn. 548. ι 2 Die gelegentlich anzutreffende Einordnung der Normenkontrolle als „negative Gesetzgebung" wird überwiegend abgelehnt (Maunz, MDHS, Art. 100 Rn. 5; Achterberg, BoK, Art. 92 Rn. 123-127; Stern, StR II, S. 949/950; Schiaich, BVerfG, Rn. 110/111; Bettermann, Normenkontrolle, DVB1 82, S. 91/92; Alberts, Änderungsbefugnisse, S. 109-111). 13 BVerfGE 22,49 (76/77) hebt ausdrücklich hervor, daß die verfassungsgerichtlichen Verfahrensarten (Art. 93 und 100 GG) zur Rechtsprechung im materiellen Sinne zählen. 14 Schmidt-Aßmann, HbStR I, §24 Rn. 55; Herzog, MDHS, Art. 20 V Rn. 8-11; Bettermann, HbStR III, § 73 Rn. 8. is Achterberg, Bok, Art. 92 Rn. 52; Meyer, vMü, Art. 92 Rn. 3. 16 Ausdrücklich gegen Parlamentsjustiz: Seifert / Hömig, Art. 92 Rn. 4; Meyer, vMü, Art. 97 Rn. 3; Scholtissek, Dritte Gewalt, S. 141. 17 Ein Entscheidungsmonopol der Gerichte wird allgemein angenommen (Herzog, MDHS, Art. 92 Rn. 99/100; Bettermann, HbStR III, § 73 Rn. 4; Wassermann, AltK, Art. 92 Rn. 33-35; Meyer, vMü, Art. 92 Rn. 5; Jarass / Pieroth, Art. 92 Rn. 8). Lediglich Art. 10 Abs. 2 S. 2 GG stellt eine Ausnahme dar. is Stern, StR II, S. 897/898; Meyer, vMü, Art. 92 Rn. 8; Hesse, Grundzüge, Rn. 551. Die Letztverbindlichkeit ist auch für Urteile des BVerfG anerkannt: Roellecke, HbStR II, § 53 Rn. 17-21; Meyer, vMü, Art. 93 Rn. 9/12.

Α. Kassation

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Daher muß die Gerichtsentscheidung das letzte Wort sein. Die Lehre von der formellen und materiellen Rechtskraft ist der prozeßrechtliche Ausdruck dieses Gedankens. 1 9 Z u m anderen ist die Befugnis der Gerichte zur letztverbindlichen Entscheidung eine historisch hart erkämpfte Forderung der Rechtsstaatsbewegung. Das Bürgertum des 18. und des 19. Jahrhunderts hat zur Sicherung seiner Rechte nicht nur die Einsetzung unabhängiger Gerichte gefordert, sondern auch stets die Einmischung des Monarchen in die Rechtspflege bekämpft. Die Krone sollte auf die M i t w i r k u n g beim Erlaß allgemeiner Gesetze beschränkt werden. Dabei erreichten es Aufklärung und Liberalismus, daß der K ö n i g nicht mehr wie zuvor selbst zu Gericht saß oder durch Weisungen in schwebende Verfahren eingriff. 2 0 Ebenso büßte er das Recht ein, Urteile zu bestätigen oder zu kassieren. 21 Diese Königsentscheide galten der Rechtsstaatsbewegung als reine „Machtsprüche", die durch echte Rechtserkenntnisse unabhängiger Gerichte ersetzt werden sollten. 2 2 Für die liberale Rechtsstaatsidee war es also eine elementare Forderung, daß die Letztverbindlichkeit des Gerichtsurteils nicht in Frage gestellt werden durfte. Falls der Gesetzgeber eine Entscheidung des B V e r f G durch Gesetz aufheben wollte, würde er demzufolge in den Aufgabenbereich der rechtsprechenden Gewalt eingreifen und gegen die in Art. 20 Abs. 2, 92 G G festgelegte Allein- und Letztentscheidungsbefugnis der Gerichte verstoßen. Die direkte Kassation ist somit verfassungswidrig. Dieses Ergebnis w i r d durch eine zweite, ebenfalls in Art. 20 Abs. 2 S. 2 G G wurzelnde Erwägung bestätigt. Das Prinzip der Gewaltenteilung hat nämlich nicht nur den Sinn, die Staatsgewalt in mehrere Hände zu legen und dadurch die Macht des einzelnen Staatsorgans zu begrenzen. Vielmehr sollen sich die Staatsorgane auch gegenseitig kontrollieren. 2 3 Dadurch daß das BVerfG nach Art. 93 und 100 G G die Vereinbarkeit von Gesetzen mit der Verfassung prüft, übt es eine i m Gewaltenteilungsprinzip angelegte Kontrolle gegenüber der Legis19

Der Bezug der Rechtskraft zum Verfassungsrecht wird erörtert bei: Schmidt-Aßmann, HbStR I, § 24 Rn. 82; Herzog, MDHS, Art. 20 V I Rn. 22; Badura, StR, S. 448/ 449. 20 Im Absolutismus des 17. und frühen 18. Jahrhunderts war der König oberster Gerichtsherr. Die Untertanen konnten bei ihm Beschwerde gegen die Entscheidungen seiner Beamten einlegen. Die Urteile wurden „Im Namen des Königs" verkündet (Kern, Geschichte, S. 39-44). 21 Bereits im aufgeklärten Absolutismus Preußens ging die sog. Kabinettsjustiz stark zurück. (Kern, Geschichte, S. 46/47). Nachhaltigen Erfolg hatte aber erst die Rechtsstaatsbewegung (Kern, Geschichte, S. 57/58). Ihre Forderung nach Abschaffung der Kabinetts- und Ministerialjustiz wurde in § 175 S. 2 RV 1848 aufgenommen (Simon, Unabhängigkeit, S. 6). 22 Zum Begriff der „Machtsprüche" siehe Eichenberger, Unabhängigkeit, S. 41 und Simon, Unabhängigkeit, S. 2/3. 23 BVerfGE 9, 268 (279/280); Herzog, MDHS, Art. 20 V Rn. 9; Jarass-Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 16.

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3. Teil: Sachbezogene Eingriffsgesetze

lative aus. 2 4 Das abstrakte und konkrete Normenkontrollverfahren hat aber ebenso wie die inzidente Normenprüfung nur eine Kontrollwirkung, wenn sich aus der Feststellung der Verfassungswidrigkeit Konsequenzen ergeben. 25 Eine wirksame Kontrolle der Legislative ist nicht möglich, wenn sich der Gesetzgeber ihr durch eine Kassation der Entscheidung entziehen kann. Daher verstößt eine Kassation verfassungsgerichtlicher Normenprüfungsentscheidungen auch gegen das Prinzip wechselseitiger K o n t r o l l e . 2 6 Schließlich spricht noch ein dritter Teilaspekt der Gewaltenteilungsprinzips gegen die Zulässigkeit von Kassationen. Die Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungsorgane stehen nämlich nicht beziehungslos nebeneinander, sondern wirken als Glieder eines Staates entsprechend ihren Aufgaben und Zuständigkeiten zusammen. 2 7 Ein Zusammenwirken ist aber nur möglich, wenn die Rechtsakte eines Organs von den anderen Organen grundsätzlich anerkannt werden. 2 8 Ansonsten müßten sich die Gewalten gegenseitig blockieren. Läßt man die Kassation von Gerichtsurteilen zu, so ist folgender Fall vorstellbar: Zuerst erklärt das BVerfG ein Gesetz für verfassungswidrig. Dann hebt das Parlament die Entscheidung auf. Daraufhin erklärt das BVerfG das Aufhebungsgesetz für verfassungswidrig und das Parlament kassiert auch diese Entscheidung. E i n endloses Spiel könnte beginnen. 2 9 Bei einer solchen Kette von Aufhebungsakten würde das Gebot des Zusammenwirkens der Staatsorgane verletzt und zugleich ginge jede Rechtssicherheit verloren. Es muß daher dabei bleiben, daß das Parlament die Entscheidung des BVerfG anerkennt. Soweit die Frage der Zulässigkeit von Aufhebungsgesetzen aufgeworfen wird, wird darum allgemein die Verfassungswidrigkeit von Kassationen angenommen. 3 0

24 Maunz, MDHS, Art. 100 Rn. 3/4; Stern, StR II, S. 954-956. 25 Zu Recht stellt Laufer, Kontrolle, S. 107 fest: „Politische Kontrolle ohne Durchsetzungsmöglichkeit des Ergebnisses ist eine Schimäre." 26 Ebenso zur Aufhebung von Normenkontrollentscheidungen: Schreiber, Reaktionen, S. 25-40 (39/40). 27 BVerfGE 7, 183 (190); 31, 33 (46); Jarass / Pieroth, Art. 20 Rn. 16; Der Gedanke der Einheit des Staates wird auch oft als Prinzip des Art. 35 GG erörtert (Gubelt, vMü, Art. 35 Rn. 1; Maunz, MDHS, Art. 35 Rn. 1). 28 Herzog, MDHS, Art. 20 V Rn. 60-63. Eine Anerkennung scheidet nur in Ausnahmefällen aus, z. B. wenn das andere Staatsorgan ausdrücklich zur Kontrolle des Rechtsakts berufen ist. 29 Argument von Zeuner, Geltungsdauer, S. 340. 30 Doehring, StR, S. 220; Kisker, Reaktion, S. 893; Scholtissek, Dritte Gewalt, S. 141; Schreiber, Reaktionen, S. 25-40; Bullert, Bindende Wirkung, S. 105; Zeuner, Geltungsdauer, S. 340; Leibholz/Rupprecht, BVerfGG, § 31 Rn. 3, S. 102; Schneider, Gesetzgebung, § 3 Rn. 47.

Α. Kassation 2. Indirekte

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Kassation

Bei der indirekten Kassation handelt es sich genau genommen um einen kombinierten Eingriff. Er besteht aus einem institutionellen Element, der Einsetzung des Parlaments als Gerichtshof, und einem faktischen Element, dem Aufhebungsbeschluß. Erst durch das Zusammenwirken von vorbereitendem Gesetz und abschließendem Kassationsbeschluß entsteht der Eingriff. Bei kombinierten Eingriffen müssen aber nicht nur beide Teilakte für sich genommen verfassungsmäßig sein, sondern auch der Eingriff als ganzes. 31 Der Südafrikanische Gerichtshof hat darum beide Teilakte zu Recht als Einheit behandelt. 3 2 I m bundesdeutschen Recht ist allerdings bereits der erste Teilakt, das Einsetzungsgesetz, verfassungsrechtlich mehr als bedenklich. Ein mit einfacher Mehrheit beschlossener „ H i g h Court of Parliament A c t " könnte leicht scheitern. Anders als in Südafrika 3 3 sind in der Bundesrepublik die meisten staatsorganisationsrechtlichen Entscheidungen i m Grundgesetz verankert und daher nur mit einer Zweidrittelmehrheit änderbar (Art. 79 Abs. 2 GG). Insbesondere ist die Gerichtsorganisation des Bundes in Art. 92, 95 und 96 G G vorgegeben. Art. 92 G G (2. Halbsatz) bestimmt ausdrücklich, daß die rechtsprechende Gewalt nur durch die i m Grundgesetz vorgesehenen Bundesgerichte, i m übrigen aber durch Gerichte der Länder ausgeübt wird. Die Aufzählung der Rechtsprechungsorgane des Bundes ist somit abschließend. 34 Daher kann sich das Parlament nicht mittels einfachen Gesetzes als oberstes Bundesgericht etablieren. I m übrigen ist das Einsetzungsgesetz ein eklatanter Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG). Z u m einen verbietet es der Gedanke der Gewaltentrennung, daß Rechtsprechungsaufgaben durch Gesetzgebungsorgane wahrgenommen werden. Denn die Funktionentrennung ist in Art. 92 G G (1. Halbsatz) besonders streng ausgestaltet. 35 Die Einsetzung des Parlaments als oberstes Gericht stellt aber sogar einen Einbruch in den Kernbereich der rechtsprechenden Gewalt dar. 3 6 Denn die Feststellung und Fortbildung des Rechts 31 Näher oben 2. Teil Β IV. 32 Die Begründung des Urteils zum „High Court of Parliament Act" wird bei Wyk, Judicial Review, S. 680 und bei Löwenstein, Konflikte, S. 282/283 wiedergegeben. 33 Dort gibt es grundsätzlich keinen Rangunterschied zwischen der Verfassung und anderen Gesetzen (Schreiber, Reaktionen, S. 3/4). Die „entrenched sections" bildeten daher in gewisser Weise einen Fremdkörper, der historisch auf die Unabhängigkeitsverhandlungen mit dem Empire zurückzuführen ist (Wyk, Judicial Review, S. 674/675). 34 BVerfGE 8, 174 (176); 10, 200 (213); Seifert / Hömig, Art. 92 Rn. 5; Jarass/ Pieroth, Art. 92 Rn. 9. In der Abhör-Entscheidung BVerfGE 30, 1 (28/29) hat das Gericht betont, daß Legislativorgane selbst bei einer Verfassungsänderung nur aus einem zwingenden, sachlich einleuchtenden Grund Rechtsprechungsaufgaben ausüben dürfen. 3 6 Zur Kernbereichslehre: BVerfGE 9, 268 (279/280); 22, 106 (111); 30, 1 (28/29); 34, 52 (59).

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3. Teil: Sachbezogene Eingriffsgesetze

gehört zu den wesentlichen Aufgaben der Rechtsprechung. 37 Die oberste Instanz hat aber für Rechtsfortbildung und Rechtsentwicklung eine zentrale Bedeutung. Daher können die Aufgaben einer obersten Instanz nur durch ein Rechtsprechungsorgan wahrgenommen werden. Z u m anderen läßt der Gedanke der gegenseitigen Kontrolle der Staatsorgane das Einsetzungsgesetz nicht zu. In unserem Regierungssystem hat nämlich in erster Linie die Rechtsprechung die Funktion der Kontrolle inne. Exekutive und Legislative sind durch die parlamentarische Kanzlerwahl stark miteinander verflochten, so daß zwischen ihnen nur wenig Kontrolle stattfindet. 3 8 Die darum besonders wichtige gerichtliche Kontrolle ginge aber verloren, wenn das Parlament als letzte Instanz über dem BVerfG stünde und damit die Rechtsprechung steuern könnte. Damit hätte die jeweilige Regierungsmehrheit ein solches Übergewicht, daß die Gewaltenbalance zerstört wäre. 3 9 Daher ist bereits das Einsetzungsgesetz — für sich genommen — ein Verstoß gegen Art. 20 Abs. 2 S. 2 und 92 G G und damit verfassungswidrig. 4 0 Betrachtet man es zusammen mit dem nachfolgenden Aufhebungsbeschluß als einheitlichen Eingriff, so ist die indirekte Kassation erst recht mit dem Grundgesetz unvereinbar. Denn das mit dem kombinierten Eingriff verfolgte Kassationsziel verstößt — wie die Prüfung des Aufhebungsgesetzes zeigt — gegen die Verfassung.

B. Normenwiederholungen Seit Bestehen des B V e r f G ist immer wieder die Frage aufgegriffen worden, ob der Gesetzgeber nach einem normenverwerfenden Urteil des BVerfG dieselbe Rechtsnorm neu erlassen darf. In der Literatur gibt es dazu eine nahezu unübersehbare Fülle von Stellungnahmen. Während die Frage der Normenwiederholung früher nur am Rande behandelt wurde, scheint sie nun durch die erneute Verabschiedung eines Fristenlösungsgesetzes mehr in den Mittelpunkt zu rücken. 4 1 Das BVerfG hat sich schon zu Beginn seiner Tätigkeit m i t der Möglichkeit des erneuten Erlasses eines für verfassungswidrig erklärten Gesetzes beschäftigt. Es gab dazu in der Bundesrepublik zwar keinen Anlaß. Z u Beginn der 50er Jahre kam es aber in Südafrika zu einer spektakulären Normenwiederholung, und es 37 Bettermann, HbStR III, § 73 Rn. 28. 38 Vgl. Herzog, MDHS, Art. 20 V Rn. 32-34. 39 Wegen des Gewaltenteilungsprinzips wäre auch ein verfassungsänderndes Einsetzungsgesetz unzulässig (Art. 20 Abs. 2 S. 2 i.V.m. 79 Abs. 3 GG). Ein ähnlicher Fall wird unten, 4. Teil A IV Nr. 3, bei der Frage der Ersetzung des BVerfG durch eine Dritte Kammer des Gesetzgebungsverfahrens näher erörtert. 40 Auch Holtkotten, BoK, Art. 97 II Nr. 1 b und c, hält die Selbsteinsetzung des Parlaments als Gericht für verfassungswidrig, ganz gleich ob dies durch einfaches oder verfassungsänderndes Gesetz geschieht. 41 Die Frage wird hier nicht vertieft, vgl. Reis, DDR-Fristenregelung, S. 666; Sachs, Fristenlösung, S. 197-199; Detterbeck, Normwiederholungsverbote, S. 453-457.

Β. Normen Wiederholungen

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ist durchaus möglich, daß dieser Fall den Verfassungsrichtern vor Augen stand. 4 2 Jedenfalls entschied der Zweite Senat in einem „obiter dictum", „daß ein Gesetz desselben Inhalts nicht noch einmal von den gesetzgebenden Körperschaften beraten, beschlossen und vom Bundespräsidenten verkündet werden k a n n . " 4 3 Diese Auffassung hat der Zweite Senat noch 1985 bestätigt. 4 4 Die ganz überwiegende Lehre ist dieser Einschätzung gefolgt. Lediglich in der Begründung war man sich uneins. Das Normenwiederholungsverbot wurde teils auf § 31 Abs. 1 B V e r f G G 4 5 und teils auf die Rechtskraft verfassungsgerichtlicher Urteile gestützt. 4 6 Nur selten wurde der erneute Erlaß inhaltsgleicher Gesetze für zulässig erachtet. 47 Dieser Gegenansicht hat sich 1988 der Erste Senat des BVerfG in einem neuen „obiter dictum" angeschlossen. 48 Er hält i m Interesse der Flexibilität der Verfassungsentwicklung auch eine erneute Verabschiedung desselben Gesetzes für rechtens. Sein Hauptargument besteht darin, daß die Legislative nach Art. 20 Abs. 3 G G nur an die Verfassung und nicht an einfaches Recht gebunden sei. Daher könne weder aus § 31 Abs. 1 BVerfGG noch aus der Rechtskraft verfassungsgerichtlicher Entscheidungen ein Wiederholungsverbot hergeleitet werden. Dieser Kehrtwende ist das Schrifttum überwiegend gefolgt. 4 9 Teilweise w i r d sie kommentarlos nachvollzogen, teilweise ausdrücklich begrüßt. Manche Autoren stimmen zwar zu, äußern aber gleichwohl Bedenken. 5 0 Eine starke Minderheit lehnt das neue „obiter dictum" explizit ab. 5 1

42 Dazu oben 3. Teil A I. Zumindest der Vorsitzende des zweiten Senats, Rudolf Katz, kannte den Fall (Katz, BVerfG, S. 113/114). 43 BVerfGE 1,15 (37). Das Verbot wurde in Leitsatz Nr. 5 aufgenommen (gleichlautend: Geiger, BVerfGG, § 31 Anm. 12, S. 117). 44 BVerfGE 69, 112 (115). 4 5 Löwer, HbStR II, § 56 Rn. 92/93; Maunz, MSBKU, § 31 Rn. 23, MDHS, Art. 94 Rn. 32; Meyer, vMü, Art. 94 Rn. 31; Stern, BoK, Art. 100 Rn. 202; Lechner, BVerfGG, § 31 Abs. 2 Anm. 3; Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 407; Klein, Bindung, S. 700; Rupp, Bindungswirkung, S. 408; Radeck, Bestand, S. 162-166 (165); Säcker, Rechtsmacht, S. 198; Bullert, Bindende Wirkung, S. 104, 105; Leibholz / Rupprecht, BVerfGG, § 31 Rn. 3; Klein, VerfPR, S. 440/441. 46 Kerbusch, Bindung, S. 36-45; Seuffert, Bindungswirkungen, S. 190 Fn. 31; Sachs, Bindung, S. 311 -313; Vogel, Rechtskraft, S. 509/510; Schreiber, Reaktionen, S. 40-43. 4 ? Simon, HbVerfR, S. 1272; Lange, Entscheidungen, S. 8; Dolzer, Stellung, S. 122; Ostermeyer, Verfassungswidrigkeit, S. 7/8. 4 « BVerfGE 77, 84 (103) = DVB1 88, S. 338 (339). Das Argument wurde bereits von Bursche, Beamtenurteil, S. 598 verwendet. 4 9 Jarass-Pieroth, Art. 94 Rn. 2; Rinken, AltK, Art. 94 Rn. 61, 64; Gerber, Rechtsetzungsdirektiven, S. 705/706. so Schiaich, BVerfG, Rn. 447/448; Busse, Wandelbarkeit, S. 359/360; Korioth, Bindungswirkung, S. 554-568. Klein, in: Benda / Klein, VerfPR, Rn. 1254-1257; Pestalozzi VerfPR, § 20 Rn. 66, 85, 130; Sachs, Urteilsbesprechung, 88, S. 982; Detterbeck, Normwiederholungsverbote, S. 417-425; Berkemann, Rechtsprechung, S. 236/237 („beklagenswert oberflächlich").

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3. Teil: Sachbezogene Eingriffsgesetze

M i t der letzten Entscheidung des B V e r f G wurde jedenfalls deutlich, daß die Frage der Normenwiederholung bisher nicht ausreichend durchdacht worden war. Denn die Ablehnung wurde ebenso wie die Zulassung der Normenwiederholung nicht überzeugend begründet. Die Argumentation mit Rechtskraft oder Bindungswirkung (§ 31 Abs. 1 BVerfGG) übersieht, daß beide Rechtsinstitute dem einfachen Recht angehören. Umgekehrt läßt der Verweis auf Art. 20 Abs. 3 G G außer acht, daß Rechtskraft und ΒindungsWirkung verfassungsrechtliche Wurzeln haben können. Schließlich wurde auch das Rechtsinstitut der Gesetzeskraft in der bisherigen Diskussion vernachlässigt.

I . Normenwiederholung und Gesetzeskraft M a n könnte durchaus daran denken, daß die Gesetzeskraft verfassungsgerichtlicher Urteile (§ 31 Abs. 2 BVerfGG) einer Normenwiederholung entgegensteht. Denn die Gesetzeskraft ist in Art. 94 Abs. 2 S. 1 G G vorgesehen und entfaltet damit als Teil der verfassungsmäßigen Ordnung auch Wirkung gegenüber dem Gesetzgeber. Gesetzeskraft bedeutet „rechtssatzähnliche K r a f t " . 5 2 Nach § 31 Abs. 2 S. 3 BVerfGG erstreckt sich die Gesetzeskraft nur auf die Entscheidungsformel. Sie erlangt eine für Gesetze typische Allgemeinverbindlichkeit. Der Tenor verfassungsgerichtlicher Entscheidungen wird durch die Gesetzeskraft aber nicht selbst zum Legislativakt, sondern bleibt — wie das ganze Urteil — ein Rechtsprechungsakt. Daher kann ein gesetzeskräftiges Urteil weder durch eine erneute Verfassungsbeschwerde angefochten werden, 5 3 noch darf es durch eine „lex posterior" kassiert werden. 5 4 Allerdings sind die Wirkungen der Gesetzeskraft gegenüber dem Gesetzgeber äußerst gering. I m Falle der Normenverwerfung hat es die Legislative lediglich hinzunehmen, daß ein Gesetz rechtswirksam aufgehoben ist. Ein darüber hinausgehendes Normenwiederholungsverbot kann der Gesetzeskraft aus drei Gründen nicht entnommen werden. Erstens erstreckt sich die Gesetzeskraft nur auf die Entscheidungsformel des normen verwerfenden Urteils. Der Tenor normen verwerfender Urteile enthält aber naturgemäß nur Feststellungen über die v o m B V e r f G geprüfte alte Norm. Z u m Erlaß einer inhaltsgleichen neuen Norm sagt er nichts. Zweitens bedeutet Gesetzeskraft nur gesetzesgleiche Kraft, nicht gesetzesübersteigende Wirkung. Für Gesetze ist es aber nach Art. 20 Abs. 3 G G typisch, daß die Legislative nicht an sie gebunden ist. Der Gesetzgeber ist bei der Änderung 52 Leibholz / Rupprecht, BVerfGG, § 31 Rn. 3. 53 BVerfGE 1, 89 (90). 54 Zum Kassationsverbot oben 3. Teil A I I Nr. 1.

Β. Normen Wiederholungen

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der Rechtslage nicht an alte Gesetze gebunden. Folglich kann er auch nicht an den Teil der Gerichtsentscheidung gebunden sein, der gesetzesgleiche Kraft hat. Drittens hat auch der Parlamentarische Rat bei der Verankerung der Gesetzeskraft i m Grundgesetz das Problem der Normen Wiederholung gesehen und eine Bindung der Legislative durch die Gesetzeskraft ausdrücklich abgelehnt. Überraschenderweise war die Gesetzeskraft verfassungsgerichtlicher Urteile unter den Vätern des Grundgesetzes umstritten. 5 5 Während die SPD-Fraktion die Gesetzeskraft i m Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsanwendung befürwortete, brachte der Abg. von Mangoldt namens der CDU-Fraktion Bedenken vor. Die Gesetzeskraft könne die ohnehin bestehende Autoritätshörigkeit deutscher Gerichte verstärken und zu einer Erstarrung der Rechtsentwicklung führen. Diese Befürchtung räumte der SPD-Abg. Z i n n mit dem Argument aus, daß durch die Gesetzeskraft des Urteils weder das BVerfG selbst noch der Gesetzgeber für die Zukunft gebunden werde. Daher könne „der Gesetzgeber durchaus ein gleiches oder ähnliches Gesetz wieder einbringen" und das B V e r f G dürfe „jetzt von seiner früheren Entscheidung abweichen". 5 6 Aus der Gesetzeskraft verfassungsgerichtlicher Urteile kann daher weder ein rechtliches noch ein „faktisches" Normenwiederholungsverbot abgeleitet werden. 5 7 I I . Normenwiederholung und Rechtskraft Weniger eindeutig zu beantworten ist die Frage, ob die Rechtskraft verfassungsgerichtlicher Urteile einer Normenwiederholung entgegensteht. Denn die Rechtskraft ist ein Rechtsinstitut des einfachen Rechts, das i m Bereich des Verfassungsprozeßrechts zwar weitgehend anerkannt, aber dort nicht ausdrücklich verankert ist. Daher muß vorab geklärt werden, ob die Rechtskraft verfassungsrechtliche Wurzeln hat und in welchem Umfang die Rechtskraft i m verfassungsgerichtlichen Verfahren Geltung beanspruchen kann. 1. Rechtskraft

und Verfassung

Die Rechtskraft ist an sich ein Rechtsinstitut des einfachen Rechts, das i m Z i v i l - , Verwaltungs- und Strafprozeßrecht allgemein anerkannt und teilweise explizit geregelt ist (§§ 322 ZPO, 121 V w G O ) . 5 8 V o n Rechtskraft spricht man, 55 Zur Debatte: Laufer, Politischer Prozeß, S. 89-92; Bullert, Bindende Wirkung, S. 33-38. 56 Ha-Prot. S. 277 (23.Sitzung vom 8.12.48); Doemming, Entstehungsgeschichte, S. 687. 57 Ebenso Sachs, Fristenlösung, S. 194/195. Für ein faktisches Wiederholungsverbot: Detterbeck, Wiederholungsverbote, S. 446/447. Er überträgt seinen für die Rechtskraft entwickelten Streitgegenstandsbegriff kommentarlos auf die Gesetzeskraft und nimmt eine Selbstbindung des BVerfG an. 8 Häußler

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3. Teil: Sachbezogene Eingriffsgesetze

wenn ein Urteil nicht mehr mit ordentlichen Rechtsmitteln angreifbar ist. Dann ist das Urteil grundsätzlich unaufhebbar (formelle Rechtskraft) und inhaltlich für die Beteiligten und das Gericht verbindlich (materielle Rechtskraft). I m Grunde ist es unbestritten, daß die Rechtskraft nicht nur ein Rechtsinstitut des einfachen Rechts ist, sondern auch verfassungsrechtliche Wurzeln hat. Soweit die Rechtskraft anderen staatlichen Gewalten verbietet, den entschiedenen Fall neu aufzurollen, ist sie Ausdruck der in Art. 92, 20 Abs. 2 S. 2 G G verankerten Letztentscheidungsbefugnis der rechtsprechenden G e w a l t . 5 9 Soweit die Rechtskraft es den Gerichten selbst verbietet, das Verfahren neu aufzurollen und anders zu entscheiden, ist sie Ausdruck des Prinzips der Rechtssicherheit. Denn letztlich ist es das Ziel jedes Gerichtsverfahrens, einen Rechtsstreit unwiderruflich und verbindlich zu klären. Nur wenn ein verbindliches und vollstreckbares Urteil ergeht, tritt die von den Parteien erstrebte Klärung der Rechtslage ein. Die Rechtskraft ist daher i m Interesse des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit geboten. 6 0 Die Ausgestaltung der Rechtskraft unterliegt schließlich noch einem anderen verfassungsrechtlichen Prinzip. Beruht ein Urteil auf unrichtigen sachlichen oder rechtlichen Feststellungen, so ist es ein Gebot der materiellen Gerechtigkeit, die Endgültigkeit und Verbindlichkeit gerichtlicher Urteile einzuschränken. 6 1 Der Grundsatz der Endgültigkeit rechtskräftiger Urteile wird daher i m Z i v i l - , Verwaltungs- und Strafprozeßrecht durch Vorschriften über das Wiederaufnahmeverfahren durchbrochen. Ebenso w i r d die Verbindlichkeit gerichtlicher Urteile zur Vermeidung von Fehlerwiederholungen in sachlicher, zeitlicher und persönlicher Hinsicht stark begrenzt. A n diesen Grenzen der Rechtskraft wird besonders deutlich, daß die Rechtskraft zwar einen verfassungsrechtlichen Kern hat, daß ihre genaue Ausgestaltung aber letztlich dem einfachen Gesetzgeber und der Rechtsprechung der Fachgerichte unterliegt. Denn zum einen steht das Prinzip der Rechtssicherheit in einem Spannungsverhältnis zum Prinzip der materiellen Gerechtigkeit, 6 2 zum anderen enthalten beide Prinzipien zur genauen Ausgestaltung der Rechtsmittelzüge, Fristvorschriften oder Wiederaufnahmegründe in vielen Detailfragen keine eindeutigen Vorgaben. Aus der verfassungsrechtlichen Verankerung der Rechtskraft kann man aber zwei klare Schlüsse ziehen. Erstens bindet die Rechtskraft gerichtlicher Urteile auch den Gesetzgeber, weil sie Ausdruck der in Art. 92, 20 Abs. 2 S. 2 G G verankerten Letztentscheidungsbefugnis der Gerichte ist. Zweitens gehören die verfassungsrechtlich gebotenen Elemente der Rechtskraft zum Wesen jeden Gerichtsverfahrens. Daher kann auf das Rechtsinstitut der Rechtskraft nicht einfach 58 59 60 61 62

Ebenso Leipold, in: Stein/Jonas, ZPO, § 322 Rn. 74. Dazu ausführlich oben 3. Teil I I Nr. 1. Allg. M.: Schmidt-Aßmann, HbStR I, § 24 Rz.82. BVerfGE 2, 380 (403) für Wiederaufnahmeverfahren. BVerfGE 60, 253 (268/269).

Β. Normen Wiederholungen

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verzichtet werden. Die Rechtskraft ist nur dann entbehrlich, wenn den Prinzipien der Letztentscheidung (Art. 92 GG), der Rechtssicherheit und der materiellen Gerechtigkeit (Art. 20 Abs. 3 GG) auf andere Weise Rechnung getragen wird.

2. Rechtskraft

und BVerfGG

V o n diesem verfassungsrechtlichen Ausgangspunkt kann man auch die Frage beantworten, inwieweit verfassungsgerichtliche

Entscheidungen rechtskräftig

werden. Zwar fehlt i m B V e r f G G eine ausdrückliche Regelung. Rechtsprechung 63 und L e h r e 6 4 gehen aber davon aus, daß die Entscheidungen des B V e r f G ebenso wie die Entscheidungen anderer Gerichte in Rechtskraft erwachsen. In den Fällen, in denen zwei Parteien um ihre verfassungsmäßigen Rechte streiten, ist die Rechtskraft verfassungsgerichtlicher Entscheidungen unumstritten. Denn in diesen Fällen bedarf es des Rechtsinstituts der Rechtskraft, weil ansonsten die von Art. 92 G G geforderte Letztverbindlichkeit und die von Art. 20 Abs. 3 G G geforderte Rechtssicherheit nicht gewährleistet wären. M a n könnte zwar einwenden, daß beispielsweise die an einem Organstreit beteiligten Staatsorgane bereits durch die ΒindungsWirkung nach § 31 Abs. 1 B V e r f G G und durch die Gesetzeskraft nach § 31 Abs. 2 B V e r f G G verpflichtet sind. Der gesetzeskräftige Teil der Entscheidung erstreckt sich aber nur auf die Frage der Rechtsgültigkeit einer N o r m und die Bindungswirkung erreicht nur Staatsorgane und Behörden. Die Verbindlichkeit der Entscheidung gegenüber den Parteien eines Rechtsstreits ist dagegen nicht expressis verbis angeordnet. Daher wird ein i m Organstreit nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 G G klagebefugter „sonstiger Beteiligter", z.B. eine politische Partei, nicht gebunden. 6 5 Die Notwendigkeit der Rechtskraft i m verfassungsgerichtlichen Prozeß zeigt sich besonders deutlich bei der Verfassungsbeschwerde gegen Hoheitsakte. In diesem Bereich würde ohne Rechtskraft jede Bindung des beschwerdeführenden Bürgers fehlen. Umstritten ist dagegen die Übertragung der Rechtskraftregeln auf konkrete und abstrakte Normenkontrollverfahren. Während der B a y V e r f G H 6 6 die Anwendung der Rechtskraftregeln auf Normenkontrollverfahren ablehnt, gehen das BVerfG und die herrschende L e h r e 6 7 davon aus, daß Urteile „ i m Normenkontrollverfahren eine der materiellen Rechtskraft entsprechende W i r k u n g entfalten". 6 8 63 BVerfGE 20, 56 (86/87); 69, 92 (103). 64 Schiaich, BVerfG, Rn. 440-445; Klein, in: Benda / Klein, VerfPR, Rn. 1206-1222. 65 Zur Parteifähigkeit politischer Parteien Klein, in: Benda / Klein, VerfPR, Rn. 936/ 937. 66 BayVerfGHE 40, 154 (158); 31, 99 (120). 67 Klein, in: Benda/Klein, VerfPR, Rn. 1211; Schiaich, BVerfG, Rn. 440; Maunz, MSBKU, § 31 Rn. 12; Löwer, HbStR II, § 56 Rn. 90; Geiger, Besonderheiten, S. 27/ 28; Vogel, Rechtskraft, S. 604; Rupp, Bindungswirkung, S. 404/405. 68 BVerfGE 20, 56 (86); 33, 360 (369); 70, 242 (249); 78, 38 (48). 8*

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3. Teil: Sachbezogene Eingriffsgesetze

Der BayVerfGH hat seinen Standpunkt in einer Grundsatzentscheidung aus dem Jahre 1952 damit begründet, daß die Rechtskraft „Begrifflich . . . einen bestimmten Sachverhalt (Lebensvorgang)" voraussetze. 69 A n einem konkreten Sachverhalt fehle es aber bei einer reinen Rechtsprüfung. Dem wird entgegengehalten, daß die bei der Normenkontrolle gestellte Rechtsfrage den konkreten Sachverhalt bilde. Denn bei der Prüfung eines Legislativakts finde ebenso wie bei der Prüfung eines Verwaltungsakts die Subsumtion eines Sachverhalts unter eine Norm statt. Daher müßten die Entscheidungen i m Normenkontrollverfahren ebenso wie i m Verfassungsbeschwerdeverfahren rechtskräftig werden können. Letztlich löst allerdings diese rein begriffliche Argumentation das Problem nicht. Denn für die Anwendung der Rechtskraftregeln i m Normenkontrollverfahren gibt es nur dann einen Grund, wenn die für eine Analogie erforderliche Regelungslücke vorhanden ist. Da die möglichen Antragsteller der konkreten und abstrakten Normenkontrolle ohnedies nach § 31 Abs. 1 B V e r f G G gebundene staatliche Einrichtungen sind, fehlt in diesem Bereich die für eine Analogie notwendige Regelungslücke. Den Erfordernissen der Letztentscheidung (Art. 92 GG) und der Rechtssicherheit (Art. 20 Abs. 3 GG) ist in anderer Weise hinreichend Rechnung getragen. Zudem ist eine Übertragung der Rechtskraftregeln auf das Normenkontrollverfahren wenig sinnvoll. Denn die Normenkontrolle behandelt als „objektives Verfahren" eine i m allgemeinen Interesse liegende Rechtsfrage, nicht einen konkreten Einzelfall. Daher ist es nicht einleuchtend, den Antragsteller des Normenkontrollverfahrens in besonderer Weise zu binden. Es besteht kein Grund, die staatliche Stelle, die als Antragsteller auftrat, mit Hilfe der Rechtskraft stärker zu binden als Andere. In Erkenntnis dieser Diskrepanz wird daher mitunter eine „Rechtskraft inter omnes" i m Rahmen des Normenkontrollverfahrens befürwortet. 7 0 Diese Ausdehnung der Rechtskraft sprengt allerdings die Grenzen der Analogie. Es ist keine entsprechende Anwendung allgemeiner Prozeßgrundsätze mehr, wenn die auf einen konkreten Streitfall beschränkte Bindung weniger Personen zu einer Bindung aller an abstrakte Rechtsfragen erweitert wird. Damit w i r d letztlich unter altem Namen ein neues Rechtsinstitut geschaffen. Dafür besteht aber kein zwingendes Bedürfnis. 7 1 Die Rechtskraft von Normenkontrollverfahren ist somit i m Ergebnis abzulehnen.

69 BayVerfGHE 5, 166 (S. 183) mit Leitsatz Nr. 1. 70 Geiger, Besonderheiten, S. 27/28; Klein, in: Benda/Klein, VerfPR, Rn. 2214. 71 Ebenso: Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 406; Lange, Entscheidungen, S. 2; Sachs, Bindung, S. 292-306 (306); Kriele, Theorie, S. 295/296; Detterbeck, Normwiederholungsverbote, S. 434/435; Schiaich, BVerfG, Rn. 443.

Β. Normen Wiederholungen 3. Rechtskraftbedingtes

117

Wiederholungsverbot?

Damit sind i m Grunde auch die Würfel bei der Beurteilung der Frage gefallen, ob die Rechtskraft verfassungsgerichtlicher Urteile einer Normenwiederholung entgegensteht. Denn i m Rahmen der Verfassungsbeschwerde erwächst nur die Entscheidung über den konkreten Einzelfall in Rechtskraft, nicht die Beurteilung der allgemeinen Rechtsfrage. Das gilt auch bei Organklage, Bund-Länder-Streit und anderen kontradiktorischen Verfahren. Vertritt man zudem die Ansicht, daß die Urteile in Normenkontrollverfahren nicht in Rechtskraft erwachsen, so kommt man zu dem Ergebnis, daß die Rechtskraft in keinem Fall die Normenwiederholung verbietet. Geht man dagegen davon aus, daß Normenkontrollentscheidungen in Rechtskraft erwachsen, so ist ein Wiederholungsverbot immerhin denkbar. Allerdings stellen sich dann eine ganze Reihe schwieriger Folgefragen. A m leichtesten ist noch das Problem zu bewältigen, ob die vom BVerfG i m ersten Verfahren getroffene Entscheidung als „res judicata" einer zweiten Verhandlung und Entscheidung über die Wiederholungsnorm entgegensteht. Denn die Ansicht, daß die Rechtskraft in jedem Fall ein Prozeßhindernis begründet, ist ohnedies i m Schwinden begriffen. 7 2 Schwieriger ist schon die Frage zu beantworten, ob die vom B V e r f G aufgehobene alte Norm und die v o m Gesetzgeber später erlassene neue Norm denselben Streitgegenstand darstellen. Über dieses Problem kann man sich nicht mit der Bemerkung hinwegsetzen, daß alte und neue Norm bei einer „natürlichen Auffassung" denselben Streitgegenstand bilden. 7 3 Schließlich sind beide Normen in unterschiedlichen Gesetzgebungsverfahren entstanden. Darum treten sie trotz wörtlicher Übereinstimmung zu einem unterschiedlichen Zeitpunkt in Kraft. Es ist aber vertretbar, den Begriff des Streitgegenstands i m Normenkontrollverfahren zu erweitern. M a n kann davon ausgehen, daß sich die Normenkontrolle nicht nur mit der Verfassungsmäßigkeit eines bestimmten Gesetzes, sondern auch (etwas allgemeiner) mit der Verfassungsmäßigkeit von Regelungen dieser A r t beschäftigt. 7 4 Für eine derartige Erweiterung spricht der Zweck der Rechtskraft, eine endgültige Regelung zu schaffen. Zudem hat sie auch Parallelen in anderen Rechtsgebieten. Beispielsweise ist es einer Behörde i m Verwaltungsprozeß verboten, einen v o m Gericht aufgehobenen Verwaltungsakt sofort nach dem Urteil neu zu erlassen. 75 Nicht anders ist es i m Zivilprozeß bei der Ausübung von bestimmten Gestaltungsrechten. 76 72 Daher nimmt auch Detterbeck, Normwiederholungsverböte, S. 418-421 kein Prozeßhindernis an. 73 Schreiber, Reaktionen, S. 42. 74 Vgl. Detterbeck, Normwiederholungsverbote, S. 411 -413; ähnlich Kerbusch, Bindung, S. 36-45. 75 BVerwGE 14, 359 (362); Ule, VerwPR, § 59 I Nr. 1, S. 313; Kopp, VwGO, § 121 Rn. 11 und § 90 Rn. 8.

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3. Teil: Sachbezogene Eingriffsgesetze

Letztendlich nützt aber diese Erweiterung des Streitgegenstands nichts. Denn die Wiederholungsverbote treffen in anderen Prozeßarten stets eine Prozeßpartei. Der Gesetzgeber ist dagegen i m Rahmen der Normenkontrolle nicht Partei. Denn abstrakte und konkrete Normenkontrolle sind objektive Verfahren, bei denen es zwar einen Antragsteller, aber keinen Antragsgegner gibt. Daher ist eine subjektive Bindung des Gesetzgebers nicht ohne Bruch mit der allgemeinen Rechtskraftlehre möglich. Falls man aber trotzdem mit hohem argumentativem A u f w a n d versuchen sollte, den Gesetzgeber als einen Quasi-Antragsgegner an die Rechtskraft zu binden, so sollte man sich die merkwürdigen Folgen einer solchen Bindung vor Augen halten. Das rechtskraftbedingte Wiederholungsverbot wäre nämlich erstens davon abhängig, in welchem Verfahren die alte N o r m aufgehoben wird. W i r d sie i m Zuge einer Verfassungsbeschwerde aufgehoben, erstreckt sich die Rechtskraft unstreitig nur auf den konkreten Sachverhalt. W i r d die N o r m i m Zuge einer abstrakten oder konkreten Normenkontrolle aufgehoben, dann erstreckt sie sich auf die Rechtsnorm. I m einen Fall ließe die Rechtskraft die Wiederholung zu, i m anderen Fall nicht. Einer derartigen Unterscheidung fehlt aber jede sachliche Berechtigung. Zweitens wäre das Wiederholungsverbot aber auch von der Person des Antragstellers abhängig. Denn die Rechtskraft wirkt nur zwischen den Prozeßparteien. W i r d ein Gesetz beispielsweise aufgrund einer Richtervorlage des Amtsgerichts Gemünden aufgehoben, dann wäre nach der Rechtskrafttheorie der Gesetzgeber nur gegenüber dem Amtsgericht Gemünden verpflichtet, die Normen Wiederholung zu unterlassen. Falls sich der Gesetzgeber zu einer Normenwiederholung entschließt, hätte dies prozessual folgende Konsequenz: Beantragt ein anderes Gericht bei der Wiederholungsnorm die konkrete Normenkontrolle, würde sich das Verbot weder gegenüber dem Gesetzgeber noch gegenüber dem B V e r f G auswirken. Die Wiederholungsfrage müßte überhaupt nicht erörtert werden, und das BVerfG könnte v ö l l i g neu entscheiden. Macht das Amtsgericht Gemünden aber eine zweite Richtervorlage, dann wäre nicht nur der Gesetzgeber, sondern auch das BVerfG gebunden. Aufgrund der Rechtskraft des alten Urteils müßte das B V e r f G die neue N o r m aufheben. 77 Derart schiefe Ergebnisse müssen nicht de lege lata hingenommen werden, weil die Rechtskraft nicht ausdrücklich i m B V e r f G G geregelt ist. Diese Ergebnisse zeigen nur eindrucksvoll, wie richtig die Ansicht des BayVerfGH ist, daß es i m Normenkontrollverfahren keine Rechtskraft gibt. Daher ist ein auf die Rechtskraft gestütztes Normenwiederholungsverbot abzulehnen. 7 8

76 Vgl. Leipold, in: Stein-Jonas, ZPO, § 322 Rn. 209. 77 Zu diesem Ergebnis kommt Detterbeck, Normwiederholungsverbote, S. 435. 78 Im Ergebnis ebenso BVerfGE 77, 84 (103/104); Korioth, Bindungswirkung, S. 554-556.

Β. Normeniederholungen

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I I I . Normenwìederholung und Bindungswirkung Abschließend stellt sich die Frage, ob die Normenwiederholung aufgrund der ΒindungsWirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen nach § 31 Abs. 1 BVerfGG verboten ist. Da die Bindungswirkung dem ersten Anschein nach i m einfachen Recht verankert ist, und da der Gesetzgeber gemäß Art. 20 Abs. 3 G G nur an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden ist, ist vorab zu prüfen, ob die Norm Ausdruck einer verfassungsrechtlichen „Beachtungspflicht" ist. Nur dann kann sie gegenüber dem Gesetzgeber Wirkung entfalten. 7 9

7. Verfassungsrechtliche

Gehorsamspflicht

Bisher ist die Frage nach den verfassungsrechtlichen Wurzeln des § 31 Abs. 1 BVerfGG nur selten erörtert worden. 8 0 Dabei wurde eine verfassungsrechtliche „Gehorsamspflicht" des Gesetzgebers gegenüber dem BVerfG mehrfach bejaht, 8 1 mitunter aber auch ausdrücklich verneint. 8 2 Untersucht man die Frage einer verfassungsrechtlichen Gehorsamspflicht näher, so ist zunächst zu klären, auf welcher Vorschrift des Grundgesetzes eine Bindung des Gesetzgebers an die Auslegung des BVerfG beruhen könnte. Sicher ist, daß die Gehorsamspflicht nicht zusammen mit der Gesetzeskraft in Art. 94 Abs. 2 S. 1 G G verankert ist. Umgekehrt folgt aber aus der ausdrücklichen Erwähnung der Gesetzeskraft nicht, daß damit die Wirkungen verfassungsgerichtlicher Urteile abschließend umschrieben sind. Denn auch die Rechtskraft ist in Art. 94 G G nicht erwähnt und gleichwohl in gewissem Umfang verfassungsrechtlich garantiert. Die Gehorsamspflicht des Gesetzgebers kann auch nicht auf Art. 93 GG gestützt werden. In Art. 93 Abs. 1 G G heißt es zwar: „Das Bundesverfassungsgericht entscheidet: 1. über die Auslegung dieses Grundgesetzes . . .". Diese Einleitungsformulierung kann aber nicht so gelesen werden, als stünden die Worte „entscheidet über die Auslegung dieses Grundgesetzes" ungetrennt nebeneinander. In diesem Fall könnte man dem Halbsatz einen besonderen Sinn entnehmen. Da aber die Formulierung „über die Auslegung dieses Grundgesetzes" hinter dem 79 Die Frage, ob das Parlament auch an einfache Gesetze gebunden sein kann, wird hier nicht näher verfolgt, (vgl. Pietzcker, in: Schneider / Zeh, Parlamentsrecht, § 10 Rn. 9-17). 80 Dagegen wurde vereinzelt die Verfassungswidrigkeit des § 31 Abs. 1 BVerfGG behauptet (Thieme, Bindung, S. 193-196; Ridder, BVerfG, S. 84). Gegen diese Argumentation mit Art. 97,20 II GG zutreffend: Bullert, Bindende Wirkung, S. 44/45; Maunz, MSBKU, §31 Rn. 2. si Klein, Probleme, S. 700; Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 428; Doehring, StR, S. 210. 82 Korioth, Bindungswirkung, S. 557-565; Scheuner, Bindungskraft, S. 646/647; ähnlich: BGHZ 13, 265 (280-285).

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3. Teil: Sachbezogene Eingriffsgesetze

Doppelpunkt bei Ziffer 1 (der Organklage) steht, muß sie i m Zusammenhang mit dem Organklagerecht gesehen werden. Der Parlamentarische Rat wollte nämlich, daß bei der Organklage nur über die allgemeine Rechtsfrage, nicht über den konkreten politischen Streitfall entschieden w i r d . 8 3 Bei Schaffung des B V e r f G G wurde die Zuständigkeit des BVerfG dann trotzdem auf die Streitentscheidung erweitert. 8 4 Schließlich kann die verfassungsrechtliche Gehorsamspflicht auch nicht auf Art. 100 Abs. 3 G G zurückgeführt werden. In dieser Norm ist die sog. Divergenzvorlage geregelt. Zwar geht die Vorschrift wohl davon aus, daß die Urteile des B V e r f G eine über die Rechts- und Gesetzeskraft hinausgehende Wirkung haben. 8 5 Art. 100 Abs. 3 G G regelt diese Bindungswirkung aber nicht und sagt insbesondere nichts zu der Frage, inwieweit die Legislative an die Verfassungsrechtsprechung gebunden ist. Eine verfassungsrechtliche Gehorsamspflicht des Gesetzgebers könnte aber in Art. 20 Abs. 3 G G verankert sein. Der Wortlaut der Vorschrift ist freilich mehrdeutig. Denn die Bindung der Legislative an die „verfassungsmäßige Ordnung" kann so verstanden werden, daß der Gesetzgeber nur an den Text des Grundgesetzes gebunden ist. Die Formel kann aber auch so interpretiert werden, daß der Gesetzgeber an Verfassungstext plus Verfassungsrechtsprechung gebunden ist. A u c h die Entstehungsgeschichte der Norm verschafft in diesem Punkt keine Klarheit. Denn die Mitglieder des Parlamentarischen Rats hielten die Verfassungsbindung der Gesetzgebung für unproblematisch. Sie diskutierten lediglich darüber, ob man eine derart selbstverständliche Vorschrift überhaupt ins Grundgesetz aufnehmen sollte. 8 6 Eine Lösung des Interpretationsproblems kann somit nur aus dem Sinnzusammenhang der Verfassung gewonnen werden. Dabei spricht für die verfassungsrechtliche Gehorsamspflicht in erster Linie die Kontrollfunktion des Gerichts gegenüber der Legislative. Diese Kontrolle wäre gefährdet, wenn der Gesetzgeber in keiner Weise an das eigentliche Kontrollergebnis, die Verfasssungsauslegung, gebunden wäre. Der Gesetzgeber hätte es in der Hand, durch beharrliches Festhalten an seinen Rechtsansichten ein unerquickliches H i n und Her zwischen Bonn und Karlsruhe zu inszenieren. Wäre es ihm erlaubt, beanstandete Gesetze sofort nach Urteilserlaß zu wiederholen, so könnte er das Gericht damit in den Parteienstreit verwickeln und auf die Entscheidung politischen Druck ausüben. Zudem würde ein Anreiz geschaffen, nach personellen Veränderungen in Karlsruhe alte Streitfragen neu aufzuwärmen oder gar die Richterwahl zur Durchsetzung von

83 Scheuner, Bindungskraft, S. 646; Goessl, Organstreitigkeiten, S. 77-79. 84 Dies war nach BVerfGE 1, 208 (231/232) wegen Art. 93 Abs. 2 GG auch zulässig. 85 Geiger, Bindung, S. 1058/1059; a.A.: Biehler, Bindungswirkung, S. 1238; Scheuner, Bindungskraft, S. 647; BGHZ 13, 265 (284/289). 86 Matz, in: Doemming, Entstehungsgeschichte, S. 200.

Β. Normen Wiederholungen

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Sachzielen zu instrumentalisieren. Dies würde den Sinn verfassungsgerichtlicher Kontrolle des Gesetzgebers in Frage stellen. Dagegen kann man nicht einwenden, daß in Wirklichkeit mit einem derart obstinaten Verhalten des Gesetzgebers kaum zu rechnen ist. Denn die rechtliche Frage der Zulässigkeit eines Verhaltens muß unabhängig von dessen Wahrscheinlichkeit beantwortet werden. Erlaubt man aber dem Gesetzgeber, entschiedene Rechtsfragen alsbald neu aufzurollen, so wird damit nicht nur die Kontrollfunktion des BVerfG, sondern auch seine friedensstiftende Funktion berührt. Schließlich sollen die Urteile des B V e r f G den Rechtsstreit beenden. 87 Für eine Gehorsamspflicht des Gesetzgebers spricht in zweiter Linie der Gedanke der Einheit des Staates. W e i l die staatliche Gewalt auf mehrere Stellen verteilt ist, ist es notwendig, daß die verschiedenen Entscheidungsträger ihr Verhalten in gewissem Umfang aufeinander abstimmen und bei Beachtung der unterschiedlichen Aufgabenstellungen zusammenwirken. 8 8 Ein reibungsfreies Zusammenwirken ist aber nur möglich, wenn die verschiedenen Staatsorgane von einem gemeinsamen Verfassungsverständnis ausgehen. Da bei jeder Verfassung Meinungsverschiedenheiten über ihre Auslegung auftreten können, ist ein einheitliches Verfassungsverständnis nur über die Anerkennung einer Letztentscheidungsinstanz möglich. Diese Instanz ist das BVerfG, was bereits die Bezeichnung als „Verfassungsgericht" nahelegt. Soweit dem entgegengehalten wird, die Wirkung verfassungsgerichtlicher Urteile müsse in erster Linie auf der Rationalität ihrer Begründungen beruhen und nicht auf einer Rechtspflicht, hält dies einer näherer Betrachtung nicht stand. Z u m einen lassen sich trotz rationaler Argumentation verfassungsrechtlich oftmals mehrere Standpunkte vertreten. Z u m anderen gibt die verfassungsrechtliche Rationalität i m politischen Streit nicht unbedingt den Ausschlag. Die rechtliche Verbindlichkeit verfassungsgerichtlicher Auslegungen ist daher auch i m Interesse eines einheitlichen Verfassungsverständnisses aller Staatsorgane geboten. Stellt man nun die Frage, welche Gesichtspunkte gegen eine Bindung der Legislative an die Auslegung des BVerfG sprechen, so stößt man erstens auf einen rechtsdogmatischen Einwand. Durch die Konkretisierung der Verfassung schaffe das BVerfG praktisch neue Rechtssätze. Diesen abstrakt-generellen Rechtssätzen dürfe man keine Allgemeinverbindlichkeit beimessen. Sonst wäre das Gericht i m Ergebnis rechtssetzend tätig. Nicht anders sei es, wenn man die Bindung auf den staatlichen Bereich beschränke. Denn damit wären ebenfalls alle maßgeblichen Rechtsanwender gebunden. Diese Ansicht kommt zu dem

87 Das räumt auch Korioth, Bindungswirkung, S. 565-568 ein. Er will deshalb ein Verbot „obstinater" Normenwiederholungen aus dem Prinzip der Verfassungsorgantreue ableiten. 88 Geiger, Bindung, S. 1057/1058. Zur Einheit der Staatsgewalt allgemein: Zippelius, Staatslehre, § 9 III Nr. 3, S. 61/62.

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3. Teil: Sachbezogene Eingriffsgesetze

Ergebnis, daß die Verbindlichkeit der Entscheidungsgründe das BVerfG zum Gesetzgeber erheben würde. Dadurch wären Gewaltenteilungs- und Demokratieprinzip verletzt. 8 9 Diese Überlegung weist bereits in ihrer Prämisse deutliche Mängel auf. Z u m einen ist die Rechtsfortbildung per se keine Domäne der Legislative. Ansonsten wäre beispielsweise das Gewohnheitsrecht undenkbar. Z u m anderen vollzieht sich die Rechtsfortbildung des BVerfG nicht i m Aufstellen abstrakt-genereller Grundsätze. Das B V e r f G erläßt keine Regelwerke, die einen bestimmten Lebensbereich umfassend ordnen. Vielmehr überprüft es lediglich die v o m Parlament beschlossenen Regelungen und entwickelt dabei seinen Prüfungsmaßstab, die Verfassung, fort. Insofern findet nur die für Gerichte typische Rechtsfortbildung statt. Die Rechtsfortbildung durch Lückenschließung ist aber ein traditioneller Wesenszug der rechtsprechenden Gewalt, der zudem durch das Verbot der Justizverweigerung geradezu erzwungen wird. M i ß t man dabei den Entscheidungen eines Gerichts erhöhte Verbindlichkeit zu, so ändert sich dadurch qualitativ nichts an ihrem Rechtsprechungscharakter. Das zweite Argument, das gegen eine verfassungsrechtliche Gehorsamspflicht des Gesetzgebers vorgebracht wird, ist die Gefahr der Erstarrung der Rechtsentw i c k l u n g . 9 0 Insofern handelt es sich nicht nur um einen rechtspolitischen, sondern auch um einen verfassungsrechtlichen Einwand. Wie die detaillierte Regelung der Gesetzgebungskompetenzen zeigt, geht die Verfassung von der Notwendigkeit einer ständigen Anpassung des Rechts an die Zeitumstände aus und beauftragt damit in erster Linie den Gesetzgeber. Zudem zeigt sich eine gewisse Flexibilität der Rechtsentwicklung auch i m Phänomen des Verfassungswandels. Es ist allgemein anerkannt, daß Verfassungsnormen aufgrund veränderter Zeitumstände einem Bedeutungswandel unterliegen. Falls die Gehorsamspflicht dazu führen würde, daß dem Gesetzgeber die Hände gebunden wären oder daß auf einen Verfassungswandel nicht mehr reagiert werden könnte, wäre sie in der Tat völlig abzulehnen. Da das BVerfG aber grundsätzlich nur auf Antrag tätig wird und nur über prozeßrechtlich festgelegte Rechtsfragen autoritativ entscheidet, wird der Spielraum des Gesetzgebers mit jedem Urteil nur gering eingeschränkt. Die Einschränkungen wachsen auch nicht proportional zur Zahl der Entscheidungen. Denn meist werden nur bestehende Auslegungsgrundsätze erneut angewandt, verfeinert oder revidiert. Es ist daher nicht richtig, einfach die Zahl der veröffentlichten Entscheidungen zu addieren und damit die zunehmende Einschränkung des Gesetzgebers zu begründen. Dabei wird auch verkannt, daß das BVerfG in politisch besonders wichtigen Bereichen (Außen-, Wirtschafts- und Haushaltsrecht) beson-

89 BGHZ 13, 265 (280-282); Wischermann, Bindungswirkung, S. 68, 90-92; ähnlich, aber differenzierend: Korioth, Bindungswirkung, S. 561/562. 90 Schiaich, BVerfG, Rn. 454/456; Korioth, Bindungswirkung, S. 564/565.

Β. Normeniederholungen

123

dere Zurückhaltung übt. Insofern führt die Gehorsamspflicht nicht dazu, daß dem Parlament praktisch die Hände gebunden wären. Gewichtiger ist in diesem Zusammenhang der Hinweis auf den Verfassungswandel. Denn eine unbegrenzte Gehorsamspflicht kann in der Tat dazu führen, daß auf eine zeitbedingte Änderung der Sach- oder Rechtslage nicht angemessen reagiert werden könnte. Diese Gefahr begründet aber letztlich nicht die Notwendigkeit einer völligen Aufgabe der Gehorsamspflicht. Vielmehr kann dem Phänomen des Verfassungswandels durch eine angemessene sachliche und zeitliche Beschränkung der Bindungswirkung effektiv begegnet werden. Daher ist als Ergebnis festzuhalten, daß der in Art. 20 Abs. 3 G G verankerte Vorrang der Verfassung i m Grunde den „Nachrang des Gesetzgebers" gegenüber der Verfassungsgerichtsbarkeit bedingt. 9 1 Dieser Nachrang zeigt sich in einer sachlich und zeitlich begrenzten verfassungsrechtlichen Gehorsamspflicht des Gesetzgebers. Diese Auffassung entspricht i m übrigen nicht nur dem Selbstverständnis des BVerfG, sondern auch einer jahrzehntelangen Staatspraxis. B V e r f G und Parlament gingen stets davon aus, daß der Gesetzgeber an die Regelungsaufträge des Gerichts gebunden i s t . 9 2 Würde man eine verfassungsrechtliche Beachtungspflicht ablehnen, so wäre kein Grund ersichtlich, weshalb der Gesetzgeber durch ein Verfassungsgerichtsurteil zum Tätigwerden verpflichtet werden könnte. Die Initiative bliebe allein seiner Einschätzung der rechtlichen und politischen Prioritäten überlassen. Die Aufforderung des BVerfG wäre nicht nur unverbindlich, sondern streng genommen eine unzulässige Einmischung in die Angelegenheiten des Parlaments.

2. Verfassungsrechtliche

Gehorsamspflicht

und § 31 BVerfGG

Leitet man aus der Stellung des B V e r f G i m Grundgesetz eine Gehorsamspflicht des Gesetzgebers ab, so stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis diese Verfassungspflicht zu § 31 Abs. 1 BVerfGG steht. Konkretisiert die einfach-rechtliche Vorschrift die verfassungsrechtliche Beachtungspflicht oder regelt § 31 Abs. 1 B V e r f G G diese Frage nicht? Z u einer solchen Konkretisierung der verfassungsrechtlichen Gehorsamspflicht ist der einfache Gesetzgeber aufgrund der in Art. 94 Abs. 2 S. 1 GG enthaltenen Befugnis, Verfassung und Verfahren des Gerichts zu regeln, grundsätzlich ermächtigt. Z u m Gerichtsverfahren gehört nämlich auch die Regelung der Wirkkraft verfassungsgerichtlicher Urteile. 9 3

91 Wahl, Vorrang, S. 487. 92 Dazu Herzog, MDHS, Art. 20 V I Rn. 7/8 und Rn. 13/14. 93 Allg. M.: Maunz, MSBKU, Vorb. Rn. 33; Stern, BoK, Art. 94 Rn. 116.

124

3. Teil: Sachbezogene Eingriffsgesetze

Eine entsprechende Ausgestaltung der verfassungsrechtlichen Gehorsamspflicht verletzt auch nicht das Diskontinuitätsprinzip. Zwar legt das Parlament durch die Ausgestaltung der Bindungswirkung im Ergebnis die eigenen Pflichten gegenüber dem B V e r f G fest und regelt damit eigene Belange über die Zeit einer Wahlperiode hinaus. 9 4 Da aber die Gehorsamspflicht in wesentlichen Elementen verfassungsrechtlich vorgegeben ist, unterliegt diese Frage i m Grunde nicht der autonomen Willensbildung des jeweiligen Parlaments. Eine Durchbrechung des Diskontinuitätsprinzips liegt somit nicht vor. Demnach ist die Ausgestaltung der verfassungsrechtlichen Beachtungspflicht durch einfaches Recht zulässig. Es stellt sich lediglich die Frage, ob § 31 Abs. 1 B V e r f G G eine derartige Konkretisierung der verfassungsrechtlichen Gehorsamspflicht beinhaltet. Dafür spricht bereits der klare Wortlaut des § 31 Abs. 1 BVerfGG. Bundestag und Bundesrat zählen als Staatsorgane zu den Normadressaten der Vorschrift. Damit ist die Frage aber noch nicht entschieden. Denn auch das B V e r f G ist ein Staatsorgan und trotzdem nicht an seine eigenen Entscheidungen gebunden. 9 5 Maßgeblich ist vielmehr, ob der Zweck der N o r m eine Bindung der Legislativorgane gebietet. Da § 31 Abs. 1 B V e r f G G ein einheitliches Verfassungsverständnis aller staatlichen Stellen sichern w i l l , ist dies der Fall. Anders als beim BVerfG ist — wie gezeigt — i m Interesse der Flexibilität der Rechtsordnung eine Ausklammerung des Gesetzgebers aus der Bindungswirkung nicht geboten. Daher könnte der Gesetzgeber allenfalls dann nicht als Normadressat des § 31 Abs. 1 BVerfGG angesehen werden, wenn der Umfang der ΒindungsWirkung i m Widerspruch zu seiner verfassungsrechtlichen Gehorsamspflicht stünde. In diesem Fall wäre § 31 Abs. 1 BVerfGG jedenfalls insofern unverbindlich, als der Gesetzgeber betroffen wäre. Aus diesem Grunde ist auf den objektiven Umfang der Bindungswirkung näher einzugehen. Das Problem des § 31 Abs. 1 BVerfGG besteht nun allerdings darin, daß sein Wortlaut nur wenig Anhaltspunkte zum Umfang der Β indungs Wirkung liefert. Er läßt eine enge Auslegung zu, die lediglich eine Bindung an den T e n o r 9 6 der Entscheidung vorsieht. Der Wortlaut des § 31 Abs. 1 B V e r f G G gestattet aber auch eine sehr weite Auslegung, die neben dem Tenor sämtliche Entscheidungsgründe in die Bindung einbezieht. 9 7 Das B V e r f G hat sich für einen Mittelweg 94 Der Diskontinuitätsgrundsatz wird als Verfassungsgewohnheitsrecht anerkannt (Ossenbühl, HbStR III, § 63 Rn. 39-41). 95 BVerfGE 4, 31 (38); 20, 56 (87). Das ist heute allg. M.: Meyer, vMü, Art. 94 Rn. 30; Schiaich, BVerfG, Rn. 458; dagegen früher Zeuner: Geltungsdauer, S. 339. 96 Für ein enge Auslegung bereits: Arndt, BVerfG, S. 2/3; Scheuner, Bindungskraft, S. 644-647; BGHZ 13, 265 (282-284). Zum damaligen Diskussionsstand: Radeck, Bestand, S. 137-147. Aus neuerer Zeit: Rinken, AltK, Art. 94 Rn. 69-71; Löwer, HbStR II, § 56 Rz.9294; Stern, BoK, Art. 94 Rn. 129; Simon, HbVerfR, S. 1273; Schiaich, BVerfG, Rn. 449458; Biehler, Bindungswirkung, S. 1237-1239; Wischermann, Bindungswirkung, S. 111-120; Klein, Probleme, S. 699/700; Lechner, BVerfGG, § 31 Abs. 1 Anm. 1.

Β. Normen Wiederholungen

125

entschieden. 98 Es geht in st. Rspr. 9 9 davon aus, daß nur die „tragenden Gründe" einer Entscheidung bindend sind und zwar insoweit, als sie sich auf die Auslegung der Verfassung beziehen. Für eine Beschränkung auf den Tenor der Entscheidung sind zunächst eine Reihe systematischer Argumente vorgebracht worden. Denn die in § § 6 7 S. 3, 69, 72, 74, 78 S. 2, 95 Abs. 1 S. 2 BVerfGG vorgesehenen Möglichkeiten, die Entscheidungswirkungen auf andere Teile des Urteils zu erstrecken, wären überflüssig, wenn den tragenden Gründen ohnedies Bindungskraft zukäme. 1 0 0 Diese Hinweise tragen aber mehr den Charakter von Zusatzerwägungen. Denn es fällt nicht schwer, den genannten Normen umgekehrt eine klarstellende Funktion zuzuweisen und sie dann sogar als gesetzliche Stützen für die Theorie der „tragenden Gründe" zu verwenden. 1 0 1 Auch die historische Auslegung ergibt kein Übergewicht für die Beschränkung auf den Tenor. Bei der Schaffung des § 31 Abs. 1 B V e r f G G schwebte dem Bundestag keine Beschränkung auf den Tenor vor. Vielmehr bestand große Einigkeit darüber, daß mit dieser auf § 27 des Regierungsentwurfes zurückgehenden Vorschrift eine den Einzelfall übersteigende Bindung bezweckt w a r . 1 0 2 Allerdings war damals — obwohl die M i t w i r k u n g W i l l i Geigers das nahelegen könnte — die Formel von den „tragenden Gründen" noch nicht gefunden. Daher können sich auch die Anhänger einer weiten Auslegung nur beschränkt auf die historischgenetische Auslegung berufen. Sie müssen sich zudem entgegenhalten lassen, daß die Bindung an die tragenden Gründe auf eine der bisherigen deutschen Rechtsentwicklung fremde Präjudizienbindung der Gerichte hinausläuft. 1 0 3 Da in der Weimarer Republik aber die ΒindungsWirkung der Urteile des Staatsgerichtshofs nicht gesetzlich geregelt war, spricht umgekehrt einiges dafür, daß mit § 31 Abs. 1 B V e r f G G bewußt ein „ n o v u m " geschaffen werden sollte. Insofern hilft auch ein Blick in die Rechtsgeschichte nicht weiter. 97 Dieser Standpunkt ist vom BVerfG im Grundvertragsurteil BVerfGE 36, 1 (36) vertreten worden. Das ist zu Recht auf „einhellige Ablehnung" gestoßen: Schiaich, BVerfG, Rn. 452. 98 In der Literatur werden auch noch andere Mittelwege vertreten (Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 420-425; Sachs, Bindung, S. 112-139; Radeck, Bestand, S. 147-151; Kriele, Theorie, S. 299-301), auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. 99 BVerfGE 1, 14 (37); 19, 377 (392); 20, 56 (87); 40, 88 (93); Die Rspr. geht auf Geiger, BVerfGG, § 31 Anm. 6 zurück. Zustimmend: Maunz, MDHS, Art. 94 Rn. 2931, MSBKU, § 31 Rn. 16; Meyer, vMü, Art. 94 Rn. 26-28; Klein, in: Benda/Klein, VerfPR, Rn. 1237-1244; Lange, Entscheidungen, S. 4/5; Schick, in: Herzog/ Schick, PdW, S. 38-40; Rupp, Bindungswirkungen, S. 406; Leibholz /Rupprecht, BVerfGG, §31 Rn. 2. 100 Rinken, AltK, Art. 94 Rn. 69; BGHZ 13, 265 (282/283). ιοί Geiger, Bindung, S. 1059. 102 Nachweise bei Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 420/421; Radeck, Bestand, S. 149/150. 103 Schiaich, BVerfG, Rn. 457.

126

. Teil:

e Eingriffsgesetze

Angesichts der Unergiebigkeit aller grammatischen und historischen Überlegungen standen daher von Beginn an teleologische Argumente i m Vordergrund. V o r allem die Befürchtung der Erstarrung der Rechtsentwicklung, einer „Zementierung der Verfassung", wurde immer wieder für eine Beschränkung auf den Tenor vorgebracht. Das B V e r f G entziehe sich selbst das „Lebenselexier einer obersten Gerichtsbarkeit: remonstrierende, Front machende Untergerichte". Durch die Bindung an die tragenden Gründe „beraube" es sich der „ M ö g l i c h k e i t zur kritischen Selbstüberprüfung". Zudem leiste die „ K a n o n i s i e r u n g " 1 0 4 der Entscheidungsgründe der Tendenz des Gerichts Vorschub, sich mehr von der eigenen Begriffssprache als von den Grundideen der Verfassung leiten zu lassen. Der letzte Einwand hat allerdings wenig Berechtigung. Denn man kann nicht einerseits die Konkretisierungsbedürftigkeit der Verfassung betonen und andererseits dem BVerfG vorwerfen, daß es auf seinen Konkretisierungen begrifflichlogisch aufbaut. Ebensowenig sollte man das Bedürfnis nach einer einheitlichen Verfassungsauslegung zu sehr hintanstellen. Der Vergleich mit den Obergerichten, die ihre Rechtsansichten gegenüber unteren Instanzen letztlich durchsetzen können, hinkt nämlich. Das B V e r f G ist weder seinem Sinn noch seiner personellen Ausstattung nach ein Revisionsgericht. Wenn es an sämtlichen Bundesgerichten Senate gäbe, die in mehreren Rechtsfragen beständig auf ihrer Position beharren würden, dann wären die 16 Karlsruher Richter nicht in der Lage, in jedem Einzelfall ihre Rechtsprechung zu verteidigen. Man muß nämlich berücksichtigen, daß nicht nur die Bundesgerichte, sondern alle Untergerichte zur Vorlage ans BVerfG berechtigt sind. Überdies kontrolliert das B V e r f G nicht nur die Gerichte. Es überwacht auch die Gesetzgebungs- und Staatsorgane in Bund und Ländern. Sollte allen möglichen Verfahrensbeteiligten stets das Aufrollen alter Rechtsfragen möglich sein, so wäre das B V e r f G bald v ö l l i g überlastet. Die Bindung an die tragenden Gründe erfüllt daher gegenüber staatlichen Stellen die Funktion einer unverzichtbaren Hemmschwelle beim Zugang zum BVerfG. V o r allem trägt sie zu einem einheitlichen Verfassungsverständnis aller staatlichen Stellen bei. Dies hat auch für den Bürger einen positiven Effekt. Soweit er seine Grundrechte einklagt, kann er unter Berufung auf die bindende Wirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen ein günstiges Urteil erstreiten. Der Rechtsschutz wird dadurch effektiver gestaltet. 1 0 5 Sieht man den Zweck des § 31 Abs. 1 B V e r f G G somit darin, i m Bereich der Verfassung die Gleichheit der Rechtsanwendung zu gewährleisten, so erhält die Vorschrift auch einen eigenständigen Sinn. Reduziert man dagegen die Bindungswirkung auf den Tenor der Entscheidung, so wäre sie „weitgehend überflüssig". 1 0 6 Denn die Bindung an den Tenor besagt im Grunde nur, daß die konkrete Fallent-

104 Vgl. Schiaich, BVerfG, Rn. 455/456. 105 Lange, Entscheidungen, S. 5. 106 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 420; ähnlich bereits Kriele, Theorie, S. 297.

Β. Normeniederholungen

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Scheidung von anderen staatlichen Stellen nicht neu aufgerollt werden darf. Dies ergibt sich aber schon aus der Letztentscheidungsbefugnis des BVerfG. Gelangt man demnach bei der Auslegung des § 31 Abs. 1 B V e r f G G grundsätzlich zur Bindung an die „tragenden Gründe" der Entscheidung, so bedarf dies doch i m Interesse der Offenheit der Rechtsentwicklung und der Möglichkeit eines Verfassungswandels folgender Einschränkungen. In sachlicher Hinsicht muß klargestellt werden, daß der Aufgabe des Gerichts entsprechend nur seine Ausführungen zur Interpretation der Verfassung verbindlich sein können. In zeitlicher Hinsicht ist die Einschränkung erforderlich, daß die ΒindungsWirkung nach einer grundlegenden Änderung der Sach- oder Rechtslage erlischt. Diese vom BVerfG anerkannten Grenzen der Bindungswirkung beugen der Gefahr der Erstarrung der Rechtsentwicklung vor. Daneben bedarf es einer Präzisierung des Begriffs der „tragenden Gründe". Denn die Unklarheit dieser Formulierung ist einer der Hauptkritikpunkte. 1 0 7 M a n kann darunter nämlich einerseits den Teil der Gründe verstehen, der nach dem erkennbaren W i l l e n des Gerichts die wesentliche Aussage der Entscheidung b i l d e t . 1 0 8 Bei dieser wertenden Sinnermittlung liegt der Rückgriff auf die Leitsätze nahe. Andererseits kann man den Begriff auch l o g i s c h 1 0 9 fassen, als Summe der Gedankengänge, die zur Begründung der im Tenor gefundenen Entscheidung unabdingbar notwendig sind. In diesem Fall kommt den Leitsätzen keine Relevanz zu. Das Ergebnis ist nicht mehr offenkundig und weniger leicht zu finden. Dafür entspricht der logische Weg mehr der Stellung des BVerfG i m Staatsgefüge. Denn die wertende Betrachtung überläßt es im Ergebnis dem Gericht, den verbindlichen Inhalt seiner Entscheidungen zu bestimmen. Das B V e r f G könnte theoretisch bei jeder Gelegenheit in unbegrenztem Maß verbindliche Festlegungen treffen. Dies würde aber dem in Art. 93 GG niedergelegten Prinzip widersprechen, daß das BVerfG nur auf Antrag entscheidet. Aus diesem Grund können nur die logisch tragenden Gründe Verbindlichkeit beanspruchen. Abschließend kann man feststellen, daß eine derart beschränkte Bindungswirkung inhaltlich mit der verfassungsrechtlichen Gehorsamspflicht des Gesetzgebers in Einklang steht. Denn die in § 31 Abs. 1 B V e r f G G angeordnete Bindung betrifft zum einen die Verfassungsauslegung des Gerichts und berücksichtigt zum anderen die verfassungsrechtlich gebotenen, zeitlichen und sachlichen Schranken. § 31 Abs. 1 BVerfGG muß daher als Konkretiserung einer Verfassungspflicht begriffen werden.

•07 Schiaich, BVerfG, Rn. 452/453. io» Maunz, MDHS, Art. 94 Rn. 29; Meyer, vMü, Art. 94 Rn. 27; BVerwG, NJW 82, S. 779/780. 109 Klein, in: Benda/Klein, VerfPR, Rn. 1239; Lange, Entscheidungen, S. 5; Rupp, Bindung, S. 406; Geiger, BVerfGG, § 31 Anm. 6.

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3. Teil: Sachbezogene Eingriffsgesetze 3. Bindungsbedingtes

Wiederholungsverbot

Geht man davon aus, daß es eine verfassungsrechtliche Gehorsamspflicht gibt, die in § 31 Abs. 1 B V e r f G G nur näher konkretisiert wird, dann sind die Weichen für ein Wiederholungsverbot bereits gestellt. Denn durch die verfassungsrechtliche Begründung der Gehorsamspflicht ist die Argumentation mit Art. 20 Abs. 3 G G entkräftet, und durch die Annahme von sachlichen und zeitlichen Bindungsgrenzen wird der notwendigen Offenheit der Rechtsentwicklung Rechnung getragen. Damit entfallen alle wesentlichen Einwände gegen das Wiederholungsverbot. Zugleich kann man aus der in § 31 Abs. 1 B V e r f G G angesprochenen Bindung der Verfassungsorgane ganz allgemein das Verbot ableiten, ein vom B V e r f G für verfassungswidrig erklärtes Verhalten zu wiederholen. Dieses Fehlerwiederholungsverbot drückt sich i m Bereich der Gesetzgebung als Normenwiederholungsverbot aus. Dem Gesetzgeber ist es somit grundsätzlich untersagt, ein materiell verfassungwidriges Gesetz erneut zu beschließen. Mißachtet der Gesetzgeber das Verbot, muß das BVerfG erneut in der Sache entscheiden. Es ist dabei an seine frühere Entscheidung nicht gebunden. Erhält es sie aufrecht, so kann das Gericht die N o r m schon aus formellen Gründen aufheben. Ändert das BVerfG aber seine Rechtsprechung, wäre es sinnlos, das Gesetz allein aufgrund der Rechtswidrigkeit der Wiederholung aufzuheben, und eine zweite, dann zulässige Wiederholung zu fordern.

4. Grenzen des Wiederholungsverbots Da das Wiederholungsverbot seinen wesentlichen Grund in der verfassungsrechtlichen Gehorsamspflicht der Legislative hat, reicht es so weit wie die Bindung des Gesetzgebers. Es erstreckt sich nicht nur auf wortgleiche Wiederholungen, sondern auch auf umformulierte und inhaltsähnliche Gesetze. Gebunden wird primär der einfache Gesetzgeber, der verfassungsändernde Gesetzgeber nur bei Entscheidungen zu Art. 79 GG. Das Wiederholungsverbot greift nicht, wenn sich aus den Gründen keine inhaltliche Bindung ergibt oder wenn die Bindungskraft zeitlich erloschen ist. K e i n Wiederholungsverbot besteht daher, wenn eine Norm nicht aus inhaltlichen, sondern aus prozessualen Gründen wiederholt wird. W i r d ein Gesetz mangels Zustimmung des Bundesrates aufgehoben, so ist gegen den Erlaß des inhaltsgleichen Gesetzes nichts einzuwenden, wenn der Bundesrat nun zustimmt. Lediglich die Wiederholung des Verfahrensfehlers ist verboten. 1 1 0

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In ähnlichen Fällen hat das BVerfG selbst Normenwiederwiederholungen angeregt: BVerfGE 34, 9 (25/25).

C. Authentische Interpretation

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Kein Wiederholungsverbot besteht auch, wenn sich seit Erlaß des Urteils die Sach- oder Rechtslage wesentlich geändert hat. Eine Änderung der Sachlage ist etwa anzunehmen, wenn das B V e r f G ein Wohnraumbewirtschaftungsgesetz aufgehoben hat, weil die nach Art. 13 Abs. 3 GG erforderliche Raumnot aus Sicht des Gerichts nicht gegeben war. Dann kann schon ein Jahr später eine völlig andere Situation herrschen, die den erneuten Erlaß des gleichen Gesetzes rechtfertigt. Eine neue Rechtslage ist hingegen anzunehmen, wenn der Verfassungsgesetzgeber nach dem Urteil Art. 13 G G geändert hat. Dann hat das B V e r f G einen anderen Prüfungsmaßstab anzuwenden, so daß das alte Urteil einer Wiederholung des Wohnraumbewirtschaftungsgesetzes nicht mehr i m Wege steht. Z u m Schluß ist noch auf einige Sonderfälle hinzuweisen. 1 1 1 Ein zur Änderung der Sachlage gehörender Sonderfall liegt vor, wenn sich eine das Urteil des BVerfG tragende Prognose i m nachhinein als falsch erweist. Verbietet der Gesetzgeber beispielsweise neu auf den Markt kommende Medikamente und hebt das BVerfG dieses Arzneimittel verbot auf, weil es davon ausgeht, daß die Verwendung der Medikamente keine gravierenden Gesundheitsschäden nach sich ziehen wird, dann darf der Gesetzgeber dasselbe Verbot erneut erlassen, wenn sich i m nachhinein herausstellt, daß die Medikamente tatsächlich doch gesundheitsschädlich s i n d . 1 1 2 Ein zur Änderung der Rechtslage gehörender Sonderfall ist anzunehmen, wenn sich zwar nicht das geschriebene Recht verändert hat, wenn aber die Lebensverhältnisse und Rechtsanschauungen der Bevölkerung einem grundlegenden Wandel unterworfen waren. Dieser Fall wird stets die Ausnahme bleiben, weil ein solcher Wandel nur aufgrund einer langen zeitlichen Entwicklung oder aufgrund einschneidender Ereignisse denkbar ist. Da aber in solchen Fällen stets die M ö g lichkeit besteht, daß die das alte Urteil tragende Verfassungsnorm einen Bedeutungswandel erfahren hat, muß das BVerfG die Möglichkeit haben, über das Vorliegen eines Verfassungswandels zu entscheiden. Daher ist auch in diesem Fall eine Normenwiederholung zulässig.

C . Authentische Interpretation Der Begriff der authentischen Interpretation ist in neueren Darstellungen des Staatsrechts und der Rechtstheorie nur noch selten zu finden. 1 1 3 M a n versteht darunter die Sinnbestimmung einer Norm durch den Gesetzgeber. 114 Der häufigste 111 Zum Sonderfall von Normenwiederholungen im Zusammenhang mit Richterschüben unten 4. Teil D I I Nr. 3. H2 Für eine Beschränkung der ΒindungsWirkung bei Fehlprognosen auch: Philippi, Tatsachenfeststellungen, S. 181; Säcker, Rechtsmacht, S. 198. 113 Keine Erwähnung in Maunz / Zippelius, StR, Hesse, Grundzüge und Larenz, Methodenlehre. 114 Ausführlich Klein, vMK, Einl. IV Nr. 1/2, S. 6/7; Bullert, Bindende Wirkung, S. 58/59.

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e Eingriffsgesetze

Fall der authentischen Interpretation ist die Legaldefinition. Durch sie stellt der Gesetzgeber klar, wie er bestimmte Begriffe verstanden wissen w i l l . Während die wissenschaftliche Auslegung darauf beschränkt ist, den Sinn einer Vorschrift zu ermitteln, kann die authentische Interpretation den Sinn einer Vorschrift ändern, einengen oder ergänzen. Sie ist nicht darauf verwiesen, den Gehalt einer N o r m deklaratorisch festzustellen. W e i l die authentische Interpretation Gesetzgebung ist, kann sie den Gehalt einer Norm konstitutiv neu bestimm e n . 1 1 5 Sie gehört nicht eigentlich zum Bereich der Normanwendung, sondern ist i m Grunde nichts anderes als eine besondere Spielart der Normsetzung. Da die authentische Interpretation nur eine besondere Form der Gesetzgebung ist, ist nichts dagegen einzuwenden, wenn der verfassungsändernde Gesetzgeber die Rechtsprechung des BVerfG dadurch korrigiert, daß er den i m Grundgesetz verwendeten Begriffen durch eine Legaldefinition einen anderen Sinn gibt. Denn die abstrakt-generelle Neubestimmung von Verfassungsbegriffen ist nur eine besondere Form der Verfassungsänderung. 116 Bedenklich sind hingegen die Fälle, in denen sich der Gesetzgeber nicht die Mühe macht, den Inhalt von Verfassungsbegriffen neu zu bestimmen, sondern in denen er schlicht erklärt, eine früher erlassene Norm sei mit der Verfassung vereinbar. Man kann mit Fug und Recht bezweifeln, ob es sich bei diesen Vereinbarkeitserklärungen überhaupt um „authentische Interpretationen" handelt. 1 , 7 Denn es geht dem Gesetzgeber in diesen Fällen nicht darum, den Inhalt von Verfassungsbegriffen neu zu bestimmen. Vielmehr besteht das Ziel der politischen Führung allein darin, den Bestand einiger verfassungsrechtlich ins Zwielicht geratener Vorschriften zu retten. Die Vereinbarkeitserklärungen wurden aber von amtlicher Seite stets als authentische Interpretationen bezeichnet. 1 1 8 Daher werden sie trotz berechtigter K r i t i k seither unter diesem Stichwort erörtert.

us Zutreffend Strauß, KudW III, S. 495; Schreiber, Reaktionen, S. 77. •ι 6 Daher ist der einfache Gesetzgeber dazu nicht befugt. Soweit er z.B. in § 1 VereinsG und § 1 VersammlungsG verfassungsrechtliche Begriffe definiert, handelt er nach BVerfGE 12, 45 (53) „auf die Gefahr, daß dieser Interpretationsversuch mit der Verfassung in Widerspruch" steht. Dann ist seine Legaldefinition nichtig. 117 Arndt, KudW III, S. 471/472, 475/476; Klein, KudW III, S. 582; Löwenstein, Kritische Betrachtungen, S. 386; Ehmke, Verfassungsnovelle, S. 450; Schreiber, Reaktionen, S. 79; Spanner, Grenzen, S. 50. us In Deutschland: JMin Neumayer, BT-Prot. I I S. 575/576; Merkatz, BT-Prot. I I S. 555; einschränkend Strauß, KudW III, S. 495. Zum österreichischen Fall siehe Spanner, Grenzen, S. 48/49.

C. Authentische Interpretation

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I . Präzedenzfälle in Österreich und Deutschland Der Grundfall einer Vereinbarkeitserklärung besteht darin, daß der Gesetzgeber konkret bezogen auf bestimmte Gesetze deren Verfassungsmäßigkeit festschreibt. In Österreich trat 1954 ein Verstaatlichungsgesetz in Kraft, dessen Vereinbarkeit mit dem Gleichheitssatz und der Eigentumsgarantie der Verfassung äußerst umstritten war. Der österreichische Gesetzgeber wollte aus finanziellen Gründen ein Scheitern des Gesetzes vermeiden und zugleich eine ähnliche Neuregelung schaffen. Daher ergänzte er 1959 die Österreichische Verfassung um folgende Klarstellung: „§ 3 und § 10 Abs. 1 bis 3 des Ersten Verstaatlichungsentschädigungsgesetzes, BGBl. Nr. 189/1954, sowie § 2 des vorliegenden Bundesgesetzes entsprechen dem Art. 7 des Bundesverfassungsgesetzes in der Fassung 1929 und dem Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867, RGBl. Nr. 142." 1 1 9 Wenige Jahre zuvor ist in der Bundesrepublik eine ähnliche Verfassungsänderung verabschiedet worden. Hintergrund dieser Vereinbarkeitserklärung war der Streit um die Wiederbewaffnung. 1952 entschloß sich die Regierung Adenauer, i m Rahmen einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft ( E V G ) bundesdeutsche Truppen aufzustellen. Die Westalliierten waren i m Gegenzug für diesen deutschen Wehrbeitrag bereit, der Bundesrepublik mehr Souveränität einzuräumen. Aus diesem Grund wurde am 26. M a i in Bonn der Deutschland-Vertrag unterzeichnet und am 27. M a i in Paris der E V G - V e r t r a g . 1 2 0 Die SPD-Opposition wandte sich entschieden gegen die Vertragswerke und erhob vor dem BVerfG Klage. Während des Prozesses kamen wohl auch den Regierungsvertretern Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Vertragsgesetze. Jedenfalls änderte sich die Rechtslage entscheidend, nachdem Adenauer i m Herbst 1953 einen erdrutschartigen Wahlsieg erzielt hatte. Denn nun verfügte seine Regierungskoalition über eine Zweidrittelmehrheit. I m März 1954 änderte sie die Verfassung und fügte folgenden Art. 142 a G G ein: „Die Bestimmungen dieses Grundgesetzes stehen dem Abschluß und dem Inkraftsetzen der am 26. und 27. Mai 1952 in Bonn und Paris unterzeichneten Verträge (Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und den Drei Mächten und Vertrag über die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft) mit ihren Zusatz- und Nebenabkommen, insbesondere dem Protokoll vom 26. Juli 1952, nicht entgegen." 121 U m ein Scheitern dieser Vereinbarkeitserklärung am Textänderungsgebot des Art. 79 Abs. 1 GG zu verhindern, wurde gleichzeitig der noch geltende Art. 79 Abs. 1 S. 2 eingefügt. Er sollte die „Klarstellung" des Art. 142 a G G vom Makel 119

Text nach Schreiber, Reaktionen, S. 17 und Spanner, Grenzen, S. 48. Ausfürlich zur EVG-Kontroverse oben 1. Teil A II. 121 BGBl. 1954, I S. 45; Abdruck in KudW III, S. 467 und bei Ehmke, Verfassungsdurchbrechung, S. 410. 120

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. Teil:

e Eingriffsgesetze

der Verfassungsdurchbrechung befreien. Die SPD-Opposition hielt allerdings die Änderung des Art. 79 Abs. 1 G G ebenso für verfassungswidrig wie die Vereinbarkeitsklausel des Art. 142 a GG. Darum setzte sie den Prozeß vor dem BVerfG fort. Z u einer rechtskräftigen Entscheidung kam es jedoch nicht, weil die Verträge auf internationaler Ebene scheiterten. Das Französische Parlament ratifizierte das E V G - A b k o m m e n nicht und damit erledigte sich der Rechtsstreit vor dem BVerfG. Art. 142 a GG wurde gegenstandslos. 1968 wurde er aus dem Grundgesetz gestrichen. 1 2 2 Die deutsche Vereinbarkeitserklärung unterscheidet sich von dem österreichischen Gesetz schon dadurch, daß sie durch eine zusätzliche Änderung der Revisionsnormen gleichsam „abgesichert" wurde. Außerdem bezog sich die deutsche Vereinbarkeitserklärung ausschließlich auf noch nicht verkündete und noch nicht in Kraft getretene Gesetze. Der wichtigste Unterschied zwischen den beiden authentischen Interpretationen besteht aber darin, daß man der österreichischen Klausel i m einzelnen entnehmen kann, welche Verfassungsbestimmungen m i t welchen Gesetzesregelungen in Einklang stehen, während die deutsche Regelung nur allgemein die Vereinbarkeit ganzer Gesetzeswerke mit der Verfassung feststellt. I m österreichischen Fall kann man daher von einer spezifizierten, i m deutschen Fall von einer pauschalen Vereinbarkeitserklärung sprechen.

I I . Interpretation von Vereinbarkeitserklärungen Die besondere Problematik der Vereinbarkeitsklauseln besteht darin, daß ihr Rechtscharakter und ihr Aussagegehalt nur schwer bestimmbar sind. M a n kann bereits darüber streiten, ob die Vereinbarkeitserklärung ein Gesetzgebungsakt ist oder ob der Sache nach ein Rechtsprechungsakt vorliegt. Sieht man in den Vereinbarkeitsklauseln Legislativakte, stellt sich die Frage, welchen Regelungsgehalt sie haben. Bestimmt das Vereinbarkeitsgesetz rein formal, daß die übrigen Verfassungsnormen für bestimmte Fälle keine Anwendung finden? Regelt es prozessual, daß das BVerfG nicht über die Verfassungsmäßigkeit bestimmter Gesetze entscheiden kann? Oder schreibt es materiell vor, daß die geltenden Verfassungsbestimmungen für bestimmte Fälle abgeändert werden? Diese Unklarheiten resultieren letztlich daraus, daß die Regierungsmehrheit bei der Schaffung von Vereinbarkeitsklauseln nicht bestrebt ist, die Verfassung inhaltlich zu verbessern. Vielmehr ist die politische Führung nur darauf aus, ein normenverwerfendes Urteil des Verfassungsgerichts abzuwenden. Daher enthält die Vereinbarkeitserklärung wenig Rechtsgedanken. Sie trägt mehr den Charakter eines Machtwortes. Für die rechtliche Beurteilung ist zunächst maßgeblich, ob die Vereinbarkeitserklärung als Gesetzgebungs- oder als Rechtsprechungsakt einzuordnen ist. Es 122 Rumpf, Streichung, S. 673-677; oben 1. Teil A II.

C. Authentische Interpretation

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wurde vorgebracht, daß die Feststellung der Verfassungsmäßigkeit einer N o r m ihrer Natur nach ein auf Interpretation und Subsumtion beruhender A k t der Rechtsanwendung ist und kein A k t der Rechtssetzung. 123 Fraglich ist allerdings, ob der Gesetzgeber tatsächlich die Vereinbarkeit der in Rede stehenden Normen mit der Verfassung geprüft hat. Zwar hat der Text von Vereinbarkeitserklärungen durchaus Ähnlichkeit mit dem Tenor verfassungsgerichtlicher Normenkontrollentscheidungen. Die politischen Gremien haben aber weder ein gerichtsähnliches Verfahren durchgeführt noch nach streng juristischen Maßstäben interpretiert und subsumiert. Vielmehr hat sich die parlamentarische Mehrheit bei der Vereinbarkeitserklärung bewußt legislativer Mittel bedient. Z u m einen war sich auch das Parlament darüber i m klaren, daß die in Art. 79 G G enthaltene Befugnis, verfassungsändernde Gesetze zu erlassen, nicht die Befugnis zur Verfassungsrechtsprechung einschließt. 1 2 4 Z u m anderen verfolgte sie mit der Vereinbarkeitsklausel gerade den Zweck, eine für möglich gehaltene verfassungswidrige Lage durch Änderung der Verfassung zu beheben. Soweit die behauptete Vereinbarkeit nicht bestand, sollte sie eben durch das neue Gesetz geschaffen werden. Da die Vereinbarkeitsklausel insoweit konstitutiv wirkt, liegt ein Gesetzgebungsakt v o r . 1 2 5 Allerdings ist einzuräumen, daß es sich bei Vereinbarkeitserklärungen um äußerst atypische Gesetze handelt. Erstens enthalten sie keine abstrakt-generelle Regelung. Da sie nur bestimmte Ausnahmefälle i m Auge haben und letztlich eine Prozeßniederlage abwenden wollen, ähneln sie den Maßnahmegesetzen. 126 I m EVG-Prozeß räumte sogar die Regierungsseite ein, daß Art. 142 a GG „ i n gewisser Hinsicht ein Individualgesetz" sei. 1 2 7 Zweitens bleibt bei Vereinbarkeitserklärungen offen, ob sie eine inhaltliche Änderung der Rechtslage bewirken. Der Text der Vereinbarkeitserklärung beschränkt sich darauf, eine Übereinstimmung von einfachem Recht und Verfassung festzustellen. Ob die neue Verfassungsrechtslage von der alten abweicht, ob die „Klarstellung" deklaratorisch oder konstitutiv wirkt, bleibt der Interpretation überlassen. Diese Besonderheit ändert allerdings am Gesetzescharakter nichts. Denn auch bei „nomalen" Textneufassungen kann es ungewiß sein, inwieweit eine materielle Änderung des Verfassungsrechts vorliegt. 1 2 8 Diese Unsicherheit ist aber einer der Gründe dafür, daß der Inhalt von Vereinbarkeitserklärungen schwer zu ermitteln ist. Es wurde sogar bezweifelt, daß die 123 Klein, KudW III, S. 583/584. 124 Daher trifft es zu, daß ein Rechtsprechungsakt des Parlaments verfassungswidrig ist (Klein, KudW III, S. 586/587). Auch eine vorherige Selbsteinsetzung des Parlaments als Gericht wäre verfassungswidrig (vgl. oben 3. Teil A I I Nr. 2). 125 Ebenso Schreiber, Reaktionen, S. 80; Meyer-Arndt, Rechtsfragen, S. 295-297; wohl auch Löwenstein, KudW III, S. 579. 126 Ebenso Spanner, Grenzen, S. 50. 127 Staatssekretär W. Strauß, KudW III, S. 499. 128 Ebenso Bryde, vMü, Art. 79 Rn. 10 (mit Beispiel).

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Vereinbarkeitserklärungen eine sachliche Änderung der Verfassung bezwecken. Vielmehr könnten sie auch ein rein prozessuales Ziel verfolgen: die fallweise Ausschaltung des Verfassungsgerichts. Diese Auslegung berücksichtigt zwar die politischen Hintergründe, verkennt jedoch die Zielsetzung der Vereinbarkeitsklauseln. Durch den Text der Vereinbarkeitserklärung wird weder die Einleitung eines verfassungsgerichtlichen Prozesses verhindert, noch wird ein anhängiges Gerichtsverfahren niedergeschlagen. Es geht nicht um die Vermeidung des Prozesses, sondern um die Vermeidung der Prozeßniederlage. Daher wird nicht die prozessuale Zuständigkeit geändert, sondern — wie bei anderen Verfassungsänderungen — der gerichtliche Prüfungsmaßstab. Diese materiell-rechtliche Änderung hat zur Folge, daß nicht nur bei der gerichtlichen Prüfung, sondern auch bei der Prüfung durch den Bundespräsidenten die Normenverwerfung verhindert wird. Daher liegt keine rein prozessuale Maßnahme v o r . 1 2 9 Insoweit trifft das formale Verständnis als Vorschrift über den Anwendungsbereich der Verfassung eher den Zweck der Vereinbarkeitserklärung. Allerdings läßt sich auch diese Auslegung zumindest für die spezifizierte Vereinbarkeitserklärung nicht halten. Denn die spezifizierte Vereinbarkeitsklausel trifft nur Aussagen über die Vereinbarkeit mit einzelnen Verfassungsnormen, nicht über die Verfassung insgesamt. Dagegen liegt bei pauschalen Vereinbarkeitsregeln die formale Auslegung durchaus nahe. Denn Art. 142 a G G war ähnlich formuliert wie Art. 139 GG, der die Prüfung von Entnazifizierungsvorschriften am Maßstab der Verfassung ausschließt. Der Verfassungsgeber hat durch die pauschale Feststellung, daß diese besatzungsrechtlichen Vorschriften durch die Bestimmungen des Grundgesetzes „nicht berührt" werden, die Entnazifizierungsgesetze vom Anwendungsbereich der Verfassung gleichsam ausgeklammert. Nicht wesentlich anders formuliert war Art. 142 a GG. Er ordnete an, daß die Bestimmungen des Grundgesetzes dem Deutschland-Vertrag und den EVG-Verträgen „nicht entgegen stehen". Allerdings sind Vereinbarkeitserklärungen wie alle anderen Verfassungsnormen so auszulegen, daß sie rechtliche Geltung erlangen können. Es liegt aber auf der Hand, daß der verfassungsändernde Gesetzgeber nicht in gleicher Weise wie der Verfasungsgeber in der Lage ist, bestimmte Gesetze „ i n toto" der Verfassung zu entziehen. Da er sich bei einer solchen Ausklammerung seiner Bindung an die Verfassung und insbesondere an Art. 79 Abs. 3 G G entledigen könnte, ist ihm eine Einengung des Anwendungsbereichs der Verfassung untersagt. Der Primat der Verfassung wäre dadurch verletzt. 1 3 0 Daher ist auch das rein formale Verständnis der Vereinbarkeitserklärungen abzulehnen. !29 Gegen das prozessuale Verständnis bereits Strauß, KudW III, S. 496/499 und Spanner, Grenzen, S. 48/49. 130 Ähnlich Ehmke, Verfassungsdurchbrechung, S. 414/415.

C. Authentische Interpretation

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Vielmehr handelt es sich bei allen Vereinbarkeitsklauseln um atypische Verfassungsänderungen. Sie stellen für bestimmte Gesetze entweder deklaratorisch ihre Verfassungsmäßigkeit fest oder stellen konstitutiv ihre Verfassungsmäßigkeit her. Das geschieht, indem für bestimmte Fallgruppen eine Sonderregelung geschaffen wird, die gegebenenfalls die bestehenden Verfassungsnormen inhaltlich einschränkt, d.h. materiell abändert. 1 3 1

I I I . Vereinbarkeitserklärungen durch einfaches Gesetz Da die Vereinbarkeitserklärungen nur atypisch formulierte Verfassungsänderungen sind, können sie nicht durch einfaches Gesetz ergehen. Ein einfaches Gesetz würde gegen den Vorrang der Verfassung (Art. 20 Abs. 3 GG) verstoßen und wäre nichtig. Daher wurde i m österreichischen wie i m deutschen Fall zum Mittel der Verfassungsrevision gegriffen.

I V . Vereinbarkeitserklärungen durch Verfassungsänderung Ein ähnlich eindeutiger Befund wie bei den einfachen Gesetzen ist bei Verfassungsänderungen nicht zu erwarten. Da die Vereinbarkeitserklärungen eine besondere Form der Verfassungsrevision darstellen, ist der verfassungsändernde Gesetzgeber grundsätzlich zu ihrem Erlaß befugt. Gegen Vereinbarkeitserklärungen können aber einige formelle und materielle Bedenken erhoben werden. Besondere Bedeutung hat dabei die formelle Schranke des Art. 79 Abs. 1 GG.

1. Spezifizierte

Vereinbarkeitserklärungen

Gegen die dem österreichischen Fall vergleichbaren spezifizierten Vereinbarkeitserklärungen kann man in formeller Hinsicht einwenden, daß sie nicht allgemein formuliert sind, sondern nur für bestimmte Fallgruppen gelten. Es besteht jedoch heute Einigkeit darüber, daß auch Verfassungsnormen nicht stets abstraktgenerell formuliert sein müssen. Auch fallbezogene Grundgesetzänderungen sind grundsätzlich zulässig. 1 3 2 V o n Art. 79 Abs. 1 S. 1 G G verboten sind nur Änderungen, die keinen Niederschlag i m Text der Verfassung gefunden haben. Aber auch in dieser Hinsicht kann man an der Verfassungsmäßigkeit der spezifizierten Vereinbarkeitsklauseln •3i Ebenso für materielles Verständnis: Strauß, KudW III, S. 495; Schreiber, Reaktionen, S. 81; Meyer-Arndt, Rechtsfragen, S. 295; wohl auch Ehmke, Verfassungsdurchbrechung, S. 414/415. •32 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 356; Maunz, MDHS, Art. 79 Rn. 3; MeyerArndt, Rechtsfragen, S. 291.

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zweifeln. Sie stehen zwar in der Verfassung, ändern das Grundgesetz aber nicht „ausdrücklich", wie Art. 79 Abs. 1 S. 1 G G fordert. Vielmehr läßt es ihr Wortlaut offen, ob überhaupt eine Änderung vorliegt. M i t dieser Argumentation läuft man allerdings Gefahr, den Inhalt des Textänderungsgebot zu überschätzen. Denn das Wörtchen „ausdrücklich" wurde vom Parlamentarischen Rat in erster Linie eingefügt, um Mißverständnisse auszuschließen. Es sollte sicherstellen, daß gedankliche Änderungen des Grundgesetzes überhaupt urkundlich gemacht werden. 1 3 3 Der formelle Aspekt der Urkundsänderung steht nämlich gewissermaßen i m Schatten des von Art. 79 Abs. 1 S. 1 G G verfolgten materiellen Aspekts: Das Erfordernis der Textänderung soll verhindern, daß die Verfassung unbemerkt und gleichsam durch die Hintertür geändert w i r d . 1 3 4 In der Weimarer Republik war es nämlich möglich, von der Verfassung stillschweigend abzugehen. Nach der damaligen Staatspraxis kam es nur darauf an, daß ein Gesetz mit verfassungsändernder Mehrheit beschlossen wurde. I n diesem Fall konnte es von der eigentlichen Reichsverfassung abweichen und damit ihre Garantien einschränken, ohne daß es einer besonderen Erwähnung in der Verfassung bedurfte. 1 3 5 Diese Praxis der sogenannten Verfassungsdurchbrechungen wollte der Parlamentarische Rat unterbinden. 1 3 6 Sie führte nämlich dazu, daß der Gesetzgeber selbst sich in vielen Fällen keine Gedanken darüber machte, ob und inwieweit er die Verfassung einschränkte. Es genügte, wenn in einem verfassungsrechtlich schwierigen Fall für eine Zweidrittelmehrheit gesorgt war (Art. 76 W V ) . Die Praxis der Verfassungsdurchbrechungen führte außerdem dazu, daß eine wesentliche Einschränkung der verfassungsmäßigen Rechte in der Öffentlichkeit verschleiert werden konnte. Aufgrund dieser Erfahrungen kann man den Zweck des Textänderungsgebots in negativer und in positiver Hinsicht formulieren. In negativer Hinsicht begründet Art. 79 Abs. 1 S. 1 G G ein Verbot von Verfassungsdurchbrechungen. In positiver Hinsicht begründet er das Gebot, daß jede Verfassungsänderung ins Bewußtsein der handelnden Politiker und ins öffentliche Bewußtsein dringt. Art. 79 Abs. 1 S. 1 G G hat darum sowohl eine Besinnungs- als auch eine Publikationsfunktion. Ist dieser materielle Zweck erfüllt, dann sind an die formelle A r t der Textänderung keine überhöhten Anforderungen zu stellen. So legt das Textänderungsgebot weder fest, an welcher Stelle i m Grundgesetz die Änderungen vorzunehmen sind, noch verlangt es eine besonders klare und zweifelsfreie Formulierung. Es genügt, 133 Meyer-Arndt, Rechtsfragen, S. 277/278. 134 Grundlegend: Arndt, KudW III, S. 482/483. 135 Zur Weimarer Praxis: Ehmke, Verfassungsdurchbrechung, S. 388-392; MeyerGoßner, Verfassungsmäßigkeit, S. 30-33. 136 Füßlein, in: Doemming, Entstehungsgeschichte, S. 573/574.

C. Authentische Interpretation

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wenn sich der gedankliche Inhalt der Verfassungsänderung durch Auslegung ermitteln läßt. Daher sind, wie die Art. 44 Abs. 2, 140 G G zeigen, auch Verweisungen grundsätzlich zulässig. 1 3 7 Bei spezifizierten Vereinbarkeitserklärungen kann man aufgrund der klaren Nennung der Verfassungsnorm und der mit ihr in Konflikt stehenden einfachen Gesetze durch Auslegung ermitteln, ob und welche Verfassungsgarantien eingeschränkt werden. Sie sind daher, formell betrachtet, ausdrückliche Grundgesetzänderungen und führen auch materiell dazu, daß Gesetzgeber und Öffentlichkeit sich über die Verfassungsänderung Klarheit verschaffen. Daher sind spezifizierte Vereinbarkeitsklauseln i m Rahmen des Art. 79 Abs. 1 S. 1 G G zulässig. Sie können jedoch in bestimmten Fällen inhaltlich unzulässig sein. Inhaltliche Bedenken ergeben sich allerdings nicht daraus, daß durch die Vereinbarkeitserklärungen in schwebende Verfahren eingegriffen wird. Denn die Vereinbarkeitserklärung ist wie jede andere Verfassungsänderung auch während anhängiger Verfassungsprozesse zulässig. 1 3 8 Materielle Bedenken ergeben sich aber in dem Fall, daß — wie 1959 in Österreich — ein bereits in Kraft getretenes Gesetz nachträglich für verfassungskonform erklärt wird. Denn nach deutschem Recht ist ein Gesetz, wenn es bei seinem Inkrafttreten verfassungswidrig ist, von Anfang an n i c h t i g . 1 3 9 Erfolgt die verfassungsändernde Vereinbarkeitserklärung danach, so kommmt sie praktisch zu spät. U m einer solchen Verfassungsnovelle nicht jeden Sinn zu nehmen, müßte man ihr folglich rückwirkende Kraft beimessen. Dabei stellt sich allerdings die Frage, ob rückwirkende Verfassungsänderungen überhaupt, ganz gleich ob stillschweigend oder ausdrücklich, zulässig sind. Dies kann man mit Blick auf Rechtssicherheit und Rechtsklarheit ganz generell verneinen. 1 4 0 Bei Vereinbarkeitserklärungen muß man die Rückwirkung aber schon deshalb ablehnen, weil damit i m Ergebnis der einfache Gesetzgeber von seiner Pflicht, die Verfassung zu beachten, i m nachhinein befreit w ü r d e . 1 4 1 Dies widerspräche aber Art. 20 Abs. 3 GG, der zum unantastbaren Kern der Verfassung gehört. Daher kann ein einfaches Gesetz wegen Art. 20 Abs. 3 i. V . m . 79 Abs. 3 G G nicht rückwirkend durch eine Verfassungsnovelle geheilt werden.

•37 Bryde, vMü, Art. 79 Rn. 14; Meyer-Arndt, Rechtsfragen, S. 280/281. •38 Vgl. oben 2. Teil A. 139 In Österreich gilt dagegen die „Ex-Nunc-Nichtigkeit" (Schefold, EvStL, Stw Verfgbkt, I I Β Nr. 2 a; Marcie, in: Häberle, Verfgbkt, S. 318). 140 Giese, KudW III, S. 564/565; Löwenstein, KudW III, S. 553. 141 Maunz, MDHS, Art. 79 Rn. 16. Fraglich ist allerdings, ob man in der EVGKontroverse von einer Rückwirkung sprechen konnte (Arndt, KudW III, S. 477). Die Verfassungsänderung wurde zwar im BTag nach dem einfachen Gesetz beraten, aber vom BPräs vorher verkündet. Daher griff das Rückwirkungsverbot wohl nicht (Strauß, KudW III, S. 500/501).

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Zusammenfassend kann man also feststellen, daß spezifizierte Vereinbarkeitserklärungen i m Rahmen des Art. 79 Abs. 1 S. 1 G G grundsätzlich zulässig sind. Sie müssen jedoch die Grundsätze des Art. 79 Abs. 3 G G unberührt lassen und können deswegen keine rückwirkende Kraft entfalten.

2. Pauschale

Vereinbarkeitserklärungen

Während bei spezifizierten Vereinbarkeitserklärungen das Textänderungsgebot gewahrt ist, ist dies bei pauschalen Klarstellungen äußerst fraglich. Zwar kann auch bei pauschalen Vereinbarkeitserklärungen — wie die EVG-Kontroverse zeigt — eine öffentliche Auseinandersetzung um die Verfassungsänderung stattfinden. Insofern wird dem materiellen Zweck, genau genommen der Publikationsfunktion des Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG, Rechnung getragen. Zweifelhaft ist aber, ob auch der formelle Zweck, das Erfordernis der Urkundsänderung, gewahrt ist. Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG läßt nämlich nicht jede A r t der Urkundsergänzung genügen. Vielmehr muß die Änderung „ausdrücklich" erfolgen. Ob man dieses Erfordernis als „Gebot der Verfassungsklarheit" bezeichnen sollte, kann offen bleiben. 1 4 2 V ö l l i g beiseiteschieben kann man das Erfordernis der Ausdrücklichkeit jedenfalls n i c h t . 1 4 3 Es ist zwar einzuräumen, daß der Parlamentarische Rat allem Anschein nach das Wörtchen „ausdrücklich" nur einfügte, damit der Text der Verfassung auch tatsächlich geändert wird. Der Abg. Carlo Schmid (SPD) erläuterte, man wolle der Fehldeutung entgegenwirken, „daß es genügen könnte, wenn der Wortlaut des Grundgesetzes . . . implicite geändert w e r d e . " 1 4 4 Letztlich ist dieses historische Argument aber nicht entscheidend, weil der Wortlaut des Art. 79 Abs. 1 S. 1 G G eindeutig ist und in eine andere Richtung weist. Denn „ausdrücklich . . . ändern" bedeutet bereits dem Wortsinn nach etwas anderes als „ w i r k l i c h . . . ändern". Das Attribut „ausdrücklich" betont nicht die Tatsache der Änderung, sondern stellt an die A r t der Textänderung zusätzliche qualitative Anforderungen. Es muß sich um eine den gedanklichen Inhalt zum Ausdruck bringende Textänderung handeln. Diese grammatische Interpretaion wird letztlich auch durch die Besinnungsfunktion des Textänderungsgebots gestützt. Wenn der Gesetzgeber gezwungen ist, den gedanklichen Inhalt der Änderung zu Papier zu bringen, wird er sich über sein Tun i m klaren. Daher kann es nicht genügen, wenn in der Verfassungsur142 Ehmke, Verfassungsnovelle, S. 452; Bryde, vMü, Art. 79 Rn. 14; kritisch Ridder, AltK, Art. 79 Rn. 20. 143 Meyer-Arndt, Rechtsfragen, S. 277/278. 144 Vgl. Füßlein, in: Doemming, Entstehungsgeschichte, S. 576. Es dürfte allerdings bereits Carlo Schmids Kollegen nicht recht klar gewesen sein, was man sich konkret unter einer impliziten Wortlautänderung vorzustellen hat und wie eine gesetzgebende Körperschaft solche uneigentlichen Textänderungen beschließen kann.

C. Authentische Interpretation

139

künde „nur ihre UnVollständigkeit verzeichnet w i r d . " 1 4 5 Vielmehr müssen aus dem Text der Verfassungsnovelle zumindest auslegungsfähige Anhaltspunkte für A r t und Umfang der Verfassungsrevision hervorgehen. Die pauschale Erklärung, bestimmte Gesetze seien mit der Verfassung vereinbar, enthält aber keinerlei Auslegungsgesichtspunkte. A r t und Umfang der Verfassungsänderung bleiben v ö l l i g i m Dunkeln. Daher können pauschale Vereinbarkeitserklärungen dem Erfordernis der Ausdrücklichkeit ebensowenig genügen wie pauschale Verweise. 1 4 6 Das hat schließlich auch der Verfassungsgesetzgeber befürchtet. Aus diesem Grunde hat er pauschale Klarstellungen in Art. 79 Abs. 1 S. 2 G G ausnahmsweise für bestimmte völkerrechtliche Verträge zugelassen. Die Ausnahme bestätigt aber nur die Regel, daß pauschale Vereinbarkeitserklärungen für eine inhaltliche Verfassungsänderung nach Art. 79 Abs. 1 S. 1 G G nicht bestimmt genug formuliert und darum prinzipiell verfassungswidrig sind.

3. Pauschale

„Klarstellungen"

und völkerrechtliche

Verträge

A m Schluß dieses Abschnittes stellt sich die Frage, ob pauschale Vereinbarkeitserklärungen ausnahmsweise bei bestimmten völkerrechtlichen Verträgen zulässig sind. Der durch die Verfassungsnovelle v o m 26. März 1954 eingefügte Art. 79 Abs. 1 S. 2 sollte diese Möglichkeit eröffnen. Fraglich ist allerdings, ob die Ausnahmeregelung des Art. 79 Abs. 1 S. 2 selbst wirksam oder als „verfassungswidriges Verfassungsrecht" unwirksam ist. Die Rechtmäßigkeit des Art. 79 Abs. 1 S. 2 G G wurde jedenfalls von Anfang an bezweifelt, 1 4 7 und ist bis heute umstritten. 1 4 8 I m EVG-Prozeß vertrat die Regierungsseite die Ansicht, daß nur Art. 79 Abs. 3 G G unantastbar sei und daß folglich Art. 79 Abs. 1 G G änderbar sein müsse. 1 4 9 145 Arndt, KudW III, S. 483. 146 Gegen die Zulässigkeit von Global verweisen: Bryde, vMü, Art. 79 Rn. 14; JarassPieroth, Art. 79 Rn. 2. Anders Meyer-Arndt, Rechtsfragen, S. 280/281. 147 Verfassungswidrigkeit nahm die SPD-Fraktion im BTag an (Arndt, KudW III, S. 524-527). Ferner: Klein, KudW III, S. 587-590; Ehmke, Verfassungsnovelle, S. 452; Meyer-Goßner, Verfassungsmäßigkeit, S. 65-68, 84. Die Regierung Adenauer hielt Art. 79 Abs. 1 S. 2 GG für verfassungsmäßig (Strauß, KudW III, S. 497). Ebenso: Löwenstein, KudW III, S. 547/548; Meyer-Arndt, Rechtsfragen, S. 290. Zum damaligen Streitstand: Meyer-Goßner, Verfassungsmäßigkeit, S. 1417. 148 Heute wird die Verfassungsmäßigkeit überwiegend bejaht: Maunz, MDHS, Art. 79 Rn. 6/7; Bryde, vMü, Art. 79 Rn. 15, Verfassungsentwicklung, S. 357; Hoffmann, BoK, Art 79 Abs. 1 und 2 Rn. 122/123; Ridder, AltK, Art. 79 Rn. 19-22; Rumpf, Streichung, S. 675. Dagegen bezweifeln die Verfassungsmäßigkeit: Hesse, Grundzüge, Rn. 699; Zippelius, in: Maunz/Zippelius, StR, 25. Aufl., S. 39/40; Klein, v M K , Art. 79 IV Nr. 1, S. 1876/ 1877; Hamann-Lenz, Art. 79 Anm. Β Nr. 5. 149 Strauß, KudW III, S. 497; ähnlich Löwenstein, KudW III, S. 548/549.

140

. Teil:

e Eingriffsgesetze

Demgegenüber ging die Opposition davon aus, daß der ganze Art. 79 G G unantastbar sei. Dieser sehr rigide Standpunkt wurde damit begründet, daß der verfassungsändernde Gesetzgeber überhaupt nicht befugt sei, seine Kompetenzen zu ändern. Für diese Ansicht spricht, daß der Verfassungsgesetzgeber als Normadressat des Art. 79 GG dieser Vorschrift unterworfen ist. Räumt man i h m die Möglichkeit zur „Revision der Revisionsnormen" ein, so wird die vom Verfassungsgeber geschaffene Bindung beseitigt. Der verfassungsändernde Gesetzgeber w i r d gleichsam vom Untertan zum Herrn der Revisionsvorschriften und ist damit nahezu ebenso ungebunden wie der Verfassungsgeber. 150 Der grundlegende Ansatz dieser Theorie ist überzeugend. Insgesamt betrachtet sie Art. 79 G G jedoch zu logisch-formal. Sie läßt überhaupt keine Änderungen der Revisionsbestimmungen zu, mögen die Reformen auch so rechtsstaatlich unbedenklich sein wie die Erhöhung der Abstimmungsmehrheiten von zwei Dritteln auf drei Viertel. Bedeutsam an dieser Theorie ist aber die Erkenntnis, daß die mit Art. 79 Abs. 1 und 2 G G beabsichtigte Bindung des Verfassungsgesetzgebers nur eine beschränkte Änderung der Revisionsbestimmungen zuläßt. Der verfassungsändernde Gesetzgeber kann es nicht in der Hand haben, durch Verzicht auf jede Urkundlichkeit oder durch Senkung des Quorums auf einfache Mehrheiten, den Vorrang der Verfassung auszuhöhlen. Eine Revision der Revisionsnormen ist daher nur insofern zulässig, als sie mit dem Bindungszweck des Art. 79 Abs. 1 und 2 G G vereinbar i s t . 1 5 1 Letztlich kommt man zu keinem wesentlich anderen Ergebnis, wenn man — wie die Regierungsvertreter i m EVG-Streit — allein auf Art. 79 Abs. 3 G G abstellt. Denn das Prinzip des Vorrangs der Verfassung ist in Art. 20 Abs. 3 G G enthalten. Z u m Wesen der in Art. 20 Abs. 3 G G verankerten rechtsstaatlichen Verfassung gehören aber nach der deutschen Rechtstradition auch die in Art. 79 Abs. 1 und 2 G G geschützten Komponenten: Schriftlichkeit und erhöhte Bestandsgarantie. 1 5 2 Dogmatisch überzeugender ist freilich der Weg über den Normzweck von Art. 79 Abs. 1 und 2 GG. Z u m einen ist der Schluß von der Unabänderlichkeit des Art. 79 Abs. 3 G G auf die Abänderbarkeit der Art. 79 Abs. 1 und 2 G G nicht zwingend. Dieser Umkehrschluß aus Art. 79 Abs. 3 G G ist vielmehr unzulässig. 1 5 3

150 Arndt, KudW III, S. 524/525; Meyer-Goßner, Verfassungsmäßigkeit, S. 65-68; ähnlich bereits Schmitt, Verfassungslehre, S. 103. Diese Ansicht wird heute nur noch selten vertreten (Zippelius, in: Maunz / Zippelius, StR, S. 40; Badura, EvStL, Stw Verfassung, V C Nr. 1). 151 Ebenso Hoffmann, BoK, Art. 79 Abs. 1 und 2 Rn. 108; ähnlich Klein, KudW III, S. 588-590; Ehmke, Verfassungsnovelle, S. 452. 152 Diese Konsequenz wird freilich vielfach übersehen. Nur im Rahmen des Art. 79 Abs. 2 GG wird teilweise eingeräumt, daß keine Einführung einfacher Mehrheiten möglich ist (Bryde, vMü, Art. 79 Rn. 44; a. A. Maunz, MDHS, Art 79 Rn. 18).

C. Authentische Interpretation

141

Z u m anderen ergibt sich auch die Unantastbarkeit des Art. 79 Abs. 3 G G nicht aus einem besonderen Texthinweis, sondern aus zwei logischen Annahmen: der Annahme des Vorrangs des Verfassungsgebers gegenüber dem Verfassungsgesetzgeber und der Annahme eines in Art. 79 Abs. 3 G G liegenden Bindungswillens des Verfassungsgebers. Beide Komponenten liegen aber auch bei Art. 79 Abs. 1 und 2 G G vor. Insbesondere hat auch die Formvorschrift des Art. 79 Abs. 1 S. 1 G G den Zweck, den Handlungsspielraum des Verfassungsgesetzgebers zu beschränken. Es ist daher zu prüfen, inwieweit der Zweck des Art. 79 Abs. 1 G G (a.F.) eine Abänderung des Textänderungsgebotes zuläßt. Dabei kann nicht davon ausgegangen werden, daß Art. 79 Abs. 1 G G als reine Form Vorschrift 1 5 4 von vornherein mindere Dignität besitzt als die Verfahrensregel des Art. 79 Abs. 2 GG. Denn auch Formvorschriften können zur wirkungsvollen Beschränkung von Befugnissen beitragen. Die Machtbeschränkung ist letztlich auch der Zweck des Textänderungsgebots. Dem Verfassungsgesetzgeber soll die in der Weimarer Republik bestehende Möglichkeit stillschweigender Verfassungsdurchbrechungen genommen werden. Zudem wird der Gesetzgeber angehalten, sich selbst und der Öffentlichkeit Klarheit darüber zu verschaffen, inwiefern er die Verfassung ändert. Daher kann eine Änderung des Art. 79 Abs. 1 G G nur insoweit zulässig sein, als die Besinnungsund Publikationsfunktion der Vorschrift erhalten bleibt. Dies ist aber bei pauschalen Vereinbarkeitserklärungen nicht der Fall. W i e ein Vergleich mit der Weimarer Praxis zeigt, schafft die pauschale Vereinbarkeitserklärung kaum mehr Rechtsklarheit als stillschweigende Verfassungsdurchbrechungen. Es wird zwar in der Verfassung global auf die Einschränkungen verwiesen. Die Möglichkeit pauschaler „Klarstellungen" verleitet aber ebenso zum gedankenlosen Umgang mit der Verfassung wie die Weimarer Praxis. Konnte der Gesetzgeber sich damals durch Stillschweigen der öffentlichen Debatte über die Verfassungsrevision entziehen, so ermöglicht ihm Art. 79 Abs. 1 S. 2 GG die Flucht in leere Beteuerungsformeln. Qualitativ ist somit der Unterschied zur Weimarer Praxis nicht sehr groß. Rein quantitativ erreicht die mit Art. 79 Abs. 1 S. 2 GG verbundene Regelung allerdings nicht den Umfang der Weimarer Praxis. Denn die Beschränkung der Klarstellungsmöglichkeiten auf Friedensverträge, Besatzungs- und Verteidigungsrecht schafft zahlenmäßig nur wenig denkbare Ausnahmefälle. So ist von Art. 79 Abs. 1 S. 2 G G bis heute nur einmal Gebrauch gemacht worden. Die geringe Zahl möglicher Vereinbarkeitserklärungen führt somit zu der Frage, ob der von Art. 79 Abs. 1 G G a.F. verfolgte Schutzzweck auch quantitativ geringe Ausnahmen verbietet. 153 154

Ausführliche Begründung oben 2. Teil Β I Nr. 6. So aber Curtius, Verfassungsnovelle, S. 706.

142

. Teil:

e Eingriffsgesetze

Für eine ausnahmslose Handhabung des Art. 79 Abs. 1 S. 1 G G ist zunächst einmal die für Form Vorschriften typische Formstrenge anzuführen. Außerdem spricht der Normzweck gegen jedwede Ausnahme. Das Textänderungsgebot hat den Sinn, die Verfassung gegen „zufällige, unüberlegte und heimliche Eingriffe" zu schützen. 1 5 5 Ein Abweichen in Einzelfällen ist mit dieser Leitlinie schwer vereinbar. Ebenso fordert der Gedanke der Rechtsklarheit, daß in jedem Einzelfall verschleierte Verfassungsänderungen vermieden werden und stets eine Offenlegung der Verfassungsänderung erfolgt. Gegen eine solche Stringenz w i r d eingewandt, daß das Erfordernis der Textänderung i m Grundgesetz nicht ausnahmslos durchgehalten i s t . 1 5 6 Soweit dabei auf die Möglichkeit stillen Verfassungswandels oder auf Art. 25 G G Bezug genommen wird, gehen diese Hinweise allerdings fehl. Denn der stille Verfassungswandel ist keine Frage der Gesetzgebung und die allgemeinen Regeln des Völkerrechts (Art. 25 GG) haben keinen Verfassungsrang. 157 Zutreffend ist dagegen, daß Art. 24 G G die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen ohne Textänderung zuläßt. Ist somit eine Ausnahme v o m Textänderungsgebot gefunden, so liegt der Schluß nahe, daß Art. 79 Abs. 1 G G Modifikationen zugänglich i s t . 1 5 8 Zwingend ist dieser Schluß aber nicht. Denn die Zulässigkeit einer Ausnahme muß nicht die Zulässigkeit weiterer Ausnahmen nach sich ziehen. A u f diese Weise könnte man das Textänderungsgebot in kleinen Schritten völlig aushöhlen. Maßgeblich muß daher sein, ob die in Art. 79 Abs. 1 S. 2 GG geschaffene Ausnahmeregelung eine dem Art. 24 GG vergleichbare Berechtigung hat. Wenn bei der Schaffung supranationaler Einrichtungen auf die Textänderung verzichtet wird, so hat dies in der Sache selbst liegende Gründe. Denn es könnten ohnehin nur die mit der Abgabe der Hoheitsbefugnisse verbundenden Verfassungsänderungen (Primäres Recht) urkundlich gemacht werden. Die Verfassungsbeschränkungen, die von der gemeinsamen Einrichtung bewirkt werden (Sekundäres Recht), sind zum Zeitpunkt des Beitritts dagegen nicht absehbar. Die Textänderung wäre also i m Bereich des sekundären Rechts notwendig unvollkommen. Aus diesem Grund hat der gänzliche Verzicht auf die Textänderung bei Art. 24 G G eine gewisse sachliche Berechtigung. Eine vergleichbare Lage besteht aber bei den in Art. 79 Abs. 1 S. 2 G G geregelten Fallgruppen nicht. So hat etwa die Verfassungsänderung i m Rahmen der Notstandsgesetze gezeigt, daß der Abbau von Besatzungsrecht durchaus ohne pauschale Vereinbarkeitserklärungen möglich ist. Ebensowenig gibt es bei Frie155 Klein, vMK, Art. 79 II Nr. 1 a; Bryde, vMü, Art. 79 Rn. 6. 156 Nachweise bei Klein, v M K , Art. 79 IV Nr. 2, S. 1877/1878. 157 Sie besitzen nach h.M. zwar Vorrang gegenüber einfachem Bundesrecht, aber Nachrang gegenüber der Verfassung (BVerfGE 37, 271 (279); Evers, BoK, Art. 79 Abs. 3 Rn. 56; Jarass-Pieroth, Art. 25 Rn. 6; Seifert-Hömig, Art. 25 Rn. 3). 158 Hoffmann, BoK, Art. 79 Abs. 1 und 2 Rn. 113.

C. Authentische Interpretation

143

dens- und Verteidigungsverträgen in der Sache selbst liegende Gründe, die pauschale Vereinbarkeitserklärungen notwendig machten. Vielmehr kann man davon ausgehen, daß der Verfassungsgeber, die völkerrechtlich bedingten Ausnahmen vom Textänderungsgebot in Art. 24 G G abschließend geregelt hat. Für die Schaffung weiterer Ausnahmegruppen besteht daher kein Raum. Damit kommt man zu dem Ergebnis, daß das Textänderungsgebot des Art. 79 Abs. 1 G G a. F. durch eine Verfassungsrevision nicht gelockert, sondern allenfalls verschärft werden kann. Der nachträglich eingefügte Art. 79 Abs. 1 S. 2 G G ist daher insofern verfassungswidrig, als er pauschale Vereinbarkeitserklärungen zuläßt. Er ist nur insoweit verfassungsgemäß, als man in ihm die Erlaubnis zu spezifizierten Vereinbarkeitserklärungen erblickt. In diesem Bereich ist er allerdings überflüssig. Die Bemerkung von Konrad Hesse erweist sich somit als zutreffend: „ A r t . 79 Abs. 1 S. 2 G G ist entweder überflüssig oder verfassungswidrig." 1 5 9 Es wäre daher zu begrüßen, wenn — wie Horst Ehmke es 1956 formuliert hat — der Gesetzgeber „ . . . den neuen Satz 2 zu Art. 79 Abs. 1 G G in einer stillen Stunde wieder aus dem Grundgesetz streichen w ü r d e . " 1 6 0 Pauschale Vereinbarkeitserklärungen sind jedenfalls i m Ergebnis ausnahmslos unzulässig.

159 Hesse, Grundzüge, Rn. 699. 160 Ehmke, Verfassungsnovelle, S. 456.

Vierter Teil

Institutionelle Eingriffsgesetze Ein institutioneller Eingriff liegt vor, wenn der Gesetzgeber gegen das BVerfG als Einrichtung vorgeht. Er kann dabei die Institution als ganzes abschaffen, die Gerichtsverfassung ändern oder das Verfahrensrecht umgestalten. I m einzelnen sind v o m Richterschub bis zur Abschaffung der Verfassungbeschwerde viele institutionelle Eingriffsgesetze denkbar, von denen im folgenden nur exemplarisch einige besonders interessante Fälle erörtert werden können.

A. Abschaffung des Bundesverfassungsgerichts Die Abschaffung des B V e r f G ist bislang in der politischen Diskussion nicht ernsthaft erwogen worden. In der mehr als vierzigjährigen Geschichte des B V e r f G ist sie nur ganz vereinzelt angedroht 1 oder befürwortet worden. 2 Die Abschaffung des Gerichts gilt allgemein weder als wünschenswert noch als wahrscheinlich. 3 Daß die Verfassungsgerichtsbarkeit bei einem Konflikt mit der politischen Führung gleichwohl in der Gefahr steht, ausgeschaltet zu werden, zeigen zwei ausländische Beispiele: Zypern und Österreich. Als Zypern 1960 in die Unabhängigkeit entlassen wurde, erhielt es eine Verfassung, die das friedliche Zusammenleben von Griechen und Türken auf der Insel sichern sollte. Der türkischen Minderheit wurde eine Reihe von Sonderrechten garantiert, insbesondere das Recht auf eine getrennte Kommunalverwaltung. 4 Als Hüter der Verfassung wurde ein dreiköpfiges Verfassungsgericht eingesetzt. Der „Supreme Constitutional Court" hatte ein griechisches, ein türkisches und ein neutrales Mitglied. Z u m neutralen Richter und Präsidenten des Gerichts wurde der Heidelberger Professor Ernst Forsthoff bestimmt. 5 1

Zur Drohung während der EVG-Krise oben 1. Teil A II. Ende der 70er Jahre forderte Helmut Ridder bei einer Veranstaltung der Humanistischen Union die Abschaffung des BVerfG (Podiumsdiskussion 1, S. 101 und 2, S. 97/ 98). Er hat dies später nicht mehr wiederholt. (Zum historischen Zusammenhang oben 1. Teil Β I I Nr. 3). 3 In diesem Sinne: Hirsch, 40 Jahre, S. 56; Beyme, Verfgbkt, S. 264; Jekewitz, BVerfG, S. 553; Lange, Wie in der Residenz des Rechts die Bonner Politik gestoppt wird, FR vom 8.2.79, S. 15; Hirsch, Einführung, S. 7; Zweigert / Dietrich, Institution mit Zukunft, S. 21; Rasehom, Kleine Residenz, S. 166; Holtfort, Vorschläge, S. 194; Laufer, Kontrolle, S. 106. 4 Zur Verfassung: Maier, Cypern, S. 168-172. 5 Zum Gericht: Blümel, Verfgbkt in Zypern, S. 657/658. 2

Α. Abschaffung

145

Die griechische Mehrheit unter Führung von Erzbischof Makarios war aber bald nicht mehr zum Kompromiß mit der türkischen Minderheit bereit. Sie schuf anstelle der getrennten, eine einheitliche Gemeindeverwaltung. Dagegen erhob die türkische Minderheit Klage. Der Oberste Gerichtshof stellte zwar 1963 die Verfassungswidrigkeit der Maßnahme fest. 6 Die Regierung erklärte aber vor und nach dem Prozeß, daß sie das Urteil nicht respektieren werde. Deswegen trat Ernst Forsthoff als Gerichtspräsident zurück. Ein Jahr später, im Juli 1964, schaffte das zypriotische Parlament das Gericht kurzerhand wieder ab. 7 Während in Zypern das Gericht auf direktem Wege abgeschafft wurde, wurde der österreichische Verfassungsgerichtshof 1933 indirekt beseitigt. Die Regierung Dollfuß strebte eine ständisch-autoritäre Verfassung an (Austrofaschismus) und nützte eine Parlamentskrise zum Staatsstreich. Dabei mußte auch der Verfassungsgerichtshof ausgeschaltet werden. Z u diesem Zweck erließ die Regierung eine Verordnung, nach der das Gericht nur zusammentreten durfte, wenn alle Richter gewählt waren. Gleichzeitig bewegte sie einige ihr politisch nahestehende Richter und Ersatzleute zum Rücktritt. Eine Nachwahl der zurückgetretenen Richter fand aber nicht statt, so daß der österreichische Verfassungsgerichtshof auf Dauer beschlußunfähig wurde und damit lahmgelegt war. 8 Auch in der Bundesrepublik könnte eine direkte oder indirekte Abschaffung versucht werden. Die indirekte Abschaffung ist allerdings nur als einfaches Gesetz vorstellbar. Denn die indirekte Ausschaltung geschieht nicht offen, sondern versteckt, indem beispielsweise die Finanzmittel des Gerichts i m Haushaltsplan gestrichen werden. Dagegen erfolgt die direkte Abschaffung offen. Sie kann daher durch einfaches und durch verfassungsänderndes Gesetz betrieben werden.

I . Abschaffung durch einfaches Gesetz Die direkte Abschaffung des Gerichts kann dadurch erfolgen, daß der einfache Gesetzgeber für die Tätigkeit des BVerfG eine Auslauffrist bestimmt, an deren Ende das BVerfGG außer Kraft tritt. Ein derartiges Vorgehen stünde aber in Widerspruch zu Art. 94 Abs. 2 S. 1 GG. Danach muß der einfache Gesetzgeber Verfassung und Verfahren des Gerichts regeln. Er hat nur hinsichtlich des „ W i e " einen Spielraum, nicht hinsichtlich des „ O b " . Da das BVerfG als Verfassungsorgan an vielen Stellen des Grundgesetz erwähnt ist, wäre eine Streichung durch den einfachen Gesetzgeber nicht mit dem Vorrang der Verfassung (Art. 20 Abs. 3 GG) vereinbar. Die direkte Abschaffung durch einfaches Gesetz ist darum nach allgemeiner Meinung verfassungswidrig. 9 6

Zur Rechtslage und zum Prozeß: Heinze, Zypern-Konflikt, S. 716-719. Es kam zum Bürgerkrieg. In historischer Hinsicht illustrativ: Tatli, Zypern-Konflikt, S. 50-61. « Die Darstellung wurde vereinfacht. Zu Details: Zöllner, Geschichte Österreichs, S. 511/512; Schreiber, Reaktionen, S. 14-16; Spanner, Richterliche Prüfung, S. 8-18. 7

10 Häußler

146

4. Teil: Institutionelle Eingriffsgesetze

Für die indirekte Ausschaltung des Gerichts gilt nichts anderes. Wie Art. 115 g G G zeigt, wird das BVerfG als funktionsfähiges Verfassungsorgan vorausgesetzt. Art. 115 g G G w i l l die für den Normalfall selbstverständliche Funktionsfähigkeit zusätzlich für den Verteidigungsfall sichern. Daraus folgt umgekehrt, daß die Funktionsfähigkeit erst recht nicht ohne äußeren Anlaß beschränkt werden darf. 1 0 Eine vollkommene Streichung der Haushaltsmittel würde aber das BVerfG funktionsunfähig machen und wäre darum verfassungswidrig. Ebenso ist ein kombinierter Eingriff, wie er 1933 in Österreich erfolgte, unzulässig. Denn man muß das legislative Element, die Änderung der Beschlußfähigkeitsregeln, und das faktische Element — Rücktrittsgesuche und Nachwahlverhinderung — als Einheit sehen. 11 Tatsächliche und rechtliche Schritte wirken als ein Eingriff zusammen, der final auf die Funktionsunfähigkeit des Gerichts gerichtet ist. Darum ist der Eingriff insgesamt verfassungswidrig. 1 2 I I . Grundfragen einer Verfassungsrevision Bei einem verfassungsändernden Eingriff steht die Frage i m Vordergrund, inwieweit der Bestand des BVerfG durch Art. 79 Abs. 3 i . V . m . Art. 20 G G geschützt ist. Diese Frage wird durchaus unterschiedlich beantwortet. Es besteht eine überraschende Meinungsvielfalt. Man kann i m wesentlichen drei Standpunkte unterscheiden. Für einen Teil der Literatur ist die vollkommene Abschaffung des B V e r f G zulässig. 1 3 Diese Meinung wird überwiegend in sehr kurzen Stellungnahmen vertreten. Die Möglichkeit beliebiger Aufhebung und Änderung wird zumeist damit begründet, daß das B V e r f G nicht in Art. 79 Abs. 3 G G erwähnt und auch nicht untrennbar mit den Grundsätzen der Art. 1 und 20 G G verbunden sei. Zusätzlich wird auf die Tatsache verwiesen, daß es z.B. in Großbritannien eine rechtsstaatliche Demokratie ohne Verfassungsgerichtsbarkeit g i b t . 1 4 Den entgegengesetzten Standpunkt vertritt ein anderer Teil der Lehre. 1 5 Für ihn ist das B V e r f G als Institution untrennbar mit dem Grundgesetz verbunden 9 Stern, BoK, Art. 94 Rn. 95; Maunz, MSBKU, Vorb. Rn. 33; Schick, in: Herzog/ Schick, PdW, S. 16; Laufer, Politischer Prozeß, S. 145-149; Sattler, Rechtsstellung, S. 278. 10 Herzog, MDHS, Art. 115 g Rn. 16; ausführlich unten 4. Teil F I Nr. 2. 11 Zur Gesamtbetrachtung bei kombinierten Eingriffen oben 2. Teil Β IV. ι 2 Im Ergebnis ebenso Alberts, Änderungsbefugnisse, S. 143 Fn. 8 und Evers, BoK, Art. 79 Abs. 3 Rn. 111. 13 Maunz-Dürig, MDHS, Art. 79 Rn. 48; Doehring, StR, S. 229; Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn. 7; Zweigert / Dietrich, Institution mit Zukunft, S. 21; Laux, Grundgesetzänderung, S. 153. 14 Maunz, MSBKU, § 1 Rn. 11. is Herzog, MDHS, Art. 20 V Rn. 73, V I I Rn. 41; Sattler, Rechtsstellung, S. 275-278; Alberts, Änderungsbefugnisse, S. 133-138; wohl auch Benda, in: Benda / Klein, VerfPR, Rn. 58.

Α. Abschaffung

147

und kann weder ersetzt noch vollkommen beseitigt werden. Diese Position kommt insbesondere in den beiden bislang ausführlichsten juristischen Stellungnahmen von Andreas Sattler (1956) und Hans-Werner Alberts (1972) zum Ausdruck. Das B V e r f G wird darin als integrierender Bestandteil des Gewaltenteilungsprinzips und zugleich als Wesenselement des Bundesstaatsgedankens verstanden. Die Notwendigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit für den Bundesstaat wurde übrigens bereits in der anscheinend ersten Behandlung der Frage durch Karl Löwenstein (1954) betont. 1 6 Er vermeidet jedoch eine extreme Festlegung. M i t der wohl überwiegenden M e i n u n g 1 7 vertritt er einen vermittelnden Standpunkt. Danach ist das BVerfG als Institution nicht unantastbar. Die von ihm wahrgenommenen Aufgaben können aber nicht ersatzlos entfallen. Demzufolge kann das BVerfG zwar ausgetauscht, nicht aber ersatzlos gestrichen werden. Die Verfassungsrechtsprechung muß zumindest teilweise erhalten bleiben. I m einzelnen gehen allerdings innerhalb dieser dritten Gruppe die Meinungen weit auseinander. Für die verfassungsrechtliche Prüfung ist aber allein wesentlich, daß man den Begriff der Abschaffung in zweierlei Hinsicht verstehen kann: erstens i m Sinne einer ersatzlosen Streichung des B V e r f G und zweitens i m Sinne eines Austauschs gegen eine Ersatzinstitution. Diese Unterscheidung zwischen Streichung (Extinktion) und Ersetzung (Surrogation) ist i m Falle der Verfassungsänderung bedeutsam. 18 Zwar werden bei beiden Abschaffungsarten sämtliche Erwähnungen des BVerfG i m Grundgesetz getilgt. Die Streichung ist aber gleichsam der umfassendere Eingriff. Denn i m Fall der Streichung entfällt nicht nur die Institution als solche. Auch die v o m B V e r f G betreuten Funktionen werden nicht mehr wahrgenommen. Nur i m Ausnahmefall, wenn das Grundgesetz bereits einen Ersatz vorsieht, werden seine verfassungsrechtlichen Aufgaben anderweitig erfüllt. Beim Austausch dagegen wird allein die Institution beseitigt. Die Funktionen des B V e r f G werden zumindest teilweise auf ein Ersatzorgan übertragen. So ist beispielsweise eine Surrogation des B V e r f G denkbar, indem seine Aufgaben komplett auf ein Oberstes Bundesgericht übertragen werden, das — wie der Supreme Court in den U S A — zugleich für die ordentliche Gerichtsbarkeit die letzte Instanz i s t . 1 9 Ebenso könnten die Aufgaben des BVerfG auf ein aus „eider 16 Löwenstein, KudW III, S. 555/556. 17 Evers, BoK, Art. 79 Abs. 3 Rn. 196/197; Bryde, vMü, Art. 79 Rn. 43/45, Verfassungsentwicklung, S. 354; Meyer, vMü, 1. Aufl., Art. 93 Rn. 17; Maunz, MSBKU, § 1 Rn. 11; Hirsch, Verfgbkt, S. 179; Laufer, Politischer Prozeß, S. 152-154, Kontrolle, S. 166; Klein, Politischer Prozeß, S. 584/585; Knöpfle, Schutz, S. 75, Politischer Prozeß, S. 925; Lemke, Vorläufiger Rechtsschutz, S. 75. 18 Bei einfachen Gesetzen hat die Unterscheidung keine Bedeutung. Streichung und Ersetzung sind gleichermaßen verfassungswidrig. Denn das Grundgesetz garantiert das BVerfG, nicht einen Ersatz. ι 9 Diese Vorstellung wurde im Parlamentarischen Rat eingehend diskutiert. Auf Initiative von Walter Strauß (CDU) hat sich im Grundgesetz die Trennung des Obersten 10*

148

4. Teil: Institutionelle Eingriffsgesetze

statesmen" bestehendes, politisches Gremium übertragen werden nach dem M u ster des „conseil constitutione!" in Frankreich. 2 0

I I I . Ersatzlose Streichung des BVerfG? Die Zulässigkeit einer ersatzlosen Streichung läßt sich nicht mit Hilfe einfacher Formeln begründen. Die Streichung ist nicht schon deswegen erlaubt, weil das BVerfG nicht ausdrücklich in die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG einbezogen ist. Ein solcher Umkehrschluß aus Art. 79 Abs. 3 G G ist nämlich unzulässig. 2 1 Ebensowenig kann der Hinweis genügen, daß es in anderen Ländern eine rechtsstaatliche Demokratie ohne Verfassungsgerichtsbarkeit gibt. Denn in Art. 79 Abs. 3 G G geht es um den Schutz des Kerns der bundesdeutschen Verfassung. Seine Grundsätze sind daher in erster Linie aus dem Kontext der bundesdeutschen Verfassung auszulegen. 22 Umgekehrt kann aber auch die Garantie des BVerfG als Institution nicht auf einfachem Wege nachgewiesen werden. Insbesondere kann man die Unantastbarkeit des Gerichts nicht auf seine Eigenschaft als Verfassungsorgan zurückführen. 2 3 Verfassungsorgane sind zwar selbständig und von anderen staatlichen Institutionen unabhängig. Daraus folgt aber schon rein begrifflich nicht ihre Unverzichtbarkeit. 2 4 Auch soweit Art. 20 Abs. 2 S. 2 G G von besonderen Organen der verschiedenen Gewalten spricht, ist damit nicht die Garantie der Verfassungsorgane verbunden. Vielmehr wird nur das Prinzip der organisatorischen Gewaltenteilung verankert. Das ist nicht zuletzt daran erkennbar, daß Art. 79 Abs. 3 G G vom Erhalt der in Art. 1 und 20 GG garantierten „Grundsätze" spricht. Ebensowenig ist es möglich, die Unantastbarkeit des BVerfG mit Hilfe der Theorie der immanenten Schranken nachzuweisen. 25 Denn Art. 79 Abs. 3 GG schließt weitere, dem Gesamtzusammenhang der Verfassung entnommene Schranken aus. 2 6

Bundesgerichts vom BVerfG durchgesetzt (Doemming, Entstehungsgeschichte, S. 690698; Stern, StR II, S. 333-335; Otto, Staatsverständnis, S. 177 -181). Das Oberste Bundesgericht wurde allerdings nie errichtet und 1968 aus der Verfassung gestrichen (Hofmann, HbStR I, § 7 Rn. 26). 20 Dies hält Bryde, vMü, Art. 79 Rn. 45 für möglich. 21 Zum Umkehrschluß oben 2. Teil Β I Nr. 6. 22 Dazu näher oben 2. Teil Β I Nr. 5. 23 So aber Benda, in: Benda/Klein, VerfPR, Rn. 58. 24 Eingehend Alberts, Änderungsbefugnisse, S. 131-133. Er weist nach, daß auch aus dem Prinzip der Organtreue kein Abschaffungsverbot folgt. 25 Für die Schweiz befürwortet Luchsinger immanente Schranken der Verfassungsrevision. Er nimmt an, daß das Rechtsstaatsprinzip unantastbar ist und daß insbesondere die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht abgeschafft werden darf (Schranken, S. 117-119). 26 Ausführlich oben 2. Teil Β I Nr. 1.

Α. Abschaffung

149

Die Frage nach der Zulässigkeit einer Streichung des BVerfG kann somit nur beantwortet werden, wenn man auf die zum Schutz des BVerfG angeführten Grundsätze des Art. 79 Abs. 3 GG näher eingeht. Daher ist seine Rolle i m Demokratie- und Bundesstaatsprinzip zu untersuchen. Danach ist die Bedeutung des BVerfG für das Gewaltenteilungssystem und den Vorrang der Verfassung zu beleuchten und schließlich seine Verankerung im allgemeinen Rechtsstaatsprinzip.

1. Demokratieprinzip

und BVerfG

Es mag ein wenig überraschen, daß der Politologe Heinz Laufer die Unantastbarkeit des BVerfG ausgerechnet auf das Demokratieprinzip stützt. 2 7 Denn die für ein Gericht typische, von der parlamentarischen Mehrheit unabhängige Entscheidung durch wenige Einzelpersonen wird oft als eine Einschränkung des Mehrheitsprinzips empfunden und nicht als sein notwendiger Bestandteil. Zudem ist das von Laufer zugrundegelegte amerikanische Demokratieverständnis nicht ohne weiteres auf unsere Rechtsordnung übertragbar. Denn dieses „substantielle Demokratieverständnis" enthält viele Gedanken, die bei uns dem Rechtsstaatsprinzip zugeordnet werden. 2 8 Dennoch leuchtet es unmittelbar ein, daß der Prozeß der politischen und staatlichen Willensbildung selbst nicht ohne einen Grundbestand an Regelung auskommt: Im Wahlkampf muß Meinungsfreiheit herrschen. Es muß mehrere Parteien mit gleichen Chancen geben. Freie, gleiche und geheime Wahlen sind erforderlich. Die Mandate sind entsprechend dem Stimmenanteil zu verteilen und die Staatsorgane dürfen ihre demokratisch erlangten Befugnisse nicht überschreiten. Werden diese Spielregeln nicht eingehalten, so fehlt es an der demokratischen Legitimation der Macht. Die staatlichen Entscheidungen können nicht auf den Volkswillen zurückgeführt werden. Es muß daher eine über den Parteien stehende Instanz geben, die auf die Einhaltung der demokratischen Spielregeln achtet. In der Bundesrepublik erfüllt diese Aufgabe das BVerfG. Es ist der neutrale Wächter des demokratischen Legitimationsprozesses. Zum einen prüft es letztverbindlich die Verteilung der Sitze im Bundestag (Art. 41 Abs. 2 GG) und entscheidet im Parteiausschlußverfahren über die Teilnahme am demokratischen Wettbewerb (Art. 21 Abs. 2 S. 2 GG). Z u m anderen prüft es die Verfassungsmäßigkeit der Wahlgesetze und achtet auf die Einhaltung der Zuständigkeitsordnung unter den Staatsorganen. Das geschieht nicht nur im Rahmen der abstrakten, konkreten und inzidenten Normenkontrolle, sondern auch im Rahmen des Organklageverfahrens. 27 Laufer, Politischer Prozeß, S. 152-154. 2« Ausführlich: Böckenförde, HbStR I, § 22 Rz. 85.

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4. Teil: Institutionelle Eingriffsgesetze

Gerade die Erhaltung der Kompetenzordnung hat für die in Art. 20 Abs. 1 und 2 G G angelegte mittelbare Demokratie besondere Bedeutung. Die mittelbare Demokratie kann nämlich als ein System von Ämtern und Organen beschrieben werden, bei der die zur Machtausübung erforderliche Legitimation vornehmlich darauf zurückzuführen ist, daß die Schaffung der Institutionen auf dem V o l k s w i l len beruht. 2 9 Insofern bedeutet die bewußte Nichtausübung, Überschreitung oder Übertragung von Organbefugnissen letztlich eine Lossagung vom V o l k s w i l l e n . 3 0 Kann man somit die am Maßstab von Art. 5, 8, 20 Abs. 1, 21, 38 G G durchgeführte Normenkontrolle, das Wahlprüfungsverfahren und die besonders in der Organklage verwirklichte Kompetenzenüberprüfung als Ausfluß des Demokratieprinzips verstehen, so stellt sich die Frage, ob diese Konkretisierungen wesentliche Bestandteile des Demokratiegedankens sind und daher an der Ewigkeitsgarantie teilnehmen. Ist mit anderen Worten die in diesen Verfahren liegende neutrale Überwachung der staatlichen Willensbildung unabdingbar? Sieht man wie das B V e r f G den Zweck des Art. 79 Abs. 3 G G vor allem darin, undemokratischen Kräften i m Falle einer Systemänderung den Schein der Legalität zu nehmen, so kann die Antwort nicht negativ ausfallen. 31 Dies gilt besonders, wenn man berücksichtigt, daß der Parlamentarische Rat die Machtergreifung von 1933 vor Augen hatte. Denn damals kam es zu schweren Verstößen gegen demokratische Grundregeln. Bereits der Wahlkampf des Jahres 1933 war durch willkürliche Verhaftungen und zahlreiche Behinderungen von Seiten der SA, SS und der N S D A P gekennzeichnet. Die massenhafte Verschleppung gewählter Volksvertreter und nicht zuletzt die i m Ermächtigungsgesetz selbst liegende Kompetenzübertragung waren mit der demokratischen Idee unvereinbar. 3 2 Insofern waren sich die Väter des Grundgesetzes bewußt, daß die Demokratie ohne eine neutrale Kontrolle ihrer Spielregeln nicht funktioniert. M i t der Unantastbarkeit der Demokratie ist daher zugleich die Garantie einer neutralen Kontrolle verbunden, die über die demokratische Legitimation entscheidet. 33 M i t der Notwendigkeit des demokratischen Wächteramtes ist aber nicht unbedingt die Garantie eines verfassungsgerichtlichen Verfahrens oder des B V e r f G als Institution verbunden. Das Demokratieprinzip fordert nur eine effektive K o n trolle seiner Spielregeln i m Prozeß der staatlichen Willensbildung. Damit ist an und für sich nur eine Funktion, nicht die Institution des B V e r f G geschützt. 3 4 29 Dazu Herzog, MDHS, Art. 20 I I Rn. 18/19 und 48/49. 30 Dies berücksichtigt Alberts nicht, der beim Organstreit nur die Bedeutung für den demokratischen Minderheitenschutz prüft (Änderungsbefugnisse, S. 67-72). 31 In diesem Zusammenhang ist der oben (2. Teil Β I Nr. 2) dargestellte Streit um den Normzweck ohne Bedeutung. 3 2 Vgl. dazu: Evers, BoK, Art. 79 Abs. 3 Rn. 16-22. 33 Diese Feststellung ist strikt zu trennen von der sehr umstrittenen Frage, inwieweit der Gedanke der streitbaren Demokratie änderungsfest ist (befürwortend: Herzog, MDHS, Art. 20 I I Rn. 32; Evers, BoK, Art. 79 Abs. 3 Rn. 189/191; Stern, StR I, S. 558/ 559; ablehnend: Ridder, AltK, Art. 79 Rn. 37)

Α. Abschaffung

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I m Falle einer Streichung ginge aber die neutrale Überwachung der Mandatsverteilung i m Bundestag ebenso verloren wie die beispielsweise i m Organklageverfahren liegende Überprüfung der Kompetenzordnung. Kein anderes Staatsorgan würde diese Aufgaben wahrnehmen, so daß Art. 79 Abs. 3 i.V.m. 20 Abs. 1 GG verletzt wäre. Das Demokratieprinzip steht somit einer ersatzlosen Streichung, nicht aber einer Ersetzung des BVerfG entgegen.

2. BVerfG

und Bundesstaatsprinzip

Bereits in den ersten Stellungnahmen zur Abschaffungsfrage wurde vorgetragen, daß das BVerfG auch für das Bundesstaatsprinzip unverzichtbar sei. Denn die Länder könnten ihre verfassungsmäßigen Rechte ohne gerichtliches Verfahren nicht durchsetzen. Der Bund sei in politischer Hinsicht die stärkere Macht und könnte bei Streitigkeiten den Ländern seinen W i l l e n aufzwingen. Ohne BVerfG wären die Länder gegenüber dem Bund „schutzlos". 3 5 A n dieser Argumentation ist zunächst richtig, daß in jedem Bundesstaat der Streit zwischen Bund und Ländern gleichsam vorprogrammiert ist. Dies ergibt sich bereits aus der Existenz mehrerer, voneinander unabhängiger Hoheitsträger. Abstimmungsprobleme und Zuständigkeitkonflikte sind hier auch bei noch so klaren Regelungen unvermeidbar, weil mit der Zeit stets Zweifelsfragen aufkommen werden. Ebenso trifft es zu, daß diese föderalen Konflikte nach dem Grundgesetz auf verfassungsgerichtlichem Wege ausgetragen werden. Soweit die Länder durch Bundesgesetze beeinträchtigt werden, können sie i m abstrakten Normenkontrollverfahren vorgehen. Bei anderen Hoheitsakten stehen die in Art. 93 Abs. 1 Nr. 3, 4 GG niedergelegten Bund-Länder-Streitigkeiten zur Verfügung. Diese Verfahrensarten sind somit Konkretisierungen des von Art. 20 Abs. 1 GG geschützten Bundesstaatsprinzips. Dieses Prinzip war dem Verfassungsgeber so wichtig, daß er es gleich dreifach in der Ewigkeitsklausel erwähnt hat. 3 6 V o n dieser Ewigkeitsgarantie werden das BVerfG und die Bund-Länder-Streitigkeiten aber nur erfaßt, soweit sie zu den wesentlichen Bestandteilen des Bundesstaatsprinzip gehören. Die zentrale Frage lautet daher, ob die Staatsgerichtsbarkeit zu den essentiellen Bestandteilen des Bundesstaatsprinzips gehört. Zwar trifft es nicht zu, daß föderative Staaten ohne Staatsgerichtsbarkeit weder bekannt noch lebensfähig seien. 3 7 Denn ein Blick in die deutsche Verfassungsgeschichte zeigt, daß föderale Streitigkeiten auch durch politische Institutionen beigelegt 34 Im Ergebnis ebenso Laufer, Politischer Prozeß, S. 154/155. 35 Sattler, Rechtsstellung, S. 278; Löwenstein, KudW III, S. 555/556. 36 Die Erwähnung des Bundesstaatsprinzips in Art. 20 Abs. 1 GG wird allerdings von Maunz-Dürig, MDHS, Art. 79 Rn. 40 und Ridder, AltK, Art. 79 Rn. 30 für bedeutungslos gehalten (dagegen zu Recht: Evers, BoK, Art. 79 Abs. 3 Rn. 209/210). 37 Löwenstein, KudW III, S. 555/556.

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4. Teil: Institutionelle Eingriffsgesetze

werden können. So war im Bismarckreich der „Bundesrath" für die Entscheidung über Streitigkeiten zwischen den Ländern und dem Reich zuständig (Art. 76 R V 1871). 3 8 Für das Funktionieren des Föderalismus ist aber die Existenz eines Schlichtungsverfahrens zwischen Bund und Ländern unbestreitbar notwendig. Denn man kann den Konflikt nicht einfach dem freien Spiel der politischen Kräfte überlassen. Wegen Art. 31 G G wären die Gewichte hier zu einseitig zugunsten des Bundes verteilt. Zwar sind die Länder durch den Bundesrat an der Gesetzgebung des Bundes beteiligt und können dort ihre Interessen wahrnehmen. Außerdem untersteht ihnen ein Großteil der Verwaltung, so daß der Bund sich in vielen Bereichen nicht gegen ihren W i l l e n durchsetzen kann. Die Mitspracherechte der Länder sind aber trotzdem begrenzt. Beispielsweise hätten sie keine Handhabe gegen eine grundgesetzwidrige Ausdehnung der bundeseigenen Verwaltung oder gegen die Beibehaltung eines nicht mehr verfassungsgemäßen Finanzausgleichs (Art. 106 Abs. 4 GG). Dabei bliebe insbesondere der Schutz einzelner Länder, die im Bundesrat für ihre Interessen keine Mehrheit finden, auf der Strecke (Art. 107 Abs. 2 GG). Nicht zuletzt müßte ohne Schlichtung ein Streit unter den Ländern stets ergebnislos verlaufen. Falls die Konflikte rein politisch ausgetragen würden, bestünde die Gefahr, daß der politisch erreichte „modus vivendi" den Regelungszielen der Verfassung nicht entspricht. Damit ist zwar nur i m Extremfall die vom Bundesstaatsprinzip bezweckte Teilung und Beschränkung der Macht gefährdet. Dies widerspräche aber in jedem Fall dem Vorrang der Verfassung. Nach Art. 20 Abs. 3 G G beansprucht das Grundgesetz für alle Bereiche des staatlichen Lebens Geltung. 3 9 W e i l auch diese Regelung Ewigkeitswert besitzt, müssen Konflikte so beigelegt werden, wie es der Kompetenzordnung des Grundgesetzes entspricht. 4 0 Daher wäre eine rein politische Streitbeilegung durch den Bundesrat, wie sie die Verfassung von 1871 vorsah, nicht akzeptabel. Für das in Art. 20 Abs. 1 GG festgelegte Bundesstaatsprinzips ist somit ein Schlichtungsverfahren, das die verfassungsmäßige Kompetenzverteilung klärt und aufrechterhält, unabdingbar. 41 Aus der Notwendigkeit einer rechtsförmigen Streitbeilegung kann aber nicht gefolgert werden, daß das BVerfG als Institution unverzichtbar ist. Denn die für den Bundesstaat notwendige Schlichtung kann auch von einem anderen Gericht oder — entsprechend dem Austrägalverfahren — von mehreren Gerichten in ständigem Wechsel wahrgenommen werden. 4 2 Das BVerfG als Institution ist 38

Ebf. kritisch: Alberts, Änderungsbefugnisse, S. 53/54. Statt Vieler: Herzog, MDHS, Art. 20 VII Rn. 56. 40 Alberts, Änderungsbefugnisse, S. 58-61 fordert zudem die Unparteilichkeit und Unabhängigkeit des Schlichters. 4 ' Im Ergebnis ähnlich Alberts, Änderungsbefugnisse, S. 46-63. 42 Beim Austrägalverfahren des Deutschen Bundes mußte der Kläger drei oberste Landesgerichte vorschlagen. Der Beklagte wählte daraus die Entscheidungsinstanz aus (Scheuner, Überlieferung, S. 19-28; Robbers, Entwicklung, S. 257/260).

Α. Abschaffung

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daher nicht vom Bundesstaatsprinzip garantiert, sondern lediglich seine Funktion als Streitschlichter. Diese Funktion bewahrt das BVerfG aber vor ersatzloser Streichung. Denn seine Aufgaben werden i m Fall einer Streichung nur teilweise von anderen Staatsorganen übernommen. Soweit eine föderative Streitigkeit auf der Ebene des einfachen Rechts angesiedelt ist, gibt es zwar den Rechtsweg nach § 50 Abs. 1 Nr. 1 V w G O . Bei Hoheitsakten verfassungsrechtlicher Art, z.B. bei Maßnahmen des Bundeszwangs, steht aber kein Ersatz bereit. Die notwendige Schlichtung unterbliebe. Somit verstößt die ersatzlose Abschaffung des BVerfG auch gegen das Bundesstaatsprinzip.

3. Gewaltenteilung

und BVerfG

M i t besonders eindringlichen Worten wird die Ansicht vertreten, daß das BVerfG als wesentliches Element der staatlichen Gewaltenteilung unantastbar sei. Das BVerfG wird als „integrierender Bestandteil des Gewaltenteilungssystems" bezeichnet 4 3 und als „echter Widerpart der anderen Verfassungsorgane" für unverzichtbar erklärt. 4 4 Hinter diesen klangvollen Ausführungen verbirgt sich ein naheliegender Gedanke. Der Zweck der Gewaltenteilung besteht in der gegenseitigen Beschränkung und Kontrolle staatlicher M a c h t . 4 5 Durch die wechselseitige Hemmung und Überwachung der Staatsorgane soll die Freiheit des Einzelnen gesichert werden. In dieser Hinsicht kommt der Justiz besondere Bedeutung zu. Denn im parlamentarischen Regierungssystem sind Exekutive und Legislative stark verflochten. Die Judikative bildet einen davon relativ unabhängigen Block, der korrigierend auf Entscheidungen des Parlaments und der Regierung einwirken kann. Zwar üben auch Opposition und Presse eine nicht zu unterschätzende Kontrolle aus. Dies beruht jedoch nicht auf staatlichen Machtmitteln, sondern auf dem Druck der öffentlichen Meinung. Sie können daher bei der Erörterung der staatlichen Gewaltenteilung nicht berücksichtigt werden. 4 6 Ist die Justiz somit der wichtigste staatliche Kontrollfaktor, so ist nicht zu übersehen, daß dem BVerfG insbesondere bei der Kontrolle der Gesetzgebung eine exponierte Stellung z u k o m m t . 4 7 Für die Unabdingbarkeit des BVerfG wurde dementsprechend vorgebracht, daß die verfassungsrechtliche Prüfung der Gesetze 43

Sattler, Rechtsstellung, S. 277; Alberts, Änderungsbefugnisse, S. 133. Alberts, Änderungsbefugnisse, S. 138. 4 5 BVerfGE 9, 268 (279/280); Herzog, MDHS, Art. 20 V Rn. 9; Schmidt-Aßmann, HbStR I, §24 Rz. 49; Jarass / Pieroth, Art. 20 Rn. 16; Kimminich, Verfgbkt, S. 66; Hesse, Grundzüge Rn. 495/496; a. Α.: Meyn, Kontrolle, S. 216-222. Ebenso Herzog, MDHS, Art. 20 V Rn. 32-34. 47 Hesse, Grundzüge, Rn. 496; Herzog, MDHS, Art. 20 V Rn. 36. 44

4. Teil: Institutionelle Eingriffsgesetze

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gerade auf dem Hintergrund der Erfahrungen von 1933-1945 unerläßlich sei. 4 8 Diese Normenkontrolle müsse auch zentral erfolgen. Ansonsten könnten Rechtsunsicherheit und Rechtszersplitterung eintreten. Außerdem bedürfe es einer Institution, die als Verfassungsorgan gegenüber dem Parlament gleichrangig sei und durch ihre Autorität für die Vollstreckung der Entscheidungen sorgen könne. Das BVerfG sei als „echter Widerpart" zu Parlament und Regierung unverzichtbar. 4 9 W i l l man diese Überlegungen auf ihre Stichhaltigkeit überprüfen, so muß man sich erstens einen Überblick darüber verschaffen, welchen Kontrollen der Gesetzgeber insgesamt unterliegt. Dann kann man zweitens die Frage beantworten, ob die richterliche Kontrolle des Gesetzgebers i m gegenwärtigen Gewaltensystem unentbehrlich ist. Darauf aufbauend kann man drittens klären, ob die Zentralisierung der Normenkontrolle beim B V e r f G unantastbar ist.

a) Die Kontrollen i m Überblick Die Kontrolle der Legislative erfolgt dadurch, daß die Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft werden. Z u dieser Überprüfung sind grundsätzlich alle rechtsanwendenden Organe verpflichtet, die Exekutive ebenso wie die Judikative. Denn die Verwaltung ist ebenso wie die Gerichte nur an verfassungsmäßige Gesetze gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG). A l l e Staatsorgane verstoßen aber gegen ihre Pflichten, wenn sie verfassungswidrige Gesetze anwenden. Indessen bewirkt die reine Prüfung der Gesetze noch keine Kontrolle des Gesetzgebers. Erst wenn aus der Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Norm auch die Konsequenz gezogen wird, daß die Norm nicht angewendet wird, erfolgt eine Korrrektur der gesetzgeberischen Arbeit. Prüfung ohne Verwerfungsmöglichkeit ist keine Kontrolle des Gesetzgebers. Aus diesem Grund kann man die Prüfung durch die einfache Verwaltung nicht als Kontrolle des Gesetzgebers einstufen. 5 0 Denn der einzelne Beamte hat nur die Möglichkeit, das Verwaltungsverfahren auszusetzen und seine Bedenken der vorgeordneten Behörde mitzuteilen. Diese kann sie bis zur jeweiligen Regierung tragen, die wiederum letztlich nur eine Normenkontrolle durch die Verfassungsgerichte herbeiführen kann. 5 1 Denn die Regierung ist nicht zur stillschweigenden Nichtanwendung bestehender Gesetze berechtigt. Damit entzöge sie sich selbst der i m parlamentarischen Regierungssystem vorgesehenen Kontrolle durch die Volksvertretung.

48 49 50 51

Sattler, Rechtsstellung, S. 277. Alberts, Änderungsbefugnisse, S. 133- 138. Ähnlich Alberts, Änderungsbefugnisse, S. 103-106. Herzog, MDHS, Art. 20 V I Rn. 30, 31.

Α. Abschaffung

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In gleicher Weise wird man auch die Prüfung durch die einfachen Gerichte in aller Regel nicht als selbständige Kontrolle des Gesetzgebers werten können. Denn auch sie haben nach Art. 100 Abs. 1 G G meist nur die Möglichkeit, das Verfahren auszusetzen und das BVerfG anzurufen. Das B V e r f G besitzt somit in bezug auf bereits in Kraft getretene Gesetze ein weitgehendes Kontrollmonopol. Anders ist dies vor Inkrafttreten der Gesetze. Bei der Ausfertigung der Gesetze findet eine doppelte Vorprüfung statt. Das Gesetz muß zuerst durch ein M i t g l i e d der Bundesregierung unterzeichnet werden, dann durch den Bundespräsidenten. Bei der Vorzeichnung durch den zuständigen Ressortminister oder den Bundeskanzler wird das Gesetz ebenso auf seine Verfassungsmäßigkeit überprüft wie bei der Gegenzeichnung durch den Bundespräsidenten. Dabei hat der zuständige Minister nach verbreiteter Meinung ein formelles und materielles Prüfungsrecht. 52 Er kann die Unterschrift verweigern, wenn er das Gesetz für verfassungswidrig hält. Dieser Fall ist in der Geschichte der Bundesrepublik aber bislang nur einmal eingetreten. 53 Schon dies ist ein Indiz dafür, daß trotz der Verwerfungsmöglichkeit keine echte Kontrolle vorliegt. Die Bundesregierung ist zudem kein unabhängiger und neutraler Kontrolleur des Gesetzgebungsprozesses. Sie hat die Parlamentsmehrheit hinter sich, die die Gesetze beschließt, und bestimmt durch ihr Initiativrecht maßgeblich über den Inhalt der Gesetze mit. Politisch betrachtet sind die meisten Gesetze das Werk der Regierung, so daß mit der Unterzeichnung des zuständigen Ministers keine echte Kontrolle verbunden ist. Anders ist dies bei der Normenprüfung durch den Bundespräsidenten. A u c h er hat nach Staatspraxis und h . M . 5 4 die Gesetze vor ihrer Verkündung formell und materiell zu prüfen und kann gegebenenfalls die Ausfertigung verfassungswidriger Gesetze verweigern. Er ist i m Gegensatz zur Regierung bei der Entstehung der Gesetze unbeteiligt und durch seine Wahl von Parlamentsmehrheit und Regierung unabhängig. Er kann damit eine neutrale Kontrolle ausüben.

« Maunz, MDHS, Art. 82 Rn. 3; Maurer, BoK, Art. 82 Rn. 60-65; Seifert / Hömig, Art. 82 Rn. 2; Jarass / Pieroth, Art. 82 Rn. 4. Ablehnend: Bryde, vMü, Art. 82 Rn. 8; Ramsauer, AltK, Art. 82 Rn. 24. 53 JMin Dehler lehnte 1953 die Unterzeichnung des Platow-Amnestiegesetzese ab (Maurer, BoK, Art. 82 Rn. 61; Schneider, Gesetzgebung, § 3 Rn. 40; historisch zusammenfassend: Maasen / Hucko, Thomas Dehler als Justizminister, S. 69/70). 54 Alle Bundespräsidenten haben dieses Prüfungsrecht für sich reklamiert. Das BVerfGE 1, 396 (413/414); 2, 143 (169); 34, 9 (22/23) hat es in „obiter dicta" anerkannt. In der Lehre ist nur der Umfang des Prüfungsrechts umstritten. Grundsätzlich für das materielle Prüfungsrecht: Maunz, MDHS, Art. 82 Rn. 2; Herzog, MDHS, Art. 54 Rn. 75/76, Maurer, BoK, Art. 82 Rn. 44; Klein, v M K , Art. 82 I I I Nr. 7 b cc; Stern, StR II, S. 235; Schiaich, HbStR II, § 49 Rn. 40; Jarass / Pieroth, Art. 82 Rn. 3; Hesse, Grundzüge, Rn. 666/667; Seifert / Hömig, Art. 82 Rn. 2. Grundsätzlich dagegen: Ramsauer, AltK, Art. 82 Rn. 18-22 und Bryde, vMü, Art. 82 Rn. 5.

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4. Teil: Institutionelle Eingriffsgesetze

Seine präventive Prüfung tritt ergänzend neben die vorwiegend repressive Kontrolle des BVerfG. Bundespräsident und BVerfG sind somit im Gewaltenteilungssystem des Grundgesetzes die beiden wesentlichen Kontrollfaktoren gegenüber dem Gesetzgeber.

b) Bedeutung der richterlichen Kontrolle Wirken Bundespräsident und BVerfG bei der Kontrolle des Gesetzgebers zusammen, so stellt sich die Frage, ob für das von Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG geforderte Gleichgewicht der Gewalten nicht eine Instanz ausreicht. Kann somit die vom BVerfG ausgeübte, richterliche Normenkontrolle ganz entfallen, ohne daß Art. 79 Abs. 3 G G verletzt ist? A n dieser Überlegung ist sicher richtig, daß es für das System der „checks and balances" keiner doppelten Überprüfung des Gesetzgebers bedarf. Seine Kontrolle muß allerdings von einem unabhängigen Organ in wirkungsvoller Weise erfolgen. Denn Art. 79 Abs. 3 GG könnte seine Aufgabe, eine Umgestaltung des Systems auf scheinlegalem Weg zu verhindern, nicht gerecht werden, wenn es keine Instanz gäbe, die auf die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen effektiv reagieren könnte. Insofern stellt sich allerdings die Frage, ob der Bundespräsident auch ohne BVerfG in der Lage wäre, die Legislative wirkungsvoll zu kontrollieren. Schon der Umstand, daß von 1949 bis 1989 nur in fünf Fällen die Ausfertigung eines Gesetzes verweigert wurde, 5 5 ist geeignet, Skepsis zu erwecken. Denn trotz seiner rechtlichen Unabhängigkeit besitzt der Bundespräsident politisch nicht denselben Handlungsspielraum wie ein Gericht. Er muß schon deswegen Rücksichten nehmen, weil er meist derselben Partei angehört wie die Regierungsmehrheit und diese bei seiner Wiederwahl benötigt. Aber selbst wenn er der Opposition zuzurechnen ist, kann er sich einen ernsthaften Konflikt mit der Regierung nicht leisten, weil er bei seiner Hauptaufgabe, der völkerrechtlichen Vertretung des Bundes, nach Art. 58 G G auf eine enge Zusammenarbeit mit Kanzler und Außenminister angewiesen ist. Nicht zuletzt wird der Bundespräsident durch seine Funktion, Integrationsfigur für die verschiedenen Gruppen eines Staates zu sein, gezwungen, Konflikte mit dem Parlament zu vermeiden. Dem Staatsoberhaupt fehlt aber nicht nur die für eine effektive Rechtskontrolle nötige Unabhängigkeit vom politischen Prozeß. Er ist schon institutionell der Aufgabe nicht gewachsen, den Gesetzgeber effektiv zu kontrollieren. Als Einzelperson, wie auch mit Hilfe des sehr kleinen und ihm nur teilweise unterstellten Präsidialamts, wäre er der Aufgabe nicht gewachsen, alle Einzelbestimmungen der ständig zunehmenden Gesetzesflut auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen. 5 6 In der Praxis erfolgt daher nur eine Kontrolle, wenn bereits im Gesetzge« Schiaich, HbStR II, § 49 Rz. 31.

Α. Abschaffung

157

bungsverfahren begründete Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit angemeldet werden. 5 7 Verweigert wird die Ausfertigung erst, wenn die Verfassungswidrigkeit „offenkundig und zweifelsfrei" feststeht. 58 Schließlich leidet die Effektivität der präsidialen Gesetzesprüfung noch unter dem Umstand, daß das Staatsoberhaupt ein Gesetz nur ganz oder gar nicht ausfertigen darf. 5 9 Die politische, wirtschaftliche oder sogar verfassungsrechtliche Notwendigkeit eines Gesetzes kann aber so groß sein, daß die totale Zurückweisung wegen der Verfassungswidrigkeit eines kleinen oder unwesentlichen Teils unverhältnismäßig wäre. Der Präsident stünde in diesen Fällen vor einem echten D i l e m m a , 6 0 wenn keine richterliche Prüfung der Gesetze nachfolgen würde. Nur durch sie wird i m übrigen in ausführlichen Begründungen das Verfassungsrecht fortgebildet, während der Präsident bei seiner Prüfung im wesentlichen die Rechtsprechung des BVerfG zugrundelegt. Auch dies zeigt, daß eine effektive Kontrolle des Gesetzgebers ohne Gerichte nicht möglich wäre. 6 1 Die richterliche Kontrollfunktion gegenüber dem Gesetzgeber ist somit für das gegenwärtige Gewaltensystems nach Art. 79 Abs. 3 GG nicht verzichtbar.

c) Notwendigkeit einer zentralen Normenkontrolle? Die gewaltenteilige Notwendigkeit richterlicher Normenkontrolle sagt aber noch nichts darüber aus, ob durch Art. 79 Abs. 3 G G der Verbleib dieser Kontrollfunktion beim BVerfG gesichert ist. Zwar wird die richterliche Normenprüfung augenblicklich wegen des Verwerfungsmonopols in Art. 100 Abs. 1 G G überwiegend vom BVerfG ausgeübt. Eine ersatzlose Streichung des Gerichts würde aber nicht dazu führen, daß die richterliche Normenprüfung ausbliebe. Vielmehr ginge diese Aufgabe auf die übrigen Gerichte über. Denn wegen des Vorrangs der Verfassung (Art. 20 Abs. 3 GG) dürften verfassungswidrige Gesetze nicht angewendet werden und es bedürfte einer Instanz, die diese Verfassungswidrigkeit feststellt. Da es zu den traditionellen Aufgaben der Rechtsprechung gehört, i m Streitfall die Rechtslage letztverbindlich zu klären, wären die Gerichte für diese Feststellung zuständig. W i e schon in der Weimarer Republik würden letztlich die obersten Gerichte entscheiden. 62

56 Ebenso Ramsauer, AltK, Art. 82 Rz. 22. 57 Stern, StR II, S. 235. 58 Β Präs Carstens, zitiert nach Schiaich, HbStR II, § 49 Rz. 40. Dem hat sich BPräs von Weizsäcker angeschlossen (Maurer, BoK, Art. 82 Rn. 33). 59 Herzog, MDHS, Art. 54 Rn. 79; Ramsauer, AltK, Art. 82 Rn. 22. 60 Herzog, BPräs, S. 607. 61 Demgegenüber nimmt Alberts, Änderungsbefugnisse, S. 100-103 und 107, die grundsätzliche Gleichwertigkeit der präsidialen Prüfung an. 62 Ebenso Spanner, Notstandsrecht, S. 650; Knöpfle, Schutz, S. 76; ausführlich unten III Nr. 4.

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4. Teil: Institutionelle Eingriffsgesetze

Ein Schutz des BVerfG vor Streichung läßt sich also nur begründen, wenn man den Grundsätzen des Art. 20 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 G G die Notwendigkeit einer zentralen Verfassungsrechtsprechung entnehmen kann. Nicht zutreffend ist allerdings, daß eine Aufteilung der Verfassungsjudikatur auf mehrere Gerichte zu Rechtsunsicherheit und Rechtszersplitterung führen müßte. Denn die Einheitlichkeit der Rechtsprechung w i r d zwischen den Bundesgerichten nach Art. 95 Abs. 3 G G durch die Bildung gemeinsamer Senate gewahrt. Ebensowenig überzeugt es, daß durch eine Aufteilung die v o m Gewaltenteilungsprinzip bezweckte Machtbalance gefährdet wäre. Denn für Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG ist nur das Vorhandensein einer aktualisierbaren Kontrolle des Gesetzgebers wichtig, nicht ihr wirkungsvolles Auftreten nach außen. Daß die Bundesgerichte neutrale Kontrolle ausüben und ihre Entscheidungen gegenüber Regierung und Parlament durchsetzen können, läßt sich kaum bezweifeln. Zwar sind sie keine Verfassungsorgane. Die obersten Bundesgerichte sind jedoch nach Art. 97 G G sachlich und persönlich von Parlament und Regierung unabhängig und können ihre Rechtsprechung in nahezu allen Fällen mit Hilfe der meist loyalen Untergerichte durchsetzen. I m übrigen w i r d die aufgeteilte Verfassungsrechtsprechung auch schon in geringem Umfang praktiziert. I m Bereich des vorkonstitutionellen Bundesrechts besitzt das B V e r f G nämlich kein Verwerfungsmonopol. 6 3 Zusammenfassend kann daher festgestellt werden, daß zwar die richterliche Kontrollfunktion gegenüber dem Parlament nach Art. 79 Abs. 3 GG unverzichtbar ist. Die Notwendigkeit wechselseitiger Kontrolle der Gewalten beinhaltet aber keinen Schutz des B V e r f G als Institution. Vielmehr sichert die Unantastbarkeit der vom BVerfG ausgeübten Kontrollfunktion ihm nicht einmal Schutz vor ersatzloser Streichung, weil in diesem Fall nach der grundgesetzlichen Ordnung bereits ein Ersatz vorgesehen ist. Die übrigen Gerichte würden anstelle des BVerfG die Normenkontrolle ausüben.

4. BVerfG

und Vorrang

der Verfassung

Hans-Ulrich Evers hat darauf hingewiesen, daß auch der Vorrang der Verfassung (Art. 20 Abs. 3 GG) der Streichung des BVerfG entgegenstehen könnte. 6 4 Da alle Staatsorgane an die Verfassung gebunden sind, ist es selbstverständlich, daß sie selbst die Verfassungsmäßigkeit ihres Handelns prüfen müssen. Daneben wird der Vorrang der Verfassung auch durch externe Kontrollen gesichert. Eine externe Kontrolle wird insbesondere vom B V e r f G durchgeführt. Die Verfassungsgerichtsbarkeit kann somit als Konkretisierung des Vorrangs der Verfassung begriffen werden. 6 5 Das BVerfG prüft in allen seinen Verfahren 63 Statt vieler: Jarass / Pieroth, Art. 100 Rn. 4. 64 Evers, BoK, Art. 79 Abs. 3 Rn. 197; Benda, in: Benda/Klein, VerfPR, Rn. 58.

Α. Abschaffung

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— in der Organklage ebenso wie bei der Normenkontrolle — letztlich nur die Frage, ob ein bestimmtes staatliches Handeln mit der Verfassung vereinbar ist oder nicht. A u f diese Weise wird der in Art. 20 Abs. 3 G G liegende, vorrangige Geltungsanspruch der Verfassung aktualisiert und zugleich inhaltlich entfaltet. Fraglich ist daher nur, ob die verfassungsgerichtliche Kontrolle ein wesentlicher Bestandteil des Prinzips vom Vorrang der Verfassung ist und damit nach Art. 79 Abs. 3 G G zum unantastbaren Verfassungskern gehört ist. Die Annahme liegt nahe, daß zumindest die v o m BVerfG ausgeübte externe Kontrolle untrennbar mit dem Primat der Verfassung verbunden ist. Denn der Anspruch der Verfassung, rechtsverbindliche Grundlage für alles staatliche Handeln zu sein, bleibt uneingelöst, wenn es keine Kontrolle gibt, die einen Verstoß gegen die Verfassung feststellt und sanktioniert. 6 6 Bei einer reinen Selbstprüfung würde beispielsweise i m Bereich der Gesetzgebung eine Mißachtung der Verfassung für die Geltung des Gesetzes folgenlos bleiben und angesichts des Anwendungsvorrangs der einfachen Gesetze zu einer inhaltlichen Überspielung der Verfassung führen. Der Vorrang der Verfassung könnte leicht zur leeren Deklamation herabsinken. V o r allem können aber auch die Ziele des Art. 79 Abs. 3 G G nicht erreicht werden, wenn externe Kontrollen fehlen. Denn der unantastbare Kern der Verfassung kann nicht bewahrt werden, wenn es keine Instanz gibt, die eine Verletzung prüft und feststellt. Eine schrittweise Aushöhlung des Verfassungskerns wäre leicht möglich. Aber auch den Feinden der Demokratie kann der Schein der Legalität nur wirkungsvoll genommen werden, wenn die Illegalität ihrer Maßnahmen der breiten Öffentlichkeit klar vor Augen geführt wird. Eine kontrollierende Instanz ist auch aus einem anderen Grund erforderlich. Die Verfassung enthält an vielen Stellen offene konkretisierungsbedürftige Normen. Gerade bei Zuständigkeitsfragen kann die Auslegung nicht den rivalisierenden Organen überlassen bleiben, sondern bedarf der externen Kontrollentscheidung. M i t der Idee des Vorrangs der Verfassung ist daher untrennbar die Notwendigkeit von externen Kontrollen verbunden, in denen der Inhalt der Verfassung konkretisiert und ihre Einhaltung überwacht wird. Die rechtliche Bindung an die Verfassung bliebe ohne Kontrolle „wesenlos". 6 7 Daß es sich dabei um eine effektive Kontrolle handeln muß und daß dies notwendig die Unabhängigkeit des Kontrolleurs vom Kontrollierten voraussetzt, liegt auf der Hand. Fraglich ist aber, ob die externe Kontrolle notwendig eine richterliche Prüfung sein muß. I m Augenblick ist zwar die richterliche Kontrolle die Regel. Dadurch w i r d eine künftige Ersetzung durch andere Gewalten aber 65 Rinken, AltK, vor Art. 93/94 Rn. 2/3/73; Schiaich, BVerfG, Rn. 12; Stern, StR II, S. 954; Benda, HbVerfR, S. 485; Wahl, Vorrang, S. 485-487. 66 Meyer, vMü, Art. 100 Rn. 5; Maunz, MSBKU, § 1 Rn. 11. 67 Evers, BoK, Art. 79 Abs. 3 Rn. 197/200; ebenso Bryde, vMü, Art. 79 Rn. 44.

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4. Teil: Institutionelle Eingriffsgesetze

nicht ausgeschlossen. Für die Frage der Streichung kann dieser Punkt allerdings offen bleiben. 6 8 Denn selbst wenn der Vorrang der Verfassung oder der Gewaltenteilungssatz die richterliche Kontrolle vorschreibt, folgt daraus nicht die Garantie des BVerfG als Institution. Denn die richterliche Kontrolle der Verfassung kann ebenso gut durch andere Gerichte erfolgen. Es stellt sich also nur die Frage, ob das BVerfG durch seine Funktion als externer Kontrolleur vor ersatzloser Streichung geschützt ist. Dabei ist zu beachten, daß der Vorrang der Verfassung nur gesichert ist, wenn für jede verbindliche Bestimmung des Grundgesetzes eine Kontrollmöglichkeit besteht. Die Forderung nach einer effektiven Kontrolle findet nur dort ihre Grenze, wo die verfassungsrechtlich geschaffenen Kontrollinstitutionen ihrerseits kontrolliert werden müßten. Denn die Kontrolle der Kontrolleure würde zu einem „regressus ad infinitum" führen und dem Zweck der Sicherung und Klarstellung der Verfassung widersprechen. Unter diesen Gesichtspunkten ist zum einen die vom BVerfG geleistete Überwachung der Gesetzgebungsvorschriften verzichtbar. Denn bei dem Wegfall der verfassungsgerichtlichen Verwerfungsmonopols würde — wie gezeigt — eine Normenkontrolle der übrigen Gerichte Ersatz schaffen. Z u m anderen ist aber auch seine Kontrolle der Grundrechtsvorschriften entbehrlich, weil nach Art. 19 Abs. 4 G G ohnedies der Rechtsweg eröffnet ist. Soweit das BVerfG hier entscheidet, ist es selbst in der Rolle des Kontrolleurs der Kontrolleure. Die Überwachung der Rechtsprechungsorgane ist insoweit verzichtbar. Dagegen sieht das Grundgesetz keinen Ersatz vor, soweit das BVerfG die übrigen Verfassungsvorschriften prüft. In den meisten Fragen des Staatsorganisationsrechts ist der Rechtsweg zu den übrigen Gerichten nicht eröffnet. 6 9 Soweit es beispielsweise um die Rechte einer Bundestagsfraktion geht, wird die Einhaltung der Verfassung allein durch die Organklage gesichert. Die ersatzlose Streichung des BVerfG würde in diesem Fall auch dem Prinzip des Vorrangs der Verfassung widerstreiten und ist damit nach Art. 79 Abs. 3 i. V . m . 20 Abs. 3 GG unzulässig.

5. BVerfG und Rechtsstaatsprinzip Auch das allgemeine Rechtsstaatsprinzip könnte einer Streichung des BVerfG im Wege stehen. Denn durch Art. 79 Abs. 3 G G sind nicht nur einzelne Teilprinzipien garantiert, sondern das Rechtsstaatsprinzip als Ganzes. 7 0 Gedanklich liegt 68 Dazu unten 4. Teil A III Nr. 2. 69 Nach § 40 Abs. 1 VwGO ist der Verwaltungsrechtsweg ausgeschlossen, wenn Verfassungsorgane um ihre Rechte und Pflichten aus der Verfassung streiten (Kopp, VwGO, §40 Rn. 32-34). ™ Eingehende Erörterung oben 2. Teil Β I Nr. 4.

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das allgemeine Rechtstaatsprinzip schon deswegen nahe, weil die Verfassungsgerichtsbarkeit oft als „Schlußstein" oder „ K r ö n u n g " des Rechtsstaats bezeichnet w i r d . 7 1 Insbesondere Franz Knöpfle hat dargelegt, daß die Verfassungsgerichte darüber hinaus als „Essentiale" des Rechtsstaats unverzichtbar und damit unantastbar sind. 7 2 Für diese Ansicht spricht, daß der Ruf nach einer Verfassungsgerichtsbarkeit schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts nachzuweisen ist. Dieses Postulat fand seinen stärksten Niederschlag in der Konzeption der Paulskirchenverfassung, die eine ausgeprägte Verfassungsgerichtsbarkeit mit der Möglichkeit der Grundrechtsklage vorsah (§ 126 g R V 1848). Nun wäre es allerdings vorschnell, das B V e r f G einfach in die Tradition dieses Rechtsstaatsdenkens einzustellen. Denn v o m Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts wurde keine republikanisch-demokratische Verfassung angestrebt, sondern eine Verfassung, die den Dualismus zwischen K ö n i g und V o l k zur Grundlage hatte. Demzufolge trugen die meisten Verfassungen und Verfassungsentwürfe — ganz gleich ob sie formell vom K ö n i g erlassen wurden (oktroyierte Verfassung) oder auf der Souveränität des Volkes zurückgeführt wurden (souveräne Verfassung) — vertragliche Züge (Kompromißverfassung). Die Bürgerschaft hatte bei diesen Verfassungen ein besonderes Interesse daran, die ihr zugestandenen Freiheits- und Mitwirkungsrechte zu sichern und damit die Krone rechtlich zu binden. Zur Überprüfung dieser Bindung bedurfte es einer neutralen und unabhängigen Instanz, der Verfassungsgerichtsbarkeit. War somit der R u f nach Verfassungsgerichten in der konstitutionellen M o n archie nichts als der Ausdruck des Mißtrauens gegenüber dem K ö n i g und seinem Kabinett (und entsprechend inakzeptabel für die Herrscherhäuser und ihr Gefolge), 7 3 so verlor dieser Gedanke an Bedeutung, als die Krone aus dem politischen Geschehen ausschied. In der Tradition des republikanischen Rechtsstaats spielte die Forderung nach einer Verfassungsgerichtsbarkeit daher zunächst keine Rolle. Nach demokratischem Selbstverständnis hatten die Rechte des Bürgers in dem vom V o l k gewählten Parlament ihren besten Anwalt und bedurften keines weiteren Schutzes. In der Weimarer Verfassung war darum kein richterliches Prüfungsrecht und nur eine schwache Staatsgerichtsbarkeit vorgesehen. Insofern ist auch der Hinweis zutreffend, daß es in demokratischen Rechtsstaaten nicht notwendig eine starke Verfassungsgerichtsbarkeit geben muß.

71 Die Bezeichnung als „Schlußstein" geht auf Binding zurück. „Krönung" oder „Krone" ist das häufigste Attribut (Nachweise bei Stern, StR I, S. 788). 72 Knöpfle, Schutz, S. 75 mit klarstellender Ergänzung in Knöpfle, Politischer Prozeß, S. 925; ebenso Benda, in: Benda / Klein, VerfPR, Rn. 58 und für die Schweiz: Luchsinger, Schranken, S. 117-119. 73 Es ist sogar davon gesprochen worden, daß die Verfgbkt im Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts vor eine „unmögliche Aufgabe" gestellt worden sei (Wahl, HbStR I, § 1 Rz. 33).

11 Häußler

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4. Teil: Institutionelle Eingriffsgesetze

Trotz amerikanischer und österreichischer Vorbilder war somit die Schaffung des BVerfG für das demokratische Rechtsstaatsdenken in Deutschland ein „ N o v u m " und wurde auch so empfunden. Es verdankt seine Entstehung letztlich einem in der Weimarer Republik gewachsenen und durch die Machtergreifung Hitlers bestärkten Mißtrauen gegenüber dem freien Spiel der politischen Kräfte. Die Grundprinzipien des Staates und die Freiheit des Einzelnen sollten fortan nicht nur durch, sondern auch gegenüber dem demokratischen Prozeß gesichert werden. 7 4 Kann somit die Forderung nach einer umfassenden Verfassungsgerichtsbarkeit nicht als traditionelles Postulat des demokratischen Rechtsstaats angesehen werden, so liegt es nahe, sie als wesentlichen Teilinhalt des dem Grundgesetz zu Grunde liegenden Rechtsstaatsbegriffs aufzufassen. Denn das Rechtsstaatsverständnis hat i m Parlamentarischen Rat, nicht zuletzt durch den Zu- oder besser Rückgewinn seiner materiellen Komponente 7 5 , eine bedeutende Ausdehnung erfahren. Insofern kann das B V e r f G als Konkretisierung dieses neuen und zugleich alten Rechtsstaatsdenkens begriffen werden. Fraglich ist nur, ob das BVerfG als Institution oder zumindest die Forderung nach einer zentralen Verfassungsgerichtsbarkeit untrennbar mit dem Rechtsstaat verbunden und damit durch Art. 79 Abs. 3 G G garantiert ist. Dabei ist es aber nicht möglich, die konkrete Institution BVerfG als unantastbaren Bestandteil des grundgesetzlichen Rechtsstaatsbegriffes zu verstehen. Denn die Interpretation des Rechtsstaatsprinzips muß wegen Art. 28 Abs. 1 GG für Bund und Länder in gleicher Weise erfolgen. Daher kann ihm nicht die Garantie einer konkreten Bundeseinrichtung entnommen werden. Insofern kommt als änderungsfester Teilinhalt des Rechtsstaatsprinzips nur die Forderung nach einer zentralen Verfassungsgerichtsbarkeit in Betracht. Aber auch der Nachweis dafür, daß diese Forderung nach Art. 79 Abs. 3 GG unantastbar ist, wird kaum zu führen sein. Zwar leisten die Verfassungsgerichte unbestreitbar einen wichtigen Beitrag zur Rationalisierung und Beschränkung der Macht und zur Entfaltung eines freien Verfassungslebens. Bei der Analyse zweier wichtiger Teilprinzipien des Rechtsstaats, bei der Gewaltenteilung und beim Primat der Verfassung, hat sich aber gezeigt, daß die Verfassungsgerichte nicht unersetzbar sind. Weiterhin sind entstehungsgeschichtlich für die Unverzichtbarkeit einer zentralen Verfassungsgerichtsbarkeit keine Argumente zu finden. Zwar bestand i m Parlamentarischen Rat Einmütigkeit darüber, daß ein starkes Verfassungsgericht errichtet werden sollte. Bei den Beratungen war nicht das „ O b " , sondern nur das „ W i e " umstritten. 7 6 Die Schaffung einer derart starken Verfassungsgerichtsbar74 Formulierung nach Ossenbühl, HbStR I, § 22 Rz. 94. 7 5 Es wurde im frühen 19. Jahrhundert materiell verstanden (Kimminich, Verfgbkt, S. 67). Im Kaiserreich und während der Weimarer Republik dominierte dagegen ein formelles Rechtsstaatsverständnis (Stern, StR I, S. 771/772).

Α. Abschaffung

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keit war jedoch für den Parlamentarischen Rat ein Wagnis. Er konnte nicht absehen, ob sich ein mit derart umfassenden Zuständigkeiten ausgestattetes Gericht i m politischen Prozeß bewähren würde. Daher wird es sich nicht überzeugend darlegen lassen, daß er das Experiment einer zentralen Verfassungsgerichtsbarkeit änderungsfest niederlegen w o l l t e . 7 7 Denkbar wäre hingegen, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit in den letzten vierzig Jahren für unser Rechtsstaatsverständnis so wesentlich geworden ist, daß sie gleichsam in den Kern der Verfassung hineingewachsen ist. 7 8 Ausreichende Belege sind jedoch für diese These nicht zu finden. Denn die Feststellung, daß sich das B V e r f G ebenso wie die Landesverfassungsgerichte i m ganzen bewährt hätten, genügt nicht, um ihre Unverzichtbarkeit i m Rahmen des Art. 79 Abs. 3 GG darzutun. Genausowenig ergibt der Rechtsvergleich, daß eine zentrale Verfassungsgerichtsbarkeit für den Rechtsstaat wesensprägend ist. Denn zum einen gibt es demokratische Rechtsstaaten ohne Verfassungsgerichtsbarkeit, z.B. Großbritannien. 7 9 Diese Staaten verkörpern auch nicht gleichsam den älteren Rechtsstaatstypus. Denn erst in neuester Zeit wurde in einigen skandinavischen Ländern die Schaffung einer Verfassungsgerichtsbarkeit bewußt abgelehnt. 8 0 Z u m anderen besteht auch in den Staaten mit Verfassungsrechtsprechung keine einheitliche Vorstellung vom Wesen der Verfassungsgerichtsbarkeit. Vielmehr gibt es in den europäischen Verfassungen die unterschiedlichsten Modelle für Verfassungkontrollen. Der gemeinsame Nenner dieses Rechtsstaatstypus besteht nur darin, daß diese Staaten eine geschriebene, rechtlich verbindliche Verfassung haben und unterschiedliche Normstufen kennen. Daher muß eine rechtliche Prüfung am Maßstab der Verfassung stattfinden. 81 Damit ist aber nicht notwendig die Vorstellung einer zentralen Verfassungsgerichtsbarkeit verbunden, sondern nur der Gedanke einer Kontrolle des Vorrangs der Verfassung. Daß diese Funktion des BVerfG unantastbar ist, ergibt sich aber bereits aus Art. 20 Abs. 3 GG. Eines Rückgriffs auf das allgemeine Rechtsstaatsprinzip bedarf es nicht. Zusammenfassend kann damit festgestellt werden, daß das B V e r f G durch das allgemeine Rechtsstaatsprinzips nicht institutionell garantiert wird. Das BVerfG kann als sinnvolle Konsequenz oder als letzte Abrundung des Rechtsstaatsprinzips verstanden werden, nicht aber als sein unabdingbarer Bestandteil. 8 2 76 Vgl. Stern, StR I, S. 331-335. 77 Darum sprach sich noch Laux, Grundgesetzänderung, S. 153 für die Möglichkeit der Abschaffung aus. 78 Zu dieser Möglichkeit oben Teil 2 Β I Nr. 8. 79 Dazu Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 95/96. so Rinken, AltK, vor Art. 93/94 Rn. 16. 81 Dies war das Ergebnis des Heidelberger Kolloquiums über Verfgbkt von 1962 (Mosler, Verfgbkt, Vorwort S. 13 /14); ebenso Schefold, EvStL, Stw Verfgbkt, I A Nr. 1. 82 Benda, HbVerfR, S. 485. n*

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4. Teil: Institutionelle Eingriffsgesetze

Als Gesamtergebnis der bisherigen Überlegungen ist festzuhalten, daß das B V e r f G als Institution nicht unantastbar ist. Allerdings sind die von ihm ausgeübten Funktionen für das Demokratieprinzip, den Bundesstaatsgedanken und den Vorrang der Verfassung größtenteils unverzichtbar. Eine ersatzlose Streichung des BVerfG ist damit verfassungswidrig.

I V . Ersetzung Die Frage der Verfassungsmäßigkeit von Surrogationen kann nunmehr relativ einfach beantwortet werden. Gerade weil das BVerfG als Institution nicht von Art. 79 Abs. 3 G G garantiert wird, ist seine Surrogation grundsätzlich zulässig. Die vom BVerfG ausgeübten Funktionen für die Sicherung der demokratischen Ordnung, der Bundesstaatlichkeit und des Vorrangs der Verfassung dürfen aber nicht ersatzlos entfallen. Für das beim Wegfall des BVerfG eintretende Defizit muß nach Art. 79 Abs. 3 i . V . m . 20 GG ein Ausgleich geschaffen werden. Für Surrogationen gelten daher einige generelle Anforderungen. Erstens muß für die nach Art. 79 Abs. 3 G G unentbehrlichen Funktionen ein quantitativer Ausgleich geschaffen werden. In sachlicher Hinsicht muß für alle notwendigen Funktionen eine Ersatzzuständigkeit geschaffen werden (sachliche Lückenlosigkeit) und in zeitlicher Hinsicht darf keine Unterbrechung eintreten. Denn der Fortbestand dieser Funktionen nimmt an der Ewigkeitsgarantie teil (zeitliche Lückenlosigkeit). Zweitens muß für den Wegfall des BVerfG ein Art. 79 Abs. 3 G G entsprechender qualitativer Ausgleich geschaffen werden. Da das B V e r f G im wesentlichen Kontrollfunktionen wahrnimmt, müssen an die Ersatzorgane in dieser Hinsicht gewisse Mindestanforderungen gestellt werden. Nicht jede Überwachung durch Dritte sorgt für die Einhaltung der demokratischen Spielregeln, für die Streitschlichtung i m Bund-Länder-Streit und für die Wahrung der Verfassung. Vielmehr muß die Kontrolle effektiv sein. Als Grundvoraussetzung einer effektiven Sicherung des Vorrangs der Verfassung ist dabei die Unabhängigkeit des Kontrolleurs vom Kontrollierten zu nennen (Independenz). Er muß bei der Beilegung von Verfassungsstreitigkeiten über den Parteien stehen (Neutralität). Eine effektive Kontrolle ist ferner nur möglich, wenn der Kontrolleur i m Falle von Verfassungsverstößen in der Lage ist, den Vorrang der Verfassung wiederherzustellen (Autorität). Nicht nötig ist, wie das Grundgesetz zeigt, daß der Kontrolleur von Amts wegen tätig wird. Es genügt, wenn ausreichende Anrufungsmöglichkeiten bestehen (Aktualisierbarkeit der Kontrolle). I m einzelnen sind eine ganze Reihe von Ersetzungsmodellen denkbar. Es ist nicht möglich, auf die verschiedenen Ersatzorgane, Ersatzverfahren und Ersatzzuständigkeiten abschließend einzugehen. Daher werden im folgenden nur die

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Α. Abschaffung

beiden bereits erwähnten Beispielsfälle besprochen: die Schaffung eines Obersten Bundesgerichtes und die Ersetzung durch eine dritte Kammer des Gesetzgebungsverfahrens.

7. Ersetzung durch ein Oberstes

Bundesgericht

Gegen eine Ersetzung des B V e r f G durch ein Oberstes Bundesgericht, das wie der Supreme Court der Vereinigten Staaten zugleich Verfassungsgericht und Revisionsinstanz ist, bestehen keine grundsätzlichen Bedenken. Soweit die unantastbaren Funktionen des B V e r f G erhalten bleiben und die Kontrolle zeitlich nicht unterbrochen wird, gibt es keine verfassungsrechtlichen Einwände gegen diese Ersetzung. Denn bei einem Obersten Gericht ist für die erforderliche Independenz, Neutralität, Autorität und Aktualisierbarkeit der Kontrolle gesorgt.

2. Ersetzung durch eine dritte

Kammer

Weitaus schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob das BVerfG bei der Prüfung der Gesetze durch ein Organ ersetzt werden könnte, das wie der französische „conseil constitutionel" mehr eine dritte Kammer des Gesetzgebungsverfahrens als ein Gericht ist. 8 3 Dieser Verfassungsrat würde zwar vor Inkrafttreten der Gesetze auf Antrag oder von Amts wegen eine präventive Normenkontrolle durchführen. Nach Erlaß des Gesetzes wäre aber der Einwand der Verfassungswidrigkeit vor allen Behörden und Gerichten ausgeschlossen. 84 Grundsätzliche Bedenken gegen eine dritte Kammer können sich vor allem daraus ergeben, daß die richterliche Normenprüfung abgeschafft wird. Die zentrale Frage ist damit, ob die richterliche Normenkontrolle zum unantastbaren Kern der Verfassung gehört. Diese Unantastbarkeit kann sich aus Art. 20 Abs. 3 G G ergeben, wenn man die richterliche Normenkontrolle als notwendige Kehrseite der Gesetzesbindung der Gerichte ansieht. 8 5 Da die Justiz nach Art. 20 Abs. 3 G G an „Recht und Gesetz" gebunden ist, ist sie einerseits nur verpflichtet, verfassungsgemäße Gesetze zu befolgen. Andererseits verbietet es ihre Verfassungsbindung grundgesetzwidrige Normen anzuwenden. Aus diesem Zwiespalt ist gefolgert worden, daß die Gerichte nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht hätten, die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen festzustellen. Dieser Schluß ist aber keineswegs

Der Gerichtscharakter des „conseil constitutionel" ist umstritten. Hier wird seine Zuordnung zum Gesetzgebungsbereich vorausgesetzt (ebenso Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 104/105). 84 Näher zum „conseil constitutionel": Michel Frumont, Der Französische Verfassungsrat, in: Starck / Weber, Verfgbkt in Westeuropa, I S. 311-341. 85 Bettermann, HbStR III, § 73 Rn. 13 Fn. 31; Maunz, MDHS, Art. 100 Rn. 2.

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4. Teil: Institutionelle Eingriffsgesetze

zwingend. Denn auch die Verwaltung ist nach Art. 20 Abs. 3 G G an „Gesetz und Recht" gebunden, ohne daß ihr ein Normenverwerfungsrecht zusteht. Der Rechtsbindung kann daher nur die Pflicht entnommen werden, die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zu prüfen. Welche Institution hingegen die Befugnis zur Normenverwerfung hat, ist eine Zuständigkeitsfrage, die einer expliziten Regelung in „Gesetz und Recht" bedarf. Die Unantastbarkeit des richterlichen Prüfungsrechts kann aber auch auf Art. 20 Abs. 2 S. 2 G G beruhen. Das setzt voraus, daß die Normenkontrolle nach dem Grundsatz der funktionellen Gewaltenteilung eine spezifische Rechtsprechungsaufgabe darstellt. Bereits diese Feststellung bereitet Schwierigkeiten, weil der Rechtsprechungsbegriff nirgendwo i m Grundgesetz definiert ist und die Gerichte unstreitig auch nicht-richterliche Aufgaben wahrnehmen. M a n könnte die Normenkontrolle insbesondere als „negative Gesetzgebung" 8 6 verstehen. Denn die Normenverwerfung bildet gleichsam den „actus contrarius" zum Normenerlaß und überdies verleiht Art. 94 Abs. 2 S. 1 G G den Normenkontrollentscheidungen „Gesetzeskraft". Das darin liegende Moment der Allgemeinverbindlichkeit ist zudem für die Rechtsprechung eher untypisch. Trotzdem muß man die Normenkontrolle zu den spezifischen Rechtsprechungsaufgaben rechnen. Dies beruht nicht nur auf der rein formalen Überlegung, daß die Art. 93, 100 G G i m Abschnitt „Rechtsprechung" zu finden sind und daß die Normenkontrolle den Verfassungsgerichten zugewiesen ist. Vielmehr gehört die Feststellung und Fortentwicklung des geltenden Rechts seit jeher zu den klassischen Aufgaben der Gerichte. Diese Funktion der Rechtskontrolle 8 7 war schon immer eine wichtige Voraussetzung der Streitentscheidung. Durch Gerichtsurteile wurde stets geklärt, inwieweit ein besonderes Gesetz dem allgemeinen vorgeht und eine alte Norm der neuen weicht. Neben dem Lex-Specialisund dem Lex-Posterior-Grundsatz hat aber auch der Lex-Superior-Grundsatz eine lange Tradition. Daran vermag auch der Hinweis nichts zu ändern, daß die besondere Anwendungsform dieses Satzes, die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze, erst während der Weimarer Republik um die Mitte der zwanziger Jahre allgemeine Anerkennung gefunden hat. 8 8 Denn dies beruht in erster Linie darauf, daß sich der Vorrang der Verfassung in der neueren deutschen Verfassungsgeschichte erst spät durchgesetzt hat. Hingegen war die Aufgabe der Rechtsprechung, das geltende Recht festzustellen, unbestritten. Entsprechend konnte der Abg. Walter Strauß ( C D U ) i m Parlamentarischen Rat mit Blick auf das richterliche Prüfungsrecht sagen: 86 Die Bezeichnung geht wohl auf Kelsen zurück (ablehnend Schiaich, BVerfG, Rn. 111; oben 3. Teil A I I Nr. 1 Fn. 12). 87 Schiaich, BVerfG, Rn. 110/111. 88 Im Kaiserreich und zu Beginn der Weimarer Republik war nur ein formelles Prüfungsrecht der Gerichte anerkannt. Lediglich Verordnungen wurden formell und materiell überprüft (vgl. Schiaich, BVerfG, Rn. 106-108; Rinken, AltK, vor Art. 93/94 Rn. 24-30).

Α. Abschaffung

167

„Wir glauben, daß es sich hier um die unmittelbare Anwendung der richterlichen Gewalt handelt, auf Grund deren der Richter in jedem Rechtsstreit zu prüfen hat, ob das Gesetz, das er anwendet, wirklich Gesetz ist." 8 9 Ist somit die Normenkontrolle funktionell eine Rechtsprechungsaufgabe, 90 so stellt sich die Frage, inwieweit diese Aufgabe organisatorisch auf ein Gesetzgebungsorgan verlagert werden darf. Eine solche Funktionenverschränkung wäre nach dem Gewaltenteilungssatz unzulässig, wenn damit ein Kernbereich der rechtsprechenden Gewalt den Richtern entzogen würde. Die Übertragung der Normenkontrolle auf eine dritte Kammer wäre somit nach Art. 20 Abs. 2 S. 2 i. V. m. 79 Abs. 3 G G verfassungswidrig, wenn die Normenkontrolle zum Kernbereich der rechtsprechenden Gewalt zählen würde. Gegen eine so zentrale Rolle im Bereich der rechtsprechenden Gewalt spricht zunächst einmal die relativ kurze Tradition der Normenkontrolle. Zudem kann man darauf hinweisen, daß die Prüfung der Gesetze am Maßstab der Verfassung einen stärker rechtsgestaltenden und politischen Charakter hat als die sonstige Rechtskontrolle der Gerichte. Deswegen wird eine nicht-richterliche Normenkontrolle mitunter für zulässig gehalten. 9 1 Demgegenüber ist zu bedenken, daß der Kernbereich der rechtsprechenden Gewalt aus grundsätzlichen Erwägungen weiter gefaßt sein muß als der anderer Gewalten. Nicht umsonst ist die organisatorische Gewaltentrennung i m Bereich der Rechtsprechung nach Art. 92 G G besonders streng ausgestaltet. Denn die Verlagerung von Rechtsprechungsfunktionen auf Verwaltungs- oder Gesetzgebungsorgane ist rechtsstaatlich stets problematisch. Die rechtsprechende Gewalt bildet neben den organisatorisch stark verschränkten Exekutiv- und Legislativorganen den einzig unabhängigen Block, der Parlament und Regierung kontrolliert. Bei der Übertragung von Kontrollaufgaben ist daher das Gleichgewicht der Gewalten und die damit bewirkte Freiheitssicherung des Einzelnen i m besonderem Maße gefährdet. Aus Gründen der Gewaltenbalance kann daher eine Übertragung von Kontrollbefugnissen nur in beschränkten Ausnahmebereichen und nur unter der Bedingung erfolgen, daß die Gleichwertigkeit der Kontrolle gewahrt wird. I m Rahmen des Gewaltenteilungssatzes, nicht aber i m Bereich des Art. 79 Abs. 3 G G schlechthin, ist es daher richtig, wenn das BVerfG aus sachlich gerechtfertigten Gründen systemimmanente Modifikationen zuläßt. 9 2 N u n steht es aber außer Zweifel, daß das richterliche Prüfungsrecht für die Kontrolle des Gesetzgebers und für die Gewähr der Grundrechte von besonderer Bedeutung ist. Die Übertragung des Prüfungsrechts auf eine dritte Kammer des 89 Ha-Prot. S. 274; vgl. Böckenförde, Nichtigkeit, S. 46-50. 90 Ebenso Maunz, MDHS, Art. 100 Rn. 5; Stern, StR II, S. 948/950; Schiaich, BVerfG, Rn. 110/111; Alberts, Änderungsbefugnisse, S. 109-111. 91 Bryde, vMü, Art. 79 Rn. 37/43, Verfassungsentwicklung, S. 354; Schreiber, Reaktionen, S. 86/87. 92 BVerfGE 30, 1 (24); ausführlich oben 2. Teil Β I Nr. 3.

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4. Teil: Institutionelle Eingriffsgesetze

Gesetzgebungsverfahrens würde schon vom Umfang her mehr als einen Ausnahmebereich erfassen. Denn damit entfiele die ganze richterliche Kontrolle des Gesetzgebers. Es ist auch mehr als fraglich, ob diese Übertragung aus sachlichen Gründen gerechtfertigt wäre. Zwar könnte man für eine dritte Kammer ins Feld führen, daß ein politisches Gremium besser in der Lage wäre, Gründe der Staatsraison bei der verfassungsrechtlichen Interpretation einfließen zu lassen. Ein Verhalten nach dem Motto „fiat jus, pereat mundus" wäre nicht zu befürchten. Umgekehrt fällt es den Gerichten aber leichter als einer dritten Kammer, die Neutralität gegenüber parteipolitischen Auseinandersetzungen zu wahren. Nach Art. 20 Abs. 3 GG ist nämlich bei der Normenprüfung primär ein rechtlicher Maßstab anzulegen. Diese Rechtskontrolle erfolgt aber auch aus sachlichen Gründen besser i m gerichtlichen Verfahren. Erstens ist bei Gerichten die erforderliche Rechtskenntnis in besonderem Maße gewährleistet. Zweitens sichert die gerichtliche Anhörung aller Beteiligten eine umfassende Abwägung der verfassungsrechtlichen Argumente. V o r allem der betroffene Bürger kommt hier i m Gegensatz zu einer dritten Kammer stets zu Wort. Drittens w i r d die Tragweite einer Rechtsfrage am konkreten Fall oft klarer erkennbar als bei der abstrakten Durchprüfung mehrerer Vorschriften. Viertens kann die von einer dritten Kammer durchgeführte präventive Normenprüfung nicht auf eine nach Erlaß der N o r m eintretende Änderung der Situation reagieren. Das Phänomen des Verfassungswandels, des Rechtswidrigwerdens einer Norm, kann von einer dritten Kammer nicht erfaßt werden. Selbst wenn man dem verfassungsändernden Gesetzgeber eine breite Einschätzungsprärogative einräumt, fehlen daher für die Übertragung der Normenkontrolle an ein Legislativorgan sachliche Gründe. Vielmehr gebietet es der im Gewaltenteilungssatz wurzelnde Gedanke, daß eine Funktion den Organen zuzuweisen ist, die institutionell zur Bewältigung dieser Aufgabe am besten geeignet sind, 9 3 daß die Normenkontrolle bei den Gerichten verbleibt. I m Ergebnis kann man daher feststellen, daß die Übertragung des richterlichen Prüfungsrechts auf eine dritte Kammer gegen den Gewaltenteilungssatz verstoßen würde. I m Einklang mit der wohl überwiegenden Meinung in der Literatur muß man davon ausgehen, daß das richterliche Prüfungsrecht nach Art. 79 Abs. 3 i . V . m . 20 Abs. 2 S. 2 GG zumindest grundsätzlich unantastbar ist. 9 4 93 Hesse, Grundzüge, Rn. 488; Schmidt-Aßmann, HbStR I, § 24 Rz. 50 unter Berufung auf BVerfGE 68, 1 (86). 94 Evers, BoK, Art. 79 Abs. 3 Rn. 197; Maunz, MSBKU, § 1 Rn. 11; Alberts, Änderungsbefugnisse, S. 112 -114; Arndt, KudW III, S. 476; Löwenstein, KudW III, S. 555; Laufer, Politischer Prozeß, S. 154/155; Klein, Politischer Prozeß, S. 584/585; Bachof, Verfassungswidrige Verfassungsnormen, S. 49. Das schließt einen teilweisen Ausschluß der Normenkontrolle nicht aus (unten 4. Teil Β I I Nr. 2). Das meinen wohl auch Maunz und Dürig, wenn sie von der Möglichkeit

Β. Verfahrensarten

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Β. Streichung einzelner Verfahrensarten Da das BVerfG als ganzes ersetzt werden kann, ist es auch möglich, einzelne Verfahren durch andere zu ersetzen oder bestimmte Verfahrensarten anderen Gerichten zuzuweisen. Fraglich ist aber, ob sie gänzlich gestrichen werden können. Hans-Werner Alberts hat diese Frage für einige wichtige Verfahrensarten erörtert. 9 5 I m folgenden kann daher die Diskussion auf die zwei besonders umstrittenen Verfahrensarten beschränkt werden: die Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG) und die abstrakte Normenkontrolle (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG).

I . Streichung der Individualverfassungsbeschwerde Schon bei den Beratungen zum Grundgesetz und zum BVerfGG wurden in rechtspolitischer Hinsicht Bedenken gegen die Verfassungsbeschwerde vorgetragen. Manchen Abgeordneten schien ein neben dem allgemeinen Rechtsweg stehender, außerordentlicher Rechtsbehelf unzweckmäßig. 9 6 Trotz dieser Bedenken entschloß sich der einfache Gesetzgeber 1951, die Verfassungsbeschwerde durch die §§ 9 0 - 9 6 BVerfGG einzuführen. Die Verfassungsbeschwerde nahm das B V e r f G allerdings in weit größerem Maße in Anspruch, als man erwartet hatte. Der überwiegende Teil der Anträge war unbegründet. 97 Angesichts der Flut oft aussichtsloser Beschwerden kam der erste Präsident des BVerfG, Hermann Höpker-Aschoff, zu dem Schluß, 90 Prozent aller Verfassungsbeschwerden würden „ v o n Querulanten oder Geisteskranken" erhoben. 9 8 Die in der amtlichen Statistik deutlich werdende Problematik der Verfasssungsbeschwerde hat sich in den vergangenen Jahrzehnten kaum verändert: Einer ständig steigenden Zahl von Eingaben steht eine äußerst geringe Erfolgsquote gegenüber. Mehr als 98 Prozent aller Verfassungsbeschwerden erledigen sich, werden zurückgenommen oder abgewiesen. Nur ein bis zwei Prozent haben Erfolg. 9 9 Angesichts dieser Zahlen überrascht es nicht, daß seit den 50er Jahren immer wieder die Abschaffung der Verfassungsbeschwerde gefordert w i r d . 1 0 0 Die gerindes Abbaus des richterlichen Prüfungsrechts zugunsten parlamentarischer Letztentscheidungsrechte sprechen (MDHS, Art. 79 Rn. 48). 95 Alberts, Änderungsbefugnisse, S. 46-128. 96 Vgl. Schmidt-Bleibtreu, MSBKU, § 90 Rn. 6; Benda, in: Benda/Klein, VerfPR, Rn. 315; Alberts, Änderungsbefugnisse, S. 125/126. 97 Vgl. Höpker-Aschoffs Schreiben an JMin Dehler (Abdruck in: Schiffers, Verfgbkt, S. 457-460). 98 Das berichtet Richter G. Leibholz in einem Schreiben an Staatssekretär W. Strauß (Abdruck in: Schiffers, Verfgbkt, S. 460-462). 99 Benda, in: Benda/Klein, VerfPR, Rn. 357; Schiaich, BVerfG, Rn. 187.

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4. Teil: Institutionelle Eingriffsgesetze

ge Erfolgsquote rechtfertige den hohen Verfahrensaufwand nicht. Die Verfassungsbeschwerde führe zwar in einigen wenigen Fällen zu mehr Gerechtigkeit. In vielen anderen Fällen werde aber das Gerichtsverfahren ohne Grund um Monate und Jahre verlängert, wodurch Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit beeinträchtigt würden. Der Verfassungsbeschwerde bedürfe es i m übrigen nicht, weil gemäß Art. 19 Abs. 4 G G stets ein Rechtsweg garantiert sei und in Härtefällen durch das Petitions- und Gnadenrecht eine Korrektur möglich bleibe. Die Streichung der Verfassungsbeschwerde ermögliche es umgekehrt, das BVerfG auf eine Spruchkammer zu verkleinern und damit das erstrebte Einheitsgericht zu schaffen. Das B V e r f G könne seine Kräfte dann auf seine eigentliche Aufgabe, die Fortentwicklung des Verfassungsrechts, konzentrieren. Zugleich werde das Ansehen der anderen Bundesgerichte gehoben, wenn gegen ihre Urteile keine „Superre vision" mehr stattfinde. Diese Argumentation überzeugte die Mehrheit der P o l i t i k e r 1 0 1 und Wissenschaftler 1 0 2 nicht. Sie hielten an der Verfassungsbeschwerde, die rasch zum „Schaustück einer freiheitlich demokratischen Ordnung" wurde, fest. 1 0 3 1969 wurde die Verfassungsbeschwerde sogar ins Grundgesetz aufgenommen und dadurch mit Verfassungsrang ausgestattet. 104 Die Befürworter der Verfassungsbeschwerde begegneten dem Hinweis auf die geringe Erfolgsquote mit dem Argument, daß die Verfassungbeschwerde nicht nur ein subjektiver Rechtsbehelf sei, sondern auch einen objektiv-rechtlichen Zweck verfolge: die Fortentwicklung des Verfassungsrechts. Die Rechtsentwicklung erfolge aber gleichermaßen in abweisenden wie in stattgebenden Entscheidungen. Außerdem habe die Verfassungsbeschwerde einen nicht zu unterschätzenden „Edukationseffekt". 1 0 5 Behörden und Gerichte würden vom leichtfertigen 100 Ule, Verfassungsbeschwerde, S. 14; Thoma, in: Leibholz, Materialien, S. 184/185 (Nachdruck in: Häberle, Verfgbkt, S. 257-259); Willms, Reform, S. 127; Klein, Novelle, S. 89; Gerhard Müller, Pressekonferenz, DB 68, S. 89; Pestalozza, VerfPR, § 12 Rn. 7. Für eine Abschaffung der Urteilsverfassungsbeschwerde, nicht der Rechtssatzverfassungsbeschwerde, bereits Wilhelm Throm, Was ist in Karlsruhe reformbedürftig? FAZ vom 16.12.52 S. 2 und neuerdings Zuck, Stellung, S. 388, Verfassungsbeschwerde, Rn. 263/264. ιοί Bei der ersten Novelle zum BVerfGG lehnte JMin Neumayer (BT-Prot. I I S. 5930) die Abschaffung ebenso ab wie JMin Bücher bei der dritten Novelle (BT-Prot. IV S. 4019). Für die Opposition trat Adolf Arndt gerüchteweise verlautbarten Abschaffungswünschen entgegen (Urteilsanmerkung, NJW 64, S. 1667; Dementi, NJW 64, S. 2007). 102 Zweigert, Verfassungsbeschwerde, S. 321; Röhl, Zwischenbilanz, S. 105; Friesenhahn, Verfgbkt, S. 83; Rupp, Verfassungsbeschwerde, S. 3/4; Alberts, Änderungsbefugnisse, S. 127/128; Lechner, BVerfGG, §90 Anm. 3; Ritterspach, Reformen, S. 288; Simon, HbVerfR, S. 1264; Dopatka, Umwelt, S. 153-156; Wöhrmann, Reformvorschläge, S. 288; Rinken, AltK, Art. 93 Rn. 73. 103 So mit kritischem Unterton Thoma, in: Leibholz, Materialien, S. 184 (Nachdruck in: Häberle, Verfgbkt, S. 257). 104 Nachweise bei Schiaich, BVerfG, Rn. 190. los Zweigert, Verfassungsbeschwerde, S. 321; Rupp, Verfassungsbeschwerde, S. 4; BVerfGE 33, 247 (258/259); Benda, in: Benda/Klein, VerfPR, Rn. 332-334.

Β. Verfahrensarten

171

Umgang mit Grundrechten abgehalten, weil die Verfassungsbeschwerde „ w i e ein Damoklesschwert über den Häuptern der Träger öffentlicher Gewalt" hänge.

106

In der Tat schließt die Verfassungsbeschwerde i m Bereich des Grundrechtsschutzes eine Lücke. Während die Bindung von Legislative und Exekutive an die Grundrechte schon durch den allgemeinen Rechtsweg in Verbindung mit der Richtervorlage (Art. 100 Abs. 1 GG) gesichert ist, bewirkt die Verfassungsbeschwerde auch eine Kontrolle der Judikative. Sie schützt den Bürger davor, daß die Fachgerichte seine Grundrechte gegenüber den i m einfachen Recht zum Ausdruck kommenden Gemeinwohlinteressen zu sehr relativieren. Sie gibt ihm zugleich ein M i t t e l in die Hand, die Bindung der anderen Gerichte an die Grundrechtsauslegung des B V e r f G (§ 31 Abs. 1 BVerfGG) einzufordern. V o r allem ist die Verfassungsbeschwerde aber auch ein wichtiger und oft der einzige Weg, gegen die richterliche Mißachtung prozessualer Grundrechte vorzugehen. Es ist daher kein Zufall, daß die auf Art. 101 und 103 G G gestützten Anträge statistisch den Löwenanteil der Verfassungsbeschwerden ausmachen. 1 0 7 In rechtspolitischer Hinsicht spricht gerade diese Funktion der Verfassungsbeschwerde als Instrument der Selbstkontrolle der dritten Gewalt gegen ihre Abschaffung.

7. Streichung

durch einfaches Gesetz

Solange die Verfassungsbeschwerde nur in den §§ 9 0 - 9 6 B V e r f G G geregelt war, konnte sie unstreitig durch einfaches Gesetz gestrichen werden. 1 0 8 Seit sie aber 1969 in den Verfassungstext aufgenommen wurde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG), nimmt sie am Vorrang der Verfassung (Art. 20 Abs. 3 GG) teil. Der einfache Gesetzgeber kann daher nach Art. 94 Abs. 2 S. 1 G G nur noch das „ W i e " der Beschwerde regeln. Dabei darf er gemäß Art. 94 Abs. 2 S. 2 G G ein besonderes Annahmeverfahren schaffen. Das „ O b " der Verfassungsbeschwerde ist dem einfachen Gesetzgeber hingegen entzogen. Die Streichung der Verfassungsbeschwerde durch einfaches Gesetz ist daher nach allgemeiner Ansicht verfassungswidrig. 1 0 9 Denn es war gerade der Zweck der Aufnahme ins Grundgesetz, dem einfachen Gesetzgeber diese Möglichkeit selbst i m Verteidigungsfall zu nehmen. 1 1 0

106

Rupp, Verfassungsbeschwerde, S. 4. Vgl. Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn. 269. los Ule, Verfassungsbeschwerde, S. 14. 109 Benda, in: Benda/Klein, VerfPR, Rn. 317; Pestalozzi VerfPR, § 12 Rn. 7; Gusy, Verfassungsbeschwerde, Rn. 6; Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn. 6; Stern, BoK, Art. 93 Rn. 409; Schmidt-Bleibtreu, MSBKU, § 90 Rn. 7. no Nachweis bei Stock, Abschaffung, S. 454/455. 107

172

4. Teil: Institutionelle Eingriffsgesetze 2. Streichung

durch Verfassungsänderung

I m Schrifttum besteht Einigkeit darüber, daß die Verfassungsbeschwerde i m Wege der Verfassungsrevision abgeschafft werden k a n n . 1 1 1 Die Verfassungsbeschwerde gehöre nicht zum „Urbestand" der Verfassung und könne daher „aus normlogischen Erwägungen" nicht von der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 G G erfaßt werden. 1 1 2 1951 sei die Verfassungsbeschwerde lediglich als Experiment des einfachen Gesetzgebers geschaffen worden und habe vor 1969 nicht zum ungeschriebenen Verfassungsrecht gehört. 1 1 3 Dabei wird allerdings unterstellt, daß der von Art. 79 Abs. 3 GG geschützte Verfassungskern als ein für allemal unabänderliche Größe anzusehen ist. Art. 79 Abs. 3 GG ist aber nicht statisch zu verstehen. Gerade weil Art. 79 Abs. 3 G G nur in zweiter Linie eine identitätssichernde, in erster Linie aber eine freiheitssichernde Funktion hat, sind seine Grundsätze in geringem Maße dynamisch, d.h. wandelbar und anreicherungsfähig. 114 Z u prüfen ist daher, ob die Verfassungsbeschwerde i m Hinblick auf die freiheitssichernde Funktion des Art. 79 Abs. 3 G G zum wesentlichen Bestandteil des Prinzips des Vorrangs der Verfassung, des Gewaltenteilungssatzes oder des allgemeinen Rechtsstaatsprinzips geworden ist. Es liegt besonders nahe, die Verfassungsbeschwerde als Konkretisierung des Prinzips des Vorrangs der Verfassung (Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG) anzusehen. Denn i m Beschwerdeverfahren wird die Verfassung fortentwickelt und insbesondere der Grundrechtsschutz entfaltet. Die Verfassungsbeschwerde wird aber nur von Art. 79 Abs. 3 G G geschützt, wenn sie ein unverzichtbares Element des Vorrangsprinzips ist. Die Streichung des Verfassungsbeschwerde brächte jedoch für den Primat der Verfassung keine schweren Nachteile. Der Wegfall der Urteilsverfassungsbeschwerde hätte zur Folge, daß die Grundrechtsinterpretation der anderen Bundesgerichte eine größere Bedeutung erlangen würde, und daß die Verwerfung verfassungswidriger Gesetze vornehmlich i m Wege der Richtervorlage (Art. 100 Abs. 1 GG) erfolgen müßte. Auch der Wegfall der Rechtssatzverfassungsbeschwerde würde kein Vakuum hinterlassen. Derzeit kann der Bürger sofort gegen ein neues Gesetz klagen, das unmittelbar in seine Grundrechte eingreift. Entfällt diese Klagemöglichkeit, so ist zwar nicht nach Art. 19 Abs. 4 G G der Weg zu den ordentlichen Gerichten eröffnet. Denn Gesetzgebungsakte sind nach überwiegen111 Alberts, Änderungsbefugnisse, S. 115 -128; Stock, Abschaffung, S. 451 -458; Herzog, MDHS, Art. 20 V I I Rn. 41; Maunz, MDHS, Art. 93 Rn. 64; Stern, BoK, Art. 93 Rn. 409; Bryde, vMü, Art. 79 Rn. 45; Evers, BoK, Art. 79 Abs. 3 Rn. 198; Benda, in: Benda/Klein, VerfPR, Rn. 317 mit Fn. 15; Pestalozza, VerfPR, § 12 Rn. 7; SchmidtBleibtreu, MSBKU, § 90 Rn. 7; Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rn. 7; Gusy, Verfassungsbeschwerde, Rn. 6. 112 Herzog, MDHS, Art. 20 V I I Rn. 41. 113 Alberts, Änderungsbefugnisse, S. 116-126; Stock, Abschaffung, S. 455. ι ' 4 Ausführliche Begründung oben 2. Teil Β I Nr. 8.

Β. Verfahrensarten

173

der Meinung nicht über Art. 19 Abs. 4 G G angreifbar. 1 1 5 Der Bürger kann aber abwarten, bis ein staatliches Vollzugsorgan die Übertretung des einfachen Rechts ahndet. Gegen diese Maßnahme der öffentlichen Gewalt kann er dann nach Art. 19 Abs. 4 G G vor Gericht ziehen. I m Prozeß kann er seine Argumente gegen die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes vorbringen und damit die richterliche Normenprüfung in Gang setzen, eventuell mit dem Ergebnis der Normenverwerfung durch das BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 GG. M a g dieses Verfahren auch für den Bürger mit unangenehmen Risiken verbunden sein, so reicht es doch zur Wahrung der Verfassung aus. 1 1 6 Die Verfassungsbeschwerde ist daher kein unverzichtbarer Bestandteil des Art. 20 Abs. 3 GG. Man kann die Verfassungsbeschwerde aber auch als Bestandteil des Gewaltenteilungsprinzips verstehen (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG). Denn die Verfassungsbeschwerde ist eine Ausprägung der rechtsprechenden Gewalt und sie dient der Kontrolle anderer Gewalten: Bei der Urteilsverfassungsbeschwerde w i r d oft mittelbar auch die Exekutive kontrolliert, bei der Rechtssatzverfassungsbeschwerde unmittelbar die Legislative. Äußerst fraglich ist aber, ob die Verfassungsbeschwerde zum unverzichtbaren Element i m System der „checks and balances" geworden ist. Denn der Zweck des Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG, die wechselseitige Beschränkung und Kontrolle der Gewalten, wird auch ohne die Verfassungsbeschwerde erreicht. Soweit es um die Exekutive geht, bleibt die Kontrolle aufgrund der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG stets gesichert. Soweit es um die Legislative geht, entfällt zwar mit der Rechtssatzverfassungsbeschwerde ein Kontrollmittel. Die richterliche Normenprüfung bleibt aber in vollem Umfang erhalten. Lediglich der Zeitpunkt der Kontrolle wechselt. Soweit schließlich die Bedeutung der Verfassungsbeschwerde darin liegt, daß sie ein Mittel der Selbstkontrolle der dritten Gewalt ist, ist sie von Art. 20 Abs. 2 S. 2 G G nicht geschützt. Die Gewaltenteilung fordert nur eine wechselseitige Kontrolle der Gewalten, kein System der Selbstkontrollen. Die Kontrolle der Kontrolleure mag verfassungspolitisch sinnvoll sein, verfassungsrechtlich ist sie nicht durch Art. 79 Abs. 3 i . V . m . 20 Abs. 2 S. 2 G G garantiert. Da somit die Verfassungsbeschwerde nicht von den speziellen Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips erfaßt ist, stellt sich die Frage, ob sie als Ausprägung des allgemeinen Rechtsstaatsprinzips an der Ewigkeitsgarantie t e i l n i m m t . 1 1 7 Obus BVerfGE 24, 33 (49-51); 45, 297 (334/335); Seifert/Hömig, Art. 19 Rn. 14; Jarass / Pieroth, Art. 19 Rn. 25. 1 !6 Für den Bürger hat diese Form der Rechtssatzprüfung unangenehme Folgen, wenn die Norm sich als verfassungsgemäß erweist. Dann war seine Gesetzesübertretung rechtswidrig mit der Folge, daß er staatliche Sanktionen hinnehmen muß. Dieses Illegalitätsrisiko ist aber nicht unzumutbar. Es besteht bereits heute, wenn die Jahresfrist für die Rechtssatzverfassungsbeschwerde abgelaufen ist. Dann kann die Prüfung des Gesetzes nur mittels Gesetzesübertretung und Urteilsverfassungsbeschwerde erreicht werden. 117 Daß auch das allgemeine Rechtsstaatsprinzip von Art. 79 Abs. 3 GG geschützt ist, wurde oben gezeigt: 2. Teil Β I Nr. 4.

174

4. Teil: Institutionelle Eingriffsgesetze

wohl bereits in der Paulskirchenverfasssung eine Grundrechtsklage vorgesehen war (Art. 126 g R V 1849), 1 1 8 kann die Verfassungsbeschwerde sicher nicht zu den traditionellen Bestandteilen des Rechtsstaatsprinzips gezählt werden. Denn der Parlamentarische Rat lehnte eine Aufnahme der Verfassungsbeschwerde ins Grundgesetz noch ausdrücklich a b . 1 1 9 Denkbar wäre aber, daß die Verfassungsbeschwerde nach Schaffung des Grundgesetzes „ein essentielles Element des modernen deutschen Rechtsstaats" geworden i s t . 1 2 0 Eine nachträgliche Anreicherung des Verfassungskerns ist aber nur anzunehmen, wenn die Verfassungsbeschwerde w i r k l i c h untrennbar mit dem Rechtsstaatsdenken verknüpft ist und zur Beschränkung und Rationalisierung der Macht einen unverzichtbaren Beitrag leistet. Es ist schwer bestreitbar, daß die Verfassungsbeschwerde sich nach dem Zweiten Weltkrieg geradezu zum Kennzeichen des westdeutschen Rechtsstaats entwikkelt hat. I m Gegensatz zum ostdeutschen Zwangsstaat erwies sich die Bundesrepublik gerade dadurch als Rechststaat, daß sie ihren Bürgern den unmittelbaren Zugang zum ranghöchsten Gericht gewährte. Die damit verbundene hohe Wertschätzung der Verfassungsbeschwerde reicht aber ebensowenig wie ihre Aufnahme ins Grundgesetz aus, um eine untrennbare Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip anzunehmen. Die Abschaffungsvorschläge und die noch weit zahlreicheren Reform Vorschläge zeigen, daß die Verfassungsbeschwerde als Rechtsinstitut bislang keine endgültige Gestalt gewonnen hat. Trotz mehrfacher Novellierung ist sie noch immer nicht v ö l l i g „ausgereift". Da die Verfassungsbeschwerde erst wenig mehr als zwanzig Jahre Verfassungsbestandteil ist, kann man sie noch nicht zum unentbehrlichen Bestand des Rechtsstaates zählen. Zudem bestehen i m Falle ihrer Beschränkung oder Streichung Ersatzrechtswege, so daß die Verfassungsbeschwerde auch nicht zur Beschränkung und Rationalisierung der Macht unverzichtbar ist. I m Ergebnis ist daher eine Streichung der Verfassungsbeschwerde durch verfassungsänderndes Gesetz zulässig.

I I . Streichung der abstrakten Normenkontrolle Spätestens seit den 70er Jahren ist auch die abstrakte Normenkontrolle Gegenstand rechtspolitischer Kontroversen. 1 2 1 Damals benutzte die C D U / CSU-Oppo•18 Vgl. Schmidt-Bleibtreu, MSBKU, § 90 Rn. 2. •19 Alberts, Änderungsbefugnisse, S. 125/126; Schmidt-Bleibtreu, MSBKU, §90 Rn. 7. 120 Lechner, BVerfGG, § 90 Anm. 3. •2i Schon vorher gab es kritische Bemerkungen über die vom Einzelfall unabhängige Normenprüfung: Imboden, Normkontrolle, S. 146/147 und Ehmke, Verfassungsinterpretation, S. 66.

Β. Verfahrensarten

175

sition das Mittel der abstrakten Normenkontrolle, um gegen die Politik der SPD / FDP-Regierung vorzugehen. 1 2 2 Dabei gelangen ihr einige spektakuläre Erfolge, was vor allem regierungsnahe Juristen dazu bewegte, die Zweckmäßigkeit der vom Fall losgelösten, abstrakten Normenkontrolle in Frage zu stellen. 1 2 3 Seither wird immer wieder von Wissenschaftlern, 1 2 4 aber auch von Verfassungsrichtern, 1 2 5 die Abschaffung der abstrakten Normenkontrolle gefordert. Gegen die abstrakte Normenkontrolle wird vor allem eingewandt, daß sie eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ermögliche. Die im Parlament unterlegene Partei könne mit nur wenig geänderter Argumentation die Debatte vor dem BVerfG fortsetzen. Dadurch finde eine „Dislozierung" der politischen Auseinandersetzung statt, 1 2 6 die dem Ansehen des Parlaments abträglich und darum „demokratieschädlich" sei. 1 2 7 Da die abstrakte Normenkontrolle v o m konkreten Streitfall losgelöst sei, stünde auch das BVerfG vor einer schweren Lage. Ihm fehle das Fallmaterial und damit das für die Rechtsprechung typische Erfahrungswissen. Das B V e r f G müsse wie der Gesetzgeber mit unsicherem Tatsachenwissen und mit Prognosen operieren. 1 2 8 Es müsse also mehr politisch und weniger juristisch entscheiden als in den anderen Verfahrensarten. Bei der abstrakten Normenkontrolle bestehe daher die Gefahr der Politisierung der Verfassungsjustiz, was der neutralen Stellung des BVerfG abträglich sei. 1 2 9 Demgegenüber hält die meist schweigende Mehrheit der Wissenschaftler an der abstrakten Normenkontrolle fest. 1 3 0 Sie kann darauf hinweisen, daß die abstrakte Normenkontrolle zu den wenigen politisch wirksamen Rechten der Opposition gehört. Die Streichung der abstrakten Normenkontrolle würde also zu einer Schwächung der parlamentarischen Minderheit führen. Die Abschaffung könnte

122

Zum Zusammenhang oben 1. Teil Β I I Nr. 3. Für die Abschaffung plädierten damals: Lamprecht / Melanowski, Richter machen Politik, S. 43; Holtfort, Vorschläge, S. 197; Zweigert / Dietrich, BVerfG, S. 28/29; Klaus Lange, Wie in der Residenz des Rechts die Bonner Politik gestoppt wird, FR vom 8.2.79, S. 15; Werner Birkenmaier, Eine erstaunliche Kompetenzfülle, Das Parlament 1981, H. 39, S. 9. 124 Erstmals: Dolzer, Stellung, S. 114-118; später: Zuck, Stellung, S. 385; Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 391; Landfried, BVerfG und Gesetzgeber, S. 175-178; Rinken, AltK, vor Art. 93 Rn. 132. ^ Hirsch, Verfgbkt, S. 189, Spiegel-Interview 1978, H. 48, S. 49; Simon, HbVerfR, S. 1289. Eine Befragung aller Verfassungsrichter ergab jedoch, daß eine klare Mehrheit gegen die Abschaffung votierte (Landfried, BVerfG und Gesetzgeber, S. 177). 126 Zweigert / Dietrich, BVerfG, S. 28. 127 Holtfort, Vorschläge, S. 197. 128 Simon, HbVerfR, S. 1266. 129 Ähnlich Dolzer, Stellung, S. 117/118. •30 Ausdrücklich für den Erhalt der abstrakten Normenkontrolle: Rasehorn, Residenz, S. 166/167; Klein, in: Benda / Klein, VerfPR, Rn. 689; mit Einschränkungen auch Jekewitz, BVerfG, S. 553/554. 123

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4. Teil: Institutionelle Eingriffsgesetze

zudem zur Folge haben, daß das K l i m a zwischen Regierung und Opposition „neurotisiert und hysterisiert" würde. 1 3 1 Gegen eine Streichung spricht außerdem, daß der demokratische Auftrag der Regierungsmehrheit nur i m Rahmen der Verfassung besteht. Die abstrakte Normenkontrolle ist, so gesehen, lediglich ein M i t t e l zur Überwachung dieser Machtbeschränkung. Durch Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 G G werden die Oppositionsparteien gleichsam als „Wachhunde von Verfassung und Gesetz" eingespannt, 1 3 2 um die Regierungsmehrheit an die grundsätzliche Beschränktheit aller demokratischen Macht zu erinnern. Konsequenterweise ist daher „überhaupt nichts einzuwenden", wenn die Opposition „die verlorene parlamentarische Schlacht . . . korrigieren" will.133 Nicht zuletzt spielt die abstrakte Normenkontrolle auch für den Vorrang der Verfassung eine wichtige Rolle. Ihre Streichung hätte zur Folge, daß „Verfassungsverstöße einstweilen hingenommen werden müßten". I m Bereich der auswärtigen Gewalt würde die Streichung der abstrakten Normenkontrolle unter Umständen sogar dazu führen, daß Verfassungsverletzungen endgültig hingenommen werden müßten. Denn die Überprüfung völkerrechtlicher Vertragsgesetze könnte oft auf keine andere Weise erreicht werden. 1 3 4 In rechtspolitischer Hinsicht ist daher an der abstrakten Normenkontrolle festzuhalten. M i t einer Streichung des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 G G sind letztlich mehr Nachteile als Vorteile verbunden. Zudem fällt der Vorteil einer „Entpolitisierung" der Verfahren solange nicht ins Gewicht, wie das Gericht und die Parteien die Eigenart der rechtlichen, gegenüber der politischen Auseinandersetzung wahren. Bisher hat das BVerfG stets juristisch argumentiert und meistens die Entscheidungsprärogative des Gesetzgebers beachtet. A u c h die Politiker haben bei Gericht überwiegend auf polemische Unterstellungen und parteipolitische Propagandaauftritte verzichtet. Daher ist die Besorgnis einer Politisierung des Gerichts unbegründet, so daß kein Anlaß zur Streichung der abstrakten Normenkontrolle besteht.

7. Streichung

durch einfaches Gesetz

Da die abstrakte Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 G G Verfassungsrang hat, kann sie ebensowenig wie die Verfassungsbeschwerde durch einfaches Gesetz abgeschafft werden. Die schlichte Streichung der §§ 7 6 - 7 9 B V e r f G G ist nach Art. 20 Abs. 3 G G verfassungswidrig. 1 3 5

132 133 134 135

Rasehorn, Residenz, S. 167. Löwer, HbStR II, § 56 Rn. 54. Klein, in: Benda/Klein, VerfPR, Rn. 689. Klein, in: Benda/Klein, VerfPR, Rn. 689. Vgl. oben 2. Teil Β I I Nr. 2.

Β. Verfahrensarten 2. Streichung

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durch Verfassungsänderung

Gegen eine Streichung durch Verfassungsrevision werden nur ganz vereinzelt Bedenken erhoben. 1 3 6 Die überwiegende Meinung sieht in der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 G G kein Hindernis und hält eine Abschaffung durch verfassungsänderndes Gesetz für zulässig. 1 3 7 Die verfassungsrechtlichen Bedenken beruhen darauf, daß die abstrakte Normenkontrolle als Konkretisierung des Prinzips des Vorrangs der Verfassung (Art. 20 Abs. 3 GG) und als Ausfluß des Gewaltenteilungssatzes (Art. 20 Abs. 2 GG) verstanden werden kann. Wenn die abstrakte Normenkontrolle ein wesentlicher Bestandteil dieser Prinzipien ist, steht sie unter der Garantie des Art. 79 Abs. 3 G G und darf nicht ersatzlos gestrichen werden. Prüft man die Abschaffung der abstrakten Normenkontrolle anhand von Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG, so ist zu bedenken, daß das richterliche Prüfungsrecht ein wesentlicher Bestandteil des Gewaltenteilungssystems ist. Die gerichtliche Normenprüfung darf darum nicht gänzlich aufgegeben werden. 1 3 8 Die Streichung der abstrakten Normenkontrolle würde aber nicht zu einem völligen Wegfall des richterlichen Prüfungsrechtes führen, sondern nur zu einer teilweisen Einschränkung. Besonders i m Grundrechtsbereich bliebe die richterliche Normenprüfung durch die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde und der konkreten Normenkontrolle v ö l l i g erhalten. Es würde lediglich zu einer zeitlichen Verzögerung kommen, die für die wechselseitige Kontrolle der Gewalten ohne Bedeutung ist. Auch i m Bereich des Staatsorganisationsrechts bliebe die richterliche Kontrolle größtenteils erhalten. Soweit es um die Beachtung der Gesetzgebungsregeln (Art. 7 0 - 8 2 GG) und die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 GG) geht, fände die Kontrolle über die Richtervorlage und die Kommunalverfassungsbeschwerde statt. I m übrigen würden der Bund-Länder-Streit und die Organklage mehr an Bedeutung gewinnen, weil durch sie die grundgesetzliche Kompetenzenordnung eingeklagt werden kann. Richtig ist allerdings der Hinweis, daß die Kontrolle der auswärtigen Gewalt teilweise entfallen würde. Gegen ein Vertragsgesetz könnte zwar immer noch mit dem Einwand geklagt werden, daß es Länderrechte verletze (Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG). Soweit es aber um die Verletzung reiner Staatsziele geht (Friedensgebot, Einheitswahrungsgebot, europäische Integration), wäre die richterliche Überprüfung von Gesetzen nicht mehr m ö g l i c h . 1 3 9 136 Schenke, Überprüfung, S. 1322. 137 Rinken, AltK, vor Art. 93 Rn. 132; Bryde, vMü, Art. 79 Rn. 45, Verfassungsentwicklung, S. 391; Säcker, Rechtsmacht, S. 198, BVerfG, S. 56; Klein, KudW III, S. 586. Alle anderen Befürworter der Abschaffung gehen wohl stillschweigend von der Zulässigkeit der Streichung aus. 138 Ausführliche Begründung oben 4. Teil A IV Nr. 2. 12 Häußler

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4. Teil: Institutionelle Eingriffsgesetze

Damit stellt sich die Frage, ob der Grundsatz der Gewaltenteilung eine liikkenlose Aufrechterhaltung des richterlichen Prüfungsrechtes fordert. Ein wichtiges Indiz dagegen liefert das in Art. 93 G G enthaltene Enumerationsprinzip. Da das Grundgesetz keine Allzuständigkeit des BVerfG kennt, sondern nur die Einzelzuweisung von Kontrollbefugnissen, ist eine lückenlose Kontrolle durch das Verfassungsgericht und die rechtsprechende Gewalt nicht geboten. Unter dem Gesichtspunkt der Kontrolle der Staatsgewalten besteht zudem i m Bereich der auswärtigen Gewalt ein gewisser Ersatz: das Prüfungsrecht des Bundespräsidenten. Es handelt sich zwar nicht um eine richterliche, aber um eine weitgehend unabhängige Kontrolle. Zwar wäre der Bundespräsident bei einem völligen Wegfall des richterlichen Prüfungsrechts der Kontrollaufgabe nicht gewachsen. 1 4 0 Sofern die richterliche Kontrolle aber nur in sehr geringem Umfang wegfällt und noch dazu im Fachbereich des Bundespräsidenten, der auswärtigen Gewalt, kann sein Prüfungsrecht als ausreichender Ersatz angesehen werden. 1 4 1 Daher ist das Gewaltenteilungsprinzip in diesem Fall nicht verletzt. A u c h das Prinzip des Vorrangs der Verfassung steht einer Streichung nicht entgegen. Art. 20 Abs. 3 G G fordert zwar eine lückenlose Kontrolle staatlichen Handelns in bezug auf seine Vereinbarkeit mit der Verfassung. Diese Kontrolle muß aber nicht notwendig durch Gerichte erfolgen. 1 4 2 Daher genügt auch für Art. 20 Abs. 3 G G die präsidiale Prüfung. Die Abschaffung der abstrakten Normenkontrolle widerspricht somit keinem der von Art. 79 Abs. 3 G G geschützten Grundsätze. Die Streichung des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 G G durch verfassungsänderndes Gesetz ist zulässig.

C. Richterwahl mit Beiräten oder einfachen Mehrheiten In den 50er Jahren hat die Regierung Adenauer versucht, durch eine Änderung des Wahlmodus mehr Einfluß auf das B V e r f G zu gewinnen. Dabei wurde zunächst die Richterwahl mit einfacher Mehrheit diskutiert (1955), dann die Einschaltung eines Beirats (1956). Es ist aber dem Bundesrat und der Opposition gelungen, die geplante Reform auf politischen Wege zu entschärfen, so daß am Ende keine gravierende Änderung des Richterwahlrechts beschlossen w u r d e . 1 4 3

139 Zutreffend: Klein, in: Benda /Klein, VerfPR, Rn. 689. 140 Siehe oben 4. Teil A I Nr. 3 b. 141 Auch Maunz-Dürig, MDHS, Art 79 Rn. 48 halten den Abbau des richterlichen Prüfungsrechts zugunsten von politischen Letztentscheidungrechten für zulässig. 142 Ausführliche Begründung oben 4. Teil A I Nr. 4. 143 Ausführlich zum Ganzen oben 1. Teil A III.

C. Richterwahlrecht

179

I . Die W a h l mit einfacher Mehrheit Die Notwendigkeit einer Reform wurde damit begründet, daß es bei der Wahl mit qualifizierten Mehrheiten zu langen Verzögerungen kommen kann. Qualifizierte Mehrheiten machen die Zustimmung aller größeren Parteien notwendig. Daher hat es jede größere Partei in der Hand, die Richterwahlen zu verzögern oder zu blockieren. Es kann vorkommen, daß sich Regierung und Opposition lange Zeit nicht auf einen Kandidaten verständigen können. Anfang der 50er Jahre blieb eine Stelle sogar mehr als zwei Jahre vakant. 1 4 4 Die Regierungsvorlage beseitigte diese Gefahr, indem sie es i m ersten Wahlgang bei den alten Mehrheiten beließ, i m zweiten Wahlgang aber die einfache Mehrheit einführte. Der Vorschlag galt für die Wahl i m Bundesrat ebenso wie für die Wahl i m Bundestag. Die Richterwahl erfolgt i m Bundestag durch einen Zwölferausschuß. Damals mußten nach § 6 Abs. 4 BVerfGG stets neun von z w ö l f Abgeordneten für die Wahl eines Richters stimmen. Der v o m Kabinett vorgeschlagene Satz 2 sollte das ändern: „Kommt im ersten Wahlgang keine Wahl zustande, so findet unverzüglich ein weiterer Wahlgang statt, in dem gewählt ist, wer mindestens sieben Stimmen auf sich vereinigt." Die Wahl i m Bundesrat erfolgt nach § 7 B V e r f G G durch das Plenum. Vorgeschrieben ist eine Zweidrittelmehrheit. § 7 B V e r f G G sollte nun durch den Satz ergänzt werden: „Kommt im ersten Wahlgang keine Wahl zustande, so findet unverzüglich ein weiterer Wahlgang statt, in dem gewählt ist, wer mindestens die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigt." 145

7. Die rechtspolitische

Diskussion

Der Kabinettsvorlage war politisch kein großer Erfolg beschieden. Nicht nur die Opposition, sondern auch das B V e r f G und der Bundesrat lehnten die Regelung ab. Denn es war klar, daß der erste Wahlgang von vornherein i m Schatten des zweiten Wahlgangs stehen würde. Die jeweilige Mehrheit könnte ihre Kandidaten gegen den W i l l e n der Opposition durchsetzen, so daß das B V e r f G nicht mehr pluralistisch, sondern einseitig besetzt wäre. Das hielten auch die meisten A b geordneten der Regierungsparteien nicht für sinnvoll. Daher konnte der Rechtsausschuß des Bundestages den Kabinettsentwurf rasch beiseite legen. 1 4 6 144 Zur Vakanz oben 1. Teil A III, zu Wahlverschleppung und Wahlboykott unten 5. Teil B. 145 BT-Drs. II, Nr. 1662, S. 2 (Begründung: S. 5). 146 Der Abg. Gille (GB / BHE) erklärte sogar, der Rechtsausschuß habe „keine fünf Minuten" auf den Vorschlag verwendet (BT-Prot. I I S. 7960).

12*

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4. Teil: Institutionelle Eingriffsgesetze

In der wissenschaftlichen Diskussion fand der Vorschlag mit Recht wenig A n k l a n g . 1 4 7 Denn die Nachteile des Entwurfs überwiegen. Er löst zwar das Problem der Wahlverschleppung, weil die Regierung die Wahl ihrer eigenen Kandidaten kaum hinauszögern wird. Das Vertrauen der Opposition und der ihr nahestehenden gesellschaftlichen Gruppen in die Neutralität des Gerichts wird aber untergraben. Darunter kann die Akzeptanz der gerichtlichen Entscheidungen leiden. Daher schadet es der Integrationsfunktion des BVerfG, wenn seine Richter allein von der Regierungsmehrheit bestimmt werden.

2. Die verfassungsrechtliche

Diskussion

I m Bundestag ging nicht nur die Regierung sondern auch die Opposition von der Verfassungsmäßigkeit des Vorschlags aus. Der Abg. Weber (CDU) berief sich ausdrücklich auf die Legalität der Maßnahme und die Abg. Bucher (FDP) und Greve (SPD) räumten dies als Kritiker des Entwurfs ohne weiteres e i n . 1 4 8 Sie griffen nur die politische Legitimität der Reform an. Demzufolge war die Verfassungsmäßigkeit des Entwurfes in den 50er Jahren unbestritten. In der wissenschaftlichen Diskussion sind explizite Stellungnahmen selten. Die überwiegende Mehrheit geht von der Zulässigkeit einfacher Wahlmehrheiten aus. Teilweise geschieht dies stillschweigend, 1 4 9 teilweise w i r d lediglich darauf hingewiesen, daß die § 6, 7 BVerfGG einfaches Recht darstellen und damit von der parlamentarischen Mehrheit abgeändert werden können. 1 5 0 Teilweise wird ausdrücklich die Zulässigkeit einfacher Wahlmehrheiten betont. 1 5 1 Es gibt seit den 60er Jahren aber auch einige Stimmen, die eine Richterwahl mit einfacher Mehrheit für verfassungswidrig 1 5 2 oder für verfassungsrechtlich bedenklich halten. 1 5 3

147

In rechtspolitischer Hinsicht sind gegen den Vorschlag: Bachof, Richterliche Kontrollfunktion, S. 45, Leibholz, Strukturprobleme, S. 182, Laufer, Politischer Prozeß, S. 175/178, Billing, Richterwahl, S. 297-299; Bahlmann, Mitwirkung, S. 288/289, Eichborn, Wahl, S. 59-61, Alberts, Änderungsbefugnisse, S. 143, Klein, MSBKU, § 5 Rn. 4 und § 6 Rn. 14-16, Dopatka, Umwelt, S. 43, Schiaich, BVerfG, Rn. 42/43, Geck, Amtsrecht, S. 26 sowie Benda, in: Benda/Klein, VerfPR, Rn. 87/88. Lediglich Willms, Kunstvolles Gleichgewicht, S. 1209/1210 verteidigt ihn. us BT-Prot. II: Weber (CDU), S. 5943; Bucher (FDP), S. 5934; Greve (SPD), S. 7950; ähnlich JMin Neumayer (FDP), S. 5931. • 4 9 Rinck, Reform, S. 16; Leibholz, Strukturprobleme, S. 182; Dopatka, Umwelt, S. 43; Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 145; Geck, Amtsrecht, S. 26. •so Laufer, Politischer Prozeß, S. 170; Schiaich, BVerfG, Rn. 36. •5i Bachof, Richterliche Kontrollfunktion, S. 45; Stern, BoK, Art. 94 Rn. 64; Hamann / Lenz, Art. 94 Anm. 3; Billing, Richterwahl, S. 297; Alberts, Änderungsbefugnisse, S. 143 Fn. 6; Engelmann, Prozeßgrundsätze, S. 137 Fn. 91; Gusy, Wahlorgan, Rn. 22; ebenso für die Landesverfassungsgerichte: Knöpfle, Richterbank, S. 254/255. •52 Schreiber, Reaktionen, S. 83/84; Eichborn, Wahl, S. 64-100. 153 Meyer, vMü, Art. 94 Rn. 19; Benda, in: Benda/Klein, VerfPR, Rn. 87/88.

C. Richterwahlrecht

181

Die rechtliche Unsicherheit zeigte sich deutlich, als 1973 die C D U / C S U — Opposition i m Bundestag den Antrag einbrachte, das Zweidrittelquorum i m Grundgesetz zu verankern. 1 5 4 Die Union hatte es wohl noch in unangenehmer Erinnerung, daß bei den letzten Richterwahlen mit einer Änderung des Wahlmodus gedroht worden w a r . 1 5 5 Jedenfalls hielt sie die Einführung einfacher Wahlmehrheiten für rechtlich zulässig, ein Standpunkt, von dem bei der Bundestagsdebatte am 8.11.73 alle Redner ausgingen. 1 5 6 Dem hielt Ministerialdirektor Bahlmann in einem Aufsatz entgegen, einer besonderen Absicherung des Richterwahlverfahrens bedürfe es nicht. Erstens werde i m Justizministerium keine Reform des Wahlverfahrens geplant und zweitens lasse die Verfassung ohnedies keine Richterwahl mit einfacher Mehrheit zu. Die Reformpläne der 50er Jahre seien verfassungswidrig. 1 5 7 Prüft man den damaligen Reformvorschlag auf seine Verfassungsmäßigkeit, so bildet Art. 94 Abs. 2 S. 1 GG den Ausgangspunkt. Darauf basiert die Zuständigkeit des Bundesgesetzgebers. Die Wahl der Richter ist eine Frage der „Verfassung" des Gerichts, so daß der einfache Gesetzgeber das Richterwahlverfahren ausgestalten darf. 1 5 8 Sein Regelungsauftrag findet nur dort seine Grenzen, wo die Verfassung selbst Richtlinien vorgibt. Vorab ist in formeller Hinsicht zu klären, welche verfahrensrechtliche Schranken der Gesetzgeber bei der Änderung der Wahl Vorschriften beachten muß. Es ist nämlich die These aufgestellt worden, die §§ 6 Abs. 5, 7 B V e r f G G könnten nicht mit der einfachen Mehrheit des Bundestages geändert werden. Die Änderung des Richterwahlrechts müsse von mindestens zwei Dritteln der Abgeordneten beschlossen werden. Diese „erhöhte Bestandsgarantie" beruhe auf einer Selbstbindung des Gesetzgebers. Die Richterwahlregeln seien 1951 mit einer überwältigenden Mehrheit vom Bundestag verabschiedet worden und zielten auf eine Beschränkung der einfachen Parlamentsmehrheit ab. Diesen Zweck könne das Zweidrittelwahlrecht nicht erreichen, wenn es zuerst durch die einfache Mehrheit geändert werden dürfe und wenn danach die einfache Mehrheit ihre Wunschrichter bestimmen k ö n n e . 1 5 9 154 BT-Drs. VII, Nr. 1064, S. 2. Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG sollte folgende Fassung erhalten: „Die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts werden je zur Hälfte vom Bundestage und vom Bundesrate mit Zweidrittelmehrheit gewählt." 155 FAZ vom 23.4.71 S. 8; Kommers, Politics, S. 140; Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 145. 156 BT-Prot. V I I S. 3788-3793. Für die CDU begründete Carl Otto Lenz die Initiative, wobei er nur auf einen Artikel im Vorwärts vom 2.8.73 anspielte. Die Redner der Regierungskoalition — JMin Jahn (SPD), die Abg. Stienen (SPD) und Kleinert (FDP) — lehnten den Entwurf mit dem Argument ab, es bestehe kein Handlungsbedarf. Das Votum der Enquete-Kommission Verfassungsreform könne abgewartet werden. 157 Bahlmann, Mitwirkung, S. 288/289. Damit verhalf er den Regierungsparteien zu einer plausibleren Begründung für ihre ablehnende Haltung. Im Rechtsausschuß kam die Initiative erst 1976 auf die Tagesordnung, wurde mehrfach vertagt (Ra-Prot. VII, 101. Stzg, S. 86; 102. Stzg, S. 29-31) und scheiterte dann am Diskontinuitätsprinzip. 158 Stern, BoK, Art. 94 Rn. 112/114; Maunz, MSBKU, Vorb. Rn. 33.

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4. Teil: Institutionelle Eingriffsgesetze

Diese Theorie schafft i m Ergebnis eine neue Kategorie von Gesetzen. Neben einfachem Recht und Verfassungsnorm soll es das Gesetz mit „erhöhter Bestandsgarantie" geben. Es zählt zwar formell nicht zur Verfassung, ist aber seinem Wesen nach wie ein Verfassungsartikel nur mit Zweidrittelmehrheit zu ändern. Diese dritte Art von Gesetzen gibt es nicht. Die Regelungen des Gesetzgebungsverfahrens lassen keine Regelungslücke erkennen. 1 6 0 W i l l der Gesetzgeber eine Regel der Dispositionsfreiheit der einfachen Parlamentsmehrheit entziehen, so hat er allein das M i t t e l der Verfassungsergänzung. Wie Art. 79 Abs. 1 S. 1 G G klarstellt, kann dies nur durch einen ausdrücklichen Entschließungsakt geschehen. Ansonsten läge eine Verfassungsdurchbrechung v o r . 1 6 1 Die Richterwahlregeln sind auch nicht dadurch in besonderer Weise geschützt, daß ihre Änderung der Zustimmung des Bundesrats bedürfte. Zwar hat der Bundesrat bei der Wahlrechtsnovelle 1956 erklärt, die Reform bedürfe seiner Z u s t i m m u n g . 1 6 2 Dies findet in Art. 77 Abs. 3 G G jedoch keine Stütze. Denn der Bundesrat hat grundsätzlich nur ein Einspruchsrecht, sofern nicht ausnahmsweise ein Zustimmungserfordernis festgelegt ist. Das Zustimmungserfordernis kann aber weder aus Art. 84 Abs. 1 GG hergeleitet werden noch aus Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG. Soweit die Landesregierungen i m Bundesrat an Richterwahlen mitwirken, liegt ein Gesetzesvollzug durch den Bundesrat vor, nicht durch die Länder. Der Bundesrat wird als Bundesorgan tätig, so daß Art. 84 Abs. 1 G G keine Anwendung finden k a n n . 1 6 3 Das Wahlrecht des Bundesrates ist auch nach dem Wortlaut des Art. 94 Abs. 1 S. 2 G G nicht durch ein Zustimmungserfordernis geschützt. A u c h der Zweck der N o r m macht keine Zustimmung nötig. Denn zum Schutz der Wahlbeteiligung des Bundesrates gibt es andere Wege. W i r d sein Wahlrecht in Frage gestellt, hat der Bundesrat das M i t t e l der Organklage. Bei Wahlrechtsnovellen ist er außerdem durch das Normenprüfungsrecht des Bundespräsidenten geschützt. Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß 1951 das ganze BVerfGG mit der Einleitungsformel für Einspruchsgesetze ergangen i s t . 1 6 4 In materieller Hinsicht stellt sich die Frage, ob das Grundgesetz selbst die Wahlmehrheiten festgelegt hat. Dabei kann Art. 94 Abs. 1 S. 2 G G keine Entscheidung für qualifizierte Mehrheiten entnommen werden. Sein Wortlaut regelt die Frage nicht und die Entstehungsgeschichte ist unergiebig. Historisch falsch ist die Ansicht, den „Vätern des Grundgesetzes" sei das Erfordernis erhöhter Mehrheiten „so selbstverständlich" gewesen, „daß es hierüber nur eine allseitige 159 Eichborn, Wahl, S. 63-65. 160 Daher geht die umfängliche Begründung Eichborns, Wahl, S. 66-100 fehl. 161 Im Ergebnis ebenso: Alberts, Änderungsbefugnisse, S. 143 Fn. 6; Engelmann, Prozeßgrundsätze, S. 137 Fn. 91. 162 BR-Prot. 1956 S. 226; BT-Drs. II, Nr. 2579, S. 1. 163 Nähere Begründung oben 2. Teil Β I I Nr. 1. 164 Geiger, BVerfGG, Einleitungsformel Anm. 3. Eingehend oben 2. Teil Β I I Nr. 1.

C. Richterwahlrecht

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Bekräftigung des übereinstimmenden Standpunktes g a b / 4 1 6 5 Denn die Frage der Wahlmehrheiten ist weder in Herrenchiemsee noch i m Parlamentarischen Rat diskutiert w o r d e n . 1 6 6 V i e l eher läßt sich die These halten, daß das Grundgesetz die Wahl mit einfachen Mehrheiten i m Auge hatte. 1 6 7 Da Art. 94 Abs. 1 S. 2 G G die Wahl durch Bundesrat und Bundestag vorsieht, könnten die allgemein für Bundesrat und Bundestag geltenden Abstimmungsregeln der Art. 42 Abs. 2 S. 1, 52 Abs. 3 G G gelten. Danach ist grundsätzlich die einfache Mehrheit ausreichend. Die generelle Anwendbarkeit dieser Abstimmungsregeln ist schwer bestreitbar. Denn unter Beschlüssen versteht man bei Art. 42 Abs. 2 S. 1 G G 1 6 8 ebenso wie bei Art. 52 Abs. 3 G G 1 6 9 alle parlamentarischen Entscheidungsakte, ganz gleich ob es sich um Sachfragen (Gesetze) oder um Personalfragen (Wahlen) handelt. Bei der Richterwahl i m Bundestag wird die Anwendbarkeit des Art. 42 Abs. 2 S. 1 G G aus einem anderen Grunde bezweifelt. Die Vorschrift gelte nur für Plenumsbeschlüsse. Der Bundestag wählt die Richter aber indirekt i m Richterwahlausschuß. 1 7 0 Es kann jedoch offen bleiben, ob das Mehrheitsprinzip des Art. 42 Abs. 2 G G für alle Ausschüsse gilt. Denn der Richterwahlausschuß entscheidet als beschließender Ausschuß an Stelle des Plenums. In diesem Fall ist der Ausschuß nach außen der Bundestag und muß daher auch als der Bundestag i. S. d. Art. 42 Abs. 2 G G gelten. Ansonsten könnte das Mehrheitsprinzip durch Delegation unterlaufen werden. Geht man von der generellen Anwendbarkeit der Art. 42 Abs. 2, 52 Abs. 3 GG für die Richterwahlen aus, 1 7 1 so spricht bereits Vieles für die Verfassungsmä165

Bahlmann, Mitwirkung, S. 288 (ohne Nachweis). 166 Keine Erwähnung in Art. 100 des Entwurfs von Herrenchiemsee (Buchner, Herrenchiemsee, S. 554/555/600) oder in der einschlägigen Spezialstudie von Säcker (Herrenchiemsee S. 274-277). Ebenfalls keine Erwähnung im Parlamentarischen Rat (vgl. Doemming, Entstehungsgeschichte, S. 682-689). Zum selben historischen Befund kommen Stern, StR II, S. 336-338, Gusy, Wahlorgan, Rn. 22 und Eichborn, Wahl, S. 11. 167 Art. 100 Herrenchiemsee-Entwurf sah für die Wahl von Präsident und Vizepräsident einen Verweis auf das Wahlrecht des Bundespräsidenten (Art. 75) und damit letztlich einfache Mehrheiten vor. Der Passus wurde im Parlamentarischen Rat erst geändert, dann gestrichen (Doemming, Entstehungsgeschichte, S. 684/689). 168 In der Kommentarliteratur zu Art. 42 GG wird die Abstimmung nach Art. 94 GG ausdrücklich aufgeführt: Klein, vMK, Art. 42 IV Nr. 2; Versteyl, vMü, Art. 42 Rn. 16; Achterberg / Schulte, vMK, 3. Aufl., Art. 42 Rn. 30. 169 in der Kommentarliteratur zu Art. 52 GG wird die Abstimmung nach Art. 94 GG nicht ausdrücklich erwähnt. Daß Wahlen im allgemeinen Beschlüsse i.S.d. Art. 52 GG sind, bestätigen: Maunz, MDHS, Art. 52 Rn. 24; Hendrichs, vMü, Art. 52 Rn. 6; Blumenwitz, BoK, Art. 52 Rn. 14. 170 Kröger, Richterwahl, S. 92; Gusy, Wahlorgan, Rn. 12 Fn. 28. Für diese Meinung spricht die Parallele zu Art. 42 Abs. 1 GG. Der Bundestag i.S. dieser Vorschrift ist das Plenum. Nur für das Plenum gilt das Öffentlichkeitsprinzip, nicht für die Ausschüsse (Achterberg / Schulte, vMK, 3. Aufl., Art. 42 Rn. 10). Allerdings können gleichlautende Begriffe je nach Sinnzusammenhang unterschiedlich gebraucht werden.

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4. Teil: Institutionelle Eingriffsgesetze

ßigkeit der einfachen Wahlmehrheit. M a n muß sogar die Frage stellen, ob der Gesetzgeber überhaupt das Wahlquorum erhöhen durfte. 1 7 2 Dabei sind Bundesrat und Bundestag getrennt zu behandeln. Bei den Wahlen i m Bundestag scheint der Wortlaut des Art. 42 Abs. 2 S. 2 G G eine Abweichung nur durch die Geschäftsordnung zuzulassen. Der Verfassungsgeber ging bei der Formulierung dieser Ausnahme ersichtlich davon aus, daß die Abstimmungsmehrheit i m Bundestag stets ein reines „Internum" sei. Der Fall, daß eine Wahl Außenwirkung hat und darum gesetzlich geregelt wird, wurde nicht bedacht. Die Regelungslücke läßt sich aber einfach schließen. Wenn bereits die rangniedrige Geschäftsordnung ein erhöhtes Quorum festlegen kann, dann muß dies erst recht dem ranghöheren Gesetz möglich sein. 1 7 3 Das Gesetz regelt außerdem inhaltlich eine Frage, die für die Geschäftsgang des Bundestages relevant i s t . 1 7 4 Die Abweichung von der Regel der absoluten Mehrheit ist auch i m Bundesrat erlaubt. Zwar läßt Art. 52 Abs. 3 S. 1 GG keine Ausnahmen zu. Er schreibt aber inhaltlich nur vor, daß „mindestens" die absolute Mehrheit erreicht wird. Es liegt also nahe, daß höhere Mehrheiten festgesetzt werden dürfen. Etwas anderes kann nur gelten, wenn man das Wort „mindestens" als „entbehrlichen Hinweis" wertet, „daß tatsächlich auch höhere Mehrheiten zustande kommen k ö n n e n " . 1 7 5 Indessen sind Rechtsnormen stets so auszulegen, daß ihre Teilaussagen eine eigenständige rechtliche Bedeutung haben. Es streitet eine Vermutung dafür, daß der Verfassungsgeber keine überflüssigen Textfloskeln aufnimmt. Das Wörtchen „mindestens" läßt es also zu, daß der einfache Gesetzgeber in § 7 B V e r f G G ein erhöhtes Quorum festsetzt. 1 7 6 Geht man mit der Staatspraxis davon aus, daß der einfache Gesetzgeber qualifizierte Mehrheiten festsetzen kann, so ist damit nicht gesagt, daß er die Zweidrittelmehrheit beibehalten muß. Für das Erfordernis qualifizierter Mehrheiten sind in materieller Hinsicht zwei Gründe angeführt worden. 171

Ebenso: Eichborn, Wahl, S. 15/16; Kreuzer, Zuständigkeitsübertragungen, S. 195. Überwiegend bleiben die Art. 42, 52 GG unerwähnt. •72 Willms, Kunstvolles Gleichgewicht, S. 1209/1210 lehnt lehnt das ab und kommt zur Verfassungswidrigkeit des Zweidrittelerfordernisses (zweifelnd Kreuzer, Zuständigkeitsübertragungen, S. 195). 173 Grundlegend Eichborn, Wahl, S. 15/16. •74 Das verletzt nicht die Geschäftsordnungsautonomie nach Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG (Gusy, Wahlorgan, Rn. 8). Denn es liegt eine Gemengelage vor. Die Abstimmungsmehrheit betrifft gleichzeitig Richterwahl und innerparlamentarischen Geschäftsgang. Der Bundestag kann in dieser Situation die Rechtsform wählen. Für das Gesetz sprechen sachliche Gründe. Ein zu starker Einfluß anderer Hoheitsträger ist nicht zu befürchten, da das BVerfGG als Einspruchsgesetz ergeht. Daher ist Art. 40 GG nicht verletzt. Ebenso zum ähnlichen Fall der Geheimdienstkontrollausschüsse BVerfGE 70, 324 (360-362). •75 Maunz, MDHS, Art. 52 Rn. 22; Hendrichs, vMü, Art. 52 Rn. 6. •76 Ausdrückliche Stellungnahmen gibt es dazu wenig: Für die Verfassungsmäßigkeit bereits Thoma, in: Leibholz, Materialien, S. 188; später Eichborn, Wahl, S. 55.

C. Richterwahlrecht

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A n erster Stelle ist auf die Funktion des Gerichts abgestellt worden. Das BVerfG sei der „Hüter der Rechte der Schwachen und der Minderheit". Diese „seine wichtigste Funktion" könne es nur erfüllen „bei einer unter Einschluß der Minderheit erfolgenden W a h l . " 1 7 7 Nach dieser Ansicht ist also das Funktionieren der Verfassungsgerichtsbarkeit in Frage gestellt, wenn von der qualifizierten Wahlmehrheit abgewichen wird. Die Funktionsfähigkeit des BVerfG genießt aber Verfassungsrang. Denn der Verfassungsgeber hat mit den Art. 93, 94 GG ein Gericht schaffen wollen, daß seinen Aufgaben gewachsen ist. Der Gedanke der Funktionsfähigkeit ist für das Notstandsrecht in Art. 116g G G ausdrücklich formuliert und es besteht Einigkeit darüber, daß das Funktionieren der Verfassungsgerichtsbarkeit auch außerhalb von Krisenzeiten gewährleistet sein m u ß . 1 7 8 Daher bedarf es in personeller Hinsicht bei der Wahl der Richter einer „funktionsadäquaten Auslese". 1 7 9 Die Personalauswahl muß so geregelt werden, daß das B V e r f G seine Aufgaben erfüllen kann. Diese verfassungsrechtliche Forderung gewinnt aber nur Gehalt, wenn man die Funktion des BVerfG klar bestimmt. Der Hinweis auf den Minderheitenschutz ist zumindest ungenau. Die Funktion des BVerfG besteht in der Sicherung des Vorrangs der Verfassung (Art. 20 Abs. 3 GG). Dabei sorgt es für die Einhaltung und Auslegung des Grundgesetzes durch ein gerichtsförmig ausgestaltetes Verfahren (Art. 92, 93 GG). Der Schutz von Minderheiten oder der Schutz der Opposition ist nur insoweit Sache des Gerichts, als es um Grundrechte oder andere verfassungsrechtlich geschützte Positionen geht. W e i l das Gericht kein Anwalt bestimmter Gruppen oder Interessen ist, müssen seine Richter auch nicht so ausgewählt werden, daß sie die Zustimmung dieser Minderheiten finden. 1 8 0 Vielmehr ist das B V e r f G ausschließlich der „Hüter der Verfassung". 1 8 1 Das Prinzip funktionsgerechter Auswahl fordert daher in erster Linie die Verfassungstreue der Richter. 1 8 2 Es verbietet in negativer Hinsicht die Ernennung von Richtern, die innerlich die freiheitlich demokratische Grundordnung ablehnen. Der Grundsatz funktionsadäquater Auslese verlangt in positiver Hinsicht die Bereitschaft des Verfassungsrichters, bei seiner amtlichen Tätigkeit den Inhalt der Verfassung über seine parteipolitische Überzeugung zu stellen. 1 8 3 177 Β ahlmann, Mitwirkung, S. 288/289. 178 Näher oben 2. Teil Β I I Nr. 2; ebenso Billing, Richterwahl S. 110/111. 179 Billing, Richterwahl, S. 111-113. Für die Richterwahl nach Art. 98 Abs. 4 GG fordert Böckenförde, Verfassungsfragen, S. 86 gleichfalls eine funktionsgerechte Auswahl. 180 Ebenso Benda, in: Benda/Klein, VerfPR, Rn. 88. 181 BVerfGE 6, 300 (304). 182 Diese Ableitung trifft Billing, Richterwahl, S. 111-113 nicht. Weil die Mitglieder des BVerfG einen Sonderstatus genießen (Leibholz / Rupprecht, BVerfGG, § 3 Rn. 2), gilt das nicht schon nach Art. 98 Abs. 2 GG. Die Forderung ist allerdings im einfachen Recht in §§ 11 Abs. 1, 103, 105 BVerfGG konkretisiert und entspricht dem Ethos der Verfassungsrichter (Geiger, Recht und Politik, S. 19/20).

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4. Teil: Institutionelle Eingriffsgesetze

Insofern bestehen zumindest theoretisch Gefahren, wenn die Richter allein von einer Mehrheitspartei bestimmt werden. Denn die Mehrheitsfraktion hat es in der Hand, ihre linientreuesten Gefolgsleute ins A m t zu rufen und das Gericht parteipolitisch zu „unterwandern". V o n einem derartigen Mißbrauch des Mehrheitsrechts kann aber in der Praxis nicht ohne weiteres ausgegangen werden. Solange die Mehrheitspartei grundsätzlich auf dem Boden der Verfassung steht, spricht sogar eine gewisse Vermutung dafür, daß sie aus ihren Reihen Personen auswählt, die sich dem Grundgesetz in besonderer Weise verpflichtet wissen. Da i m Einzelfall bei der Ernennungsprüfung des Bundespräsidenten nach § 10 BVerfGG eine Korrektur möglich i s t , 1 8 4 kann man nicht davon ausgehen, daß die Wahl mit einfacher Mehrheit das Prinzip funktionsgerechter Auslese verletzt. A n zweiter Stelle wurde vorgebracht, die Einführung einfacher Mehrheiten taste die richterliche Unabhängigkeit an und verletze das Gebot richterlicher Neutralität. Zwar lasse es sich nicht ausschließen, daß ein „ursprünglich in seinem Denken von seinem Wahlorgan abhängiger Richter in wahre richterliche Denkweise und Haltung hineinwächst". Die Wahl mit einfacher Mehrheit bringe aber in aller Regel eine erhebliche Gefährdung, „nicht selten auch eine realisierte Abhängigkeit". Art. 97 Abs. 1 G G verbiete aber nicht nur die „aktuelle Abhängigkeit" des Richters, sondern jede Einflußnahme, die zu einer „potentiellen Abhängigkeit" führe. 1 8 5 Dabei wird allerdings übersehen, daß die in Art. 97 Abs. 1 G G garantierte Unabhängigkeit allein die Amtsführung schützt. Eine Unabhängigkeit bei der Amtsverleihung kann es nicht geben. Denn auch die Verfassungsrichter bedürfen der demokratischen L e g i t i m a t i o n . 1 8 6 Daher können Wahlrechtsregeln in die richterliche Unabhängigkeit nur dann eingreifen, wenn sie geeignet sind, auf die Amtsführung einzuwirken. 1 8 7 Ob der Wahlmodus in gefährlicher Weise auf die

183 Man wird parallel zu Art. 33 Abs. 2 GG auch in anderer Hinsicht ein Mindestmaß an Eignung und Befähigung fordern müssen. Es ist zwar in erster Linie Sache des Gesetzgebers, nach Art. 94 Abs. 2 S. 1 GG das Gebot der funktionsadäquaten Auslese auszugestalten (vgl. § 3 BVerfGG). Soweit dies nicht geschehen ist, hat der BPräs nach Art. 60 GG, § 10 BVerfGG das Recht, das Gebot im Einzelfall zu konkretisieren. Daher darf er z.B. die Ernennung eines Richters ablehnen, wenn sich herausstellt, daß der Kandidat unheilbar krank ist. 184 Das Prüfungsrecht des BPräs bei der Ernennung der Richter des BVerfG ist allerdings umstritten. Folgt man der Status-Denkschrift (JÖR 6, S. 147), so ergibt sich das Ernennungsrecht des BPräs nicht aus Art. 60 GG, sondern aus § 10 BVerfGG (Stern, BoK, Art. 94 Rn. 35; Hemmrich, vMü, Art. 60 Rn. 6; a. A. Klein, MSBKU, § 10 Rn. 2; Geck, HbStR, § 55 Rn. 12). Der BPräs hat dabei alle rechtlichen Voraussetzungen zu prüfen (materielles Prüfungsrecht: Stern, BoK, Art. 94 Rn. 38-42; Hemmrich, vMü, Art. 60 Rn. 14), nicht nur das Wahlverfahren (formelles Prüfungsrecht, so aber: Klein, MSBKU, § 10 Rn. 2; Schmidt-Bleibtreu / Klein, Art. 60 Rn. 4; differenzierend: Geck, HbStR, § 55 Rn. 12). 185 Schreiber, Reaktionen, S. 83/84. 186 Benda, in: Benda/Klein, VerfPR, Rn. 86; Billing, Richterwahl, S. 93-100.

C. Richterwahlrecht

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Amtstätigkeit „durchschlägt", ist nicht in erster Linie eine Frage der Wahlmehrheiten. Vielmehr ist die Möglichkeit der Wiederwahl und die Dauer der Amtsübertragung mindestens ebenso entscheidend. Würden die Verfassungsrichter stets nur auf ein Jahr bei Möglichkeit der Amtsverlängerung gewählt, dann wäre die Gefahr persönlicher Abhängigkeit evident. Hingegen ist bei einer zwölfjährigen Amtsperiode ohne Möglichkeit der Wiederwahl ( § 4 Abs. 1 und 4 BVerfGG) nicht anzunehmen, daß durch eine Änderung der Wahlmehrheiten die Unabhängigkeit der Amtsführung in Gefahr gerät. Hat die einfache Mehrheit einen Richter gewählt, so endet damit ihre Einflußmöglichkeit. Sie kann es nicht sanktionieren, wenn der Richter mißliebige Urteile fällt oder aus der Regierungspartei austritt. 1 8 8 Die geringere Wahlmehrheit berührt also die in Art. 97 Abs. 1 GG geschützte äußere Unabhängigkeit des Richters nicht. Ebensowenig geht die Überparteilichkeit des Gerichts verloren. Die Bedeutung der richterlichen Neutralität wird so hoch eingeschätzt, daß man die Unvoreingenommenheit als Begriffselement der Rechtsprechung i.S. der Art. 20 Abs. 2, 92 G G ansieht. 1 8 9 Richter kann nur sein, wer kein eigenes Interesse am Ausgang des Verfahrens hat und unbefangen dem Rechtsstreit gegenübersteht. Diese Unvoreingenommenheit bezieht sich aber auf den Verfahrensgegenstand, nicht auf den politischen Prozeß. Sie ist nicht schon dadurch gefährdet, daß der Richter durch den Einfluß der Regierungspartei ins A m t gelangt. Selbst wenn er der Mehrheitspartei angehört, ist damit rechtlich kein Befangenheitsgrund gegeben. 1 9 0 Denn das in Art. 20, 21 G G ausgestaltete Demokratieprinzip sieht zum einen die M i t w i r k u n g der Parteien i m Parlament und bei parlamentarischen Wahlen vor. Z u m anderen läßt es das Demokratieprinzip zu, daß die Richter sich privat als Staatsbürger politisch betätigen und Parteimitglieder werden. Infolgedessen schadet die bei der einfachen Mehrheitswahl zu erwartende politische Nähe der Richter zur Regierungspartei in verfassungsrechtlicher Hinsicht nicht. I m Ergebnis ist daher die Wahl durch einfache Mehrheiten mit dem Grundgesetz vereinbar. Dem entspricht auch die Staatspraxis in den Bundesländern. Denn es gibt einige Länder, die eine Wahl der Verfassungsrichter mit einfacher Mehrheit kennen. In Bayern werden beispielsweise die zahlenmäßig und verfahrensrechtlich dominanten Berufsrichter vom Landtag mit einfacher Mehrheit gewählt 187 Daß mit der Richterwahl psychologische Abhängigkeiten entstehen, ist im Grunde ein rechtstechnisch unlösbares Problem der inneren Unabhängigkeit des Richters (vgl. Knöpfle, Richterbank, S. 250/251). 188 Dieser Fall hat sich bereits ereignet. Richter Henneka ist Mitte der 50er Jahre aus der CDU ausgetreten (Waldinger, Wahl, S. 79). 189 BVerfGE 4, 331 (346); Meyer, vMü, Art. 92 Rn. 9; a.A. wohl Herzog, MDHS, Art. 92 Rn. 76 (nur Dienstpflicht des Richters). 190 Das ist in § 18 Abs. 2 BVerfGG ausdrücklich geregelt und entspricht allgemeiner Meinung (vgl. Klein, in: Benda/Klein, VerfPR, Rn. 161/179).

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4. Teil: Institutionelle Eingriffsgesetze

(Art. 4 Abs. 1 S. 1 VerfGHG). Dabei sind — trotz berechtigter rechtspolitischer K r i t i k — keine Zweifel an der rechtlichen Unabhängigkeit und Neutralität des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs aufgekommen. 1 9 1

I I . Die W a h l mit Beiräten Während der Debatte über die Reform des Wahlverfahrens wurde eine Idee aufgegriffen, die vom ersten Präsidenten des BVerfG, Hermann Höpker-Aschoff, stammte. 1 9 2 Ein Beirat aus angesehenen Juristen sollte die Wahl versachlichen und das parteipolitische Tauziehen um die Besetzung der Richterstühle beenden. Der Beirat sollte aus zwei Rechtsprofessoren, aus zwei Präsidenten der oberen Bundesgerichte und aus drei Präsidenten der Landesverfassungsgerichte bestehen. I m Bundestag war allerdings bald klar, daß der Juristenbeirat nicht selbst als Wahlgremium auftreten konnte. Justizminister Neumayer wies bei der Ersten Lesung darauf hin, daß für eine Beirats wähl Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG geändert werden müßte. 1 9 3 Aber weder Regierung noch Opposition wollten die Richterwahl ganz aus der Hand geben, so daß eine Verfassungsrevision nicht erwogen wurde. Daher konnte der Beirat nur als Hilfsorgan in Erscheinung treten. Nach dem Entwurf des Abg. Dr. Wahl ( C D U ) war er einzuberufen, wenn i m ersten Wahlgang keine qualifizierte Mehrheit zustande kam. Der Beirat sollte dann mehrere Kandidaten vorschlagen. Seine Vorschlagsliste war aber mehr als ein reiner Diskussionsbeitrag. Denn ein vom v o m Beirat vorgeschlagener Kandidat bedurfte nicht mehr der qualifizierten Mehrheit. Für seine Wahl sollte die absolute Mehrheit genügen. Diese Grundidee wurde wiederum so ausformuliert, daß die alten Wahlbestimungen der §§ 6 , 7 BVerfGG formell erhalten blieben und der neu konzipierte § 7 a B V e r f G G nur hinzutrat: 1 9 4 „(1) Kommt innerhalb von zwei Monaten nach dem Ablauf der Amtszeit oder dem vorzeitigen Ausscheiden eines Richters die Wahl eines Nachfolgers auf Grund der Vorschriften des § 6 nicht zustande, so beruft der Älteste der Wahlmänner unverzüglich den nach Absatz 2 zu bildenden Beirat ein.

191 Einen Überblick über die unterschiedlichen Wahlarten bei den Landesverfassungsgerichten bietet Knöpfle, Richterbank, S. 259 - 261. Die einfache Wahl gilt auch in BadenWürttemberg (Pestalozza, VerfPR, § 22 Rn. 7) und Brandenburg (Fromme, FAZ vom 12.6.92). Zur Richterwahl in Bayern siehe Pestalozza, VerfPR, § 23 Rn. 13; zur Kritik der SPDOpposition am Bayerischen Wahlrecht vgl. Dopatka, Umwelt, S. 43. 192 Die Idee wurde von Geiger, Reform, S. 231/232, Willms, Kunstvolles Gleichgewicht, S. 1211 und von Baumgarten, FAZ v. 25.6.55, S. 1 vertreten. Sie wird von Geiger, Willms und Schultz (Blick, MDR 56, S. 273) auf eine Rede Höpker-Aschoffs aus dem Jahr 1953 zurückgeführt. '93 Neumayer (FDP), BT-Prot. I I S. 5931; ebenso Weber (CDU), BT-Prot. I I S. 5934. 194 BT-Drs. II, Nr. 2388, S. 6/7.

C. Richterwahlrecht

189

(2) Der Beirat besteht aus a) zwei Präsidenten oberer Bundesgerichte, die von den Präsidenten der oberen Bundesgerichte gewählt werden; b) zwei ordentlichen öffentlichen Lehrern des Rechts an deutschen Universitäten, die von den Dekanen der rechtswissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten im Geltungsbereich dieses Gesetzes einschließlich Berlin gewählt werden; c) drei Präsidenten von Verfassungsgerichtshöfen der deutschen Länder, die von den Präsidenten der Verfassungsgerichtshöfe der deutschen Länder gewählt werden. (3) Für jedes Mitglied des Beirats ist ein Vertreter zu wählen. Die Mitglieder und ihre Vertreter sind auf die Dauer von fünf Jahren zu wählen. (4) Der Älteste der Wahlmänner führt den Vorsitz in den Sitzungen des Beirats; er hat kein Stimmrecht. (5) Der Beirat beschließt mit der Mehrheit seiner Mitglieder, wer zur Wahl als Richter vorgeschlagen wird. Ist nur ein Richter zu wählen, so hat der Beirat drei Personen vorzuschlagen; sind gleichzeitig mehrere Richter zu wählen, so hat der Beirat doppelt so viele Personen vorzuschlagen als Richter zu wählen sind. (6) Ist der Richter vom Bundesrat zu wählen, so gelten die Absätze 1 bis 5 mit der Maßgabe, daß an die Stelle des Ältesten der Wahlmänner der Präsident des Bundesrates oder sein Stellvertreter tritt. (7) Ein vom Beirat Vorgeschlagener kann von dem zuständigen Wahlorgan (§§6 und 7) mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen gewählt werden. Das Recht des Wahlorgans, einen nicht vom Beirat vorgeschlagenen mit den in §§ 6 und 7 bezeichneten Mehrheiten zu wählen, bleibt unberührt." Die SPD-Opposition erkannte, daß die in § 7 a B V e r f G G entwickelte Beiratslösung in der Praxis den geltenden Wahlmodus ersetzen würde. Denn der Entwurf erlaubte es der Regierungsmehrheit, die Opposition zu übergehen und die Richter i m Zusammenspiel mit einem vermutlich eher konservativen Juristengremium zu küren. Daher lehnte die Opposition den Entwurf i m Bundestag entschieden ab. Sie brachte zudem erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken vor, die auch den Bundesrat überzeugten und letztlich zum Scheitern des Vorschlags führten. 1 9 5

1. Die rechtspolitische

Argumentation

Die Beiratslösung fand nicht nur bei den Regierungsparteien, sondern auch im Schrifttum A n k l a n g . 1 9 6 Ein Vorteil des Gesetzesentwurfs liegt darin, daß eine Verschleppung oder ein Boykott der Richterwahlen durch starke Minderheiten nicht mehr möglich ist. Damit wird die Funktionsfähigkeit des Gerichts gesichert. 195 Ausführlich oben 1. Teil A III. 196 Geiger, Reform, S. 230/231; Stern, Wahlverfahren, S. 892/893, StR II, S. 339341.

190

4. Teil: Institutionelle Eingriffsgesetze

V o r allem wurde die „Entpolitisierung" 1 9 7 der Richterwahl als Pluspunkt gewertet. Es wurde sogar von einer parteipolitischen „Unberechenbarkeit" des Ergebnisses gesprochen. 1 9 8 Dem wurde entgegengehalten, daß es eine parteipolitisch „neutrale" Richterauswahl in einer Demokratie nicht geben k ö n n e . 1 9 9 Jedenfalls sei bei § 7 a B V e r f G G das Wahlergebnis in parteipolitischer Hinsicht keineswegs o f f e n . 2 0 0 Das trifft zu. Angesichts der Letztentscheidung der einfachen Mehrheit kann der Beirat in der Praxis nicht nur Kandidaten vorschlagen, die der Opposition nahe stehen. Die Regierungsmehrheit wählt aber aus der Liste mit einiger Sicherheit regierungsnahe Kandidaten aus. Daher sichert das Vorschlagsrecht nur die fachliche Qualifikation der Richter, nicht die politisch „neutrale" Zusammensetzung des Gerichts. Entscheidend gegen die Beiratslösung des § 7 a BVerfGG spricht außerdem, daß das Ansehen von Bundestag und Bundesrat diskreditiert wird. Denn die einfache Mehrheit muß, um die für sie günstigere Vorschlagswahl zu erreichen, zwei Monate abwarten und den Eindruck der Entscheidungsunfähigkeit der Wahlorgane erwecken. Die Beiratslösung nach § 7 a B V e r f G G ist darum zu Recht auch in der Wissenschaft auf Ablehnung gestoßen. 201

2. Die verfassungsrechtliche

Argumentation

Die Verfassungsmäßigkeit der Beiratslösung war von Anfang an stark umstritten. I m Bundestag äußerten vor allem die Oppositionsparteien SPD und FDP erhebliche Z w e i f e l , 2 0 2 während die Regierungsparteien überwiegend von der Verfassungsmäßigkeit ausgingen. 2 0 3 Die Unionsparteien boten allerdings kein einheitliches Bild. Denn i m Bundesrat gingen alle Regierungen ausnahmslos von der Verfassungswidrigkeit der Regelung aus. 2 0 4 In der Wissenschaft wurde die

197 Das war das Hauptargument im Bundestag (Prot. II): JMin Neumayer (FDP), S. 7954/7955; Wahl (CDU), S. 7972; Weber (CDU), S. 7975; Platner (CDU), S. 7959. 198 Geck, Amtsrecht, S. 26; Wahl (CDU), BT-Prot. I I S. 7972.

i " Bücher (FDP), BT-Prot. I I S. 7957. Greve (SPD), BT-Prot. I I S. 7954, sprach sogar von einer „Parteipolitisierung" des BVerfG, Arndt (SPD), BT-Prot. I I S. 7970, vom „Versuch einer Gleichschaltung". 2 01 Klein, MSBKU, § 5 Rn. 6; Laufer, Politischer Prozeß, S. 196; Billing, Richterwahl, S. 143. 2 2 ^ Im Bundestag (Prot. II) nahmen Verfassungswidrigkeit an: Arndt (SPD), S. 7970, Greve (SPD), S. 7953 und Bucher (FDP), S. 7957/7958, 7971/7972. 2 03 JMin Neumayer (FDP), S. 7956; Wahl (CDU), S. 7972/7973; Weber (CDU), S. 7974/7975; Platner (CDU), S. 7958/7959. 204 Verfassungswidrigkeit nahmen im Bundesrat (Prot. 1956) an: Weber (Hamburg), S. 222-224, Hellwege (Niedersachsen), S. 224 und Siemsen (Nordrhein-Westfalen), S. 224/225. Die Entgegnung von JMin Neumayer (S. 225/226) überzeugte bei der Abstimmung kein Ratsmitglied. 200

C. Richterwahlrecht

191

Verfassungsmäßigkeit des Vorschlags nur selten erörtert, wobei nur kurz auf das „ p r o " und „contra" der Debatte eingegangen w u r d e . 2 0 5 Die verfassungsrechtlichen Bedenken konzentrierten sich i m wesentlichen auf zwei Punkte. Immer wieder vorgetragen wurde, daß erstens die M i t w i r k u n g eines Beirats in Art. 94 Abs. 1 S. 2 G G nicht vorgesehen sei und daß zweitens dem Beirat die nötige demokratische Legitimation fehle. Darüber hinaus könnte man gegen die Vorschlagslösung alle Einwände vorbringen, die gegen die Wahl mit einfacher Mehrheit sprechen. Denn letztlich werden die vom Beirat präsentierten Kandidaten mit absoluter Mehrheit gewählt. W i e gezeigt greifen die Einwände gegen einfache Wahlmehrheiten aber nicht durch. Die M i t w i r k u n g eines Beirats ist zweifellos i m Wortlaut des Art. 94 Abs. 1 S. 2 G G nicht vorgesehen. Nur die Wahl durch Bundesrat und Bundestag ist angeordnet. Darin sieht die Staatspraxis aber keine abschließende Regelung des Wahlverfahrens. Selbst wenn man die Art. 42, 52 GG mitberücksichtigt, muß man mit der überwiegenden Meinung davon ausgehen, daß die Wahlvorschriften der Ergänzung durch den einfachen Gesetzgeber i m Rahmen des Art. 94 Abs. 2 S. 1 G G bedürfen. 2 0 6 V o r dem Hintergrund des Zusammenspiels von Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG und Art. 94 Abs. 2 GG kann man die Aussage treffen, daß die fehlende Erwähnung des Beirats i m Grundgesetz noch nicht gegen dessen Zulässigkeit spricht. Denn auch der Wahlmännerausschuß des Bundestages ist nicht genannt. Vielmehr stellt sich die Frage, ob mit dem Begriff der Wahl in Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG eine abschließende Regelung des Vorschlagsrechts getroffen ist. Betrachtet man das Vorschlagsrecht nämlich als „integrierenden Bestandteil" des Wahlrechts, dann kann es nicht von ihm getrennt und einem Beirat zugewiesen werden. 2 0 7 Diese rein begriffliche Argumentation vernachlässigt aber den Sinnzusammenhang des Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG. Denn der Verfassungsartikel soll nur sichern, daß Bundesrat und Bundestag eine eigene Personalentscheidung treffen. Das schließt die Beratung mit anderen Gremien ebensowenig aus wie unverbindliche Vorschläge Dritter. Folglich kann der einfache Gesetzgeber das Verfahren der Informationsbeschaffung und Beratung regeln. Der Gesetzgeber hat von diesem Recht auch bereits Gebrauch gemacht. Denn die derzeit geltenden § § 7 a und 8 BVerfGG dienen der Beratungshilfe und sehen ein unverbindliches Vorschlagsrecht des B V e r f G vor.

205 Ausdrücklich spricht sich Geiger, Reform, S. 231 für die Verfassungsmäßigkeit aus. Stillschweigend gehen wohl auch Stern, Wahlverfahren, S. 892/893, StR II, S. 339-341 und Geck, Amtsrecht, S. 26/27 davon aus. Hingegen hält Hamann, in: Hamann / Lenz, Art. 94 Anm. 1 die Beiratslösung für verfassungswidrig. 2 06 Statt Vieler: Geiger, BVerfGG, § 6 Anm. 2. 2 07 Weber (Hamburg), BR-Prot. 1956, S. 22376. Er faßt die Argumente der Gegner übersichtlich zusammen.

192

4. Teil: Institutionelle Eingriffsgesetze

Art. 94 Abs. 1 S. 2 G G verbietet nur ein verbindliches Vorschlagsrecht Dritter, weil dann keine eigene und freie Personalentscheidung des Bundestages oder Bundesrates vorliegt. Der vorgelegte Entwurf eines § 7 a B V e r f G G trifft aber keine verbindliche Vorschlagslösung. Denn nach § 7 a Abs. 7 S. 2 BVerfGG bleibt das Recht der Wahlorgane bestehen, eigene Personalvorstellungen mit Zweidrittelmehrheit durchzusetzen. Die Verfassungswidrigkeit der Regelung könnte daher nur angenommen werden, wenn die Beiratsvorschläge zwar nicht theoretisch, aber faktisch bindend wären. Das setzt voraus, daß die Zweidrittelgrenze nach zweimonatigem ergebnislosem Verhandeln praktisch unerreichbar i s t . 2 0 8 Die Erfahrungen mit dem Zweidrittelmodus zeigen aber, daß die Kompromißmöglichkeiten nach zwei Monaten noch nicht erschöpft sind. Eine Einigung kommt oft erst später zustande. 2 0 9 Daher ist kein Verstoß gegen Art. 94 Abs. 1 S. 2 G G erkennbar. Der Hinweis auf die mangelnde demokratische Legitimation des Beirats geht letztlich aus denselben Gründen fehl. Das Demokratieprinzip verbietet zwar die Kooptation, d.h. die Nachwahl der Richter durch bereits i m A m t befindliche Richter. 2 1 0 Insofern kann die Beteiligung eines Richterbeirates bedenklich sein. Denn es ist nicht nur verboten, daß ein Richterrat selbst wählt (positive Kooptation), sondern auch daß der Beirat eine Verhinderungsposition erhält (negative Kooptation). 2 1 1 Ein bindendes Vorschlagsrecht beinhaltet aber eine Verhinderungsposition. Es läßt ebenso wie ein Vetorecht nur die Wahl der den Richtern genehmen Kandidaten z u . 2 1 2 Damit stellt sich erneut die Frage, ob der vorgeschlagene § 7 a BVerfGG ein bindendes Vorschlagsrecht darstellt. W e i l das nicht der Fall ist, hat der Beirat weder eine rechtliche noch eine faktische Verhinderungsposition. Bundesrat und Bundestag treffen eine eigene Personalauswahl und verschaffen durch die absolute Mehrheit den Kandidaten die nötige demokratische Legitimation. Die verfas208 Entsprechend erklärte Weber (Hamburg), BR-Prot. 1956, S. 223 diese Möglichkeit „stünde praktisch nur auf dem Papier". 209 Meist wird darauf gewartet, daß die Amtszeit anderer Richter abläuft. Dann sind „Paketlösungen" mit starkem Proporzcharakter möglich. So war es etwa bei der Wahl des Nachfolgers von Willi Geiger. Geiger sollte zum 31.5.77 ausscheiden, mußte aber bis Mitte Oktober warten. Denn die SPD wollte zunächst dem von Geiger favorisierten und von der CDU vorgeschlagenen Emst Traeger nicht zustimmen. Als durch den Tod der Richterin Rupp-von Brünneck eine weitere Stelle vakant wurde, gelang der Kompromiß. Die SPD gab nach und konnte dafür Gisela Niemeyer als Richterin durchsetzen (Waldinger, Wahl, S. 91/92). 210 Knöpfle, Richterbank, S. 242; Wassermann, AltK, Art. 98 Rn. 34. 211 Die Begriffe sind Böckenförde, Verfassungsfragen, S. 80/81 entnommen. 212 Das bindende Vorschlagsrecht wird auch mit Einschränkungen für zulässig gehalten (Herzog, MDHS, Art. 98 Rn. 45, Knöpfle, Richterbank, S. 254). BVerfGE 26, 186 (196) läßt es für die Besetzung der Anwaltskammern, BVerfGE 27, 312 (320) für die Sozialgerichte zu. Allerdings wird gefordert, daß die Vorschlagsliste auf Verlangen des Wahlorgans ergänzt wird. Die strikt ablehnende Haltung von Böckenförde, Verfassungsfragen, S. 83 ist dogmatisch überzeugender.

D. Richterschubgesetze

193

sungsrechtlichen Bedenken greifen nicht durch. Die Beiratslösung ist i m Ergebnis verfassungsgemäß.

D. Richterschubgesetze V o n einem Richterschub spricht man, wenn die politische Führung versucht, die Mehrheitsverhältnisse i m Gericht auf einen Schlag zu ändern. Die Regierungspartei begnügt sich in diesen Fällen nicht damit, ihren Einluß bei den turnusgemäß stattfindenden Richterwahlen geltend zu machen. Sie erhöht vielmehr die gesetzliche Richterzahl und besetzt die offen werdenden Stellen mit ihr nahestehenden Persönlichkeiten. Einen derartigen Richterschub gab es tatsächlich in Südafrik a . 2 1 3 Wesentlich bekannter ist aber der Richterschubplan des amerikanischen Präsidenten Franklin Delano Roosevelt.

I . Roosevelts Streit mit dem Supreme Court Die Vereinigten Staaten hatten zu Beginn unseres Jahrhunderts ein extrem liberales Wirtschaftssystem. Die Präsidenten gehörten überwiegend der republikanischen Partei an. Sie setzten voll auf den freien Wettbewerb und sahen i m Markt den einzig notwendigen Regelungsmechanismus. Ihre „Laissez-Faire-Polit i k " verbot private Marktabsprachen ebenso wie staatliche Interventionen. Der Supreme Court der Vereingten Staaten schloß sich 1905 diesen streng liberalen Auffassungen a n . 2 1 4 In der amerikanischen Verfassung gibt es einen Passus, der für jeden Eingriff in Freiheits- und Eigentumsrechte ein ordentliches Verfahren („due process") vorschreibt. 2 1 5 Der Supreme Court sah in dieser Klausel nicht nur eine Verfahrensvorschrift, sondern auch ein inhaltliches „substantielles" Gebot: in Eigentums- und Vertragsrechte könne nur zum Schutz anderer überragender Rechtsgüter eingegriffen werden, nicht aber aus rein sozial- oder wirtschaftspolitischen Erwägungen. 2 1 6 Nach dem New Yorker Börsenkrach von 1929 zeigte sich aber, daß der strikte Wirtschaftsliberalismus keine Garantie für Wohlstand und Wachstum bieten konnte. Denn auch in den Jahren nach dem „black friday" begannen die Selbstheil213 Zum Richterschub in Südafrika oben 3. Teil A I. 214 Der „leading case" war „Lochner versus New York". Vgl. Brugger, Verfgbkt, S. 55-57. 215 Amendment 4 und 14 section 1. Englisch-deutscher Text bei Brugger, Verfgbkt, S.472/473 und 476/477. 216 Der Supreme Court hob eine Bestimmung auf, die für angestellte Bäcker den 10Stunden-Arbeitstag vorschrieb. Das Gericht entschied, daß die Vorschrift nur auf vorgeschobenen gesundheitlichen Erwägungen beruhe und in Wahrheit sozialpolitisch-interventionistischen Charakter trage (Brugger, Verfgbkt, S. 55-57; äußerst kritisch: Kreiner, New Deal, S. 179-181). 13 Häußler

194

4. Teil: Institutionelle Eingriffsgesetze

kräfte der Wirtschaft nicht zu wirken. Vielmehr folgte eine große Wirtschaftsdepression. In den Städten gab es ein Heer von 12 Millionen Arbeitslosen und auf dem Lande drohte infolge des Preis Verfalls bei Baumwolle und anderen landwirtschaftlichen Produkten die Verarmung und Überschuldung zahlloser Farmer. 2 1 7 In dieser Situation gewann 1932 der Demokrat Franklin Delano Roosevelt mit seinem Programm des „new deal" die Präsidentschaftswahlen. Innerhalb von nur 100 Tagen beschloß der Kongress in einer beispiellosen Folge von Marathonsitzungen eine Vielzahl wichtiger Wirtschafts- und Sozialreformen. 2 1 8 Diese Reformen trugen stark wirtschaftsdirigistische Züge. Die Einführung einer Bankenkontrolle, die Preisgarantie für landwirtschaftliche Produkte und die Zulassung staatlich überwachter Unternehmenskartelle sind nur einige Beispiele. 2 1 9 Es überrascht daher nicht, daß der Supreme Court von 1935 bis 1937 eine ganze Reihe wichtiger „New-Deal-Gesetze"aufhob. Damit war letztlich die ganze Reformpolitik Roosevelts in Frage gestellt. Innerhalb des obersten Gerichts, das aus neun auf Lebenszeit berufenen Richtern besteht, entwickelten sich zwei Gruppierungen. Fünf Richter hielten an der liberalistischen Auslegung der „DueProcess-Klausel" fest. Die vier anderen Richter wollten dieses „substantielle" Verständnis aufgeben. 2 2 0 Denn Roosevelts Wirtschafts- und Sozialpolitik hatte Erfolg. Nach vier Jahren war die Arbeitslosenquote von 12 auf 9 M i l l i o n e n gesunken und das Einkommen der Farmer um 50 Prozent gestiegen. Beides weckte bei den Amerikanern wieder Vertrauen in die Zukunft und sicherte Roosevelt 1937 einen beispiellosen Wahlsieg. 2 2 1 Die Regierung hatte trotzdem Grund zu der Befürchtung, daß der Supreme Court auch weiterhin wichtige Wirtschaftsgesetze, insbesondere den 1935 verabschiedeten Wagner-Connery Act, aufheben würde. Präsident Roosevelt versuchte daher, den Widerstand des Gerichts zu brechen. Er legte dem Senat kurz nach seinem Wahlsieg einen Gesetzentwurf vor, nach dem für jeden über 70 Jahre alten Bundesrichter ein zusätzlicher Richter ernannt werden konnte. Dadurch hätte Roosevelt die Möglichkeit gehabt, auf einen Schlag sechs neue Richter zu ernennen. 2 2 2 Seinen Entwurf begründete er mit dem hohen Alter der Richter. Die „nine old men" im Obersten Gericht seien dem Arbeitsanfall und den Anforderungen der Zeit nicht mehr gewachsen und bedürften darum der Unterstützung durch jüngere Richter. 21V Carstens, Grundgedanken, S. 105/106. 218 Sauter, Geschichte, S. 379/380. 219 Ausführlich Carstens, Grundgedanken, S. 106/107; Sauter, Geschichte, S. 379384. 220 in Einzelfällen gab es auch andere Abstimmungsergebnisse (Carstens, Grundgedanken, S. 109-111). 221 Ein Grund für den extrem hohen Wahlsiegs lag aber auch darin, daß der republikanische Herausforderer Landon den Fehler beging, die Sozialprogramme der Regierung anzugreifen (Sauter, Geschichte, S. 387). 222 Vgl. Schreiber, Reaktionen, S. 9.

D. Richterschubgesetze

195

Roosevelts wahre Gründe waren offensichtlich. Es ging ihm weniger um die Funktionsfähigkeit des Gerichts als um die Durchsetzung seines Gesetzgebungsprogramms. M a n warf ihm daher bald vor, er wolle das Gericht mit seinen Gefolgsleuten vollpacken. Der „court packing plan" löste in der amerikanischen Öffentlichkeit eine Welle des Protests aus. 2 2 3 Es kam zu einigen Kundgebungen gegen das Gesetz. Der amerikanische Anwaltsverein lehnte es strikt a b 2 2 4 und selbst prominente Mitglieder der Demokratischen Partei waren der Ansicht, der Richterschubplan durchbreche das in der amerikanischen Verfassung angelegte System der „checks and balances". 2 2 5 Noch bevor der Gesetzentwurf i m Plenum des Senats beraten werden konnte, nahm die Kontroverse eine überraschende Wende. I m Frühjahr 1937 änderte der Supreme Court seine Rechtsprechung. Richter Roberts, der bislang stets mit der liberalistischen Gruppe gestimmt hatte, revidierte seinen Standpunkt und trat in das regierungsfreundliche Lager ü b e r . 2 2 6 Damit hatten die Befürworter der „ N e w Deal-Gesetze" die Mehrheit. In einer bis heute grundlegenden Entscheidung nahm der Supreme Court von seiner substantiellen Auslegung der „Due-ProcessKlausel" Abstand. Seither sind wirtschaftslenkende Maßnahmen grundsätzlich zulässig. Der Supreme Court prüft nach dem „basic rational test" nur noch, ob mit einem Gesetz vertretbare Gemeinwohlziele verfolgt werden und ob der Einsatz des Mittels i m Verhältnis zum Zweck vertretbar erscheint. 2 2 7 Die Rechtsprechungsänderung nahm dem A n g r i f f des Präsidenten den W i n d aus den Segeln. Der Richterschubplan hatte bald keine Befürworter mehr, so daß der Gesetzentwurf im Senat mit klarer Mehrheit zurückgewiesen wurde. Präsident Roosevelt hatte trotzdem sein Ziel erreicht, weil die „New-DealGesetze" fortan nicht mehr gefährdet waren. Das Gericht blieb aber nur deswegen unangetastet, weil ein Richter in letzter Minute die Fronten gewechselt hatte: „switch in time, that saved n i n e " . 2 2 8

I I . Richterschübe nach deutschem Recht Die Zahl der Richter kann aus verschiedenen Gründen erhöht werden. Die Erhöhung kann erstens i m Rahmen einer normalen Organisationsreform erfolgen. Dann dient sie der Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Gerichts, so daß i m Grunde kein Eingriff vorliegt.

223 Vgl. Löwenstein, Konflikte, S. 276. 224 Carstens, Grundgedanken, S. 112. 225 Schreiber, Reaktionen, S. 9; Löwenstein, Konflikte, S. 276. 226 Zu den Spekulationen über die Hintergründe dieses Meinungswechsels: Carstens, Grundgedanken, S. 110/111. 227 Brugger, Verfgbkt, S. 58/59; Kreiner, New Deal, S. 182/183. 228 Brugger, Verfassungsgerichtspolitik, S. 56 Fn. 58. 13*

196

4. Teil: Institutionelle Eingriffsgesetze

Die Zahl der Richter kann zweitens erhöht werden, um den Einfluß der Regierungsparteien i m Gericht zu verstärken. In diesem Fall dient sie einem allgemeinen machtpolitischen M o t i v . Bei einem solchen machtbedingten Richterschub ist die parteipolitische Neutralität des Gerichts gefährdet. Zumindest das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Neutralität des Gerichts sinkt. Das Ansehen des Gerichts wird geschwächt, so daß ein institutioneller Eingriff vorliegt. Einen besonders schweren Eingriff stellt es dar, wenn der Richterschub dazu dient, die Sachentscheidung des Gerichts in einem anhängigen oder unmittelbar bevorstehenden Verfahren zu beeinflussen. Werden die neuen Richter berufen, um ein anderes als das erwartete Urteil zu fällen, so liegt ein prozeßbedingter Richterschub vor. Oft wird man in diesem dritten Fall das M o t i v der Prozeßbeeinflussung nicht beweisen können. 2 2 9 Mitunter liegt es aber auch klar auf der Hand. In Südafrika beispielsweise wurde zeitgleich mit dem Richterschub ein Gesetz neu erlassen, das v o m Supreme Court in dieser Form bereits einmal aufgehoben worden war. Der Richterschub diente daher dazu, eine erneute Prozeßniederlage abzuwenden.230 1. Organisationsreformen

— ein Exkurs

In der Bundesrepublik wurde die Zahl der Verfassungsrichter bislang zwar verringert, aber nicht erhöht. Bei der Beratung der bislang letzten Verfassungsgerichtsnovelle kam erstmals der Gedanke einer personellen Verstärkung des Gerichts auf. 2 3 1 Angesichts der ständig steigenden Zahl der Verfassungsbeschwerden wurde überlegt, ob man das BVerfG um einen Senat erweitern oder die Zahl der Richter in den Senaten erhöhen könnte. Diese Pläne wurden aber rasch wieder verworfen, weil durch einen dritten Senat die Gefahr divergierender Entscheidungen wachsen würde und weil die Anhebung der Richterzahl die Meinungsbildung in den Senaten erschweren k ö n n t e . 2 3 2 In verfassungsrechtlicher Hinsicht besteht Einigkeit darüber, daß eine Erhöhung der Richterzahl ebenso wie die Bildung neuer Senate durch einfaches Gesetz möglich wäre. 2 3 3 Denn nach Art. 94 Abs. 2 S. 1 G G ist es Sache des einfachen 229 im amerikanischen Fall wäre es z.B. schwer, den Bezug zu bevorstehenden oder schwebenden Verfahren nachzuweisen, auch wenn diese Annahme durchaus naheliegt. 230 Näher oben 3. Teil A I. 231 Vgl. Stellungnahme der BReg, BT-Drs. X, Nr. 2951, S. 8. 232 Staatssekretär Kinkel, BR-Prot. 1985, S. 52. Zustimmend: Kutscher, Geschäftslast, S. 150; Wöhrmann, Reformvorschläge, S. 1357. Schon vorher gegen Erhöhung der Richterzahl: Säcker, Rechtsmacht, S. 198. Demgegenüber hält Pestalozza, VerfPR, § 2 Rn. 15 eine Erhöhung der Richterzahl für unausweichlich, wenn man sich nicht dazu entschließt, die Verfassungsbeschwerde einzuschränken oder abzuschaffen. 233 Pestalozza, VerfPR, § 2 Rn. 14; Säcker, Rechtsmacht, S. 198 mit Fn. 44; Alberts, Änderungsbefugnisse, S. 143.

D. Richterschubgesetze

197

Gesetzgebers, die Verfassung des Gerichts zu regeln. Die Festlegung von Zahl und Größe der Senate gehört aber ebenso zur Gerichtsverfassung wie die Bestimmung der Richterplanstellen. 2 3 4 Da das Grundgesetz zur Zahl der Senate und der Richter keine Aussagen macht, hat der einfache Gesetzgeber bei der Entscheidung dieser Fragen grundsätzlich freie Hand.

2. Machtbedingte

Richterschübe

Der Richterschub unterscheidet sich von einer Organisationsreform dadurch, daß er sich nicht in einer reinen Erhöhung der Richterzahl erschöpft. Neben die Bewilligung von Planstellen i m Haushalt tritt ein zweites Element: die faktische Besetzung der neuen Stellen mit regierungsfreundlichen Richtern. Erst durch die Verbindung dieser beiden Elemente kann die Regierung die Mehrheitsverhältnisse im Gericht zu ihren Gunsten ändern (kombinierter Eingriff). In den Vereinigten Staaten ergibt sich dieser Vorteil gleichsam von selbst, weil der Präsident offene Richterstellen praktisch nach seinem Ermessen besetzen k a n n . 2 3 5 In der Bundesrepublik ist hingegen für jede Richterwahl eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ( § § 6 Abs. 5, 7 BVerfGG). Daher ist die Regierungspartei meist an die Zustimmung der Opposition gebunden. Die Gefahr eines Richterschubes ist darum bei uns geringer als in den USA. Ein Richterschub ist aber denkbar, wenn die Regierungsparteien über eine Zweidrittelmehrheit verfügen oder wenn sie gleichzeitig mit der Erhöhung der Richterzahl das Richterwahlrecht ändern und eine Wahl mit einfachen Mehrheiten einführen. I n diesem Fall wäre der Richterschub ein nicht aus zwei, sondern aus drei Elementen kombinierter Eingriff. In rechtlicher Hinsicht gibt es gegen den machtbedingten Richterschub keine Handhabe. Denn die einzelnen Elemente des Richterschubs entsprechen für sich genommen der Verfassung. Für sich betrachtet ist sowohl die Erhöhung der Richterzahl als auch die Einführung der einfachen Mehrheitswahl von Art. 94 Abs. 2 S. 1 G G gedeckt. 2 3 6 Die anschließende Auswahl der regierungsnahen Richter entspricht Art. 94 Abs. 1 S. 2 G G und dem einfachen Recht. Aber auch das Ziel des gesamten Eingriffs, die Zusammensetzung des Gerichts in parteipolitischer Hinsicht zu ändern, widerspricht nicht der Verfassung. Denn das Grundgesetz schreibt keine parteipolitisch ausgewogene Besetzung des Gerichts vor und überläßt die Entscheidung über die politische Zusammensetzung dem einfachen 234 Zum Begriff der Verfassung: Stern, BoK, Art. 94 Rn. 112/114. 235 Die Ernennung bedarf zwar der Zustimmung des Senates. Der Senat prüft aber seit etwa 50 Jahren nur noch die fachliche Qualität und die charakterliche Integrität der vom Präsidenten ausgewählten Kandidaten (Brugger, Verfassungsgerichtspolitik, S. 56; ähnlich Billing, Richterwahl, S. 262-266). 236 Zur Erhöhung der Zahl oben Ziffer 1 ; zur Rechtmäßigkeit des einfachen Wahlrechts oben 4. Teil C I Nr. 2.

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4. Teil: Institutionelle Eingriffsgesetze

Gesetzgeber und den jeweiligen Wahlorganen. Da die juristische Qualifikation der Richter und die Funktionsfähigkeit des Gerichts unberührt bleiben, ist der machtbedingte Richterschub rechtmäßig. Soweit die Möglichkeit eines dem amerikanischen Plan vergleichbaren Richterschubes erörtert wird, wird darum auch durchgehend die rechtliche Unangreifbarkeit der Maßnahmen angenommen. 2 3 7

2. Prozeßbedingte

Richterschübe

Besondere rechtliche Probleme entstehen, wenn der Richterschub i m Hinblick auf ein anhängiges oder unmittelbar bevorstehendes Gerichtsverfahren erfolgt. Auch hier liegt ein kombinierter Eingriff vor, bei dem alle Einzelelemente für sich genommen rechtmäßig sein können. Isoliert betrachtet sind die Erhöhung der Richterzahl, die Änderung des Wahlrechts und der Wahlakt selbst rechtmäßig. Bei kombinierten Eingriffen müssen aber nicht nur alle Einzelmaßnahmen, sondern auch das Z i e l des Gesamteingriffes mit der Verfassung in Einklang stehen. 2 3 8 In dieser Hinsicht ist es äußerst problematisch, wenn über den U m w e g der Vergrößerung der Richterbank letztlich die Beeinflussung einer Sachentscheidung bezweckt wird. Eine derartige Einflußnahme könnte von Art. 101 Abs. 1 S. 2 G G verboten sein. Das Gebot des gesetzlichen Richters hat nämlich gerade den Zweck, Manipulationen zu verhindern. 2 3 9 Ein allgemeines Gesetz soll i m voraus bestimmen, wer Richter ist, damit nicht in letzter Minute ein für eine Seite „passender" Richter berufen wird. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG bindet darum auch den Gesetzgeber 2 4 0 und verbietet ihm, für einen Einzelfall zu bestimmen, welche Richter zuständig sind. Die Besonderheit des Richterschubgesetze liegt darin, daß zwar nach außen ein allgemeines Gesetz vorliegt. Denn die Veränderung der Richterbank betrifft alle künftigen Fälle. Der innere Beweggrund für diese Maßnahme ist aber die Beeinflussung eines Einzel Verfahrens. Das allgemein formulierte Gesetz hat somit einen intendierten Einzelfalleffekt. Hält man sich nur an den Wortlaut des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG, so liegt eine generelle Regelung und damit kein Rechtsverstoß vor. Beachtet man aber den Zweck des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG, dann muß das Manipulationsverbot auch 237 Schick, in: Herzog/Schick, PdW, S. 18/19; Sattler, Rechtsstellung, S. 273 mit Fn. 1; Katz, BVerfG, S. 112/114. 238 Ausführliche Begründung oben 2. Teil Β IV. 239 So ausdrücklich: BVerfGE 17, 294 (299); 24, 33 (54); 82, 159 (194); Leibholz/ Rinck / Hesselberger, Art. 101 Rn. 27. 240 BVerfGE 24, 33 (54); Leibholz / Rinck / Hesselberger, Art. 101 Rn. 113; Maunz, MDHS, Art. 101 Rn. 24.

E. Tatsachenbindung

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i m Fall des prozeßbedingten Richterschubes gelten. Der mit dem Richterschub intendierte Einzelfalleffekt, d. h. die Einflußnahme auf den Ausgang eines konkreten Prozesses, ist daher verfassungswidrig. M a n kann nicht ohne weiteres davon ausgehen, daß aufgrund dieses Rechtsverstoßes das ganze Richterschubgesetz rechtswidrig und damit unwirksam ist. Denn solange eine verfassungskonforme Auslegung möglich ist, kann ein Gesetz nicht aufgehoben werden. 2 4 1 Sicher ist aber, daß jedenfalls die durch den Richterschub geschaffene neue Gerichtsbesetzung nicht über den Prozeß entscheiden darf, auf den der Gesetzgeber Einfluß nehmen wollte. Der gesetzliche Richter nach Art. 101 Abs. 1 S. 2 G G kann nur die alte Spruchkammer sein.

E. Bindung an Feststellungen des Gesetzgebers V o n den Vorschlägen, die auf eine Einschränkung der Befugnisse des B V e r f G abzielen, ist die Idee der Bindung des BVerfG an Tatsachenfeststellungen und Prognoseentscheidungen des Gesetzgebers die originellste. Sie kam 1969/1970 während der Debatte über die vierte Verfassungsgerichtsgesetznovelle auf und hat gleichsam als Nebeneffekt die wissenschaftliche Diskussion über die Bedeutung der Tatsachenermittlung i m Verfassungsprozeß in Gang gebracht. 2 4 2

I . Die rechtspolitische Diskussion Die Idee, das BVerfG an die Tatsachenfeststellungen und Prognosen des Gesetzgebers zu binden, geht auf den Abg. Hans Dichgans ( C D U ) zurück. 2 4 3 Er war der Meinung, das B V e r f G schränke den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers zu sehr ein. Dichgans verglich das B V e r f G oft mit dem in politischen Fragen sehr zurückhaltenden Supreme Court der USA. Der Supreme Court ist anders als das BVerfG ein reines Revisionsgericht. Er beschäftigt sich ausschließlich mit Rechtsfragen. Das BVerfG muß hingegen nach § 26 BVerfGG die Sachlage selbst klären und notfalls durch eigene Beweiserhebung die Tatsachen feststellen. K o m m t es dabei zu dem Ergebnis, daß eine Tatsachenfeststellung oder Gefahreneinschätzung des Gesetzgebers falsch ist, legt es sein Ermittlungsergebnis oder die eigene Prognose der Entscheidung zugrunde. 2 4 4 A n dieser Befugnis des B V e r f G zur vollen Sachaufklärung nahm Dichgans Anstoß. Er meinte, es sei nicht zweckmäßig, wenn das ohnehin überlastete BVerfG sich mit der Klärung von Sachfragen beschäftige. I m Parlament würden die tatsächlichen Verhältnisse und Entwicklungen, die zum Erlaß eines Gesetzes 241 242 243 244

Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 215/216. Einschätzung folgt Ossenbühl, Kontrolle, S. 462/463. Zu den Hintergründen oben 1. Teil Β I Nr. 1. Ulsamer, MSBKU, § 26 Rn. 5.

4. Teil: Institutionelle Eingriffsgesetze

200

führten, bereits eingehend erörtert. Der Bundestag besitze außerdem zur Klärung der Sachfragen die höhere Kompetenz. Denn seine Mitglieder hätten mehr Erfahrung bei der Gesetzgebung, der Bundestag sei pluralistischer zusammengesetzt und außerdem hätte er schon rein institutionell mehr Möglichkeiten der Anhörung von Betroffenen und Sachverständigen („Hearings", „Enquete-Kommissionen" etc.). 2 4 5 Er schlug deshalb die Einführung eines neuen § 26 a B V e r f G G vor. Danach sollte das BVerfG an die Feststellungen der Legislative zur Sachlage gebunden sein, solange kein Fall offenkundigen Mißbrauchs vorlag. § 26 a B V e r f G G sollte lauten: „(1) Bei der Entscheidung über die Gültigkeit eines Gesetzes ist das Bundesverfassungsgericht an Tatsachenfeststellungen des Gesetzgebers und seine Annahmen über die zu erwartende künftige Entwicklung, die dem Gesetz zu Grunde liegen, gebunden. Das gilt nicht, wenn das Gericht feststellt, daß der Gesetzgeber mißbräuchlich von offenbar unrichtigen Tatsachenfeststellungen ausgegangen ist. (2) Das Bundesverfassungsgericht darf Ermessensentscheidungen nur aufheben, wenn es einen Mißbrauch oder eine Überschreitung des Ermessens feststellt." 246 Gegen diesen Vorschlag gab es i m Parlament bereits bei der Ersten Lesung am 13. März 1970 Einwände. Der Sprecher der SPD, Claus Arndt, äußerte i m Bundestag „große Bedenken". Denn die Ermittlung der Wahrheit sei „die vornehmste und wichtigste Aufgabe eines jeden Gerichtes". 2 4 7 Da die S P D / F D P Koalition damals i m Bundestag die Mehrheit hatte, waren die Aussichten für die Durchsetzung der Gesetzesinitiative damit von Anfang an schlecht. I m Rechtsausschuß wurde der Vorschlag eingehend erörtert. Vor allem die als Sachverständigen angehörten Verfassungsrichter und Staatsrechtslehrer lehnten den Entwurf ab. Die Fachleute räumten zwar teilweise ein, daß das Parlament eine höhere Sachkompetenz besitze als das Gericht. 2 4 8 Sie trugen aber gewichtige Einwände gegen die Bindung vor. A n erster Stelle wurde moniert, die Bindung des B V e r f G an die Tatsachenfeststellungen des Gesetzgebers sei nicht praktikabel. Ein Revisionsgericht könne stets dem Urteil der unteren Instanz entnehmen, von welchem Sachverhalt es auszugehen habe. Dagegen treffe der Bundestag bei vielen Gesetzen gar keine

245 BT-Prot. V I S. 1907; Überlegungen S. 176-182. 246 RA-Drs. VI, Nr. 14, S. 6 (Abdruck bei Geck, Vorwort; S. 5; Dopatka, Umwelt, S. 6; Bach, Prognosen, S. 66/67). Der in seiner Tragweite unklare zweite Absatz wird hier nicht diskutiert. Er wurde im RA (Prot. VI) zu Recht abgelehnt: Leibholz, 13. Stzg, S. 109; Rupp, 17. Stzg, Anlage 4, S. 4; Friesenhahn, 18. Stzg, S. 16. 247 BT-Prot. V I S. 1914; Dichgans hatte das Thema bereits ein Jahr zuvor angeschnitten (BT-Prot. V S. 11678). 248 Geiger und Seuffert, RA-Prot. VI, 13. Stzg, S. 114; a. A. Müller, RA-Prot. VI, 13. Stzg, S. 113.

E. Tatsachenbindung

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Tatsachenfeststellungen. Außerdem könnten innerhalb des Parlaments oder zwischen Bundestag und Bundesrat die Meinungen über die Sachlage auseinandergeh e n . 2 4 9 Darauf erwiderte Dichgans, daß der Bundestag seine Gesetzgebungstechnik verbessern könne. Ebenso wie das Europäische Parlament könne er dem Gesetz eine Präambel voranstellen, in der die leitenden Sacherwägungen zusammengefaßt w ü r d e n . 2 5 0 In zweiter Linie wurde bemängelt, die Bindung sei zu starr. Sie gelte auch dann, wenn alle Welt die Prognose für falsch halte oder wenn sie sich nach einiger Zeit tatsächlich als falsch erwiesen habe. 2 5 1 A l s dritter Punkt wurde angeführt, daß die Bindung des B V e r f G sich nachteilig auf den Grundrechtsschutz auswirken müsse. 2 5 2 Wenn das BVerfG nämlich an Feststellungen des Gesetzgebers gebunden wird, sind die Erfolgsaussichten einer Rechtssatzverfassungsbeschwerde von vornherein gemindert. Für die Debatte i m Rechtsausschuß war es sicher von erheblicher Bedeutung, daß auch die Verfassungsmäßigkeit des Vorschlags mehrfach bezweifelt wurd e . 2 5 3 Die Einwände wogen jedenfalls so schwer, daß der Abg. Dichgans seinen Vorschlag am Ende selbst zurücknahm. 2 5 4 In der wissenschaftlichen Literatur wurde das Für und Wider der Gesetzesinitiative noch weiter erörtert. Eine empirische Studie von Klaus Philippi ergab, daß das Parlament bei seinen Prognosen keineswegs die höhere Sachkompetenz besitzt. 2 5 5 Die Vorhersagen des BVerfG haben sich in einer weit größeren Zahl von Fällen verwirklicht als die Prognosen des Gesetzgebers. Gründe dafür sind, daß das B V e r f G nur selten unter einem zeitlichen oder politischen Entscheidungsdruck steht, daß es gedankliche Vorleistungen der Gesetzgebungsgremien vorfindet und daß es, entgegen der Ansicht von Dichgans, institutionell ebenso gute Untersuchungs- und Anhörungsmöglichkeiten besitzt wie die Parlamente. Wissenschaftlich beleuchtet wurde auch die von Dichgans angeschnittene funktionell-rechtliche Seite des Problems. Fritz Ossenbühl hat sich eingehend mit der Frage beschäftigt, inwieweit das B V e r f G dem Gesetzgeber bei der Kontrolle von Tatsachenfeststellungen und Prognosen einen Einschätzungsspielraum zuer-

249 Müller, RA-Prot. VI, 13. Stzg, S. 104/105; Rupp, RA-Prot. VI, 17. Stzg, Anlage 4, S. 3. 250 Dichgans, Ra-Prot. VI, 13. Stzg, S. 106. 251 Friesenhahn, RA-Prot. VI, 18. Stzg, S. 17; Frowein, RA-Prot. VI, 17. Stzg, S. 24. Ähnlich Müller, RA-Prot. VI, 13. Stzg, S. 111/112 für den Fall des Erkenntniswandels in der Wissenschaft. 252 Müller, RA-Prot. VI, 13. Stzg, S. 112. 253 Von Geiger, Haager und Friesenhahn (unten Fn. 263/264) 254 RA-Beschlußprotokoll VI, 23. Stzg, S. 6. Dichgans hat die Idee endgültig aufgegeben (vgl. Dichgans, Recht und Politik, S. 950-955). 255 Philippi, Tatsachenfeststellungen, S. 162-168 (165). Zusammenfassungen bei Ossenbühl, Kontrolle, S. 472 und Bach, Prognosen, S. 81.

202

4. Teil: Institutionelle Eingriffsgesetze

kennt. Er ist zu dem Ergebnis gekommen, daß es eine nach Sachbereichen abgestufte Kontrolle v o r n i m m t . 2 5 6 Das B V e r f G hat diese Rechtsprechung i m Mitbestimmungsurteil stärker systematisiert. 2 5 7 Es räumt dem Gesetzgeber nunmehr bei Prognosen stets einen Entscheidungsspielraum ein. Die Einschätzungsprärogative reicht allerdings unterschiedlich weit. Das richtet sich nach den Möglichkeiten rationaler Vorhersage, nach der Bedeutung der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter und nach der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs. Die Kontrolle erfolgt dementsprechend in drei Stufen. Sie reicht von einer Evidenz- über eine Vertretbarkeitskontrolle bis hin zu einer intensivierten inhaltlichen Überprüfung. 2 5 8 Berücksichtigt man diese neuere Rechtsprechung, so hat die rechtspolitische Forderung nach einer Bindung des BVerfG an die Feststellungen des Gesetzgebers heute weniger Berechtigung denn j e . 2 5 9 Das gilt vor allem, wenn man sich die Folgen einer vollen Bindung für den verfassungsgerichtlichen Grundrechtsschutz exemplarisch vor Augen führt. In dieser Beziehung ist der TierschutzBeschluß 2 6 0 besonders aufschlußreich. 1972 war während der Debatte um das Tierschutzgesetz bekannt geworden, daß einige Tierhändler junge Hunde mit der Post per Nachnahme verschickten. Da die Hunde bei Annahmeverweigerung oft Tage ohne Licht und Nahrung unterwegs waren, kam es zu schweren gesundheitlichen Schäden, mitunter zum Tod der Tiere. Der Gesetzgeber verbot darum in § 3 Nr. 9 TierschutzG generell den Versand von Tieren per Nachnahme. Bald stellte sich heraus, daß viele Tierarten (Eintagsküken, Fische etc.) seit Jahrzehnten per Nachnahme verschickt wurden. Dabei waren i m Postbetrieb keine nennenswerten Störungen aufgetreten. Soweit feststellbar war der Transport auch für die Tiere nicht außergewöhnlich unangenehm. Besonders eindrucksvoll ließ sich das bei Mehlwürmern beweisen. 2 6 1 Sie sind in den Päckchen mit genügend Nahrung versorgt, brauchen kein Licht und empfinden als wirbellose Tiere bei Erschütterungen keinen Schmerz. Wäre das BVerfG an die Tatsachenfeststellungen des Gesetzgebers gebunden gewesen, so hätte die Verfassungsbeschwerde der Tierhändler keine Aussicht auf Erfolg gehabt. Denn das Gericht konnte in den Gesetzgebungsmaterialien nachlesen, daß der Nachnahmeversand bei allen Tierarten gesundheitliche Gefah256 Ossenbühl, Kontrolle, S. 498 - 501. Er schlägt ferner Topoi für eine unterschiedlich intensive Kontrolle vor (aaO. S. 504-511). 257 BVerfGE 50, 290 (331-333); zustimmend Herzog, MDHS, Art. 20 V I I Rn. 53. Schiaich, BVerfG, Rn. 496 sieht in der Arbeit von Ossenbühl die „literarische Vorlage". 258 Kritisch: Schiaich, BVerfG, Rn. 499-502. 259 Ebenso Fromme, Ein Gericht gegen die totale Demokratie. Das BVerfG besteht seit 25 Jahren, FAZ vom 26.11.76, S. 10 („nicht vertretbar"). 260 BVerfGE 36, S. 47-65. 261 Das Mehlwürmer-Beispiel stammt von Dichgans, Recht und Politik, S. 954/955 (aufgenommen von Ossenbühl, Kontrolle, S. 474). Es findet sich nicht im Tatbestand von BVerfGE 36, S. 47-65.

E. Tatsachenbindung

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ren mit sich bringe. 2 6 2 Das BVerfG hätte ohne weitere Sachprüfung zu dem Ergebnis kommen müssen, daß die mit § 3 Nr. 9 TierschutzG verbundene Einschränkung der Berufsausübungsfreiheit i m Interesse des Tierschutzes erforderlich und den Tierhändlern zumutbar ist. Nach geltendem Recht konnte das B V e r f G die wahre Sachlage erforschen und feststellen, daß das pauschale Verbot des Nachnahmeversandes für wirksamen Tierschutz nicht nötig ist, also eine unverhältnismäßige Einschränkung des Art. 12 Abs. 1 G G darstellt und darum verfassungswidrig ist. Das Beispiel zeigt, daß die Bindung des B V e r f G an die Sachverhaltsdarstellung des Gesetzgebers eine wenig sinnvolle Beschränkung des Grundrechtsschutzes nach sich zieht und darum rechtspolitisch nicht empfehlenswert ist.

I I . Die verfassungsrechtliche Diskussion Bereits bei der Debatte i m Rechtsausschuß wurde die rechtliche Zulässigkeit der Bindung in Frage gestellt. Die Richter Haager und G e i g e r 2 6 3 bezweifelten die Verfassungsmäßigkeit. Professor Friesenhahn nannte den geplanten § 26 a BVerfGG sogar „absolut verfassungswidrig", weil er gegen alle Grundlagen der Gerichtsbarkeit verstoße. 2 6 4 I m Rechtsausschuß war für eine ausführliche Begründung dieses Standpunkts keine Zeit, so daß nur auf einzelne Gesichtspunkte hingewiesen wurde. Die Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 26 a BVerfGG wurde später nur in wenigen wissenschaftlichen Stellungnahmen aufgegriffen. Dabei wurde stets die Verfassungswidrigkeit des Vorschlags angenommen. 2 6 5 Bei der Prüfung des Entwurfes ist davon auszugehen, daß der einfache Gesetzgeber nach Art. 94 Abs. 2 G G grundsätzlich befugt ist, die Frage der Tatsachenfeststellung zu regeln. Es handelt sich um eine Frage des „Verfahrens". Unter diesen Begriff fällt alles, „was herkömmlich in Verfahrensgesetzen geregelt w i r d " . 2 6 6 Das Problem der Tatsachenfeststellung muß aber in allen Prozeßordnungen gelöst werden. Dabei ist auch die Bindung des Gerichts an die Feststellung Dritter nicht unüblich. I m Zivilprozeß ist der Richter beispielsweise an den übereinstimmenden Sachvortrag der Parteien gebunden (§ 138 Abs. 3 ZPO), beim Versäumnisurteil sogar allein an den Vortrag des Klägers (§ 331 Abs. 1 ZPO). Ebenso ist i m

262 Darstellung der Entstehungsgeschichte in BVerfGE 36, 47 (60-62). 263 Geiger, RAProt. VI, 13. Stzg, S. 102-104, 114-116; Haager, RA-Prot. VI, 13. Stzg, S. 108. 264 Friesenhahn, RA-Prot. VI, 18. Stzg, S. 17. 265 Geiger, Lage, S. 128/129; Ossenbühl, Kontrolle, S. 467-469; Häberle, Verfgbkt, S. 40/41; Engelmann, Prozeßgrundsätze, S. 55/56; Klein, in: Benda/Klein, VerfPR, Rn. 204. 266 Maunz, MSBKU, Vorb. Rn. 33; Stern, BoK, Art. 94 Rn. 116.

204

4. Teil: Institutionelle Eingriffsgesetze

Strafprozeß der Revisionsrichter an die Tatsachenfeststellungen des Ausgangsgerichts gebunden (§ 337 Abs. 1 StPO). Nicht zuletzt sind alle Richter i m Rahmen der Rechtskraft an die Feststellungen anderer Gerichte gebunden. Art. 94 Abs. 2 G G ermächtigt also zu einer gesetzlichen Regelung der Sachverhaltsermittlung und gibt dem Gesetzgeber grundsätzlich die Möglichkeit, das BVerfG an Feststellungen Dritter zu binden. Der von Art. 94 Abs. 2 G G eingeräumte Gestaltungsspielraum ist allerdings begrenzt. Der einfache Gesetzgeber darf das Verfassungsprozeßrecht nur innerhalb des Rahmens regeln, den das Grundgesetz selbst v o r g i b t . 2 6 7 Art. 94 Abs. 2 G G gewährt nicht die Möglichkeit, verfassungsrechtliche Entscheidungen zu revidieren. Gegen den Gesetzentwurf ist vorgebracht worden, die Tatsachenbindung komme „praktisch einer Abschaffung der Normenkontrolle gleich". Wenn das zutrifft, würde das BVerfG im Ergebnis seiner grundgesetzlichen Zuständigkeiten „beraubt". Denn die inzidente, abstrakte und konkrete Normenprüfung sind in Art. 93 und 100 G G garantiert („kompetenzielles A r g u m e n t " ) . 2 6 8 Fraglich ist aber, ob die Tatsachenbindung wirklich die Normenkontrollbefugnis aushöhlen würde. Rein äußerlich berührt die Bindung nach § 26 a B V e r f G G den A b l a u f der Prozesse nicht. V o n einer Aushöhlung kann daher nur die Rede sein, wenn das Ergebnis der Normenkontrolle weitgehend präjudiziert würde. Der Tierschutz-Fall hat zwar gezeigt, daß die Sachverhaltsfeststellung für den Ausgang des Verfahrens von ausschlaggebender Bedeutung ist. Daraus kann man aber nicht den Schluß ziehen, daß die Bindung an Feststellungen des Gesetzgebers fast immer von streitentscheidender Bedeutung sein würde. Denn es gibt eine Reihe von Fällen, in denen die Sachanalyse der Parlamente zutrifft, die Bindung also nicht schaden würde. Außerdem gibt es viele Verfahren, in denen die Sachfragen nicht umstritten sind oder nicht entscheidend ins Gewicht fallen. I m Verfassungsprozeß geht es oftmals in erster Linie um die rechtliche Bewertung eines Sachverhalts. I m Volkszählungsurteil hat das BVerfG beispielsweise i m wesentlichen die Tatsachen gelten lassen, die der Gesetzgeber für die Notwendigkeit der Totalerhebung vorgebracht h a t . 2 6 9 Es kam aber bei Auslegung der Art. 1 Abs. 1 i. V . m . 2 Abs. 1 G G zu einer neuen rechtlichen Bewertung der entgegenstehenden Interessen. Die Anerkennung eines Rechts auf informationelle Selbsbestimmung war streitentscheidend. Daß i m Verfassungsprozeß primär Rechtsfragen geklärt werden, zeigt auch die Praxis der Verfassungsbeschwerde. Das BVerfG lehnt es nämlich regelmäßig 267 Stern, BoK, Art. 94 Rn. 105; näher oben 2. Teil Β I I Nr. 2. 268 Formulierungen von Ossenbühl, Kontrolle, S. 469; ähnlich Geiger, Lage, S. 128. 269 BVerfGE 65, 1 (55/56).

E. Tatsachenbindung nach § 33 B V e r f G G ab, eine erneute Sachverhaltsklärung

205 durchzuführen. 2 7 0

Der Beschwerdeführer kann darum oft nur mit rechtlichen Argumenten durchdringen. Daher kann nicht davon ausgegangen werden, daß eine Tatsachenbindung die Normenkontrolle sinnlos machen würde. Durch die Bindung würde auch die Kontrolle des Gesetzgebers nicht wesentlich eingeschränkt werden. Denn nach § 26 a B V e r f G G würde die Bindung i m Fall des Mißbrauchs nicht gelten. Der Gesetzgeber hätte also nicht die Möglichkeit, durch bewußt falsche Angaben i m Gesetzgebungsverfahren die Normenkontrolle zu manipulieren. Duch die Einführung einer Tatsachenbindung werden die Kompetenzen des BVerfG nach Art. 93 und 100 G G somit nicht ausgehöhlt. Allerdings könnte § 26 a BVerfGG in mehrfacher Hinsicht gegen das Rechtsstaatsgebot verstoßen. Dabei ist zunächst an das Gebot materialer Gerechtigkeit zu denken. W i e der Tierschutz-Fall zeigt, kann es nicht ausbleiben, daß das Gericht ungerechte Entscheidungen fällt, wenn die Bindungswirkung auch unrichtige Sachverhaltsfeststellungen des Gesetzgebers umfaßt. Denn die Wahrheitsfindung ist für die Gerechtigkeitsfrage stets essentiell. 2 7 1 Das Gebot materialer Gerechtigkeit erfährt i m Rechtsstaatsprinzip allerdings eine starke Einschränkung. Denn das Prinzip der Rechtssicherheit erfordert eine zügig arbeitende Gerichtsbarkeit. Verfahrensbeschleunigung und Gründlichkeit der Bearbeitung stehen aber in einem gewissen Widerstreit. Es ist Sache des Gesetzgebers, diesen Zielkonflikt zu lösen. Dabei darf er zur Entlastung der Gerichte und zur Beschleunigung der Verfahren auch Regelungen einführen, die materiell unrichtige Entscheidungen nach sich ziehen können. 2 7 2 Die Grenze seines Gestaltungsspielraums besteht lediglich i m Willkürverbot. I m Rahmen des § 26 a BVerfGG läßt sich nicht bestreiten, daß mit der Bindung an die Feststellungen des Gesetzgebers ein Entlastungseffekt verbunden wäre. Der Gesetzgeber könnte sich also auf den Gedanken der Rechtssicherheit berufen. Seine Entscheidung wäre darum nur zu beanstanden, wenn sie willkürlich wäre. Da das BVerfG nach wie vor mit Verfahren überlastet ist, tut aber eine Verfahrensbeschleunigung not. Es läßt sich auch nicht nachweisen, daß die Wahl des Mittels auf sachfremden Erwägungen beruht. Insbesondere kann nicht unterstellt werden, der Gesetzgeber wolle sich mit § 26 a BVerfGG der verfassungsgerichtlichen Kontrolle entziehen. Denn für den Fall des Mißbrauchs gilt die Bindung gerade nicht. Schließlich herrscht zwischen dem Entlastungseffekt und dem Richtigkeitsverlust der Urteile keine so große Diskrepanz, daß man von W i l l k ü r sprechen 270 Klein, in: Benda/Klein, VerfPR, Rn. 212 m.w.N. 271 Daß materiale Gerechtigkeit vom BVerfG oft als „richtige Rechtsanwendung auf wahre Sachverhalte" verstanden wird, weist Robbers, Gerechtigkeit, S. 57-60 nach. 272 BVerfGE 60, 253 (268/269) für das Anwaltsverschulden bei Fristversäumnis im Asylverfahren. Allgemein zum Widerstreit der Teilprinzipien: Jarass / Pieroth, Art. 20 Rn. 44, Benda, HbVerfR, S. 482-485 und Robbers, Gerechtigkeit, S. 63-70.

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4. Teil: Institutionelle Eingriffsgesetze

müßte. Es ist nämlich bereits jetzt nichts Ungewöhnliches, daß das B V e r f G Feststellungen des Gesetzgebers und der Fachgerichte nur i m groben prüft und dann übernimmt. Die Einschränkung des Prinzips materialer Gerechtigkeit wäre daher in diesem Fall statthaft. I m Rahmen des Rechtsstaatsprinzips muß auch der Einwand geprüft werden, die Tatsachenbindung sei schon theoretisch unklar und praktisch nicht durchführbar. Wenngleich es nicht ausdrücklich angesprochen wurde, so liegt darin der Sache nach ein Hinweis auf das Gebot der Normenklarheit. Denn der Erlaß unbestimmter und damit undurchführbarer Gesetze ist mit dem Rechtsstaatsgedanken nicht vereinbar. 2 7 3 Die Unklarheit des Gesetzes wurde mit dem Argument begründet, daß es den in § 26 a BVerfGG angeführten „Gesetzgeber" gar nicht gebe. Der Gesetzgeber sei ein reines „ A b s t r a k t u m " . 2 7 4 A m Gesetzgebungsprozeß seien in Wahrheit je nach A r t des Gesetzes verschiedene Gremien beteiligt, die unterschiedlicher Meinung über die Sachlage sein könnten. Wenn Bundesrat und Bundestag abweichende Vorstellungen hätten, sei folglich die Rechtslage unklar. 2 7 5 Diese Einwände führen i m Ergebnis nicht zur Verfassungswidrigkeit. Denn eine Norm ist erst dann wegen Unbestimmtheit nichtig, wenn sich auch durch Auslegung kein realisierbarer Handlungsbefehl ermitteln l ä ß t . 2 7 6 Soweit § 26 a B V e r f G G von dem „Gesetzgeber" spricht, kann man aber je nach Sachzusammenhang erkennen, welche Gremien konkret gemeint sind. Ebenso kann durch Auslegung ermittelt werden, welche Sachverhaltsannahme gelten soll, wenn Bundesrat und Bundestag unterschiedlicher Ansicht sind. M a n kann die Streitfrage z.B. unter Rückgriff auf die zivilrechtliche Rechtsgeschäftslehre entscheiden. Wenn eine Person gleichzeitig zwei einander widersprechende Erklärungen abgibt, dann ist nach § 130 B G B keine Erklärung verbindlich. Diesen Rechtsgedanken könnte man bei divergierenden Sachverhaltsdarstellungen i m Gesetzgebungsverfahren übernehmen. Die Auslegungsschwierigkeiten in Einzelfragen führen jedenfalls nicht zur Aufhebung der Norm nach dem Unbestimmtheitsgrundsatz. I m Rahmen des Rechtsstaatsprinzips muß schließlich auf einen rechtstheoretischen Einwand eingegangen werden. In der Diskussion wurde mehrfach darauf hingewiesen, daß sich N o r m und Wirklichkeit nicht messerscharf voneinander trennen lassen, sondern in engem Zusammenhang stehen. Jede Norm kann nämlich als Lösung eines realen Problems verstanden werden. Daher muß sie mit B l i c k auf die tatsächlichen Gegebenheiten ausgelegt werden. Besonders bei der Auslegung der Verfassung ist diese Wechselbeziehung von Rechtssatz und zu

273 274 275 276

BVerfGE 1, 14 (45); 21, 73 (79); 83, 130 (145). Friesenhahn, RA-Prot. VI, 18. Stzg, S. 17. Vgl. oben Fn. 249 und die Erwiderung von Dichgans Fn. 250. BVerfGE 21, 245 (261); 31, 255 (264); 67, 1 (54).

E. Tatsachenbindung

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regelndem Sachbereich bedeutsam. 2 7 7 Insofern kann man von einem „hermeneutischen Argument" sprechen. 2 7 8 M i t diesem Einwand wird das Prinzip des Vorrangs der Verfassung angesprochen. Nach Art. 20 Abs. 3, 1 Abs. 3 G G ist die Verfassung unmittelbar geltendes Recht. Das beinhaltet die Forderung, daß die i m Grundgesetz enthaltenen Rechtssätze die Realität gestalten sollen. Dabei ist es nach Art. 93 G G insbesondere die Aufgabe des verfassungsgerichtlichen Verfahrens, den Vorrang der Verfassung zu sichern. Das B V e r f G hat also die Funktion, das Verfassungsrecht in die Verfassungswirklichkeit umzusetzen. 2 7 9 Aus diesem Grund ist auch gerügt worden, die Tatsachenbindung stelle keine funktionsgerechte Ausgestaltung des verfassungsgerichtlichen Verfahrens d a r . 2 8 0 In der Tat könnte das B V e r f G seiner Aufgabe, dem Grundgesetz i m Verfassungsleben Geltung zu verschaffen, nicht gerecht werden, wenn es gezwungen wäre, von offenkundig falschen Realitätsvorstellungen auszugehen. Denn die fehlerhafte Tatsachensicht müßte sich verzerrend auf das Urteil auswirken und damit die Geltungskraft der Verfassung beeinträchtigen. Allerdings stellt sich bei der vorgeschlagenen Tatsachenbindung das Problem nicht in dieser Weise. Denn die Realitätsvorstellungen des Gesetzgebers sind oft richtig. Geht man davon aus, daß zusätzliche Untersuchungen des BVerfG zu einer größeren Realitätsnähe führen, so steht lediglich eine gute Ermittlungsmethode einer Besseren gegenüber. Letztendlich ist aber keine Form der Tatsachenermittlung frei von Irrtümern, so daß eine gewisse Fehlerquote unvermeidlich ist. Es stellt sich darum die Frage, ob der Grundsatz des Vorrangs der Verfassung die bestmögliche Untersuchungsmethode erzwingt oder ob er ähnlichen Einschränkungen unterliegt wie das Prinzip der materialen Gerechtigkeit. Denn der Vorrang der Verfassung fordert nicht nur eine realitätsnahe Fallbehandlung, sondern auch die Durchsetzung der Verfassung in einer Vielzahl von Verfahren. Es besteht also derselbe Zielkonflikt zwischen Verfahrensbeschleunigung und Gründlichkeit der Sachbehandlung. Demzufolge ist der Legislative der gleiche Entscheidungsspielraum einzuräumen. W e i l die Willkürgrenze nicht überschritten ist, kann man nicht davon ausgehen, daß der Vorrang der Verfassung einer Tatsachenbindung entgegensteht. Schließlich könnte das Gewaltenteilungsprinzip einer Bindung an die Feststellungen des Gesetzgebers widersprechen. Die Berufung auf die in den Art. 20 277 Hesse, Grundzüge, Rn. 64/65. 278 Ossenbühl, Kontrolle, S. 468; ähnlich Häberle, Verfgbkt, S. 39/40 und bereits Müller, RA-Prot. VI, 13. Stzg, S. 105 sowie Rupp, RA-Prot. VI, 17. Stzg, Anlage 4, S. 4. 279 Vgl. Wahl, Vorrang, S. 485-488; Herzog, MDHS, Art. 20 V I Rn. 3, 4; Rinken, AltK, Art. 93 Rn. 2, 3, 72. 280 Häberle, Verfgbkt, S. 40/41; Engelmann, Prozeßgrundsätze, S. 55/56.

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4. Teil: Institutionelle Eingriffsgesetze

Abs. 2 S. 2, 92 und 97 G G geschaffene Gewaltenbalance wurde geradezu als Haupteinwand gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 26 a BVerfGG verwend e t . 2 8 1 Dabei wurde besonders betont, daß zu den klassischen Aufgaben der rechtsprechenden Gewalt nicht nur die Gesetzesauslegung, sondern auch die Wahrheitsfindung gehöre. Darum war von einem „traditionell-funktionellen A r gument" die Rede. 2 8 2 Daß Tatsachenermittlung und Beweiserhebung von alters her zur Rechtsprechungstätigkeit gehören, läßt sich schwer bestreiten. 2 8 3 Da § 26 a B V e r f G G die richterliche Tatsachenermittlung aber nicht abschafft, sondern nur einschränkt, und weil die herkömmlichen Prozeßordnungen durchaus eine Bindung des Richters bei der Wahrheitsfeststellung kennen, bedarf dieses Argument der Ergänzung. Der Hinweis genügt nicht, daß die Wahrheitsfindung funktionell Rechtsprechung ist und daß die sonst übliche Funktionenverschränkung i m Bereich der rechtsprechenden Gewalt von Art. 92 G G weitgehend vermieden w i r d . 2 8 4 Vielmehr muß dargelegt werden, daß gerade die Bindung an die Auffassung der Gesetzgebungsorgane unzulässig ist. Insofern ist es wesentlich, daß die vom BVerfG durchgeführte abstrakte, konkrete und inzidente Normenprüfung der Kontrolle der gesetzgebenden Gewalt dient. Die richterliche Normenprüfung ist also ein wesentliches Element der gegenseitigen Kontrolle der Staatsgewalten. Diese in Art. 20 Abs. 2 S. 2 G G angelegte Kontrolle w i r d relativiert, wenn das BVerfG als Kontrolleur an die Feststellungen des Kontrollierten gebunden ist. Da in unserem Regierungssystem die Kontrollaufgaben i m wesentlichen in der Hand der Rechtsprechung liegen und die Normenverwerfung das wichtigste Kontrollmittel der Judikative bildet, wird damit die Gewaltenkontrolle in einem wesentlichen Punkt gestört. Dies ist allein mit Gründen der Prozeßbeschleunigung nicht zu rechtfertigen. Neben Art. 20 Abs. 2 S. 2 G G verbietet auch der Gedanke der sachlichen Unabhängigkeit des Richters die Tatsachenbindung. 2 8 5 Zwar schließt der Wortlaut des Art. 97 Abs. 1 G G die beabsichtigte Bindung nicht aus. Denn die Richter wären bei Einführung des § 26 a BVerfGG „pro forma" an ein Gesetz gebunden. Der Zweck des Art. 97 Abs. 1 G G besteht aber darin, daß der Richter nur an den Rechtssatz und nicht auch an Weisungen, Beschlüsse und Ansichten anderer Staatsorgane gebunden i s t . 2 8 6 Dieser Zweck darf aber nicht dadurch umgangen werden, daß durch einfaches Gesetz die Verbindlichkeit der Weisungen, Be281 Geiger, Lage, S. 128; Ossenbühl, Kontrolle, S. 467/468; Engelmann, Prozeßgrundsätze, S. 55/56; ferner bereits im RA (Prot. VI): Haager, 13. Stzg, S. 108; Geiger, 13. Stzg, S. 103/114/115; Friesenhahn, 18. Stzg, S. 17. 282 Ossenbühl, Kontrolle, S. 467/468. 283 Explizit: Herzog, MDHS, Art. 92 Rn. 66/67; Bettermann, HbStR III, § 73 Rz. 50. 284 Achterberg, BoK, Art. 92 Rn. 113/114; Hesse, Grundzüge, Rn. 547, 552. 285 Ebenso bereits Geiger, Lage, S. 128. 286 Herzog, MDHS, Art. 92 Rn. 23; Seifert / Hömig, Art. 97 Rn. 2.

F. Abstimmungsmehrheiten

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schlüsse oder Ansichten normiert wird. I m übrigen hat die sachliche Unabhängigkeit des Richters auch den Sinn, seine Überparteilichkeit zu sichern. 2 8 7 Die Neutralität ist aber bei der Normenprüfung in Frage gestellt, wenn das BVerfG von vornherein an die Tatsachensicht einer Seite, der des Gesetzgebers, gebunden ist. Der vorgeschlagene § 26 a B V e r f G G ist somit wegen Verletzung der Art. 20 Abs. 2 S. 2, 92 und 97 Abs. 1 G G verfassungswidrig.

F. Erhöhung der Abstimmungsmehrheiten Die Frage, mit welcher Mehrheit die Richter eines Senats ihr Beschlüsse fassen, ist in der Verfassung nicht ausdrücklich geregelt. § 15 Abs. 3 S. 2 BVerfGG bestimmt, daß die einfache Mehrheit genügt, wenn ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt werden soll. In der Vergangenheit hat es mehrfach Überlegungen gegeben, dieses Abstimmungsquorum zu erhöhen. Dabei ist die Idee, ein einstimmiges V o t u m der Richter zu verlangen, nur selten erörtert worden. Häufiger wurde eine Zweidrittelmehrheit i m Senat gefordert. Beide Vorschläge sollten durch einen Änderung des BVerfGG, also durch einfaches Gesetz, verwirklicht werden.

I . Die Zweidrittelmehrheit Der Vorschlag eines Zweidrittelquorums hat schon nahezu Tradition. Soweit ersichtlich taucht der Gedanke erstmals 1956 in einem Aufsatz von W i l l i Geiger a u f . 2 8 8 Während dieser erste Vorstoß in Vergessenheit geriet und von Verfassungsrichter Geiger selbst nicht weiter verfolgt wurde, blieb der Reformvorschlag des C D U - A b g . Hans Dichgans i m Gedächtnis. 2 8 9 Er regte 1969 im Bundestag die Einführung einer Zweidrittelmehrheit a n . 2 9 0 Der Rechtsausschuß des Bundestages lehnte zwar ein Jahr später nach ausführlicher Diskussion das Zweidrittelquorum a b . 2 9 1 Denn die v o m Ausschuß angehörten Verfassungsrichter und Sachverständigen hatten sich „ u n i sono" gegen die Abstimmungsreform ausgesprochen. 2 9 2 Selbst W i l l i Geiger hatte gegen das Zweidrittelrecht votiert. 2 9 3 In den 287

Darauf weist Hesse, Grundzüge, Rn. 553 hin. Geiger, Reform, S. 233. 28 9 Zum Ganzen oben 1. Teil Β I Nr. 1. 2 90 1970 sprach sich außer Dichgans, RA-Prot. VI, 23. Stzg, S. 28/29, nur noch der Vorsitzende des Rechtsausschusses Carl Otto Lenz (CDU) für das Zweidrittelquorum aus (RA-Prot. 23. Stzg, S. 31/33). 2 91 RA-Beschlußprotokoll VI, 23. Stzg, S. 5. 292 Insgesamt aüßerten sich ablehnend: die Abg. Arndt (SPD), BT-Prot. V I S. 4597, RA-Prot., 23. Stzg, S. 30/31 und Diemer-Nicolaus (FDP), BT-Prot. VI, S. 1917/1918, die Verfassungsrichter Geiger, RA-Prot. VI, 17. Stzg, S. 115/116 und Seuffert, RA288

14 Häußler

210

4. Teil: Institutionelle Eingriffsgesetze

folgenden Jahren der sozial-liberalen Koalition wurde der Vorschlag aber mehrfach aufgegriffen und befürwortet, 2 9 4 so daß die Idee einer Zweidrittelmehrheit i m Gespräch b l i e b . 2 9 5

7. Die rechtspolitische

Argumentation

In der rechtspolitischen Diskussion wurden für das Zweidrittelquorum unterschiedliche Begründungen vorgetragen. Die erste Argumentationskette geht von der Vermutung der Rechtmäßigeit staatlicher Hoheitsakte aus. Insbesondere der Abg. Dichgans hat daraufhingewiesen, daß die Bundesgesetze bereits bei Bundesregierung, Bundestag, Bundesrat und Bundespräsident von Fachleuten und Juristen ausgiebig geprüft würden. Wenn das B V e r f G als fünftes Kontrollgremium einer anderen Rechtsansicht folge, so müsse i m Gericht eine größere Rechtsgewißheit herrschen, als sie eine Stimme vermitteln k ö n n e . 2 9 6 Die zweite Argumentationslinie betont die Gestaltungsfreiheit der Legislative. Sie geht davon aus, daß das B V e r f G den Entscheidungsspielraum der Parlamente zu sehr einenge. Deshalb müßten die Gewichte wieder zugunsten der Legislative zurecht gerückt werden. Das B V e r f G müsse in eine „demokratieangemessene Rolle" zurückgeführt werden. 2 9 7 A n die Stellung des BVerfG i m politischen Prozeß knüpft auch die dritte Begründungslinie an. Sie geht davon aus, daß das BVerfG als „Hüter des Grundkonsenses" über den Parteien stehen müsse. Deswegen solle i m BVerfG eine überparteiliche Mehrheit herrschen. Das bedeutet, daß die von der Regierung benannten Richter nicht in der Lage sein sollen, die von der Opposition vorgeschlagenen Richter zu überstimmen, und umgekehrt. 2 9 8 Die Befürworter des Zweidrittelquorums haben zur Novellierung von § 15 Abs. 3 und 4 B V e r f G G mehrere Textvorschläge gemacht. Die Formulierung des Abg. Dichgans lautete: 2 9 9

Prot. VI, 23. Stzg S. 29, die Staatsrechtslehrer Frowein, RA-Prot. VI, 17. Stzg, S. 24 und Rupp, RA-Prot. VI, 17. Stzg, S. 27 sowie Ministerialdirektor Bahlmann, RA-Prot. VI, 23. Stzg, S. 31/32. 293 Geiger hat das Zweidrittelquorum als „verfassungsrechtlich bedenklich" eingestuft (RA-Prot. VI, 13. Stzg, S. 115/116; ähnlich Lage, S. 127). 2< * Holtfort, Vorschläge, S. 196-199; Dopatka, Vorschläge, S. 19, Umwelt, S. 73/74; Lamprecht / Melanowski, Richter machen Politik, S. 53/54; Lange, Wie in der Residenz des Rechts die Bonner Politik gestoppt wird, FR vom 8.2.79, S. 14/15 (als „letztes Mittel"). 295 Neuerdings wieder Kerscher, SZ vom 20.10.92, S. 4 für die Entscheidung über den neuen § 218 StGB. 29 6 Dichgans, BT-Prot. V I S.4601. 29 ? Holtfort, Vorschläge, S. 191 /192; ähnlich Dichgans, BT-Prot. V S. 11677 -11679. 29 * Dopatka, Vorschläge, S. 18/19, Umwelt S. 73/74.

F. Abstimmungsmehrheiten

211

(3) Eine Entscheidung, durch die ein Bundesgesetz ganz oder teilweise für verfassungswidrig erklärt wird, bedarf der Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Gerichts. Der gleichen Mehrheit bedarf es im Verfahren gemäß § 13 Nrn. 1 , 2 , 4 und 9 zu einer dem Antragsteller nachteiligen Entscheidung. (4) Im übrigen entscheidet die Mehrheit der an der Entscheidung mitwirkenden Richter. Bei Stimmengleichheit kann ein Verstoß gegen das Grundgesetz oder sonstiges Recht nicht festgestellt werden. Die Gegner des Vorschlags machten in erster Linie geltend, daß durch ein Zweidrittelquorum die Handlungsfähigkeit des B V e r f G eingeschränkt werde. 3 0 0 Denn die Annahme liegt nahe, daß es um so seltener zu normenverwerfenden Entscheidungen kommen wird, je mehr Übereinstimmung man unter den Richtern verlangt. Wenn das B V e r f G aber nicht mehr i m selben Maße Gesetze aufhebt, so kann dies zu einer Einschränkung der verfassungsmäßigen Rechte führen. Daher wurde auch vorgetragen, die Reform wirke sich zu Lasten des Minderheiten- und Grundrechtsschutzes aus. 3 0 1 I m übrigen wurden die Argumente der Befürworter bestritten. Dabei fiel es den Gegnern des Zweidrittelquorums nicht schwer, die erste Argumentationslinie ins Wanken zu bringen. Denn der Hinweis auf die Vermutung der Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns hat keine große Bedeutung, wenn es um die Kontrolle staatlicher Hoheitsakte g e h t . 3 0 2 Zur rechtlichen Vorprüfung der Gesetze i m Parlament kamen aus dem Bundestag selbst kritische Stimmen. Frau Diemer-Nicolaus (FDP) erklärte, sie habe es mehrfach erlebt, daß eine Gesetzesvorlage trotz erheblicher verfassungsrechtlicher Bedenken des Rechtsausschusses beschlossen w u r d e , 3 0 3 und Claus Arndt (SPD) fügte hinzu, in Bundestag und Bundesrat finde in erster Linie eine politische, keine rechtliche Entscheidungsfindung statt. 3 0 4 Damit war zwar dargelegt, daß die Selbstkontrolle der Gesetzgebungsorgane in verfassungsrechtlicher Hinsicht mitunter zu wünschen übrig läßt. Die Forderung nach mehr Rechtsgewißheit war aber i m Kern nicht entkräftet. Denn es läßt sich nicht bestreiten, daß von einem erhöhten Abstimmungsquorum traditionell eine größere Richtigkeitsgewähr der Urteile erwartet wird. Es ist in erster Linie eine Vertrauensfrage, ob man beim BVerfG eine höhere Richtigkeitsgewähr für nötig hält oder nicht.

299 RA-Beschlußprotokoll VI, 23. Stzg S. 5. Die Beschränkung auf Bundesgesetze ist kein Redaktionsversehen (vgl. Lenz, RA-Prot. VI, 23. Stzg, S. 33), aber sachlich nicht gerechtfertigt (ebenso: Rupp, RA-Prot. VI, 17. Stzg, Anlage 4, S. 5). Eine andere Textvariante liefert Dopatka, Vorschläge, S. 19, Umwelt S. 74. 300 Säcker, Rechtsmacht, S. 189. 301 Hirsch, Einführung, S. 5, Verfgbkt, S. 190. 302 Vgl. Geiger, Lage, S. 127. 303 BT-Prot. V I S. 1915/1916. Sehr ähnlich äußern sich Bischoffund Quaritsch, in: Grote, Cappenberger Gespräch, S. 62/66. 304 RA-Prot. VI, 23. Stzg, S. 30. 14*

212

4. Teil: Institutionelle Eingriffsgesetze

Ebenso war eine echte Widerlegung der anderen Argumente nicht möglich. Denn es ist letztlich ein Problem der Tatsachenbewertung, ob man den Einfluß der Verfassungsrechtsprechung auf die parlamentarische Entscheidung für zu groß hält oder nicht. Man muß freilich zur Kenntnis nehmen, daß das B V e r f G selbst den Grundsatz des „judicial self-restraint" betont und den Gestaltungsspielraum der Legislative mehrfach hervorgehoben h a t . 3 0 5 Die Gegner des Vorschlags beriefen sich auf diese Entscheidungen und waren darum der Ansicht, daß das BVerfG den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers nicht zu sehr beschränke. Eine Zweidrittelmehrheit sei darum nicht n ö t i g . 3 0 6 Nicht anders verhält es sich mit dem Argument der Überparteilichkeit. M a n kann anhand von historischen Beispielen 3 0 7 zeigen, daß die Richter gerade in hochpolitischen Verfahren nicht „nach Parteibuch" entschieden haben, so daß die Überparteilichkeit des Gerichts auch bei einfacher Abstimmungsmehrheit gewährleistet war. Dann ist ein Erfordernis für ein Zweidrittelquorum nicht mehr erkennbar. Die Klagen über zu wenig richterliche Zurückhaltung sind ebenso wie die Forderung nach mehr parteipolitischer Ausgewogenheit mittlerweile verstummt. 3 0 8 Daher besteht heute weniger denn je ein Bedürfnis für einen Eingriff in die Entscheidungsfindung des Gerichts. Die Einführung eines Zweidrittelquorums ist somit in rechtspolitischer Hinsicht abzulehnen. 3 0 9

2. Die verfassungsrechtliche

Argumentation

In der rechtspolitischen Diskussion gingen nicht nur die Befürworter, sondern auch mehrere Gegner 3 1 0 von der Verfassungsmäßigkeit des Zweidrittelquorums aus. Die Verfassungsmäßigkeit der Regelung ist aber auch in Zweifel gezogen worden. Teilweise wurde in formeller Hinsicht die Kompetenz des einfachen Gesetzgebers zum Erlaß der Vorschrift bestritten. Denn die Einführung qualifizierter Abstimmungsmehrheiten sei keine Frage des Verfahrens i.S. von Art. 94 Abs. 2 G G . 3 1 1 Teilweise wurde in materieller Hinsicht kritisiert, daß die Regelung den „Kernbereich der dem B V e r f G zugewiesenen A u f g a b e n " 3 1 2 verletze oder 305 BVerfGE 36,1 (14/15) zum „judicial self-restraint". Grundlegend zur Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers: BVerfGE 1, 14 (32); 3, 58 (135/136); 3, 162 (182). 306 Rupp, RA-Prot. VI, 17. Stzg, Anlage 4, S. 5; Bahlmann, RA-Prot. VI, 23. Stzg, S. 32. 307 Beispielsweise die Entscheidungen während der EVG-Krise und am Ende des Grundvertragstreits (vgl. 1. Teil A I Nr. 2 und Β I Nr. 2). 308 Diese Einschätzung teilt der Politologe Wewer, BVerfG, S. 326/327 und 330-332. 309 Ebenso Ritterspach, Reformen, S. 297/298; Hirsch, Einführung, S. 4/5, Verfgbkt, S. 190; Säcker, Rechtsmacht, S. 198. 310 Säcker, Rechtsmacht, S. 198; Frowein, RA-Prot. VI, 17. Stzg, S. 24; Rupp, RAProt. VI, 17. Stzg, S. 27. 311 Friesenhahn, RA-Prot. VI, 18. Stzg, S. 14/15.

F. Abstimmungsmehrheiten

213

der „Grundentscheidung des Grundgesetzes für eine effektive Verfassungsgerichtsbarkeit" widerspreche. 3 1 3 Der formelle Einwand fehlender Zuständigkeit ist allerdings wenig überzeugend. Denn die in Art. 94 Abs. 2 G G verliehene Befugnis, „Verfassung" und „Verfahren" des Gerichts zu regeln, reicht inhaltlich ebenso weit wie die Ermächtigung in Art. 74 Nr. 1 GG, „die Gerichtsverfassung" und „das gerichtliche Verfahren" zu bestimmen. Für die gleiche Auslegung der beiden Vorschriften spricht nicht nur die Ähnlichkeit des Wortlauts, sondern auch die Ähnlichkeit der zugrunde liegenden Sachverhalte. Denn die Organisation des Verfassungsgerichts ist nur ein Sonderfall der Justizorganisation, so daß Art. 94 Abs. 2 G G als „lex specialis" zu Art. 74 Nr. 1 G G begriffen werden k a n n . 3 1 4 I m Rahmen der allgemeinen Bestimmung des Art. 74 Nr. 1 G G ist es aber unstreitig, daß zum Verfahrensrecht auch die Regeln über Abstimmungsmehrheiten gehören. Solche Vorschriften finden sich etwa in §§ 196 G V G , 263 StPO. Für den Spezialfall des verfassungsgerichtlichen Verfahrens gilt nichts anderes. 315 Daher schließt die in Art. 94 Abs. 2 G G verliehene Befugnis, das „Verfahren" des Gerichts zu regeln, die Ermächtigung ein, das Abstimmungsquorum festzulegen.316 Weniger eindeutig ist die materielle Rechtslage. Denn es ist zu berücksichtigen, daß Art. 94 Abs. 2 S. 1 G G dem einfachen Gesetzgeber nur einen beschränkten Gestaltungsspielraum einräumt. Soweit das Verfahren durch eine verfassungsrechtliche Entscheidung bestimmt ist, darf der einfache Gesetzgeber davon nicht abweichen. Das ergibt sich aus der Stufenlehre des Rechts. Die Bindung an verfassungsrechtliche Vorgaben läßt sich aber auch historisch begründen. Denn die ursprüngliche, im Sinn nicht abgeänderte Fassung des Art. 94 Abs. 2 GG i m Herrenchiemseeentwurf lautete: „ D i e weiteren Bestimmungen werden durch Bundesgesetz getroffen." 3 1 7 Dabei könnte das Demokratieprinzip eine solche verfassungsrechtliche Vorgabe beinhalten. Denn i m demokratischen Rechtsstaat werden Entscheidungen grundsätzlich mit einfacher Mehrheit getroffen. Die Einführung eines Zweidrittel-

312 Benda, in: Benda/Klein, VerfPR, Rn. 59. 313 Geiger, Lage, S. 127; ähnlich in RA-Prot. VI, 13. Stzg, S. 115/116 („verfassungsrechtlich bedenklich"). 314 Ausführliche Darstellung oben 2. Teil Β I I Nr. 1. 315 Das zeigt auch die historische Auslegung. Denn Art. 94 Abs. 2 GG ist in Anlehnung an Art. 108 W V geschaffen worden (Doemming, Entstehungsgeschichte, S. 682). In der Weimarer Republik sah das Gesetz über den Staatsgerichtshof eine Regelung der Abstimmungsfrage vor. § 23 StGHG ermächtigte zur Regelung in der Geschäftsordnung. § 8 GO StGH verwies auf §§ 169-196 GVG, so daß nach § 196 GVG die einfache Mehrheit genügte. 316 So ausdrücklich Stern, BoK, Art. 94 Rn. 116. 317 Doemming, Entstehungsgeschichte, S. 683.

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4. Teil: Institutionelle Eingriffsgesetze

quorums kann aber dazu führen, daß letztlich eine Minderheit des Gerichts das Entscheidungsergebnis festlegt. 3 1 8 Es kann hier dahingestellt bleiben, ob das Mehrheitsprinzip überhaupt für Sachentscheidungen von Gerichten gilt. Denn die Gerichte sind nach Art. 20 Abs. 3 G G an Gesetz und Recht gebunden. Die Schaffung von Kollegialgerichten dient in erster Linie dazu, daß beim Gedankenaustausch unter den Richtern alle rechtlichen Gesichtspunkte berücksichtigt werden. A u c h die Abstimmung i m Gericht steht unter diesem rechtlichen Vorzeichen und hat damit eine andere Qualität als die Abstimmung i m Parlament. Geht man trotzdem davon aus, daß das Mehrheitsprinzip auch bei der Urteilsfindung Anwendung findet, ist zu beachten, daß das Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 1 G G kein reines Mehrheitsprinzip vorschreibt. W i e Art. 79 Abs. 2 G G deutlich macht, kann bei besonders wichtigen Fragen der Minderheit eine streitentscheidende Rolle eingeräumt werden. Diese Durchbrechung des Mehrheitsp r i n z i p s 3 1 9 ist i m Prozeßrecht anerkannt. Darum w i r d beispielsweise i m Strafverfahren nach § 263 StPO eine Zweidrittelmehrheit für den Schuldspruch verlangt. Die Aufhebung eines Gesetzes ist aber eine Entscheidung von nicht minder schwerer Bedeutung, 3 2 0 so daß die Einführung des Zweidrittelquorums nicht am Mehrheitsprinzip scheitern kann. Außerdem sind die Gesetze, die auf ihre Verfassungsmäßigkeit geprüft werden, Produkte einer parlamentarischen Mehrheit und damit bereits demokratisch legitimiert. Weiterhin könnte der „Kernbereich" der dem BVerfG zugewiesenen Aufgaben berührt sein. Denn in Art. 93 und 100 G G ist die Durchführung der abstrakten, konkreten und inzidenten Normenkontrolle vorgesehen. Der einfache Gesetzgeber darf daher keine Regelungen treffen, die die Normenkontrolltätigkeit des Verfassungsgerichts i m Ergebnis vereiteln. I m Erfordernis der Zweidrittelmehrheit kann aber keine Behinderung oder Störung des äußeren Prozeßablaufs gesehen werden. M a g auch intern die Einigung unter den Richtern erschwert werden, so schlägt das extern auf den A b l a u f des Gerichtsverfahrens nicht durch. Das Zweidrittelquorum führt auch nicht zur Verhinderung normenverwerfender Entscheidungen. Denn die Aufhebung eines Gesetzes bleibt nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch möglich. Bei acht Richtern bedeutet die Einführung des Zweidrittelquorums lediglich, daß i m Regelfall ein Richter mehr zustimmen muß als bisher. 3 2 1 Es gab aber in der Vergangen318 Ebenso bereits Seuffert, RA-Prot. VI, 23. Stzg, S. 29. 319 Das Erfordernis qualifizierter Mehrheiten ist in der Regel kein Ausfluß des Demokratiegedankens, sondern eine Einschränkung (Böckenförde, HbStR I, § 22 Rn. 54/55; Hofmann / Dreier, in: Schneider / Zeh, ParlR, § 5 Rn. 68). 320 Ebenso Dichgans, BT-Prot. V I S. 4601. 321 Sind alle 8 Richter anwesend, so beträgt die erforderliche Mehrheit derzeit 5 : 3 Stimmen und bei Einführung des Zweidrittelquorums 6 : 2. Bei 7 Richtern genügt jetzt eine 3 : 4 — Mehrheit, dann 5 : 2. Wenn nur 6 Richter mitwirken können, bleibt es beim Verhältnis von 4 : 2.

F. Abstimmungsmehrheiten

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heit etliche Nomenkontrollentscheidungen, die nicht mit der Mindestmehrheit von 5 : 3 , sondern mit einer Mehrheit von 6 : 2, 7 : 1 oder 8 : 0 ergangen s i n d . 3 2 2 Diese Mehrheiten sind für das Zweidrittelquorum ausreichend, so daß bei dessen Einführung nicht mit einem Erlahmen der Normenkontrolltätigkeit nach Art. 93 und 100 G G zu rechnen ist. Damit stellt sich die schwierige Frage, ob die Einführung des Zweidrittelquorums der „Grundentscheidung für eine effektive Verfassungsgerichtsbarkeit" w i derspricht. Dies setzt voraus, daß den Art. 92, 93, 94, 97, 99 und 100 G G eine solche Grundentscheidung zu entnehmen ist. Blickt man auf die Fülle der dem BVerfG übertragenen Einzelzuständigkeiten, dann liegt der Schluß auf ein Gebot effektiver Verfassungsgerichtsbarkeit nahe. Indessen vernachlässigt diese Betrachtungsweise, daß nach dem Enumerationsprinzip keine Allzuständigkeit des BVerfG besteht und daß die Verfassung in Art. 93 Abs. 2, 94 Abs. 2 S. 1 G G der Legislative wichtige Entscheidungen überlassen hat. Der Parlamentarische Rat hat trotz Erörterung verfahrensrechtlicher Einzelfragen bewußt die Ausgestaltung des Verfassungsprozeßrechts weitgehend in die Hände des einfachen Gesetzgebers gelegt. 3 2 3 W i l l man diese Entscheidung des Verfassungsgebers respektieren, so muß man dem einfachen Gesetzgeber einen breiten Ausgestaltungsspielraum belassen. 3 2 4 V o n den vielen Möglichkeiten der Ausgestaltung des Gerichtsverfahrens kann man ihn nicht auf die Lösung festlegen, die die Rolle des BVerfG i m Verfassungsleben in größtmöglichem Maße effektiviert. Vielmehr bedingt es das in Art. 94 Abs. 2 G G geschaffene Konkretisierungsrecht des Gesetzgebers, daß er den Einfluß des Verfassungsgerichts i m politischen Leben auch zurückdrängen darf. Die Grenze bildet nicht der Grundsatz einer möglichst effektiven Verfassungsgerichtsbarkeit, sondern das Prinzip einer funktionierenden Verfassungsrechtsprechung. Das lehrt der Vergleich mit Art. 115 g GG. Für den Verteidigungsfall wird darin ausdrücklich ein Verbot statuiert, die Funktionsfähigkeit des BVerfG zu beschränken. Dieses Verbot gilt zwar nicht für Friedenszeiten. 3 2 5 Denn es wurde bewußt darauf verzichtet, das Beschränkungsverbot des Art. 115 g S. 1 GG in Art. 94 GG aufzunehmen. Der Bundestag ging aber davon aus, daß es neben dem besonderen Schutz des Art. 115 g S. 1 G G aus dem Grundsatz der 322 Einstimmig ergingen etwa das Bundesratsurteil (BVerfGE 37, 363 ff.) und das Grundvertragsurteil (BVerfGE 36, 1 ff.). Im Tenor einstimmig, aber mit abweichenden Voten in der Begründung ergingen Radikalenbeschluß (BVerfGE 39,334 ff.) und KalkarUrteil (BVerfGE 49, 89 ff.). Das Postkarten-Urteil (BVerfGE 48, 127 ff.) wurde teils 7 : 1 , teils 6 : 2 verabschiedet, das Hochschul-Urteil (BVerfGE 35, 79 ff.) insgesamt mit 6:2. 323 Doemming, Entstehungsgeschichte, S. 684-689. 324 Enger: Stern, BoK, Art. 94 Rn. 105. 325 Das folgt aus dem Textzusammenhang, auch wenn es aus dem Wortlaut nicht klar hervorgeht (Herzog, MDHS, Art. 115 g Rn. 9).

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4. Teil: Institutionelle Eingriffsgesetze

Organtreue ein allgemeines Verbot gebe, andere Verfassungsorgane in ihrer Tätigkeit zu behindern. 3 2 6 Dieses allgemeine Beschränkungsverbot ist i m Bereich der Gesetzgebung bereits dem Regelungsauftrag des Art. 94 Abs. 2 S. 1 GG immanent. 3 2 7 Inhaltlich kann es aber nicht weiterreichen, als der besondere Schutz des Art. 115 g GG. Denn ansonsten würde Art. 115g G G seinem Zweck zuwider die Eingriffsschwelle gegenüber dem BVerfG in Krisenzeiten herabsetzen. Der Umkehrschluß aus Art. 115 g G G zeigt also, daß der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers i m Rahmen des Art. 94 Abs. 2 G G nicht stärker eingeschränkt ist, als es die Funktionsfähigkeit des B V e r f G gebietet. Prüft man die Zweidrittelmehrheit an diesem Maßstab, so muß man zu dem Ergebnis kommen, daß das Zweidrittelquorum die Funktionsfähigkeit des Gerichts insgesamt ebenso wenig in Frage stellt wie seine Normenkontrolltätigkeit. Dafür sprechen auch die Erfahrungen mit § 15 Abs. 3 S. 1 BVerfGG. Für die quasi-strafrechtlichen Verfahren nach Art. 18, 21, 61 und 98 G G gilt nämlich bereits das Zweidrittelerfordernis. Insbesondere für das Partei Verbots verfahren ist die erhöhte Mehrheit nötig. Die Prozesse gegen die SRP und die K P D können darum als Musterbeispiele dafür angeführt werden, daß eine Zweidrittelmehrheit die Funktionsfähigkeit des B V e r f G nicht behindert. 3 2 8

I I . Das einstimmige V o t u m Die Frage, ob ein einstimmiges Votum rechtspolitisch wünschenswert ist, wird nur selten erörtert und überwiegend abgelehnt. 3 2 9 Selbst der Abg. Dichgans, der eine entsprechende Regelung kurzzeitig erwogen hat, ist davon wieder abger ü c k t . 3 3 0 Denn es ist wenig sinnvoll, bei acht Richtern, die unterschiedlicher politischer, gesellschaftlicher und weltanschaulicher Herkunft sind, völlige Übereinstimmung zu fordern. Es ist zwar unbestreitbar, daß mit dem einstimmigen V o t u m eine hohe Richtigkeitsgewähr verbunden ist. Diese Einstimmigkeit könnte aber nur in den Fragen erzielt werden, die auch in der Wissenschaft weitgehend unbestritten sind. I n allen Fällen bestrittenen Rechts müßte sich das Prinzip der Einstimmigkeit i m Ergebnis einseitig zugunsten des Gesetzgebers auswirken. Daher ist der Vorschlag rechtspolitisch verfehlt. 326 BT-Drs. V, Nr. 1879, S. 28/29. Zustimmend: Herzog, MDHS, Art. 115 g Rn. 16; Versteyl, vMü, Art. 115 g Rn. 2. 327 Ausführliche Begründung oben: 2. Teil II Nr. 2. 328 BVerfGE 2, 1 ff. (SRP); BVerfGE 5, 85 ff. (KPD). Beide Parteien wurden wegen Verfolgung verfassungswidriger Ziele mit der nötigen Zweidrittelmehrheit aufgelöst. 329 Hirsch, Der Spiegel, 1978, H. 48, S. 47; wohl auch Benda, in: Benda/Klein, VerfPR, Rn. 59. 330 Dichgans, BT-Prot. V S. 11679. Er ist später davon zugunsten eines Zweidrittelquorums abgerückt (vgl. Dichgans, Recht und Politik, S. 953/954).

F. Abstimmungsmehrheiten

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Eine andere Frage ist es, ob eine entsprechende Änderung des § 15 Abs. 3 S. 2 B V e r f G G verfassungsrechtlich zulässig wäre. Dabei stünde das Demokratieprinzip dem einstimmigen Votum nicht i m Wege. Denn das Mehrheitsprinzip wird i m Grundgesetz nicht lückenlos durchgehalten. Vielmehr kann für besonders wichtige Entscheidungen in kleineren Gremien auch Einstimmigkeit verlangt werden. So gilt bereits jetzt für die „ A - l i m i n e - A b w e i s u n g " nach § 24 S. 1 B V e r f G G und für die Entscheidungen der Kammern nach § 93 b Abs. 1 und 2 BVerfGG das Erfordernis der Einstimmigkeit. Diese Entscheidungen sind besonders einschneidend, weil sie eine Verkürzung des Verfahrens und damit auch den Verlust prozessualer Rechte bewirken. Die Aufhebung einer N o r m kann aber als ebenso einschneidend begriffen werden. Schließlich wird eine Entscheidung oberster, demokratisch legitimierter Staatsorgane revidiert. Die höhere Richtigkeitsgewähr des einstimmigen Votums würde daher auch bei der Normenprüfung eine Einschränkung des Mehrheitsprinzips zulassen. Die Einführung eines einstimmigen Votums könnte allerdings dem Zweck der in Art. 93 und 100 G G geschaffenen Normenkontrollverfahren widersprechen. Die Normenkontrolle dient zum einen dem Schutz des Vorrangs der Verfassung, zum anderen der Kontrolle der gesetzgebenden Gewalt. Beide Aufgaben könnte sie nicht mehr erfüllen, wenn das Zustandekommen normenverwerfender Urteile i m Ergebnis verhindert würde. Nun zeigt allerdings die Praxis, daß einstimmige Entscheidungen eines Senats keineswegs unmöglich sind. In „klaren" Fällen kommt es wiederholt zu Entscheidungen nach § 24 B V e r f G G . 3 3 1 Daher ist damit zu rechnen, daß bei evidenten Verfassungsverstößen unter den acht Richtern Einmütigkeit zu erzielen wäre. Das Erfordernis der Einstimmigkeit würde also nicht dazu führen, daß die Kontrolle des Gesetzgebers vollkommen verloren ginge. Sie würde nur faktisch zurückgedrängt. Ebenso bliebe der Vorrang der Verfassung in eindeutigen Fällen gewahrt. Der Zweck der Normenkontrollverfahren erstreckt sich aber nicht nur darauf, die Verfassung vor evidenten Verstößen zu sichern. Vielmehr w i r d in Art. 93 und 100 G G dem B V e r f G die Aufgabe übertragen, in den Fällen bestrittenen Rechts die Verfassung interpretatorisch fortzuentwickeln. 3 3 2 Diese Funktion der Rechtsfortbildung würde dem BVerfG genommen, wenn man eine einstimmige Entscheidung fordert.

331 Die Α-limine-Abweisung war ursprünglich als Filter für die Verfassungsbeschwerde gedacht. Daher wurden in den Anfangsjahren rund ein Viertel aller Verfassungsbeschwerden nach § 24 BVerfGG erledigt (Nachweis bei Schiffers, Verfgbkt, S. 456-460). Nach Einführung des Vorprüfungsverfahrens (1956) findet die Α-limine-Abweisung vor allem bei Wahlprüfungsbeschwerden (z. B. BVerfGE 66,232 ff. und 311 ff.) und Richtervorlagen Anwendung (Klein, in: Benda / Klein, VerfPR, Rn. 267). 332 Das BVerfG hat zu Recht betont, daß die Fortbildung des Verfassungsrechts zu den Aufgaben der Verfassungsjustiz zählt (BVerfGE 1,351 (359); BVerfGE 6,222 (240).

218

4. Teil: Institutionelle Eingriffsgesetze

Denn die meisten Verfassungsartikel sind inhaltlich offen und lassen verschiedene Auslegungen zu. In weiten Bereichen ist daher die Interpretation des Grundgesetzes umstritten. In den umstrittenen Fällen ist aber auch innerhalb der Senate mit der Gegenstimme eines Richters zu rechnen. Das hätte zur Folge, daß es in unklaren Fällen nur äußerst selten zu einer Entscheidung gegen die Legislative käme. I m Ergebnis würde der Gesetzgeber die Verfassungsauslegung in weiten Bereichen vorzeichnen. Das Verfassungsgericht könnte die v o m Parlament vorgegebene Linie nur noch ausgestalten, aber nicht nicht mehr aus eigenem Impuls korrigieren. Die Fortbildung des Verfassungsrechts würde weitgehend verlagert. Die alleinige Direktive ginge in die Hände des Gesetzgebers über. Dies steht i m Widerspruch zur Entscheidung der Art. 93 und 100 G G für eine richterlich kontrollierte Verfassungsentwicklung. Das einstimmige V o t u m ist daher verfassungswidrig. 3 3 3

333 im Ergebnis ebenso Benda, in: Benda/Klein, VerfPR, Rn. 59.

Fünfter Teil

Faktische Eingriffe Ansehen, Einfluß und Unabhängigkeit des B V e r f G können nicht nur durch formelles Gesetz, sondern auch durch informelles Handeln geschwächt werden. Diese faktischen Eingriffe sind selten bedrohlich. Nur das Unterlassen der Richterwahl („Austrocknen") kann die Funktionsfähigkeit des BVerfG ernsthaft gefährden. Allerdings kann eine massive Gerichtsschelte ebenso wie das „Überspielen" durch Schaffen vollendeter Tatsachen schnell zu einer ernsthaften Krise zwischen den Verfassungsorganen führen.

A. Urteils-, Gerichts- und Richterschelte K r i t i k am B V e r f G ist nicht nur legitim, sondern auch notwendig. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Diskussion über die Besetzung, die Organisation oder über die Entscheidungspraxis des Gerichts geführt wird. Die K r i t i k kann auf allen Gebieten Erkenntnisprozesse in Gang setzen und zu einem heilsamen Wandel führen. Die Notwendigkeit sachlicher K r i t i k ist daher unbestritten. 1 Die K r i t i k am B V e r f G kann aber auch unsachlich und unfair geführt werden. I n diesen Fällen wird oft mit vorschnellen Verallgemeinerungen, verzerrenden Übertreibungen und haltlosen Unterstellungen gearbeitet. Manchmal gleiten die Äußerungen auch in den Vulgärjargon ab. Derartige K r i t i k zeugt von schlechtem Stil. M a n spricht mit tadelndem Unterton von einer Urteils-, Gerichts- oder Richterschelte. Eine klare begriffliche Trennung der stillosen oder „destruktiven" K r i t i k von der gehaltvollen oder „konstruktiven" K r i t i k ist freilich nicht möglich. Die Übergänge sind fließend. M a n kann i m Einzelfall trefflich darüber streiten, welche Äußerungen in der Sache weiterführen oder gutem Umgangston entsprechen. Eine exakte begriffliche Trennung ist allerdings auch nicht nötig. Denn auch stillose und destruktive K r i t i k am B V e r f G ist grundsätzlich zulässig. 2 Nicht nur hermeneutische Bedeutung hat die Unterteilung nach dem Gegenstand der K r i t i k . M a n kann zwischen der die Richter als Person treffende Richter1

Vgl. Wassermann, Justiz und Medien, S. 30-33 m.w.N. Auch Schenke trennt klar zwischen den Geboten des politischen Stils und den aus dem Prinzip der Verfassungsorgantreue fließenden Verboten (Verfassungsorgantreue, S. 33-35). 2

220

. Teil:

h Eingriffe

schelte, der das Gericht als Ganzes treffenden Gerichtsschelte und der auf eine oder mehrere Entscheidungen bezogenen Urteilsschelte differenzieren. 3 In der Praxis gehen diese drei Eingriffsformen zwar oft ineinander über. Sie treten aber auch getrennt auf. So erklärte Justizminister Dehler auf dem Höhepunkt der EVG-Krise in bezug auf die Entscheidung des BVerfG v o m 10.12.1952: „ W i r werden diesen Beschluß niemals anerkennen. Dieser Beschluß ist ein nullum." Kurze Zeit nach dieser Urteilsschelte ging er zur Gerichtsschelte über. Er telegraphierte: „Das BVerfG ist in einer erschütternden Weise vom Wege des Rechts abgewichen." Schließlich fügte er noch eine Richterschelte hinzu. Der größte Mangel des BVerfG liege nicht in seiner parteipolitischen Zusammensetzung, sondern in der fehlenden richterlichen Qualität. 4 Für die rechtliche Beurteilung solcher Gerichts- und Urteilsschelten ist es entscheidend, ob die Äußerungen von staatlicher oder von privater Seite stammen. Während sich ein Justizminister als staatliches Organ nicht auf die Grundrechte berufen kann, steht der Bürger unter dem Schutz der allgemeinen Meinungsund Pressefreiheit. I . K r i t i k von Privatleuten Bürger und private Medien haben nach Art. 5 Abs. 1 G G das Recht, ihre Meinung über das BVerfG in Wort und Schrift, B i l d und Ton frei zu äußern. Das umfaßt grundsätzlich auch die Freiheit, positve und negative Werturteile über das Gericht und seine Entscheidungen abzugeben. Die Meinungsfreiheit findet nur dort ihre Grenzen, wo ein allgemeines Gesetz i.S. von Art. 5 Abs. 2 G G Äußerungen verbietet. 5 Da es aber i m deutschen Recht i m Gegensatz zum englischen Recht kein generelles Verbot des „contempt of court" (Mißachtung des Gerichts) gibt, bestehen i m Bereich der Urteils- und Gerichtsschelte weite Freiräume. Nur i m Bereich der Richterschelte muß sich der Privatmann seine Worte genau überlegen. Denn nach den §§ 185-187 StGB sind Beleidigung, üble Nachrede und Verleumdung strafbar. Insofern bedarf es keiner langen Ausführungen, daß das böse Wort von den „acht Arschlöchern in Karlsruhe" bereits als Kollektivbeleidigung gegenüber den Richtern des Zweiten Senats verboten war. 6 Praktisch bedeutsamer ist, daß über 3 Der Begriff der Urteilsschelte wird weit verstanden. Erfaßt wird jede an der Prozeßführung und am Prozeßergebnis geübte Kritik. 4 Dehlers Äußerungen listet Gülich, BT-Prot. I S. 12096-12098, auf (siehe auch oben 1. Teil A II). 5 Eine Aufzählung der meisten, für die Presse in Betracht kommenden Verbotsnormen bieten Wassermann, Justiz und Medien, S. 39/40 und Stümer, Fair Trial, S. 3. 6 Zum Zusammenhang mit dem Grundvertragsprozeß siehe oben 1. Teil Β I Nr. 2.

Α. Urteils-, Gerichts- und Richterschelte

221

die Richter des BVerfG auch keine unwahren ehrenrührigen Tatsachen verbreitet werden dürfen. Denn dies ist in der Geschichte des BVerfG bereits mehrfach vorgekommen. Anfang der 50er Jahre wurde von Verfassungsrichter Martin Drath behauptet, er sei ein verkappter Kommunist. In Wahrheit lebte Drath zwar in den unmittelbaren Nachkriegsjahren in der Ostzone, war aber M i t g l i e d der SPD. Nach der Zwangsfusion von SPD und K P D wurde Drath, wie viele andere, gegen seinen W i l l e n als SED-Mitglied registriert. Er distanzierte sich aber von der neuen Partei und ging in den Westen. Insofern war es v ö l l i g haltlos, ihn als Kommunist zu bezeichnen. Das Plenum des BVerfG stellte sich darum in einem offiziellen Beschluß vor Richter Drath und wies den V o r w u r f zurück. 7 Ein ähnlicher Fall ereignete sich in den 70er Jahren, als die Illustrierte Quick Verfassungsrichter Helmut Simon in die Nähe der R A F rückte. Seine Beziehung zur Terrorszene wurde allein damit begründet, daß seine Tochter Beate Simon und sein Schwiegersohn Rainer Elfferding Jugendfreunde der Terroristin Carmen Roll waren. Beide hatten der Terroristin nach deren Inhaftierung Briefe geschrieben, die von der Zeitschrift ohne Erlaubnis und inhaltlich entstellt publiziert wurden. Der Deutsche Richterbund und der Deutsche Presserat haben dieses Vorgehen später öffentlich gerügt. 8 Dies ändert aber nichts daran, daß solche Veröffentlichungen auf Antrag als üble Nachrede nach § 186 StGB verfolgt werden. Zwar kann sich die Presse bei falschen oder nicht erweislich wahren Tatsachenbehauptungen auf den Rechtfertigungsgrund der Wahrnehmung berechtigter Interessen nach § 193 StGB berufen. Dies setzt aber die Anwendung presseüblicher Sorgfalt voraus. Bei namentlicher Nennung muß dem Betroffenen grundsätzlich vor der Veröffentlichung die M ö g lichkeit zur Stellungnahme gegeben werden. 9 Das war in beiden Fällen anscheinend nicht geschehen. Darüber hinaus können unwahre Presseveröffentlichungen auch als Üble Nachrede gegenüber Personen des öffentlichen Lebens nach § 187 a StGB strafbar sein. Sie sind dann mit einer Mindeststrafe von drei Monaten bedroht. So war es i m bisher schwerwiegendsten Fall, als ein Redakteur der Zeitschrift „ D i e Wahrheit" während des EVG-Verfahrens berichtete, der Präsident des B V e r f G habe mit dem Staatssekretär i m Kanzleramt über den Inhalt der Gutachtenentscheidung des Gerichts feste Vereinbarungen getroffen. Der B G H hat in diesem Fall entschieden, daß auch Verfassungsrichter „ i m politischen Leben des Volkes

7

Der Spiegel, 1952, Η. 11, S. 6. Drath wurde sogar von der SED gemaßregelt (Der Spiegel 1963, H. 35, S. 20). 8 DRiZ 1975, RI, S. 21 und 30. Vgl. auch die Dankadresse von Gerichtspräsident Benda, DRiZ 1975, RI, S. 24 sowie Dopatka, Umwelt, S. 106. 9 Lenckner, in: Schönke / Schröder, StGB, § 193 Rn. 17/18; Dreher / Tröndle, StGB, § 193 Rn. 16.

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. Teil:

h Eingriffe

stehende Personen" sind, so daß die harte Strafe des § 187 a StGB zur Anwendung kommen kann. 1 0 Keine praktische Bedeutung hat bisher die letzte und schwerste Schranke für Gerichts- und Richterschelten erlangt: Das Verbot der verfassungsfeindlichen Verunglimpfung von Verfassungsorganen. Nach § 90 b StGB sind objektiv besonders herabsetzende und das Ansehen des Staates gefährdende Äußerungen über das BVerfG strafbar, wenn sie subjektiv in verfassungsfeindlicher Absicht gemacht werden.

I I . K r i t i k von Amtsinhabern Nicht nur dem Privatmann, sondern auch den Amtsinhabern w i r d überwiegend ein Recht zur K r i t i k eingeräumt. 1 1 Meist w i r d darauf hingewiesen, daß die Bindung an Entscheidungen des B V e r f G nach § 31 B V e r f G G nur deren Befolgung erfordert, eine kritische Auseinandersetzung mit den Argumenten des B V e r f G aber nicht verbietet. 1 2 Dieses allgemeine Äußerungsrecht staatlicher Organe w i r d nur vereinzelt bestritten. Insbesondere W i l l i Geiger vertritt die Ansicht, daß staatliche Organe ihre Meinungsverschiedenheiten vertraulich auszutragen hätten und in der Öffentlichkeit nicht gegeneinander Stellung beziehen sollten. 1 3 Geiger weist zu Recht darauf hin, daß die verschiedenen staatlichen Organe unterschiedliche Aufgaben haben. Jedes staatliche Organ darf nur in seinem Aufgabenraum tätig werden und keine fremden Funktionen erfüllen. Diese i m Rechtsstaatsprinzip wurzelnde Kompetenzentrennung bezieht sich nicht nur auf förmliche Entscheidungsakte (Entscheidungskompetenz), sondern auch auf die formlose Beschäftigung mit einer Aufgabe (Befassungskompetenz). Die Rechtsprechung hat diesen Grundsatz in Fällen herausgearbeitet, in denen sich einzelne Länder oder Gemeinden mit verteidigungspolitischen Fragen (atomare Bewaffnung) befaßt haben. 1 4 Da diese Judikatur auf dem allgemeinen Rechtsstaatsprinzip beruht, gilt sie ohne weiteres auch für das Problem der Justizkritik durch andere staatliche Stellen.

10 BGHE 4, 338-340; zustimmend Dreher / Tröndle, StGB, § 187 a Rn. 2; Lenckner, in: Schönke / Schröder, StGB, § 187 a Rn. 2; Herdegen, LK, § 187 a Rn. 2. 11 Zeidler, Fernseh-Urteil, S. 367; Schreiber, Reaktionen, S. 94; Klein, in: Benda/ Klein, VerfPR, Rn. 1258; Kisker, Reaktion, S. 890; Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 351/352; Scheel, DRiZ 75, S. 240/241 und 76 S. 26/27. 12 Klein, in: Benda/Klein, VerfPR, Rn. 1258; Kisker, Reaktion, S. 890. ι 3 Geiger, Gegenwartsprobleme, S. 132-134, Erfahrungen, S. 33. 14 BVerfGE 8, 104 (115-118); 8, 122 (133-135); BayVGH, BayVBl 89, S. 14-17; BVerwG, DVB1 91, S. 491 -494.

Α. Urteils-, Gerichts- und Richterschelte

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1. Befassungskompetenz Die Befassungskompetenz eines staatlichen Organs erstreckt sich nicht nur auf den Bereich seiner Entscheidungskompetenz, sondern auf alle Fragen, die in irgendeiner Weise einen Bezug zu seiner Entscheidungskompetenz haben oder zu denen es kraft spezialgesetzlicher Anweisung gehört werden muß. Besteht dieser Bezug zum eigenen Aufgabenbereich, so darf das staatliche Organ über den Gegenstand beraten, Beschlüsse fassen sowie dienstliche und — soweit nichts anderes bestimmt ist — öffentliche Erklärungen abgeben. Fehlt dieser Bezug, so muß es schweigen. Das Erfordernis der Befassungskompetenz bewirkt, daß sich nicht jedes staatliche Organ zu jeder Entscheidung des BVerfG äußern darf. Vielmehr muß das staatliche Organ entweder am Gerichtsverfahren beteiligt oder von der Bindungswirkung der Entscheidung betroffen sein. Dies bedeutet beispielsweise, daß der Wehrbeauftragte sich nicht in amtlicher Eigenschaft zu einer Asylrechtsentscheidung äußern darf oder daß Bundesbank und Bundesrechnungshof bei einem Urteil zur Abtreibungsfrage schweigen müssen. Entgegen dem ersten Eindruck wird damit den politisch entscheidenden obersten Staatsorganen kein „ M a u l k o r b " umgehängt. Denn ihnen w i r d es selten an der Befassungskompetenz fehlen. Für den Bundestag als Parlament gilt ohnehin der Grundsatz der Allzuständigkeit. Er darf sich als Forum der Nation mit allen Fragen von öffentlichem Interesse beschäftigen. 15 Aber auch für Bundesregierung und Bundesrat gibt es wenig Probleme. Beide besitzen nach Art. 76 Abs. 1 G G das Recht der Gesetzesinitiative. Sie dürfen nicht nur einfache, sondern auch verfassungsändernde Gesetze vorschlagen. Sie müssen und dürfen damit über alle Fragen des Bundesrechts und der Bundesverfassung diskutieren. Da die Struktur des Gerichts in einem Bundesgesetz geregelt ist und da das BVerfG die Verfassung auslegt, ist nahezu immer ein sachlicher Bezug zum Entscheidungsbereich von Bundesregierung und Bundesrat gegeben. Ihre Befassungskompetenz kann daher nur in den seltenen Fällen fehlen, wenn das BVerfG i m Wege der Organleihe nach Art. 99 G G über Fragen einer Länderverfassung entscheidet. Auch dem Bundespräsidenten wird man das Recht zur K r i t i k am BVerfG nicht streitig machen können. Zwar w i r d bei den Entscheidungen des B V e r f G nur selten ein Bezug zu den geschriebenen Befugnissen des Bundespräsidenten festzustellen sein. Die Integrationsfunktion des Bundespräsidenten bringt es aber mit sich, daß der Bundespräsident sich mit allen Fragen des staatlichen Lebens beschäftigen muß. Er muß durch vertrauliche Gespräche und öffentliche Reden zu aktuellen politischen und rechtlichen Fragen Stellung nehmen. Insoweit w i r d man eine ungeschriebene Befassungskompetenz mit allen Fragen des staatlichen

•5 Zur Bedeutung der öffentlichen Aussprache: Klein, HbStR II, § 40 Rn. 9, 39, 40; Hesse, Grundzüge, Rn. 572-574.

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. Teil:

h Eingriffe

Rechts annehmen müssen, zumal der Bundespräsident auch eine ganze Reihe „staatsnotarieller Aufgaben" w a h r n i m m t . 1 6 Die Befassungskompetenz ist wie jede Befugnis an die jeweilige staatliche Organ als Ganzes gebunden (Verbandskompetenz). Welche Behörde oder welches A m t innerhalb dieses Verbandes befugt ist, Beschlüsse zu fassen und öffentliche Erklärungen abzugeben, ist eine Frage des jeweils geltenden Organisationsrechts. Insofern darf sich natürlich stets nur die staatliche Stelle zu Wort melden, die innerhalb des Verbandes über die erforderliche Organkompetenz verfügt. W i r d der Geschäftsbereich eines Ministeriums von der Entscheidung betroffen, so dürfen sich nach außen hin nur der jeweilige Minister, der zuständige Staatssekretär und der Pressesprecher äußern. Dabei können nach den allgemeinen dienstrechtlichen Regeln Weisungen erteilt werden, die den Inhalt der Erklärungen festlegen.

2.

Kompetenzausübung

Es ist i m Schrifttum unbestritten, daß nicht jede A r t von Urteils- und Gerichtskritik rechtlich zulässig sein kann. 1 7 Ganz allgemein ist bei staatlichen Kompetenzen nicht nur das „ O b " , sondern auch das „ W i e " rechtlich geregelt. Die Form der Urteils- und Gerichtskritik ist zwar in erster Linie eine Frage des politischen Stils. Es bestehen aber daneben oder besser dahinter auch rechtliche Schranken. Die erste Schranke ist strafrechtlicher Art. Denn das Äußerungsrecht des Amtsinhabers kann nicht weiterreichen als das Äußerungsrecht des Bürgers. Vielmehr ergibt sich aus dem Prinzip des Vorrangs des Gesetzes, daß die Organe der rechtsprechenden und vollziehenden Gewalt an die strafrechtlichen Verbote gebunden sind. Aber auch die Vertreter der Legislative dürfen keine ehrenrührigen Erklärungen nach §§ 185-187 a, StGB abgeben. Denn das Parlament ist nach Art. 20 Abs. 3 G G nur insoweit von der Gesetzesbindung befreit, als es ein bestehendes Gesetz ändert. A n Gesetze, die nicht geändert werden sollen, bleibt es gebunden. 1 8 W i e Art. 46 Abs. 1 S.2 G G zeigt, sind daher ehrenrührige Erklärungen grundsätzlich verboten, auch wenn die Abgeordneten durch Indemnität und Immunität vor Strafverfolgung weitgehend geschützt sind. 1 9

16 Dazu Schiaich, HbStR II, § 49 Rn. 24; zur Rolle als Integrationsfigur Rn. 4/5 und 55/56. 17 Zeidler, Fernseh-Urteil, S. 367; Schreiber, Reaktionen, S. 93/94; Klein, in: Benda/ Klein, VerfPR, Rn. 1258. ι« Herzog, MDHS, Art. 20 V I Rn. 23. Einige Beispielsfälle führt Zeh, HbStR II, § 43 Rn. 9/10 auf. i9 Insofern liegen nur Strafausschließungsgründe (Indemnität) bzw. Strafverfolgungshindernisse (Immunität) vor. Ordnungsmaßnahmen im Parlament bleiben möglich (Jarass / Pieroth, Art. 46 Rn. 4). Auch der Bundespräsident genießt nach Art. 60 Abs. 4 GG Immunität.

Α. Urteils-, Gerichts- und Richterschelte

225

Die zweite Schranke besteht für Bundesorgane i m Prinzip der Verfassungsorgantreue, 20 für Länderorgane i m Prinzip der Bundestreue. Beiden Prinzipien liegt der gemeinsame Gedanke zugrunde, daß die verschiedenen Staatsteile nicht isoliert nebeneinander stehen, sondern zusammen den Staat als Einheit bilden. Das BVerfG hat darum im Rahmen der Status-Debatte zum Prinzip der Verfassungsorgantreue ausgeführt, „daß die Verfassungsorgane bei Ausübung ihrer verfassungsmäßigen Tätigkeit harmonisch zusammenwirken und alles unterlassen, was das Ansehen der anderen Verfassungsorgane schädigt und damit die Verfassung selbst gefährden könnte." Ein Verfassungsorgan handelt „seinen Verpflichtungen zuwider, wenn es, gestützt auf seine auctoritas, in der Öffentlichkeit durch Wort und Tat ein anderes Verfassungsorgan herabsetzt und ihm nicht den selbstverständlichen Respekt entgegenbringt, auf den jedes Verfassungsorgan einen Rechtsanspruch besitzt." 2 1 Seither sind zwar die verfassungsrechtlichen Treuepflichten als Schranke staatlicher Justizkritik anerkannt. Das Prinzip der Verfassungsorgantreue ist aber nicht durch genauere Verhaltensregeln für die K r i t i k am B V e r f G konkretisiert worden. Das BVerfG hat lediglich in verschiedenen Einzelfällen erklärt, daß die Grenze zulässiger K r i t i k überschritten worden sei. Dieses Prinzip der Einzelfallbeschlüsse ist zwar in der Sache richtig. Letztlich läßt sich die Feststellung, ob ein Verstoß gegen das Prinzip der Verfassungsorgantreue vorliegt, stets nur unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls treffen. Darüber hinaus ist es aber auch notwendig, daß aus dem Prinzip der Verfassungsorgantreue zumindest für bestimmte Fallgruppen allgemeine Grundsätze herausgearbeitet werden, damit die staatlichen Organe ihr Verhalten darauf einstellen können. M i t der Entwicklung solcher konkretisierenden Verhaltensregeln wird allerdings „Neuland" beschritten. Ausgangspunkt der Überlegungen ist der Gedanke, daß die Prinzipien der Bundes- und der Verfassungsorgantreue i m wesentlichen dieselbe Pflicht begründen: das jeweilige Staatsorgan muß bei seinen Äußerungen auf die Interessen des BVerfG Rücksicht nehmen. Diese Rücksichtnahmepflicht ist unterschiedlich intensiv ausgeprägt, je nachdem, ob die allgemeine Rechtsstellung des BVerfG betroffen ist oder seine Stellung in der Öffentlichkeit. Soweit es um die Rechtsstellung des B V e r f G geht, ist die Rücksichtnahmepflicht stark ausgeprägt. Der i m einfachen Recht und in der Verfassung festgelegte Rechtsstatus des B V e r f G muß auch in der verbalen Auseinandersetzung als bestehend geachtet werden. Dies schließt eine Reformdebatte nicht aus. Der „status quo" darf aber nicht kategorisch bestritten oder schlicht ignoriert werden. Insofern besteht ein striktes Mißachtungsverbot. 20 Allg. M.: Schreiber, Reaktionen, S. 94; Leibholz, Beitrag, S. 47; Leibholz / Rupprecht, BVerfGG, § 1 Rn. 2; Klein, in: Benda/Klein, VerfPR, Rn. 1258. 21 Bemerkungen des BVerfG zu dem Rechtsgutachten von Prof. Richard Thoma, JÖR 6, S. 206/207. Näher zur Organtreue oben 2. Teil Β III. 15 Häußler

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. Teil:

h Eingriffe

Da somit jedes Verfassungsorgan die Rechtsstellung des B V e r f G achten muß, darf sich kein Verfassungsorgan die Rolle des BVerfG anmaßen. Nach Art. 92, 93 G G hat das B V e r f G die Stellung des letztentscheidenden Verfassungsinterpreten. Es ist in Verfassungsfragen die letzte Instanz und die höchste Autorität. Daher darf kein anderes Verfassungsorgan durch offizielle Verlautbarungen oder durch urteilsähnliche Beschlüsse den Eindruck erwecken, daß es über dem BVerfG stehe oder, was die Verfassungsinterpretation angeht, die höhere Sachkunde besitze. Aus diesem Grund war es ein mit dem Prinzip der Verfassungsorgantreue unvereinbares, anmaßendes Verhalten, als Justizminister Dehler i m März 1953 erklärte, er sei zum Wächter über das BVerfG berufen. 2 2 Der Präsident des BVerfG, Höpker-Aschoff, hat ihm zu Recht umgehend und energisch widersprochen. 2 3 Ebenso ging Bundeskanzler Adenauer einen Schritt zu weit, als er 1961 i m Fernseh-Streit erklärte, das Bundeskabinett habe nach Hinzuziehung seiner „besonders Sachverständigen" einstimmig beschlossen, das Verfassungsgerichtsurteil sei „falsch". Damit wurde zwar nicht die Verbindlichkeit des Urteils in Frage gestellt. 2 4 Es entstand aber der Eindruck, daß die Bundesregierung in Fragen der Verfassungsauslegung die höhere Sachkompetenz besitze und darum amtlicherseits das letzte Wort habe. Dieses anmaßende Verhalten verletzte die rechtliche Stellung des BVerfG. Daher verwahrte sich der Präsident des BVerfG, Gebhard Müller, mit Recht dagegen. 25 Eine Mißachtung der Rechtsstellung des BVerfG liegt auch vor, wenn die Verbindlichkeit seiner Entscheidungen bestritten wird. Denn das BVerfG entscheidet als Gericht letztverbindlich. Damit korrespondiert eine in Art. 20 Abs. 3 G G angelegte und in § 31 Abs. 1 BVerfGG konkretisierte Gehorsamspflicht aller anderen Staatsorgane. 26 Dieses Gehorsamsverhältnis verpflichtet zwar nur zur tatsächlichen Befolgung der Entscheidungen, nicht zu beifälligen Erklärungen. Es ist aber mit dem Gedanken der Organtreue unvereinbar, wenn dieses Gehorsamsverhältnis auch nur verbal in Frage gestellt w i r d . 2 7 22 Vgl. Laufer, Politischer Prozeß, S.471. Zum historischen Zusammenhang oben 1. Teil A II. 2 3 FAZ vom 16.3.53 S. 1 und vom 17.3.53 S. 3. Dem stimmt Sattler, Rechtsstellung, S. 171-173 mit ausführlicher Begründung zu. 24 Zutreffend Maunz, MSBKU, § 31 Rn. 23 (anders Rupp, Bindungswirkung, S. 409 und wohl auch Friesenhahn, Verfgbkt, S. 105 mit Fn. 334). Auch die von Zweigert, Charisma, S. 301 und Kisker, Reaktion, S. 891 verwendete Argumentation mit Art. 97 Abs. 1 GG ist zweifelhaft, da es an einer konkreten Verfahrensbeeinflussung fehlt. 25 Abdruck oben 1. Teil A III. Der Erklärung stimmen zu: Zweigert, Charisma, S. 301 ; Zeidler, Fernseh-Urteil, S. 367; Schreiber, Reaktionen, S. 93/94; Rupp, Bindungswirkung, S. 409, Umgang, S. 376/377; Friesenhahn, Verfgbkt, S. 105 Fn. 334; Laufer, Politischer Prozeß, S. 473; Schramm, Hüter, S. 295/296; Dopatka, Umwelt, S. 82; Kisker, Reaktion, S. 891; Gosewinkel, Adolf Arndt, S. 508. Maunz, MSBKU, § 31 Rn. 23 formuliert vorsichtiger, Adenauers Beschluß sei „zumindest bedenklich". 2 * Dazu ausführlich oben 3. Teil Β IV Nr. 1 und 2.

Α. Urteils-, Gerichts- und Richterschelte

227

Tenor und tragende Gründe der Entscheidung müssen als bindend anerkannt werden. Dies schließt eine Äußerung zu der Frage nicht aus, ob einzelne Urteilspassagen an der bindenden Wirkung der Entscheidung teilnehmen. Unzulässig war aber die kategorische Äußerung von Justizminister Dehler zum Plenumsbeschluß v o m 10.12.1952. K e i n Staatsorgan darf eine verfassungsgerichtliche Entscheidung als „ n u l l u m " bezeichnen, das nicht anerkannt werden könne. Ebensowenig darf ein Amtsträger Symphatiewerbung für die Mißachtung verfassungsgerichtlicher Urteile treiben. Daher ging die damalige Vizepräsidentin des Bundestages, Liselotte Funcke, i m Streit um den § 218 StGB mit ihrer Bemerkung zu weit, daß die betroffenen Frauen das Urteil nicht akzeptieren und nicht respektieren könnten. 2 8 Schließlich folgt aus dem Prinzip der Verfassungsorgantreue das Gebot, auf die Stellung des BVerfG in der Öffentlichkeit Rücksicht zu nehmen. Der Grund dieser Rücksichtnahmepflicht besteht darin, daß jedes Gericht auf das Vertrauen der Öffentlichkeit in seine fachliche Kompetenz und richterliche Integrität angewiesen ist. Fehlt diese Vertrauensbasis, so wird das Gericht in geringerem Maße angerufen und die Akzeptanz seiner Urteile schwindet. Damit ist das Vertrauen der Bevölkerung eine Vorbedingung für die Funktionserfüllung. Insofern ist letztlich der Gedanke der Funktionsfähigkeit des BVerfG der Rechtsgrund dieser Rücksichtnahmepflicht. 2 9 Anders als bei den die Rechtsstellung mißachtenden Äußerungen verdichtet sich die Rücksichtnahmepflicht in diesen Fällen nicht zu einem strikten Verbot. I m Bereich der ansehensmindernden Äußerungen, ist ein generelles Verbot nicht möglich. Denn es liegt im Wesen jeder Justizkritik, daß das Ansehen der Gerichte in gewissem Umfang leidet. Auch eine sachliche Urteilskritik geht davon aus, daß dem Richter zumindest in objektiver Hinsicht ein Verfahrens- oder ein Urteilsfehler unterlaufen ist. Das damit gezeichnete B i l d vom irrenden Richter entspricht aber nicht den Erwartungen der Öffentlichkeit, so daß die Reputation des Gerichts zwangsläufig beeinträchtigt ist. Hat ein staatliches Organ das Recht zur K r i t i k , so kann das Prinzip der Verfassungsorgantreue daher nur eine Rücksichtnahme auf das Ansehen des BVerfG fordern. Der Inhalt dieser Rücksichtnahmepflicht besteht in aller Regel darin, daß der kritikübende Amtsinhaber die Wahl seiner Worte sorgfältig erwägt und die Tatsachenbasis seiner K r i t i k überprüft. Nur in seltenen Ausnahmefällen kann die Rücksichtnahmepflicht den Verzicht auf öffentliche K r i t i k erforderlich machen.

27 Ebenso BPräs Scheel, DRiZ 76, S. 26/27; Merkel, Einstweilige Anordnung, S. 111 / 112; Schreiber, Reaktionen, S. 96. 28 Ebenso Prof. Rupert Hofmann, FAZ vom 10.3.75, S. 7. 29 Zur Bedeutung der Funktionsfähigkeit als Rechtsprinzip siehe Art. 115 g GG und oben 2. Teil II Nr. 2. 15*

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Allgemein kann man sagen, daß die Rücksichtnahmepflicht um so stärker wird, je mehr die K r i t i k das Ansehen des B V e r f G beeinträchtigt. Dabei kann man davon ausgehen, daß die reine Urteilskritik, auch wenn sie auf eine ganze Entscheidungspraxis erweitert wird, das Ansehen des BVerfG nicht übermäßig tangiert. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Gerichte wird nicht erheblich gestört, wenn von einer Fehlentscheidung oder einer Fehlentwicklung die Rede ist. Viele Bürger werden die rechtlichen Hintergründe der K r i t i k nicht durchschauen und einer Schelte nur beipflichten, wenn ihr Gerechtigkeitsgefühl eklatant verletzt ist. Das w i r d bei Verfassungsgerichtsentscheidungen selten der Fall sein. Da Urteilsschelten das Ansehen des Gerichts oft nur in geringem Maße beeinträchtigen, besteht für die staatlichen Organe zumeist auch nur eine geringe Rücksichtnahmepflicht. Dieser Grundsatz beruht auch auf der Erwägung, daß die Urteilskritik für die Verfassungsinterpretation von zentraler Bedeutung ist. Sieht man den Zweck der Verfassungsinterpretation auch in der Konflikt- und Problembewältigung, dann ist das Ergebnis der Auslegung nicht für alle Zeiten festgeschrieben, sondern dem zeitlichen Wandel und der Revision unterworfen. Es bedarf eines ständigen Diskurses, an dem sich ein möglichst offener Kreis von Verfassungsinterpreten beteiligen s o l l . 3 0 Gerade wenn es um die Frage der Problembewältigung geht, besteht dabei ein besonders hohes Interesse an der K r i t i k der übrigen mit der Sache beschäftigten staatlichen Organe. Dabei muß auch harsche und wachrüttelnde K r i t i k erlaubt sein. Die Urteilskritik ist daher auch für staatliche Organe i m wesentlichen das Feld der freien Meinungsäußerung. Nicht nur klare Worte wie „falsch", „fehlerhaft" und „ i r r i g " sind erlaubt, sondern auch Verallgemeinerungen, Übertreibungen und plakative Formeln. Darum durfte in den 70er Jahren von öffentlicher Seite erklärt werden, das BVerfG habe sich in einer oder mehreren Entscheidungen „an die Stelle des Gesetzgebers" gesetzt oder vom „Hüter zum Herrn der Verfassung" aufgeschwungen. 31 Auch abwertende Werturteile sind grundsätzlich zulässig. Theoretisch darf auch ein Amtsinhaber von einem „unbekömmlichen, begrifflichen Brei" sprechen. 32 Rein abwertende Äußerungen gefährden das Ansehen des Kritikers oft mehr als das Ansehen des Gerichts. Sie sind daher in erster Linie eine Frage des politischen Stils. I m Bereich der Urteilskritik kann aufgrund des Rücksichtnahmegebotes rechtlich nur verlangt werden, daß sich das jeweilige Staatsorgan eine ausreichende Kenntnis vom Inhalt der Entscheidung verschafft hat und keine groben Fehlvorstellungen verbreitet. Ferner muß es den „selbstverständlichen Respekt" vor dem

30 Grundlegend: Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, in: Verfassung als öffentlicher Prozeß, S. 155-181. 31 Zum historischen Zusammenhang oben 1. Teil Β II Nr. 2. 32 Wie das der Privatmann Ulrich Scheuner mit Bezug auf das Grundvertragsurteil getan hat (Bundesrepublik, S. 583).

Α. Urteils-, Gerichts- und Richterschelte

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BVerfG als Verfassungsorgan wahren. 3 3 Die Urteilsschelte darf insbesondere nicht in den Vulgärjargon abgleiten. Eine weit größere Bedeutung erlangt die Rücksichtnahmepflicht i m Bereich der Richter- und Gerichtsschelte. Denn das Vertrauen der Bevölkerung in ein Gericht wird in starkem Maße erschüttert, wenn ein staatliches Organ die fachliche Kompetenz und Integrität des BVerfG und seiner Richter in Frage stellt. Nichts untergräbt das Ansehen eines Gerichts mehr, als der V o r w u r f der Unfähigkeit, der Parteilichkeit, der Bestechlichkeit oder einer anderen Dienstverfehlung. I m englischen Recht werden in diese Richtung gehende Bemerkungen als „scandalizing the court" bezeichnet. 3 4 Da durch solche Äußerungen für das Ansehen des BVerfG ein großer Schaden entstehen kann, sind die übrigen staatlichen Organe zu besonderer Rücksichtnahme verpflichtet. Bei der Gerichts- und Richterschelte müssen die staatlichen Organe daher die Tatsachenbasis ihrer K r i t i k genau prüfen und jede Unterstellung, Verallgemeinerung oder Übertreibung vermeiden. Insbesondere darf nicht leichtfertig behauptet werden, ein (echter oder vermeintlicher) objektiver Rechtsanwendungsfehler sei auf ein subjektives Fehlverhalten zurückzuführen. Deshalb verstieß es gegen das Prinzip der Organtreue, als Justizminister Dehler zum Beschluß vom 10.12.52 erklärte, das BVerfG sei „ i n einer erschütternden Weise vom Wege des Rechts abgewichen". Denn dadurch wurde der Eindruck erweckt, das Plenum des BVerfG habe sich vorsätzlich zum Rechtsbruch entschlossen und damit Rechtsbeugung (§ 336 StGB) begangen. 35 Aber auch der pauschale, durch nichts substantiierte V o r w u r f der Unfähigkeit verletzt das Prinzip der Organtreue. Zwar ist es grundsätzlich eine reine Wertungsfrage, inwieweit man eine oder mehrere Personen für ausreichend befähigt hält. Die staatlichen Organe haben aber davon auszugehen, daß nach § 3 Abs. 2 BVerfGG die Befähigung zum Richteramt für die Tätigkeit als Verfassungsrichter genügt und daß bei der Ernennung durch den Bundespräsidenten das Vorliegen dieses Befähigungsnachweises geprüft wurde. Da alle staatlichen Stellen grundsätzlich zur Anerkennung der durch andere Stellen gesetzten Rechtsakte verpflichtet sind, 3 6 dürfen sie auch nicht verbal die grundsätzliche Befähigung der Richter in Zweifel ziehen. Es verstieß also ebenfalls gegen das Prinzip der Organtreue, als Justizminister Dehler erklärte, das Beklagenswerteste am B V e r f G sei nicht sie parteipolitische Zusammensetzung, sondern die mangelnde richterliche Qualität. 33

Bemerkungen des BVerfG zu dem Rechtsgutachten von Prof. Richard Thoma, JÖR 6, S. 206/207. 34 Dazu Wassermann, Justiz und Medien, S. 41 und Stürner, Schutz, S. 162. 35 Es kann offen bleiben, inwieweit das BVerfG sich überhaupt wegen Rechtsbeugung strafbar machen kann. Helga Worm, Rechtliche Verantwortlichkeit, S. 65/66 meint, Rechtsbeugung sei nur im Bereich des Verfassungsprozeßrechtes, nicht aber bei der Auslegung der Verfassung möglich. 3 6 Herzog, MDHS, Art. 20 V I I Rn. 58.

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Sollten i m übrigen einem staatlichen Organ Tatsachen bekannt werden, die für eine nachträglich eingetretene Dienstunfähigkeit oder für eine Dienstverfehlung eines Richters sprechen, wird das Prinzip der Verfassungsorgantreue hier ausnahmsweise äußerste Zurückhaltung mit öffentlicher K r i t i k gebieten. W e i l in diesen Fällen die Stellung des BVerfG in der Öffentlichkeit bereits stark beeinträchtigt ist, ist eine besondere Rücksichtnahmpflicht anzunehmen. I m übrigen hat das BVerfG in diesen Fällen nach § 105 B V e r f G G ein Selbstreinigungsverfahren durchzuführen. Da das Gericht diese Entscheidung nach Art. 97 Abs. 1 G G in sachlicher Unabhängigkeit treffen muß, ist es allen anderen Staatsorganen verboten, durch öffentliche Vorverurteilung auf das Gericht Druck auszuüben. Damit ist bereits die dritte Schranke genannt, die das Äußerungsrecht der Amtsinhaber begrenzt: Art. 97 Abs. 1 GG. Die Unabhängigkeit der Richter erfordert in sachlicher Hinsicht nicht nur vollkommene Weisungsfreiheit. Vielmehr ist jede vermeidbare Einflußnahme auf schwebende und künftige Verfahren verboten. 3 7 Für den Normalfall der nach Urteilsverkündung erfolgenden Urteilskritik ist damit keine Einschränkung verbunden. Bei anderen Gerichten wird zwar gefordert, daß sich der dienstaufsichtsführende Minister, zumeist also der Justizminister, auch nach Urteilserlaß zurückhalten m u ß . 3 8 Denn seine K r i t i k könnte als Einflußnahme auf spätere ähnliche Rechtsfälle gewertet werden. Beim B V e r f G spielt dieser Gesichtspunkt aber keine Rolle. Denn das B V e r f G unterliegt keiner Dienstaufsicht, sondern ist als Verfassungsorgan institutionell unabhängig. Daher steht hinter der Äußerung des Justizministers kein besonderes Drohpotential, weswegen er sich auch nicht in besonderer Weise zurückhalten muß. Art. 97 Abs. 1 G G hat daher nur für den Sonderfall Bedeutung, daß bereits vor Verkündung des Urteils Erklärungen abgegeben werden. Jeder Versuch, auf das BVerfG Druck auszuüben, muß in diesem Stadium unterbleiben. Es war daher eine nach Art. 97 Abs. 1 G G unzulässige Pression, als die Regierung Adenauer während des EVG-Verfahrens amtlich verlautbaren ließ, ein A b w e i chen v o m Kurs der richterlichen Zurückhaltung könnte das Ende der deutschen Verfassungsjustiz bedeuten. 39 Das Plenum des BVerfG hat dem zu Recht entgegnet, daß solche „Warnungen . . . in anderen Staaten als contempt of court (Mißachtung des Gerichts) geahndet werden w ü r d e n " . 4 0 Aus demselben Grund hat das Plenum die v o m nordrhein-westfälischen Arbeits- und Sozialminister Fahrtmann während des Mitbestimmungsverfahrens 1978 abgegebene Erklärung „als unver37 Vgl. BVerfGE 55, 372 (389/390); 26, 79 (92-94). Das Verbot der Einflußnahme richtet sich gegen Exekutive und Legislative: BVerfGE 38, 1 (21); 12, 67 (71). 38 Wassermann, AltK, Art. 97 Rn. 34/35/42; Holtkotten, BoK, Art. 97 I I Nr. 1 b; abschwächend Seifert / Hömig, Art. 97 Rn. 2; differenzierend Kisker, Reaktion, S. 890892. 39 Näher oben 1. Teil A II. 4 0 Plenumsbeschluß bei Baring, Kanzlerdemokratie, S. 242.

Α. Urteils-, Gerichts- und Richterschelte

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hüllten Versuch, auf das Gericht zugunsten einer Seite Pressionen auszuüben", gerügt. 4 1 Für Art. 97 Abs. 1 G G ist es unwesentlich, zu welchem Zeitpunkt in ein schwebendes Verfahren eingegriffen wird. Ein verbotener Einflußnahmeversuch kann daher auch noch in dem Zeitraum zwischen Beratung und Verkündung der Entscheidung unternommen werden. Erfährt ein staatliches Organ vorzeitig v o m internen Beratungsergebnis, so kann es versucht sein, bereits vor der Verkündung der Entscheidung K r i t i k zu üben. M a n spricht dann von einer Vorabkritik. So hat Bundeskanzler Schmidt bereits vor der offiziellen Verkündung die Fristenlösungsentscheidung angegriffen. 4 2 Eine derartige Vorabkritik muß in aller Regel als Einflußnahmeversuch gewertet werden. Denn nach § 26 Abs. 2 GeschOBVerfG kann die Entscheidung bis zur Verkündung abgeändert werden und darin besteht zumeist der Zweck einer Vorabkritik. Aber selbst wenn keine Einflußnahme beabsichtigt wird, ist die Vorabkritik unzulässig. Denn andere staatliche Organe können erst dann eine Befassungskompetenz mit der Entscheidung haben, wenn sie vom internen Entwurf zum extern wirkenden Rechtsakt geworden ist. Vorher hat der Entwurf weder ΒindungsWirkung noch besitzt er für die Verfahrensbeteiligten irgendeine rechtliche Relevanz. Deshalb war die Vorabkritik von Bundeskanzler Schmidt in jedem Fall unzulässig. 4 3

I I I . Private Äußerungen von Amtsinhabern Da der Rahmen des Erlaubten für den Amtsinhaber enger gesteckt ist als für den Bürger, liegt für alle politisch engagierten staatlichen Würdenträger der Gedanke nahe, ihre K r i t i k als Privatmann verlautbaren zu lassen. Denn man kann dadurch rechtlichen Bedenken entgehen und dennoch politische Wirkungen erzielen. Dieses Vorgehen ist nicht von vornherein als Mißbrauch einzustufen. Denn auch der Amtsinhaber muß als Bürger die Möglichkeit der Grundrechtsausübung haben. Den höchsten Repräsentanten des Staates steht grundsätzlich wie jedem anderen Bürger nach Art. 5 Abs. 1 G G das Recht zu privater Meinungsäußerung zu. I n der Praxis treten dabei freilich stets zwei Probleme auf. Erstens kann es zweifelhaft sein, ob eine Gerichtsschelte der amtlichen Tätigkeit oder der privaten Sphäre zuzurechnen ist. Zweitens stellt sich die Frage, ob und inwieweit der 41

Kurze Darstellung oben 1. Teil Β I I Nr. 2. Dem BVerfG stimmen inhaltlich zu: Stürner, Fair Trial, S. 1 und Voss, DRiZ 1979, RI, S. 1. 42 Zum Ganzen oben 1. Teil Β I I Nr. 1. 43 Im Ergebnis ebenso: Der deutsche Richterbund, DRiZ 1975, RI, S. 12, 1976, RI, S. 16 und Prof. R. Hofmann, FAZ vom 10.3.75, S. 7 (a.A Prof. K. Shell, FAZ vom 22.2.75, S. 7).

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Amtsinhaber auch bei seinem privaten Wirken in der Öffentlichkeit rechtlich zur Zurückhaltung verpflichtet ist. Bei der Beurteilung, ob eine kritische Äußerung amtlichen oder privaten Charakter hat, muß man ähnlich wie i m Zivilrecht auf den objektiven Empfängerhoriz o n t 4 4 abstellen. Dabei kann man aus der Äußerung selbst und aus den Begleitumständen Anhaltspunkte gewinnen. Die ausdrückliche Erklärung, daß ein privates oder dienstliches V o t u m abgegeben wird, w i r d allerdings selten sein. Daher sind zumeist die äußeren Umstände entscheidend. Ein klarer dienstlicher Bezug ist bei amtlichen Pressekonferenzen, bei Reden vor dem Bundestag oder bei sonstigen offiziellen Anlässen gegeben. 45 Die Rede vor einem Parteitag begründet umgekehrt eine Vermutung für den privaten Charakter. Abgrenzungsschwierigkeiten treten bei Presseerklärungen, Radio- und Fernseh-Interviews auf. Dem Leser, Zuhörer oder Zuschauer ist in diesen Fällen meist nicht aus den Begleitumständen klar, in welcher Eigenschaft gesprochen wird. Soweit aber das kritisierte Urteil einen thematischen Bezug zur amtlichen Tätigkeit des Redners hat, wird ein unbefangener Betrachter stets vermuten, daß die K r i t i k auf der besonderen amtlichen Kenntnis der Problematik beruht und damit dienstlicher Natur ist. Dieser naheliegende Gedanke hat zwangsläufig zur Folge, daß bei Vertretern der höchsten Staatsorgane, die über umfassende Entscheidungs- und Befassungskompetenzen verfügen, i m Zweifel eine Vermutung für die amtliche Stellungnahme spricht. 4 6 Untersucht man anhand der vorstehenden Kriterien die Urteilsschelte des hessischen Ministerpräsidenten Holger Börner, 4 7 so wird man sie als eine private Äußerung einstufen können. Denn die Rede wurde vor einem Parteikongreß der SPD gehalten und beschäftigte sich auch mit Gerichtsentscheidungen, die keinen konkreten Bezug zu Länderfragen hatten. Damit stellt sich die Frage, ob und inwieweit Amtsinhaber auch bei privaten Äußerungen eine besondere, über die strafrechtlichen Grenzen hinausgehende Mäßigungspflicht haben. Da diese Mäßigungspflicht die allgemeine Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 G G einschränkt, muß sie nach Art. 5 Abs. 2 G G eine gesetzliche Grundlage haben. Soweit es sich bei den Amtsinhabern um Beamte handelt, wozu auch Pressesprecher und beamtete Staatssekretäre zählen, besteht nach § 53 B B G bzw. nach den gemäß § 35 Abs. 2 B R R G entsprechenden landes44 Vgl. Wolf, in: Soergel / Siebert, BGB, § 157 Rn. 56. 45 Ist der äußere Rahmen dienstlicher Natur, so wird auch die ausdrückliche Erklärung, eine private Meinung über das BVerfG abzugeben, oftmals als „protestatio facto contraria" unbeachtlich sein. Der Bundeskanzler beispielsweise hat nur als Kanzler nach Art. 43 Abs. 2 S. 2 GG ein Rederecht im Parlament, nicht als Privatmann. 46 Ähnlich wird man den Sonderfall zu lösen haben, daß ein Justizminister, der zugleich Abgeordneter ist, im Parlament Urteilsschelte betreibt. Da hier thematisch eine Ressortnähe gegeben ist, ist mit Wassermann, AltK, Art. 97 Rn. 42 davon auszugehen, daß der Redner als Justizminister auftritt. 4v Auszug oben 1. Teil Β I I Nr. 2.

Α. Urteils-, Gerichts- und Richterschelte

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gesetzlichen Bestimmungen ein Mäßigungsgebot. Dieses Zurückhaltungsgebot kann man so auslegen, daß auch bei privaten Äußerungen die Schranken der Verfassungsorgantreue und des Art. 97 Abs. 1 G G gewahrt werden müssen. Für die Mitglieder der Bundes- und Landesregierungen kann man aus § 12 GeschO-BReg bzw. aus den entsprechenden, die Kabinettsdisziplin begründenden Vorschriften der Länder eine Mäßigungspflicht begründen. Aus der Pflicht zur Kabinettsdisziplin kann man nämlich den allgemeinen Gedanken entnehmen, daß sämtliche private oder öffentliche Äußerungen eines Regierungsmitglieds mit dessen amtlichen Pflichten vereinbar sein müssen. Legt man diese Meßlatte an die als privat eingestufte Parteitagsrede von Ministerpräsident Börner, so wird man trotz der harten und abwertenden Schelte keine Verletzung des Prinzips der Bundestreue feststellen können. Darüberhinaus lassen sich für andere Amtsinhaber, insbesondere für Bundestagsabgeordnete, mangels dienstrechtlicher Grundlage keine besonderen Mäßigungspflichten bei privaten Äußerungen herleiten.

I V . Folgen rechtswidriger Urteilsschelte Soweit das BVerfG in rechtswidriger Weise kritisiert wird, hat es anders als die englischen Gerichte nicht die Möglichkeit, ein Ordnungsgeld zu verhängen. 4 8 Eine echte Sanktion ist nur i m strafrechtlichen Bereich oder i m Rahmen der Sitzungsleitung möglich. Aus dem Umstand, daß das BVerfG nur i m Rahmen der Sitzungspolizei nach § § 1 7 BVerfGG, 176-180 G V G Zwangsmaßnahmen verhängen darf, ist gefolgert worden, daß es außerhalb der Sitzung keine Rügen erteilen dürfe. Die bisherige Praxis, durch offizielle Beschlüsse Rechtsverstößen entgegenzuwirken, entbehre also der Rechtsgrundlage. 49 Diese K r i t i k ist unberechtigt. Soweit das BVerfG sich gegen amtliche Erklärungen anderer staatlicher Stellen wendet, bedarf es mangels Grundrechtseingriffs keiner Grundlage. Aber auch soweit es sich gegen Stellungnahmen von Privatleuten wendet, nimmt es lediglich in der Öffentlichkeit seine Interessen w a h r . 5 0 Für die reine Öffentlichkeitsarbeit bedarf es aber keiner besonderen gesetzlichen Befugnisnorm. 5 1 Das gilt auch dann, wenn die Öffentlichkeitsarbeit — wie die regierungsamtliche Warnung vor Jugendsekten — in Grundrechte eingreift. 5 2 4 8 Allgemein zum „contempt of court": Wassermann, Justiz und Medien, S. 41/42 und Stürner, Schutz, S. 161-163. 49 Stürner, Fair Trial, S. 6. 50 Das BVerfG hat als Verfassungsorgan ebenso wie BReg und BRat das Recht zu einer eigenen Öffentlichkeitsarbeit (Nähere Begründung unten 6. Teil A). 51 Dies wurde für die Öffentlichkeitsarbeit von Parlament und Regierung in BVerfGE 44, 125 (147/148); 63, 230 (242/243) entschieden.

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Die bisherige Praxis, auf Rechtsverstöße durch Plenumsbeschlüsse oder durch Erklärungen des Präsidenten zu reagieren, ist nicht nur rechtmäßig, sondern auch sinnvoll. Zwar ist es richtig, daß sich ein unerfreulicher Schlagabtausch ergeben könnte, wenn der ermahnte Amtsinhaber nicht „klein beigibt", sondern sich zur Wehr setzt. Das B V e r f G kann dieser Gefahr aber entgegensteuern. Besonders geschickt handelt es, wenn die Ermahnung nicht konkret auf die Verbalinjurien eingeht, sondern einen Vorfall gleichsam nur zum Anlaß nimmt, allgemein auf die Grenzen zulässiger Urteilskritik hinzuweisen. Dieses von Gebhard Müller praktizierte Verfahren hat den Vorteil, daß für eventuelle „Gegenschläge" keine Angriffsflächen geboten werden und daß die leidigen Verbalangriffe i m Beschluß nicht wiederholt werden müssen. Außerdem kann durch die primär juristische Erwiderung das Prinzip der Verfassungsorgantreue konkretisiert und zugleich das Bewußtsein der Öffentlichkeit für die Grenzen der Justizkritik geschärft werden.

B. Unterlassen der Richterwahl und „Austrocknen" des Gerichts A n keiner Stelle zeigt sich die Abhängigkeit des BVerfG vom politischen Prozeß deutlicher als bei der Richterwahl. Das BVerfG ist auf die Wahl durch Bundesrat und Bundestag angewiesen. Unterbleibt die Wahl längere Zeit, so kann das BVerfG i m Extremfall handlungsunfähig werden. M a n spricht von der Gefahr des „Austrocknens" des Gerichts. 5 3 Beim Unterlassen der Richterwahl sind drei Konstellationen denkbar. A m häufigsten tritt der Fall der reinen Wahlverzögerung auf. Der Nachfolger eines Verfassungsrichters muß grundsätzlich vor A b l a u f der Amtszeit seines Vorgängers gewählt sein. Oftmals findet die Wahl aber erst später statt, weil sich die Wahlorgane nicht mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit auf einen Kandidaten einigen können. 5 4 Anfang der 50er Jahre blieb eine Stelle sogar zwei Jahre lang unbesetzt. 55 Das BVerfG ging davon aus, daß die zweijährige Verzögerung allein auf der Schwierigkeit beruhte, einen konsensfähigen Nachfolger zu finden. 5 6 Gegenüber der von keiner Seite gewollten Wahlverzögerung ist der Fall abzugrenzen, daß ein Teil des Wahlgremiums die Nachwahl absichtlich aus sachfremden Gründen verschleppt. Die Wahlverschleppung hat in der Regel den Zweck, 52 BVerwGE 82, 76 (80/81), bestätigt durch BVerfG, NJW 89, S. 3209/3210. 53 Die Bezeichnung geht auf Knöpfle, Schutz, S. 74 zurück und findet sich im neueren Schrifttum z.B. bei Schefold, Problematik, S. 291. Laufer, Politischer Prozeß, S. 167169 verwendet den Begriff in einem anderen, weiteren Sinne. 54 Insofern war es typisch, daß Verfassungsrichter Konrad Hesse 1987 noch drei Monate länger im Amt blieb, bis sein Nachfolger Dieter Grimm gewählt war (Waldinger, Wahl, S. 69). 55 Näher oben 1. Teil A I I I (Zweigert-Vakanz). 56 BVerfGE 2, 1 (9/10) — SRP-Entscheidung.

Β. Unterlassene Richterwahl

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die bestehende Besetzung des Gerichts aus politischen Gründen solange aufrechtzuerhalten, bis ein bestimmter Prozeß entschieden ist. Dieser Fall ereignete sich vor kurzem i m Saarland. Bis 1985 regierte dort eine C D U / FDP-Koalition, die informell für vier der sieben Verfassungsrichter das Vorschlagsrecht hatte. 5 7 Danach kam die SPD unter Oskar Lafontaine an die Regierung. Die neue Mehrheit setzte ein innenpolitisch stark umstrittenes Gesamtschulgesetz durch. A n die Stelle der in der Verfassung erwähnten Grund- und Hauptschulen sollte regelmäßig eine integrierte Gesamtschule treten. C D U und FDP erhoben ebenso wie eine Bürgerinitiative „Rettet die Schulen" Klage beim Saarländischen Verfassungsgerichtshof. Als 1987 über die Sache verhandelt werden sollte, waren zwei der sieben Richter verstorben. Zugleich war die reguläre Amtszeit von drei der sieben Ersatzleute abgelaufen. Sie waren schon fast ein Jahr lang nur noch kommissarisch im A m t . Nach § 2 Abs. 6 SaarlVerfGHG (a.F.), der wörtlich § 4 Abs. 4 B V e r f G G entsprach, mußten nämlich die alten Richter ihre Amtsgeschäfte bis zur Ernennung der neuen Richter fortführen. 5 8 I m Saarländischen Landtag war man sich bei der Wahl der Nachfolger zwar darüber einig, daß die SPD als neue Regierungsmehrheit das Vorschlagsrecht für einen weiteren Richterstuhl beanspruchen konnte. 5 9 Die C D U / FDP-Opposition wollte aber den Wechsel des entscheidenden vierten Richtersitzes so lange wie möglich hinausschieben. Der Abgeordnete Schwarz ( C D U ) erklärte, es hätten sich zwar „Einigungsmöglichkeiten" über die Personen „abgezeichnet", in der Sache sei aber eine „abschließende Entscheidungsreife . . . noch nicht gegeben." Dem fügte sein Kollege Jost (FDP) hinzu, die Durchführung der Richterwahlen zum gegenwärtigen Zeitpunkt sei „aus Gründen der personellen Kontinuität angesichts kurz vor dem Abschluß stehender anhängiger Verfahren . . . nicht sachdienlich". 6 0 Die Opposition beteiligte sich deswegen nicht an den für den 8. A p r i l 1987 angesetzten Richterwahlen, so daß die in Art. 96 Abs. 1 S. 2 SaarlVerf vorgeschriebene Zweidrittelmehrheit nicht zustande k a m . 6 1 Der Saarländische Verfassungsgerichtshof war der Ansicht, daß bei diesem obstruktiven Verhalten sachfremde Erwägungen i m Spiel waren. 6 2 Es lag mit anderen Worten ein Fall von Wahlverschleppung vor. Neben der Wahlverzögerung und Wahlverschleppung ist noch ein dritter Fall denkbar: der Wahlboykott. Darunter ist nicht das zeitlich befristete Verhindern, 57 Das geht aus den Äußerungen des Abg. Klimmt (SPD) hervor (LT-Prot. IX S. 2088). Ähnlich, aber nicht ganz korrekt: Fromme, FAZ vom 12.6.87, S. 12. Klarstellend: Rixecker, Leserbrief, FAZ vom 2.7.87, S. 10. 58 Abdruck der damals geltenden gesetzlichen Regeln in BVerfGE 82, 286 (287). 59 Jost (FDP), Klimmt (SPD) und Schwarz (CDU), LT-Prot. IX S. 2088/2089. 60 Schwarz (CDU), LT-Prot. IX S. 2087; Jost, (FDP) LT-Prot. IX S. 2089. 61 LT-Prot. IX S. 2089. 62 SaarlVerfGH I, NJW 87, S. 3248 und SaarlVerfGH II, NJW 87, S. 3249.

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sondern das völlige Fernbleiben von allen Wahlen zu verstehen. Da zur Wahl der Richter eine Zweidrittelmehrheit nötig ist, hat es jede größere Partei in der Hand, die Nachwahlen gänzlich zu blockieren. Verhindert eine Oppositionspartei die Wahlen, so muß sie auf Bundesebene mit einer für sie nachteiligen Änderung der Richterwahlregeln rechnen. Denn das Richterwahlrecht ist als Teil des B V e r f G G mit einfacher Mehrheit änderbar. 63 Dagegen gibt es keine politischen Druckmittel, wenn die Regierungsparteien die Nachwahl boykottieren. In allen drei Fällen stellen sich i m wesentlichen drei Rechtsfragen: Ist erstens das Unterlassen der Richterwahl zumindest für eine gewisse Zeit rechtmäßig oder besteht eine strikte Wahlpflicht? Ist zweitens das BVerfG noch ordnungsgemäß besetzt, wenn die Richternachwahl längere Zeit unterbleibt? Kann drittens die Nachwahl der Richter rechtlich erzwungen werden?

I . Wahlpflicht Weder i m Grundgesetz noch i m Bundesverfassungsgerichtsgesetz ist ausdrücklich von einer Pflicht der Wahlgremien zur Wahl die Rede. Eine Wahlpflicht von Bundesrat und Bundestag liegt aber schon deswegen nahe, weil in Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG eine Kompetenz verliehen wird. Soweit das Grundgesetz dem Bürger Freiheitsrechte einräumt, hat er stets die Möglichkeit, von dem Recht Gebrauch zu machen oder die Ausübung des Rechtes zu unterlassen. Anders ist es, wenn einem staatlichen Hoheitsträger Kompetenzen verliehen werden. Dann besteht keine umfassende, positive und negative Handlungsfreiheit. Vielmehr ist die Übertragung von Befugnissen stets mit rechtlichen Verpflichtungen verknüpft. Eine entsprechende Pflicht legt bereits der Wortlaut des Art. 94 Abs. 1 S. 2 G G nahe. Kurz und bündig heißt es, daß die Richter „ v o m Bundestage und vom Bundesrate gewählt" werden. Durch die knappe, beschreibende Formulierung wird einerseits bestimmt, wer das Wahlrecht hat. Andererseits wird geregelt, daß gewählt werden muß. Die deskriptive Formulierung hat, wie an vielen anderen Stellen der Verfassung, 6 4 präskriptiven Inhalt: Es darf nicht nur, es muß gewählt werden. Die Wahlpflicht ist letztlich eine Folge des Prinzips der Funktionsfähigkeit des B V e r f G . 6 5 W i e Art. 115 g G G zeigt, liegt der Verfassung die Vorstellung eines funktionsfähigen Gerichts zu Grunde. I n personeller Hinsicht bedeutet dies, daß das Gericht ordnungsgemäß und vollständig besetzt sein muß. Läuft die Amtszeit eines Richters ab, muß daher das zuständige Wahlorgan einen Nachfolger wählen. 6 6 « Dazu ausführlich oben 4. Teil D. 64 Vgl. Simon, Unabhängigkeit, S. 1. 65 Dazu ausführlich oben 4. Teil D I Nr. 2 und F I Nr. 2. 66 Ebenso Klein, MSBKU, § 5 Rn. 20; ähnlich Geiger, BVerfGG, Anm. 4.

Β. Unterlassene Richterwahl

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Besteht somit für Bundestag und Bundesrat ein verfassungsrechtlicher Wahlauftrag, so ergibt sich für die Mitglieder des jeweiligen Wahlgremiums die Pflicht, auf die Erfüllung des Verfassungsauftrags hinzuwirken. Sie müssen die Wahl nach Kräften fördern. Daraus folgt zwangsläufig, daß ein völliger Wahlboykott dieser Förderungspflicht widerspricht und darum verfassungswidrig ist. Damit ist noch nicht geklärt, ob eine zeitweise Verzögerung der Wahl zulässig ist. Hier stellt sich zunächst die Frage, bis zu welchem Zeitpunkt die Wahl eines Richters erfolgt sein muß. Da Art. 94 Abs. 1 S. 2 G G keine Wahlfrist enthält, durfte der einfache Gesetzgeber nach Art. 94 Abs. 2 G G die Wahlpflicht von Bundestag und Bundesrat in zeitlicher Hinsicht konkretisieren. Die in § 5 B V e r f G G getroffene Regelung ist allerdings in bezug auf den Zeitpunkt der Wahl verwirrend. Denn für den Normalfall, daß die Amtszeit des Richters durch Zeitablauf oder durch Erreichen der Altersgrenze endigt, trifft § 5 Abs. 2 BVerfGG nur die etwas merkwürdige Regelung, daß frühestens drei Monate vor Ablauf der Frist gewählt werden darf. Die Vorschrift soll verhindern, daß am Ende einer Legislaturperiode „auf Vorrat" Richter gewählt werden. Denn damit würde der neue Bundestag vor vollendete Tatsachen gestellt. 6 7 Die weitaus interessantere Frage, wann spätestens gewählt werden muß, bleibt in § 5 Abs. 2 BVerfGG für den Normalfall offen. I m Regierungsentwurf war ursprünglich vorgesehen, daß spätestens einen Monat vor Ablauf der Amtsperiode der Nachfolger bestimmt sein müßte. Diese zeitliche Einschränkung erschien dem Rechtsausschuß zu hart, so daß sie ersatzlos gestrichen wurde. 6 8 Aus § 4 Abs. 1 BVerfGG kann man aber entnehmen, daß die Amtszeit grundsätzlich auf z w ö l f Jahre befristet ist. Das Gesetz geht also von der Leitvorstellung aus, daß anschließend der Nachfolger die Amtsgeschäfte übernimmt. Die Wahl des Nachfolgers muß daher bereits vor Ablauf der Dienstzeit des ausscheidenden Richters erfolgen. 6 9 Daher muß spätestens an dem Tag ein Nachfolger gewählt werden, an dem der Vorgänger z w ö l f Jahre i m A m t ist oder die Altersgrenze erreicht. I m Normalfall haben die Wahlgremien somit drei Monate Zeit, den Nachfolger zu bestimmen. In zwei Ausnahmefällen gilt eine andere, auf einen Monat verkürzte Frist. Der Grund für die erste Ausnahme liegt in der Sphäre des Gerichts. Scheidet ein Richter in außergewöhnlicher Weise aus dem A m t , dann ist nach § 5 Abs. 3 BVerfGG binnen eines Monats der Nachfolger zu wählen. Dieser Fall liegt vor bei Rücktritt (§ 12 BVerfGG), bei Übernahme in ein anderes A m t ( § § 2 1 Abs. 1 Nr. 2, 69 DRiG), bei Entlassung (§ 105 BVerfGG) und beim Tod des Richters. 7 0 Der Grund für die zweite Ausnahme liegt in der Sphäre des Wahlorgans. Ist der 67 68 69 70

Klein, MSBKU, § 5 Rn. 12; Geiger, BVerfGG, § 5 Anm. 2. Klein, MSBKU, § 5 Rn. 13; Geiger, BVerfGG, § 5 Anm. 2. Geiger, BVerfGG, § 5 Anm. 2; Lechner, BVerfGG, § 5 Anm. 2. Ergänzend Geck, Amtsrecht, S. 54-58; Klein, MSBKU, § 5 Rn. 18.

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Bundestag aufgelöst, wenn die Wahl eigentlich stattfinden müßte, so kann er seine Wahlpflicht nicht erfüllen. Die Wahl hat dann binnen eines Monats nach dem Zusammentritt des Bundestages stattzufinden (§ 5 Abs. 2 BVerfGG). Durch die dreimonatige Wahlfrist, die in Ausnahmefällen auf einen Monat verkürzt ist, hat der Gesetzgeber die Wahlpflicht von Bundestag und Bundesrat in zeitlicher Hinsicht konkretisiert. M a g auch die einmonatige Frist i m Hinblick auf die Einigungsschwierigkeiten der Zweidrittelwahl als äußerst kurz erscheinen, 7 1 so bestehen doch an der Verfassungsmäßigkeit der Regelung keine Zweifel. Für die Mitglieder der Wahlgremien bedeutet dies, daß sie auf eine Wahl innerhalb der Frist hinwirken müssen. Ihre verfassungsrechtliche Förderungspflicht verbietet jede absichtliche Verzögerung, die zu einer Überschreitung der Wahlfristen führt. Die vorsätzliche Wahlverschleppung, wie sie i m Saarland zu beobachten war, ist somit eindeutig rechtswidrig. Gelingt die Wahl nicht, obwohl alle Mitglieder des Wahlorgans durch rechtzeitiges Zusammenkommen, durch Unterbreiten von Vorschlägen und durch gründliche Diskussion ihrer Förderungspflicht nachgekommen sind, so kann die reine Fristüberschreitung schwerlich als Verfassungsverstoß gewertet werden. In diesem Fall liegen zwei in Art. 94 Abs. 1 S. 2 G G angelegte Grundsätze i m Widerstreit: der Grundsatz der Fristbindung und der Grundsatz der Entscheidungsfreiheit. Art. 94 Abs. 1 S. 2 G G gewährt den Wahlorganen bei der Auswahl der Richter einen großen Freiraum. W i e bei den anderen in der Verfassung vorgesehenen Wahlen sind die Delegierten nur ihrem Gewissen verpflichtet (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG). I m Konflikt mit dem Grundsatz der Fristbindung muß man dem Prinzip der Wahlfreiheit ein höheres Gewicht beimessen. Denn für die mit der Wahl bezweckte demokratische Legitimation der Richter ist die Entscheidungsfreiheit von ausschlaggebender Bedeutung. Demgegenüber kann der Zweck der Fristbindung, die Arbeitsfähigkeit des BVerfG zu erhalten, meist auch auf anderem Wege erreicht werden, z.B. durch § 4 Abs. 4 BVerfGG. I m Ergebnis ist daher in den Fällen der reinen Wahlverzögerung ein Verfassungsverstoß nicht feststellbar. Auch eine zweijährige Fristüberschreitung, wie sie Anfang der 50er Jahre auf Bundesebene vorgekommen ist, kann daher noch rechtmäßig sein. I I . Ordnungsgemäße Besetzung Unterbleibt die rechtzeitige Wahl eines Richters, so tritt auch beim B V e r f G eine Änderung ein. I m Regelfall führt der ausscheidende Richter die Amtsgeschäfte bis zur Ernennung seines Nachfolgers nach § 4 Abs. 4 B V e r f G G fort. Dann besteht der Senat in einer Übergangsbesetzung. Es kann aber auch sein, daß ein

7i Stern, BoK, Art. 94 Rn. 76; Klein, MSBKU, § 5 Rn. 14.

Β. Unterlassene Richterwahl

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Richter durch Tod oder durch einen anderen außergewöhnlichen Anlaß vorzeitig ausscheidet. Dann besteht der Senat nur noch aus sieben, statt aus acht Richtern. Es liegt eine Unterbesetzung vor. In beiden Fällen muß das Gericht von Amts wegen prüfen, ob es noch ordnungsgemäß besetzt ist, d.h. ob die neue Zusammensetzung des Gerichts Gesetz und Verfassung entspricht. Diese Prüfungspflicht ist Ausfluß des Prinzips des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 S. 2 G G ) . 7 2 Da das Prinzip des gesetzlichen Richters auch für das BVerfG gilt, hat jeder Verfahrensbeteiligte während des ganzen Prozesses das Recht, eine Überprüfung der Richterbank zu beantragen. 73 Man bezeichnet den Antrag als Besetzungsrüge. 74 Der jeweilige Senat muß daraufhin selbst über seine ordnungsgemäße Besetzung entscheiden. W i r d die M i t w i r k u n g eines bestimmten Richters in Frage gestellt, so darf dieser Richter an der Entscheidung nicht mitwirken. Ansonsten wäre der Grundsatz, daß niemand Richter in eigener Sache sein kann, verletzt. 7 5 Das BVerfG hatte bereits mehrfach Anlaß, seine Besetzung zu überprüfen. 7 6 Kein Senat kam aber bislang zu dem Ergebnis, daß er ordnungswidrig zusammengesetzt sei. In diesem Fall müßte er versuchen, seine gesetzliche Besetzung herzustellen. In der ordnungswidrigen Besetzung darf er jedenfalls nicht in der Sache entscheiden, weil dieser Senat nicht der gesetzliche Richter ist. Die ordnungsgemäße Besetzung ist darum eine echte Sachurteilsvoraussetzung.

/. Wahlverzögerung I m Fall der Wahl Verzögerung gibt es bei der Bestimmung der richtigen Zusammensetzung des Gerichts wenig Probleme. Denn die in § 4 Abs. 4 BVerfGG vorgeschriebene Amtszeitverlängerung ist gerade für den Fall der einigungsbe-

72 BVerfGE 2, 1 (9/10); 40, 356 (360); SaarlVerfGH II, NJW 87, S. 3249; Knöpfle, Besetzung, S. 143/148; Wilms/Jäger, Amtszeitüberschreitung, S. 269. 73 Daher ist die Kritik von Doehring, Zwischenentscheidung, S. 3233 und Fromme, FAZ vom 12.6.87, S. 12 an der Besetzungsrüge der Saarländischen Regierung verfehlt (zutreffend Wilms / Jäger, Amtszeitüberschreitung, S. 269 und Rixecker, Leserbrief, FAZ vom 2.7.87, S. 12). 74 Die Bezeichnung hat sich wenigstens bei Fragen der Kammerbesetzung eingebürgert (Klein, in: Benda/Klein, VerfPR, Rn. 178/179). Beispielsfall: BVerfGE 47, 105109 (Träger und RAF-Beschwerde). 75 BVerfGE 82, 286 (289); 40, 352 (356); SaarlVerfGH I, NJW 87, S. 3247. Entgegen Doehring, Zwischenentscheidung, S. 3233 ist es unwesentlich, ob der Richter die Rüge — wie bei § 19 Abs. 1 BVerfGG — veranlaßt hat. Denn der vom Ausschluß bedrohte Richter kann nie völlig unparteilich über die richtige Besetzung urteilen. 76 Zumeist ging es darum, ob ein Richter ordnungsgemäß gewählt wurde: BVerfGE 40, 356-371 (Zeidler); BVerfGE 65, 152-159 (Henschel). Geiger, BVerfG im Spannungsfeld, S. 403 mit Fn. 6 berichtet von einer dritten unveröffentlichten Entscheidung. Andere Fälle: BVerfGE 2, 9/10 (Zweigert-Vakanz) und BVerfGE 46, 34-42 (Hirsch).

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dingten Verzögerung konzipiert. Daher ist die Übergangsbesetzung mit dem weiteramtierenden Richter als die ordnungsgemäße Besetzung des Gerichts anzusehen. Auch wenn die Übergangszeit mehrere Monate dauert, ändert sich daran nichts. Denn bei der Wahl des Richters war die Möglichkeit des verzögerungsbedingten Weiteramtierens nach § 4 Abs. 4 B V e r f G G bekannt, so daß die demokratische Legitimation dafür grundsätzlich gegeben ist. Da die Amtsfortführung aber nur als Zwischenlösung vorgesehen ist und da eine Wiederwahl der Richter nach § 4 Abs. 2 B V e r f G G grundsätzlich ausgeschlossen ist, muß es auch für die Amtsfortführung eine äußerste zeitliche Grenze geben, mit deren A b l a u f die demokratische Legitimation erlischt. Der Saarländische Verfassungsgerichtshof ging zu Recht davon aus, daß es für die Amtsfortführung keine starre zeitliche Grenze gibt. Für die Amtsfortführung ist unter Berücksichtigung aller Umstände ein angemessener Zeitraum festzulegen. Bei der i m Saarland üblichen sechsjährigen Amtszeit nahm der Gerichtshof an, daß die Grenze nach Ablauf eines Jahres erreicht ist. 7 7 Entsprechend kann man für das BVerfG bei einer zwölfjährigen Amtszeit annehmen, daß nach zwei Jahren die Legitimation erlischt. Nach dem Rechtsgedanken des § 5 Abs. 2 BVerfGG muß bei dieser Frist allerdings der Zeitraum unberücksichtigt bleiben, in dem der Bundestag aufgelöst ist. Auch i m Falle einer Vakanz bleibt das Gericht grundsätzlich ordnungsgemäß besetzt, obwohl der Senat dann nicht mehr die in § 2 Abs. 2 B V e r f G G vorgesehenen acht Richter hat. W i e § 5 Abs. 3 B V e r f G G zeigt, hat der Gesetzgeber diese Möglichkeit durchaus erkannt. Er hat darauf verzichtet, durch Stellvertreterlisten die Acht-Mann-Stärke durchgehend zu sichern. 7 8 I m Rahmen der Beschlußfähigkeitsregeln hat er zu erkennen gegeben, daß sechs Richter für eine Entscheidung genügen (§ 15 Abs. 2 S. 1 BVerfGG). Die Frage der Beschlußfähigkeit ist zwar von der Frage der Besetzung zu trennen. I m einen Fall geht es um die allgemeine Senatszusammensetzung, i m anderen Fall um die i m Einzelverfahren nötige Personen stärke. 7 9 Die Beschlußfähigkeitsregeln legen es aber letztlich nahe, daß eine Unterbesetzung nicht schadet. Demzufolge ging auch das B V e r f G bei der Anfang der 50er Jahre eingetretenen, zweijährigen Vakanz von seiner ordnungsgemäßen Besetzung aus. 8 0

77 SaarlVerfGH I, NJW 87, S. 3248. 78 Geiger, BVerfGG, § 2 Anm. 6; Knöpfle, Besetzung, S. 146. 79 Ebenfalls differenzierend: Lechner, Besetzung, S. 853 und Geiger, BVerfGG, § 5 Anm. 11. so BVerfGE 2, 1 (9/10). Ebenso: Lechner, Besetzung, S. 854, Klein, MSBKU, § 5 Rn. 14/20 und Knöpfle, Besetzung, S. 147. Anderer Ansicht ist Geiger, BVerfGG, § 5 Anm. 6, der nach Ablauf eines Monats, Funktionsunfähigkeit annimmt.

Β. Unterlassene Richterwahl

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2. Wahlverschleppung Das BVerfG hat es aber ausdrücklich offen gelassen, ob „etwas anderes gelten müßte, wenn die Wahlkörperschaften die Wahl aus sachfremden, etwa parteipolitischen Gründen ungebührlich verzögerten." 8 1 I m Fall der Wahlverschleppung wird nämlich die Regelbesetzung des Gerichts verhindert, um die nur als Z w i schenlösung gedachte Unter- oder Übergangsbesetzung für die Dauer eines Verfahrens aufrechtzuerhalten. Es liegt also i m Grunde ein Mißbrauch des Wahlrechts vor.82 I m Schrifttum wird daher durchweg die Ansicht vertreten, daß das BVerfG i m Fall der Wahlverschleppung nicht ordnungsgemäß besetzt i s t . 8 3 Denn das Gebot des gesetzlichen Richters hat den Zweck, daß die Zusammensetzung der Richterbank allgemein feststeht und nicht mit B l i c k auf bestimmte Prozesse manipuliert w i r d . 8 4 Art. 101 Abs. 1 S. 2 G G verbietet jede willkürliche Einflußnahme auf die Zusammensetzung des Gerichts. Die Wahl Verschleppung dient aber einer aus politischen Gründen motivierten Einflußnahme. Sie hat den Zweck, für ein bestimmtes Verfahren Vorteile aus einer i m Grunde überholten Gerichtsbesetzung zu ziehen. Daher manipuliert bei der Wahlverschleppung ein Teil des Wahlgremiums die Richterbank, so daß Art. 101 Abs. 1 S. 2 G G verletzt ist. Fraglich ist allerdings, welche Konsequenzen aus dem Besetzungsmangel zu ziehen sind. Diese Konsequenzen können je nach Situation unterschiedlich aussehen. Dabei spielt es eine Rolle, ob durch die Wahlverschleppung eine Unterbesetzung aufrechterhalten w i r d oder ob eine Übergangsbesetzung i m A m t bleibt. I m Schrifttum wurde zunächst nur die Situation der Unterbesetzung berücksichtigt. Tritt eine Vakanz auf, verändern sich zwangsläufig die politischen Proporzverhältnisse zugunsten einer Partei. Diese Partei kann daher ein Interesse an der Verschleppung der Richterwahlen haben. Die Verschleppung führt aber zu einer Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG widersprechenden und damit ordnungswidrigen Besetzung des Gerichts. Der Senat kann seine ordnungswidrige Besetzung nicht korrigieren und darf daher nicht in der Sache entscheiden. Dieser Besetzungsmangel betrifft allerdings nur die Verfahren, die durch die Wahlverschleppung beeinflußt werden sollen. I n den anderen Fällen hat die Wahlverschleppung zwar auch Auswirkungen auf die Richterbank. In bezug auf diese Prozesse liegt aber keine gezielte Manipulation vor, so daß insofern keine andere Situation vorliegt als bei der reinen Wahl Verzögerung. Darum ist in diesen Fällen Art. 101 GG nicht verletzt. I m Ergebnis ist der unterbesetzte Senat bei einer Wahlverschleppung somit nur partiell funktionsunfähig. si BVerfGE 2, 1 (10); 82, 286 (300/301). 82 Ebenso Doehring, Zwischenentscheidung, S. 3233. 83 Klein, MSBKU, § 5 Rn. 20; Geiger, BVerfGG, § 5 Anm. 6; Leibholz / Rupprecht, BVerfGG, § 5 Rn. 3; wohl auch Wilms/Jäger, Amtszeitüberschreitung, S. 271. 84 So ausdrücklich: BVerfGE 17, 294 (299); 24, 33 (54); 82, 159 (194). 16 Häußler

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Eine grundsätzlich andere Situation liegt bei der Übergangsbesetzung vor. Damit hatte sich der Saarländische Verfassungsgerichtshof zu beschäftigen. Die Amtsfortführungsregel wurde dazu mißbraucht, eine alte Besetzung für ein bestimmtes Verfahren zu erhalten. Aufgrund der Wahlverschleppung war also die Übergangsbesetzung rechtswidrig und der Verfassungsgerichtshof stand vor der Frage, ob dieser Mangel zu beheben sei. Er entschied, daß bei einer Wahl Verschleppung die in § 2 Abs. 6 SaarlVerfGHG — parallel zu § 4 Abs. 4 B V e r f G G — angeordnete Amtsfortführung nicht gelte. Die Richter, deren M i t w i r k u n g durch die Wahlverschleppung ermöglicht werden sollte, müßten aus dem Gericht ausscheiden. 85 Dieser Beschluß wurde auf eine erneute Besetzungsrüge hin bestätigt.86 Die Entscheidung erregte großes Aufsehen, weil damit die personelle Zusammensetzung des saarländischen Gerichts wesentlich geändert wurde. A n die Stelle des der C D U nahestehenden Berichterstatters rückte ein von der SPD vorgeschlagener Ersatzrichter. Damit standen nicht mehr vier, sondern nur noch drei der insgesamt sieben Richter der C D U / FDP-Opposition nahe. 8 7 In politischer Hinsicht war damit das Ziel der Wahlverschleppung vereitelt. 8 8 Der Saarländische Verfassungsgerichtshof begründete seine Entscheidung damit, daß die Amtsfortführungsregel einer verfassungsrechtlichen Interpretation bedürfe. I m Falle der Wahlverschleppung werde die Fortführung der Amtsgeschäfte letztlich von einer Minderheit erzwungen. Daher entbehre die Tätigkeit des Richters der demokratischen Legitimation (Art. 20 Abs. 1 GG). Ferner sei die sachliche Unabhängigkeit des Richters gefährdet, wenn er während eines für Teile des Wahlgremiums besonders wichtigen Verfahrens i m Schwebezustand zwischen A b - und Wiederwahl stehe (Art. 97 Abs. 1 GG). Schließlich verbiete es das Prinzip des gesetzlichen Richters, daß die Zusammensetzung der Richterbank aus sachfremden Gründen beeinflußt werde (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG). Die Entscheidung stieß — nicht zuletzt wegen ihrer politischen Folgen — bereits in der Tagespresse auf massive K r i t i k . 8 9 Sie wurde aber auch in der Wissenschaft angegriffen und zum Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde gemacht. 9 0 Dem Saarländischen Verfassungsgerichtshof wurde in erster Linie 85 SaarlVerfGH I, NJW 87, S. 3247/3248. 86 SaarlVerfGH II, NJW 87, S. 3248-3250. 87 Vgl. Fromme, FAZ vom 12.6.87, S. 12 und Wilms, Die Welt vom 21.7.87, S. 2. 88 Der SaarlVerfGH II, NJW 87, S. 3249 erklärte zu dieser Entscheidungsfolge lapidar: „Soweit die Antragsteller in diesem Zusammenhang einer bestimmten politischen Zusammensetzung des SaarlVerfGH unter Proporzgesichtspunkten das Wort reden und bestimmte politische Mehrheitsverhältnisse erhalten wissen wollen, findet das in den einschlägigen gesetzlichen Vorschriften keine Stütze". 89 Fromme, FAZ vom 12.6.87, S. 12; 2.7.87, S. 3; 3.7.87, S. 4; 15.7.87, S. 1; Wilms, Die Welt vom 21.7.87, S. 2. 90 Doehring, Zwischenentscheidung, S. 3233 - 3235 und Wilms / Jäger, Amtszeitüberschreitung, S. 268-274. Dagegen stimmte Schefold, Problematik, S. 291-296 dem SaarlVerfGH zu.

Β. Unterlassene Richterwahl

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vorgeworfen, daß er sich über den eindeutigen Wortlaut des Gesetzes hinweggesetzt habe. Der Zweck der Amtsfortführungsregel, die Funktionsfähigkeit des Gerichts zu sichern, lasse eine einschränkende Auslegung nicht zu. Bei der Bestimmung des gesetzlichen Richters seien zudem für die richterliche Rechtsfortbildung besonders strenge Maßstäbe anzulegen. 91 Darauf aufbauend wurde in zweiter Linie kritisiert, daß der Verfassungsgerichtshof i m Ergebnis selbst seine Zusammensetzung verändert habe. Ihm fehle aber die Befugnis, sich selbst umzugestalten und eine Besetzung zu schaffen, die in keiner Weise v o m W i l l e n der Wahlgremien gedeckt sei. Die damit geschaffene Möglichkeit der Abberufung eines Richters durch seine Kollegen verletze dessen richterliche Unabhängigkeit (Art. 97 G G ) 9 2 und erscheine selbst als w i l l kürlicher Eingriff in die Richterbank (Art. 101 Abs. 1 S. 2 G G ) . 9 3 Die an zweiter Stelle stehende K r i t i k bricht allerdings wie ein Kartenhaus in sich zusammen, wenn der an erster Stelle vorgebrachte V o r w u r f der fehlerhaften Auslegung einfachen Rechts nicht stichhaltig ist. Dreh- und Angelpunkt des Falles ist somit die Frage, ob der in § 2 Abs. 6 SaarlVerfGHG (a.F.) bzw. in § 4 Abs. 4 B V e r f G G verankerte Grundsatz der Amtsfortführung auch im Falle der Wahlverschleppung gilt. Zwar erfaßt der Wortlaut der Vorschrift jeden Fall der Fristüberschreitung. Der Gesetzgeber hatte aber bei Schaffung der N o r m allein den Fall i m Auge, daß sich die Parteien um die Wahl eines Nachfolgers bemühen, sich aber nicht rechtzeitig einigen können (WahlVerzögerung). Der Fall, daß eine Partei die Wahl absichtlich hinausschiebt (Wahlverschleppung), sollte nicht geregelt werden. 9 4 Daher ist näher zu prüfen, ob der Zweck der Vorschrift auch den Fall der Wahlverschleppung erfaßt oder ob eine teleologische Reduktion geboten ist. Der Zweck der Amtsfortführungsregel besteht primär in der Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des Gerichts. 9 5 Das ergibt sich aus dem W i l l e n des Gesetzgebers 9 6 und aus der Parallele zu Art. 115 h Abs. 1 S. 3 GG. Der Gedanke der Funktionsfähigkeit des Gerichts legt aber nur auf den ersten Blick eine Amtsfortführung auch i m Falle der Wahlverschleppung nahe. Zwar sind dann mehr Richter vorhanden, so daß die Kammern leichter besetzt werden können. Auch wird die Gefahr der Beschlußunfähigkeit vermieden. Letztlich wird aber gerade durch die Amtsfortführung die für eine funktionierende Verfas91 Wilms /Jäger, Amtszeitüberschreitung, S. 269/270. 92 Doehring, Zwischenentscheidung, S. 3233-3235. 93 Wilms/Jäger, Amtszeitüberschreitung, S. 272-274. 94 Nach Geiger, BVerfGG, § 5 Anm. 2 schien dem Bundestag dieser Fall „so fernliegend, daß er glaubte dagegen keine Vorkehrungen treffen zu müssen". 95 Schefold, Problematik, S. 294; Wilms/Jäger, Amtszeitüberschreitung, S. 270. 96 Geiger, BVerfGG, § 4 Anm. 11. 16*

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sungsgerichtsbarkeit erforderliche Nachwahl der Richter verhindert. Nur wenn der alte Richter tatsächlich ausscheidet, wird die Wahlverschleppung sinnlos und damit w i r d der Weg für Nachwahlen frei. V o n einer funktionsfähigen Verfassungsgerichtsbarkeit kann außerdem nicht die Rede sein, wenn es einer Seite gelingt, für ein konkretes Verfahren die Besetzung des Gerichts in ihrem Sinne zu manipulieren. Daher spricht bereits der Zweck der Vorschrift für eine teleogische Reduktion der Norm. Der Saarländische Verfassungsgerichtshof hat aber zu Recht ausgeführt, daß auch übergeordnete Verfassungsprinzipien gegen die Anwendung der Amtsfortführungsregel sprechen. Zwar besteht eine Gefährdung der richterlichen Unabhängigkeit auf Bundesebene schon deshalb nicht, weil die i m Saarland mögliche Wiederwahl nach § 4 Abs. 2 B V e r f G G ausgeschlossen ist. Aber das Prinzip des gesetzlichen Richters verbietet die auf sachfremder Einflußnahme beruhende Übergangsbesetzung. Außerdem ist die demokratische Legitimation des weiteramtierenden Richters mehr als zweifelhaft, weil sein Verbleiben i m Gericht letztlich nur vom W i l l e n einer Gruppe gedeckt ist, die i m Wahlgremium keine Zweidrittelmehrheit hat. Aus diesen Gründen ist eine teleologische Reduktion der N o r m unvermeidlich. Die damit verbundene Rechtsfortbildung ist auch zulässig. Denn Besetzungsvorschriften sind wie andere Normen auslegungsbedürftig und i m Rahmen der anerkannten Interpretationsregeln auslegungsfähig. 97 Der Saarländische Verfassungsgerichtshof hat damit i m Ergebnis zu Recht entschieden, daß i m Fall der Wahlverschleppung keine Amtsfortführung möglich ist. 9 8 Das B V e r f G hat diese Entscheidung für das saarländische Recht in vollem Umfang bestätigt. 9 9 Für das Bundesrecht gilt i m Falle einer Wahlverschleppung nichts anderes. Sobald der Senat feststellt, daß eine Wahlverschleppung vorliegt, scheidet daher der Übergangsrichter aus dem Gericht aus.

3. Wahlboykott Damit ist auch die Frage nicht mehr schwer zu beantworten, welche Auswirkungen ein Wahlboykott auf die Besetzung des Gerichts hat. Liegt eine Unterbesetzung vor und w i r d die Nachwahl des fehlenden Richters verweigert, so bleibt der Senat grundsätzlich ordnungsgemäß besetzt. In diesem Fall wurde die Unter97 Daher wurde auch die teleologische Reduktion gebilligt; erstmals in BVerfGE 48, 246-263 (zustimmend Schmidt-Bleibtreu / Klein, Art. 101 Rn. 8; ablehnend Hirsch, Sondervotum, BVerfGE 48, 244-271) und erneut im saarländischen Fall: BVerfGE 82, 286 (304). 98 Der Saarländische Landtag hat mittlerweile das Urteil berücksichtigt und die zulässige Dauer der Amtsfortführung generell auf sechs Monate begrenzt (§ 2 Abs. 6 S. 1 SaarlVerfGHG n.F.; Pestalozza, VerfPR, § 31 Rn. 3). 99 BVerfGE 82, 286 (305).

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besetzung zwar von einem Teil des Wahlgremiums absichtlich herbeigeführt. Die Veränderung der Gerichtsbesetzung dient aber nicht der Manipulation. Denn der Boykott hat nur die Lahmlegung des Gerichts zum Ziel, nicht die Einflußnahme auf konkrete Verfahren. Da somit keine Manipulation vorliegt, bleibt der Senat funktionsfähig. 1 0 0 Schwierigkeiten treten erst auf, wenn weitere Richter ausscheiden oder dauernd verhindert sind. Dann kann die für die Beschlußfähigkeit erforderliche Mindestzahl von sechs Richtern unterschritten werden ( § 1 5 Abs. 2 S. 1 BVerfGG). Der Senat w i r d dadurch partiell funktionsunfähig. Er bleibt nur für Fälle von besonderer Dringlichkeit entscheidungsfähig. In diesen Fällen hilft nämlich der erst 1987 eingefügte § 15 Abs. 2 S. 2 BVerfGG: Durch Los werden solange aus dem anderen Senat Richter bestimmt, bis die Beschlußfähigkeit wiederhergestellt ist. Bei einem längeren Wahlboykott kann es nicht ausbleiben, daß die Amtszeit einiger Richter abläuft. Damit stellt sich die Frage, ob die Amtsfortführungsregel des § 4 Abs. 4 BVerfGG Anwendung findet. Der Wortlaut der Norm läßt dies zu. Bei Schaffung der N o r m wurde aber an den Fall des Wahlboykotts ebensowenig gedacht wie an den Fall der Wahlverschleppung. Daher muß auch hier der Zweck der Norm entscheiden. Die Funktionsfähigkeit des Gerichts kann i m Fall des Wahlboykotts nur gesichert werden, wenn die ausscheidenden Richter ihr A m t fortführen. Problematisch ist hier nur die Frage, wie lange die Richter i m A m t bleiben können. Denn ihre demokratische Legitimation reicht grundsätzlich nur für z w ö l f Jahre und eine gewisse Übergangsphase. W i e i m Fall der Wahlverzögerung kann man die Dauer dieses Zeitraums nicht von vornherein klar bestimmen. Bei einem Boykott muß man allerdings berücksichtigen, daß sich zumindest Teile eines Wahlorgans verfassungswidrig verhalten und dadurch eine Verfassungsstörung hervorrufen. 1 0 1 In diesem Fall kann nicht der störende Part aus seiner Mißachtung der Verfassung Vorteile ziehen. Vielmehr legt es die Parallele zum Notstandsrecht und zum Gedanken der wehrhaften Demokratie nahe, daß bei einem Wahlboykott nicht einfach nachgegeben werden darf. Daher kann nur eine i m Vergleich zur Wahl Verzögerung längere Übergangsfrist angemessen sein. Da bei einem Wahlboykott nicht damit zu rechnen ist, daß eine Nachwahl in der laufenden Legislaturperiode erfolgt, wird man regelmäßig die nächsten Bundestagswahlen abwarten müssen. Auch dem neuen Bundestag muß dann eine gewisse Besinnungs- und Einigungsfrist gewährt werden. Daraus folgt, daß i m Fall des Wahlboykotts eine vier- bis fünfjährige Übergangsfrist angemessen ist. Danach vermag allerdings auch der Gedanke der wehrhaften Demokratie ein Verbleiben i m A m t nicht mehr zu rechtfertigen, weil das grundsätzlich befristete demokratische Mandat der Richter abläuft. loo Anders Klein, MSBKU, § 5 Rn. 20; Geiger, BVerfGG, § 5 Anm. 6. ιοί Zum Begriff der Verfassungsstörung: Hesse, Grundzüge, Rn. 721.

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I I I . Wahlerzwingung Abschließend stellt sich die Frage, ob es bei einem Wahlboykott oder einer Wahlverschleppung rechtliche M i t t e l gibt, die verfassungsrechtlich gebotene Wahl zu erzwingen. Da sich in beiden Fällen Teile des Wahlorgans verfassungswidrig verhalten, liegt der Gedanke nahe, daß die anderen Teile nach Art. 93 Nr. 1 G G befugt sind, eine Organklage zu erheben. 1 0 2 Da in den Wahlorganen alle Beteiligten nicht nur die Pflicht haben, sondern auch das Recht, an der Wahl mitzuwirken, bestehen gegen die Zulässigkeit der Klage keine Bedenken. 1 0 3 Das BVerfG ist auch nicht deswegen an einer Entscheidung gehindert, weil es in diesem Fall Richter in eigener Sache w ä r e . 1 0 4 Zwar dient die Nachwahl der Funktionsfähigkeit des Gerichts. Dies ändert aber nichts daran, daß die Richterwahl Sache von Bundesrat und Bundestag ist. Das Gericht hat dabei nur ein unverbindliches Vorschlagsrecht (§ 7 a BVerfGG), ist also an der eigentlichen Wahlentscheidung nicht beteiligt. Fraglich ist aber, ob das Organstreitverfahren stets eine echte Problemlösung bringen kann. Das Organstreitverfahren kann lediglich zu der Feststellung führen, daß die beklagte Seite die Verfassung verletzt hat (§ 67 S. 1 BVerfGG). Dieses Feststellungsurteil mag im Fall der Wahlverschleppung dazu führen, daß die unterlegene Partei im Wahlorgan ihre obstruktive Haltung aufgibt. I m Fall des Wahlboykotts ist diese Reaktion aber wenig wahrscheinlich. Wenn eine Partei das BVerfG „austrocknen" w i l l und sich darum nicht an Richterwahlen beteiligt, dann wird sie sich auch nicht durch ein reines Feststellungsurteil beeindrucken lassen. Das Feststellungsurteil ist zwar insofern der Vollstreckung fähig, als das Gericht nach § 35 B V e r f G G Anordnungen zur Beseitigung des verfassungswidrigen Zustands treffen darf. 1 0 5 Hier besteht der verfassungswidrige Zustand aber in einem Unterlassen. Das BVerfG kann letztlich nicht selbst an die Stelle der Wahlorgane treten und deren in Art. 94 Abs. 1 S. 2 G G garantierte Wahlfreiheit nicht durch bindende Vorschläge beschränken. Da der Wahlakt eine unvertretbare Handlung ist, kann das BVerfG nur — parallel zu § 888 ZPO — Fristen bestimmen und Zwangsgelder festsetzen. Letztlich erzwingen kann es die Wahl nicht. 102 Doehring, Zwischenentscheidung, S. 3233; Wilms/Jäger, Amtszeitüberschreitung, S. 269. 103 Fraglich ist allerdings, ob auch die Regierung klagebefugt ist (Doehring, Zwischenentscheidung, S. 3233). Für das Saarland kann dies offen bleiben. Auf Bundesebene ist jedenfalls eine Verletzung der Organrechte der BReg nicht denkbar. Eine Klage der Regierung ist nach § 63 BVerfGG unzulässig. 104 Nach BVerfGE 3, 377 (381) gehört es bereits zum rechtsstaatlichen Begriff des Richters, daß er nicht selbst beteiligt ist; ebenso Meyer, vMü, Art. 92 Rn. 9; Seifert/ Hömig, vor Art. 92 Rn. 1; Jarass / Pieroth, Art. 92 Rn. 5. los Klein, in: Benda/Klein, VerfPR, Rn. 974; Schiaich, BVerfG, Rn. 78. In diesem Rahmen sind auch einstweilige Anordnungen möglich (Schiaich, BVerfG, Rn. 79).

C. Vollendete Tatsachen

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Auch i m Fall des Wahlboykotts zeigt sich, daß es für bewußte Verfassungsstörungen letztlich keine befriedigenden rechtlichen Lösungen g i b t . 1 0 6

C. „Überspielen" durch Schaffung vollendeter Tatsachen Jedes Gericht kann dadurch ausmanövriert werden, daß eine Partei während des Prozesses in bezug auf die Streitsache zu ihren Gunsten vollendete Tatsachen schafft. I m Zivilprozeß kann der Beklagte das umstrittene Gemälde an Dritte veräußern. I m Strafprozeß kann der Angeklagte während des Verfahrens ins sichere Ausland fliehen. I m Verwaltungsprozeß kann der Bürger das Gebäude abreißen, das die Behörde durch einen denkmalschützenden Verwaltungsakt erhalten wollte. In all diesen Fällen erzielt eine Partei durch eine Handlung, die dem Zweck des Verfahrens zuwiderläuft, einen tatsächlichen Erfolg, während die andere Partei einen Nachteil erleidet. Die oft entscheidende Veränderung tritt dadurch ein, daß eine gerichtliche Entscheidung ganz oder teilweise verhindert wird. Damit w i r d nicht nur der Streitgegner, sondern auch das Gericht faktisch „überspielt". Auch i m Verfassungsprozeß ist ein solches „Überspielen" möglich. I . Historische Streitfälle in W e i m a r und Bonn Der wohl spektakulärste Fall der neuesten deutschen Verfassungsgeschichte ereignete sich in der Weimarer Republik. Der Staatsgerichtshof hatte 1928 über eine Klage des Landes Baden gegen das Deutsche Reich zu entscheiden. Es ging um die Besetzung des Verwaltungsrats der deutschen Reichsbahngesellschaft. 107 Die Reichseisenbahn war nämlich 1920 aus der Vereinigung von mehreren kleinen und fünf großen Staatseisenbahnen entstanden. Dabei hatten die großen „Eisenbahnländer" (Preußen, Sachsen, Bayern, Württemberg und Baden) das Recht erhalten, jeweils einen Sitz i m Verwaltungsrat der neuen Reichsbahn zu bestimmen. Schwierigkeiten ergaben sich ab 1924, als infolge der Kriegslasten die Reichsbahn von den Siegermächten gepfändet und zur Deutschen Reichsbahngesellschaft umgestaltet wurde. I m Verwaltungsrat dieser Nachfolgegesellschaft waren nur noch Sitze für das Reich und die Alliierten vorgesehen, nicht mehr für die alten Eisenbahnländer. In einem Musterprozeß hatte das Land Preußen 1926/27 bereits einen Sitz i m Verwaltungsrat erstritten. I m Jahr 1928 versuchte es das Land Baden, das mit dem Reichskabinett M ü l l e r auf politischer Ebene nicht einig wurde. '06 Hesse, Grundzüge, Rn. 721/722. 107 Detaillierte Darstellung des Konflikts bei Huber, Verfassungsgeschichte VII, S. 648-654. Knappe Schilderung bei Glum, Bemerkungen, S. 458-461 und bei Friesenhahn, Hüter, S. 188.

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. Teil:

h Eingriffe

Die Reichsregierung erhob Widerklage gegen die anderen vier Eisenbahnstaaten und vertrat den Standpunkt, daß bei der anstehenden Neubesetzung von vier Verwaltungsratsposten rechtlich keinem Land ein Sitz zustehe. Einen Tag vor der mündlichen Verhandlung über eine einstweilige V e r f ü g u n g 1 0 8 besetzte die Regierung die vier offenen Stellen mit neuen Verwaltungsratsmitgliedern und schuf damit vollendete Tatsachen. Politisch beruhte die Ernennung zwar auf einem Kompromiß mit den Staaten Bayern und Preußen. Das Land Baden war aber übergangen worden. Der Weimarer Staatsgerichtshof sah sich genötigt, das Verfahren auf unbestimmte Zeit auszusetzen. 109 I m Vertagungsbeschluß stellte er fest, daß die Regierung ihm die Ausübung seiner verfassungsmäßigen Tätigkeit in der Streitsache unmöglich gemacht habe. Gleichzeitig appellierte er an den Reichspräsidenten Hindenburg, „dem Staatsgerichtshof diejenige Achtung seiner Gerichtsbarkeit zu verschaffen, deren er zur Erfüllung seiner verfassungsmäßigen Aufgaben bedarf." 1 1 0 Der Antrag an den Reichspräsidenten als „Hüter der Verfassung" verfehlte sein Ziel. Dem greisen Hindenburg war die Beschwerde des Gerichts über eine politische Entscheidung der Regierung unverständlich. Er stellte sich auf die Seite des von ihm berufenen Reichskanzlers Müller und erklärte, daß die Regierung „verfassungs- und pflichtgemäß" gehandelt habe. 1 1 1 Daraufhin legte der Präsident des Staatsgerichtshofs, Walter Simons, aus Protest seine Ämter nieder. Er trat als Präsident des Staatsgerichtshofs und als Präsident des Reichsgerichts zurück.112 A u c h nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich die Frage des Überspielens der Verfassungsgerichtsbarkeit wiederholt gestellt. I m Fernseh-Streit hat die Regierung Adenauer versucht, durch den raschen Aufbau eines zweiten Fernsehsenders vollendete Tatsachen zu schaffen, ist aber durch eine einstweilige Anordnung des B V e r f G daran gehindert worden. 1 1 3 108

Eine einstweilige Anordnung war im Staatsgerichtshofsgesetz zwar nicht vorgesehen, wurde aber von der Rspr. anerkannt. Der Streit der Lehrmeinungen wird bei Klein, MSBKU, § 32 Rn. 1, Merkel, Einstweilige Anordnung, S. 10-13 und Huber, Verfassungsgeschichte VI, S. 555/556 dargestellt. •09 Es konnte allerdings überraschender Weise bereits 1930 weitergeführt werden und endete mit einem Sieg des Landes Baden (Huber, Verfassungsgeschichte VII, S. 654 Fn. 25). no Abdruck des Beschlusses mit weiteren Materialien in ZAÖRVR 1929,1/2, S. 711 718. in Das Schreiben des Reichspräsidenten wirkte bereits durch seine kurze Fassung kränkend. Es ist abgedruckt in ZAÖRVR 1929, 1/2, S. 717/718. ι· 2 Beide Ämter waren rechtlich verknüpft, da der Staatsgerichtshof personell und örtlich mit dem Reichsgericht verbunden war (vgl. Huber, Verfassungsgeschichte VI, S. 546/547). Walter Simons hat seinen Entschluß eindrucksvoll begründet (Nachdruck in: Häberle, Verfgbkt, S. 137-142). 113 Zum Ganzen oben 1. Teil A IV.

C. Vollendete Tatsachen

249

In den zwei bedeutenderen Fällen ging es um den Abschluß völkerrechtlicher Verträge. Werden völkerrechtliche Verträge von der Staatsführung ratifiziert, so tritt damit eine zwischenstaatliche Bindung ein, die für das B V e r f G irreversibel ist. Die Verfassungsjustiz kann also durch schnelle Vertragsschlüsse überspielt werden. Diese Gefahr zeigte sich erstmals 1954 während des EVG-Verfahrens. 1 1 4 Bundespräsident Heuss hatte zwar zunächst versichert, daß er die Verträge während des Gerichtsverfahrens nicht ratifizieren werde. A l s die Bundestagsmehrheit die Verfassung änderte, fertigte er aber die Vertragsgesetze aus und hinterlegte die Vertragsurkunden, 1 1 5 obwohl die Klage von der Opposition aufrecht erhalten wurde. Damit war die deutsche Vertragsseite gebunden, das Gericht schon nahezu überspielt. 1 1 6 I m Prozeß wirkte sich diese Tatsache allein deswegen nicht aus, weil die EVG-Verträge in Frankreich scheiterten. Das B V e r f G mußte darum kein Urteil fällen. Das zweite M a l stellte sich die Frage der Überspielung 1973 beim Abschluß des Grundlagenvertrages. Der Terminplan der Regierung für den deutsch-deutschen Vertrag war so eng, daß der abschließende Notenaustausch bereits während des Gerichtsverfahrens und damit vor dem Erlaß der Hauptsacheentscheidung stattfand. Daher konnte das Endurteil i m zwischenstaatlichen Bereich keine W i r kung mehr entfalten. Ein „Überspielen" des BVerfG lag trotzdem nicht vor, weil das Gericht in seiner Entscheidung über den Erlaß einer einstweiligen Anordnung in Kenntnis aller wesentlichen Umstände „grünes L i c h t " gegeben hatte. 1 1 7

I I . Das verfassungsrechtliche Überspielungsverbot Die Frage, ob während des Prozesses eine Seite vollendete Tatsachen schaffen darf, war lange umstritten. I n der Weimarer Republik billigte die überwiegende Meinung das Vorgehen der Regierung M ü l l e r . 1 1 8 Dabei wurde vor allem der Vergleich mit anderen Prozeßarten ins Feld geführt. I m Zivilprozeß darf der Beklagte nach § 265 ZPO während des Rechtsstreits über den Streitgegenstand 114 Zum Ganzen oben 1. Teil A II. i ' 5 Am 28.3.54 wurde die Verfassungsänderung verkündet. Sie trat tags darauf in Kraft. Am 29.3.54 wurden die Vertragsgesetze verkündet und traten tags darauf in Kraft (KudW III, S. 490). Beide Akte hatten nur innerstaatliche Bedeutung. Für die zwischenstaatliche Bindung ist es bedeutsam, daß der Deutsch land-Vertrag am 30.3.54 im Bonner Auswärtigen Amt, der EVG-Vertrag am 31.3.54 im Pariser Außenministerium hinterlegt wurde (Europa-Archiv 1954, S. 6544). Damit war die Bundesrepublik völkerrechtlich an ihr „Ja" zu den Verträgen gebunden. ι· 6 Die Frage wurde allerdings wenig erörtert. Adolf Arndt, KudW III, S. 537/538 hielt aufgrund des Estoppel-Prinzips noch eine zwischenstaatlich relevante Entscheidung des BVerfG für möglich (vgl. auch Laufer, Politischer Prozeß, S. 415/416). 117 Ausführlich oben 1. Teil Β I Nr. 2. us Darstellung des Meinungsstreits bei Schüle, Einstweilige Verfügung, S. 49.

250

. Teil:

h Eingriffe

verfügen, 1 1 9 also das streitbefangene B i l d an Dritte veräußern. I m Strafprozeß bleibt es sanktionslos, wenn sich der Angeklagte durch Flucht dem bereits eröffneten Hauptverfahren entzieht. Ebensowenig kennt der Verwaltungsprozeß eine Sanktion, wenn während des Rechtsstreits über eine denkmalschützende Verfügung das betroffene Gebäude abgerissen wird. Es kommt zur Einstellung wegen Erledigung der Hauptsache. Demgegenüber wurde nicht nur v o m Staatsgerichtshof und seinem Präsidenten Simons die Rechtswidrigkeit des Überspielens angenommen. Insbesondere A d o l f Schüle hat den Versuch unternommen, aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen und dem Gebot der Bundestreue eine Friedenspflicht der Parteien herzuleiten. 1 2 0 Danach sind die Parteien zum einen verpflichtet, alles zu unterlassen, was die gerichtliche Entscheidung verhindert oder in ihrer Wirkung beeinträchtigt (Unterlassungspflicht). Z u m anderen müssen die Parteien bei allen Handlungen, die sich auf den Prozeßverlauf erschwerend auswirken können, Zurückhaltung üben (Zurückhaltungspflicht). 1 2 1 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Diskussion um die Stillhalte- oder Friedenspflichten im Verfassungsprozeß fortgeführt. Dabei entwickelten sich drei Meinungen. Die erste Ansicht befürwortete wie Schüle eine generelle Friedenspflicht. 1 2 2 Die zweite Ansicht lehnte solche Friedenspflichten grundsätzlich a b . 1 2 3 Eine Stillhaltepflicht lasse sich weder aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen noch aus dem Prinzip der Bundestreue herleiten. Die dritte Ansicht lehnte zwar eine allgemeine Friedenspflicht ab, befürwortete aber aus dem Prinzip der Bundestreue i m Bund-Länder-Streit eine Stillhaltepflicht. 1 2 4 Eine entscheidende Wende trat erst mit dem Grundvertragsprozeß ein. Das BVerfG betonte in diesem Zusammenhang, daß „die Bundesregierung keineswegs freigestellt ist von der Beachtung des verfassungsrechtlichen Gebots, das sich aus dem Grundverhältnis oberster Verfassungsorgane zueinander ergibt. Mit der Entscheidung des Grundgesetzes für die Verfassungsgerichtsbarkeit und ihre Kompetenz zur verfassungsrechtlichen Prüfung auch eines außenpolitischen Vertrages ist es grundsätzlich unvereinbar, daß die Exekutive ein beim Bundesverfassungsgericht anhängiges Verfahren überspielt und durch eine Maßnahme endgültig das Urteil dieses Gerichts um einen Teil seiner Wirkung bringt, . . . Entsprechendes gilt für die Bindung der Bundesregierung an den vom 119 Das war für Glum, Bemerkungen, S. 461-464 das Hauptargument. Er hielt das Vorgehen der Regierung für rechtmäßig. 120 Schüle, Einstweilige Verfügung, S. 55-58. 121 Schüle, Einstweilige Verfügung, S. 51-53. >22 Arndt, KudW III, S. 149 ff. (159); wohl auch Flume, Beschluß, S. 65-70 (70). ' 2 3 Fuß, Einstweilige Anordnung, S. 202 Fn. 9; Gebhardt, Einstweilige Anordnung, S. 41-43; Tüttenberg, Einstweilige Anordnung, S. 37/38. Die nunmehr überholten Argumente der Gegner werden von Schenke, Verfassungsorgantreue, S. 130-134 kritisch erörtert. >24 Helfferich, Einstweilige Anordnung, S. 103-107.

C. Vollendete Tatsachen

251

Bundesverfassungsgericht entwickelten Verfassungsgrundsatz vom bundesfreundlichen Verhalten gegenüber einem Land." 1 2 5 Damit wurde das Überspielungsverbot auf eine neue Grundlage gestellt. Es wurde erstens auf die Entscheidung des Grundgesetzes für die Verfassungsgerichstbarkeit (Art. 92, 93 GG), zweitens auf das Prinzip der Verfassungsorgantreue und erst an dritter und letzter Stelle auf den Grundsatz des bundesfreundlichen Verhaltens gestützt. Dem hat sich die neuere Literatur — teils mit ausführlicher Begründung, 1 2 6 teils kommentarlos 1 2 7 — angeschlossen. Nach der Entscheidung des BVerfG ist klar, daß es sich bei dem Überspielungsverbot nicht um eine Ausprägung allgemeiner Rechtsgrundsätze handelt. Der Vergleich mit den anderen Prozeßordnungen sprach ohnedies eher gegen einen allgemeinen Grundsatz. 1 2 8 Es handelt sich auch nicht um ein Verbot, das dem mit der Klage begründeten schuldrechtlichen Prozeßrechtsverhältnis entspringt. 1 2 9 Vielmehr entstehen für die Beteiligten Verhaltenspflichten unmittelbar aus der Verfassung. Daher liegt auch keine Eigenart des Verfassungsprozeßrechts vor, sondern ein Gebot des materiellen Verfassungsrechts, das während des verfassungsgerichtlichen Verfahrens aktuell wird. In dogmatischer Hinsicht ist zudem folgende Unterscheidung wesentlich. Es muß getrennt werden zwischen den Pflichten gegenüber dem B V e r f G und den Pflichten gegenüber dem Streitgegner. Denn die Schaffung vollendeter Tatsachen ist ambivalent. Sie schadet dem prozessualen Gegner und sie entzieht dem Verfassungsgericht die Entscheidungsmacht. Es werden zwei Rechtsbereiche berührt. Der „Überspielende" kann daher in doppelter Hinsicht verfassungswidrig handeln. 7. Verhältnis

zum Streitgegner

Eine Friedenspflicht gegenüber dem Prozeßgegner kann entweder auf dem Prinzip der Bundestreue oder auf dem Grundsatz der Verfassungsorgantreue beruhen. Beide Prinzipien fordern, daß die verschiedenen Teile des Staates kooperieren und daß ein Teil bei der Ausübung seiner Befugnisse auf die Interessen des anderen Teils Rücksicht n i m m t . 1 3 0

125 BVerfGE 35, 258 (261/262); ähnlich BVerfGE 36, 1 (15). 126 Schenke, Verfassungsorgantreue, S. 133-135; Friesenhahn, Hüter, S. 188/189. 127 Erichsen, Einstweilige Anordnung, S. 171/172; Rupp, Umgang, S. 378; Klein, MSBKU, Vorb. Rn. 41; Blumenwitz, Judicial-Self-Restraint, S. 467; Klein, VerfPR, S. 616/617; Benda, in: Benda/Klein, VerfPR, Rn. 67. 128 Insofern zutreffend: Fuß, Einstweilige Anordnung, S. 209 Fn. 9; Tüttenberg, Einstweilige Anordnung, S. 38; Helfferich, Einstweilige Anordnung, S. 107. 129 Ausführlich Gebhardt, Einstweilige Anordnung, S. 41/42. 130 Zur Verfassungsorgantreue oben 2. Teil Β III. Zur Bundestreue Isensee, HbStR IV, §98 Rn. 151-160.

252

. Teil:

h Eingriffe

Diese Pflicht zur Rücksichtnahme verlangt während eines schwebenden Gerichtsverfahrens, daß die umstrittene Befugnis schonend ausgeübt wird. Wenn um Zuständigkeiten gestritten wird, muß jede Partei mit der Übernahme der Kompetenz durch den Streitgegner rechnen. Keine Seite darf also Tatsachen schaffen, die nach einer Übernahme der Befugnis durch die andere Seite den Entscheidungsspielraum des Streitgegners mehr als notwendig einengen. Das Verhalten des Reichs im Eisenbahnstreit ließ diese Rücksichtnahme auf die Interessen des Landes Baden vermissen. Nach heutigem Rechtsverständnis verstieß es daher gegen das Prinzip der Bundestreue. Ebenso verletzte der Versuch der Regierung Adenauer, durch möglichst schnellen Aufbau eines zweiten Fernsehsenders vollendete Tatsachen zu schaffen, das Gebot der Bundestreue. 1 3 1 W i c h t i g ist die Erkenntnis, daß es für die Rücksichtnahmepflicht zwischen Bund und Ländern nicht darauf ankommt, ob formal i m Bund-Länder-Streit oder i m Verfahren der abstrakten Normenkontrolle gestritten wird. Ebensowenig ist es für die Friedenspflicht zwischen Verfassungsorganen wesentlich, ob ein Organstreit oder eine Normenkontrolle anhängig ist. Denn es handelt sich um allgemeine verfassungsrechtliche Pflichten, die auch dann eingreifen, wenn der andere Teil — wie bei der abstrakten Normenkontrolle — formal nicht Prozeßgegner ist. Umgekehrt besteht eine Rücksichtnahmepflicht aus dem Prinzip der Bundestreue nur, wenn der Kontrahent eine Verletzung seiner Befugnisse geltend macht. I m Grundlagenstreit war zwar das Land Bayern Prozeßpartei. Inhaltlich ging es aber nicht um Interessen Bayerns, sondern um gesamtdeutsche Fragen. Der Bund konnte durch Schaffung vollendeter Tatsachen keine spezifischen Landesinteressen in Frage stellen. Daher konnte er gegenüber dem Freistaat Bayern seine Pflicht zur Bundestreue nicht verletzen. 1 3 2 Die Friedenspflichten zwischen Bund und Ländern bzw. zwischen zwei Verfassungsorganen sind schließlich auch nicht in der Weise mit dem Prozeß verbunden, daß sie erst mit Eingang der Klageschrift einsetzen und mit Verkündung des Urteils aufhören. Vielmehr gilt das Überspielungsverbot schon dann, wenn zwischen zwei Staatsteilen in einer Rechtsfrage ein ernstlicher Dissens besteht. Werden politische Vermittlungsversuche unternommen oder kündigt eine Seite offen rechtliche Schritte an, so gilt bereits für diese Zeit das Verbot, vollendete Tatsachen zu schaffen. Erst recht darf nach Verkündung des Urteils die unterlie-

131 Allgemein zum Fernseh-Streit oben 1. Teil A IV. In BVerfGE 12, 205 (258) heißt es dazu: „Ein solches Vorgehen ist schlechthin unvereinbar mit dem Gebot zu bundesfreundlichem Verhalten — . . . Es geht hier . . . darum, daß jede Landesregierung als das verfassungsmäßige Organ eines Gliedstaats der Bundesrepublik Deutschland von der Bundesregierung erwarten durfte, daß diese auf die Gegenvorschläge der Länder, die einem neuen Plan galten, nicht mit vollendeten Tatsachen antwortet — und dies innerhalb unangemessen kurzer Frist." 132 Soweit BVerfGE 35, 258 (261/262) eine Verletzung des Prinzips der Bundestreue in Betracht zieht, teile ich daher diese Ansicht nicht.

C. Vollendete Tatsachen

253

gende Seite nicht rasch noch Entscheidungen treffen, die den obsiegenden Teil auf lange Zeit binden. Da die Friedenspflicht kein prozessuales Institut, sondern Ausfluß verfassungsrechtlicher Pflichten der Staatsteile untereinander ist, gilt sie uneingeschränkt nur i m staatlichen „inter-se-Prozeß". I m Bürger-Staat-Verfahren kann sich ein Überspielungsverbot nur aus dem Grundrechtsschutz ergeben. Bei der Verfassungsbeschwerde ist allerdings zu berücksichtigen, daß sie als außerordentlicher Rechtsbehelf den Eintritt der Rechtskraft nicht hemmt. Eine Stillhaltepflicht des Staates kommt daher nur in Betracht, wenn ansonsten die Verwirklichung des Grundrechts endgültig vereitelt w i r d . 1 3 3

2. Verhältnis

zum BVerfG

Die Pflichten der Beteiligten gegenüber dem BVerfG bestehen heute nahezu in der Form wie sie A d o l f Schüle mit Bezug auf den Weimarer Staatsgerichtshof entwickelt hat. Es besteht also eine Unterlassungspflicht. Das Entscheidungsergebnis darf nicht durch tatsächliche Handlungen einer Seite faktisch vorweggenommen werden. Dieses Überspielungsverbot beruht darauf, daß das Grundgesetz in Art. 92, 93 G G dem Verfassungsgericht die Entscheidungsmacht übertragen hat. Die Letztentscheidungsbefugnis des BVerfG w i r d verletzt, wenn sich eine andere staatliche Stelle durch Schaffung vollendeter Tatsachen letztlich an die Stelle des Gerichts setzt. Ein solches „fait accompli" ist mit der in Art. 20 Abs. 2, 92, 93 G G vorgegebenen, funktionellen Gewaltenteilung unvereinbar. Erweist sich das Überspielungsverbot als Konkretisierung des Gewaltenteilungsprinzips, so gilt es nicht nur für die am Rechtsstreit beteiligten Staatsorgane, sondern auch für nicht beteiligte, staatliche Stellen. Daher darf auch der Bundespräsident, solange ein Rechtsstreit über einen völkerrechtlichen Vertrag schwebt, nicht durch Ratifikation des Vertrages das Gericht vor vollendete Tatsachen stellen. 1 3 4 Vielmehr muß er darauf achten, daß die gerichtliche Entscheidung auch i m Außen Verhältnis Wirksamkeit erhalten k a n n . 1 3 5

133 Wird z.B. ein Asylantrag letztinstanzlich abgelehnt, so muß die Abschiebung trotzdem für die Dauer des Verfassungsbesch werde Verfahrens unterbleiben. Ansonsten verlöre die Verfassungsbeschwerde für den Asylbewerber ihren Sinn. Nach BVerfGE 6, 443 (445); 7, 86 (87) ist in diesen Fällen mit einer einstweiligen Anordnung zu rechnen. Ein ähnliches Abschiebungsverbot gilt nach BVerfGE 56, 216 (243/244) für die Dauer des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens. 134 Ebenso Friesenhahn, Hüter, S. 189; Flume, Beschluß, S. 70. 135 Insofern entsprach das Verhalten von BPräs Heuss 1954 nicht der Verfassung. Hingegen hat BPräs Heinemann 1973 rechtmäßig gehandelt. Denn die zwischenstaatliche Wirksamkeit des Grundlagenvertrages hing von einem nachfolgenden Notenaustausch der Regierungen ab. Damit traf die BReg die Unterlassungspflicht.

254

. Teil:

h Eingriffe

Versteht man das Überspielungsverbot als Konsequenz aus dem Letztentscheidungsrecht des BVerfG, so reicht es inhaltlich nur soweit wie das Entscheidungsmonopol des Gerichts. Das bedeutet erstens, daß es eine Unterlassungspflicht gegenüber dem Gericht erst mit Anhängigkeit des Rechtsstreits gibt. Denn das BVerfG erlangt nach dem Antragsprinzip seine Entscheidungsmacht erst, wenn es von irgendeiner Seite angerufen wird. Zweitens gibt es keine Unterlassungspflicht, wenn das Gericht kein Entscheidungsmonopol hat. Daher darf der Gesetzgeber während eines gerichtlichen Verfahrens die i m Streit stehende Rechtsnorm aufheben oder abändern, gleichgültig ob dadurch dem Prozeß der Boden entzogen wird oder nicht. Drittens kann von einer Überspielung keine Rede sein, wenn das B V e r f G die Schaffung irreversibler Tatsachen gebilligt hat. Hat es i m Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes den Abschluß eines völkerrechtlichen Vertrages nicht verhindert, so besteht für die Regierung gegenüber dem B V e r f G keine Unterlassungspflicht mehr. Das BVerfG hat von seiner Letztentscheidungsbefugnis Gebrauch gemacht. 1 3 6 Schließlich kann man aus dem Zusammenhang mit dem Gewaltenteilungsprinzip folgern, daß das Überspielungsverbot nur staatliche Stellen trifft, nicht den Bürger. Diese Regeln gelten auch für die zweite, von Schüle genannte Pflicht: das Gebot der Zurückhaltung. Es besagt, daß jede staatliche Prozeßpartei gegenüber dem B V e r f G verpflichtet ist, alles zu unterlassen, was die Entscheidungsfindung der Richter unnötig erschwert oder den Prozeßverlauf verschleppt. Diese Pflicht zur Rücksichtnahme auf das Gericht beruht auf dem Prinzip der Verfassungsorgantreue bzw. — soweit Bundesländer am Verfahren beteiligt sind — auf dem Prinzip der Bundestreue. Nach heutigem Rechtsverständnis war es daher auch eine Pflichtverletzung gegenüber dem Gericht, daß die Reichsregierung i m Eisenbahnfall einen Tag vor der gerichtlichen Verhandlung über eine einstweilige Anordnung die vier Verwaltungsratssitze besetzt h a t . 1 3 7 Ebenso war es unzulässig, daß die Bundesregierung i m Grundvertragsfall einen Termindruck auf das BVerfG ausgeübt h a t . 1 3 8 Selbstverständlich würde es auch dem Prinzip der Verfassungsorgantreue widersprechen, wenn eine staatliche Partei i m Prozeß bewußt unwahre Tatsachen behauptet oder Beweismittel unterdrückt. Denn das Gebot der VerfassungsorganInsofern wird in BVerfGE 35, 258 (262) zutreffend darauf hingewiesen, daß das Überspielungsverbot „Grenzen" hat. Soweit das Gericht allerdings die Verantwortung für die Verfassungsmäßigkeit des Vorgehens allein der BReg zuweist — BVerfGE 35, 258 (262) und 36, 1 (15) —, kann dem nicht gefolgt werden. Das Gericht trägt auf Grund seiner Entscheidung mit der Regierung gemeinsam die Verantwortung. Das Verhalten des Reichs halten ebenfalls für rechtlich unzulässig: Huber, Verfassungsgeschichte VII, S. 653 sowie Friesenhahn, Hüter, S. 188 und 192. 138 Vgl. oben 1. Teil Β I Nr. 2. In BVerfGE 36, 1 (15) heißt es ausdrücklich, „daß die übrigen Verfassungsorgane die Prüfungszuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts in ihre Überlegungen zum zeitlichen Ablauf des Verfahrens, . . ., einbeziehen und alles unterlassen" müssen, „was dem Bundesverfassungsgericht eine rechtzeitige und wirksame Ausübung seiner Kompetenz erschweren oder unmöglich machen könnte."

C. Vollendete Tatsachen

255

treue verlangt es, daß die Staatsorgane i m Rahmen ihrer Zuständigkeiten kooperieren und sich nicht ohne sachlichen Grund die Arbeit erschweren.

I I I . Folgen von Verbotsmißachtungen Stellt man sich abschließend die Frage, welche rechtlichen Folgen das Schaffen vollendeter Tatsachen haben kann, so wird man vergeblich nach wirksamen Sanktionen suchen. Es muß nämlich in rechtlicher Hinsicht klar unterschieden werden zwischen der Frage der Verfassungsmäßigkeit des Verhaltens des Überspielenden und der Frage der Wirksamkeit der von ihm gesetzten Rechtsakte. Verletzt das Verhalten des Überspielenden die verfassungsrechtlich gebotene Rücksichtnahme, so trägt es stets den Makel der Verfassungswidrigkeit. Soweit i m Verhältnis zum Streitgegner verfassungsmäßige Rechte verletzt werden, kann das B V e r f G dies im Urteil des Organstreit- oder Bund-Länder-Streitverfahrens ausdrücklich feststellen. A u c h wenn die von einer Seite geschaffenen Tatsachen irreversibel sind, ist damit immerhin ein Genugtuungseffekt verbunden. 1 3 9 Werden dagegen ausschließlich Rechte des Gerichts mißachtet, so kann das BVerfG wie der Staatsgerichtshof der Weimarer Zeit daran wenig ändern. Da die Autorität des B V e r f G in der Öffentlichkeit aber heutzutage gefestigt ist, braucht es den U m w e g der Anrufung des Bundespräsidenten nicht zu wählen. Es kann selbst durch einen Beschluß des Plenums an die Öffentlichkeit treten, die Verfassungswidrigkeit des Verhaltens feststellen und dadurch einer Wiederholung des Vorganges entgegenwirken. 1 4 0 Eine andere Frage ist, ob das verfassungswidrige Verhalten des Überspielenden die rechtliche Nichtigkeit der von ihm gesetzten Rechtsakte nach sich zieht. Denn der Überspielende schafft in aller Regel Tatsachen, auf deren Fortbestand am Rechtsstreit nicht beteiligte Dritte vertrauen. I m Eisenbahnsteit stünden zur Lösung dieser Problematik heute verwaltungsrechtliche Regeln bereit. Sieht man die Berufung in den Verwaltungsrat als beamtenrechtliche Ernennung an, so führt die Rechtswidrigkeit (mangels M i t w i r kung der Länder) nicht zur Unwirksamkeit des Verwaltungsakts. Denn ein Fall offenkundiger und schwerer Rechtswidrigkeit liegt nicht vor (§ 44 Abs. 1 V w V f G ) , so daß die Ernennung Bestand hätte.

!39 Soweit Schenke, Verfassungsorgantreue, S. 142 eine „vorsichtige Dosierung des Verdikts der Verfassungswidrigkeit" fordert und im Bereich der Verfassungsorgantreue zwischen Funktions- und Kontrollnorm trennen will, kann dem nicht gefolgt werden. Die klare Feststellung der Verfassungswidrigkeit des kontrollierten Verhaltens ist für die Fortbildung und Entwicklung der Verfassungsorgantreue als „Funktionsnorm" dringend nötig. Beide Aspekte lassen sich bei einem ungeschriebenen Verfassungsgebot noch schwerer trennen als sonst. 140 Zur Zulässigkeit dieses Vorgehens unten 6. Teil A.

256

. Teil:

h Eingriffe

In ähnlicher Weise werden auch bei anderen Rechtsakten die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes die Rechtsfolge der Nichtigkeit ausschließen. Das BVerfG hat bereits entschieden, daß die Verletzung von Verfahrensvorschriften i m Gesetzgebungsverfahren nicht in allen Fällen zur Nichtigkeit führt. Ausnahmsweise könne aus Gründen der Rechtssicherheit das Gesetz in Kraft bleiben, wenn der Verfahrensfehler nicht evident sei. 1 4 1 Zweifelsohne war etwa der Grundlagenvertrag wirksam, auch wenn die Bundesregierung in bezug auf die Termingestaltung ihre Organtreuepflichten verletzt hat. Letztlich entscheidend dürfte aber nicht das Kriterium der Evidenz, sondern eine Abwägung der betroffenen Interessen sein. Je schwerer eine Verfassungsverletzung wiegt, desto weniger bleibt Raum für die rechtliche Anerkennung der geschaffenen Tatsachen. I m Fernseh-Streit hatte der Bund in so gravierender Weise die Verfassung verletzt, daß weder das Interesse der Beschäftigten noch fiskalische Überlegungen den Fortbestand der Deutschland-Fernsehen-GmbH rechtfertigen konnten.

141 BVerfGE 34, 9 (25/26). Es ging um den zeitgleichen Erlaß von Verfassungsänderungen und einfachen Gesetzen. Das BVerfG entschied, daß die kompetenzbegründende Grundgesetzänderung bereits in Kraft getreten sein muß, wenn der BPräs das einfache Durchführungsgesetz ausfertigt. Die Verfassungsrevision muß also mindestens einen Tag vor dem Durchführungsgesetz ausgefertigt und verkündet werden. Da die BPräs vor der Gerichtsentscheidung in mehreren Fällen Verfassungsreform und einfaches Gesetz gleichzeitig ausgefertigt hatten, ließ es das BVerfG mit der Aufforderung bewenden, „in der Vergangenheit verfassungswidrig zustandegekommene Gesetze . . . unverzüglich . . . ,in Ordnung zu bringen'."

Sechster Teil

Abwehr von Eingriffen A m Ende der Arbeit stellt sich die Frage, welche Möglichkeiten das BVerfG zur Abwehr von Eingriffen hat. Bei der Abwehr von Eingriffen bieten sich formelle und informelle Wege an. Beispielsweise handelt das BVerfG informell, wenn es öffentliche Stellungnahmen abgibt. Dagegen handelt es formell, wenn es in einem Gerichtsverfahren über die Rechtmäßigkeit bestimmter Eingriffsakte entscheidet.

A. Offizielle Erklärungen Den wirksamsten und wichtigsten Schutz gegen Eingriffe bildet die öffentliche Meinung. 1 Wenn V o l k und Presse hinter dem BVerfG stehen, dann hat das B V e r f G i m Konfliktsfall mächtige Verbündete. Zwar ist das B V e r f G gut beraten, wenn es nicht sofort an die Öffentlichkeit tritt, sondern zuerst den vertraulichen Kontakt mit den übrigen Staatsorganen sucht. Es kann manche Konflikte bereits i m Vorfeld durch persönliche Gespräche, Schriftwechsel und ausführliche Denkschriften beilegen. 2 Das BVerfG ist aber nicht auf den inoffiziellen Weg beschränkt. Vielmehr kann es, wenn die vertraulichen Bemühungen nicht weiterhelfen, durch offizielle Erklärungen auf den Prozeß der politischen Willensbildung einwirken. Gelingt es den Verfassungsrichtern, durch Rundfunkansprachen, Fernsehinterviews und Presseerklärungen die Unterstützung der Öffentlichkeit zu gewinnen, dann kann der politische Druck auf Regierung und Parlament so groß werden, daß geplante Eingriffe aus politischen Gründen scheitern. Das BVerfG hat von Anfang an für sich das Recht in Anspruch genommen, offizielle Erklärungen abzugeben. 3 Die Befugnis wird in §§ 5 Abs. 2 und 17 GeschO-BVerfG vorausgesetzt. Letztlich beruht diese Befugnis aber auf der Stellung des BVerfG als Verfassungsorgan. W e i l es von anderen Staatsorganen organisatorisch unabhängig ist und selbständig entscheidet, muß es auch das

ι Ebenso Katz, BVerfG, S. 115. Das BVerfG hat diesen Weg regelmäßig genützt, ζ. Β. wurden bei fast allen Änderungen des BVerfGG im Rechtsausschuß einige Verfassungsrichter gehört (vgl. oben 1. Teil Β I Nr. 1). 3 Ebenso Dopatka, Umwelt, S. 107/108; Belege oben 1. Teil A. 2

17 Häußler

258

6. Teil: Abwehr von Eingriffen

Recht haben, die Öffentlichkeit über seine Tätigkeit und seine Entscheidungen zu informieren. 4 Die Befugnis zur Öffentlichkeitsarbeit erstreckt sich nicht allein auf die Publikation von Gerichtsentscheidungen und auf das Feiern von Gerichtsjubiläen. Vielmehr darf das BVerfG zu allen Fragen öffentlich Stellung nehmen, die mit der rechtlichen und politischen Stellung des Gerichts in Zusammenhang stehen. Denn die Öffentlichkeitsarbeit ist ein Teil der Befassungskompetenz des Gerichts und daher nicht an den engen Rahmen der Entscheidungsbefugnisse gebunden. 5 Das BVerfG hat daher das Recht, geplante Eingriffsgesetze öffentlich zu kritisieren und tatsächlichen Eingriffen durch offizielle Erklärungen entgegenzutreten.

B. Gerichtsentscheidungen I m Vergleich zu amtlichen Verlautbarungen haben Gerichtsentscheidungen den Vorteil der Rechtsverbindlichkeit (§ 31 BVerfGG). Diesem Vorteil stehen aber einige Nachteile gegenüber. Z u m einen können Gerichtsentscheidungen in materiell-rechtlicher Hinsicht nur dann Abhilfe bringen, wenn die Eingriffe rechtswidrig sind. Es genügt nicht, daß eine Maßnahme — wie z.B. ein machtbedingter Richterschub — rechtspolitisch äußerst bedenklich ist. 6 Vielmehr muß der Eingriff nach geltendem Recht verboten sein. Z u m anderen kann eine ordentliche Gerichtsentscheidung nur dann ergehen, wenn das B V e r f G in prozeßrechtlicher Hinsicht über den Eingriffsakt entscheiden darf. W e i l nach Art. 93 G G das Antragsprinzip g i l t , 7 muß für die Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Maßnahme in der Regel ein „Anstoß von außen" kommen. 8 Zudem kann das BVerfG nicht entscheiden, wenn es selbst an einem Konflikt derart beteiligt ist, daß es gleichsam Richter in eigener Sache wäre. 9 Die genannten prozessualen Erfordernisse können den Handlungsspielraum des BVerfG im Falle eines Konflikts erheblich einschränken. Daher stellt sich die Frage, ob das BVerfG bei einem besonders schweren Verfassungsverstoß 4 Die Rspr. hat sich bislang nur mit der Öffentlichkeitsarbeit von Bundes- und Landesregierungen beschäftigt. Danach bedarf es für die Öffentlichkeitsarbeit keiner besonderen gesetzlichen Grundlage. Nach BVerfGE 44, 125 (148), 63, 230 (243/244) ist sie im Rahmen der Organkompetenzen zulässig. Auch nach BVerwGE 82, 76 (80/81) bleibt es offen, wie eng dieser Bezug sein muß. 5 Der Begriff der Befassungskompetenz wurde von der Rspr. für offizielle Erklärungen von Gemeinden entwickelt. Er ist auf die Öffentlichkeitsarbeit der Staatsorgane übertragbar (ausführlich oben 5. Teil A II Nr. 1). 6 Zum machtbedingten Richterschub oben 4. Teil D II Nr. 2. 7 Zum Antragsprinzip allgemein: Gusy, BVerfG, S. 36/37; Friesenhahn, Verfgbkt, S. 98/99; kritisch Engelmann, Prozeßgrundsätze, S. 36/37. 8 Klein, in: Benda/Klein, VerfPR, Rn. 137; ähnlich bereits Knöpfle, Schutz, S. 76. 9 Allgemein zu diesem Grundsatz: Leibholz / Rink / Hesselberger, Art. 20 Rn. 35; Meyer, vMü, Art. 92 Rn. 9; Achterberg, BoK, Art. 92 Rn. 274/275.

Β. Gerichtsentscheidungen

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der anderen Gewalten außerordentliche Befugnisse hat. I m folgenden ist daher erstens zu prüfen, wie weit seine ordentlichen Befugnisse reichen, und zweitens, inwieweit außerordentliche Befugnisse anerkannt werden können.

I . Ordentliche Entscheidungsbefugnisse Es muß überraschen, daß das B V e r f G in relativ vielen Fällen über die Rechtmäßigkeit von Eingriffen gerichtlich entscheiden kann. A n einem „Anstoß von außen'4 wird es in der Praxis nur selten fehlen. Bei sachbezogenen Eingriffsgesetzen ist fast immer mit einem Gerichtsverfahren zu rechnen. W i r d eine Verfassungsgerichtsentscheidung per Gesetz kassiert oder eine N o r m wiederholt, dann ist zu erwarten, daß sich die Kläger des Ausgangsverfahrens erneut an das B V e r f G wenden. 1 0 Das BVerfG kann dann i m Folgeprozeß über die Rechtmäßigkeit der Eingriffe entscheiden. W i r d während des Gerichtsverfahrens eine umstrittene Norm „authentisch interpretiert", dann wird die Rechtmäßigkeit der gesetzlichen Klarstellung ohne weiteres zur Streitfrage i m schwebenden Prozeß. 11 Bei sachbezogenen Eingriffen kommt es daher in der Regel zu einer Hauptsacheentscheidung des BVerfG. Bei institutionellen Eingriffsgesetzen ist hingegen das Hauptsacheverfahren die Ausnahme, während eine inzidente Prüfung die Regel ist. Z u einem eigenen Gerichtsverfahren kann es beispielsweise kommen, wenn eine Landesregierung den Antrag nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 G G stellt. Denn die bei institutionellen Eingriffsgesetzen notwendige Änderung der Verfassung oder des B V e r f G G unterliegt, wie jede andere Gesetzesnovelle, der abstrakten Normenkontrolle. 1 2 Häufig w i r d ein solcher Hauptsacheantrag aber überflüssig sein, weil sich eine allgemeine Änderung des Prozeßrechts in einer Vielzahl von Einzelverfahren auswirken kann. Soweit die Besetzung der Senate oder das gerichtliche Verfahren geändert wird, muß die Rechtmäßigkeit der Neuregelung inzident geprüft werden. 1 3 Bereits i m ersten Fall, in dem die Änderung des Verfassungsgerichtsgesetzes entscheidungserheblich ist, hat das Gericht von Amts wegen über die Rechtmäßigkeit der Novelle zu befinden. Hierzu kann, ζ. B. nach einer Besetzungsrüge, ein gesonderter Beschluß ergehen. 1 4

10 Bei Kassationen ist das eigentlich nicht nötig. Da Kassationsgesetze nichtig sind (oben 3. Teil A I I Nr. 1), kann das BVerfG von Amts wegen eine Vollstreckungsanordnung nach § 35 BVerfGG erlassen und klarstellen, daß das Gesetz den Urteilsvollzug nicht hemmen kann. n So war es jedenfalls im EVG-Streit (oben 1. Teil A II). ι 2 Geiger, BVerfGG, Einleitungsformel Anm. 5; ähnlich Gusy, Wahlorgan, Rn. 39. 13 Ulsamer, MSBKU, §63 Rn. 7 mit Fn. 21; Geiger, BVerfGG, Einleitungsformel Anm. 5. 14 Zur Besetzungsrüge oben 5. Teil Β II.

17=

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6. Teil: Abwehr von Eingriffen

Schließlich kann das BVerfG oftmals auch über faktische Eingriffe entscheiden. Lediglich bei der Urteils- und Gerichtsschelte kann sich das BVerfG kaum auf dem Entscheidungswege durchsetzen. 15 Ansonsten kann es faktischen Eingriffen fast immer durch Nebenentscheidungen nach § § 3 2 und 35 BVerfGG begegnen: Bei einer Mißachtung von Gerichtsentscheidungen kann das BVerfG V o l l streckungsanordnungen erlassen. 16 Beim Versuch des „Überspielens" kann es die Schaffung vollendeter Tatsachen durch rechtzeitigen Erlaß einstweiliger A n ordnungen verhindern. 1 7 Allerdings zeigt sich gerade bei faktischen Eingriffen, daß die Effektivität formeller Abwehrmittel begrenzt ist. Das B V e r f G kann ein „Überspielen" nur verhindern, wenn es rechtzeitig erfährt, daß es vor vollendete Tatsachen gestellt werden soll. W i l l es ein „fait accompli" verhindern, ist es ebenso wie bei der Vollstreckung seiner Urteile stets auf die M i t w i r k u n g anderer Staatsorgane angewiesen. Beim Unterlassen der Richterwahl führt diese Abhängigkeit i m Ergebnis dazu, daß das BVerfG letztlich die Nachwahl der Richter nicht gegen den W i l l e n der Wahlorgane erzwingen kann. 1 8 Während diese Hemmnisse i m rechtstatsächlichen Bereich liegen, kann eine Entscheidung des BVerfG mitunter auch aus prozeßrechtlichen Gründen nicht ergehen. Denn jeder Richter kann nur dann eine Entscheidung treffen, wenn er am Streit nicht selbst beteiligt ist. Der rechtsstaatlichen Vorstellung von Richter und Gericht ist es immanent, daß der Rechtsstreit durch einen unbeteiligten Dritten entschieden w i r d . 1 9 Niemand kann als Richter in eigener Sache entscheiden. 2 0 Das in diesen Formeln umschriebene Gebot der Neutralität oder Unparteilichkeit richtet sich zwar in erster Linie an den einzelnen Richter. Für ihn ist es im einfachen Recht durch Ausschließungs- und Befangenheitsregeln (z.B.: §§ 18, 19 BVerfGG) konkretisiert. 2 1 Das Gebot der Neutralität gilt aber in zweiter Linie auch für das Gericht als Institution. Bei einem Konflikt mit der politischen Führung ist es daher dem BVerfG nicht erlaubt, eine Organklage gegen die Bundesregierung oder gegen den Bundestag zu erheben. Das BVerfG ist zwar ebenso wie Bundesregierung und Bundestag ein Verfassungsorgan. Es ist aber im Organstreit nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 G G nicht parteifähig. 2 2 Das liegt weniger daran, daß das BVerfG nicht zu den is Eingehend oben 5. Teil A IV. 16 Zur Mißachtung oben 2. Teil A mit Fn. 13. 17 Zum sog. Überspielen oben 5. Teil C. ι« Vgl. oben 5. Teil Β IV. 19 Zur Verankerung im Rechtsstaatsprinzip: BVerfGE 3, 377 (381). Zum Verständnis als Begriffsmerkmal von Richter und Gericht: BVerfGE 4, 331 (346). 20 St. Rspr.: BVerfGE 3, 377 (381); 14, 54 (69); 27, 312 (322); 60, 175 (203). 21 Meyer, vMü, Art. 93 Rn. 9. 22 Allg. M.: Ulsamer, MSBKU, § 63 Rn. 7; Lechner, BVerfGG, § 13 Ziff. 5 Anm. 3 d, aa; Geiger, BVerfGG, § 63 Anm. 5; Stern, BoK, Art. 93 Rn. 95; Lorenz, Organstreit, S. 243 mit Fn. 119; Goessl, Organstreitigkeiten, S. 120.

Β. Gerichtsentscheidungen

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in § 63 B V e r f G G aufgeführten Bundesorganen gehört. Denn die Aufzählung ist nicht abschließend. 23 A u c h wäre das Hindernis des § 18 Abs. 1 Nr. 1 B V e r f G G überwindbar, wenn nur der Präsident des B V e r f G als Organteil klagen würde. In diesem Fall wären die übrigen Richter „pro forma 4 ' nicht Prozeßpartei. Es bestünde aber „de facto" eine Identität von Partei und Gericht. Diese Doppelrolle ist mit dem Leitbild des über den Parteien stehenden neutralen Gerichts unvereinbar. Dementsprechend hat das BVerfG erklärt, „daß ein zur Streitentscheidung berufenes Gericht nicht zugleich Partei in einem von ihm zu entscheidenden Rechtsstreit sein k a n n . " 2 4 Das Gebot der Neutralität verbietet aber nicht nur die äußere Identität von Partei und Gericht. Es verbietet auch die innere Parteinahme des Richters für eine Seite. Allerdings ist die Neutralität des einzelnen Richters zwar gefährdet, wenn es in einem Rechtsstreit auch um die Interessen seines Gerichts geht. Es ist aber davon auszugehen, daß die Verfassungsrichter sich nicht in solchem Maße mit dem BVerfG identifizieren, daß ihnen bei allen mit dem BVerfG auch nur in Zusammenhang stehenden Rechtsfragen von vornherein eine unvoreingenommene Beurteilung unmöglich ist. W i e § 18 Abs. 2 BVerfGG zeigt, reichen berufliche Interessen allein nicht aus, um eine generelle Vermutung für die Befangenheit der Richter aufzustellen. Bedeutung hat das Verbot, in eigener Sache zu richten, darum in erster Linie bei institutionellen Gesetzen, die nicht nur die berufliche Tätigkeit der Richter, sondern auch ihren persönlichen Richterstatus betreffen. W i r d beispielsweise durch ein Gesetz das Gehalt der Verfassungsrichter gekürzt, dann kann das BVerfG nicht neutral über die Verfassungsmäßigkeit der Novelle entscheiden. Da kein Richter in eigener Sache entscheiden darf, besteht ein Prozeßhindernis. Die Verfassungsbeschwerde eines Richters wäre ebenso wie ein Antrag auf abstrakte Normenkontrolle unzulässig. 2 5 Soweit institutionelle Eingriffsgesetze sich aber nur auf die berufliche Tätigkeit des Verfasungsrichters auswirken, kann die Neutralität der Richter nicht von vornherein und generell in Zweifel gezogen werden. W i r d beispielsweise das Richterwahlrecht reformiert, so werden dadurch die i m A m t befindlichen Richter nicht betroffen. I m Anschluß an die erste Nachwahl können die alten Richter darum v ö l l i g unparteiisch entscheiden, ob der Senat mit den neuen Richtern ordnungsgemäß besetzt ist. Dabei steht das Recht der Streitparteien auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) i m Vordergrund.

23 Näher oben 2. Teil Β I I Nr. 2. 24 BVerfGE 60, 175 (203) für den Fall einer Organklage gegen den Hessischen StGH. 25 Es ist in diesen Fällen unvermeidlich, daß die „Verfassungsrechtspflege zum Stillstand" kommt (Knöpfle, Besetzung, S. 151). Dies muß dadurch ausgeglichen werden, daß der BPräs die Gesetze im vollen Umfang prüft (näher unten 6. Teil Β II).

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6. Teil: Abwehr von Eingriffen

Ebenso ist bei sachbezogenen Eingriffsgesetzen regelmäßig nur das berufliche Interesse der Richter betroffen, so daß ihre Unparteilichkeit nicht von vornherein in Frage steht. Allerdings ist es bei manchen faktischen Eingriffen durchaus denkbar, daß einige oder alle Verfassungsrichter persönlich betroffen sind und darum der politischen Führung nicht mehr v ö l l i g unvoreingenommen gegenüberstehen. Diese Situation tritt ein, wenn die Regierungsparteien während des Prozesses Druck auf das Gericht ausüben oder über das Gericht herabsetzende Bemerkungen machen. 2 6 In diesen Fällen gilt der Grundsatz, daß ein Verfahrensbeteiligter sich nicht auf einen Neutralitätsverlust berufen kann, den er durch eigenes Verhalten herbeigeführt hat. Dieser Grundsatz ist beispielsweise i m Strafprozeß anerkannt. Ein Angeklagter kann nicht zuerst den Richter beleidigen und ihn anschließend wegen Befangenheit ablehnen. 2 7 Nichts anderes gilt i m Verfassungsprozeß. Auch hier kann die Berufung einer Seite auf die Neutralitätspflicht des Gerichts einen Mißbrauch des Ablehnungsrechts darstellen und darum ausgeschlossen sein. 2 8

I I . Außerordentliche Entscheidungsbefugnisse? Fraglich ist, ob das B V e r f G in dem Extremfall, daß ein Eingriff die Funktionsfähigkeit des Gerichts bedroht, von sich aus Gerichtsentscheidungen erlassen kann. M i t anderen Worten: Darf das BVerfG, wenn seine Existenz gefährdet ist, gleichsam aus der Reserve treten und von sich aus außerordentliche Gerichtsentscheidungen treffen? Diese Frage wurde bislang vorwiegend i m Zusammenhang mit der einstweiligen Anordnung diskutiert. Denn zum einen scheint in derart bedrohlichen Fällen rasches Handeln geboten. Z u m anderen ist nach dem Wortlaut des § 32 B V e r f G G kein Antrag erforderlich, so daß im Rahmen der einstweiligen Anordnung ein Handeln des Gerichts aus eigener Initiative möglich erscheint. Die Befürworter der krisenfallbedingten einstweiligen Anordnung von Amts wegen sind der Meinung, daß bei einer Bedrohung des Verfassungsgerichts letztlich der Rechtsstaat insgesamt auf dem Spiel stehe. Das B V e r f G sei in diesem Fall als Hüter der Verfassung dazu berufen, von sich aus zu handeln und wenigstens den Versuch zu unternehmen, die Verfassung zu retten. Wenn die politische Führung versuche, das BVerfG lahmzulegen, dann liege ein Verfassungskonflikt vor, in dem eine einstweilige Anordnung letztlich durch ungeschriebenes Staatsnotrecht gerechtfertigt sei. 2 9

26 Beispielsweise fiel während des Grundlagenvertragsprozesses die Bemerkung, man lasse sich von den „acht Arschlöchern in Karlsruhe" nicht die ganze Ostpolitik kaputt machen (Nachweise oben 1. Teil Β I Nr. 2). 27 Kleinknecht/Meyer, StPO, § 24 Rn. 7. 28 Ebenso Klein, MSBKU, § 19 Rn. 5.

Β. Gerichtsentscheidungen

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Demgegenüber lehnen die Gegner dieser einstweiligen Anordnungen eine Berufung auf ein ungeschriebenes und darum inhaltlich unbestimmtes Staatsnotrecht ab. Sie betonen das Gewaltenteilungsprinzip und führen aus, daß Gerichte grundsätzlich nicht von sich aus tätig werden dürfen. Das Antragsprinzip diene i m Verfassungsprozeß dazu, die Machtfülle des BVerfG zu beschränken. Es sei in Art. 93 und 100 G G für alle Verfahrensarten fixiert und gelte darum grundsätzlich auch für die einstweilige Anordnung. Auch nach der Rechtsprechung des BVerfG könnten einstweilige Anordnungen nur von Amts wegen ergehen, wenn ein Antrag in der Hauptsache gestellt sei oder wenigstens unmittelbar bevorstehe. 3 0 Zudem sei die einstweilige Anordnung als M i t t e l des vorläufigen Rechtsschutzes gedacht und nicht als Instrument zur endgültigen Abwehr eines Eingriffes. I m übrigen gebe es für Verfassungskonflikte nur wenige Regelungen i m Grundgesetz. In Art. 37 und 91 G G habe das BVerfG aber gerade keine subsidiären Kompetenzen erhalten. 3 1 Der Streit um den Erlaß einer einstweiligen Anordnung von Amts wegen geht allerdings am eigentlichen Rechtsproblem vorbei. Denn es ist schwer vorstellbar, daß das Antragserfordernis in einer Konfliktsituation eine entscheidende Rolle spielt. 3 2 Falls die politische Führung das BVerfG durch faktische Maßnahmen lahmlegen w i l l , indem sie z.B. Richter verhaftet oder das Gericht gewaltsam schließt, ist eine rechtliche Konfliktlösung mittels einstweiliger Anordnung ohnedies nicht m ö g l i c h . 3 3 Falls die politische Führung mittels gesetzlicher Maßnahmen vorgehen w i l l , bleibt aber für die Opposition i m Bundestag oder für eine Landesregierung genügend Zeit, eine abstrakte Normenkontrolle zu beantragen. 34 Das eigentliche Problem einer einstweiligen Anordnung oder einer Hauptsacheentscheidung besteht daher nicht i m Antragserfordernis. Die entscheidende 29 Knöpfle, Schutz, S. 77-79; Tüttenberg, Einstweilige Anordnung, S. 54/55; Merkel, Einstweilige Anordnung, S. 56. Rechtspolitisch für ein derartiges Initiativrecht: Spanner, Notstandsrecht, S. 651 und Schmitz, Anträge, S. 9/10. Dagegen kritisch: Maunz, MSBKU, Vorb. Rn. 31 und Benda, Verteidigungsfall, S. 801/802. 30 BVerfGE 3, 267 (277); 42, 103 (119/120); 73 350 (352). Vgl. Schiaich, BVerfG, Rn. 428 und Klein, in: Benda / Klein, VerfPR, Rn. 1117 -1119. 31 Schmitz, Anträge, S. 6-9; Gebhard, Einstweilige Anordnung, S. 87-89; Lemke, Vorläufiger Rechtsschutz, S. 75; wohl auch Spanner, Notstandsrecht, S. 649/650. 32 Ähnlich Gebhard, Einstweilige Anordnung, S. 88; Erichsen, Einstweilige Anordnung, S. 177. 33 Solchen Maßnahmen ist die Rechtswidrigkeit geradezu auf die Stirn geschrieben. Sie sind praktisch nur im Rahmen eines Staatsstreichs denkbar und nach §§ 81 Abs. 1 Nr. 2 (Hochverrat), 105, 106 und 239 StGB strafbar. Zum Schutz des BVerfG dürfte daher jeder Bürger nach Art. 20 Abs. 4 GG Widerstand leisten. 34 Darüber hinaus könnten auch etliche Bürger wegen Entzug des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) Rechtssatzverfassungsbeschwerde erheben. Falls trotz der vielen Antragsmöglichkeiten tatsächlich kein Antrag einginge, wäre die politische Stellung des BVerfG so schwach, daß eine e.A. von Amts wegen ohnehin zum Scheitern verurteilt wäre (ähnlich Erichsen, Einstweilige Anordnung, S. 177/178).

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6. Teil: Abwehr von Eingriffen

Frage ist vielmehr, ob das B V e r f G rechts wirksam über seine eigene Abschaffung entscheiden kann. Zwar gilt das Verbot, in eigener Sache zu richten, in erster Linie für den einzelnen Verfassungsrichter. Aber die Abschaffung des BVerfG betrifft nicht nur die beruflichen Interessen des Richters, sondern auch seinen persönlichen Richterstatus. Denn mit der Institution B V e r f G geht auch das A m t des Verfassungsrichters verloren. Daher ist das Eigeninteresse der Richter am Fortbestand der Institution evident. Falls die Existenz des B V e r f G bedroht ist, ist daher eine ordentliche, d.h. eine neutrale und unparteiische Gerichtsentscheidung nicht möglich. Denkbar ist aber, daß in dieser Ausnahmesituation aufgrund ungeschriebenen Notrechts eine außerordentliche Entscheidung ergehen kann. Denn es wurde zu Recht festgestellt, daß die Abschaffung des Verfassungsgerichts der erste Schritt zur Ausschaltung der Verfassung sein kann. Die Befugnis zu einer außerordentlichen Gerichtsentscheidung kommt aber nur in Betracht, wenn die Bedrohung des B V e r f G offensichtlich rechtswidrig ist. 3 5 Zwar ist die Abschaffung des B V e r f G in den meisten Fällen rechtswidrig, sie kann aber auch in seltenen Fällen rechtmäßig sein. 3 6 Evident verfassungswidrig ist vor allem die Lahmlegung durch faktische Maßnahmen oder durch einfaches Gesetz. Aber auch die ersatzlose Streichung durch verfassungsänderndes Gesetz ist offenkundig rechtswidrig. Denn es ist leicht einzusehen, daß i m Falle einer Streichung die vom Gewaltenteilungssatz bezweckte Machtbalance erheblich gestört ist. Falls hingegen das BVerfG i m Wege der Verfassungsänderung durch eine andere Institution ersetzt wird, liegt kein evidenter Verfassungsverstoß vor. Sind die Abschaffungspläne der politischen Führung offensichtlich rechtswidrig, dann ist die freiheitlich demokratische Ordnung in einem wesentlichen Punkt angegriffen. Da dieser Eingriff nicht durch eine ordentliche Gerichtsentscheidung, sondern allein mit exzeptionellen Mitteln abgewehrt werden kann, liegt eine Notstandssituation vor. Diese Ausnahmesituation hat keine äußeren, sondern innerstaatliche Ursachen, so daß von einem inneren Notstand gesprochen werden kann. Das Recht des inneren Notstandes ist i m Grundgesetz nur lückenhaft geregelt. 3 7 Für den vorliegenden Fall enthalten die Art. 37 und 91 G G keine Lösung. Daher stellt sich die Frage, ob man auf ein allgemeines ungeschriebenes Staatsnotrecht zurückgreifen kann.

35 Nach BVerfGE 5, 85 (376/377) war dies eine generelle Voraussetzung für ein ungeschriebenes Widerstandsrecht. Der Gedanke ist übertragbar auf alle Notmaßnahmen bei einem „Staatsstreich von oben". 36 Vgl. oben 4. Teil A IV Nr. 1. 37 Stern, StR II, S. 1334/1335; Böckenförde, Ausnahmezustand, S. 1881/1885.

Β. Gerichtsentscheidungen

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Die Existenz ungeschriebenen Staatsnotrechts ist seit langem umstritten. 3 8 Z u m Teil wird ungeschriebenes Notstandsrecht strikt abgelehnt. 3 9 Das hat seine Ursache weniger darin, daß dieses Notrecht inhaltlich vage und unscharf bleiben muß. Vielmehr hat das Ausnahmerecht eine systemsprengende Kraft. Die Anerkennung des „übergesetzlichen Notstandes" bringt eine ganz erhebliche Mißbrauchsgefahr mit sich. Die Berufung auf eine angeblich oder tatsächlich bestehende Notlage kann dazu benutzt werden, in der Verfassung angelegte Machtbeschränkungen ohne Grund zu umgehen. Darum hat der Staatsnotstand in der Geschichte immer wieder als Rechtfertigung für Rechtsbrüche und Staatsstreiche fungiert. 4 0 Gleichwohl kann man die Augen nicht vor der Tatsache verschließen, daß Ausnahmesituationen auftreten können, in denen das für den Normalfall konzipierte Recht keine praktikable Problemlösung ermöglicht. In Krisensituationen stehen die Staatsorgane aber unter dem Zwang zum politischen Handeln. W i r d diese Zwangslage von der Rechtsordnung ignoriert, so kann das Recht i m Krisenfall seine verhaltenssteuernde Kraft gänzlich verlieren. Die Anerkennung eines ungeschriebenen Notrechts ist somit notwendig, 4 1 damit i m Krisenfall ein den Regelungszielen der Verfassung möglichst naher Zustand erreicht w i r d . 4 2 Erkennt man ungeschriebenes Staatsnotrecht an, so ist unbestritten, daß die Rückkehr zu verfassungsgemäßen Zuständen die oberste Leitlinie des Notrechts sein m u ß . 4 3 Das Notrecht kann nur vorübergehende Maßnahmen, keine endgültigen gesetzlichen Regelungen rechtfertigen. Die Durchbrechung der für den Normalzustand geltenden Gesetze ist nur insoweit zulässig, als sie der Bewältigung der Notlage dient. Dabei gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Ein für den Normalfall geltender Rechtssatz darf nur außer acht gelassen werden, wenn diese Maßnahme zum Schutz besonders hochwertiger Verfassungsgüter geeignet und erforderlich ist. Nur wenn das geschützte Verfassungsgut gegenüber dem verletzten Rechtsprinzip einen wesentlich höheren Stellenwert hat, ist die Notstandsmaßnahme nach dem Rechtsgedanken des § 34 StGB gerechtfertigt. 4 4 38 Nachweis bei Evers, BoK, Art. 91 Rn. 15, 79 Abs. 3 Rn. 125. 39 Hase, AltK, Art. 91 Rn. 38/39. 40 Zum Mißbrauch in der Weimarer Republik: Evers, BoK, Art. 91 Rn. 5; Hase, AltK, Art. 91 Rn. 5-9. Zum Mißbrauch im Nationalsozialismus: Evers, BoK, Art. 91 Rn. 6; Hase, AltK, Art. 91 Rn. 9. Auf teilweise äußerst bedenkliche Fälle in den 70er Jahren weist Böckenförde, Ausnahmezustand, S. 1882 hin (Fall Traube etc.). 41 Ebenso für den Rückgriff auf ungeschriebenes Notrecht im Fall des inneren Notstandes: Stern, StR II, S. 1335/1336; Böckenförde, Ausnahmezustand, S. 1881/1885; Hesse, Grundzüge, Rn. 723; Evers, BoK, Art. 79 Abs. 3 Rn. 125. 42 Das Prinzip des verfassungsnäheren Zustands wurde im Saar-Urteil, BVerfGE 4, 157 (168-170), entwickelt. Es gilt für völkerrechtliche Verträge, ist aber wohl auf das Notstandsrecht übertragbar (vgl. Benda, Verteidigungsfall, S. 804-806). 43 Böckenförde, Ausnahmezustand, S. 1890; Stern, StR II, S. 1338; Hesse, Grundzüge, Rn. 724; Evers, BoK, Art. 79 Abs. 3 Rn. 125. 44 Die genannten Kriterien gehen auf Stern, StR II, S. 1337/1338 und Böckenförde, Ausnahmezustand, S. 1890 zurück. Ergänzend kann auch BVerfGE 5, 85 (376/377) herangezogen werden.

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6. Teil: Abwehr von Eingriffen

Überprüft man an diesen Kriterien die Rechtmäßigkeit außerordentlicher Gerichtsentscheidungen, so wird man i m ungeschriebenen Staatsnotrecht eine ausreichende Rechtsgrundlage finden. Es ist zwar richtig, daß i m Fall des inneren Notstandes kein allgemeines Interventionsrecht des BVerfG besteht. M a n muß allerdings davon ausgehen, daß jedes Verfassungsorgan in einer inneren Krise die Aufgabe hat, seine eigene Funktionsfähigkeit zu verteidigen. W i r d das B V e r f G als Institution in offensichtlich rechtswidriger Weise bedroht, muß es daher nach Wegen suchen, den verfassungsgemäßen Zustand aufrecht zu erhalten. Es kann nicht prozessual korrekt vorgehen und die Befangenheit sämtlicher Verfassungsrichter feststellen. Denn damit würde es sich i m Ergebnis seiner verfassungswidrigen Ausschaltung fügen und gleichzeitig den Weg zu einer weiteren Demontage der Verfassung ebnen. Vielmehr braucht das BVerfG i m Falle einer offensichtlich rechtswidrigen Bedrohung nichts unversucht zu lassen, um seine verfassungsrechtlich vorgesehene Fortexistenz zu sichern. Stellt man das Interesse am rechtmäßigen Fortbestand eines Staatsorgans und am Schutz der ganzen Verfassung dem Interesse gegenüber, das an einer neutralen Entscheidung i m Einzelfall besteht, dann überwiegt der Gedanke des Staatsschutzes eindeutig. Der Gedanke des Staatsschutzes würde selbst in dem unwahrscheinlichen Fall überwiegen, daß ein Prozeßantrag weder gestellt wird noch bevorsteht. Denn das Grundgesetz hat sich für eine wehrhafte Demokratie entschieden, die ihrer Beseitigung auf scheinbar legalem Wege nicht tatenlos zusieht. I m Ergebnis ist daher festzustellen, daß das BVerfG bei einer offensichtlich rechtswidrigen Bedrohung seiner Funktionsfähigkeit aufgrund ungeschriebenen Notstandrechts außerordentliche Gerichtsentscheidungen erlassen kann. Es darf trotz mangelnder Neutralität und gegebenenfalls trotz fehlenden Antrags eine einstweilige Anordnung von Amts wegen erlassen. 45 Anders ist die Situation allerdings, wenn die Abschaffung des Gerichts nicht offensichtlich rechtswidrig ist. Soll das BVerfG i m Wege der Verfassungsrevision durch eine andere Institution ersetzt werden, so liegt letztlich keine Gefahr für die Verfassung insgesamt vor. Es geht ausschließlich um den Fortbestand des B V e r f G als Institution. Ein innerer Notstand ist nicht anzunehmen, weil der verfassungsändernde Gesetzgeber (prima facie betrachtet) von einer Befugnis Gebrauch macht, die ihm grundsätzlich zusteht. Es besteht zwar auch bei der Ersetzung die Gefahr, daß das verfassungsändernde Gesetz tatsächlich rechtswid-

45 Die Einordnung als Notstandsmaßnahme besagt im Umkehrschluß, daß eine einstweilige Anordnung von Amts wegen (ohne Hauptsacheverfahren) durch das Normalfallrecht des § 32 BVerfGG nicht gedeckt ist. Das ist zu Recht ganz herrschende Meinung: Klein, MSBKU, § 32 Rn. 26/27; Leibholz / Rupprecht, BVerfGG, § 32 Rn. 4; Schiaich, BVerfG, Rn. 428; Pestalozzi VerfPR, § 18 Rn. 4; Klein, in: Benda/Klein, VerfPR, Rn. 1117; a.A. Geiger, BVerfGG, § 32 Anm. 5.

Β. Gerichtsentscheidungen

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rig ist. Diese Gefahr ist aber stets bei Legislativakten gegeben und begründet darum keine Ausnahmesituation. Mangels Notstandslage darf das B V e r f G sich in diesem Fall eines im Grunde funktionierenden Verfassungsstaates nicht über die prozeßrechtlichen Vorschriften hinwegsetzen. Wegen der Befangenheit aller Richter kann daher aus prozessualen Gründen keine Entscheidung ergehen. Denn letztlich ist die Gefahr der Rechtswidrigkeit der Verfassungsrevision nicht größer als die Gefahr einer mangels Neutralität fehlerhaften Gerichtsentscheidung. Das B V e r f G muß sich bei einer Surrogation auf die Rechtmäßigkeitsprüfung des Bundespräsidenten verlassen. Der Bundespräsident darf sich in diesem Fall nicht damit begnügen, wie sonst zu prüfen, ob das Gesetz in materieller Hinsicht offenkundig verfassungswidrig i s t . 4 6 Vielmehr hat der Bundespräsident ein Gesetz in vollem Umfang auf seine Verfassungsmäßigkeit zu untersuchen, wenn damit zu rechnen ist, daß das B V e r f G das Gesetz aus prozessualen Gründen nicht überprüfen darf. 4 7

46 Das ist in der Staatspraxis die Regel (Schiaich, HbStR II, § 49 Rz. 50; ausführlich oben 4. Teil A IV Nr. 3). 47 In ähnlicher Weise plädiert Schiaich, HbStR II, § 49 Rz. 51 für eine unterschiedlich intensive Prüfungspflicht des BPräs. Eine intensive Prüfung ist auch bei den Gesetzen notwendig, die den Richterstatus der Verfassungsrichter betreffen. Denn auch in diesen Fällen ist eine nachfolgende Prüfung durch das BVerfG unzulässig (oben 6. Teil Β I).

Schlußbemerkung Z u m Abschluß w i r d noch kurz die Frage aufgeworfen, wie stark oder schwach die Position des BVerfG bei einem Konflikt mit der politischen Führung ist. In der Literatur findet man dazu zwei auf den ersten Blick v ö l l i g unvereinbare Stellungnahmen. A u f der einen Seite wird die „institutionelle Verwundbarkeit" des B V e r f G betont 1 und die „These von der Ohnmacht des Verfassungsgerichts" aufgestellt. 2 Aus dieser Sicht erscheinen Parlament und Regierung als die letztlich stärkeren Mächte. A u f der anderen Seite w i r d vorgebracht, daß das Parlament bei einem Konflikt mit der Verfassungsjustiz geradezu der „geborene Verlierer" sei. 3 Sieht man nur die juristische Seite des Problems, dann muß das BVerfG verwundbar und ohnmächtig erscheinen. Denn v o m rein rechtlichen B l i c k w i n k e l aus betrachtet, hat das Parlament eine Fülle durchaus legaler Eingriffsmöglichkeiten. Besonders die Handlungsmöglichkeiten des verfassungsändernden Gesetzgebers sind nur wenig begrenzt. Er kann das BVerfG gegen eine ihm genehmere Institution austauschen, 4 und er kann für die verfassungsgerichtliche Praxis besonders wichtige Verfahrensarten — wie die Verfasssungsbeschwerde — ersatzlos streichen. 5 Aber auch der einfache Gesetzgeber hat ein nicht zu unterschätzendes Drohpotential. Er kann auf das Gericht durch Richterschübe 6 und durch eine Herabsetzung der Wahlmehrheiten Einfluß gewinnen. 7 Zugleich kann er die Entscheidungsmöglichkeiten des BVerfG dadurch beschränken, daß er die A b stimmungsquoren in den Senaten erhöht. 8 Während das B V e r f G diese rechtmäßigen Eingriffe hinnehmen muß, hat es wenigstens bei rechtswidrigen Eingriffen Abwehrmöglichkeiten. Es hat bei den meisten rechtswidrigen Maßnahmen Gelegenheit, die Eingriffe durch Gerichtsentscheidung aufzuheben. 9 Allerdings kommt es gerade bei der Abwehr rechtswidriger Maßnahmen darauf an, ob und inwieweit das B V e r f G seine Entscheidungen politisch durchsetzen kann. Betrachtet man die politischen Stärkeverhältnisse, dann zeigt sich für die 1 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 353/354; ähnlich Alberts, Änderungsbefugnisse, S.136/137. 2 Benda, Schlußwort, S. 93/94. 3 Gusy, Wahlorgan, Rn. 50. 4 Dazu oben 4. Teil A IV. 5 Dazu oben 4. Teil Β II. 6 Zum machtbedingten Richterschub oben 4. Teil D I I Nr. 2. ι Zur Wahl mit einfachen Mehrheiten vgl. 4. Teil C I Nr. 2. 8 Dazu oben 4. Teil F I. 9 Vgl. oben 6. Teil B.

Schlußbemerkung

269

Verfassungsgerichtsbarkeit ein generelles Problem: Während es i m Straf-, Z i v i l und Verwaltungsgericht ein starkes Machtgefälle zwischen dem Gericht und den Prozeßparteien gibt, bei dem die Richter letztendlich ihre Entscheidungen mit Staatsgewalt durchsetzen können, herrscht im Verfassungsprozeß oftmals eine ganz andere Ausgangslage. Die Prozeßparteien sind Staatsteile mit eigener Hausgewalt, während das B V e r f G zur Vollstreckung seiner Urteile stets auf die M i t w i r kung anderer Staatsorgane angewiesen ist. 1 0 Angesichts dieser rechtlichen und organisatorischen Ausgangslage muß es überraschen, daß die Position des Verfassungsgerichts in den meisten Konfliktsfällen keineswegs so schwach ist, wie es zunächst den Anschein hat. Bereits in den 50er Jahren ist es dem BVerfG letztlich gelungen, seine Interessen gegenüber der politischen Führung durchzusetzen. I m Status-Streit mußte die Bundesregierung einlenken, weil sie sich der Gefolgschaft in den eigenen Reihen nicht mehr sicher sein konnte. 1 1 Justizminister Dehler hat seine Attacken gegenüber dem BVerfG am Ende mit dem Verlust seines Amtes bezahlt, 1 2 und auch Adenauers Vorstoß zur Richterwahlreform war alles andere als ein voller Erfolg. 1 3 Geht man davon aus, daß heute die Position des BVerfG noch mehr gefestigt ist als in seinen Anfangsjahren, dann kann man durchaus von einer hohen politischen Durchsetzungsfähigkeit des Gerichts sprechen. Es besteht also das merkwürdige Phänomen, daß die Verfassungsjustiz trotz einer eher schwachen rechtlichen und organisatorischen Position über eine relativ starke politische Stellung verfügt. M a n hat das hohe Durchsetzungsvermögen des BVerfG damit zu erklären versucht, daß alle politischen Kräfte ein handfestes Interesse am Erhalt der Verfassungsgerichtsbarkeit hätten. 1 4 Für die politisch Schwachen sei der Gang nach Karlsruhe ein M i t t e l zur Erreichung ihrer Ziele. Die Länder könnten das BVerfG zur Wahrung ihrer Rechte gegenüber dem Bund anrufen, und die Opposition i m Bundestag könnte mittels Organklage oder abstrakter Normenkontrolle die Gesetze der Bonner Regierungsmehrheit zu Fall bringen. Für die politisch Starken könnte der Prozeß ein Mittel zur Darstellung und Rechtfertigung ihrer Politik sein. Ein Sieg in Karlsruhe könnte die Akzeptanz ihrer Gesetze in der Bevölkerung erhöhen. Zudem müßten auch die Mehrheitsparteien damit rechnen, daß sie bei kommenden Wahlen Stimmen verlieren und in die Oppositionsrolle geraten könnten. Daher hätten auch sie ein vernünftiges Interesse am Erhalt einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit. Vollkommen zu überzeugen, vermag dieser Gedankengang allerdings nicht. Es leuchtet zwar ein, daß die Opposition gleichsam der „natürliche Verbündete" des BVerfG ist. Denn das BVerfG hebt in der Regel die Gesetze der Regierungs-

il ι2 13 14

Ebenso Dopatka, Umwelt, S. 75. Näher oben 1. Teil A I. Zum Sturz Dehlers oben 1. Teil A II. Zum Wahlrechtskompromiß oben 1. Teil A III. Dopatka, Umwelt, S. 85/86; Gusy, Wahlorgan, Rn. 38-40.

270

Schlußbemerkung

mehrheit auf und handelt damit politisch oftmals i m Sinne der Opposition. Die Opposition muß daher am Erhalt einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit interessiert sein. Weniger plausibel ist aber die These, daß auch die Regierungsparteien an einer starken Verfassungsjustiz interessiert sind. Denn die Chance, daß ein Gesetz aufgrund eines verfassungsgerichtlichen Verfahrens an Akzeptanz gewinnt, fällt nicht ins Gewicht, wenn diese Chance mit dem Risiko verbunden ist, daß das Gesetz vor Gericht scheitert. A u c h wird sich die politische Führung nur schwer von der langfristigen Nützlichkeit der Verfassungsjustiz überzeugen lassen, wenn sie kurzfristig ihre Politik durch das Verfassungsgericht gefährdet sieht. Daher ist ein gewisser Interessengegensatz zwischen dem B V e r f G als Kontrolleur und der von ihm kontrollierten Regierungsmehrheit nicht zu leugnen. Der Grund für die starke politische Stellung des B V e r f G liegt daher weniger darin, daß alle politischen Akteure letztendlich ein vernünftiges Interesse am Erhalt der Verfassungsjustiz haben. Vielmehr basiert seine starke Stellung in erster Linie auf der „Präsenz von Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit i m allgemeinen politischen Bewußtsein". 1 5 Das politische Durchsetzungsvermögen des BVerfG beruht auf der Akzeptanz der Verfassung und der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Öffentlichkeit und in den die Regierung tragenden politischen Schichten. Besonders deutlich zeigt sich dieser Zusammenhang, wenn man die in anderen Staaten aufgetretenen Konflikte zwischen Verfassungsjustiz und Politik berücksichtigt. Z u m einen gab es Konflikte, in denen die Regierungsparteien und die Mehrheit der Bevölkerung die bestehende Verfassung inhaltlich ablehnten. In dieser Situation war die politische Stellung der zum Hüter der Verfassung berufenen Gerichte äußerst schwach. Es nützte wenig, wenn sich die Oppositionsparteien auf die Seite der Verfassungsgerichte stellten. Denn letztlich hat die Minderheit wenig Mittel, den W i l l e n der Mehrheit aufzuhalten. So hat sich 1933 in Österreich gezeigt, daß in diesem Fall die Verfassungsgerichte gemeinsam mit der bestehenden Verfassung beseitigt werden. 1 6 Die Verfassungsjustiz kann letztlich einen vom W i l l e n der Bevölkerungsmehrheit getragenen Staatsstreich nicht aufhalten. 1 7 Z u m anderen gab es Konflikte, in denen die politische Führung zwar die Verfassung insgesamt akzeptierte, nicht aber einzelne Verfassungsbestimmungen oder bestimmte Auslegungen des obersten Gerichts. Denn die Verfassungsbestimmung oder die Rechtsprechung blockierte wesentliche politische Ziele der Regierungspartei, für die sie i m Wahlkampf eingetreten war und für die sie damit die Zustimmung des Volkes eingeholt hatte. Diese Situation war 1935 in den Vereinigten Staaten von Amerika und 1955 in Südafrika gegeben. In den U S A blokLaufer, zitiert nach Dopatka, Umwelt, S. 85. 16 Zum österreichischen Fall oben 4. Teil A. Ähnlich dürfte das Vorgehen von Erzbischof Makarios in Zypern zu werten sein, das zur Beseitigung des zypriotischen Supreme Court führte (oben 4. Teil A). 17 Ebenso Scheuner, in: Häberle, Verfgbkt, S. 198.

Schlußbemerkung

271

kierte der Supreme Court die Wirtschaftspolitik, in Südafrika stellte sich das oberste Gericht gegen die Rassenpolitik. In beiden Fällen war die politische Stellung der obersten Gerichte schwach. Die Regierung plante durch Richterschübe ihre politischen Programme durchzusetzen, so daß beide Gerichte am Ende in der Sache nachgeben mußten. Anders als in Südafrika verhinderte die Öffentlichkeit in den U S A aber die Umbesetzung des Supreme Court. 1 8 Diese Fälle zeigen eindrucksvoll, daß es bei einem Konflikt entscheidend ist, in welchem Maße die Bevölkerung und die in den Regierungsparteien aktiven Politiker von der Verfassung und von der Notwendigkeit und Richtigkeit verfassungsgerichtlicher Entscheidungen überzeugt sind. In dieser Hinsicht bestehen in Deutschland günstige Voraussetzungen. Die Bevölkerung identifiziert sich in großem Maße mit ihrer Verfassung und das BVerfG gehört zu den Institutionen, die bei den Bundesbürgern das höchste Ansehen genießen. 19 Die großen Parteien stehen auf dem Boden des Grundgesetzes und ihre Politiker sind grundsätzlich bereit, die Entscheidungen des B V e r f G zu akzeptieren. Daher kann man davon ausgehen, daß das BVerfG bei einem Konflikt mit der politischen Führung eine starke politische Ausgangsstellung hätte. I m Ergebnis kann man somit feststellen, daß die Stellung des B V e r f G bei einem Konflikt zwar theoretisch in rechtlicher Hinsicht schwach, aber praktisch in politischer Hinsicht stark ist. Einen „geborenen Verlierer" oder einen „geborenen Gewinner" gibt es freilich nicht. Vielmehr ist in jedem Streitfall die Haltung der Bevölkerung gegenüber der Verfassung und der Verfassungsgerichtsbarkeit entscheidend. In politischer Hinsicht gibt es somit nur einen „ H ü t e r " der Verfassung und der Verfassungsgerichtsbarkeit: das V o l k .

18 Zum amerikanischen Fall oben 4. Teil D I und zum südafrikanischen Fall oben 3. Teil A I. 19 Nachweis bei Dopatka, Umwelt, S. 101-103.

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