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German Pages 133 [136] Year 1894
Der
katholische und der protestantische
Lirchenbegriss in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
Bon
Wilhelm Hönig, Stahtpfarrcr in Heidelberg.
Berlin. Druck und Verlag von Georg Reimer. 1894.
Vorrede.
In den kirchlichen Kämpfen
der Gegenwart muß es
zweifellos von großem Nutzen sein, von dem Einzelnen auch
wieder auf das Ganze, von der Gegenwart auf die Vergan
genheit zu blicken.
Wie im Kampfe wider Nom eine klarere
Einsicht in das Wesen der römischen Kirche vor den beiden Einseitigkeiten bewahren wird, die schon oft Anlaß für Nie
derlagen
gewesen
sind,
der Geringschätzung
einerseits der
Furcht anderseits, so wird ein Blick in die Entwicklung der
protestantischen Kirche über
den Streit der Gegenwart er
heben und in objectiver Weise die Ziele vorzeichnen, welche
sich einer naturgemäßen Entwicklung von selbst geben.
Von
diesem Gesichtspunkt aus sind die nachfolgenden beiden Ge-
Vorrede.
schichtsbilder geschrieben. Das erste ist einem Vortrag in
badischen Predigerverein entwachsen.
Das zweite ist etre
Zusammenfassung von Aufsätzen, die in der Protestantisch« Kirchenzeitung im Lauf des Jahres 1893 erschienen sind Die Herausgabe in dieser neuen Form entspricht einem viel
fach und dringend ausgesprochenen Wunsche.
Honig.
Per katholische Kirchenbegriff in seiner geschichtlichen Entwicklung. Das Thema, von welchem wir im Nachfolgenden handeln, ist bekanntlich kein aus der Luft gegriffenes, sondern entspringt sehr merkwürdigen Verhält-
niffen, unter denen wir leben.
Die Gemüter aller, welchen die Güter der
Reformation am Herzen liegen, oder auch derer, welche unsrer deutsch-natio nalen Entwicklung mit ihrem Herzen folgen, muffen tief erregt sein, seitdem
sie einen Aufschwung der römischen Kirche erleben muffen, wie seit der Zeit Bonifacius' VIII. keiner mehr stattgefunden hat.
Wir sehen diese Kirche
nicht nur große politische Erfolge erringen, wir sehen fie auf allen Punkten
deS allgemeinen Lebens uns angreifend entgegentaten, erfüllt von den kühn
sten Erwartungen und begleitet von reichem Erfolge.
Wir sehen sie mit
unzähligen Organisationen, Vereinen, Orden das ganze Menschenleben um spinnen ; es giebt kein scheinbar noch so entlegenes Gebiet, wo wir nicht ihrer
organisierenden Thätigkeit begegnen. Jede Rücksicht auf die evangelische Kirche hat sie fallen lassen und jedes Band hat sie zerrissen, Beweis genug, daß sie entschlossen ist, mit der abtrünnigen Tochter abzurechnen, daß sie die Zeit hiefür als günstig erachtet.
Diese Zustände erfordern eine Gegenstellung
unsrer Kirche, sie erfordern aber auch ein Verständnis der Sachlage, ein Verständnis namentlich der Macht selbst, welche für unS in Deutschland in wachsendem Maße eine drohende Gefahr wird.
Wir haben nicht nur die
Aufgabe, wie es im Evangelischen Bunde geschah, eine Gegenstellung zu or ganisieren, wir haben auch die Aufgabe, vom wissenschaftlichen Standpunkt
aus das Material beizubringen, welches zur Erkenntnis der vorhandenen Sage notwendig ist und weiterhin ein Korrettiv bilden kann für die Wahl der zum erfolgreichen Kampfe erforderlichen Mittel.
In erster Linie scheint es von Bedeutung zu sein, daß wir das Wesen
der römisch-katholischen Kirche selbst wiederholt ins Auge fassen.
Es ist
durchaus kein bloß theoretisches Bedürfnis, welches zu dieser Frage führt,
Der katholische Kirchenbegriff.
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eS hat auch sehr große praktische Wichtigkeit, denn es ist doch zweifellos, daß
eine große Zahl von Erfolgen die katholische Kirche dem Mangel an Ver ständnis zu danken hat, daS man ihr innerhalb protestantischer Kreise ent
gegenbringt, daß man sie bald unterschätzt hat, bald überschätzt,
daß ihre
wahre Natur wie ein Rätsel erscheint, welches geeignet ist, die Stellung der
Gegner unsicher zu machen.
Zwei Erscheinungen legen ganz besonders die
Frage nahe, woher sie kommen, wie sie möglich find: einmal die politische
Macht, welche die römische Kirche entfaltet,
dann aber auch die ungeheure
Autorität, welche sie noch bei den Mafien hat.
Beides führt uns zum Wesen
der Kirche zurück.
Wir werden für beide Erscheinungen den Grund in jenem
großartigen, geschloffenen System finden, welches das Wesen dieser Kirche
bildet.
Wir werden die Macht über die Mafien teils in jener Katholizität
suchen muffen, welche um den Preis des Idealismus, der Innerlichkeit und der Reinheit die Religion für den bequemen Gebrauch popularisiert hat, teils
in jener durch die Verfügung über das ewige Heil geschärften Ausschließ
lichkeit, welche die einen fanatisiert, die andern furchtsam macht.
Wir werden
die politische Stärke der römischen Kirche nur in der Jesuitisierung der Kirche suchen dürfen, die dem Ziele der Weltmacht alles opfert und den religiösen
Fanatismus völlig zu politischen Zwecken ausbeutet.
Wir werden durch eine
richtige Erkenntnis des Wesens der römischen Kirche ihre Bedeutung,
ihre
Macht und die Gefahr taxieren lernen, die sie uns bereitet, aber sie auch als ein System menschlicher Irrtümer und Leidenschaften durchschauen und darin
zum Bewußtsein unsres protestantischen Rechtes und der Größe und Herr lichkeit der von der Reformation ererbten Güter gelangen.
Das Bild der römischen Kirche wird uns am anschaulichsten, wenn wir
den ganzen Entwicklungsprozeß verfolgen, auS welchem sie hervorgegangen ist.
Was geschichtlich geworden ist, wird auch nur geschichtlich verstanden.
Wir lernen dabei das Gegenwärtige in seiner Wurzel erkennen, wir lernen
die Triebfedem kennen, die Gedanken, Irrtümer, Ahnungen, Jnterefien, Lei
denschaften, oder was es sonst sein mag, welche einen Prozeß hervorgerufen, der schließlich diese Frucht gereift hat.
Wir versuchen eS daher, in großen llm-
rifien ein Bild jener Entwicklung zu entrollen, welches uns die römisch-katho lische Kirche nicht nur als fertiges Ganzes in seiner gegenwärtigen Erscheinung, sondern als Summe einer großen Zahl psychischer Bewegungen während 1800 Jahren, also in ihrem innersten Wesen, vor Augen führt.
Wir sehen nach der
Wurzel der gegenwärtigen Erscheinung und folgen dem Werdeprozeß durch die
verschiedenen Entwicklungsstadien hindurch und nach den verschiedenen charak teristischen Seiten, welche er uns darbietet.
Wir geben eine Geschichte des
Kirchenbegriffs nicht in dem Sinne einer Geschichte der Theorien von der Kirche,
I.
Don Paulus bis Ignatius.
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sondern in dem Sinne einer Zusammenfaffung alles desjenigen, was die Kirche auf den verschiedenen Stufen der Entwicklung nach verschiedenen Seiten hi» ge worden ist, zu einer begrifflichen Einheit.
Wir werden sehen, daß es in der
That ein logischer Prozeß ist, der sich vor uns vollzieht, daß die römischkatholische Kirche das Ergebnis einer bis zur letzten Consequenz geführten
logischen Entwicklung bestimmter menschlicher Irrtümer und Schwachheiten ist.
1. Bon Paulus bis JguatiuS. Interessant ist schon ein Rückblick auf daS erste Jahrhundert der EntWicklung des Begriffes Kirche von Paulus bis Ignatius,
einmal weil er
uns den ganzen ungeheuren Gegensatz gegen die jetzige Kirche vorsührt, aber
auch deshalb, weil er uns auch schon die Perspektive in die ganze zukünftige Entwicklung
eröffnet.
Dieses erste Jahrhundert zeigt uns eine ungemein
rasche Bewegung durch die verschiedenen Momente hindurch, von der pau< linischen Gemeindeversammlung an bis zur ixxbpfa xxSoXix^.
kennt
den Begriff einer Kirche überhaupt noch
zweifelhaften Stellen Matth. 16, 18; die auf
religiösem Grunde sittlich
jeder Organisation
noch
mit der Verkündigung
abgesehen
des Wortes.
18, 17).
JesuS selbst
nicht (abgesehen von den
Seine ßaitXefcz -v> »eoü ist
verklärte Menschheit, bei welcher von ist.
Der Begriff ixx-^rl-
tritt auf
Es bedeutet die Gesamtheit der an
einem Orte zu gottesdienstlichen oder anderen christlich-religiösen Zwecken sich vereinigenden Gläubigen, die Ortsgemeinde (zu Korinth, Ephesus u. s. w.),
insbesondere die Gemeindeversammlung (1 Kor. 14, 23;
d. h. die Gemeinde als handelnde moralische Person. konkreten Vorstellung der Ortsgemeinde geht auch schon nebenher.
Wenn
Paulus sagt,
Apost. 14, 27),
Aber neben dieser eine Abstraktion
er habe die Gemeinde Gottes verfolgt
(1 Kor. 15, 9; Gal. 1,13), so denkt er nicht an die Gemeinde in Jerusalem oder anderwärts, sondern an die Gemeinde als Abstraktum, an die Gesamt
heit der Christusgläubigen, an die zwar nicht organisierte, aber nach dem
Bilde der Einzelgemeinde als solche vorgestellte Christenheit. 1 Kor. 10, 32; 12,28.
Vgl.
ebenso
Und wenn er sich nun von dieser Gemeinde ein
ideales Bild schaffen will, welches ihm dieselbe in ihrem tieferen Wesen, in
ihrem Verhältnis zu Christus und in ihrer durch gemeinsames Glauben und Hoffen und die Bruderliebe gewordenen Einheit aufschließen soll, so gebraucht er mit Vorliebe das Bild eines
toü
Xpiatoü.
Dieses Zusammenwirken
der verschiedenen Gaben und Kräfte in einer Gemeinde in einem Geiste ist einem Körper gleich, in welchem die verschiedensten Glieder und Kräfte
zu einem Lebensganzen sich vereinigen; die Seele aber dieses Körpers, welche
alles zur Einheit einigt, alles belebt und erfüllt, ist Christus oder sein h.
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Der katholische Kirchenbegriff.
Geist.
(1 Kor. 12,13. 27; 10, 17.)
Dieser Organismus ist, weil Christus
seine Seele ist, heilig und alle Glieder, die daran teilnehmen, empfangen
daher
den Ehrentitel als „Heilige".
Das Organisationsprinzip der pau>
linischen txxktpl« ist also kein anderes als Christus, also ein rein geistiges;
dieses Prinzip ist an kein Amt, an keine Autorität geknüpft, es waltet frei und ungebunden in der Gemeinde.
Die Gemeinde ist souverän kraft eines
sie baut sich dämm auch äußerlich
vorhandenen allgemeinen Priestertums,
nach demokratischen Grundsätzen auf. Den nächsten wesentlichen Fortschritt über die Gemeinde des Paulus bietet u»S der Brief an die Epheser.
Während für Paulus immer das
Bild der Lokalgemeinde die Grundlage seines Ideals bildet, so nimmt hier die Betrachtung ihren Ausgangspunkt in der Höhe einer großen universalen Weltbetrachtung.
Die Kirche ist hier schon die Weltkirche.
Anknüpfend an
giebt der Verfaffer auch der Kirche eine der
daS Bild vom ou>(ia Christi,
jenigen Christi entsprechende Stellung im Weltsystem.
Ist Christus der Cen
tralpunkt der Welt, um welchen sich alles gruppiert (1,20 ff.), der
ti itdvra, so ist die Kirche das
(1,22. 23), d. h. die von Christus
schon erfüllte Welt, derjenige Teil der Schöpfung, in welchem die öw-
«pa, an dem Christus
das Haupt ist, als ein
apo« auf dem Eckstein Christus, aber die Or
ganisation ist noch keine äußerliche, sondern eine rein ideale, fundamentiert
durch die Arbeit der Apostel und Propheten, zusammengehalten durch die Bänder eines geistigen Zusammenwirkens,
einheitlich nur durch die gleiche
Taufe und den gleichen Glauben, die gleichen Formen und den gleichen Gott,
noch in der Entwicklung begriffen, aber heranwachsend zur vollen Mannes größe Christi.
Ein jrja-nfoiov vom Ratschluß Gottes ist dieser Kirche anver
traut (1,3ff.; 3,17—19), aber es werden noch keine äußeren Bürgschaften
seiner Bewahrung begehrt.
Die Kirche des Epheserbriefes ist eine ideal
katholische, noch auf rein geistigem Grunde ruhend. lind dieser Gedanke beherrscht auch noch die ganze »achapostolische Litte ratur.
Die ideale Anschauung vom a