Der junge Hebbel: Eine Mentalitätsgeschichte 9783412212308, 9783412208202


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Der junge Hebbel: Eine Mentalitätsgeschichte
 9783412212308, 9783412208202

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Literatur und Leben Band 80

Carsten Scholz

Der junge Hebbel Eine Mentalitätsgeschichte

2011 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Der Verfasser dankt der Stadt Wesselburen für das Hebbel-Promotionsstipendium, Herrn Museumsleiter Volker Schulz für die freundliche Bereitstellung von Ressourcen des Hebbel-Museums und dem Verein für Dithmarscher Landeskunde e.V. für einen Druckkostenzuschuß.

Zugleich Dissertation Universität Bielefeld 2010 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildungen: Ansicht von Wesselburen nach einer Zeichnung von Willy Graba und Porträt Friedrich Hebbels nach einem Aquarell von Friedrich Lieder jun. (Hebbel-Museum Wesselburen) © 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz: Anja Seelke Druck und Bindung: xPrint s.r.o., Pribram Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the Czech Republic ISBN 978-3-412-20820-2

Inhalt

FRIEDRICH HEBBEL – AUSGEFORSCHT? .......................................................

9

‚Werkimmanente‘ Forschungsansätze .......................................................................... Biographisch und historisch ausgerichtete Arbeiten ..................................................

13 26

ANNÄHERUNG AN DEN JUNGEN HEBBEL – VORHABEN UND METHODIK .............................................................................

53

Literatur und Leben – Dichtung und Wahrheit? ........................................................ Interaktionistische Perspektive und „dichte Beschreibung“ .................................... Mentalität und Mentalitätswandel ................................................................................. Medialität ..........................................................................................................................

53 56 59 73

1. DAS ELTERNHAUS ...............................................................................................

85

Die Konstruktion des Elternhauses – feindlicher Vater, liebende Mutter? ........... „Fluch“ der Armut oder „Armutskultur“? .................................................................. Standesdenken, Kollektivismus und die ‚Öffentlichkeit des Privaten‘ ................... Die Familie als Produktions- und ‚Erbengemeinschaft‘ ........................................... Sachlichkeit statt Gefühl ................................................................................................ Elterliche ‚Gewalt‘ und Strafe ....................................................................................... Keine ‚Kindheit‘ .............................................................................................................. Die „Große Mutter“ – Besonderheit und Ambivalenz der Mutter-Kind-Beziehung .......................................................................................... Kommunikation zwischen Mißverstehen und Identifikation ..................................

85 92 103 112 127 136 143

2. KLIPPSCHULE ODER: DIE VERKEHRTE WELT ......................................

169

Verhältnis der Eltern zur Schule ................................................................................... „Jungfer Susanna“ ........................................................................................................... Verwirrungen des Zöglings Hebbel ............................................................................. Reinigendes Gewitter? .................................................................................................... Last des Lesens ................................................................................................................ Archaische Alphabetisierung ......................................................................................... „Unterweisung zur Seligkeit“: Von der Fibel zur Bibel ............................................ „Das erste Dichten. Theetopf“ ..................................................................................... Die Sprache und die Dinge ...........................................................................................

169 175 181 186 193 199 205 210 214

153 163

3. KIRCHE, GLAUBE, BIBEL – DIE AMBIVALENZ DES SAKRALEN ..............................................................

218

Zweifelhafte Autorität: Die Kirche im Dorf .............................................................. Das „düsterbiblische“ Element ..................................................................................... Der Predigtvorleser ......................................................................................................... Die ‚Heilige‘ Schrift zwischen Negierung und Naturalisierung ...............................

218 233 246 255

4. ABERGLAUBE – MEHR ALS NUR DER ‚FALSCHE GLAUBE‘ ...............

261

Hebbels „metaphysischer Krankheitsstoff“ – die Sicht der Biographen ............... Aberglaube als Volksglaube in Dithmarschen um 1800 ........................................... Die magische Welt des Kindes ..................................................................................... Belebte Dinge .................................................................................................................. Untote, Nachzehrer und Gespenster ........................................................................... Besprechen, Sehen, Ahnen – Kontakte zum Jenseits ............................................... Hebbel, „gespenstermäßig“ ........................................................................................... Das „Wunder der weltlichen Transsubstantiation“ ...................................................

261 264 269 275 280 291 301 309

5. DIE SCHULE FRANZ CHRISTIAN DETHLEFSENS ..................................

318

Schulverhältnisse im Übergang – Reform oder Bruch? ............................................ Dethlefsen als Pädagoge ................................................................................................. Aufklärung durch Bücher .............................................................................................. Kulturisation zwischen semioraler Kommunikation und isolierter Lektüre .......... Einsame Spitze? Bücherwissen, Medienkompetenz und elitäres Bewußtsein ....... Hebbels Schulbildung im schulgeschichtlichen Kontext ..........................................

318 324 337 348 352 362

6. BEIM KIRCHSPIELVOGT MOHR ....................................................................

370

Das verkaufte Kind ........................................................................................................ Der schwarze Mann ........................................................................................................ Ein Kirchspielvogt und ein Dienstbote ....................................................................... Ein Prinzipal in verjüngtem Maßstab? .........................................................................

370 376 381 396

7. DIE GEGENKULTUR DER JUNGEN BURSCHEN ....................................

421

Die peer group der Junggesellen ....................................................................................... „Nun muß es recht laut werden“ .................................................................................. „Edite bibite“ ................................................................................................................... „Als ich zum ersten Mal – –“ ........................................................................................

421 427 433 437

„Ein tolles Gemisch von Rausch und ekler Nüchternheit“ ..................................... „Vergiß nicht, daß Du –ßen mußt!“ ............................................................................ „Ich schlag’ Euch ja todt“ .............................................................................................. „Ein guter Spaß geht mir [.…] über Alles“ .................................................................

443 446 450 456

8. ROLLENSPIELE ......................................................................................................

467

Rolle und Selbst ............................................................................................................... Der verlorene Sohn ......................................................................................................... Heilige Mutter – göttlicher Sohn .................................................................................. Der Aus- und Eingeschlossene: „dieß verschüchterte Wesen“ ............................... Ein „Herr von H.“ .......................................................................................................... „Monarch“ ....................................................................................................................... „Ein Königssohn, verlassen“ ........................................................................................ „Yorik-Sterne“ ................................................................................................................. „Proteus“ – der Rollenspieler ........................................................................................

467 471 482 496 508 515 519 534 542

9. ORALITÄT UND SEMIORALITÄT IM VOLKSKULTURELLEN KONTEXT ..........................................................

556

„Cultur“, Sub-Kultur und Kreativität .......................................................................... Orales und Semiorales .................................................................................................... Die Stoffe und ihr „Lebenszusammenhang“ .............................................................. Weder „Ur-Poet“ noch „aesthetischer Schneider“ – oder: Wie spricht der Dichter? ................................................................................. ..... Aspekte ‚subliterarischer‘ Ausdrucksästhetik und ihrer Rezeption .........................

556 562 569 578 590

10. ORALE ASPEKTE DER KREATIVITÄT .......................................................

608

Dichter oder Denker? Forschungs-Probleme ............................................................ Kreative Prozesse und mediale Implikationen ........................................................... Atavismen im Umgang mit Schrift ...............................................................................

609 612 626

HEBBEL IN WESSELBUREN – WESSELBUREN IN HEBBEL ....................

633

ZEITTAFEL ...................................................................................................................

639

LITERATURVERZEICHNIS .....................................................................................

643

FRIEDRICH HEBBEL – AUSGEFORSCHT?

Fast 150 Jahre nach dem Tod Friedrich Hebbels und angesichts einer Forschungstradition, die eine ganze Bibliothek füllt,1 eine biographische Darstellung, noch dazu als wissenschaftliche full length study, vorzulegen, bedarf der Rechtfertigung. Der Literarhistoriker Friedrich Sengle widmete Hebbel in seinem monumentalen Werk über die Biedermeierzeit ein ausführliches Kapitel, das allein schon den Umfang eines Buches besaß und das Dichter und Werk aus einer Vielzahl von Perspektiven betrachtete. Doch am Ende dieser Untersuchung stand eine Frage: „Wer sollte auch imstande sein, den heutigen Stand der Hebbel-Forschung näher zu bestimmen?“2 Allein für den Zeitraum von 1910 bis 1970 hatte die Hebbel-Bibliographie von U. Henry Gerlach 2627 Titel verzeichnen können;3 und Heinz Stolte, sprach 1990 in einem Literaturbericht von der „schier überwältigenden Fülle der Hebbel betreffenden Publikationen“.4 Auch Hargen Thomsen hatte 1992 das Gefühl, „von der Masse der Sekundärliteratur überwältigt zu werden“.5 Sengle fuhr fort: „Man berücksichtigt jede seiner Äußerungen sorgfältig; ja, es ist […] eine tiefsinnige, hochspezialisierte Hebbelexegese entstanden, die viele Ausländer davon abschreckt, in diese Philologie einzusteigen.“6 Damit benannte Sengle ein gegenläufiges Phänomen, das längst nicht mehr nur die Auslandsgermanistik betrifft. Die ‚Abschreckung‘ hat inzwischen so weit um sich gegriffen, daß eine HebbelForschung außerhalb der von den Hebbel-Gesellschaften in Wesselburen und Wien veranstalteten Symposien bzw. herausgegebenen Periodika kaum mehr existent ist.7 Im Jahr von Hebbels 175. Geburts- und 125. Todestag registrierte Thomsen eine eigentümliche „Abwesenheit Hebbels im Jubiläumsartikel-Betrieb“.8 Die Zahl jüngerer Dissertationen über Hebbel ist gering. Überfülle und Überdruß – diese Befunde zur Forschungssituation ergänzen einander. Die mit der rasanten Vermehrung der Arbeiten einhergegangene Spezialisierung bedingte z. T. eine zunehmende Marginalisierung der Ergebnisse. Hinzu trat eine sich seit längerem abzeichnende Ermüdung

Nämlich die Spezialbibliothek des Hebbel-Museums Wesselburen mit „ca. 6000 Titel[n]“ [SCHULZ/MÖLLER, Wesselburen, Text zu Bild 11]. 2 SENGLE, Biedermeierzeit, S. 413. – Zur Zitierweise: Hervorhebungen entstammen dem Original, wenn nicht anders angegeben. 3 Vgl. GERLACH, Hebbel-Bibliographie 1910 – 1970. 4 STOLTE, Literaturbericht 1989, S. 143. 5 THOMSEN, Grenzen des Individuums, S. 5. 6 SENGLE, Biedermeierzeit, S. 413. 7 Gerlachs Hebbel-Bibliographien für die Dekaden 1970 – 1980, 1980 – 1990 und 1990 – 2000 enthalten immerhin jeweils deutlich über 200 Einträge, durchschnittlich also 20 bis 30 Veröffentlichungen pro Jahr. 8 THOMSEN, Grenzen des Individuums, S. 14. 1

10

Friedrich Hebbel – ausgeforscht?

der Germanistik im methodischen Bereich.9 Speziell bei Friedrich Hebbel scheinen schließlich die Möglichkeiten, wenigstens neue Quellen zu erschließen und auszuschöpfen, gering,10 so daß sich stillschweigend der Konsens ausgebreitet haben mag, dieser Dichter sei weitgehend ausgeforscht. Warum also Hebbel? Wer sich mit einem nachklassischen Tragiker des 19. Jahrhunderts, der seit einigen Jahrzehnten auch kaum mehr Gegenstand des Schulunterrichts ist, beschäftigt, muß sich die Frage nach der Relevanz gerade dieses Autors gefallen lassen, um so mehr, wenn schon für die deutsche Literatur insgesamt gilt, sie sei „kein ewiger Vorrat (Rudolf Borchardt) mehr, sondern ein immenses historisches Kontinuuum ohne eindeutige Hierarchien, ohne eindeutige Entwicklungsgesetze und ohne eindeutige Funktionen für die Gesellschaft.“11 Gerade Hebbel-Experten waren es, die immer wieder dessen Modernität hervorgehoben haben. Heinz Stolte, langjähriger Präsident der Hebbel-Gesellschaft, hatte 1965 programmatisch eine geradezu umfassende thematische Aktualität Hebbels konstatiert: „Dabei geht es um ein Vierfaches an Problemkreisen: um das Bild des Menschen, um die Auffassung des Staates, um die Fragwürdigkeit der Ideologie und um die soziale Frage.”12 Freilich machte er aus seinem aktualisierenden Interesse keinen Hehl: „Und aus dieser unserer Welt heraus wenden wir uns den Dichtungen Hebbels zu mit der Frage, was sie uns heutigen im Heute zu sagen haben und bedeuten können.” Die zeitliche Distanz von über hundert Jahren überbrückte Stolte mit einem kühnen Verweis auf überzeitliche Geltung des Dichters: Ihm ging es niemals um Modernes, um Modisches und Ephemeres, immer vielmehr um die Urphänomene, um Deutung der Welt und des Lebens überhaupt. Aber das seiner Zeit Unzeitgemäße, sein Aufschwung ins Immer-Gültige, hat ihn zugleich hinübergetragen über das fin de siècle mitten in unser Jahrhundert hinein.13

Auch der Literaturdidaktiker Hilmar Grundmann äußerte die Ansicht: „Immer wieder ist Hebbel aus der Mode gekommen, aber ebenso unbestritten ist auch, daß er immer wieder hineinkam.“14 Zwar stellte er fest, „eine befriedigende Antwort gibt es bis auf den heutigen Tag nicht“, doch wußte er: „Wer das Rätsel der immer wiederkehrenden Aktualität Hebbelscher Einsichten lösen will, der wird sicher nicht zum Ziel kommen, wenn er seine Erschließungskriterien gattungs- oder epochengeschichtlich legitimiert, sondern der muß sich schon auf das Menschenbild Hebbels einlassen“. Auch seine Erklärung zeugte allerdings von einer forcierten Aktualisierung in politischpädagogischer Absicht: Als erfrischende Ausnahmen innerhalb der Hebbel-Philologie seien die der Narrativik bzw. Genderforschung verpflichteten Dissertationen von Andrea Stumpf und Alexandra Tischel angeführt. 10 Ausnahmen, die allerdings mehr die Hebbel-Rezeption betreffen, sind hier die Dissertationen von Martin-M. Langner über die Korrespondenz Christine Hebbels und von Catherine M. Lewis über Hebbel-Vertonungen. 11 MATT, Begeisterung, S. 45. 12 Dieses und das folgende Zitat: STOLTE, Moderne Weltdeutung, S. 14. 13 Ebd., S. 10. 14 Dieses und die folgenden Zitate: GRUNDMANN, Hebbels Gesellschaftsbegriff, S. 61. 9

Friedrich Hebbel – ausgeforscht?

11

Gemeint ist jenes Spannungsverhältnis von Allgemeinheit und Pluralität, […] das das Kernproblem aller nachrevolutionären Gesellschaften westlich-liberaler Prägung bis auf den heutigen Tag geblieben ist und nichts von seiner Brisanz verloren hat. […] Hebbel also ein Liberaler? Unbestritten, denn was Hebbel hier fordert, sind die Prinzipien liberaler Politik und heißen heute: Weniger Staat und mehr Vertrauen in die Fähigkeit des einzelnen, seine sozialen Beziehungen selbst zu gestalten.15

Solche konkreten Inanspruchnahmen des Dichters mögen kontroverse Meinungen hervorrufen – als Ansatzpunkte neuer wissenschaftlicher Diskussionen taugen sie wenig, eher verstellen sie den Blick auf Hebbel selbst. „Verantwortung für die Tradition heißt als erstes, daß überhaupt der Zugang zur Vergangenheit und damit eine echte Erfahrung und Geschichtlichkeit ermöglicht wird“,16 schrieb Peter von Matt. Dazu gehört zunächst, das Vergangene in seiner Fremdheit zu belassen. Zuletzt veröffentlichte Monika Ritzer, die Präsidentin der Hebbel-Gesellschaft, im Jahr 2005 unter dem Obertitel Profilneurosen einen Aufsatz Zur Aktualität Hebbels. Die von ihr herausgestellte „Maßlosigkeit“17 einer „vitalen Selbstbehauptung“ von Individuen in einer „radikal individualistische[n] und daher auch radikal agonal strukturierte[n] Gesellschaft“18, mag auf den ersten Blick heute besonders aktuell erscheinen. Doch ist dies eben nicht Ausdruck einer jede geschichtliche Distanz kühn überspringenden Modernität Hebbels, sondern eher symptomatisch für ‚dramatische‘, sich als ‚Neurosen‘ niederschlagende Brüche seiner Zeit. Noch in dieser Brechung zeigt sich jedoch zunächst die Kraft bindender Traditionen und weniger der sich anbahnende Prozeß hin zu einer neuen ‚Zivilgesellschaft‘. Im Unterschied zu Stolte und Grundmann wollte daher Monika Ritzer ihre Aussagen dahingehend verstanden wissen, daß „diese Aktualität mit dem 19. Jahrhundert überhaupt zu tun hat“.19 Wenn Matt die Aufgabe des Germanisten auch darin sieht, „daß er die Leute, an die er sich wendet, zum Historischen nicht nur führen, sondern verführen muß“,20 dann darf man zunächst darauf vertrauen, das das Vergangene gerade dann spannend ist, wenn es in seiner Spannung zur nur allzu bekannten Jetztzeit erfahrbar wird, ohne daß man von einer „absoluten Unterscheidung zwischen ‚heute‘ und ‚früher’“ ausgehen muß. Das „Erleben des Eigenen im Einstigen“ ist vielmehr selbst ‚historisch‘ gerechtfertigt: Wenn wir zum Beispiel den Prozeß der Modernisierung als eine grundlegende Struktur der Zivilisationsgeschichte betrachten, ohne dabei wieder eine versteckte Teleologie einzuschmuggeln, dann kann jeder Aspekt, jede Dimension der Modernisierung zu einer historischen Leitlinie […] werden. Diese Leitlinie läuft ihrem Wesen nach weiter bis in unsere Gegenwart und garantiert damit den Aspekt der Aktualität.

Ebd., S. 71f. Auch die Beiträge eines 2004 erschienenen Sammelbandes der Wiener Friedrich Hebbel-Gesellschaft folgten der vorgezeichneten Richtung Zu neuer Aufklärung und neuer Humanität [HSR 8]; einzig Hans-Jörg Knobloch meldete Vorbehalte an [vgl. KNOBLOCH, Hebbel – ein Aufklärer, S. 148f.]. 16 MATT, Begeisterung, S. 45. 17 Dieses und das folgende Zitat: RITZER, Profilneurosen, S. 20. 18 Ebd., S. 30. 19 Ebd., S. 7. 20 Dieses und die folgenden Zitate: MATT, Begeisterung, S. 45. 15

12

Friedrich Hebbel – ausgeforscht?

Friedrich Hebbel verdient vor allem darum besondere Aufmerksamkeit, weil bei ihm diese Spannungen, Strukturen und Prozesse in einer Dichte fühlbar sind, wie bei kaum einem anderen Autor. Diesen Phänomenen hat sich die Germanistik bis heute noch nicht genügend gestellt, so daß dieser Dichter die Forschung noch immer vor ungelöste Probleme stellt. Dies betrifft zum einen die Grundstruktur des Widersprüchlichen, der Brüche und Paradoxa, die Leben und Werk prägen: Seine Biographie zwischen den Polen Wesselburen und Wien, dem Dithmarscher Marktflecken und der österreichischen Kaiserstadt, ‚verbunden‘ durch zehn unstete Studien- und Wanderjahre, könnte spannungsvoller kaum sein; seine Texte tendieren oftmals zur tragikomischen Groteske oder zu auf die Spitze getriebenen aphoristischen Kontrasten; immer wieder wurde auf die Diskrepanzen zwischen dem ‚Denker‘ und dem ‚Dichter‘ Hebbel verwiesen. Zum anderen scheinen Leben und Werk selbst relativ beziehungslos nebeneinander zu stehen: Formal griff Hebbel in seinen Hauptwerken auf die schon (allzu) klassische Tragödie zurück, inhaltlich auf historische und mythische Stoffe, sprachlich auf einen gestanzten, hypotaktischen Stil – wohingegen seine Zeitgenossen längst die Prosaform, Gegenwartsthemen, den Konversationston oder gar den Dialekt bevorzugten. Die Distanz zu den fast gleichaltrigen schleswig-holsteinischen Landsleuten Klaus Groth und Theodor Storm scheint frappant; im Kontext der deutschen Literatur seiner Zeit überhaupt stellt Friedrich Hebbel eine singuläre Erscheinung dar. Die Hebbel-Forschung spiegelt diese grundlegende Problematik mehr, als daß sie sie löst. Die Trennung von Biographik und ‚eigentlicher‘ Literaturwissenschaft ist bis in die jüngste Zeit sehr stark ausgeprägt. An Hebbel brach ein alter wissenschaftstheoretischer Dissens immer wieder neu auf: Wurzelt Kunst im Biographischen, oder besitzt das Werk eine selbständige Existenz aus eigenem Recht? So wurde die Hebbel-Forschung streckenweise auch zu einem Kampfplatz in der Auseinandersetzung um die ‚reine‘ Lehre. Statt methodologisch breit ausgerichtet zu sein, rückte man dem Dichter gern mit speziellen Interessen und Methoden zu Leibe, was zu überzogenen Verallgemeinerungen und zu einer raschen Ablösung der verschiedenen Ansätze führte. Die Biographik gab sich dagegen mit einer deskriptiven ‚Nacherzählung‘ oder allenfalls positivistischen Detailforschungen, die noch immer Vieles im Dunkeln ließen, zufrieden. Mit Blick auf den erfolgreichen Wiener Dramatiker wurden dessen erste 22 Lebensjahre, die er in Wesselburen verbrachte, nur zu gern marginalisiert. Umgekehrt gab es starke Tendenzen, die an Hebbel gerade ein mythisch überhöhtes ‚Dithmarschertum‘ herausstellten. Der zweifache Befund einer ‚überhitzten Konjunktur‘ der Hebbel-Diskussion vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und einer weitgehenden Interesselosigkeit der Germanistik in jüngerer Zeit könnte darum auch auf Frustrationen hindeuten, die Hebbel als ‚problematisches Phänomen‘ bis heute bereit hält. Der folgende Forschungsüberblick, gegliedert nach im engeren Sinn literatur- bzw. geisteswissenschaftlich, oft als ‚werkimmanent‘ apostrophierten Arbeiten und biographisch/psychologisch bzw. (sozial)historisch ausgerichteten Arbeiten zeichnet die Diskussionen um Hebbel in groben Zügen nach, in den einzelnen Kapiteln dieser Arbeit wird die Auseinandersetzung jeweils detaillierter fortgesetzt.

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‚Werkimmannente‘ Forschungsansätze Erster Protagonist der ‚werkimmanenten‘ Interpretation war Klaus Ziegler, der 1938 mit der gesamten vorangegangenen Hebbel-Forschung abrechnete: „Die bisherige Literatur über das dichterische Werk Friedrich Hebbels weist aller äußeren Fülle ihres Umfangs und ihrer Themen zum Trotz weithin ein für die moderne Literaturwissenschaft sonst ganz unerhörtes Maß innerer Gleichförmigkeit und Eintönigkeit auf“.21 Den Grund dafür erkannte er darin, daß die Wissenschaft ihre „Ansicht über das Wesen der Dichtung Hebbels […] weniger aus dieser Dichtung selber als aus den Reflexionen des Dichters über sie“ gewann. Charakteristisch dafür war das vielzitierte Werk Arno Scheunerts: Der Pantragismus als System der Weltanschauung und Ästhetik Friedrich Hebbels, doch ließe sich eine große Anzahl weiterer Titel hinzufügen.22 Das dominierende philosophische Interesse bedingte, daß man den ‚Denker‘ Hebbel schon für den ‚Dichter‘ nahm, und konnte den Blick dafür verstellen, „daß die Subjektivität des dichterischen Bewußtseins und das objektive Sein des Gedichteten selbst bei Hebbel einander durchaus inkommensurabel sind“.23 Zieglers scharfes Fazit lautete: Indem man Hebbels dichterisches Schauen und Gestalten gleichsetzte seinem philosophischen Zerlegen und Erklären der Welt, gelangte man […] notwendig dazu, in seiner Dichtung nichts als die dürre Einkleidung eines frostigen metaphysischen Theorems, ein von allen Gehalten, Bewegtheiten und Spannungen konkreter menschlicher Daseinswirklichkeit, unmittelbarer seelischer Lebendigkeit abstrahierendes Dogma zu erblicken.24

Mit der entschiedenen Ablehnung der Vorgänger verband sich bei Klaus Ziegler ein programmatischer Neuansatz: Seine Dissertation Mensch und Welt in der Tragödie Friedrich Hebbels „beschränkt sich mit strenger Ausschließlichkeit auf die Betrachtung der Hebbelschen Tragödien selber“.25 Ziegler machte sich so „ein ganz unvoreingenommenes Analysieren zum Ziel, das allein auf dem objektiven Sein der tragischen Dichtung beruht. Allein in ihm und nicht in dem subjektiv ‚vermeinenden‘ Bewußtsein des tragischen Dichters kann das Unterfangen, die weltanschauliche Substanz der Hebbelschen Tragödie zu deuten, eine unmittelbar zuverlässige Grundlage und einen unbedingt verpflichtenden Maßstab finden“.26 Damit freilich war einer „weltanschauliche[n]“ Deutung erneut Tür und Tor geöffnet, nur daß diese nicht mehr den ‚Umweg‘ über Hebbelsche Philosopheme nahm, sondern vom Interpreten selber ans

Dieses und das folgende Zitat: ZIEGLER, Mensch und Welt, S. 7. Vgl. MEETZ, Friedrich Hebbel, S. 89–92; KREUZER, Einleitung, S. 1, Anm. 1. – Wo noch auf Hebbels Lebenswirklichkeit rekurriert wurde, geschah dies mitunter nur, um gerade die angebliche Abwesenheit von „Wirklichkeit“ im Werk zu begründen. Alfred Kleinberg etwa sah Hebbel durch das „erbärmliche Proletenschicksal befähigt, das wahre Erbe der Klassiker, Romantiker und Hegels anzutreten“, das ihn „zwang […], statt an der Wirklichkeit in der Idee zu werken“ [KLEINBERG, Die deutsche Dichtung, S. 320]. 23 ZIEGLER, Mensch und Welt, S. 10. 24 Ebd., S. 11f. 25 Ebd., S. 10. 26 Ebd., S. 10f. 21 22

14

Friedrich Hebbel – ausgeforscht?

Werk herangetragen wurde. Bei Ziegler war dies ein, durchaus dem Geist der Zeit entsprechender, existenzphilosophischer Ansatz.27 Freilich bedeutete dieser für Ziegler nicht einfach eine weitere philosophische Theorie, vielmehr wollte er dem „lebendigen Menschen“ näherkommen, suchte er doch „Hebbels Dramen sichtbar zu machen als Auseinandersetzungen, die in lebendigen Gestalten ein lebendiger Mensch mit einer lebendigen Welt vollzog“.28 Durch die Vermittlung von lebensechtem Drama und geistesgeschichtlichem Hintergrund schien die Einfühlung in Hebbels eigenes Erleben zu gelingen: Hebbel steht ganz und gar im Bann dieser Säkularisierungsbewegung und der durch sie bedingten Nothaftigkeit des Mensch-Welt-Verhältnisses. In dieser Nothaftigkeit greifen wir ganz unmittelbar die konkrete Wirklichkeit […], greifen wir das Ursprüngliche und Innere seines Erlebens selber und nicht nur die abgeleiteten und abgeschwächten intellektualisierten Teiläußerungen desselben.29

Sieht man von der Problematik dieses interpretatorischen ‚Besser-Verstehens‘ ab, so bleibt doch die Frage, warum Ziegler auf die Einbeziehung der „intellektualisierten Teiläußerungen“ verzichtete – galten ihm diese doch ursprünglich keineswegs als ‚abgeleitet‘ und ‚abgeschwächt‘, sondern im Gegenteil als geradezu „inkommensurabel“. Dadurch schloß er Widersprüche von der Betrachtung aus, die gerade den „lebendigen Menschen“ Hebbel betrafen. Ziegler war sich dessen bewußt, verzichtete aber aus pragmatischen Gründen auf eine weitergehende Untersuchung: Den tieferen Gründen dieser Inkommensurabilität gehen wir hier nicht nach. Denn das Problem des dichterischen Schaffens, des in ihm waltenden Verhältnisses von Theorie und Praxis, Reflexion und Intuition, Bewußtsein und Sein ist zwar eines der wichtigsten [!], aber auch eines der bisher am wenigsten und unzureichendsten behandelten Probleme der Literaturwissenschaft überhaupt. Seine Ergründung wäre, vor allem in einem so ganz besonders schwierigen Fall wie dem Hebbels, nur im Rahmen einer sehr umfassenden Fragestellung möglich.30

Im Rahmen einer eingeschränkten Themenstellung widmete sich Zieglers Schüler Peter Michelsen den Brüchen Hebbels. Mit seiner Dissertation über Friedrich Hebbels Tagebücher legte er 1951 eine ebenfalls textimmanent verfahrende Analyse vor, die allerdings nicht die Inkommensurabilität von dichterischer Theorie und Praxis zum Gegenstand hatte, sondern eine dualistische Struktur schon innerhalb des theoretischreflektierenden Gedankenguts selber aufdeckte. Dabei verbürgten für Michelsen die „relativ unmittelbaren Äußerungen Hebbelschen Geistes“31 in den Tagebüchern gegenüber den „in den Aufsätzen errichteten komplizierten WeltanschauungsGebäude[n]“ eine Art der „Selbstaussprache“, die zur Beantwortung „der Frage nach Auf diese „situationsgebundene Entstehung des Buches“ hat Ziegler bei der Neuausgabe 1966 selbst hingewiesen; vgl. die Vorbemerkung [ebd., S. 3]. 28 Ebd., S. 13. Hervorhebung C. S. 29 Ebd., S. 13f. 30 Ebd., S. 10. 31 Dieses und die folgenden Zitate: MICHELSEN, Friedrich Hebbels Tagebücher, S. 18. 27

‚Werkimmanente‘ Forschungsansätze

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dem Zusammenhang von Dichter, Denker und Mensch“ einen Beitrag liefern sollte. Damit ‚rettete‘ Michelsen die Tagebücher gewissermaßen als authentisches ‚Werk‘, um dort fortzufahren, wo Ziegler die Grenzen der immanenten Methode gesehen und haltgemacht hatte. Doch auch diese Untersuchung trieb die Widersprüche Hebbels nur schärfer hervor, anstatt sie ‚aufzuheben‘: Dem Anspruch, den „Zwiespalt in der Gestalt Hebbels nicht als endgültiges Ergebnis“ zu nehmen und „sowohl Persönlichkeit und Werk als auch gedankliche und dichterische Aussage auf einen geistigen Ursprung zurückzuführen“, stand als tatsächliches Resultat etwas ganz anderes gegenüber: Der Dualismus bei Hebbel betrifft nicht nur die Erscheinung, er hat die Idee, den „überindividuellen Seinsgrund” selbst ergriffen, der in keinen Ursprung als in die Identität seiner Gegensätze zurück- oder einzukehren vermag.32

Das im Grunde unbefriedigende Ergebnis versuchte Michelsen epistemologisch zu überhöhen, indem er die schon von Ziegler gesehenen Inkommensurabilitäten zum System eines fundamentalen Dualismus erhob und Das Paradoxe als Grundstruktur Hebbelschen Denkens33 identifizierte. Die Crux liegt dabei auch in einem fragmentarischen Systembegriff Michelsens, dem es „nicht so sehr auf die Herkunft als auf die Struktur der Hebbelschen Gedanken“ ankam.34 Doch was besagt die Freilegung einer Struktur, wenn ihre genetische ebenso wie ihre funktionale Dimension im Dunkeln bleibt? Freilich akzeptierte Michelsen die „Legitimität“ des Ansinnens, „das Phänomen Hebbel […] als einen Teil innerhalb des historischen Flusses zu begreifen“35 und verstand seine Ergebnisse als „Grundlage für weiterzuführende Studien“.36 Deutlicher formulierte Fritz Martini Interessen und Maßstäbe seiner Arbeiten. So betonte er den religiösen Aspekt als Grundlage gleichermaßen von Hebbels Weltanschauung und Dichtungsauffassung. Religiös, mit mystischem Einschlag, veranlagt, mit metaphysischem Bedürfnis begabt, ohne das ihm die Existenz des Künstlers undenkbar erschien, wurde er durch den Prozeß der Religionskritik, dem er sich nicht entziehen konnte, stark betroffen. […] Er ist der letzte metaphysische, deshalb tragische Dichter in diesem Jahrhundert.37

Die „Inkommensurabilitäten“ Zieglers bzw. das „Paradoxe“ Michelsens konkretisierte sich bei Martini zur Spannung zwischen religiöser, ja ‚mystischer‘ Prägung einerseits und metaphysischer Enttäuschung nebst daraus ableitbaren philosophischen Surrogaten andererseits. Trotz dieses Säkularisierungsprozesses sah Martini aber auch eine Kontinuität der mystischen Weltdeutung Hebbels: Da „die systematische Philosophie keine Antwort auf seine Existenzfrage gab“, habe „seine Einsamkeit vor einer rätselhaft Ebd., S. 168. MICHELSEN, Das Paradoxe als Grundstruktur Hebbelschen Denkens. 34 MICHELSEN, Friedrich Hebbels Tagebücher, S. 22. 35 Ebd., S. 22. 36 Ebd., S. 19. 37 Dieses und das folgende Zitat: MARTINI, Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus, S. 134. 32 33

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Friedrich Hebbel – ausgeforscht?

gewordenen Welt […] die Beziehung zwischen Ich und Daseinsgesetz, dies selbst in ein Mysterium versinken“ lassen. Und während Ziegler die „Inkommensurabilitäten“ Hebbels noch weitgehend ausblendete, band Martini sie explizit an Hebbels ‚komplizierte Natur‘ zurück: Hebbel hat zwischen Härte und Weichheit, Stolz und Selbstzweifel, Schroffheit und Liebesverlangen, Ruhelosigkeit und Ruhebedürfnis, Traumerleben und grüblerischer Intellektualität, Ehrgeiz und Resignation, mystischem Empfinden und kritischer Rationalität, um nur einige Züge dieser komplizierten Natur zu erwähnen, in sich selbst außerordentliche Spannungen durchlitten. […] Der Widerspruch als Seinsgesetz trieb den Menschen gegen die Zeit, gegen den Mitmenschen und sich selbst.38

Martini wies diesen Spannungen auch eine funktionale Bedeutung für Hebbels dichterisches Schaffen zu: Sie hätten „seinen dramatischen Gestalten die dialektische Fülle, die psychologische Differenzierung gegeben“. Biographische Ursachenforschung war Martinis Sache jedoch nicht. Immerhin legte die tendenzielle Verlagerung der Argumentation von einer allgemein ideengeschichtlichen zu einer individualgeschichtlichen Deutung den Gedanken nahe, Hebbel habe „gegen die Zeit“ gelebt. Dieser vorsichtige Hinweis auf eine ‚anachronistische‘ Existenz Hebbels bedeutete einen Einspruch gegen die vorherrschenden ‚evolutionistischen’ Theorien der früheren Forschung, die den 1813 geborenen Hebbel nach einem langen Weg 1846 bzw. 1848 endlich in seiner Gegenwart angekommen sahen.39 Während sich das Erkenntnisinteresse seit Zieglers Neuansatz veränderte, blieb die werkimmanente Interpretation „für nachfolgende Interpreten weithin verpflichtend“.40 Dies trifft in besonderer Weise auf Herbert Kraft zu, der dekretierte: Es ist sicherlich nicht die Aufgabe des Interpreten, […] hinter die dichterische Gestalt zurückzugreifen auf die möglichen Voraussetzungen und Anlässe des dichterischen Schaffensprozesses, gleichsam die Übertragung der Realität in den dichterischen Ausdruck wieder rückgängig zu machen und die der Realität […] nachgeschaffene Gestalt und damit den künstlerischen Schaffensprozeß zur Realität hin zu überspringen, um die aus dem Leben in die Dichtung verwandelte Figur wieder ‚lebendig‘ werden zu lassen.41

Damit kam die werkimmanente Methode ausgerechnet zu Beginn der experimentierfreudigen siebziger Jahre in der Hebbel-Forschung erneut stark zur Geltung, wenn auch angereichert mit historischen und ideologiekritischen Fragestellungen. Darüber

Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 137. Vgl. dazu MICHELSEN, Friedrich Hebbels Tagebücher, S. 14f. 40 KREUZER, Einleitung, S. 6. Sengle monierte 1980: „Man kann auf einzelne Forscher wie Wolfgang Liepe und Helmut Kreuzer hinweisen, die die Hebbel-Philologie biographisch, philosophiegeschichtlich, literarhistorisch aufsprengen wollten; aber in ihren Schwerpunkten ist die Hebbelforschung, stärker als die meisten Philologien der Biedermeierzeit, in der Werkinterpretation steckengeblieben.“ [SENGLE, Biedermeierzeit, S. 413]. 41 KRAFT, Poesie der Idee, S. 11. 38 39

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hinaus wirkte Kraft schulebildend bis in die jüngere Zeit.42 In der Einleitung zu seinem Werk Poesie der Idee. Die tragische Dichtung Friedrich Hebbels erklärte er kategorisch: Die Biographie Hebbels findet in dieser Abhandlung wenig Berücksichtigung. Eine Erklärung von Personen und Situationen aus biographischen Voraussetzungen Hebbels wird schon darum nicht versucht, weil das kein verläßlicher Weg der Interpretation wäre. Zwar ist Hebbels Satz: „Niemand schreibt, der nicht seine Selbstbiographie schriebe” (T 834, Juli 1837), unwiderleglich, weil das Werk nur aus den Bedingungen seines Schöpfers erwächst, doch sind die biographischen Voraussetzungen für das Verständnis der Dichtung weitgehend entbehrlich; sie sind nicht eindeutig richtungweisend, so daß immer nur das Werk der Ausgangspunkt und die Biographie (wie die Theorie) für das Gestaltete möglicherweise eine Erläuterung sein kann. Die Bedingungen, aus denen Dichtung erklärbar wird, reichen weit über das ‚rein Biographische‘ hinaus in die Voraussetzungen der historischen Situation.43

In erstaunlicher Direktheit verlieh Kraft hier dem Wunsch nach einer Reduktion von Komplexität Ausdruck, indem er einen Ansatz suchte, der „eindeutig richtungsweisend“ war. Was bleibt aber vom Werk, wenn das „rein Biographische“ eskamotiert und durch eine hegelianisch geschaute, abstrahierte „historische Situation“ als Interpretationshintergrund abgelöst wird? Kraft setzte umgehend und unmißverständlich nach: „Für Hebbels Dichtung gilt die Überzeugungskraft des Arguments mehr als die des Affekts“.44 Diesen Satz bezog Kraft nicht etwa auf Hebbels Ablehnung des zeitgenössischen Rührstücks; er zielte vielmehr aufs Grundsätzliche: Hebbels Werk sei „Demonstration und Argumentation und als solche nicht auf Einfühlung angelegt. […] Der denkende Dichter schreibt für den denkenden Zuschauer und Leser.“ Auf ‚vernünftige‘ Weise ließ sich so die unangenehme Vieldeutigkeit von Literatur reduzieren. Was an einer solchen „Poesie der Idee“ dann aber noch „poetisch“ sein sollte, blieb fraglich. Krafts scheinbar konsequente Argumentation nahm dem eigenen Schlüsselbegriff die austarierte terminologische Ambivalenz zugunsten einer einseitigen Interpretation; genauso verfuhr er mit der spannungsvollen Zusammenfügung vom „denkenden Dichter“. Was als immanente Werkinterpretation begann, endete einmal mehr beim ‚Ideen-Denker‘ Hebbel – nur ohne Zuhilfenahme seiner ‚Philosophie‘! Doch entspricht diese Vorstellung der kreativitätspsychologischen Realität? Vgl. die Monographien seiner Schüler Jens Dirksen (1992) zur Lyrik und Claudia Pilling (1999) zum Drama Hebbels. Ein einleitendes Kapitel Dirksens trug die programmatische Überschrift: „Nicht Hebbel als Lyriker, sondern Hebbels Gedichte“ [DIRKSEN, „Die wurmstichige Welt“, S. 13]. Zu Dirksen vgl. Karl Pörnbacher: „Weniger überzeugend ist die Darstellung der Beziehungen zwischen den Gedichten und dem jeweiligen gesellschaftspolitischen Hintergrund, die hier mehrfach festgestellt, aber kaum begründet werden und die sich oft auch nur schwer beweisen lassen.“ [PÖRNBACHER, [Rez.] Dirksen, S. 794]. Zu Pilling vgl. die Kritik von Monika Ritzer: „Die avisierte historische Reflexion mündet nämlich nicht in eine text- und kontextanalytisch gestützte Rekonstruktion von Hebbels kulturgeschichtlicher Position, wie sie dem Stand der Forschung mittlerweile angemessen wäre. Hebbels Position findet sich vielmehr präfixiert durch Hegels spekulative Geschichts- und Kunstphilosophie, die per se jeder Historizität enthoben scheint. […] Diese Apodiktik ist nicht nur kulturgeschichtlich fragwürdig; sie ist auch schlichtweg unproduktiv.“ [RITZER, [Rez.] Claudia Pilling, S. 221f.]. 43 KRAFT, Poesie der Idee, S. 11f. 44 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 293. 42

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Gerade Hebbel selbst hat, bei aller analytischen Wachsamkeit, die den Produktionsprozeß begleiten müsse, immer wieder auf einer Parallelität von Dichten und Träumen beharrt.45 Er war sich sicher: „das Bewußtseyn ist nicht productiv, es schafft nicht, es beleuchtet nur, wie der Mond; die Philosophie beweis’t nicht gegen diese Behauptung, denn sie entwickelt Nichts, als sich selbst“, oder anders: „Das Bewußtseyn hat an allem wahrhaft Großen und Schönen, welches vom Menschen ausgeht, wenig oder gar keinen Antheil; er gebiert es nur, wie eine Mutter ihr Kind, das von geheimnißvollen Händen in ihrem Schooße ausgebildet wird“ [T 1496]. Während Kraft in der Poesie die Idee suchte, wählte Heinz Schlaffer einen primär gattungstheoretischen Zugang zum Werk, von dessen – speziell tragischer – Form er die Inhalte abhängig sah. Damit wurde er zum Hauptvertreter einer „heute dominierenden“46 Forschungsrichtung, als die Hargen Thomsen 1992 die „formalistischästhetizistische Deutung der Gegenwart“47 ansah. Schlaffers Interpretation gipfelte in der Aussage: „Die Form Tragödie ist zugleich ihr einziger Inhalt. Was immer als Inhalt sich ausgibt, ist nur das Kostüm der Absicht, die tragische Form zu legitimieren”.48 Damit stellte Schlaffer jede vom Inhaltlichen oder gar Biographischen ausgehende Deutung radikal in Frage. Denn er meinte: „Ausgewählt allein im Hinblick auf die tragische Form, verliert der Inhalt von Hebbels Tragödien den Charakter konkreter Inhaltlichkeit und geht in bloße Fomalität über”.49 Das bedeutete jedoch nicht die Negierung des Inhaltlichen überhaupt – zugunsten einer dann „sinnentleerte[n] Form“, wie Thomsen glaubte50 – sondern lediglich ihre Neubewertung aus einer durchaus geschichtsbewußten Perspektive: „Vorgeschichtlich und mythisch” nennt das Vorblatt zu Gyges und sein Ring die Handlung. Diese historische, genauer: prähistorische Bestimmung könnten mit gleichem Recht alle Tragödien Hebbels tragen, denn wo nicht die sagenhafte Frühe eines Königsreichs Lydien den Schauplatz stellt, ist er durch archaische Tradition auch in historischer Zeit charakterisiert, handle es sich um das vorchristliche Palästina (Judith, Herodes und Mariamne), die dunkle Epoche der Völkerwanderung (Die Nibelungen) oder ein legendäres Mittelalter wie in Genoveva, deren Zeit summarisch „die poetische” heißt.51

Anders als Kraft hielt Schlaffer nicht den direkten ideellen Bezug auf die Gegenwart Hebbels für entscheidend, sondern gerade die Tatsache, daß „Ort und Zeit der Hebbelschen Dramen möglichst weit von der Gegenwart abgerückt sind“. Dies aber sei „keine Äußerlichkeit, keine bloße Frage der Kulisse, sondern innere Bedingung des tragischen Aufbaus“, da „archaische Motive das Unheil aus[lösten]“. Doch was bedeutete dies konkret für den Gesamtzusammenhang von Form und Inhalt des Dramas? Vgl. z. B. T 1265, T 1585, T 4188. Zu Nachbarschaft von ‚Genie‘ und ‚Wahnsinn‘ vgl. etwa T 1570. 46 THOMSEN, Grenzen des Individuums, S. 56. 47 Ebd., S. 55. 48 SCHLAFFER, Friedrich Hebbels tragischer Historismus, S. 131. 49 Ebd., S. 132. 50 THOMSEN, Grenzen des Individuums, S. 56. 51 Dieses und die folgenden Zitate: SCHLAFFER, Friedrich Hebbels tragischer Historismus, S. 121. 45

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Hebbels „Willen zur unbedingten Tragödie“52 mußte laut Schlaffer notwendig mit dem „zeitgenössischen Bewußtsein“53 kollidieren, denn in ihm habe Hebbel „eine Denkweise, die der Form wie den inhaltlichen Implikationen der Tragödie nicht günstig gesonnen ist“, erkannt. ‚Aufklärung‘ müßten wir dieses gemiedene Prinzip eines untragischen Lebens bereits aus dem entschiedenen Gegensatz zu dem dunkel-dumpfen Milieu nennen, in das Hebbel die Figuren seiner Stücke einsperrt […]. Aufklärung erkennt die prinzipielle Veränderbarkeit aller Verhältnisse und hält die Vernunft zu deren konkreter Veränderung an.

Für seine Tragödie benötige Hebbel dagegen „eine mythische Welt strikter Schicksalhaftigkeit“,54 die von ihrer Funktionalisierung allerdings auch inhaltlich umgeprägt würde. Denn für die alte Tragödie hatte der Mythos „als mächtiger, rätselhafter Hintergrund insgesamt Geltung, Hebbel verabsolutiert einzelne, genaue Archaismen, mit Vorliebe solche, die rudimentär noch in der modernen Gesellschaft weiterleben”. Insgesamt sei dadurch „nicht der Zusammenhang einer genuin mythischen Welt wirksam, sondern die eigene – wenngleich negierte – Zeit des mythologisierenden Tragikers.”55 So lebe Hebbels Tragödie „wesentlich aus der Konstellation des Historismus: d. h. aus der reflexiven Zuwendung zu einem prinzipiell Vergangenen und seiner Wiederholung in einer vollständig differenten Gegenwart“.56 Schlaffer folgerte: „Was Ursprünglichkeit vorgibt, wird so zur Ideologie“. 57 Wenn Kraft sein Hebbel-Bild auf die Formel einer „Poesie der Idee“ brachte, ließe sich im Sinne Schlaffers also von einer ‚Poesie der Ideologie‘ bzw. ‚der Mythologie‘ sprechen. Damit führte Schlaffer einige der Impulse Martinis entscheidend weiter, auch wenn der Geltungsanspruch seiner Deutung überzogen sein mag. Sprach bereits Martini von einem Leben Hebbels „gegen die Zeit“, so stellte Schlaffer die anachronistische Struktur als ein Grundprinzip von Hebbels Werken heraus. Auch Martinis Hinweis auf Hebbels durchgängigen „mystischen“ Einschlag griff er vertiefend auf. Gegen die lange vorherrschende und von Kraft erneuerte Deutung Hebbels als ‚Ideendichter‘ wies er auf die Bedeutung von Mythos und Archaik hin und bezog ausdrücklich auch Hebbels Gegenwartsdramatik in diese Sicht mit ein: Denn derartige „Motive dominieren noch in der angeblich aktuellen Maria Magdalene: ihre Personen sind in Analphabetismus, Bigotterie, Aberglauben, Sündenangst und starren Moralbegriffen Ebd., S. 134. Dieses und die folgenden Zitate: Ebd., S. 122. 54 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 128. 55 Ebd., S. 130. 56 Ebd., S. 126. Ähnlich äußerte sich Horst Albert Glaser: „Die ökonomische Misere ländlicher Handwerker, die paternalistische Struktur ihrer Familien und die protestantische Sexualmoral […] konnten um die Mitte des 19. Jahrhunderts kaum noch metaphysische Legitimität beanspruchen. Daß sie historisch zwar obsolet, bloße Äußerlichkeit des Daseins geworden waren, aber dennoch die Macht substantieller Verhältnisse übers Leben der Individuen ausübten, hat Hebbel in seinem philosophischen Systemzwang, dessen paranoide Züge heute unübersehbar sind, dazu genötigt, die individuelle Handlung des Dramas als Symbol für die ‚allgemein menschliche‘ zu dekretieren“ [GLASER, Hebbels Dramen und Dramentheorie, S. 330]. 57 SCHLAFFER, Friedrich Hebbels tragischer Historismus, S. 130. 52 53

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gefangen, also in einem Zustand, der die Struktur einer überholten Frühzeit in die Gegenwart fortführt“.58 Doch mit der Bewertung solcher Inhalte als ‚überholt‘ decouvriert sich die scheinbar deskriptive Aussage als normatives Urteil. Zu Recht hielt der mit der Sozialgeschichte vertraute Ludger Lütkehaus dagegen: „Die Verdikte der Hebbel-Kritiker übersehen in der Regel die Hartnäckigkeit dieser Traditionen und die Weite ihres Geltungsbereichs.“59 So zeigte sich an Schlaffers primär poetologischem Ansatz beispielhaft auch die Begrenztheit dieser Methode. Die „Archaik der Gegenwart“ hielt er für einen reinen Kunstgriff; sie sei „außerhalb des zeitgenössischen Bewußtseins“ angesiedelt. Insofern galten ihm die Träger eines solchen archaischen Bewußtseins nur als „pathologische[…] Helden“60 – ihn focht nicht an, daß diesen dann „von Judith an fast alle tragischen Personen bei Hebbel zuzuzählen“ seien. Aber, so Schlaffer, dies sei „bestenfalls die Tragik der Figur, nicht die des Dramas, dem Pathologie ja kein objektives Gesetz sein kann”. Daß diese „Pathologie“ auch wichtige Aspekte der Autorpersönlichkeit bzw. der sozialen Wirklichkeit betreffen könnte, zog Schlaffer nicht in Betracht; ihre Schilderung verdanke sich stattdessen allein den „psychologischen Kenntnisse[n] des modernen Dramatikers“.61 Weit erhaben über die subjektive Befangenheit bzw. „Pathologie seiner Helden“, schaffe er das Drama nach einem „objektive[n] Gesetz“. 62 Schlaffers poetologischer Ansatz konnte die Psyche des Dichters selbst nicht mehr erreichen und räumte dem Unbewußten als kreativem Impuls eine nur geringe Geltung ein. Doch ginge es Schlaffer allein um eine „formalistische“ Deutung, wie Thomsen argwöhnte, so hätte er wohl nicht als ein ideologisches Verfehlen der Gegenwart gekennzeichnet, daß Hebbel den Stoff seiner Tragödien nach den Erfordernissen der Gattung modelte. Merkwürdigerweise aber wurde dieses Manko konstatiert, bevor es verstanden wurde: „Aber noch das Verfehlen will verstanden sein; Analyse und Kritik müssen deshalb noch eine Antwort auf die Frage finden, was den Autor dazu brachte, sich lieber in solche Widersprüche zu begeben als auf die Tragödie zu verzichten“. Neben dem ‚formalistischen‘ muß gewissermaßen induktiv ein weiterer Bewertungsmaßstab eingeführt werden, um solch offensichtliche Widersprüche begreiflich zu machen. Auch Schlaffer schwenkt daher auf eine ideologiekritische Haltung ein, indem er Hebbel in den historischen Kontext einer konservativ gestimmten Restaurationszeit einordnet: Diesen politischen Konservativismus, in dessen feudalen Grundton bald das vom Proletariat bedrohte Bürgertum einstimmt, begleitet eine Kunst- und Literaturproduktion, die bewußt den Blick auf die problematische Gegenwart verstellt und mit Hilfe des ästhetischen Scheins Restauration nicht nur als wünschenswert, sondern als bereits gelungen darstellt, so daß Vergangenheit ewige Gegenwart zu haben scheint. Diese historisierende und heroisierende

Ebd., S. 122. LÜTKEHAUS, Friedrich Hebbel. Maria Magdalene, S. 98. 60 Dieses und die folgenden Zitate: SCHLAFFER, Hebbels tragischer Historismus, S. 134. 61 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 135. 62 Ebd., S. 134. 58 59

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Kunst des 19. Jahrhunderts gewinnt nicht im Ausdruck der, sondern im Unterschied zu den gesellschaftlichen Bedingungen ihre Existenz.63

Dieser sehr globalen ideologischen Einreihung von Hebbels Dramenwerken in „die historisierende und heroisierende Kunst des 19. Jahrhunderts“ trat Ludger Lütkehaus mit guten Argumenten entgegen. Ihm schien es durchaus „nicht ausgemacht, daß Tragödie und tragisches Weltbild den gegenwärtigen geschichtlich-gesellschaftlichen Zuständen notwendigerweise ihren düsteren Segen spenden: Es gibt bequemere konservative oder auch liberalistische Mythologien.“64 Darüber hinaus kehrte Lütkehaus die zeitlichen Zuordnungen gerade um: „Die historische Regression auf tragödienträchtige Archaik findet nicht nur in Hebbels direkter Darstellung des gegenwärtigen Weltzustandes ihre Grenze; auch die historischen und mythologischen Dramen verweigern sich ihr, indem sie indirekte Gegenwartsdarstellung, also gerade keine ‚zurückgebliebene‘ Archaik, repräsentieren“. Stimmt dies, dann war der „gegenwärtige Weltzustand“ zu Hebbels Zeit offenbar viel stärker durch gegenläufige Tendenzen von Archaik und Fortschritt gebrochen, als sich aus historischer Distanz erahnen läßt. Die Grundthese von Herbert Kaisers Hebbel-Monographie liest sich zunächst wie eine Reformulierung der Ergebnisse Schlaffers – unter Rückgriff auf die zentrale Vokabel Arno Scheunerts: Hebbels „Pantragismus“, so Kaiser, „läuft letztlich auf eine Ästhetisierung der Welt hinaus; diese ist geschichtlich wahr und zugleich ideologisch; ihre wesentliche Konsequenz ist, daß Geschichte im Leben, Handeln im Mythos untergeht“.65 Doch im Gegensatz gerade zu Schlaffer galt Kaisers Interesse den handelnden Figuren, was auch auf methodischer Ebene eine Verlagerung bedingte: „Der Zusammenhang von Individuation, Wille und Handeln läßt sich vom Willen her sowohl personalistisch und psychologisch als auch gesellschaftlich interpretieren”.66 Die Arbeiten Krafts und Schlaffers hatten letztlich die Fortführung eines gängigen Interpretationsmusters bedeutet, das werkimmanente Analyse und geistesgeschichtliche bzw. ideologiekritische Einordnung zu verbinden suchte. Kaiser formulierte dagegen: Gerade im Falle Hebbels scheint mir Skepsis geboten bei dem Versuch, aus den Momenten seiner geistigen Entwicklung eine Erklärung seines Weltbilds und seines „historischen Orts” zu entwickeln; denn die positiv nachweisbaren Einflüsse auf das Denken Hebbels bleiben letzlich nur Momente, die er in der primären Lebenserfahrung und seinem Weltbild als dem

Ebd., S. 136. Heinz Stolte teilte diese Ansicht nicht. Angesichts des bis in die Gegenwart anhaltenden Bühnenerfolges von Hebbels Gyges und sein Ring schrieb er: „Das ist paradox und verblüffend; denn es geht ja allem Anscheine nach darin um Lebensfragen einer längst abgetanen Welt, einer fast mythischen Frühzeit. Aber die seit jeher geübte Kunst, seine Menschen ins ‚Brechen der Weltzustände‘ zu stellen, in das Zwielicht weltgeschichtlicher Übergänge, auf die Grenze zwischen Altem und Neuem, sie hat ihn gerade hier zu einer tiefsinnigen Symbolik ermächtigt, die zeitlos gültig erscheint“ [STOLTE, Friedrich Hebbel. Leben und Werk, S. 61]. 64 Dieses und das folgende Zitat: LÜTKEHAUS, Hebbel in historischer Sicht, S. 18. 65 KAISER, Friedrich Hebbel, S. 8. 66 Ebd., S. 18. 63

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Allgemeinen und Umfassenden ebenso aufgehen läßt wie seine Individuen in der indifferenten Totalität des tragischen Lebens.67

Stärker noch als Martini betonte Kaiser damit den Zusammenhang zwischen der „Totalität des tragischen Lebens“ im Drama und dem tragischen Weltbild Hebbels. Dieses entwickle sich „aus dem Wechselspiel von Biographie und Kunst, von reflektiertem Leben und dramatischem Schaffen. […] Die enge Beziehung von Drama und Leben läßt sich also zunächst einmal biographisch erschließen – was nicht heißt, sie gehe im Persönlichen auf.“68 Mit der Einbeziehung der Biographie verband sich eine deutliche Relativierung der Bedeutung philosophie- und geistesgeschichtlicher Erklärungsansätze: „Bildungseinflüsse aus Philosophie und Literatur werden letztlich nur so weit wirksam, wie sie in die eigene Lebenserfahrung integrierbar erscheinen.“ Kaiser beschrieb die Grundsituation des Hebbelschen Individuums als doppelgestaltig: Maßlose Individuation, deren blinde Naturhaftigkeit regelmäßig durch Leidenschaften: erotisches oder anderes affektiv-irrationales Begehren dargestellt wird, bleibt grundsätzlich verbunden mit ihrem scheinbaren Gegenteil: ichloser Hingabe ans Bestehende, meist als Herrschaft oder Dienst erscheinend.69

Gemeinsam sei beiden Ausprägungen das Naturhafte, die „reflexionslose Bindung“, die Zugehörigkeit des Handelns oder Duldens zum „Bereich des Triebs, nicht der Ethik“. In diesen Verhaltensweisen sah Kaiser die „wesentlichen Momente blinden, mythischen Handelns“.70 Damit knüpfte er eine Verbindung von dem von Martini und Schlaffer betonten mythischen Element zur Psychologie der Figuren. Hier hätte ein alltags- bzw. mentalitätsgeschichtlich fundierter Vergleich mit Hebbels Umfeld in der Wesselburener Zeit Korrespondenzen mit realen Verhaltensweisen aufdecken können. Kaiser löste jedoch sein Versprechen, auf Hebbels „Lebenserfahrung“ zurückzugreifen, nicht ein, sondern setzte auf eine geschichtsphilosophische Interpretation. Natürlich konnte er sich auf Theorien Hebbels berufen, wenn er meinte, die Individuen unterstünden einem „‘Weltgesetz‘ der Selbstaufhebung aller Individuation durch ihre notwendige Maßlosigkeit“ und seien „somit bewußtlose Agenten ihres Todes, letztlich nichts als an sich bedeutungslose Partikel der Totalität“. Doch war diese Präferenz der ‚Theorie‘ gegenüber dem ‚Leben‘ recht einseitig, vor allem, wenn Kaiser einerseits die „auffallende geschichtsphilosophische Ratlosigkeit der Hebbelschen Dramenschlüsse“ keineswegs entging und anderereits das Leben bis zur „Selbstaufhebung“ bedeutungslos wurde. Kaiser unterstellte Hebbel „sittliche[…] Indifferenz in der Anlage der Handlung“, ein Vorwurf, den dieser wohl ebenso wenig akzeptiert hätte, wie den, daß seine tragische Versöhnung einer „Vernichtungsästhetik”71 folge und „keine humane, utopische Qualität“72 besäße. Bereits Klaus Ebd., S. 8. Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 145. 69 Dieses und die folgenden Zitate: Ebd., S. 168. 70 Dieses und die folgenden Zitate: Ebd., S. 169. 71 Ebd., S. 11. 67 68

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Harro Hilzinger kritisierte an dieser Interpretation, daß die den Dramen „immanenten Andeutungen möglicher Evolution“ kein Gewicht erhielten,73 und monierte generell die fehlende Vermittlung „der nur begrifflichen Konstruktion“ mit einer Interpretation der „Dramen in ihrer je eigenen Konkretheit“.74 Darüber hinaus drohte Kaisers Deutung gegenüber Hebbel selbst anachronistisch zu werden, indem er dessen geistesgeschichtlichen Standort nicht etwa als archaisch, sondern als geradezu prophetisch einschätzte. So stellte er dessen „Ästhetik der Subjektvernichtung […] in die von Schopenhauer ausgehende Entwicklung einer Erlösungsphilosophie, die das bürgerliche Bewußtsein bis tief ins 20. Jahrhundert bestimmt hat.”75 In den Figuren sah er Nietzsches „Willen zur Macht“76 am Werk, dessen Strukturen sich „geschichtlich im Imperialismus des ausgehenden Jahrhunderts verwirklichen“. Kaisers Buch schloß mit der fulminanten These: Die ästhetische Indifferenz des Tragischen als Lebensform, die von der Jahrhundertmitte, von Hebbel und Vischer ausgehend, in Nietzsche kulminiert, hat ganz wesentlich zur inneren Vorbereitung auf den Ersten Weltkrieg beigetragen. […] Der spätere Propaganda-Heroismus des Nationalsozialismus […] entwickel[t] sich aus den hier skizzierten Strukturen des Willens, des Schicksals und des Spiels, in deren Entstehungszusammenhang im 19. Jahrhundert Friedrich Hebbels Tragödie gehört.77

Auf diese Weise verselbständigte sich Kaisers Interpretation gegenüber dem biographisch orientierten Ausgangspunkt, um sich gleichfalls in die ideologiekritischen Arbeiten einzureihen. Wesentlich vorsichtiger war dagegen Lothar Ehrlichs Versuch, Hebbel zwischen Klassik und Moderne zu verorten und aus literarhistorischer Sicht als widersprüchliche Einheit zu beschreiben: „Christentum, Staat und Sitte – das sind die zentralen Kategorien des Hebbelschen Denkens und Dichtens, ohne daß die immanenten Widersprüche bei der Humanisierung der Welt auf der Grundlage dieser Wertvorstellungen aufgehoben wären. Der moderne gesellschaftliche Probleme aufgreifende Dichter stellt sich als ein zutiefst der Tradition verpflichteter Mensch dar“.78 Zu dieser inhaltlichen Bestimmung von Hebbels literaturgeschichtlichem Standort trat als zweites Element die kontradiktorische Struktur der Werke selbst. Hebbels „Stellung zwischen Klassik und Moderne“ ist demnach „vor allem durch Unentschiedenheit und Mehrdeutigkeit, ja Rätselhaftigkeit und permanentes – unaufgelöstes und nicht aufzulösendes – Schwanken zwischen Tradition und Innovation charakterisiert.“79 Ob die strukturelle Kategorie der „Mehrdeutigkeit“ ohne weiteres als (literatur)geschichtliche zu interpretieren ist bzw. mit literaturgeschichtlichen Kategorien erklärt werden kann, Ebd., S. 169. HILZINGER, [Rez.] Herbert Kaiser, S. 152. 74 Ebd., S. 153. 75 KAISER, Friedrich Hebbel, S. 171. 76 Dieses und das nächste Zitat: Ebd., S. 192. 77 Ebd., S. 193. 78 EHRLICH, Hebbel zwischen Klassik und Moderne, S. 16. 79 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 17. 72 73

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oder ob solche Entsprechungen etwa auf gemeinsame tieferliegende Ursachen zurückzuführen sind, wäre allerdings erst genauer zu untersuchen. Die poetologisch orientierte Forschung erreichte ihren bisherigen Höhepunkt80 1989 in der Apologie der Tragödie Hartmut Reinhardts, einer „Analyse der Hebbelschen Dramatik unter dem Gesichtspunkt der Formlegitimation”.81 Diese Arbeit vertiefte den theoretischen Ansatz Schlaffers: Während dieser den „Willen zur unbedingten Tragödie“ als mit Hebbels Persönlichkeit gegeben hinnahm, fragte Reinhardt nach einer innerästhetischen Legitimation von Hebbels dramatischer Disposition. Für ihn kam Hebbels Drama „als traditionalistisch-theoretisch vermittelte Form nicht aus dem Ursprung der Subjektivität“,82 sondern war einer „ästhetischen Teleologie unterstellt“. Als Grund für Hebbels gattungspoetische Strenge nannte er dessen „Befürchtung […], daß das Drama sein ästhetisches Privileg verlieren“ würde.83 Denn schon zur Mitte des 19. Jahrhunderts war der Roman – mit Gustav Freytag – „die herrschende Gattung der Poesie geworden“. Solchen „Umwertungen der literarischen Gattungen“, so Reinhardt, setzte Hebbel „reaktiv sein Beharren auf dem Führungsanspruch des ‚reinen‘ Dramas entgegen.” Daß bei Hebbel dabei „die Theorie des Tragischen zum ästhetischen Maß des Dramas geworden ist“,84 bewertete Reinhardt einerseits als Absetzbewegung von „Rührstück-Fabrikation und Tendenz-Literatur“, andererseits als Ausdruck einer anachronistischen ästhetischen Prägung: Er hat sich die „Tradition”, die ihm nicht „mitgegeben” war, eben auf theoretischem Wege verschafft, nämlich über die Rezeption der spekulativen Ästhetik. Daher konnte die Nötigung zu formschöpferischer Initiative für Hebbel gar nicht aufkommen, wohl aber mußte sich aus der Opposition zum zeitgenössischen Bewußtsein eine Legitimationsforderung erheben.85

Mit Blick auf die Inhalte wollte Reinhardt die Anachronismus-These Schlaffers jedoch nicht gelten lassen. So kritisierte er: Daß „zu den archaischen Konstellationen immer auch aktuelle Bezüge gehören, daß gerade die großen historischen Tragödien eine persönlich-intime Problematik bewahren, wird [von Schlaffer] nicht zugegeben. Ein Drama wie Agnes Bernauer kann nur flüchtig im Blick sein, wenn mit aller Bestimmtheit die Meinung vertreten wird, ‚mittelalterlicher Hexenwahn‘ löse hier das Unheil aus.”86 Allerdings ging diese Kritik insofern an Schlaffer vorbei, als dieser selbst, etwa in der Maria Magdalena, keinen prinzipiellen Unterschied zwischen einer „Archaik der Frühe“ und einer „Archaik der Gegenwart“ machte. Die synthetische Schlußfolgerung aus dieser Kontroverse könnte darin bestehen, daß – neben aller inhaltlichen Modernität –

Vgl. KREUZER, Einleitung, S. 14; STOLTE, Literaturbericht 1989, S. 144–146; THOMSEN, Grenzen des Individuums, S. 57. 81 REINHARDT, Apologie der Tragödie, S. 63. 82 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 23. 83 Dieses und die folgenden Zitate: Ebd., S. 37. 84 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 36. Hervorhebung C. S. 85 Ebd., S. 64. 86 Ebd., S. 65. 80

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auch die „Archaik“ als „persönlich-intime Problematik“ Hebbels zu interpretieren wäre. Ähnliches gilt auch für den Gesellschaftsbezug Hebbels: Wenn Reinhardt meinte, an den „‘Andern‘ […] und nicht mehr an den großen Individuen richtet sich das Zeitbewußtsein aus“,87 wodurch ein „geschichtlicher Wandel vom Aristokratismus zum Demokratismus“ zum Ausdruck komme, so wäre demgegenüber genau zu prüfen, ob und inwiefern „jener Kollektivismus“ bzw. die „Depotenzierung des Individuums […] in Gruppenbindungen“ nicht vielmehr ein Merkmal gerade archaischer Gesellschaften bis an die Schwelle von Hebbels Gegenwart gewesen war. An solchen Problemen der Einordnung wird deutlich, daß die Fragen nach dem ideologischen Charakter der möglichen Anachronismen in Hebbels Werken unbedingt einen genaueren historischen wie biographischen Zugriff erfordern – auch dann, wenn diese Inhalte schon thematisch in archaischer und mythischer Zeit angesiedelt sind. Von der Poetologie ausgehend, versuchte 1995 Ludwig Stockinger, Friedrich Hebbels Selbstverständnis als moderner Schriftsteller zu deuten. Ausgangspunkt war dabei wiederum die Erkenntnis von Hebbels unzeitgemäßer Haltung als Dramatiker: „Hebbel setzt ja auf eine überlieferte, als vormodern ausgemusterte Form und auf die Möglichkeit, ihr den streitig gemachten Platz als zentrales Medium der Verständigung über die Wahrheit zu bewahren oder wieder zurückzuerobern.“88 Stockinger wandte sich allerdings gegen den „in der Forschung der achtziger Jahre“ angebahnten „Konsens“, daß man „diese Entscheidung […] als Versuch einer Rechtfertigung der Tragödie als Kunstform in der modernen Gesellschaft gegen die Einwände, die in der Philosophie von Hegel gegen sie erhoben“ wurden, deuten könne. Für ihn stellte sich nämlich die grundsätzliche Frage, wie man die Entscheidung für ein so anspruchsvolles Konzept als Programm für die Lebensarbeit als Künstler treffen und durchhalten konnte. Es geht ja darum, mit der eigenen Arbeit als Dramentheoretiker und Dramenautor die These des führenden Philosophen der Zeit von der Bedeutung der Kunst in der modernen Gesellschaft im Alleingang zu widerlegen.89

Für Stockinger wurzelte diese ‚Lebenshaltung‘ in einer „frühen, schon in der Zeit in Wesselburen ausgebildeten Identität als Schriftsteller und Künstler“, an der Hebbel zeit seines Lebens festgehalten habe. Damit ging Stockinger einen neuen Weg. Sein Aufsatz war vor allem deswegen bemerkenswert, weil er in poetologischer Hinsicht Hebbels Wesselburener Zeit als prägend auffaßte und nach ihren kulturgeschichtlichen Determinanten fragte: Welche Rollenangebote standen Hebbel in der Phase der sehr wirksamen Identitätsbildung vor 1835 zur Verfügung und zur Auswahl, wenn er sich in seiner Selbstidentifikation als Künstler beschreiben und gegenüber anderen Subjekten darstellen wollte? Welche Quellen

Dieses und die folgenden Zitate: Ebd., S. 31. Dieses und das folgende Zitat: STOCKINGER, Künstler nach dem „Ende der Kunst“?, S. 96. 89 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 97. 87 88

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waren ihm in der prägenden Phase seiner Jugend in Wesselburen dafür überhaupt zugänglich?90

Allerdings beleuchtete Stockinger selbst nur einen Detailaspekt von Hebbels Wesselburener Akkulturation, indem er sich vor allem das „Brockhaus-Lexikon als Quelle für Hebbels ‚kulturelles Wissen‘ in seiner Jugend“91 untersuchte. Sein Fazit bestätigte interessanterweise die These von einer anachronistischen kulturellen Prägung Hebbels: „Man kann also auch im Hinblick auf eine hypothetisch vorauszusetzende BrockhausLektüre Hebbels von vereinfachter und zeitlich verspäteter Vermittlung von Auffassungen der mittleren Goethezeit ausgehen.“92 Danach habe Hebbel zentrale Positionen der frühromantischen Ästhetik schon nicht mehr rezipiert.93 Stockingers Beispiel war so von literaturwissenschaftlicher Seite aus ein interessanter Schritt hin zu einer Analyse der kulturellen Verhältnisse Wesselburens in ihrer Bedeutung für Poetologie und künstlerische Identität Friedrich Hebbels.

Biographisch und historisch ausgerichtete Arbeiten Die Beobachtung einer breiten, aber gerade in jüngerer Vergangenheit ausgedünnten Hebbel-Sekundärliteratur trifft insbesondere auf biographischem Gebiet zu. Die materialreichste und noch immer nicht ersetzte Biographie Friedrich Hebbels von Emil Kuh stammt aus dem Jahr 1877; in den Jahren 1907 und 1912 erschien sie in zweiter und dritter, jeweils unveränderter Auflage. Letztlich geht sie auf Kuhs Aufsatz Friedrich Hebbel. Eine Charakteristik zurück, die schon zu Lebzeiten des Dichters, im Jahr 1854 erschienen war. Wer sollte auch berufener zu einer solchen Darstellung sein, als Hebbels ‚Jünger‘ und engster Freund der Wiener Jahre, der zudem auch in Hebbels Heimat, bei Wesselburenern und Dithmarschern wie Klaus Groth, fleißig Erkundigungen einholte.94 Doch die Nähe zum Gegenstand impliziert das Fehlen souveräner Distanz. Thomsen bemängelte, „Kuhs über 1000 Seiten starke Biographie geht nicht über eine Beschreibung der Symptome hinaus“,95 und Anni Meetz kam zu dem unmißverständlichen Gesamturteil: „Emil Kuhs Buch genügt heute nicht und hat für wissenschaftliche Ansprüche nie genügt“.96 Aus dem persönlichen Erleben Hebbels schöpften auch die beiden anekdotischen Erinnerungsschriften von Eduard Kulke und Ludwig August Frankl, die sich aber naturgemäß auf die Wiener Zeit beschränkten, sowie die späten, polemisch gefärbten Auslassungen Karl Gutzkows in Dionysius Longinus, der Hebbel in dessen zweiter Hamburger Zeit kennengelernt hatte.

Ebd., S. 100. Ebd., S. 101. 92 Ebd., S. 102. 93 Z. B. die „ironische Selbstrelativierung des Kunstwerks“ [ebd., S. 107]. Vgl. S. 107f. 94 Vgl. dazu: PAULS, Klaus Groth und Emil Kuh’s Hebbel-Biographie. 95 THOMSEN, Grenzen des Individuums, S. 147. 96 MEETZ, Friedrich Hebbel, S. 96. 90 91

Biographisch und historisch ausgerichtete Arbeiten

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Sehr viel zu verdanken hat die Hebbel-Philologie Paul Bornsteins Werken Der junge Hebbel und Friedrich Hebbels Persönlichkeit. Insbesondere zur Wesselburener Zeit (1813 – 1835) sammelte und ordnete Paul Bornstein wertvolles Material, indem er frühe Texte identifizierte und an Hebbels Heimatort Stimmen von Zeitgenossen einholte. Nur wenige weitere Forscher, wie Albrecht Janssen, Karl Reuschel, Johannes Grönhoff, Gustav Biebau und Gerhard Ranft, betrieben meist kleinere Recherchen zu Hebbels unmittelbarem persönlichen Umfeld der Wesselburener Zeit, um die Quellenbasis zu erweitern. Zu diesen Arbeiten, deren besonderer Wert in der Erschließung neuen Materials liegt, treten eine ganze Reihe biographischer Darstellungen, die seit dem allgemeinen Aufschwung der Hebbel-Rezeption um die Wende zum 20. Jahrhundert entstanden. Die in dieser Zeit erschienenen mehrbändigen Hebbel-Ausgaben, z.B. von Hermann Krumm (1892/1910/1913), Karl Zeiß (1899), Adolf Stern (1902) oder Theodor Poppe (1908) enthielten zum Teil umfangreiche lebensgeschichtliche Abrisse, die allerdings über den bereits erreichten Stand nicht hinausgingen. Zeitlich etwas versetzt dazu entstanden Monographien von Adolf Bartels (1899), Richard Maria Werner (zuerst 1905), Anna Schapire-Neurath (1909), Kurt Küchler (1910), Franz Faßbinder (1913), Etta Federn (1920), Karl Strecker (1925), Detlev Cölln (1928) und Josef Magnus Wehner (1938). ‚Originell‘ war an diesen Arbeiten im allgemeinen allenfalls der jeweilige persönliche Blickwinkel, aus dem die Person Hebbels bewertet wurde, oder die Darstellungsform. So lag es allzu nahe, das Leben als ‚Lebens-Geschichte‘ zu erzählen, mit fiktiven Szenen zu illustrieren (Strecker) oder gleich ganze HebbelRomane97 zu schreiben. Gemeinsam ist diesen Formen, daß im allgemeinen eine lineare, ‚eigene‘ Entwicklung Hebbels vorausgesetzt wird, die in hermeneutischer Einfühlung und im Erzählfluß einzuholen ist.98 Widersprüche und Brüche im Leben Hebbels werden dabei eingeebnet oder teleologisch ausgerichtet. Nur vereinzelt gab es dagegen Arbeiten mit einem spezielleren methodischen Zugriff, so etwa die psychologisch vorgehenden Monographien von Isidor Sadger und Friedrich Zieglschmid aus den Jahren 1920 und 1932. Hargen Thomsen hielt sie für weitgehend unbrauchbar: „Sadger […] war zu unbeweglich in sein Dogmen-Korsett gezwängt und Zieglschmid nicht mehr als ein Kompilator des vorhandenen Materials, und beide viel zu sehr in ihrer ‚Schule‘ befangen, als daß sie wirklich auf den Menschen Hebbel hätten eingehen können.“99

Zuletzt: KNAUSS, Ach Elise; vgl. dazu LÜTKEHAUS, Hebbel in historischer Sicht, S. 26. Dies war lange ein erkenntnistheoretisches Problem der Gattung ‚Biographik‘ insgesamt, wie Andreas Gestrich kritisiert: „Denn diese Gattung basierte (und tut es zum großen Teil noch immer) auf der cartesianischen Annahme, daß […] der Biograph durch ‚Intuition‘ und ‚Nacherleben‘ die innere Notwendigkeit der Entwicklung und der Handlungen der beschriebenen Person verstehen und darstellen könne; daß mithin subjektive Erfahrungen und […] Bedeutungen dem Blick des Historikers zugänglich seien. […] Das gerade im Bereich der Biographik betriebene unreflektierte Nacherzählen einer Lebensgeschichte und ihres vermeintlichen Zusammenhanges konnte daher nicht mehr befriedigen” [GESTRICH, Sozialhistorische Biographieforschung, S. 6]. 99 THOMSEN, Grenzen des Individuums, S. 147; vgl. auch: Ders., Patriarchalische Gewalt, S. 18, Anm. 6. 97 98

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Am Ende der dreißiger Jahre riß die Kette der in kurzen Abständen aufeinander folgenden Biographien ab. Erst 1970 erschien die kleine Rowohlt-Monographie Hayo Matthiesens, die seither fast unverändert immer wieder aufgelegt wurde. Heinz Stolte publizierte 1977 ein schmales Bändchen zu Leben und Werk Hebbels, das gleichfalls über Standardinformationen nicht hinausging; die neueren Bücher zum Thema reagierten durch populäre Darbietungsformen auf ein schwindendes Publikumsinteresse: Barbara Wellhausen legte 1988 eine Bildbiographie vor; Hargen Thomsens Lebensbilder und Anekdoten von 1998 bieten Hebbels Lebensgeschichte in leicht genießbarer Häppchenform dar; und Susanne Bienwalds 2008 erschienenes Büchlein über Friedrich Hebbel und Hamburg zeichnet, insbesondere im Abriß der Wesselburener Zeit, in flotter Schreibe zumeist altbekannte Positionen nach. Das weitgehende Fehlen innovativer und ausführlicher Arbeiten zur Biographie Hebbels in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg mag mehrere Gründe haben. Die Lage der wissenschaftlichen Biographik war generell „lange Zeit desolat“100, wie Andreas Gestrich feststellte: Dem großen öffentlichen Interesse an Biographien stand eine schwindende Bereitschaft vor allem der jüngeren Historiker gegenüber, sich theoretisch und praktisch mit diesem Genre zu befassen. […] Statt einzelner Ereignisse, persönlicher Individuen […] sollten Massenphänomene und überindividuelle gesellschaftliche Strukturen und Prozesse nach dem Vorbild und unter Zuhilfenahme der systematischen Sozial- und Wirtschaftswissenschaften untersucht werden.

Gestrich sprach gar vom „Verschwinden der Biographik in dieser neuen sozialgeschichtlichen Forschung”. Doch auch die Literaturwissenschaft wandte sich weitgehend von der scheinbar wenig interessanten Gattung ab – völlig zu Unrecht, wie Friedrich Sengle betonte: „Die herrschende Meinung, ein Lebenslauf sei eindeutig und nur das Werk bedürfe der Interpretation, ist ein Irrtum“.101 Gerade die Kompetenz des Literaturwissenschaftlers als Textinterpreten muß demnach neben die des Sozialwissenschaftlers treten – vor allem, aber nicht nur bei Schriftsteller-Biographien. Im Fall Hebbels traten weitere Faktoren hinzu. Das Quellenmaterial schien weitgehend ausgeschöpft, und speziell die Hebbel-Biographik war durch eine Richtung belastet, die nicht nur in Schleswig-Holstein dominierte und die im Kontext des ‚Dritten Reichs‘ bedenkliche Züge annahm. Während die Literaturwissenschaft der ersten Lebenshälfte Hebbels schon aus Mangel an autobiographischen Zeugnissen102 wie poetischen Erzeugnissen kaum Aufmerksamkeit entgegenbrachte, wurde das ‚heimatliche Feld‘ gerade von solchen Autoren mit Vorliebe beackert, die von Lokalpatriotismus und volkskundlichem Interesse inspiriert oder aber von Heimatkunstbewegung, „völkischem“ oder gar „nordischem“ Gedankengut geleitet waren. Mit Recht hat Hargen Thomsen Vertretern dieses Ansatzes eine ebenso prätentiöse wie schema-

Dieses und die folgenden Zitate: GESTRICH, Sozialhistorische Biographieforschung, S. 5. SENGLE, Zum Problem der modernen Dichterbiographie, S. 25. 102 Die erhaltenen Tagebücher setzen erst am 23. März 1835 ein. 100 101

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tische Argumentation vorgeworfen. Treffend ist seine Analyse eines der „unzähligen Aufsätze“103 von Adolf Bartels: Zunächst gibt er einige Stimmungsbilder aus Hebbels Heimat, beschreibt die Wesselburener Kirche und schwenkt von hieraus auf Hebbel selbst über, der „gar nicht anders zu denken [ist] wie als Dithmarscher”, und Dithmarscher repräsentieren „am reinsten germanische Art”. Folglich ist Hebbel der germanischste unter den deutschen Dichtern, und Hebbels Eigenart wie auch seine Dichtung erklären sich aus dem Volkscharakter der Dithmarscher.

Die klischeehafte und oft übel-rassistische Propagandistik eines Adolf Bartels sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich jenseits rhetorischer Phrasenhaftigkeit auch respektable Forscher um sensible Einfühlung in dieser Richtung bemühten. So beschrieb etwa auch Richard Maria Werner, der Herausgeber der noch heute maßgeblichen historisch-kritischen Gesamtausgabe, Hebbel als „rauh und knorrig, wie ein alter Nordlandsrecke, dabei kindlich und naiv, wie ein Primitiver, ursprünglich in Fühlen, Phantasie und Begabung, aber gemildert durch ein reiches Kulturleben”.104 Diese Richtung, die keineswegs mit dem Jahr 1945 verschwand, wandte sich auch gegen die lange herrschende philosophische Interpretation Hebbels als eines ‚denkenden Dichters‘, wenngleich mit unzureichender Argumentation. So schrieb Detlef Cölln 1949: Leider haben Hebbels Deutungen seines Dichtens Anlaß zu Fehldeutungen gegeben, auch zu der verhängnisvollen, daß seine Dramen entstanden seien auf Grund einer Theorie. Sie sind aber nicht „konstruiert”. Seine Helden sind Entfaltungen von Wesensgründen, die in seiner dithmarsischen Seele lagen.105

Diese Deutungsweise Hebbels verdient nicht zuletzt deswegen eine genauere Betrachtung, weil sie sich auf Hebbel selbst berufen konnte. Dieser hatte in einer Selbstdarstellung 1852 an Arnold Ruge geschrieben: „Ich läugne nicht, ich bilde mir auf meinen Volksstamm etwas ein“ [WAB 2, 548], und im gleichen Jahr bemerkte er gegenüber Saint-René Taillandier: „Von vielen characterisirenden Bemerkungen, die ich über mich lesen mußte, schien mir die eine, oft wiederholte, dass sich in mir die negativen, wie die positiven Eigenschaften meines Volksstamms treu abspiegelten, am meisten begründet“ [WAB 2, 525]. In der Tat blieb Hebbel „lange genug in dem Lande, um mich von allen seinen Elementen durchdringen zu lassen“ [WAB 2, 548], und zwar in einer „Abgeschlossenheit von der ganzen Welt“ [WAB 2, 549], deren „Vortheile“ er erst später erkannt habe: „Ich bin der Meinung, daß Nichts den ursprünglichen Kern, den man mir zugesteht, so zusammen gehalten hat, als jene Einsamkeit“ [WAB 2, 549]. Dieses und das folgende Zitat: THOMSEN, Grenzen des Individuums, S. 38. In geballter Penetranz ist Bartels’ Gedankengut versammelt in: BARTELS, Rasse und Volkstum; vgl. speziell auch: Ders., Friedrich Hebbel, der Ditmarsche [sic!]. Zur Hebbel-Rezeption in der Zeit des Nationalsozialismus vgl. NIVEN, The Reception of Friedrich Hebbel. 104 WERNER, Einleitung des Herausgebers, W 4, XIII. 105 CÖLLN, Friedrich Hebbel und seine Heimat, S. 91. 103

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Diese Gedanken wurden vor allem in Schleswig-Holstein – zumal innerhalb der 1926 gegründeten Hebbel-Gemeinde – begierig aufgenommen. Deren Mitbegründer und langjähriger Sekretär Detlef Cölln schrieb: „Die Ursache des eigenen Gepräges liegt in der geschichtlichen Entwicklung Dithmarschens, die von der der übrigen holsteinischen Gaue völlig abweicht. Noch vor einem Jahrtausend lag Dithmarschen fast inselartig abgeschlossen”, 106 und noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts habe es „in streitfertiger Abneigung gegen alles Nichtdithmarsische ein Sonderdasein geführt“.107 Diese Sichtweise basierte auf einer im Grund ‚geschichtslosen‘ Auffassung von Geschichte. Erst das Jahr 1848 bedeutete für Cölln eine Zäsur von grundsätzlicher Bedeutung, nämlich den „Anfang der Althergebrachtes zerstörenden, der alles nivellierenden neuen Zeit.”108 Auch Friedrich Pauly, Landrat von Süderdithmarschen, sah im Jahr 1848 den Zeitpunkt, an dem „Dithmarschen, am Schleswig-Holsteinischen Kriege beteiligt, seine bisherige Abgeschlossenheit einbüßte; damals drangen neue wirtschaftliche und politische Ideen ins Land“.109 Kein lineares Zeitverständnis lag dieser Geschichtssicht zugrunde, sondern das exakte Gegenteil: Das Jahr 1848 markierte einen Umschlagspunkt, eine „Zeitenwende“, wie sie auch in Hebbels Dramen immer wieder anzutreffen ist. Deren punktuelle Fixierung ist natürlich mehr als zweifelhaft; interessant an dieser Sicht ist allerdings, daß hier der Übergang zu einer neuen Zeit bzw. Zeitrechnung in den Blick kam, mit der Historizität überhaupt erst ‚erfunden‘ wurde – gegenüber einer alten Zeit, die gerade durch eine Orientierung an ‚zeitlosen‘ Traditionen geprägt war: „Mehr als andere niedersächsische Stämme haben dithmarsische Bauern, Handwerker und Tagelöhner [...] niedersächsische Art und Sitte erhalten“,110 wozu auch die „Idee der Ehre“111 gehört habe. Der 1813 geborene Hebbel wuchs demnach in einer ‚vor-geschichtlichen‘ Zeit auf – ein Gedanke, der zunächst befremdet, der aber unversehens Schlaffers Begriff einer „Archaik der Gegenwart“ eine neue, ‚aktuelle‘ Bedeutung verleiht. Hier wurde offenbar bereits etwas erfaßt, was von den französischen Annales-Historikern mit Phänomenen der „longue durée”112 bzw. von der heutigen Mentalitätsgeschichte mit dem Begriffspaar von „traditionaler“ und „moderner“ Mentalität umrissen wird. Freilich wurde diese Konzeption von Zeit und Geschichte zusätzlich ideologisch überhöht. Friedrich Pauly sah in einem anachronistischen Zeitgefühl das – positiv bewertete – „Wesen“ nicht nur Friedrich Hebbels, sondern auch seiner Landsleute Klaus Groth und Claus Harms: Sie stemmten sich alle drei dem modischen Zeitgeist entgegen, besannen sich auf alte Heiligtümer und ließen sie in neuem wundersamen Glanz erstrahlen; so waren sie getreu dem

CÖLLN, Friedrich Hebbel und seine Heimat, S. 83. Cölln war bis 1959 Sekretär der 1941 umbenannten Hebbel-Gesellschaft. Schon bei der Eröffnung des Hebbel-Museums 1911 hatte der Kieler Professor Hermann Krumm der Festversammlung zugerufen: „Lassen Sie es Heimats- und HebbelMuseum zugleich sein!“ [KRUMM, Zum 18. März 1911, S. 11]. 107 CÖLLN, Dithmarscher Dichtung, S. 102. 108 Ebd., S. 103. 109 PAULY, Literarisches Leben in Dithmarschen, S. 105. 110 CÖLLN, Dithmarscher Dichtung, S. 102f. Hervorhebung C. S. 111 JENSSEN, Christian Friedrich Hebbel als nordischer Dichter, S. 34. 112 Vgl. dazu BRAUDEL, La longue durée. 106

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Wesen ihres Stammes, der nicht hastig das Neue ergreift, sondern [...] in zäher Treue zum Alten hält, um, wenn die Wogen des Neuen, die spät und langsam die Dithmarscher Küste erreichen, verebben, mit neuen Deichen und Dämmen fester als je die alten Heiligtümer zu schützen.113

Mit der Parteinahme gegen ‚Mode‘ und ‚Zeitgeist‘ verband sich bei Pauly eine Essentialisierung des als ‚zeitlos‘ begriffenen Alten, woran noch Heinz Stoltes Rede von „Urphänomenen“ und von Hebbels „Aufschwung ins Immer-Gültige“ anknüpfte. Bei Pauly erhielt das Festhalten an „alten Heiligtümern“ zudem eine ‚stammestümliche‘ Weihe, die von der Meer-Metaphorik wirkungsvoll untermalt wurde. „Dunkel und schwer ist auch der Dichter-Typus”,114 raunte Johannes Krumm dazu. Die ‚prä-historische‘ Zeit fiel damit unter eine mythische Bestimmung – in auffälliger Parallele zu den mythisch aufgeladenen Geschichtstableaus in Hebbels Dramen von der Judith bis zu den Nibelungen. Wenn Dithmarschen und der Dithmarscher Hebbel so unter das Signum der Geschichtslosigkeit gestellt wurden, erschien die Rückbindung an früheste Zeiten nur konsequent. Laut Detlef Cölln „konnte sich die altgermanische Volksfreiheit in Dithmarschen unbeeinflußt von Fremdem durch die Jahrhunderte erhalten“.115 Johannes Krumm schrieb: „Die moderne Kultur ebnet und verflacht; aber in dem abgelegenen und abgeschlossenen Winkel zwischen Elbe und Eider, wo die Bauern noch jahrhundertelang ihr Land selbst regiert haben […], lebte auch bei den Enkeln noch etwas von der alten germanischen Art“.116 Die Genealogie ersetzte die Geschichte: [Hebbel] gehört auch durch Geburt der Landschaft an, in deren Bevölkerung, in Verfassung und Artung, das germanische Altertum, so wie Tacitus es uns schildert, am längsten lebendig geblieben ist. Er selbst ist stolz darauf, ein Dithmarscher zu sein, von diesen rauhen Helden abzustammen, und verkörpert schon in seiner Erscheinung auffällig den nordischen Typus.117

Mit dieser generellen Enthistorisierung verband sich bisweilen die Ablehnung des biographischen Ansatzes zugunsten eines biologistischen – etwa auch bei Christian Jenssen: „Man hat nur zu häufig versucht, diese Eigenschaften weitgehend auf seinen ungewöhnlich schweren Lebensweg zurückzuführen. Sie scheinen uns aber viel tiefer in seiner Natur und in seinem Stammestum begründet zu sein“.118 Von hier führte eine gerade Linie zu Krumms Satz: „So wirkt auch die nordische Art unbewußt in seinem Blut“.119 Dies aber waren angeblich die Hauptzüge nordischen Lebens und nordischer Art: harte und karge, aber große Naturen, Liebe und Haß, neben und miteinander, wirken wie die Elemente, die Leidenschaften wild PAULY, Dithmarscher, S. 64. KRUMM, Friedrich Hebbel, ein nordischer Dichter, S. 46. 115 CÖLLN, Friedrich Hebbel und seine Heimat, S. 83. 116 KRUMM, Friedrich Hebbel ein nordischer Dichter, S. 52. 117 Ebd., S. 41. 118 JENSSEN, Christian Friedrich Hebbel als nordischer Dichter, S. 32f. 119 Dieses und das folgende Zitat: KRUMM, Friedrich Hebbel, ein nordischer Dichter, S. 52. 113 114

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und ungebrochen, aber ihr Ausdruck mehr die Tat als das Wort, selten […] ein Zug weicheren Gefühls, mehr verborgen auch als verkündet, durchweg sichtbar nur kalter Verstand und harter unbeugsamer Wille, der sich selber treu bleibt und dem Schicksal trotzt. Dies ist aber auch das harte und große Bild der Welt des Hebbelschen Dramas, in allen seinen Tragödien.

„Trotz“120 „Kampf“,121 und „tragische[r] Heroismus“ waren Schlüsselworte dieses Hebbel-Bildes, das gleichermaßen im „Wesen“ wie im Werk Hebbels nichts als einen Ausdruck „nordischer Art“ sehen wollte. Indem Hebbel so endgültig von jedem konkreten Dithmarscher Hintergrund – und damit vom Stallgeruch des nur Provinziellen – abgelöst wurde, verfiel diese Argumentation endgültig der Phrasenhaftigkeit. Hier fand auch eine auf die ‚Idee‘ fixierte ‚deutsche‘ Wissenschaft unversehens Anschluß: Ausgerechnet Fachgermanisten wie Gerhard Fricke und Fritz Martini122 beteiligten sich an dieser ideologisch überhöhenden Abstrahierung. Das reale Leben Hebbels hielt der Parallelisierung mit dem Mythos freilich nicht unbedingt stand. Johannes Krumm versicherte ernsthaft: „Er kämpft mit der baren Not, die den göttlichen Funken in ihm ersticken oder in den Küchendienst zwingen will“.123 Kein Zweifel, daß damit „alle Wissenschaftlichkeit über Bord geworfen“124 wurde. Methodisch unreflektiert, setzten die Vertreter dieses ‚volkstümelnden‘ Ansatzes im günstigeren Fall auf Einfühlung, im ungünstigeren auf rhetorische Suggestion. Dieses Gedankengut blieb noch nach 1945 lebendig, wenn auch die „nordische“ nun wieder auf die „Dithmarscher“ Art zurückgestutzt wurde. Diese wurde dabei nicht nur für Hebbel, sondern allgemein für eine Literatur in Dithmarschen beansprucht. Noch 1976 schrieb Jenssen in einem gleichnamigen Aufsatz an repräsentativer Stelle über den Landstrich: Seine Lebens- und Gemeinschaftsformen, seine Kultur und Religion sind geprägt vom Widerstand gegen die Naturgewalten des Meeres, von den wirtschaftlichen Gegebenheiten der Marschenniederung und vor allem [!] von einem Volksschlag besonderer Art [!], einem individuellen, selbstbewußten Bauerntum.125

Daran schloß sich die selbstgewisse Prognose an: „Es dürfte sich herausstellen, daß diese Eigenheit auch in der Literatur der Landschaft ihren Ausdruck findet“. So wenig sich diese Hoffnung, die noch immer zwischen ‚völkischem‘ und volkskundlichem Interesse changierte, bewahrheitete126, so bewirkte sie doch empfindliche Abwehrreaktionen. Noch 1980 sah sich ein Friedrich Sengle zu der Mahnung genötigt, „daß man CÖLLN, Friedrich Hebbel und seine Heimat, S. 88. Der Hebbel-Satz „Trotze, so bleibt dir der Sieg“ wurde sogar als Titel für eine Teilauflage des ersten Hebbel-Jahrbuchs nach dem Krieg (1949/50) gewählt. 121 Dieses und das folgende Zitat: KRUMM, Friedrich Hebbel, ein nordischer Dichter, S. 44 und 43. Krumm meinte sogar: „Nordisch ist bei Hebbel schon die Form seines Dramas […] in Handlung, Charakteristik, Sprache“ [ebd., S. 53]. 122 Vgl. FRICKE, Die Tragödie der Nibelungen; sowie: MARTINI, Der Mensch in Hebbels Tragödie. 123 KRUMM, Friedrich Hebbel, ein nordischer Dichter, S. 44. 124 THOMSEN, Grenzen des Individuums, S. 39. 125 Dieses und das folgende Zitat: JENSSEN, Literatur in Dithmarschen, S. 83. 126 Vgl. dazu SCHOLZ, Dichter und Dithmarschen. 120

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den Dithmarschen Hebbel nicht überbetonen sollte, obwohl er es im Zuge des zeitgenössischen Nordismus und Germanismus gelegentlich selbst getan hat. Er suchte für seine überall bekannte Schroffheit eine überindividuelle Begründung, und da kam ihm die holsteinisch-provinzielle gerade recht.“127 So unbehaglich war Sengle die ganze Tendenz, daß er der Differenz zwischen ‚Germanisch-Nordischem‘ und ‚HolsteinischProvinziellem‘ schon gar keine Bedeutung mehr beimaß. All dies schrumpfte zu einem negativen und generalisierbaren Ausgangspunkt, von dem der Dichter sich abzustoßen hatte: „Wichtiger ist, wie überall in der Biedermeierzeit, die provinzialistische Herkunft als solche. Sie erklärt seine Anpassungsschwierigkeiten in den Hauptstädten Kopenhagen, Paris, Rom und schließlich Wien.“ Sengle lehnte eine Suche nach „Ursprüngen“ Hebbels kategorisch ab – „denn wo war für ihn eine konkrete geschichtlich-überindividuelle Substanz, der er unmittelbar verbunden war?“128 Darin traf er sich aber doch wieder mit den heimatverbundenen Autoren, daß er Hebbels raum-zeitliche Distanz zum kultur- und geistesgeschichtlichen Kontext der Zeit hervorhob: Wenn je ein Dichter außerhalb der lebendigen geschichtlichen Tradition stand, zum Einzelgängertum in einer ohnedies dem Individualismus zuneigenden Zeit bestimmt schien, so war dies Hebbel. Ihn trägt kein Gemeinwesen mit einer ruhmreichen Vergangenheit wie Goethe und Grillparzer, seinen Ausgangspunkt bildet kein Geschlecht, kein großer Kriegerstaat wie bei Heinrich von Kleist, und selbst die Heimat, um die ein Grabbe noch immer kreist, rückt ihm fern. Der um seine Existenz kämpfende Dichter muß selbst die Vergangenheit seines persönlichsten Lebens, Elise Lensing, fliehen.

Andererseits verfiel Sengle damit in das entgegengesetzte Extrem, indem er Hebbel historische Bindungen überhaupt weitgehend absprach. Seine „Vergangenheit“ in einem „für die Cultur fast verlorenen Winkel“ mußte in ihrer ‚Ungeschichtlichkeit‘ einem Literaturgeschichtler irrelevant scheinen. Stattdessen habe Hebbel „als Autodidakt konsequenter als alle ebenbürtigen Dichter“ versucht, „die reichen Wahrheiten des Idealismus in sich aufzunehmen. Er ist innig darum bemüht, gedanklich den Halt zu finden, der ihm durch Vaterhaus, Stand, Beruf oder Heimatstadt nicht gegeben war“.129 Ein ‚uneigentliches‘ Leben reduzierte sich gleichsam von selbst auf „Anpassungsschwierigkeiten“ im ‚richtigen‘. Die immanente Interpretation suchte (fast) vergeblich nach stofflichen Reminiszenzen im Werk: Das weltferne Dithmarschen erschien als tabula rasa. Diese Sichtweise dominierte – ob ausgesprochen oder nicht – in der Hebbel-Forschung der Nachkriegszeit.130 Eine Ausnahme bildete Wolfgang Wittkowskis Arbeit Der junge Hebbel, die sich für Biographisches allerdings nur insoweit interessierte, als es Zur Entstehung und zum Wesen Dieses und das folgende Zitat: SENGLE, Biedermeierzeit, S. 337. Dieses und das folgende Zitat: SENGLE, Das historische Drama, S. 204. 129 SENGLE, Biedermeierzeit, S. 411f. 130 So etwa bei Hermann Schumacher, für den der „namenlose Proletariersohn aus Dithmarschen […] außerhalb, ja jenseits aller behütenden Traditionen stand und in seinem Leben völlig zum vereinsamten Einzelgänger bestimmt war“ [SCHUMACHER, Hebbels Geschichtsbild, S. 81]. Hebbel sei demnach „die Geschichte für sein Werk das Hauptanliegen“, weil er sich „nach Vergangenheit sehnt, die seinem Leben so völlig fehlt“ [ebd., S. 83]. 127 128

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der Tragödie Hebbels – so der Untertitel – Aufschlüsse gab. Der Autor kritisierte zu Recht: „Überhaupt wurde das Blickfeld nach rückwärts im allgemeinen verschüttet durch die vorherrschende Tendenz, Hebbel zu aktualisieren […]. Nur Horst Oppel hat auf die archaischen Züge an Hebbels Gesamtpersönlichkeit hingewiesen”.131 Merkwürdigerweise hatte Wittkowski die Arbeiten von Krumm, Jenssen oder Cölln, die immerhin zum inneren Kreis der Hebbel-Gesellschaft zählten und im Hebbel-Jahrbuch publizierten, komplett ausgeblendet. Auf die ideengeschichtlich bzw. werkästhetisch ausgerichtete Literaturwissenschaft im engeren Sinn traf seine Diagnose allerdings weithin zu. Gegen die vorherrschende „ideologisch-metaphysische Methode“,132 wie er sich ausdrückte, erhob Wittkowski den Anspruch eines kompletten wissenschaftlichen Neuansatzes, um mit der bisherigen Forschung gründlich aufzuräumen. Sie sei „fast unbrauchbar“133 und hätte „wenig Vorarbeit geleistet“:134 Was die metaphysisch-ideologische Methode mittlerweile beigesteuert hat, hat mehr verdunkelt als erhellt. Es muß von vorn angefangen werden […] in kritischer Distanz zu allen früheren wie neueren Versuchen und von Hebbels Kindheit an.

Wittkowski beklagte: „Die Geschichte und die Werke seiner Frühzeit wurden niemals gründlich dargestellt“.135 In der Tat mußte eine Rezeption, die an poetischen und philosophischen ‚Höchstleistungen‘ interessiert war, die Wesselburener Zeit geringschätzen. Paul Zincke etwa hatte in Hebbels Jugendwerken „geistig und künstlerisch höchst minderwertige, von fremden Mustern durchaus bestimmte Produkte“136 gesehen. Dabei habe Hebbel „von Philosophie damals noch gar nichts [verstanden], ja hatte überhaupt noch kein philosophisches Werk in der Hand gehabt. Mit dem gleichen Rechte könnte man aus den ersten dichterischen Versuchen eines jeden Tertianers eine philosophische Theorie herauskonstruieren“.137 Als hätte Hebbels künstlerische Entwicklung in Wesselburen keine Bedeutung für die späteren Jahre besessen, strich Zincke das Frühwerk und damit Hebbels Werdegang bis zu seinem 23. Lebensjahr gleichsam aus: „Nirgends zeigt sich ein Ansatz künstlerischer Charakteristik. Überall schlimmster Dilettantismus. Das Ganze ist dichterisch völlig gehaltlos und leer.“138 Eine dezidiert literaturwissenschaftliche Studie mit dem Titel Der junge Hebbel war insofern in der Tat programmatisch. Wittkowski kritisierte gleichfalls mit Recht, daß „lange Zeit die ‚Trennung von Leben und Werk‘ oberstes Prinzip“139 gewesen sei und meinte: „Im Falle Hebbels waren die Folgen besonders schlimm. Der Dichter, Mensch und Denker ist als Einheit WITTKOWSKI, Der junge Hebbel, S. 189. Wittkowski bezog sich auf Oppels Aufsatz über Hebbels Moloch. 132 Ebd., S. 29. 133 Ebd., S. 34. 134 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 33. Von dieser Kritik nahm Wittkowski lediglich die Arbeiten Wolfgang Liepes aus. 135 Ebd., S. 34. 136 ZINCKE, Friedrich Hebbel ein Mystiker?, S. 149. 137 Ebd., S. 151. 138 Ebd., S. 163. 139 Dieses und das folgende Zitat: WITTKOWSKI, Der junge Hebbel, S. 35. 131

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nicht mehr greifbar“. Seine Untersuchung [z]urEntstehung und zum Wesen der Tragödie Hebbels verstand er darum „zugleich als Beitrag zur Biographie“.140 Sein Interesse galt letztlich der dichterischen Persönlichkeit jenseits des einzelnen Werkes: „Eigenart und Wert des Einzelteils erfaßt man erst, wenn man die Stellung und den Stellenwert des Einzelteils im Gesamtzusammenhang erfaßt. Das gilt […] auch für das Verhältnis zwischen dem Einzelwerk und der Geisteswelt des Dichters.“141 Mit diesem Vorhaben wandte sich Wittkowski erneut dem Problem des „Verhältnisses von Theorie und Praxis, Reflexion und Intuition, Bewußtsein und Sein“142 zu, das schon Klaus Ziegler als „eines der wichtigsten“ bezeichnet, von dessen Untersuchung er aber Abstand genommen hatte. Im Unterschied zur werkimmanenten Forschung legte Wittkowski Wert auf eine breite materielle Basis seiner Untersuchung: „Das Leben, die geistige Gesamtentwicklung, also auch die außerkünstlerischen Zeugnisse sowie die Selbstdeutungen, werden mit herangezogen, um das Werden und das Wesen die [sic!] Tragödie Hebbels zu erschließen und um dieses Verständnis möglichst breit zu fundieren“.143 Doch vor allem zog er Konsequenzen aus den inhaltlichen Defiziten der „ideologisch-metaphysischen Methode“, die nur an weltanschaulichen Aspekten, an Hebbels „Christentum, Idealismus, Pantheismus, Nihilismus”144 interessiert gewesen sei. Wittkowski zielte dagegen auf „den konkreten, individuellen, den existierenden Menschen und so etwas wie dessen Mitte”.145 Dies hieß: Zugleich kehrt sich der Primat des Weltanschaulichen vor dem Ethischen um. Eine ideologische Theorie ist Sache der Kontemplation, der intellektuellen Reflexion. Elementarer ist das emotionale Welterlebnis. Es mag die empirisch-existentielle Grundlage für Weltanschauungen sein, genau wie sich umgekehrt die existentielle Verbindlichkeit der Weltanschauung für ihren Träger daran erweist, wie dieser sich in bestimmten Situationen bestimmten Werten seiner Ideologie gemäß verhält und sie damit konkret verwirklicht.

Michelsen hatte mit den Tagebüchern zwar auch „außerkünstlerische Zeugnisse“ untersucht, doch Wittkowski ging ‚systemtheoretisch‘ über dessen Ansatz hinaus. Denn ihm war es nicht nur um die Herausarbeitung einer, wie immer widersprüchlichen, weltanschaulichen Struktur zu tun, sondern um deren „empirisch-existentielle“ Genese aus einem „emotionale[n] Welterlebnis“ sowie um ihre Funktion für das Verhalten „in bestimmten Situationen“. Das Programm seiner „anthropologischethische[n] Methode“ löste Wittkowski allerdings nur zum Teil ein. An die moderne Kulturanthropologie amerikanischen Zuschnitts erinnerte sein Ansatz nur dem Namen nach; um so stärker trat die Anlehnung an die Ethik Nicolai Hartmanns hervor. Wittkowski ging es speziell um „Werte des Verhaltens“:

Ebd., S. 34. Ebd., S. 34f. 142 Dieses und das folgende Zitat: ZIEGLER, Mensch und Welt, S. 10. 143 WITTKOWSKI, Der junge Hebbel, S. 35. 144 Ebd., S. 29. 145 Dieses und die folgenden Zitate: Ebd., S. 25. 140 141

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Solche Werte des Verhaltens, die Akt- oder Personwerte, sind ethische Werte. Sie erscheinen an Akten, die auf Sachverhaltswerte sittlicher wie sittlich neutraler Natur gerichtet sind. Sie selbst jedenfalls lassen sich nicht in direktem Streben realisieren. Wo ihre Verwirklichung zustande kommt, ist sie „nicht indendiert, sondern wird nur mitvollzogen” [Hartmann].146

Damit war in der Tat eine wichtige Erweiterung der Untersuchungsperspektive gegenüber einer auf reflexive, ideologische oder intentionale Aspekte konzentrierten Forschung gegeben. Mit dem „subjektive[n] Wertempfinden einer Person”147 kamen auch unbewußte Aspekte der Persönlichkeit in den Blick, vor allem aber ein Bereich des Subjektiven, der an kollektive Werte gebunden war. Auf das seinerzeit noch weitgehend ungesicherte Terrain der Sozialpsychologie bzw. der Mentalitätsgeschichte wagte sich Wittkowski jedoch nicht weiter vor. Ihm genügte der ethische Bezug auf „Werte“, „Akte“ und den „Widerstreit der Werte“148, der sich direkt mit Hebbels Konzept des Tragischen in Beziehung setzen ließ. Daß aber damit bereits der Mensch „im Zentrum seiner Subjektivität“,149 bzw. „die primäre, die existentielle Dimension“ menschlichen Handelns erfaßt wurde, ist zu bestreiten. Denn letztlich hielt sich auch Wittkowskis Ansatz im geistesgeschichtlichen Rahmen; psychologische und soziologische Aspekte wurden allenfalls gestreift. Mit welchen konkreten empirischen Gehalten wurde nun diese ethische Konzeption gefüllt? Erstaunlicherweise schrieb ein so unverdächtiger Wissenschaftler wie der in den USA lehrende Wittkowski: „‘Die Polarität des Ichbewußtseins und des Gemeinschaftsgefühls‘ ist hier nicht zu verstehen von der Moderne her, sondern wahrscheinlich als germanisches Geisteserbe.”150 Dieses ‚ererbte‘ Bewußtsein verstand Wittkowski nicht als „eine Angelegenheit der Subjektivität, eine in Wahrheit spezifisch moderne Angelegenheit“,151 sondern als „Orientierung am Objektiven“. In dieser Sicht erscheint der Einzelne nicht als bloßes Individuum, sondern kollektiv eingebunden. In der „Ehre“ erblickte Wittkowski darum einen für Hebbel zentralen Wert: Er ruhte nicht, bis seine Ehre hergestellt war. Denn wie für den Germanen, so galt auch für ihn: „Die Ehre bildet das Herzstück des menschlichen Daseins. Ohne Ehre kann ein Mann nicht leben” [Jan de Vries].152

Es mutet seltsam an, daß ausgerechnet Wolfgang Wittkowski, der Krumm, Cölln oder Jenssen gar nicht rezipiert hatte, die Bedeutung „germanischer Tradition“ hervorhob.153 Bedeutsamer als der zweifelhafte Versuch, Anschluß an germanische ‚Ursprünge‘ zu finden, ist jedoch der Hinweis auf die traditionale Verfaßtheit der vormodernen Gesellschaft selbst, die den Dithmarscher Hebbel in seinen ersten 22 Ebd., S. 27. Ebd., S. 29. 148 Ebd., S. 33. Vgl. ebd., S. 29–33. 149 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 26. 150 Ebd., S. 42. 151 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 189. 152 Ebd., S. 43. 153 Bei ihm wohl vermittelt durch Jan de Vries und Johan Huizinga. Dieses und die folgenden Zitate: Ebd., S. 44. 146 147

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Lebensjahren maßgeblich prägte. Hierzu würde das zweite von Wittkowski angeführte prägende Moment passen, das denkbar ‚ungermanisch‘ ist: „Es war der Jehovah des Alten Testaments“, der bei dem „religiösen Urerlebnis“ des Kindes Pate stand. Diese Einflüsse sah Wittkowski erst sekundär überlagert von „den mehr oder weniger populären Legierungen von christlichem mit aufklärerisch-idealistischem Geistesgut […], die vom 18. Jahrhundert überkommen waren und hier summarisch bezeichnet sein mögen als christlicher Idealismus.”154 Interessant an Wittkowskis Arbeit war schließlich, daß er untersuchte, wie Hebbel selbst sich später zu diesen Einflüssen stellte: „Er hat sich und sein Werk positiv allein durch diese zwei Voraussetzungen gekennzeichnet: durch ‚dies beklommen-düsterbiblische und dies trotzige gestalten[-]kühne dithmarsische Element’“.155 Sein Verhältnis zum christlichen Idealismus aber „tut er mit Verachtung ab. Er ist heilfroh, sich von ihm gelöst zu haben. Den neutestamentlichen Erlösungsglauben erwähnt er kaum“. Wittkowskis Kommentar zu dieser Beobachtung lautete: Ohne Frage sind die Verhältnisse in dieser Rückschau perspektivisch stark verschoben. Der christliche Idealismus und die Hoffnung auf Erlösung […] waren es, die seiner poetischen Betätigung eine erlösungsartige Funktion verliehen – während auf der Ebene des praktischen Daseins das Streben nach gesellschaftlichem Ansehen sich verschärfte und immer schmerzlicher scheiterte.

Statt einseitig in Friedrich Hebbel den „Dithmarscher“ hervorzukehren oder aber die Frühzeit als irrelevant abzuspalten, gelangte Wittkowski zu grundlegenden Differenzierungen, wenn auch ohne entsprechende Terminologie. Er unterschied implizit zwischen einer primären, traditional vermittelten Enkulturation und einer sekundären, bewußter erworbenen Akkulturation mit offenbar unterschiedlichen Funktionen: Das altertümlich „düsterbiblische“ und „dithmarsche Element“ wurde von Hebbel für die eigene Identität in Anspruch genommen, während er zum stärker reflektierten „christlichen Idealismus“ ein eher instrumentelles Verhältnis besaß, daß er kompensatorisch zur Überhöhung seines Dichtertums einsetzte, wie er ähnlich seine Intellektualität als „stärkste, seine einzige Waffe“156 sah, „um gesellschaftlich voranzukommen“. Leider verfügte Wittkowski noch über keine sozialpsychologisch bzw. mentalitätsgeschichtlich gestützte Methodik. Stattdessen griff er mit der unglücklichen Kategorie des „Germanischen“ auf eine – in doppeltem Sinn rückwärtsgewandte – Terminologie zurück, so daß Helmut Kreuzer seine Arbeit den „Tendenzen der 30er Jahre“157 zuordnete, Hargen Thomsen sie als „historisch freischwebend“158 empfand. Der zaghafte Versuch, biographisches Neuland zu betreten, endete allzu schnell mit einem Rückzug und einer literaturwissenschaftlichen Applikation, die von Herbert Kraft

Ebd., S. 45. Zu dieser „sekundären Überlagerung“ würde auch das von Stockinger untersuchte „kulturelle Wissen“ Hebbels gehören. 155 Dieses und die folgenden Zitate: Ebd., S. 46. 156 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 47. 157 KREUZER, Einleitung, S. 9. 158 THOMSEN, Grenzen des Individuums, S. 46. 154

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scharf kritisiert wurde.159 So wurden seine Anregungen insgesamt nur wenig aufgegriffen. Birgit Fenner, die 1979 ihre vielbeachtete160 Monographie Friedrich Hebbel zwischen Hegel und Freud vorlegte, stimmte mit Wittkowski grundsätzlich in der Ablehnung der werkimmanenten Interpretation und in der Einbeziehung unterschiedlicher Quellengattungen überein: Die selbstverständliche Voraussetzung, Hebbel als Dichter ernst zu nehmen, sollte nicht erkauft werden durch Preisgabe der Beziehungen, die einerseits innerhalb des Hebbelschen Gesamtwerks zwischen Tagebüchern und Dramen und andererseits im historischen Kontext zwischen Hebbel und seiner Zeit mit ihren literarischen, philosophischen und historischpolitischen Entwicklungen bestehen.161

In dieser mehrperspektivischen Sichtweise sah Fenner „vor allem die Möglichkeit, Widersprüche Hebbels sichtbar und fruchtbar machen zu können“, 162 und bezweifelte zugleich die These Peter Michelsens, daß deren „Unaufhebbarkeit wirklich das letzte Wort Hebbels ist“.163 Fenner forderte dagegen: „Die Widersprüche, Spannungen und Kollisionen, die für Hebbels Werk strukturbildend sind, […] müssen in ihrer Beziehung zueinander, die keine Relativierung des einen durch das andere ist, gesehen und das heißt zugleich auf den Hintergrund, vor dem sie ihre Gegensätzlichkeit entfalten, bezogen werden.“164 Damit wandte sie sich gegen die „Schlußfolgerung, Hebbel sei Subjektivist, dem keine Position als verbindlich gilt“.165 Fenner erkannte durchaus die wegweisende Leistung Wittkowskis, der „auf den Kern der Widersprüchlichkeit aufmerksam gemacht“ habe. In einer Anmerkung hatte dieser geäußert, Hebbels Dualismus sei ein Struktur-Phänomen, das gewiß psychologische Voraussetzungen und gehaltliche Konsequenzen hat – aber eben weder Subjektivierung noch Relativierung bedeutet, sondern umgekehrt Spannungen, Kontraste, Kollisionen akzentuiert, wie sie in solcher Stärke nur zwischen Polen auftreten können, die für objektive, unaufhebbare, unabgeleitete, insofern absolute Größen gehalten werden.166

Insofern konnte Wittkowski keinen Erkenntnisgewinn in einer psychologischen Untersuchung sehen – sie würde auf einer anderen Ebene nur wieder auf die gleichen strukturellen Widersprüche stoßen. Fenner meinte dagegen: „Wittkowski greift zu kurz, wenn er den ‚Hintergrund‘ definiert als Hebbels Werthaltung, die eine Spannung

S. o., vgl. KRAFT, Poesie der Idee, S. 10f. Vgl. z. B. STOLTE, Literaturbericht 1979, S. 212–214; MÜLLER, [Rez.] Fenner; KAISER, Friedrich Hebbel, S. 16; KREUZER, Einleitung, S. 11f. 161 FENNER, Friedrich Hebbel zwischen Hegel und Freud, S. 12. 162 Ebd., S. 13. 163 Ebd., S. 15. 164 Ebd., S. 14f. Hervorhebungen C. S. 165 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 14. 166 WITTKOWSKI, Der junge Hebbel, S. 23. Hervorhebung C. S. 159 160

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zwischen objektivem Sein und Bewußtsein der Hebbelschen Figuren voraussetze“.167 Der ‚objektive Hintergrund‘ aller Widersprüche und Spannungen konnte sich in ihren Augen nur einer psychoanalytischen Durchdringung erschließen. Damit gingen Verluste einher: Wittkowskis zaghafter ‚sozialpsychologischer‘ Ansatz, wie rudimentär er sein mochte, wurde durch einen individualpsychologischen in den Hintergrund gedrängt. Da Fenners auf die Philosophie Hegels bezogene „Einführung in Hebbels Denken“ ebenso wie der „kurze biographische Abriß“168 eher konventionell-referierend blieben, reduzierte sich de facto auch die Methodenvielfalt ihres Neuansatzes: Die vorliegende Interpretation versucht, Hebbels Dramen zu lesen als einen bis heute nicht ausgestandenen Konfliktstoff, indem sie ihn als Analytiker von Triebambivalenz und Triebdynamik ernst nimmt. Die Brücke zwischen den Stoffen, Hebbels Interpretation der Stoffe und unserem Interesse an ihnen wird durch Begriffe aus der Religionsphilosophie und aus der psychoanalytischen Theorie, die in der Interpretation der Dramen eine zentrale Rolle spielen, geschlagen. So wird Hebbel aus der Nähe Hegels, die gleichwohl bestehen bleibt, in die Nähe Freuds gerückt.169

Diesen Ansatz applizierte Fenner legitimerweise nur auf einen wichtigen Teilaspekt der Dramen, konkret auf das Schicksal der weiblichen Hauptfiguren in Bezug auf den geschichtlichen Hintergrund. Die Grundthese ihrer Arbeit lautete: Hebbels Dramen, und in ihnen die Frauengestalten, erheben Einspruch gegen eine katastrophische Weltgeschichte, die in Gang gehalten wird durch den Geschlechterkampf, dessen Opfer die Frauen – aber nicht nur sie – sind. Hebbels Frauengestalten protestieren gegen eine Geschichte, die sich als bleibender Opferzusammenhang darstellt. Dieser Protest steht quer zu fortschrittsverbürgender Vermittlung, aber auch zu unaufhebbarer Ambivalenz.

„Wer sich mit Hebbel beschäftigt, muß sich daher mit der Epoche, deren Kind er ist und zu der er sich verhält, befassen“,170 hatte Fenner postuliert; seine Dichtung dürfe nicht „den Stempel eines Interpretationsschemas [tragen], das selbst wieder zeitgebunden ist“.171 Genau dies aber wurde ihr von Hartmut Reinhardt vorgeworfen: Das „Dilemma“ ihrer Arbeit bestünde darin, daß „überhaupt keine Kriterien in Kraft bleiben, mittels derer die feministische Leitthese in ihrer historischen Relevanz überprüft werden könnte“.172 Ihre „Theoreme gegenwärtiger Provenienz (kritische Theorie, Religionsphilosophie u. a.) […] mögen bestechend sein, aber historisch treffend sind Dieses und das folgende Zitat: FENNER, Friedrich Hebbel zwischen Hegel und Freud, S. 15. Hervorhebung C. S. 168 Ebd., S. 59. Dieser Abriß war gegenüber der Dissertationsfassung auf gut drei Seiten zusammengeschnurrt. Dort orientierte sich das Verfahren chronologisch an Hebbels Lebenslauf unter Berücksichtigung des historisch-gesellschaftlichen und literarisch-philosophischen Kontextes der Zeit. 169 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 21. 170 Ebd., S. 15. 171 Ebd., S. 13. 172 Dieses und das folgende Zitat: REINHARDT, Apologie der Tragödie, S. 57. Auch für Joachim Müller war die „Aktualisierung auf Freud hin nicht zwingend“ [MÜLLER, [Rez.] Fenner, Sp. 300]. 167

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sie nicht. Eine Hebbel-Arbeit, die mit ihrem eigenen Fazit ‚weit von Hebbel weg‘ ankommt, entbehrt literarhistorisch bei allem Rang doch nicht einer gewissen Kalamität“. Fenners Strategie, eine individualpsychologische Deutung an die Stelle einer sozialpsychologischen bzw. mentalitätsgeschichtlichen zu setzen, deren Elemente „bei der Art des Hebbelschen Sozialisations- und Bildungsprozesses sowieso schwer zu bestimmen”173 seien, ging offenbar nicht auf. Dabei hätte gerade der psychoanalytische Ansatz selbst einer (sozial-)historischen Einbettung bedurft: Nimmt man die von der Forschung herausgearbeiteten Anzeichen einer zum guten Teil vormodernen Prägung Hebbels in Wesselburen ernst, so ist fraglich, ob sich die Freudschen Kategorien des frühen 20. Jahrhunderts ohne weiteres auf diese Epoche übertragen lassen. In ihrem Plädoyer für eine „historische Psychologie“ warnte Annette Riecks generell: „Wenn ein Geschichtswissenschaftler ein historisches Individuum psychologisch zu beschreiben versucht, unterliegt er schnell der Gefahr, die Ergebnisse und Forschungsmethoden der Psychologen, die auf Westeuropäer des 20. Jahrhunderts zugeschnitten sind, anachronistisch auf sein Forschungsobjekt zu übertragen – falls der Historiker nicht von vornherein von der Unveränderbarkeit des menschlichen Wesens ausgeht.”174 Paul Mog erkennt erst ab dem 18. Jahrhundert die „Genese einer Psychostruktur, die erstmals mit den heutigen Vorstellungen vom Seelischen annähernd zur Deckung kommt“;175 und nach Robert Muchembled ist „einer der neuen Wesenszüge der städtischen – oder bürgerlichen – Familie die verstärkte Aufwertung der Vaterfigur“176 gegenüber dem „Zurücktreten des einzelnen Vaters hinter die verborgene und kollektive Macht“177 im bäuerlich-ländlichen Milieu. Erst das „Auftauchen der Vorstellung von Über-Vätern führt zu einer tiefgreifenden Veränderung des Gefühlsausdrucks in der Familie, indem es in die Familie eine Affektivität überträgt, die keineswegs inexistent war, sich aber in der Vergangenheit eher unter Gleichen im Rahmen besonderer Sozialbeziehungen entfaltete“.178 So kommt Muchembled zu dem Ergebnis:

FENNER, Friedrich Hebbel zwischen Hegel und Freud, S. 15. RIECKS, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 96. Vgl. etwa auch Hartmut von Hentig über die amerikanische psychohistory: „Ihre Pointe ist die Geschichtlichkeit des scheinbar Ungeschichtlichen: Sie teilt die entscheidende Voraussetzung der klassischen Psychologie nicht, nämlich daß das, was wir […] als das Wesen des Menschen ausmachen, sich gleich bleibe“ [HENTIG, Vorwort, S. 19]. Vielmehr gehe es darum, „der ‚Natur‘ des Menschen die Wandlungen […] abzulauschen“ [ebd., S. 29]. 175 MOG, Ratio und Gefühlskultur, S. 2. 176 MUCHEMBLED, Die Erfindung des modernen Menschen, S. 297. 177 Ebd., S. 272. 178 Ebd., S. 266. Vgl. dazu auch Paul Mog: „Freud hat den Mechanismus der Internalisierung väterlicher Autorität entdeckt; seine Schüler haben ihn sozial-psychologisch dem Typus der patriarchalischen Kleinfamilie zugeordnet. […] Die Kleinfamilie als Nährboden der Gefühlskultur erzeugt die zum Bestand der Gesellschaft erforderliche Psychostruktur“ [MOG, Ratio und Gefühlskultur, S. 34]. Andreas Gestrich kritisierte, die „Psychoanalyse […] reduzierte die für die Pychogenese relevante Umwelt auf die Familie. Sie läßt alle anderen Sozialisationsinstanzen weitgehend außer Betracht und hält die Prägungen für die Primärsozialisation für irreversibel.“ [GESTRICH, Sozialhistorische Biographieforschung, S. 14]. 173 174

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Wenn auch der Beweis für das angedeutete Auftauchen des ödipalen Konflikts in den verschiedenen Gesellschaftsschichten und durch die Generationen hindurch noch aussteht, so scheint mir doch eindeutig, daß er in früherer Zeit – von Ausnahmen abgesehen – kaum existieren konnte.179

Friedrich A. Kittler konzentrierte sich demgegenüber auf die Umprägung der Mutterrolle, um von da aus zu einer ähnlichen Einsicht zu gelangen: Diese „führte dazu, das altüberlieferte Familienoberhaupt namens Vater durch eine Familienmitte namens Mutter abzulösen, aber anstelle von Initiationsritualen eine moderne Primärsozialisation zu setzen“.180 Sie erst, so Kittler, erzeuge „eine Liebe, die Freud als inzestuöse Übertragungsliebe entziffern konnte“. Für die Sicht auf Hebbels Biographie bedeutete dies eine schwerwiegende Einschränkung. Denn die psychoanalytisch motivierte Suche nach seelischen Defekten und Verletzungen reduzierte alles Handeln allzu schnell auf kompensatorische Anstrengungen, so auch bei Fenner: „Der kurze biographische Abriß will verständlich machen, warum so oft vom Selbstbehauptungswillen Hebbels die Rede ist“.181 Wiederum ging es in erster Linie um ‚Kampf‘ – „Hebbel hat nicht nur um Anerkennung kämpfen müssen, sondern auch mit sich selbst“ – und in zweiter Linie um Anpassungsleistungen an ein fremdes bürgerliches Milieu: Schon früh stand er in der Spannung von „Widerstand” und „Anpassung”, die seinen Lebens- und Bildungsweg kennzeichnet: Geburtsort, soziale Herkunft und unzulängliche Ausbildung machten ihm den Start als Künstler außerordentlich schwer – um aber als Künstler eine Chance zu haben und, nicht zuletzt, seinen Lebensunterhalt sichern zu können, mußte er Eingang in die Kreise des Bürgertums finden, die das Theaterleben bestimmten. […] Ohne daß man neuerlich in den Fehler verfällt, aus einzelnen Ur-Erfahrungen alle Hebbelschen Figuren, Werke und Vorstellungen zu erklären, ist festzuhalten, daß Selbstbehauptung, Widerstand und Anpassung in ihren vielfältigen Verschlingungen in sein gesamtes Schaffen und Denken eingeflossen sind.182

Diese Sichtweise, die Hebbels Wesselburener Zeit im wesentlichen unter dem Aspekt einer defizitären Sozialisation sowie kompensatorischer Anstrengungen des ‚Fortkommens‘ betrachtet, dominiert die biographisch orientierte Forschung bis in die Gegenwart. Regine Fourie beobachtete an Hebbel „ich-bezogene[n] Individualismus“,183 „Mangel an gesellschaftlicher Teilnahme“ sowie eine „bewußte Distanzierung des jungen Hebbel von seiner literarischen Umwelt“.184 Die Psychoanalyse selbst könne darauf nur „eine vorläufige Antwort“ geben, meinte Fourie: „So kann es wohl der Fall gewesen sein, daß Hebbels Pessimismus seinen Ursprung in einem Minderwertigkeitskomplex hat. Seine Maßlosigkeit und sein überhöhtes Selbstbewußtsein

MUCHEMBLED, Die Erfindung des modernen Menschen, S. 301. Dieses und das folgende Zitat: KITTLER, Dichter – Mutter – Kind, S. 15. 181 Dieses und das folgende Zitat: FENNER, Hebbel zwischen Hegel und Freud, S. 59. 182 Ebd., S. 60. 183 Dieses und das folgende Zitat: FOURIE, Das „Abgrund“-Motiv, S. 169. 184 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 49. 179 180

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legen die Annahme eines solchen Komplexes sogar sehr nahe“.185 Doch wenngleich Hebbels Verhalten „z. T. in ihm selbst angelegt“ sei, erkannte sie die Hauptursachen dafür im bewußten Bemühen einer Überwindung der Wesselburener Erfahrungen. Denn Hebbel hat sich von der Wesselburener Umwelt weitgehend deshalb isoliert und sich später völlig von ihr distanziert, weil sie ihm nicht gemäß war: sie erlaubte dem „Dichter in ihm” und dem mit ihm zusammengehenden Ehrgeiz keine Gelegenheit, sich voll zu entwickeln bzw. sich für das zu zeigen, was er wirklich war, nämlich ein vielversprechender Dichter. […] Die ärmlichen Verhältnisse, denen er das Opfer zu sein glaubte, schienen seinen Aufstieg, sei er gesellschaftlicher oder geistiger Art, zu verhindern.186

So leitete Fourie aus der Psyche wie aus den Lebensumständen Hebbels in Wesselburen das „Abgrund“-Motiv in Hebbels Tagebüchern und Tragödien ab. Indem sie Hebbel von vornherein am oder im „Abgrund“ ansiedelte, konnte sie einen Lebensweg nur unzureichend nachvollziehen. Fouries Konzentration auf dieses eine Motiv bewirkte eine perspektivische Enge und den Rückgriff auf gängige Erklärungsmuster – ein bei einer Arbeit dieses Umfangs enttäuschendes Resultat. Wenn Hartmut Reinhardt zugestand, daß „auch sozialpsychologische Erklärungsansätze einiges erhellen können“,187 so wiederholte er doch nur die opinio communis: Hebbels Dichtertum und die Gesellschaft: die bekannten biographischen Umstände legen es nahe, hier ein „soziales Ressentiment” zu vermuten. […] Den Widerspruch zwischen seinem geistigen Rang und seiner gesellschaftlichen Stellung in den Wesselburener Jugendjahren hat er für „das größte Unglück” seines Lebens erklärt.

Hargen Thomsen setzte mit seiner Doktorarbeit von 1992 dort ein, wo „die neuere Forschung“ endete, die in Hebbel einen „Ästhetizisten sieht, dem es um eine ‚radikale Ästhetisierung der Welt‘ [Kaiser] gewissermaßen unter Ausschluß des Lebens gegangen sei“.188 Thomsen wollte wissen: „Wo liegen die Gründe für dieses formkonservative Verharren, während doch […] die Modernität der Themen diese Form fast sprengt?“189 Den Zusammenhang von Kunst und Leben verbürgte für ihn Hebbels „zwischen Tradition und Moderne gespaltene, fast zerrissene künstlerische Persönlichkeit“,190 zu der „weder eine gesellschaftspolitische noch eine formalistische Deutung“, sondern nur „eine psychologische Deutung tiefer vordringen kann“. Thomsens These lautete: Ein genaueres Verständnis eines dichterischen Werks setzt m. E. ein Begreifen der künstlerischen Persönlichkeit voraus […]. Ganz besonders gilt dies für Hebbel, dessen Sozialisation

Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 52. Ebd., S. 49. 187 Dieses und das folgende Zitat: REINHARDT, Apologie der Tragödie, S. 33f. 188 THOMSEN, Grenzen des Individuums, S. 62. 189 Ebd., S. 57. 190 Dieses und die folgenden Zitate: Ebd., S. 58. 185 186

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sich unter derart extremen Bedingungen vollzog, daß man bei ihm durchaus von einer pathologisch belasteten Psyche sprechen könnte.191

Mit der Frage nach der „künstlerischen Persönlichkeit“ Hebbels wurden ‚Leben und Werk‘ bei Thomsen enggeführt. Seinem Schlüsselbegriff gab er allerdings erst gegen Ende seines Buches eine heuristische Definition: Unter „künstlerischer Persönlichkeit” verstehe ich dabei diejenigen psychischen Konstellationen, die unmittelbar in das Werk übergehen und somit seine Struktur bestimmen, mithin sein eigentlich Individuelles, nur mit den persönlichen Erfahrungen des Autors Zusammenhängendes.192

So mutig Thomsens Schritt war, so blieb seine Definition doch methodisch und inhaltlich zu eng. Der Literaturwissenschaftler räumte gewissermaßen das Feld, um diese „Aufgabe einer psychoanalytischen Deutung“193 zu überlassen und das ‚Künstlerische‘ einmal mehr auf Individualpsychologisches zu reduzieren. Nicht nur sozialisatorische, sondern auch kulturelle, mediale, sprachliche oder speziell kreativitätspsychologische Aspekte, die in die En- und Akkulturation insgesamt, in die künstlerische Identität – und nicht nur „unmittelbar in das Werk“ – einfließen, konnten so nicht erfaßt werden. Zudem löste sich Thomsen auch insofern nicht von der Linie Fenners und Fouries, als er Hebbels künstlerische Persönlichkeit allein von ihrer ‚pathologischen Belastung‘ her beurteilte und „auf psychische Deformation zurückzuführen“ suchte. Den Ursprung dieser Deformationen sah Thomsen dementsprechend nicht in Hebbels Wesselburener Sozialisation allgemein, sondern konkret in einem fundamentalen Konflikt zwischen Vater und Sohn. Dieses induktiv gewonnene Resultat erfuhr seine „gedankliche Fortführung[…]“194 in einem Aufsatz mit dem programmatischen Titel: Patriarchalische Gewalt als Grundkonflikt Hebbelscher Tragik. Dort führte Thomsen aus: Wir haben es mit einer Vater-Sohn-Beziehung zu tun, die von innerer Fremdheit und Gewalttätigkeit des Vaters gegenüber dem Sohn, des Herrschers gegenüber dem Beherrschten bestimmt ist. Der Liebesbedürftigkeit des Kindes, seiner Sehnsucht nach Anerkennung wird mit Unverständnis und sogar Haß begegnet, das Vertrauensverhältnis einer natürlicherweise [!] intimen Beziehung wird von Grund auf zerstört. Der aus dieser Konstellation resultierende innere Widerstreit zwischen Selbstbehauptung und Unterwerfung bedingt einen latenten psychischen Konflikt, dessen Dynamik das dichterische Werk Hebbels, insbesondere das dramatische, entscheidend mitgeprägt hat.195

Ebd., S. 147. Ebd., S. 146f. Hervorhebungen C. S. 193 Dieses und die folgenden Zitate: Ebd., S. 147. Dieses Vorhaben irritiert um so mehr, als Thomsen erklärte, er sei „psychologisch nicht vorgebildet“ [ebd.]. 194 Ebd., S. 6. 195 THOMSEN, Patriarchalische Gewalt, S. 20. Zur vermeintlichen „Natürlichkeit“ der Liebesbeziehung zwischen Eltern und Kind vgl. in dieser Arbeit den Abschnitt Sachlichkeit statt Gefühl. 191 192

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Lothar Ehrlich hielt Thomsens „pauschalisierende Feststellung“ für „bedenklich“,196 nach der das entworfene Kindheitstrauma ein „entscheidendes Motiv in der gesamten Dramatik Hebbels, vielleicht sogar das Zentralmotiv schlechthin“197 sein solle. Bei der Anwendung dieser These auf Hebbels Werk geriet Thomsen in der Tat in Erklärungsnotstand, etwa wenn er behauptete: „In besonders reiner Form [!] taucht der Gegensatz von extrovertiertem Vater und introvertiertem Sohn [!] wieder auf in dem Verhältnis Kandaules‘ zu Rhodope.“198 In dem Märchen Die einsamen Kinder wiederum „verkörpert der Bruder das, was der sich aus Wesselburen fortsehnende Hebbel überwinden muß, um sein Ziel zu erreichen, er ist dasjenige, was sich ihm auf dem Weg zu dem ‚glänzenden Ziel‘ entgegenstellt: die Heimat, die Herkunft, die Familie.”199 Die monokausale Ableitung paßte nirgends richtig – oder scheinbar überall. So konnte letztlich auch wieder ‚Wesselburen‘ als Chiffre für alles dienen, was der werdende Dichter ablehnen und ablegen mußte. Auch Hebbels dichterische Produktivität speiste sich nach Thomsens Meinung aus dem Konflikt mit dem Vater – gewissermaßen als ‚creatio ex negativo’. Die nicht überwundenen Kindheitstraumata bewirkten demnach, daß Hebbel dichterisch immer wieder die Abrechnung mit seinem Vater vollzog, vollziehen mußte, der er realiter, d. h. in der bewußten Verarbeitung seiner Kindheitseindrücke immer auswich. Aber gerade dieses dialektische Gegeneinander von bewußtem Harmonisierungswillen (wie er z. B. in den Aufzeichnungen aus meinem Leben zum Ausdruck kommt) und unbewußtem Vater-Erlebnis führte Hebbel vermutlich immer wieder zu dieser Thematik zurück; wäre er sich darüber klar geworden, hätte er sein Kindheitstrauma zu überwinden vermocht, so wäre vermutlich ein Großteil seiner produktiven Energie zugleich damit verschwunden.200

Der verdrängte Vater als primum movens unbewußten Schaffens? – Wenige Seiten zuvor hatte Thomsen einen freudianischen Erklärungsansatz zu Recht prinzipiell in Frage gestellt: „Die kindlichen Erfahrungen eines Häuslersohnes aus Dithmarschen in einer noch vorindustriellen Zeit waren ganz anderer Natur als die der behüteten Bürgerkinder des fin de siècle, mit denen Freud zu tun hatte“.201 In der Tat waren die familiären Beziehungen in Hebbels Elternhaus eher nüchtern; „seine Traumata waren weit handgreiflicherer Art“ als die sublimen ödipalen Komplexe moderner Bürgersöhne, die ungeklärt ins Unterbewußte verdrängt werden mußten. Dies wirft aber auch die Frage auf, wie der handfeste Gegensatz zum Vater poetisch ‚inspirieren‘ konnte – er hatte viel eher zu offener Stellungnahme bzw. argumentativer Rechtfertigung herausgefordert. Daß Thomsen, die Beziehung überhaupt auf diesen Aspekt reduziert202 und schon die Mutter bzw. die Institution ‚Eltern‘, von weiteren EHRLICH, [Rez.] Hargen Thomsen, S. 134. THOMSEN, Grenzen des Individuums, S. 152. 198 Ebd., S. 153. 199 Ebd., S. 174. Hervorhebung C. S. Weitere Beispiele bei THOMSEN, Patriarchalische Gewalt, S. 21–25. 200 THOMSEN, Grenzen des Individuums, S. 153. 201 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 148. 202 Die ganz unterschiedliche Wirkung der Vater-Dominanz auf Sohn und Tochter demonstriert exemplarisch Maria Magdalena an Klara und Karl. 196 197

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sozialisatorischen Instanzen ganz abgesehen, außer Betracht läßt, ist ein weiteres Manko. Thomsens psychologische Vorgehensweise war in sich selbst nicht konsistent, weil sie partiell auch „aus den Primärtexten“203 gewonnen wurde und zwischen hermeneutischem Verstehen und analytischer Distanz schwankte. So benutzte er „Hebbels Begriff der Psychologie“,204 um „dem Besonderen der Hebbelschen Charaktere noch näher zu kommen“: Ihm ist der menschliche Geist nicht eine Zwiebel mit unzähligen übereinandergelegten Schalen, er sieht dort einen unteilbaren, ideellen Kern; ihm wird der Mensch nicht durch die Einflüsse der Umwelt geprägt, vielmehr steht er dieser von Anfang an in Abwehr gegenüber.

Dieser essentielle Subjektbegriff ist allerdings kaum mit Thomsens Analyse der „künstlerischen Persönlichkeit“ vereinbar, die durch traumatisierende „Einflüsse der Umwelt“ erst entstanden sein soll. Über die Identität Hebbels meinte er nämlich: In einer [vom Vater dominierten] Umwelt, die jeder intellektuellen Tätigkeit ablehnend, ja geradezu feindselig entgegenstand, mußte die Konstituierung des Selbstbewußtseins – Selbstbewußtsein im Sinne einer sich selbst gewissen Identität – entweder vollständig scheitern oder im Gegenteil so hypertrophe Formen annehmen, wie das bei Hebbel ja in der Tat zu beobachten ist.205

Diese „hypertrophen Formen“, die allenfalls zu einer Selbst-‚Behauptung‘ durch Sprache führen, passen jedoch nicht zum Identitätsbegriff Hebbels, auf den sich Thomsen gleichfalls bezieht: „Das Individuum ist das Ursprüngliche, die ‚menschlichen Institutionen‘ das Sekundäre“.206 Zu Recht bemängelte daher U. Henry Gerlach: „Auf die im Titel erwähnten Grenzen des Individuums wird verschiedentlich und jeweils mit anderer Bedeutung hingewiesen“.207 Die begriffliche Inkonsistenz wird bei Thomsen dadurch aufgefangen, daß Identität selbst als historisch wandelbar erscheint: Für das ‚ursprüngliche‘ Individuum war das moderne – Freudsche – Zeitalter „einer zuendegehenden Stände- und heraufziehenden Massengesellschaft“208 erst noch im Anrollen – als „Springflut einer desorganisierten, desintegrierten Welt, die das Individuelle zu zerstören droht“.209 Ob diese Beschreibung in derartiger Eindeutigkeit zutrifft, ist fraglich: Brachte die moderne Auflösung ständischer, korporativer, kollektiver Bindungen ‚das Individuelle‘ nicht erst hervor? Und wie paßt zu einer vormodernen Kinderpsyche diese „Problematik des Individuums“,210 das „in die Relativität rein immanenter Bezugssysteme [zerfließt]“?211 THOMSEN, Grenzen des Individuums, S. 5. Dieses und die folgenden Zitate: Ebd., S. 65. 205 THOMSEN, Patriarchalische Gewalt, S. 19. 206 THOMSEN, Grenzen des Individuums, S. 131. 207 GERLACH, [Rez.] Thomsen, S. 550. 208 THOMSEN, Grenzen des Individuums, S. 62. 209 Ebd., S. 71. 210 Ebd., S. 62. 211 Dieses und das folgene Zitat: Ebd., S. 201. 203 204

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Friedrich Hebbel – ausgeforscht?

Der begrifflichen Unklarheit des ‚Individuellen‘ entspricht die Mehrdeutigkeit von Thomsens Vorstellung von überindividueller Ordnung. So ist einerseits vom „Zusammenbruch transzendentaler Ordnung“ die Rede, während andererseits postuliert wird, daß „die entschiedene Betonung reiner Individualität paradoxerweise gerade seine transzendente Eingrenzung verlangt“.212 Das „Paradox“ aber wird nicht recht durchdrungen. Auch hier hätte mentalitätshistorisch fundiert zwischen einer vorgängigen (und vergehenden) Ordnung und sekundären „Institutionen als Hilfskonstruktionen“213 unterschieden werden müssen. Dieses theoretische Manko konkretisiert sich an Thomsens undifferenziertem Gebrauch der Begriffe „Bürgertum“ und „bürgerlich“. Wenn er rhetorisch fragte, „wo schließlich wird der liberalen Aufbruchsstimmung des Bürgertums derart kraß die tödliche Enge der bürgerlichen Welt demonstriert wie in Maria Magdalena!”,214 dann übersah er, daß der alte Meister Anton einen vollkommen anderen Bürgertypus darstellte als den eines modernen Liberalen. Nicht so sehr die „Fragwürdigkeit der neuen Zeit“215 wurde hier demonstriert (dies am ehesten an der Figur Leonhards), sondern eine archaische Gegenwart.216 Auch Thomsens individualpsychologischer Ansatz litt so an einer mangelnden Integration der historischen und sozialen Dimension. Ähnlich wie Thomsen sah auch Dirk Dethlefsen in einem 1997 publizierten Aufsatz den Schlüssel zu Leben und Werk Hebbels in den Versehrungen, die er in Wesselburen erlitten habe. Dethlefsen machte dafür allerdings vor allem die soziale Situation verantwortlich: Zwei Aspekte sind in diesem Zusammenhang wichtig: Die menschlichen Folgen der Armut und ihre Auswirkung auf das Werk, denn die Armut hat nicht nur Hebbels Persönlichkeit tiefgreifend beeinflußt. Auch seine literarische Produktion, vor allem die dramatische, trägt die Signatur dieses großen Mangels – genauer: die Signatur dessen, was der Autor aus ihm machte.217

Dethlefsen reflektierte jedoch nicht, was Hebbel aus diesem Mangel „machte“ (also den produktiven Zusammenhang von Kunst und Leben), sondern übernahm kritiklos dessen „erbarmungslose Einsicht in sein Los“. Ob aber dieses Los tatsächlich so erbarmungslos war, wie seine „Einsicht“, wäre erst noch zu untersuchen. Denn gerade wenn Hebbels „Lebensnot […] in der Verflechtung von Armut und ausschließlich künstlerisch-gesellschaftlichem Ehrgeiz“ wurzelte, ist von einer „künstlerischen“ Stilisierung auch der Biographie auszugehen. So zeichnen sich etwa Hebbels Aufzeichnungen aus meinem Leben keineswegs durch eine „Verinnerlichung seines Elends“ aus, sondern im Gegenteil gerade durch idyllische Tendenzen, die zumindest zu einer difEbd., S. 202. Ebd., S. 131. 214 Ebd., S. 201. 215 Ebd., S. 200. 216 Schon Lütkehaus hatte davor gewarnt, „einen uniformen Bürgerlichkeitsbegriff ins Spiel zu bringen, auch wenn die Forschung […] dabei meist mit schlechtem Beispiel vorangegangen ist“ [LÜTKEHAUS, Friedrich Hebbel. Maria Magdalene, S. 95]. 217 Dieses und die folgenden Zitate: DETHLEFSEN, Versehrungen, S. 69. Hervorhebung C. S. 212 213

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ferenzierteren Betrachtung hätten Anlaß geben müssen. Doch ganz ähnlich nannte schon 1970 Horst Siebert „Wesselburen […] symptomatisch für den unterprivilegierten, künstlerisch chancenlosen Hebbel“,218 der „die Existenznot, die Knechtung und Armut dieser Unterschicht am eigenen Leibe erfahren hat“219 und der „verzweifelt“ versuchte, „sich von den Fesseln seines Milieus zu lösen“220 – um den „Preis der Selbstaufgabe und der bedingungslosen Anpassung“. Auch die Aufsätze Sieberts und Dethlefsens sind typisch für das verbreitete Bedürfnis, die scheinbar ‚einfach‘ strukturierte Frühzeit Hebbels in Wesselburen auf einen Nenner zu bringen. So verschieden die Erklärungsansätze insgesamt sein mochten, sie liefen meist auf denselben Fluchtpunkt zu. Egal, ob Wesselburen als geschichts- oder kulturlos galt, ob Hebbel durch die Armut, den Vater oder den Kirchspielvogt Mohr gedemütigt wurde – fast immer standen Hebbels Heimat und Herkunft für das, was in Kampf, Abwehr oder Kompensation vom werdenden Dichter überwunden werden mußte. Sagte Hebbel nicht selbst, er sei erst seit seinem „Weggang aus Dithmarschen […] in der Welt“ [T 2509]? Dagegen hatte schon 1911 Hermann Krumm behauptet, daß Hebbel „im Innersten dankbar war für das ‚Jungsparadies‘, das die Heimat, trotz allem, doch auch ihm geboten hatte“.221 Theobald Bieder wies 1926 auf Hebbels manipulative Stilisierung hin: „Prüfen wir die Verhältnisse näher, so finden wir, daß Hebbel an der ‚Verdunkelung‘ seiner Jugendzeit am meisten beteiligt ist. […] Erinnerungen an seine Heimat erscheinen verdüstert, verbittert”.222 Diese „Verdunkelung“ setzte offenbar direkt nach seinem Weggang aus Wesselburen ein, denn während eines Besuchs bei der Mutter 1836 gestand Hebbel seiner Hamburger Freundin Elise Lensing in einem Brief: „ich hatte mich in der Ferne nur der unangenehmen Seiten des Freundes [i. e. Dithmarschen] erinnert; wie ich ihm aber wieder ins Auge sah, ging mir das Andenken so mancher seligen Stunde; die mir durch ihn geworden war, im Gedächtniß auf”.223 Auch Paul Bornstein, einer der besten Kenner von Hebbels Wesselburener Verhältnissen, warnte vor einer einseitigen Darstellung: H[ebbel] selbst hätte sich entschieden dafür bedankt, als „Dichter des Hungers“ gefeiert zu werden. Wir müssen uns hüten, Hebbels äußeres Leben in den Wesselburener Jahren in zu düsterem Licht zu sehen; wir wissen von Jahrmarktfreuden, vom Liebhabertheater, von der „Saufgesellschaft“, von den „Börsen“, Zusammenkünften des Jungvolks zu Spiel und Tanz.224 SIEBERT, Friedrich Hebbel – Anpassung und Widerstand, S. 45. Ebd., S. 44. 220 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 43. Vgl. etwa auch FOURIE, Das „Abgrund“-Motiv, S. 55f. 221 KRUMM, Zum 18. März 1911, S. 7. 222 BIEDER, Der Dithmarscher Friedrich Hebbel, S. 165. 223 WAB 1, 68. Auch das Verhältnis zu Mohr verfinsterte sich offenbar erst post festum, vgl. dazu unten den Abschnitt Der schwarze Mann. 224 HP I, 470. Bornstein setzte hinzu: „Über den seelischen Druck freilich, die Qual des verfehlten Berufs konnte all das auf die Dauer nicht forthelfen“. Inwieweit allerdings an ein ‚Berufsbild Dichter‘ eingangs des 19. Jahrhunderts – zumal für einen pubertierenden Jüngling – überhaupt zu denken sein sollte, kann hier nicht diskutiert werden. 218 219

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Friedrich Hebbel – ausgeforscht?

Wenn die neuesten Autoren sich von den älteren korrigieren lassen müssen, dann wirft dies ein Schlaglicht auf die gegenwärtige Forschungsituation. Angesichts der Menge der Publikationen und Perspektiven verliert die Diskussion ihre Kohärenz und beginnt, sich im Kreise zu drehen. Doch darf dies nicht zum erneuten Wunsch nach Komplexitätsreduktion und einseitigen Methoden verführen. Allzu lange herrschte, wie bei der Werkinterpretation, so auch in der Biographik die Tendenz zu eindimensionalen Erklärungen und unangemessenen Verabsolutierungen: Mal war es Hebbels ‚Dithmarschertum‘, mal eine ‚germanische‘ Ethik, dann wieder die individualpsychologische Traumatisierung durch den Vater oder die sozialisatorische Deklassierung durch Armut, die Hebbels spezifisches So-Sein erklären sollten. Angesichts dieser disparaten Situation der Hebbelforschung sind Interdisziplinarität und Multiperspektivität mehr als anderswo ein Desiderat, wie etwa Friedrich Sengle 1980 feststellte: Aber die biographische, sozial- und theatergeschichtliche, die gruppengeschichtliche, auch die stil- und gattungsgeschichtliche Hebbelforschung, die für die Werkinterpretation erst sichere Grundlagen schaffen könnte, ist sehr vernachlässigt und bietet jungen, auch ausländischen Forschern viele lohnende Ziele.225

Eine sozialgeschichtlich breit ausgerichtete Forschung setzte überhaupt erst in den siebziger Jahren ein. Ludger Lütkehaus, Protagonist dieser Richtung, schrieb: „Als 1963 der Sammelband Hebbel in neuer Sicht erschien, wurde in der Einführung festgestellt, daß eine ‚historisch-soziologische Analyse‘ wie für andere wichtige Autoren des 19. Jahrhunderts auch für Hebbel noch ausstehe. Als 1969 der Sammelband wiederaufgelegt wurde, konnte diese Feststellung unverändert übernommen werden“.226 Auch 1975 konnte Lütkehaus noch immer schreiben: „In der Tat ist eine ‚historischsoziologische Analyse‘ für Hebbel noch zu leisten“. Darüber hinaus stellte er fest, daß „einige Voraussetzungen für einen derartigen Versuch erst noch zu schaffen sind. Zu verfolgen wäre zunächst Hebbels soziale Biographie […] als konstitutives Moment des Werkes und der Selbstinterpretation“. 1982 relativierte Lütkehaus diese Diagnose vor allem mit Blick auf eigene Werke und die Arbeiten Schlaffers und Fenners, denen die Rolf Engelsings hinzuzufügen wären: „Die geforderte ‚neue‘, historische bzw. historisch-soziologische Hebbel-Sicht ist von mehreren Autoren skizziert worden”.227 Gleichwohl erachtete er eine „historisch verfahrende Analyse“ nach wie vor als „zentrale Aufgabe“228, wobei zu klären sei, wie sich direkte und indirekte Zeitgemäßheit in Hebbels Gesamtwerk zueinander verhalten; welche ästhetische und theatergeschichtliche, soziale und politische, biographische und gruppengeschichtliche, nicht zuletzt, welche geschichtsphilosophische Bedeutung der unmittelbare Gegenwartsbezug bzw. die (Rück-)Wendung zur Geschichte/zum Mythos jeweils hat.

SENGLE, Biedermeierzeit, S. 413. Dieses und die folgenden Zitate: LÜTKEHAUS, Pantragische Liquidation, S. 182. 227 LÜTKEHAUS, Hebbel in historischer Sicht, S. 17. 228 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 26. 225 226

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Trotz seines dezidiert sozialgeschichtlichen Interesses gelangte Lütkehaus nicht dazu, Hebbels eigene Geschichte in Form seiner ‚Sozialisation‘ zu untersuchen. An einer aus Sicht der Hebbel-Forschung entlegenen Stelle, nämlich im Rahmen eines Aufsatzes, der Historische Sozialisationsforschung und Regionalgeschichte als Methoden der Erziehungsund Bildungsgeschichte vorstellte, führte lediglich Rainer S. Elkar an Hebbels Kindheitserinnerungen ansatzweise und exemplarisch vor, wie autobiographische Texte als sozialisationsgeschichtliche Dokumente zum Sprechen gebracht werden können.229 Aufgegriffen oder auch nur wahrgenommen wurde dieser Aufsatz von der HebbelPhilologie nicht. Zuletzt wies Günter Häntzschel 1999 eindringlich „auf das wohl größte Desiderat der Hebbel-Forschung hin, auf eine gegenwärtigen Ansprüchen genügende, vom Material gesättigte, aber nicht in diesem versinkende Monographie des Autors. Daß eine solche immer noch fehlt, […] erklärt sich wohl einmal aus der erwähnten bisherigen Unübersehbarkeit der Lebenszeugnisse, zum anderen aber – und damit bedingt – aus den Einseitigkeiten und Vorurteilen, die sich aufgrund selektiver Wahrnehmung gebildet haben.“230 Zumindest die Übersichtlichkeit der Quellenlage verbesserte sich entscheidend, als 1999 die historisch-kritische Ausgabe von Hebbels Briefwechsel erschien. Die erstmals gegebene Verfügbarkeit des gesamten Briefmaterials231 in chronologischer Folge und dialogischer Form ermögliche, so Häntzschel, daß wir Hebbel nicht als einen Repräsentanten einer wie auch immer starren Ideologie erfahren, sondern ihn in und durch den Briefwechsel in der Dynamik seines Lebensprozesses verfolgen können […]. Das heißt: wir erleben Hebbel in seinen Anfechtungen und Konflikten, wir können ihn verstehen, in sein Inneres eindringen, er rückt uns näher und ist uns präsent als Mensch. Vorurteile gegenüber Hebbel lassen sich abbauen und durch genauere Einsichten ersetzen.232

Wie war Hebbel „als Mensch“? Über diese Frage gehen trotz langer Forschungstradition und einer Unzahl wissenschaftlicher Arbeiten die Meinungen weit auseinander. Gerade an dem biographischen Forschungsstand wurde zu allen Zeiten grundsätzliche Kritik laut. In einem Rundumschlag urteilte Wolfgang Wittkowski, „die Zusammenstellungen und biographischen Beschreibungen sind nicht viel nütze. Erfolgten sie doch selbst schon unter deutenden Gesichtspunkten, die heute nicht mehr ohne weiteres gelten.“233 Anni Meetz schrieb pointiert: „Eine ausführliche wissenschaftliche Biographie Hebbels gibt es nicht“.234 Friedrich Sengle forderte 1980 die erneute Behandlung der Lebensgeschichte auf der Basis kulturgeschichtlicher Spezialuntersuchungen und zugleich die Einbettung in einen historischen Gesamtzusammenhang: ELKAR, Historische Sozialisationsforschung und Regionalgeschichte. HÄNTZSCHEL, Künftige Aufgaben der Hebbel-Forschung, S. 148. 231 Gelegentlich tauchen freilich weitere „vereinzelte Zufallsfunde“ [KNEBEL, Zwei ungedruckte Briefe, S. 199] auf. Ein – offensichtlich unbekannter – Brief Hebbels aus dem Dezember 1855 an den Schriftsteller Karl Rick wurde 2008 vom Auktionshaus J. A. Stargardt angeboten. 232 HÄNTZSCHEL, Künftige Aufgaben der Hebbel-Forschung, S. 146f. 233 WITTKOWSKI, Der junge Hebbel, S. 34. 234 MEETZ, Friedrich Hebbel, S. 96. 229 230

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Friedrich Hebbel – ausgeforscht?

Um so entschlossener sollte die künftige Hebbelforschung in weiter ausgreifenden Einzelforschungen und, wenn es einen solchen Germanisten gibt, auch endlich einmal wieder in einer umfassenden, interpretierenden Biographie das Bild des Dichters gestalten, eines Dichters, der vordergründige Lösungen der religiösen, politischen, literarischen Probleme im allgemeinen verschmähte, auf Dauer bedacht war, die nachchristliche Krise als Problem von Jahrhunderten erfaßte.235

Und hatte Lütkehaus 1975 postuliert, „zu verfolgen wäre zunächst Hebbels soziale Biographie […] als konstitutives Moment des Werkes und der Selbstinterpretation“,236 so empfand er 1982 eine „Hebbel-Biographie auf dem historischen und methodischen Stand von heute“ 237, die insbesondere auf einer noch zu leistenden „sozialpsychologisch erweiterten Psycho-Analyse“ zu basieren hätte, als „besonders dringlich“. Auch Häntzschel nahm nach der Edition des Hebbelschen Briefwechsels als nächstliegendes Postulat die genauere Erforschung von Hebbels Persönlichkeit in den Blick: Ein erster Komplex bestände aus der Bearbeitung und Beantwortung offener Fragen, die weniger die Fakten seiner ja im ganzen gut bekannten Biographie, als deren intime, ihm selbst vielleicht nicht immer bewußten Bereiche betreffen, sei es in eigenen bohrenden Reflexionen, sei es im Austausch mit anderen aus seiner näheren oder weiteren Umgebung“.238

Mit dem erneut gewachsenen Interesse an Hebbels Lebensgeschichte korrespondiert eine generelle Aufwertung der Biographik in jüngerer Zeit: „Der Biographieforschung kommt bei diesem Umschwung, der inzwischen alle Sozialwissenschaften ergriffen hat, eine neue, bisher ungeahnte Bedeutung zu.”239 Die Wurzeln und die Ausbildung von Hebbels Persönlichkeit sind aber vor allem in der Wesselburener Zeit zu suchen. Gerade für diese Epoche, die immerhin fast die Hälfte seines Lebens umfaßt, ist nicht nur die Quellenlage am dürftigsten; die Vernachlässigung und Fehlinterpretation durch die Forschung tritt hier geradezu eklatant hervor.240 Es dominiert die Bevorzugung der späteren Lebensphase, in der Hebbel sich bürgerlich etablierte und in der er seine dramatische Produktivität entfaltete.241 Vom ‚fertigen‘, vom ‚gereiften‘ Dichter her gewinnt man die Ordnungskategorien

SENGLE, Biedermeierzeit, S. 414. LÜTKEHAUS, Pantragische Liquidation, S. 182. 237 Dieses und die folgenden Zitate: LÜTKEHAUS, Friedrich Hebbel in historischer Sicht, S. 26. 238 HÄNTZSCHEL, Künftige Aufgaben der Hebbel-Forschung, S. 147. 239 GESTRICH, Sozialhistorische Biographieforschung, S. 7. 240 So meinte Arno Scheunert schon 1903: „Das Wenige, was vom Leben des jungen Hebbel bekannt ist, hat in Emil Kuh und Richard Maria Werner so berufene Schilderer gefunden, daß es mehr als überflüssig [!] wäre, hier darauf einzugehen“, weswegen Scheunert eine folgenreiche Weichenstellung vornahm: „So beschränkt sich die folgende Darstellung auf seine Weltanschauung und seine Werke“ [SCHEUNERT, Der Pantragismus, S. V]. 241 Auch die Beiträge zum Symposion „Hebbel und seine Zeit“ von 1995 (publiziert im HebbelJahrbuch 1996 und 1997) befaßten sich, von den Arbeiten Stockingers und Dethlefsens abgesehen, fast ausnahmslos mit dieser Zeit. 235 236

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einer teleologisch zugerichteten Künstlerbiographie.242 Die konkreten Prägungen und Erfahrungen Hebbels, vor allem während der Wesselburener Zeit, aber auch seiner Schul- und Studienzeit in Hamburg, Heidelberg und München treten dabei meist ganz in den Hintergrund oder kommen als mehr oder weniger kuriose Begebenheiten einer überwundenen ‚Vor-Zeit‘ in den Blick. Stattdessen wird mit Vorliebe die so gänzlich unpassend scheinende Sozialisation in Wesselburen durch den Mythos einer ‚Selbstschöpfung‘ des Dichters ersetzt, den Hebbel selbst mit Vorliebe ausgab: Der wunderbare Aufstieg des Genies aus dem Nichts erklärt sich aus nichts anderem als seiner Genialität. In solcher Zirkelschlüssigkeit ‚rundet‘ sich die Dichterbiographie; auf die profanen Realitäten glaubt eine geistes-, ideen-, philosophie- oder religionsgeschichtlich begründete Werkinterpretation letztlich verzichten zu können. Diesen Haupttendenzen der Forschung stand lange Zeit diejenige Richtung gegenüber, die Hebbel in eigentümlicher Überzeugtheit als „Dithmarscher“ in Anspruch nahm. Dieser Ansatz bedeutete in letzter Konsequenz: Nur wer Dithmarscher war, konnte den Dithmarscher Hebbel ganz verstehen. Daß eine solch exklusive Abkapselung die Anschlußfähigkeit an literatur- und kulturhistorische Diskurse in Frage stellte, interessierte wenig; vielmehr ließ sich aus dieser Warte das Gros der Interpreten mit einem Federstrich aus dem hermeneutischen ‚Zirkel‘ ausschließen. Durch die zusätzliche ideologische ‚Einnordung‘ auf den ‚nordischen‘ Dichter in der Zeit des Dritten Reichs wurde der „Dithmarscher“ Hebbel aber bis heute wissenschaftlich diskreditiert. Vielleicht auch deswegen zeichnen diejenigen Arbeiten, die sich bewußt der Wesselburener Zeit zuwenden, ein negatives Bild, zu dem Hebbel selbst freilich die Vorgaben lieferte. Doch auch sie reduzieren die komplexe Wirklichkeit, wenn sie dort vornehmlich die Ursprünge psychischer „Deformationen“ (Thomsen), „Abgründe“ (Fourie) oder sozialer „Versehrungen“ (Dethlefsen) orten. Die Ansätze von Wittkowski und Stockinger haben dieses Bild nur punktuell relativieren können. Klagen über den Forschungsstand zu Hebbels Frühzeit begleiten die Hebbel-Philologie fast von Beginn an; die Diagnose Theobald Bieders ist im Prinzip bis heute gültig: Für jede künftig erscheinende Hebbel-Biographie ist ein erstes Erfordernis die gründliche Revision der Wesselburener Zeit des Dichters und besonders der letzten sieben bis acht Jahre, die er in der Kirchspielvogtei zugebracht hat. Seit der berühmten Biographie Emil Kuhs (1877) erscheint die Jugendzeit Hebbels in einem so trüben Lichte, daß das Werden des Dichters, sein überraschender Aufstieg, dadurch eher noch verdunkelt als erklärt wird.243

Wolfgang Wittkowski bemängelte an der Hebbel-Philologie, daß insbesondere „die Geschichte und die Werke seiner Frühzeit […] niemals gründlich dargestellt“ wurden und hielt die älteren Arbeiten für „fast unbrauchbar“. Friedrich Sengle, „der allzu Darin wird ein erkenntnistheoretisches Problem sichtbar, das Hans-Georg Beck am Beispiel des Byzantinisten erläutert, dessen „Handicap“ darin bestehe, daß er „von vornherein weiß, wie die Dinge hinausgegangen sind. Enden sie in einer Katastrophe, so ist er versucht, die Ursachen in der ganzen vorausgegangenen Epoche […] zu suchen und zurecht zu deuten“ und „allem was vorausgeht, von vornherein keine Chance mehr zu geben und es damit auf seinen Eigenwert hin gar nicht mehr zu untersuchen“ [BECK, Das literarische Schaffen, S. 32]. 243 BIEDER, Der Dithmarscher Friedrich Hebbel, S. 165. 242

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Friedrich Hebbel – ausgeforscht?

lange vergeblich für eine historische Germanistik plädiert hatte”,244 merkte 1980 an: „Es ist wohl deutlich geworden, daß die Meinungsverschiedenheiten über Hebbel sich aus seiner Herkunft, aus seiner charakterlichen Zwiespältigkeit und aus seiner überaus komplizierten Stellung in der Geschichte von selbst ergeben müssen“.245 Auch Jürgen Hein regte 1982 an, „den ‚Heimat‘-Spuren im dichterischen, biographischen und literaturkritischen Werk nachzugehen“.246 Hein schrieb: Die Untersuchung dichterischer und biographischer Äußerungen auf Natur- und Landschaftserfahrung, auf die Darstellung von Haus und Familie und die „Enge” der Welt, die Analyse der unterschiedlichen Verarbeitung der Motive (u. a. Kindheit, Traum, Identitätsund Existenzkrise) könnten […] zu neuen Einsichten in das Verhältnis Hebbels als Person und Dichter zu Natur, Heimat und Geschichte führen.247

Bieder, Wittkowski, Sengle und Hein sprachen eine ganze Reihe verschiedener Perspektiven an – notwendig ist jedoch eine kritische Revision von Friedrich Hebbels Jugendgeschichte im ganzen, um eine ebenso breite wie zuverlässige Grundlage für eine zukünftige Werkbiographie zu schaffen.

LÜTKEHAUS, Hebbel in historischer Sicht, S. 17. SENGLE, Biedermeierzeit, S. 411. 246 HEIN, Friedrich Hebbel und die Dorfgeschichte, S. 177. 247 Ebd., S. 187. 244 245

ANNÄHERUNG AN DEN JUNGEN HEBBEL – VORHABEN UND METHODIK

Literatur und Leben – Dichtung und Wahrheit? In der neueren, biographisch interessierten Hebbel-Forschung ist man sich über die Notwendigkeit einig, auf möglichst breit gefächertes Quellenmaterial zuzugreifen.248 Doch gerade wenn man sich in Zeit und Raum von Hebbels Kindheit und Jugend in Wesselburen versetzen will, sind die Primärquellen rar und disparat. Von Hebbel selbst gibt es die Aufzeichnungen aus meinem Leben, die autobiographischen Texte etwa für Arnold Ruge, Saint-René Taillandier und Sigmund Engländer, darüber hinaus zahlreiche verstreute Äußerungen in Briefen, Tagebüchern und in den Notizen zur Biographie und nicht zuletzt Passagen in literarischen Werken, die sich als autobiographisch dekodieren lassen. Dabei bleiben große Lücken, die zufälligen Überlieferungsverlusten, absichtslosem oder bewußtem Weglassen oder aber unbewußter Verdrängung geschuldet sein können. Die Tagebücher, die Hebbel schon vor seinem Weggang nach Hamburg führte, sind nicht erhalten, die frühesten Briefe datieren (mit einer Ausnahme) nicht vor 1831, so daß man im wesentlichen auf spätere Erinnerungen zurückgreifen muß. Doch auch die Aufzeichnungen aus meinem Leben brechen mit dem siebten Lebensjahr ab, so daß es für die gesamte Knaben- und Jugendzeit keine zusammenhängende autobiographische Darstellung gibt. Die knappen, meist stichwortartigen Notizen zur Biographie blieben trotz der Kommentierungsversuche durch Richard Maria Werner und Paul Bornstein überwiegend kryptisch und unausgewertet. Wenn Günter Häntzschel also von der „im ganzen gut bekannten Biographie“249 Hebbels sprach, dann ist gerade die nur sehr fragmentarisch dokumentierte Wesselburener Zeit von dieser Feststellung auszunehmen. Insofern erscheint trotz der Edition von Hebbels Briefwechsel und der damit verbundenen Beseitigung der „bisherigen Unübersehbarkeit der Lebenszeugnisse“250 mit Blick auf eine zukünftige HebbelMonographie die Hoffnung optimistisch, nun „stände einer Ausführung nicht mehr allzu viel im Wege.“ In Angriff genommen wurde sie jedenfalls bisher nicht. Problematisch ist auch die Heterogenität des autobiographischen Materials. Wo es nicht in erster Linie um literarische Qualität geht, sind alle biographisch relevanten Informationen zunächst unvoreingenommen als gleichwertig zu behandeln. Ihre breite zeitliche und textsortenspezifische Streuung ermöglicht dabei eine vergleichend-kritische Betrachtung schon innerhalb der Hebbelschen ‚Textwelt‘: „Mit seinen vielfältigen Äußerungsformen bietet Hebbel dem Interpreten die Chance, die Interpretation zu überprüfen und zu korrigieren“,251 sowie „Widersprüche […] sichtbar und fruchtSiehe dazu oben Wittkowski und Fenner. HÄNTZSCHEL, Künftige Aufgaben der Hebbel-Forschung, S. 147. 250 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 148. 251 FENNER, Friedrich Hebbel zwischen Hegel und Freud, S. 12. 248 249

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Vorhaben und Methodik

bar“ 252 zu machen, schrieb Birgit Fenner. Zu fragen wäre jedoch, woher die Kriterien zur Bewertung und Klärung dieser Widersprüche innerhalb des Hebbelschen Kosmos zu gewinnen wären. Da diese Texte meist aus der zeitlichen, räumlichen und sozialen Distanz des mehr oder weniger arrivierten Schriftstellers geschrieben wurden, ergeben sich unterschiedliche Brechungen. Bei „Äußerungen über sich selbst neigt er zur Selbststilisierung, so daß die Hebbelforschung eine noch größere quellenkritische Behutsamkeit erfordert als andere Philologien der Zeit“,253 mahnte Friedrich Sengle. So tritt Hebbel der eigenen Vergangenheit mal scharf ablehnend, mal in idyllisierender Verklärung gegenüber; mit Tendenzen zur Individualisierung, Enthistorisierung und Literarisierung der Lebensgeschichte muß daher grundsätzlich gerechnet werden. Kerstin Stüssel erkannte darin sogar die paradoxe Grundstruktur von Texten, in denen Schriftsteller sich selbst thematisieren: „In Autobiographien und Romanen kann nämlich Lernen und Handeln der Dichter beschrieben und beobachtet werden, obwohl sie als Genies behaupten, weder zu lernen, noch zu agieren, sondern als Schöpfer zu erscheinen.“254 Stüssel kam zu dem Ergebnis: „Dem einzelnen Individuum ist letztlich undurchsichtig, wie es war und wie es wurde, was es ist“.255 Hebbel selbst erahnte die Tücken und Befangenheiten der Selbstreflexion, als er mit Blick auf seine „schon 1846 angefangene Selbst-Biographie“ äußerte: „Es ist dieß wirklich eine der schwersten Aufgaben, die man sich stellen kann, vorausgesetzt, daß man nicht bloß über sich selbst räsonniren will; Zustände und Personen treten, wie man weiter in’s Leben hinaus kommt, so sehr zurück, daß man kaum mehr begreift, wie sie einst bestimmend und maaßgebend seyn konnten, und sie wollen dargestellt seyn, als ob sie noch in voller Schwere auf Einem lasteten“ [WAB 2, 660]. Dies aber ist die grundsätzliche Voraussetzung einer tiefergehenden Beschäftigung mit Hebbel: Intuitives (oder gar identifikatorisches) Einfühlen in seine ‚Individualität‘ ist nicht zureichend, um ihm gerecht zu werden. Auch die scheinbar nur ‚berichtenden‘ Texte bedürfen der Interpretation;256 ihre ‚Authentizität‘ ist nicht an sich bestimmbar. So sind Hebbels scheinbar spontane Tagebuch-Notate keineswegs immer „primäre Niederschläge seines Denkens“,257 wie bereits Peter Michelsen feststellte, sondern, so Ilse Aichinger, eine „künstlerische Ausdrucksform, in der eben das Perspektivische, Fragmentarische, Punktuelle zum Stil wird“.258 Michaela Holdenried sah gerade hier „Verdrängungstendenzen“259 und „Fluchtmöglichkeiten vor der eigenen Wirklichkeit“; 260 eine „innere Blockade“ habe Hebbel „auch in seinen Tagebüchern davon abgehalten, gewisse Grenzen zu überschreiten“. Auf der anderen Seite können literarisierte Äußerungen nicht a priori als weniger relevant gelten. So können sie in komplexerer Weise vom Unbewußten gespeist sein und verschlüsselt preisgeben, was Ebd., S. 13. SENGLE, Biedermeierzeit, S. 412. 254 STÜSSEL, Poetische Ausbildung und dichterisches Handeln, S. 129. 255 Ebd., S. 257. 256 Vgl. WITTKOWSKI, Der junge Hebbel, S. 35. 257 MICHELSEN, Friedrich Hebbels Tagebücher, S. 23. 258 AICHINGER, Friedrich Hebbel, S. 148. 259 HOLDENRIED, Autobiographie, S. 182. 260 Dieses und die folgenden Zitate: Ebd., S. 183. 252 253

Literatur und Leben – Dichtung und Wahrheit?

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in explizit autobiographischen Texten nicht zur Sprache kommt. Die stilisierte Lebenserzählung besitzt zudem als gestaltetes Selbstbild einen gesteigerten dokumentarischen Wert, der über den simpler Faktizität hinausreicht: Indem wir solche Erzählungen vergleichen, um ihre übereinstimmenden oder abweichenden Konstruktionsprinzipien zu durchschauen und die ‚Grammatik‘ dieser Geschichten zu verstehen, erfahren wir sehr viel über jenes unhinterfragte Alltagswissen und die kulturellen Selbstverständlichkeiten, die bei diesen persönlichen Verarbeitungsprozessen gleichsam die Regie führen.261

Aus einer solchen Erkenntnisperspektive können die Tagebuchaufzeichnungen geradezu als defizitär erscheinen: „Gerade die Unmittelbarkeit der Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt, die Hebbel in einer Tagebuchnotiz [T 2687] hervorhebt, ist Hindernis, nicht Vorteil für eine angestrebte allgemeine Bedeutung der Aussage: die Unmittelbarkeit erreicht nicht die Gewißheit des Nachprüfbaren“,262 urteilte Herbert Kraft. Mit anderer Akzentuierung meinte Hargen Thomsen: „Deutung ist aber dem Diaristen nur aus dem Augenblick heraus möglich. Er steht den Dingen zu nahe, als daß er sie überblicken könnte, er sieht nur Details, aber nicht das Ganze“.263 Eine literarisierende Überformung tut dem Zeugnischarakter der Quellen aus solcher Sicht keinen Abbruch. Im Gegenteil: Der Gegenstand der Biographieforschung ist die Darstellung und Erklärung des äußeren Lebenslaufs und der Selbstinterpretation von Individuen […]. Das heißt, Biographieforschung hat es zwar nicht ausschließlich, aber doch zu einem wesentlichen Teil mit der Analyse von Prozessen der Persönlichkeitsentwicklung und Identitätsbildung zu tun.264

Insofern sich Hebbels Selbstinterpretation auf sein Dichtertum bezieht, ist sie von eminenter Bedeutung für seine künstlerische Identität. Wenn die Biographik diese Dimension berücksichtigt, entgeht sie nicht nur der Gefahr eines positivistischen „Biographismus“, sondern kann auf diese Weise ‚Leben und Werk‘ aufeinander beziehen, ohne die Sensibilität dafür zu verlieren, daß Lebenswirklichkeit und Lebenswerk prinzipiell unterschiedlich strukturiert sind. Anstatt die verschiedenartigen biographisch relevanten Textsorten gegeneinander auszuspielen, um letztlich wieder nur zu einer rätselvollen Widersprüchlichkeit Hebbels zu gelangen, müssen biographische Tatsachen und ihre Stilisierungen, unbewußte Prägung und bewußte Selbstentwürfe, Identifikationen und Abwehrreaktionen aufeinander bezogen werden. Erst dadurch tritt die Biographik aus dem Schatten der bloßen Werkkommentierung und -illustration und ermöglicht einen differenzierteren Blick auf das Leben und die Voraussetzungen der Kreativität ‚hinter‘ dem Werk. Doch der biographische Hintergrund GESTRICH, Sozialhistorische Biographieforschung, S. 20. Vgl. auch die ausführlicheren Diskussionen bei HOLDENRIED, Autobiographie, S. 38ff. und 52 ff., sowie PASCAL, Die Autobiographie, S. 208–229. 262 KRAFT, Poesie der Idee, S. 8. 263 THOMSEN, Das Tagebuch im Übergang zu literarischen Kunstform, S. 375. Vgl. dazu auch T 1560. 264 GESTRICH, Sozialhistorische Biographieforschung, S. 14. Hervorhebung C. S. 261

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vermag auch dem allzulange ‚immanent‘ interpretierten bzw. nach literarhistorischen und ästhetischen Kriterien hierarchisch geordneten und zurechtgestellten ‚Werk‘ neue Aspekte und Facetten abzugewinnen. Insofern gehört es zum thematischen Horizont der vorliegenden Arbeit, zahlreiche kleinere und größere interpretierende Abschnitte zu Hebbelschen Werken oder auch nur einzelnen Textstellen einzuschalten – hieran erweist sich konkret und en detail die literaturwissenschaftliche Relevanz des biographischen Ansatzes.

Interaktionistische Perspektive und „dichte Beschreibung“ Günter Häntzschel wies in seinem Aufsatz über Künftige Aufgaben der Hebbel-Forschung auf die paradigmatische Bedeutung hin, die gerade Hebbels sogenannte „Vermischten Schriften, seine kritischen Abhandlungen zu Literatur und Sprache, seine Rezensionen, seine Berichte aus Wien an die Augsburger Allgemeine Zeitung, seine Reiseskizzen und -schilderungen, Gattungen also, die unter der um die Jahrhundertwende zeitüblichen Dominanz der Trias von Lyrik, Epik und Dramatik als Nebenprodukte angesehen wurden“,265 für die weitere Forschung besäßen. Diese – schon editorisch vernachlässigten – Texte würden „heute gerade deswegen interessieren, weil sie Hebbel im Dialog mit seiner geistigen und politischen Umwelt zeigen und seine Persönlichkeit von dem ihm lange anhaftenden Odium des Monomanen befreien können.“ Damit sprach Häntzschel eine grundlegende Einsicht aus: Noch mehr als in den geschlossenen Werken, hinter denen sich ein ‚monomanes‘ Dichter-Ich zu verbergen scheint, öffnet sich Hebbel in scheinbar randständigen Texten interaktiv auf seine Umwelt hin und bietet so zugleich Ansatzpunkte für multiperspektivische Betrachtungen. Doch reicht es nicht aus, Maßstäbe einer kritischen Bewertung aus einer dialektischen Interpretation allein der Hebbelschen Texte gewinnen zu wollen. Im Forschungsbericht wurde bereits auf die Mängel unhistorisch oder individualpsychologisch verfahrender Ansätze hingewiesen, die freilich auf die verfeinerten Instrumente der jüngsten Sozialforschung noch nicht zurückgreifen konnten. Noch 1978 wollte Heinz Stolte den „historisch-soziologischen“ Ansatz von Ludger Lütkehaus pauschal mit einer rhetorischen Frage abweisen: „Welche gesellschaftliche ‚Gruppe‘ wäre es wohl, in die dieser Steppenwolf [Hebbel] je integriert worden wäre? Er hatte keine ‚Bezugsgruppe’“.266 Der Dichter, so Stolte, sei ein „gleichsam asoziales Phänomen der Menschheit“. Demgegenüber folgt die neuere Biographieforschung der Einsicht, daß das Individuum kein „vereinzelter homo clausus“267 ist und daß die Bedeutungen von Handlungen (Äußerungen, Taten etc.) nicht vom Aktor autonom vorgegeben werden können. Sie sind vielmehr ein Produkt der Kommunikation mit und der

Dieses und das folgende Zitat: HÄNTZSCHEL, Künftige Aufgaben der Hebbel-Forschung, S. 150. 266 Dieses und das folgende Zitat: STOLTE, Literaturbericht 1977, S. 298. 267 GESTRICH, Sozialhistorische Biographieforschung, S. 7. 265

Interaktionistische Perspektive und „dichte“ Beschreibung

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Interpretation durch die angesprochenen Partner. Selbst die eigene Interpretation des eigenen Handelns, das Selbst-Verstehen ist nicht autonom möglich […]. Interaktion und Selbst-Verstehen gehen erst aus einem Verständigungsprozeß zwischen Menschen hervor und werden durch Kommunikation auch ständig verändert.268

In einer Studie über Hebbels erste Lebenshälfte kommt dem Entwicklungsaspekt naturgemäß eine eminente Bedeutung zu. Darum hat die „historische Biographik im Sinne einer historischen Sozialisationsforschung die Produktion von Identität im Rahmen von jeweils durch die Struktur von Familie und Gesellschaft geprägten Handlungs- bzw. Kommunikationszusammenhängen zu rekonstruieren“.269 Diesem Ansatz ist die interaktionistische Perspektive von vornherein inhärent, geht es doch nicht darum, ein ‚sich‘ entwickelndes Individuum zu beschreiben, sondern darum, „etwas zur Erhellung der Vermittlungszusammenhänge zwischen ‚objektiven‘ Arbeitsund Lebenssituationen und ‚subjektiven‘ Orientierungen und Verhaltensweisen beizutragen“.270 Wenn der „Sinn, den meine Identität darstellt, […] von Anfang an verwoben [ist] mit einem Sinn, der nicht von mir stammt“,271 dann hat dies Konsequenzen für den Standort des Biogaphen, für den Umgang mit dem biographischen Material und für die Darstellung des Individuums selbst. Für den Biographen ist auch dies eine Mahnung, daß kritische Distanz den Vorrang vor ‚kongenialer‘ Einfühlung besitzen muß. Das kann im Fall Hebbels z. B. davor schützen, unkritisch dessen Mythos einer künstlerischen Selbstschöpfung zu bedienen. Stattdessen eröffnet eine interaktionistische Perspektive neue Möglichkeiten im Umgang mit den internen Widersprüchen des biographischen Materials, die weder ‚weginterpretiert‘ noch ontologisiert werden müssen. Im Unterschied zur psychoanalytischen Theorie geht sie „von einer prinzipiellen Offenheit und Interaktionsbezogenheit der Entwürfe des Individuums von sich selbst aus“: Identität ist nicht mit einem starren Selbstbild, das das Individuum für sich entworfen hat, zu verwechseln; vielmehr stellt sie eine immer wieder neue Verknüpfung früherer und anderer Interaktionsbeteiligungen des Individuums mit den Erwartungen und Bedürfnissen, die in der aktuellen Situation auftreten, dar. (Lothar Krappmann).

Damit ist die Möglichkeit einer flexibleren Interpretation gegeben, die sich an der kommunikativen Lebenswelt ausrichtet und nicht an relativ starren und abstrakten philosophie-, geistes- oder ideengeschichtlichen Grundaxiomen. Zu oft haben Hebbel-Forscher – ausgehend von Hebbels „Pantragismus“ statt von Hebbels Lebenswelt – Individuum und Gesellschaft, Individuum und Geschichte als Gegensätze aufgefaßt, die sich allenfalls in geschichtsphilosophischen Modellen oder in der spannungsvollen Poetik einer tragischen ‚Versöhnung‘ ausgleichen ließen. „Menschen handeln gegenüber anderen Menschen bzw. Dingen vor allem ‚auf der Grundlage der Ebd., S. 10. Ebd., S. 17. 270 SCHLUMBOHM, ‚Traditionale‘ Kollektivität und ‚moderne‘ Individualität, S. 284. 271 Dieses und die folgenden Zitate: GESTRICH, Sozialhistorische Biographieforschung, S. 15. 268 269

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Bedeutungen […], die diese Dinge für sie besitzen’“272 – die Interpretation kann daher „nicht unabhängig vom Kontext der Alltagsdeutungen der Interaktionsteilnehmer“273 erfolgen. Unter kommunikationswissenschaftlichen Gesichtspunkten „wird man nach den sozialen Systemen fragen, in denen sie als Mittler dienen“,274 schreibt Michael Giesecke und konkretisiert: „Anstatt von Sprechern und Hörern zu abstrahieren und sich auf die Struktur der Botschaft zu konzentrieren, werden […] Sender und Empfänger mitmodelliert“.275 Dies ist auch bei Hebbel notwendig. Denn die ‚Botschaften‘, die er empfing, waren ebenso vielstimmig, wie diejenigen, die von ihm ausgingen und wiederum von Zeitgenossen und Biographen je anders reflektiert wurden. Damit stellt sich für den interaktionistischen Ansatz „das hermeneutische Problem des Sinnverstehens erneut in unvermittelter Schärfe. Denn um an einem ‚Gespräch‘ teilnehmen zu können, muß der Sozialforscher mit den ‚Objekten‘ einen gemeinsamen Sinnhorizont teilen”, 276 oder, mit Richard van Dülmen, „sich zu einem sensiblen Umgang mit den Quellen bekennen und die ‚Innenseite‘ sozialer Handlungsräume vorsichtig ausleuchten“.277 Dies aber ist nur möglich durch „dichte Beschreibungen“ im Rahmen einer möglichst umfassenden Rekonstruktion der historischen Realität, die davor bewahrt, „daß die ‚kleinen‘ Lebenswelten von den großen Strukturzusammenhängen verdeckt werden.“ Schon Hebbel selbst meinte, nachdem er begonnen hatte, seine Kindheitsgeschichte zu aufzuschreiben: „Ein Lebensgang, wie der meinige, mit seinen rein inneren Resultaten, kann nur ganz im Detail dargestellt werden, oder gar nicht“ [WAB 1, 1051]. Um das lückenhafte und perspektivisch verschobene Bild zu vervollständigen, ist man gerade bei Hebbel „ganz wesentlich auf die Ergebnisse der einschlägigen sozialgeschichtlichen Forschungen angewiesen. Sie geben den Rahmen ab, in den sich die einzelnen Funde integrieren lassen.”278 Dies bedeutet gegenüber der gängigen individualistischen Biographik die Berücksichtigung einer Vielzahl neuer Themen: „die Geschichte der Mentalitäten, der Volkskultur und vor allem auch der Volksreligiosität; die Geschichte von Kindheit, Jugend und Familie; […] die Histo-

Ebd., S. 10. Ebd., S. 13. 274 GIESECKE, Sinnenwandel – Sprachwandel – Kulturwandel, S. 188. 275 Ebd., S. 30. 276 GESTRICH, Sozialhistorische Biographieforschung, S. 12. 277 Dieses und die folgenden Zitate: VAN DÜLMEN, Vorbemerkung, S. 8f. Den Begriff der „dichten Beschreibung“ übernimmt van Dülmen von Clifford Geertz, er geht allerdings auf Gilbert Ryle zurück [vgl. GEERTZ, Dichte Beschreibung, S. 10]. ‚Dichte‘ entsteht für Geertz nicht nur aus einer Quantität von Daten, die aus der „sehr intensiven Bekanntschaft mit äußerst kleinen Sachen“ [ebd., S. 30] resultiert, sondern auch aus der immer schon gegebenen Verschränkung von Daten und ihnen zugeschriebenen Bedeutungen. Dies erfordere weniger eine „Arbeit des Dechiffrierens“ [ebd., S. 15], als vielmehr „die eines Literaturwissenschaftlers […]. Ethnographie betreiben gleicht dem Versuch, ein Manuskript zu lesen […], das fremdartig, verblaßt, unvollständig, voll von Widersprüchen, fragwürdigen Verbesserungen und tendenziösen Kommentaren ist“ [ebd.]. Weil eine „gute Interpretation […] uns mitten hinein in das, was interpretiert wird“ [ebd., S. 26], versetze, fordert Geertz als Ethnologe, daß wir mit den „Eingeborenen […] ins Gespräch kommen, uns mit ihnen austauschen“ [ebd., S. 20]. 278 Dieses und das folgende Zitat: GESTRICH, Sozialhistorische Biographieforschung, S. 22. 272 273

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rische Bildungs- und Sozialisationsforschung usw.”279 Wenn diese Methoden der früheren Hebbel-Biographik noch nicht zur Verfügung standen, so sind „im Bereich der Sozialgeschichte von Kindheit, Jugend und Familie […] in den letzten Jahren jedoch große Fortschritte erzielt worden, so daß die sozialhistorische Biographieforschung hier bereits auf eine Fülle von Material zurückgreifen kann.“280 Darum nutzt diese Arbeit auch in noch nicht dagewesener Breite zusätzliche Quellen und Darstellungen: archivalisches Material, zeitgenössische Druckwerke und wissenschaftliche Literatur zur Lokal- und Regionalgeschichte, zur Sozialgeschichte und Volkskunde, zur Kirchen- und Religions-, Schul- und Erziehungsgeschichte. Die multiperspektivische Kontextualisierung stellt das notwendige Korrektiv dar, das innerhalb der Hebbelschen ‚Textwelt‘ nicht zu finden ist.

Mentalität und Mentalitätswandel Wie aber lassen sich die verschiedenen Perspektiven methodisch integrieren? Die konvergierende Entwicklung von Sozialgeschichte, Sozialpsychologie und Ethnologie hin zu einer Mentalitätsgeschichte bietet einen übergreifenden Ansatz, der „die zu abstrakte Geistesgeschichte wieder in die Sozialgeschichte integriert“.281 So geht Annette Riecks von dem Axiom einer „Interdependenz geistiger und materieller Faktoren“282 aus, das die „Verabsolutierung eines materialistischen oder eines idealistischen Erklärungsmusters für historischen Wandel“ ausschließt. Die Mentalitätsgeschichte versteht sich dabei nicht als neue Teildisziplin der Geschichtswissenschaft, sondern im Gegenteil als eine „histoire totale“ (Lucien Febvre): Ihr geht es um die Erfassung eines gesellschaftlichen Systems als eines Ganzen, in dem „die verschiedenen Modalitäten des Sozialen eine Totalität bilden“.283 Sie versucht dabei auch Ansätze zu integrieren, die mit den Termini „Geschichte der Ideologien“, „Kulturgeschichte“ oder „Sozialgeschichte der Ideen“ umrissen wurden.284 Mentalitätsgeschichte besitzt zunächst „keinen fest umrissenen Gegenstandsbereich“.285 Georges Duby nennt als mögliche Untersuchungsgebiete: „Das geistige Rüstzeug einer Zeit, die Geselligkeit, die Kultur, die Buch- und Lesegeschichte, die Glaubensvorstellungen, die Mythen und Symbole, die Höflichkeit, die Zeremonien und Rituale, die die Begegnungen zwischen Menschen steuern, das künstlerische Schaffen und seine Themen, die moralischen Regeln und Ideale und die philosophischen Ideen.“286 Bemerkenswert ist, daß der Historiker Duby sein Augenmerk ausdrücklich auch auf kulturelle und künstlerische Aspekte richtet. Ebd., S. 8. Ebd., S. 22. 281 RIECKS, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 139. 282 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 145. 283 Ebd., S. 64. 284 Vgl. ebd., S. 98. 285 Ebd., S. 124. 286 Zit. nach RIECKS, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 83. 279 280

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In dem interdisziplinären und multidimensionalen Charakter liegt in gewisser Weise die Spezifik der Mentalitätsgeschichte: „Auch die noch so spezialisierte Forschung sondert ihren Gegenstand nicht aus dem Gesamtzusammenhang der Wirklichkeit aus“.287 Denn jedes einzelne soziale Faktum ist seinerseits „total“: Es muß idealerweise „zugleich im juristischen, ökonomischen, ästhetischen etc. Kontext gesehen werden“.288 Der Totalität der Phänomene entspricht „die Konvergenz multidisziplinärer Annäherungen“.289 Dem Vorwurf, „daß die Mentalitätsgeschichte aus einer Summierung empirischer Forschungen bestehe, deren Einheit nicht durch eine Theorie garantiert werde“,290 begegnet diese selbst mit dem Hinweis, daß die komplexe Realität nicht im Sinn einer „eindimensionalen, häufig monokausal konzipierten Geschichtsauffassung“291 reduziert werden dürfe. Mit Blick auf das konkrete Erkenntnisinteresse der Mentalitätsgeschichte umreißt Volker Sellin deren Gegenstandsbereich: Wer nach Einstellungen sucht, die sich unmittelbar im wirklichen Verhalten äußern, muß offenkundig beim alltäglichen Lebensvollzug ansetzen. Was die Dinge in dieser Sphäre gelten, wie sie erscheinen, wozu sie dienen: das ist das Material, aus dem Mentalitäten gemacht sind. Man könnte diesen Ansatz mit dem Ausdruck Edmund Husserls den Ausgang von der „Lebenswelt” nennen. Die Lebenswelt ist eine vortheoretische Sphäre, in der die Phänomene nach ihrer Lebensbedeutung erfahren und unmittelbar beurteilt werden.292

Der mentalitätshistorische Ansatz trifft sich hier mit den jüngsten Entwicklungen in der Geschichtswissenschaft hin zur Alltagsgeschichte; er unterscheidet sich hingegen „deutlich von den klassischen Methoden, namentlich der politischen und Geistesgeschichte, aber auch weiter Bereiche der Sozialgeschichte.” Insofern bedeutet er in der Tat „einen Fortschritt der Wissenschaft im Sinne größerer Annäherung an den historischen Gegenstand”293 und erfüllt die Forderungen nach einer dichten Beschreibung, die auch mit Blick auf Hebbel unerläßlich ist. Die Tatsache, daß man es hier in starkem Maße mit „individuellen Quellen“294 zu tun hat, bedingt, daß die Rekonstruktion einer Mentalität „mehr als bei anderen historischen Fragen […] von der subjektiven Gewichtung der Evidenzen der Quellen durch den Betrachter ab[hängt]“, doch auch hier kann „die Konvergenz von Phänomenen in möglichst vielen Quellensorten […] sichere Ausgangspunkte für eine seriöse mentalitätsgeschichliche Interpretation bieten.“295

Ebd., S. 65. Ebd., S. 64. 289 Ebd., S. 65. 290 Ebd., S. 122. 291 Ebd., S. 65. 292 Dieses und das folgende Zitat: SELLIN, Mentalität und Mentalitätsgeschichte, S. 573–574. Hervorhebung C. S. 293 Ebd., S. 597. 294 Dieses und das folgende Zitat: DINZELBACHER, Zu Theorie und Praxis der Mentalitätsgeschichte, S. XXII. 295 Ebd., S. XXIV. 287 288

Mentalität und Mentalitätswandel

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Gleichwohl orientiert sich die mentalitätsgeschichtliche Forschung auf ein einheitliches Zentrum; sie zielt auf die „Mentalität“ als den Übergangsbereich von Individuellem und Sozialem. Was aber verbirgt sich hinter diesem Begriff, wenn er nicht allein „Themen längst vertrauter Disziplinen“ wie „Glaubensgewißheiten, Weltanschauungen, Selbstverständnis, Ideologien“296 bezeichnen soll? Robert Muchembled spricht von einem „System von geistigen Vorstellungen und Praktiken, die für eine Gruppe von Menschen charakteristisch sind“,297 Peter Dinzelbacher von einem „Ensemble“298 von Elementen, bei dem es um ihre „Vernetzung, ihre wechselseitige Bedingtheit“ geht. Volker Sellin charakterisiert Mentalitätsgeschichte als „historische Wissenssoziologie“,299 als „eine Art von historischer Semantik“300 bzw. „Geschichte der Bedeutungen von Verhalten im weitesten Verstand“.301 Denn das von den Mitgliedern einer Gesellschaft geteilte – vortheoretische – Wissen besitzt grundlegende Orientierungsfunktionen: Dank solchen Wissens weiß der einzelne, welche Ziele er verfolgen soll und welche Mittel hierzu tauglich sind; er weiß, wie er die Wirklichkeit ordnen soll in Freund und Feind, Nützlich und Unbrauchbar, Richtig und Falsch, Gut und Böse. Ohne solche gesellschaftlich vermittelten Orientierungen könnte der Mensch nicht existieren.302

Dabei betont Sellin: „Die Einstellungen, die eine Mentalität konstituieren, brauchen den Angehörigen der Kollektivitäten nicht gegenwärtig zu sein”.303 Nach Ansicht von Annette Riecks geht die Mentalitäts- über die Bewußtseinsgeschichte dann hinaus, wenn sie „als historische Sozialpsychologie auch den affektiven und irrationalen Bereich [...] oder das ‚soziale Wissen’“304 betrachtet. Wichtig ist der systematische und kollektive Charakter, der „das Gemeinsame je spezifischer Gewohnheiten, Verhaltensweisen, Bewußtseinsstrukturen“ darstellt, die „wesentlich das Leben, Denken und Verhalten einer gesellschaftlichen Gruppe konstituieren und die in jedem Glied dieser Gesellschaft bzw. einer Kultur mehr oder weniger ausgeprägt vorhanden sind”.305 Insgesamt definiert Sellin Mentalitätsgeschichte als „die Geschichte der Zuordnungen, SELLIN, Mentalität und Mentalitätsgeschichte, S. 561. MUCHEMBLED, Die Erfindung des modernen Menschen, S. 335. Hervorhebung C. S. 298 Dieses und das folgende Zitat: DINZELBACHER, Zu Theorie und Praxis der Mentalitätsgeschichte, S. XXIVf. 299 SELLIN, Mentalität und Mentalitätsgeschichte, S. 579. Sellin bezieht sich dabei auf: Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. 300 SELLIN, Mentalität und Mentalitätsgeschichte, S. 587. 301 Ebd., S. 577. 302 Ebd., S. 580. 303 Ebd., S. 587. 304 RIECKS, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 138. Vgl. dazu auch Carlo Ginzburg: „Die Überreste, die Archaismen, die Affektivität, das Irrationale – das alles grenzt das spezifische Feld der Geschichte der Mentalitäten ein, und dadurch unterscheidet sie sich ziemlich streng von Nachbardisziplinen, die nunmehr konsolidiert sind, wie z. B. Ideengeschichte oder Kulturgeschichte (wobei allerdings für einige Forscher die Geschichte der Mentalitäten die beiden letzteren einschließt)“ [GINZBURG, Der Käse und die Würmer, S. 18]. 305 Ludwig Hüttl, zit. nach RIECKS, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 81. 296 297

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die eine Kollektivität durchschnittlich gegenüber Zuständen, Ereignissen und Situationen in unmittelbarer Sinngewißheit vornimmt.“306 Mit Blick auf das Individuum erscheinen Mentalitäten „als verbindendes Element zwischen Wahrnehmen, Empfinden, Bewerten, Verhalten und Handeln“.307 Von hier ergeben sich enge Verbindungen zum interaktionistischen Ansatz der neueren Biographieforschung. Deren Perspektive wird nicht verengt, sondern erweitert: Denn „auch wenn einzelne Persönlichkeiten sich noch so weit über das mentale Muster ihres sozialen Milieus erheben mögen: sie bleiben doch immer in vielfältiger Hinsicht eingebunden in die Sondergruppe, der sie entstammen”;308 sie teilen „ihre Verhaltensweisen, ihre Mentalität, ihre Vorstellungen“.309 Aus dieser Sicht hat eine Biographie auszugehen von der Frage: „Wie prägt die vorhandene Mentalität einer Gesellschaft den Menschen, der in sie hineingeboren wird?“310 Traditionen und Erfahrungen einer Gesellschaft werden von einer Generation an die nächste weitergegeben. Im Rahmen der historischen Sozialisatonsforschung ist herauszufinden, „was die Identität eines Menschen (sowohl sein Selbstbild als auch sein Rollenverhalten) subjektiv und objektiv wie und mit welchen Konsequenzen für die Zeit des Erwachsenseins prägte und wie sich demzufolge Wandel und Kontinuität von kulturellen Konfigurationen, Mentalitäten, Verhaltensweisen, sozialen Normen usw. im Generationenablöseprozeß formen läßt“.311 Darum muß sich der Mentalitätshistoriker nach Ansicht von Jürgen Schlumbohm „in erster Linie der Familie als der ‚primären Sozialisationsinstanz‘ zuwenden, ihre Struktur untersuchen, nach den Leitvorstellungen der Eltern im Hinblick auf die Erziehung, nach ihren Einstellungen zum Kind und ihren Umgangsformen mit dem Kind fragen.“312 Allerdings darf die Rolle der peer groups und anderer sekundärer Sozialisationsagenturen nicht vernachlässigt werden, nicht zuletzt, weil die Eltern „in der Regel recht wenig Zeit für ihre Kinder aufwendeten und sich nicht viele Gedanken um Erziehung und Erziehungsziele machten.“313 Für die Kinder wiederum gilt, daß sie „alle wichtigen Sinnordnungen der Gesellschaft als natürliche betrachten und sich ihnen in selbstverständlicher Weise einpassen.“314 Die spezifischen Eigenschaften des Mentalitätsbegriffs als einer historischen Kategorie bedürfen der genaueren Erläuterung. Ein zentrales Charakteristikum ist zunächst ihre Kollektivität: Jeder ihrer Träger ist „tief verankert in kollektiven Verwandschaftsund Altersgruppen, sowie im Netzwerk der Berufsorganisationen“.315 Besonders wichtig ist, daß auch „die Familie nicht als kulturell isolierte Erscheinung“316 zu SELLIN, Mentalität und Mentalitätsgeschichte, S. 587. RIECKS, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 81. 308 SELLIN, Mentalität und Mentalitätsgeschichte, S. 596. 309 Georges Duby, zit. nach RIECKS, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 75. 310 RIECKS, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 133. 311 Ulrich Herrmann u. a., zit. nach GESTRICH, Traditionelle Jugendkultur, S. 12. 312 SCHLUMBOHM, ‚Traditionale‘ Kollektivität und ‚moderne‘ Individualität, S. 269. 313 Ebd., S. 270. 314 RIECKS, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 137. 315 MITZMAN, Die Offensive der Zivilisation, S. 37. 316 Dieses und das folgende Zitat: MUCHEMBLED, Die Erfindung des modernen Menschen, S. 264. 306 307

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behandeln ist: „Zahlreiche andere Institutionen und selbst informellere Phänomene wie Freundschaft oder Nachbarschaft stehen zu ihr in unmittelbarer Beziehung.“ Jürgen Schlumbohm sieht in der „Straße“ einen wichtigen Raum, in dem „das Agieren in einer Gruppe von wesentlich Gleichen eingeübt“317 wird. Mit Arthur Mitzman kann man von einer „Porosität der sozialen Beziehungen und Vorstellungen auf allen Ebenen“ sprechen,318 die zusammengeht mit einer „Unsicherheit bezüglich der Grenzen zwischen Mensch, Natur und Übernatürlichem“. Auch Gefühle erscheinen dabei „als soziale Institutionen“.319 Da solche Verhältnisse „ähnliche Persönlichkeitsstrukturen“320 bzw. eine ‚kollektive Psyche‘321 hervorbringen, „kann die historische Psychologie nicht darin ihr Ziel sehen, mit individualpsychologischem Einfühlungsvermögen […] den Charakter einer großen historischen Persönlichkeit zu erfassen“;322 die „Übertragbarkeit der Psychoanalyse auf kollektive Phänomene“ wird vielmehr „von den meisten Historikern bezweifelt“.323 Wohl gibt es demnach „so etwas wie eine kollektive Persönlichkeit“,324 umgekehrt jedoch keine „Mentalität eines Individuums“.325 Für den Biographen stellt sich daher die „Frage nach der Möglichkeit, eine mentalitätsgeschichtliche Analyse auch in die auf ein Individuum konzentrierte Forschung einzubringen.”326 Doch indem die Mentalitätsgeschichte dazu dient, die „Verbindung zwischen Individuum und Gesellschaft“327 und somit „die Grenzen des Individuums aufzuzeigen“,328 negiert sie, so Annette Riecks, „keineswegs die Bedeutung der großen historischen Gestalten“329. Sie ermöglicht vielmehr dem Biographen, das Einmalige und Besondere nur umso genauer vom Allgemeinen abzuheben. Genau dies aber ist der zentrale Punkt, den Friedrich Sengle in einem Aufsatz Zum Problem der modernen Dichterbiographie herausstellte: „Für den Biographen, der eine geschichtliche Gestalt herausgreift, ohne sich in die entprechende Epoche zu vertiefen, ist es charakteristisch, daß er Individuelles und Generelles fortwährend verwechselt”.330 Auch dieser Problematik ist eben nicht durch bloße Einfühlung oder positives historisches Faktenwissen zu entgehen. Mentalitäten setzen die Einheit des kulturellen und gesellschaftlichen Kontextes voraus, in den sie eingebettet sind. Dies führt zu einem zweiten wichtigen Merkmal, ihrem Strukturcharakter. Fernand Braudel definierte Struktur in diesem Sinne als „eine SCHLUMBOHM, ‚Traditionale‘ Kollektivität und ‚moderne‘ Individualität, S. 276. Dieses und das folgende Zitat: MITZMAN, Die Offensive der Zivilisation, S. 39. 319 RIECKS, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 95. 320 Ebd., S. 135. 321 Vgl. SELLIN, Mentalität und Mentalitätsgeschichte, S. 563. 322 RIECKS, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 95. 323 Ebd., S. 136. Vgl. auch DINZELBACHER, Zu Theorie und Praxis der Mentalitätsgeschichte, S. XXXII. 324 SCHLUMBOHM, ‚Traditionale‘ Kollektivität und ‚moderne‘ Individualität, S. 269. 325 RIECKS, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 131. 326 Ebd., S. 130f. 327 Ebd., S. 132. 328 Ebd., S. 131. Die Übereinstimmung des Titels von Hargen Thomsens Dissertation mit dieser Formulierung ist offensichtlich zufällig und nicht auf methodischer Gemeinsamkeit gegründet. 329 RIECKS, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 131. 330 SENGLE, Zum Problem der modernen Dichterbiographie, S. 107f. 317 318

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Organisation, eine Kohärenz, ziemlich fester Beziehungen zwischen Realitäten und sozialen Massen“.331 Kollektive Verhaltensweisen umfassen als durchgängige und alltägliche Erscheinung den gesamten Arbeits- und Lebenszusammenhang, „ungeschieden in der ‚wirtschaftlichen‘ und in der ‚privaten‘ Tätigkeit“.332 Dies bedingt ihre relative Stabilität über lange Zeiträume hinweg; für Braudel bedeutet „Struktur“ daher vor allem „eine Realität, die die Zeit kaum abwetzt oder sehr lange weiterträgt.”333 Damit ist zugleich ein dritter Aspekt erfaßt: Mentalitäten sind geprägt von einer „longue durée“ (so der Titel von Braudels Aufsatz); eine diachrone Dynamik ist ‚mentalitätsgeprägten‘ Gesellschaften offenbar fremd. Ihnen fehlt, so Arthur Mitzman, „in der Regel jegliche Vorstellung von materiellem, sozialem oder wissenschaftlichem ‚Fortschritt‘. Eingebunden in das Joch des Kreislaufs der Natur, entwickelten diese Gesellschaften im allgemeinen keinen linearen, sondern einen zyklischen Zeitbegriff.” Carlo Ginzburg meinte: „Allem Anschein zum Trotz handelt es sich hierbei nicht um eine haarspalterische Unterscheidung. Die Studien zur Geschichte von Mentalitäten waren eben dadurch charakterisiert, daß an der Existenz von statischen, anonymen Elementen eines bestimmten Weltbildes festgehalten wurde.“334 So hat innerhalb einer „Mentalität“ eine Vorstellung von ‚Historizität‘ in heutigem Verständnis keinen Platz – als gleichsam ‚geschichtslos‘ empfanden ja schon lokale Hebbelforscher die Verhältnisse im Wesselburen Friedrich Hebbels. In diesem engen Sinn impliziert „Mentalität“ eine konsequente Traditionsbindung, so daß man von „traditionalen Gesellschaften“335 sprechen kann. Der Terminus ‚traditional‘ ist in diesem Zusammenhang in Abgrenzung von dem umgangssprachlichen Begriff ‚traditionell‘ hilfreich:336 Denn das ‚Traditionelle‘ impliziert bereits den Gegenbegriff des ‚Neuen‘ oder ‚Modernen‘, das tendenziell als normsetzend aufgefaßt wird.337 In einer traditionalen Gesellschaft aber hat ein solches Denken in ‚historischen Alternativen‘ kaum Platz, wie Edward Shorter beschreibt: Die angestammten Traditionen und Verhaltensweisen waren den Menschen in ihrem Alltag stets gegenwärtig. Da sie wußten, daß der Zweck ihres Lebens darin bestand, die kommenden Generationen zu lehren, alles genauso zu tun, wie es die Generationen der Vergangenheit getan hatten, verfügten sie über eindeutige Regeln, nach denen die Beziehungen innerhalb der Familie geformt und durch die entschieden wurde, was wesentlich war, und was nicht.338

Zit. nach RIECKS, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 26. SCHLUMBOHM, ‚Traditionale‘ Kollektivität und ‚moderne‘ Individualität, S. 268. 333 Zit. nach RIECKS, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 26. 334 GINZBURG, Der Käse und die Würmer, S. 18. 335 MITZMAN, Die Offensive der Zivilisation, S. 36. 336 In der wissenschaftlichen Literatur findet eine begriffliche Differenzierung allerdings meist nicht statt. 337 Vgl. auch die Differenzierung bei Hans. H. Gerth, wonach „der Konservatismus als historischsozial bedingte und abgrenzbare Denkweise abzuheben ist von dem Traditionalismus als einem vorbewußten, generellen psychischen Beharrungsvermögen“ [GERTH, Bürgerliche Intelligenz um 1800, S. 16]. 338 SHORTER, Die Geburt der modernen Familie, S. 15. 331 332

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Daran wird zugleich der enge Zusammenhang deutlich, der zwischen Traditionalität und Kollektivität besteht: „Traditionell orientierte Menschen […] sind bereit, ihre persönlichen Ziele und Wünsche den Ansprüchen der Gemeinschaft, deren Teil sie sind, unterzuordnen. Bei modernen Menschen hingegen siegt der Wunsch, frei zu sein, über die Forderung der Gemeinschaft nach Gehorsam und Anpassung“.339 Daraus ergibt sich zugleich eine tiefgreifende Zäsur zur ‚Mentalität‘ der Gegenwart,340 die sich gegenüber der traditionalen als ‚modern‘ apostrophieren läßt: Schon die Einsicht, daß etwa „die Familie und der Einzelne in früheren Jahrhunderten eng in die ‚Kollektivität‘ des Dorfes und ähnlicher ‚Gemeinschaften‘ eingebunden waren, während die ‚moderne Familie‘ als ein nach außen sich abschirmender Hort privater Intimität charakterisiert ist“,341 verweist auf den fundamentalen Wandel nicht nur dieser ‚Gemeinschaften‘ selbst, sondern auch der „Vollzugsformen des Denkens“, der „Gesamtstruktur des Geistes“342 und schließlich darauf, daß auch „die psychische Verfassung der Menschen sich in der Geschichte gewandelt haben muß“.343 Gerade das Verhältnis zwischen Individuellem und Kollektivem, wie überhaupt ‚menschliche‘ Grundbefindlichkeiten sind somit keine Universalien, die dem historischen Wandel enthoben wären, wie noch allzu oft angenommen wird. Sie müssen vielmehr in ihrer historischen Eigenart verstanden werden. „Daß eine unveränderliche Kontinuität zu unserem Denken, Fühlen und Reagieren existiere, war freilich eine nie in Frage gestellte Voraussetzung, von der Historiker bisher unreflektiert ausgegangen sind“, kritisiert auch Peter Dinzelbacher.344 Gerade „wissenschaftliche Biographien“ würden davon ausgehen, „daß alle Denk- und Verhaltensweisen früherer Menschen mit den Denk- und Verhaltensweisen des sie Darstellenden übereinstimmen“. Auch wenn der heutige Betrachter aus seiner Außenperspektive strenggenommen epistemologisch nicht herauskommt, so muß er doch versuchen, von sich und seinen als ‚selbstverständlich‘ erlebten modernen Voraussetzungen abzusehen; andernfalls kommt es unweigerlich zu stark verzerrten Wahrnehmungen. Denn tatsächlich ist die traditionale Mentalität der modernen in grundsätzlichen Fragen geradezu entgegengesetzt, wie gerade auch am Beispiel Hebbels zu zeigen ist. Erforderlich ist also ein spezifisch ‚historischer‘ Blick, um – mit Lucien Levy-Bruhl – „die Spezifizität archaischer sozialer Ordnungen und Wertsysteme“345 zu erkennen. Auch die Ethnologie hat zu

Ebd., S. 32. Entgegen der berechtigten Frage Volker Sellins, „ob die moderne Revolution ein Zeitalter der Mentalitäten in ein Zeitalter der Ideologien übergeführt haben könnte“, [SELLIN, Mentalität und Mentalitätgeschichte, S. 585], wird in dieser Arbeit auch von „moderner Mentalität“ gesprochen. Die terminologische Unschärfe wird in Kauf genommen, zum einen, um den historischen Zusammenhang mit entsprechenden traditionalen Phänomenen deutlich zu machen, zum anderen, weil der Begriff „Ideologie“ zu eng auf bewußtseinsgeschichtliche oder gar politische Phänomene abhebt. 341 SCHLUMBOHM, ‚Traditionale‘ Kollektivität und ‚moderne‘ Individualiät, S. 266. 342 Sabine Jöckel, zit. nach RIECKS, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 107. 343 SELLIN, Mentalität und Mentalitätgeschichte, S. 562. 344 Dieses und die folgenden Zitate: DINZELBACHER, Zu Theorie und Praxis der Mentalitätsgeschichte, S. XXXVIII. 345 RIECKS, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte. S. 107. 339 340

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dieser „Erneuerung der Geschichtswissenschaft“346 beigetragen: durch die „Übertragung des Verfremdungseffekts“ auf historische Phänomene und durch die „Anerkennung der Alterität des Anderen, mit dem man scheinbar so stark vertraut ist, weil er zur eigenen Tradition gehört.“ Volker Sellin meint: Ein Plädoyer für die Mentalitätsgeschichte muß ein Plädoyer für die Schärfung des Bewußtseins dessen sein, daß die vergangenen Wirklichkeiten für die darin stehenden und die darin befangenen Menschen jeweils nur auf bestimmte Weise gesehene und verstandene Wirklichkeiten sein konnten.347

Nicht nur der Psychologe, sondern ebenso der Historiker (und mit ihm der Biograph) müssen sich darum der Gefahr anachronistischer Interpretationen bewußt sein – eine in der Hebbel-Literatur allzu oft vernachlässigte Einsicht, die hingegen in der mentalitätsgeschichtlichen Forschung zu den grundlegenden Prämissen gehört. Wie aber lassen sich Traditionsorientierung und „lange Dauer“ von Mentalitäten mit offenkundig oft krassen historischen Brüchen vereinbaren? Und wie läßt sich dieser Wandel verstehen, wenn er sich im Rückblick oft nicht als kontinuierliche Entwicklung darstellt, sondern in Form von Dualismen und Oppositionen? Zunächst ist festzuhalten, daß traditionale Gesellschaften entgegen ihrer Selbstwahrnehmung bzw. -definition nie wirklich statische, sondern eher ‚homöostatische‘ Systeme sind. Richard van Dülmen betonte, daß „die Volkskultur vom 16. bis 19. Jahrhundert einem beträchtlichen Wandel unterlag und sich in ihrer Gestalt völlig änderte“, und versah daher einen von ihm edierten Sammelband mit dem programmatischen Titel Dynamik der Tradition. Freilich hebt sich die ‚Moderne‘ vor diesem Hintergrund dann als ein „Zeitalter der Beschleunigung des Mentalitätswandels“348 ab. Auch qualitativ unterscheidet sich die „Dynamik der Tradition“ von intentionalen Modernisierungen oder Revolutionen, da sie nicht die subjektive Traditionsbindung der Beteiligten und die funktionierende Ordnung insgesamt antastet. In diesem Sinn verneint auch John R. Gillis die „Auffassung, Tradition sei statisch oder dem soziokulturellen Wandel nicht zugänglich“,349 um implizit auf deren Systemcharakter zu verweisen: „Unter ‚Tradition‘ verstehe ich vielmehr ein Ensemble von Werten und Normen, das veränderbar ist und das den jungen Leuten erlaubt, sich in ihrer Lebenswelt zu orientieren und in ihr zu handeln.“350 Stanley Diamond formulierte, daß „primitive Gesellschaften im allgemeinen Gleichgewichtssysteme darstellen. Institutionelle Konflikte führen bei ihnen zum Bruch“.351 Gerade ihrem Struktur- bzw. Systemcharakter verdanken Mentalitäten also nicht nur Stabilität und ‚lange Dauer‘, sondern unter bestimmten Bedingungen auch eine besondere ‚Störanfälligkeit‘: Wird ein Element nachhaltig verändert, kann dies Konsequenzen für das Ganze nach sich ziehen. Mentalitäten folgen insofern weniger einer linearen Evolution, wie in der Modernisierungstheorie favoDieses und die folgenden Zitate: Ebd., S. 109. SELLIN, Mentalität und Mentalitätsgeschichte, S. 597. 348 Ebd., S. 585. 349 GILLIS, Geschichte der Jugend, S. 215. 350 Ebd., S. 215f. 351 DIAMOND, Kritik der Zivilisation, S. 95. 346 347

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risiert, sondern können durch Desintegration relativ schnell ‚umkippen‘. Daher läßt sich ihr Wandel eher als Abfolge historisch oder gesellschaftlich distinkter „Zustände“ analysieren und weniger als „Evolution oder kausal aufzuzeigende[…] Veränderungen”.352 In einer groben – und freilich noch allzu schematischen – Heuristik lassen sich traditionale und moderne Mentalität zwei verschiedenen Epochen der europäischen Geschichte zuordnen. So sah Edward Shorter, beginnend mit dem späten Mittelalter eine „lange Periode der Regression“,353 eine „Phase des wirtschaftlichen, demographischen und kulturellen Abbaus […], die bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein dauern sollte. Diese Epoche des Niedergangs und der Stagnation im Bereich des westlichen Lebens ist es, die man als ‚traditionell‘ bezeichnen kann.“ Daraus resultierte, daß der „Übergangs- bzw. ‚Scharnier‘-Charakter des 18. Jahrhunderts (unter Einschluß der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts) diese Epoche in das Zentrum des Forschungsinteresses gerückt hat“.354 Die entscheidenden Umbrüche hin zur Moderne verbinden sich wirtschaftshistorisch mit Stichworten wie Marktwirtschaft355 und Industrialisierung,356 sozialhistorisch mit der Auflösung der ständischen Ordnung und Verbürgerlichung357 und mentalitätsgeschichtlich mit dem von Norbert Elias beschriebenen Prozeß der Zivilisation, der nach Arthur Mitzman von einem „Prinzip der zunehmenden Rationalisierung“358 seinen Ausgang nimmt: „Man kann sagen, daß dieser Rationalisierungsprozeß die Haupttendenz der historischen Entwicklung der letzten fünfhundert Jahre darstellt.”359 Die damit verbundene „Zivilisierung der Sitten […] modelt […] neue Wesen, deren Leidenschaften und Antriebe viel stärker als früher verinnerlicht sind.“360 Für Edward Shorter wird das Ende der traditionalen Ordnung markiert durch „das Beharren des Herzens auf Individualität und das Streben nach einer Privatsphäre und Isolierung, die daraus folgte.“361 Friedrich Hebbels gewissermaßen zweigeteilte Lebensgeschichte legt die Vermutung nahe, daß er diesen Wandel historisch verspätet und darum in besonderer Schärfe in Form kaum vermittelter, schockartiger Brüche erlebt hat: Hier der bäuerlich geprägte, rück- und randständige Landstrich an der Nordsee, der ihn mehr als zwei Jahrzehnte festhielt, dort die internationalen Metropolen, denen er nacheinander zustrebte – Hamburg, München, Kopenhagen, Paris, Rom, bis er schließlich in der österreichischen Kaiserstadt Wien arrivierte. Hier das von seinen Traditionen, Sitten und RIECKS, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 25. Dieses und das folgende Zitat: SHORTER, Die Geburt der modernen Familie, S. 35. 354 HINRICHS/WIEGELMANN, Sozialer und kultureller Wandel, S. VIII. 355 Vgl.: „’Traditionelle Gesellschaft‘ soll sich auf das Europa vor jenen aufbrechenden sozialen Wandlungen beziehen, die wir mit der Verbreitung freier Märkte für Arbeit und Land verbinden, im allgemeinen vor 1700 in England und vor 1800 in Frankreich und Deutschland“ [SHORTER, Die Geburt der modernen Familie, S. 504]. 356 So ist es nach Volker Sellin „das industrielle Zeitalter, zu dessen konstitutiven Merkmalen der gesellschaftliche Wandel gehört“. [SELLIN, Mentalität und Mentalitätsgeschichte, S. 585]. 357 Vgl. HINRICHS/WIEGELMANN, Sozialer und kultureller Wandel, S. VIII. 358 MITZMAN, Die Offensive der Zivilisation, S. 30. 359 Ebd., S. 32. 360 MUCHEMBLED, Die Erfindung des modernen Menschen, S. 11. 361 SHORTER, Die Geburt der modernen Familie, S. 34. 352 353

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Bräuchen zehrende, noch ständisch verfaßte „Land“ Dithmarschen, dort die moderne, bürgerlich-aristokratische Kulturwelt, in die er Aufnahme finden wollte; hier der unbemittelte Sohn eines Flickmaurers, dort der berühmte Dichter. Noch in seinem Werk scheinen diese Brüche strukturprägend zu sein, wenn Hebbel literaturgeschichtlich quer zu den Einteilungen von „Klassik“, „Biedermeier“, „Vormärz“ oder „Realismus“ steht, wenn er inhaltlich immer wieder „Epochen des Übergangs, wo das Alte unsicher geworden und das Neue noch nicht evident ist“,362 schildert, wenn er „feinhörig wie kein Zeitgenosse sonst“363 erfaßt, daß in seinen Tagen „zwei gewaltige Menschheitsepochen schicksalhaft aneinander stießen“, wenn sich im Werk zu der „Archaik der Frühe“ auch eine „Archaik der Gegenwart“ gesellt, wenn er persönlich „gegen die Zeit“ gelebt hat, wie Forscher allenthalben betont haben, und wenn Hebbel schließlich selbst empfand: Es ist sehr leicht, Anecdoten zu sog. Dramen zurecht zu stutzen[…], aber es ist schwerer, aus dem großen Fort-Bildungs-Proceß der Menschheit heraus eine neue sittliche Welt zu gestalten, denn das setzt voraus, daß man innerlich dabei betheiligt seyn, daß man den Bruch nicht bloß erkennen, sondern auch fühlen, ja, daß man für die Geister-Schlacht, die Großvater und Kindes-Kind in unserer eigenen Brust, in der sich Beide begegnen, schlagen, ein Auge und eine darstellende Hand haben muß. [WAB 1, 656f.]

Wenn Hebbels ‚Lebensreise‘ zwischen Wesselburen und Wien zugleich als ‚Zeitreise‘ erscheint, wenn er dabei „Großvater“ und „Kindeskind“ in einer Brust vereinte, dann deutet dies darauf hin, daß Mentalitätswandel nicht nur diachron, sondern auch synchron erlebt werden kann. Jürgen Schlumbohm ordnet daher in seinem Aufsatz über ‚Traditionale‘ Kollektivität und ‚moderne‘ Individualität „Tradititionalität“ und „Modernität“ nicht ohne weiteres zwei aufeinanderfolgenden Epochen zu, sondern nimmt zusätzlich regionale und gruppenbezogene Differenzierungen vor. Ähnlich beschreibt Richard van Dülmen den „sozialen Wandel jenseits aller Modernisierungstheorie und anderer großer unilinearer Erklärungsansprüche“, 364 indem er festhält: „Der Gegensatz von Tradition und Moderne kannte je nach sozialer Lage unterschiedliche Konnotationen. Tradition und Moderne sind außerdem Chiffren, die für jede Zeit neu aufgeschlüsselt werden müssen“. Auch Annette Riecks wies darauf hin, daß die verschiedenen sozialen Gruppen „ihre spezifische Mentalität unterschiedlich schnell anpassen. Es können daher verschiedene Mentalitäten in einer Gesellschaft zur selben Zeit auftreten. Auf diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen hat der Historiker zu achten.”365 Robert Muchembled ging noch einen Schritt weiter, indem er diese Zwiespältigkeit auch für Individuen geltend machte: „Zwei ‚Zeiten‘ trennen sich voneinander, aber die Zäsur zwischen ihnen ist nicht sauber. Und manche Individuen schwanken sogar – ohne sich genau darüber im klaren zu sein – zwischen den beiden Epochen hin und her, so wie man oft Altes und Neues zugleich trägt“.366 ALKER, Die deutsche Literatur im 19. Jahrhundert, S. 558. Dieses und das folgende Zitat: KLEINBERG, Die deutsche Dichtung, S. 320. 364 Dieses und das folgende Zitat: VAN DÜLMEN, Vorbemerkung, S. 8. 365 RIECKS, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 128. 366 MUCHEMBLED, Die Erfindung des modernen Menschen, S. 187. 362 363

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„Modernität“ entsteht als Produkt historischer Desynchronisation und Desintegration. Erst in dem Moment, wo „Traditionalität“ nicht mehr den selbstverständlichen, allgemein verbindlichen gesellschaftlichen und kulturellen Bezugspunkt darstellt, wird „Modernität“ gewissermaßen ‚erfunden‘. „Traditionalität“ wird dadurch von einem Universal- zu einem bloßen Gegenbegriff, der vor dem Hintergrund neuer Entwicklungen mit der zunehmend ‚zurückbleibenden‘ Volkskultur assoziiert wird. Kultur des Volks – Kultur der Eliten lautete darum die grundsätzliche Dichotomie bei Robert Muchembled. Der Prozeß der kulturellen Desynchronisation trete „seit dem 17. und mehr noch dem 18. Jahrhundert immer stärker“ 367 hervor. Während Muchembled das 17. Jahrhundert noch als „eine Zeit klarer, aber sehr begrenzter Brüche“ 368 innerhalb der Kultur der Eliten ansieht, erreiche der Prozeß im 18. Jahrhundert eine neue Dynamik und führe „jetzt zu einer globalen soziokulturellen Homogenisierung in den herrschenden Kreisen.“ In dieser Zeit stehen sich demnach ‚traditionale‘ und ‚moderne‘ Kultur deutlicher denn je als ‚Eliten-‘ und ‚Volkskultur‘ gegenüber, so daß, mit den Worten Lothar Pikuliks, „ein Abschreiten der sozialen Skala damals einem Gang durch die Epochen gleichgekommen wäre“.369 Jürgen Schlumbohm schreibt: „Das kleine Bürgertum und vor allem sein Kern, die zünftige Handwerkerschaft, war im Deutschland des 18. Jahrhunderts eine soziale Schicht, an der noch besonders deutlich kollektive Verhaltensweisen beobachtet werden können“.370 Auf dem Lande – und zumal in abgelegenen Regionen, wie im Dithmarschen Friedrich Hebbels – ist mit weiteren Retardationen zu rechnen. Denn „im Grunde bleiben die westeuropäischen Landgebiete im 18. Jahrhundert – und selbst danach noch – durch und durch Gesellschaften des Mangels“,371 die z. B. kaum „Anreize zu Konsumformen [erzeugen], die geeignet sind, mit den Traditionslinien zu brechen.“ In Friedrich Hebbels Wesselburen dürfte daher auch im frühen 19. Jahrhundert allenfalls eine dünne, nur aus wenigen Personen bestehende, bildungsbürgerlich orientierte Honoratiorenschicht von dem sich ankündigenden fundamentalen Mentalitätswandel erfaßt gewesen sein. Diese kleine „Gruppe von Vermittlern“, z. B. „angesehene Landbewohner oder aus ihrer Herkunftsschicht aufsteigende Städter, die sich die ideologischen Neuerungen – oder wenigstens einige davon – zu eigen machen“,372 die offen sind „für die Disziplin und Erziehung, die von der dominanten Kultur der Eliten ausgingen“,373 die aber zugleich noch in der traditionalen Kultur verwurzelt sind, spielt im Prozeß der kulturellen Desynchronisation jedoch eine wichtige Rolle. Ebd., S. 140. Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 334. 369 PIKULIK, Leistungsethik contra Gefühlskult, S. 83. 370 SCHLUMBOHM, ‚Traditionale‘ Kollektivität und ‚moderne‘ Individualität, S. 267. Vgl. auch Shorter: „’Traditionale‘ soziale Gruppen […] werden nicht die Großbourgeoisie und der Adel sein, sondern die niederen Volksklassen, die Bauern und Landarbeiter, die kleinen Handwerker und Ladenbesitzer – Menschen also, die nur wenige Zeugnisse darüber hinterlassen haben, wie sie über ihre Kleinkinder dachten und fühlte, die aber 90 Prozent der Bevölkerung ausmachten“ [SHORTER, Die Geburt der modernen Familie, S. 504]. 371 Dieses und das folgende Zitat: MUCHEMBLED, Die Erfindung des modernen Menschen, S. 389. 372 Ebd., S. 140. 373 Dieses und das folgende Zitat: MITZMAN, Die Offensive der Zivilisation, S. 36. 367 368

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Ihre Mitglieder zeichnen sich meist durch „Alphabetisierung, einen bescheidenen Grad des Wohlstands sowie den Besitz lokaler Machtpositionen“ aus. Im Wesselburener Umfeld Hebbels passen diese Charakteristika vor allem auf seinen langjährigen Elementarschullehrer Franz Christian Dethlefsen sowie den Kirchspielvogt Johann Jakob Mohr. Doch nicht nur Personen kommen als Agenturen des Mentalitätswandels in Frage, auch die Religion, Schulfächer und Unterrichtsinhalte, private Lektüre und kulturelle Aktivitäten sind in diesem Zusammenhang von Interesse. Der junge Hebbel selbst läßt sich seit seinem Übertritt in die Wesselburener Kirchspielvogtei dieser Vermittlergruppe zuordnen; als junger Schreiber des örtlichen Kirchspielvogts hatte er bereits eine erhebliche soziokulturelle Dynamik erfahren. Andererseits haderte er zeitlebens mit den symbolischen Verhaltensmustern des ‚guten Tons‘ und des bürgerlichen (Mittel-)Maßes. Auch innerhalb der Wesselburener Zeit ist also bereits mit Brechungen zu rechnen, in denen die großen ‚realgeschichtlichen‘ biographischen Brüche in Hebbels Leben bereits vorbereitet oder gar vorweggenommen wurden. Mentalitätswandel wird nicht nur positiv von ‚oben‘ nach ‚unten‘ vermittelt. Daneben gibt es auch negative Desintegrationsprozesse, die kollektive Regeln und Ordnungen auflösen. So nimmt Edward Shorter an, daß die modernen Prinzipien der Individualität und Selbstverwirklichung „zunächst als Subkultur der Unterdrückten in Erscheinung [traten], als ein neuer Verhaltenskodex, der jene Angehörigen der unteren Gesellschaftsschicht verband, die aus ihrer traditionellen Umgebung herausgerissen und in den Strudel der Marktwirtschaft gestürzt worden waren.“374 Bei Hebbel ist das Augenmerk etwa darauf zu richten, welche Auswirkungen gegebenenfalls die prekäre wirtschaftliche Situation seiner Eltern und der frühe Tod des Vaters gehabt haben könnten. Nicht jeder Kontakt zwischen Elite- und Volkskultur läßt sich indes unter Modernisierungsaspekten betrachten. Im Gegenteil: Auf „Versuche der Durchsetzung von Herrschaft und Staatlichkeit auf Kosten lokaler politischer Selbstregulationsmöglichkeiten und sozialer wie kultureller Selbständigkeiten“,375 ebenso wie auf zivilisatorische Herausforderungen und Zumutungen im alltäglichen Verhalten reagierte das ‚Volk‘ oft mit Abwehr, Widerstand, Ausweichmanövern und Beharrungsvermögen. Allgemein gelte, so Richard van Dülmen, daß die Volkskultur sich als eine höchst eigensinnige Tradition begriff, die dem Druck von oben erstaunlich lange standhielt. Sie verfügte über ein ungewöhnliches Anpassungspotential und brachte neue populäre Denk- und Lebensformen hervor, die dem ‚einfachen‘ Volk beträchtliche Freiräume sicherte oder schuf. Jedenfalls bildete sie starke Identitätskräfte aus und setzte der Verherrschaftlichung und ‚Zivilisierung‘ deutliche Grenzen.376

Eine prominente Rolle spielten in diesem Zusammenhang die peer groups der Jugendlichen, die ihre relative soziale Ungebundenheit oftmals dazu nutzten, als Kollektiv herkömmliche Gewohnheiten gegen unbequeme Neuerungen zu verteidigen. Auch im SHORTER, Die Geburt der modernen Familie, S. 35f. KASCHUBA, Ritual und Fest, S. 266. 376 VAN DÜLMEN, Vorbemerkung, S. 7. Vgl. KASCHUBA, Ritual und Fest, S. 266. 374 375

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Fall Friedrich Hebbels ist es interessant, das Augenmerk von dem vermeintlichen Einzelgänger auf seine Einbindung in die Kultur der Wesselburener Altersgenossen zu verlagern. Gerade in Phasen dramatischer gesellschaftlicher Umbrüche wie um die Wende des 19. Jahrhunderts kann es zu uneindeutigen und unübersichtlichen Gemengelagen kommen. So versuchte Hermann Bausinger, ein „gängige[s] Bild“377 zu relativieren, das „Volkskultur als autonome Einheit, die durch die Agenturen der Moderne gefährdet und schließlich aufgelöst“ wird, darstelle. Arthur Mitzman übte Kritik an einer strikten Entgegensetzung, die „die unzähligen Anpassungsvorgänge, die Wandlungen und Kompromisse zwischen diesen Antipoden völlig außer acht läßt“.378 Mitzman postulierte die Existenz einer „großen Zwischenzone […], in der modernisierende und archaische Denkstrukturen sich teilweise verbinden und teilweise bekämpfen.”379 Und Wolfgang Jacobeit beschreibt in seinem Überblicksaufsatz über Dorf und dörfliche Bevölkerung Deutschlands im bürgerlichen 19. Jahrhundert die Situation als höchst ambivalent: Verbürgerlichung […] ist […] ein „kompliziertes Hin und Her zwischen Klischee und Wirklichkeit“ [Hermann Bausinger] mit beschwichtigenden Tendenzen, z. T. sehr stringentem Distanzhalten, festem Verharren in Traditionen, aber auch raschem Abwerfen derselben je nach den sich ändernden Voraussetzungen. Verbürgerlichung ist im letzten ein dynamischprogressiver Vorgang, der aber auch mit Momenten der „Beharrung, des Rückstaus und der Regression“ behaftet ist und „soziopolitische Spannungen, Konflikte und Krisen“ [R. Braun] hervorrufen kann. Somit schließt Verbürgerlichung traditioneller dörflicher Lebensweisen auch die Möglichkeit eines gegenläufigen Vorgangs quasi als Rückkopplung ein, der als ‚Rustikalisierung‘ bürgerlich-städtischer Verhaltensweisen zu bezeichnen ist.380

So ergibt sich auch für den ländlichen Bereich im frühen 19. Jahrhundert nicht das Bild einer noch ‚unberührten‘ „Volkskultur“, wie es in der Volkskunde – aber auch unter Hebbel-Biographen! – lange gepflegt wurde, sondern das einer „Kultur, die […] einerseits zentralisiert und vergesellschaftet wird, die sich andererseits jedoch noch lange aus lokal-regionalen und lebensweltlichen Traditionen speist,381 und damit das einer „ambivalenten Identität“ ihrer Mitglieder. Die „Wechselwirkungen, Kontraste, Widerstände und Gegenbewegungen“382 zwischen traditionalen und modernen Elementen betreffen Gesellschaften, soziale Gruppen oder auch Individuen, „die im allgemeinen nicht wissen, welchen Einfluß auf ihr Alltagsverhalten jede dieser Schichten haben kann.“383 Der Modernisierungsprozeß zieht auch bei denjenigen „einen doppelten Mechanismus von Zustimmung und Verdrängung nach sich“,384 die sich ihm bewußt öffnen und doch unbewußt verunsichert Dieses und das folgende Zitat: BAUSINGER, Traditionale Welten, S. 276. MITZMAN, Die Offensive der Zivilisation, S. 33. 379 Ebd., S. 34. 380 JACOBEIT, Dorf und dörfliche Bevölkerung, S. 315f. 381 Dieses und das folgende Zitat: KASCHUBA, Ritual und Fest, S. 267. 382 MUCHEMBLED, Die Erfindung des modernen Menschen, S. 12. 383 Ebd., S. 334. 384 Ebd., S. 338. 377 378

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sind. Denn die Betroffenen sind dazu verurteilt, „nach Maßgabe ihres Vermögens und ihrer konkreten Möglichkeiten, sich einem Modell anzunähern, das unablässig ausweicht und sich verändert.“385 Die Reaktionen können unterschiedlich ausfallen: „Bei einigen führt das zu heftigen Widersprüchen, während andere sich der Mechanismen der Verdrängung bedienen, um sich so darzustellen, wie sie in Übereinstimmung mit den Geboten der Schicklichkeit erscheinen müssen, und nicht so, wie sie in Wirklichkeit sind.“386 Mitunter ist auch die „umgekehrte Bewegung zu beobachten, die Aufnahme von Elementen aus der populären Kultur“387 in die der Elite. So wird die traditionale Mentalität nicht nur von einem sich ausbreitenden Rationalitätsprinzip abgelöst, sondern zugleich von neuen ideologischen und psychologischen Irrationalismen, denen das Individuum nun als je vereinzeltes ausgesetzt ist: Ein „Bedürfnis nach ideologischer Selbstvergewisserung und Selbstbegründung“ zeigt sich „in charakteristischer Weise in Situationen, in denen ein Versagen, ein Scheitern oder gesellschaftliche Zurücksetzung empfunden werden, oder wenn die eigene Position in Frage gestellt scheint“,388 etwa dadurch, daß „der einzelne oder Gruppen die Widersprüchlichkeit der Normen, der Ziele oder der Rollenerwartungen erfahren, in denen sie leben“.389 Irrationalismen gehen dabei vorzugsweise mit ‚Rationalisierungen‘ einher: „Je expliziter die Vorstellungen sind, um so mehr werden ideologische Elemente in das Bild Eingang gefunden haben.“390 Zwar grenzt Volker Sellin traditionale Mentalitäten, die „unwillkürliche Sinngewißheit“391 vermitteln, von modernen ‚Ideologien‘ ab, die „in den Fällen, wo die traditionelle Sinngewißheit versagt, eine willkürliche Sinnsetzung“ vollzögen, doch enthalten auch solche intentionalen Konstruktionen von Identität noch Informationen über Mentalitäten und ihren Wandel: Selbst ideologische Aussagen, welche die wirklichen Gründe für ein bestimmtes Verhalten offenkundig verschleiern, können auf solche Weise zu Quellen der Mentalitätsgeschichte werden. Da Ideologien […] auf Mentalitäten zugeschnitten sind, genügt oft eine geringfügige Änderung der Blickrichtung, um selbst aus ideologischen Texten Quellen zur Mentalitätsgeschichte zu machen.392

Vor diesem Hintergrund ist kritisch zu überprüfen, was Peter Michelsen glaubte, feststellen zu können: „Alles durch Tradition und Brauch Überlieferte findet bei Hebbel nur Spott und Hohn.”393 Demgegenüber scheint aus mentalitätsgeschichtlicher Sicht auch für den jungen Hebbel eher denkbar, was Bärbel und Horst Kern (wenn auch mit anderem inhaltlichen Akzent) über Dorothea Schlözer feststellten: „In der Verdichtung von Einflüssen, die in anderen Biographien verdünnter und vereinzelter auf-

Ebd., S. 348. Ebd., S. 418. 387 RIECKS, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 129. 388 SELLIN, Mentalität und Mentalitätsgeschichte, S. 584f. 389 Ebd., S. 584. 390 Ebd., S. 588. 391 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 584. 392 Ebd., S. 594. 393 MICHELSEN, Friedrich Hebbels Tagebücher, S. 127. 385 386

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traten, lag die große Chance“, aber auch das „Lebensrisiko“,394 das darin bestand, daß er „die Integration dieser verschiedenen Dimensionen zu einem harmonischen Ganzen nicht schaffte, daß die verschiedenen Einflüsse sich zu Gegensätzen verhärteten”.395 In diesem Zusammenhang gilt es, die Rollen zu untersuchen, die Hebbel zunächst zugewiesen wurden, die er füllte, zunehmend virtuos modifizierte und schließlich neu für sich (er)fand; auch ist die Art und Weise zu analysieren, in der sich der arrivierte Autor später wieder auf seine Dithmarscher Herkunft und Heimat berief. Und schließlich sind Konflikte (un-)gleichzeitiger Mentalitäten bzw. von ‚traditionaler Mentalität‘ und ‚moderner Ideologie‘ als ein wichtiges Moment literarischer Produktivtät von Interesse. Einerseits spiegelt „jedes literarische Werk zugleich das Denken und Empfinden sozialer Gruppen“,396 andererseits „wird die wahre Bedeutung großer Autoren erst recht in dem Abstand deutlich, der sie von diesem Horizont trennt“.397 Die mentalitätsgeschichtliche Analyse kann eine individuelle Interpretation nicht ersetzen, doch kann sie dafür wichtige Voraussetzungen schaffen, die bisher nicht in ausreichendem Maße zur Geltung gekommen sind. Die damit verbundene „Absage […] an die voraussetzungslose Freiheit eines zeitenthobenen Genies“398 stellt ein notwendiges Korrektiv auch zu den überhöhenden Selbst- und Fremdinterpretationen Hebbels dar. Allgemein gesprochen: Das Verständnis von Literatur als Teil einer umfassenden sozio-kulturellen menschlichen Aktivität befreit sie aus einer oft fachgebundenen Isolation und macht sie wieder zu dem, was sie ist: zu einer – bevorzugten – geistigen Äußerung des Menschen, neben zahlreichen anderen. Um sie aber als solche verständlich zu machen, bedarf sie der vielfach mühsamen Wiedereinbettung in den kulturellen Rahmen oft weit zurückliegender historischer Epochen.399

Diesen „mühsamen“ Aufgaben will sich die vorliegende Arbeit mit Blick auf den jungen Hebbel widmen.

Medialität Daß alles Gesprochene verhallt, daß unser Wissen über Hebbel auf schriftlichen Zeugnissen beruht – von bildlichen und dinglichen Hinterlassenschaften abgesehen – ist zunächst eine banale Aussage. Weniger trivial ist die Frage, wie diese Verluste die Überlieferung beeinflusst und beeinträchtigt haben, und wie man sich die kommunikativen und medialen Verhältnisse im Wesselburen im frühen 19. Jahrhundert vorzuKERN/KERN, Madame Doctorin Schlözer, S. 17. Ebd., S. 18. 396 GRIMM, Literaturgeschichtsschreibung und „histoire des mentalités“, S. 307. 397 Ebd., S. 310. 398 Ebd., S. 319. 399 Ebd., S. 311f. 394 395

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stellen hat. Aber ist nicht die Textwelt eines Schriftstellers die relevante Quellengattung schlechthin, zumal bei einem passionierten, durchaus auf Dokumentation bedachten Tagebuch- und Briefschreiber wie Hebbel? Spätestens hier scheiden sich die Geister; wer sich der Alltagsgeschichte, der konkreten ‚Lebenswelt‘ zuwendet, wird dies anders sehen: Denn gerade in diesem Bereich spielt die mündliche Kommunikation eine dominierende Rolle. Wo Schriftkenntnis ohnehin nur rudimentär verbreitet ist, also in traditionalen Gesellschaften und Kulturen, gilt dies natürlich erst recht. In diesem Zusammenhang stellt Robert Muchembled den Begriff „Kultur“ auf eine breite Grundlage: Kultur, das ist mithin auch die Familie, die Geselligkeit, die Nachtwache, das Waschhaus, die Erziehung vom Hörensagen und vom Zuschauen, natürlich die Schule, aber auch das Schauspiel des Lebens, die individuellen und kollektiven Eindrücke, wie man sie bei Gelegenheit der Feste, der Arbeit, des Mysterienspiels empfängt oder auch während eines Nachbarschaftskonflikts, einer Wirtshausszene, der Teilnahme am Gottesdienst.400

Die mündliche Kultur läßt sich allerdings nur aus indirekten und versprengten Zeugnissen erschließen. Eine paradoxe Situation: Die Omnipräsenz mündlicher Kommunikation ist so selbstverständlich, daß ihre Reflexion den Redenden selten der Rede wert ist. Wenn andererseits in der sozial- und kulturgeschichtlichen Forschung die Bedeutung von Oralität weithin unterschätzt und der medialen Polarität von Mündlichkeit und Schriftlichkeit relativ wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde, dann hängt dies – wie schon beim Umgang mit Mentalitäten – wiederum mit einer unreflektiert-ahistorischen Herangehensweise zusammen, konkret mit einer „perspektivisch verkürzten Projektion der heutigen Schriftverhältnisse auf frühere Zeiten“.401 Zu Unrecht setzen Forscher meist „das Vorhandensein von Literalität, d. h. die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben, als selbstverständlich voraus.“402 Michael Giesecke legt darüber hinaus Wert auf die Differenzierung zwischen schriftlicher und typographischer Medialität und macht den „universellen Geltungsanspruch, den der Buchdruck und die Standardsprache in der Neuzeit stellen“,403 für ein „monomediales Denken“ verantwortlich, das sich Kommunikation immer nur als einen Prozeß vorstellen kann, welcher durch ein einziges Medium abgewickelt wird“. Giesecke betont demgegenüber: „Man kann aber keine Kultur nur aus einem Medium heraus verstehen, vielmehr kommt alles darauf an, ihre Spezifik als das Ergebnis des Zusammenspiels unterschiedlicher Medien zu begreifen“. Während die moderne Linguistik annehme, daß „das Sprachsystem selbst im Prinzip unabhängig von dem Medium ist, in dem es sich manifestiert“,404 sei es der Kommunikationsanalyse „keineswegs egal, ob die Botschaften gestikuliert, MUCHEMBLED, Die Erfindung des modernen Menschen, S. 336. MAAS, Lesen – Schreiben – Schrift, S. 55. 402 GOODY/WATT, Entstehung und Folgen der Schriftkultur, S. 25. 403 Dieses und die folgenden Zitate: GIESECKE, Sinnenwandel – Sprachwandel – Kulturwandel, S. 261. 404 John Lyons, zit. nach GIESECKE, Sinnenwandel – Sprachwandel – Kulturwandel, S. 30. Dort auch die folgenden Zitate. 400 401

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gedruckt, geschrieben, gesprochen […] werden. Es gilt die Materialität der Kommunikation und die Bindung jedweder Information an das Medium zu beachten.“ Noch deutlicher werden Jack Goody und Ian Watt in einem Aufsatz über Konsequenzen der Literalität: Auch in einer literalen Kultur bleibt die mündliche Überlieferung von Werten und Einstellungen der wichtigste Modus kultureller Orientierung, wobei die mündliche Überlieferung und die verschiedenen literalen Traditionen mehr oder weniger stark voneinander abweichen.405

Die Mentalitätsgeschichte hat auch in dieser Hinsicht die Perspektive erweitert: „Aus dem möglich, ja dringlich gewordenen Vergleich der modernen mit den traditionalen Kulturen ging die Reflexion des Mediums Schrift hervor – wie heute noch die Erforschung von Oralität und Literalität vorwiegend aus solchen Gegenüberstellungen Einsichten gewinnt.“406 Die inhaltliche Verbindung zwischen medientheoretischem Ansatz und Mentalitätsgeschichte besteht darin, daß Mündlichkeit und Schriftlichkeit eben „nicht bloß verschiedene Medien“407 bezeichnen, die prinzipiell ineinander übersetzbar und füreinander ersetzbar wären, sondern auch „verschiedene Denkweisen“ implizieren. Goody und Watt betonen, daß die „spezifische Natur mündlicher Kommunikation […] einen beträchtlichen Einfluß sowohl auf den Inhalt des kulturellen Repertoires als auch auf dessen Überlieferung“408 besitzt. Zunächst bedinge sie eine „Direktheit der Beziehung zwischen Symbol und Referent“, die bei schriftlicher Kommunikation nicht gegeben ist: Deren relative Entbundenheit von der konkreten Situation zwingt zu einer Versprachlichung aller kommunikativ relevanten Inhalte. Dies bedeutet zugleich ein Moment ‚geistiger Freiheit‘ – wohingegen „Sprache in nicht-literalen Gesellschaften durch eine enge funktionale Anpassung charakterisiert ist, welche nicht nur die relativ einfachen und konkreten Symbolreferenten […] bestimmt, sondern auch die allgemeineren ‚Verstehenskategorien‘ und die kulturelle Tradition als ganze.“ Hermann Bausinger verbindet die „Zähigkeit traditionalen Bewußtseins“ 409 und die „innere Festigkeit der Überlieferung“ eng mit der „beherrschende[n] Bedeutung der Mündlichkeit“ und einer „ständig geprüfte[n] und am Bewährt-Überlieferten ausgerichtete[n] Kommunikation. Dazu kommt das Prinzip des Rituellen, das Vertrauen in

GOODY/WATT, Konsequenzen der Literalität, S. 108f. SCHLAFFER, Einleitung, S. 11f. Die gewachsene Sensibilität ist auch durch die Durchsetzung der „neuen Medien“ bedingt: „Seit sich die Anzeichen und Prognosen häufen, daß die Schrift ihre beherrschende Stellung als Technik der Kommunikation verlieren werde, hat sich der Blick für Entstehung und Folgen der Schriftkultur geschärft. Wer heute […] die kulturellen Konsequenzen der Ablösung von Schreiben und Lesen durch artifiziell vermitteltes Sehen und Hören beobachtet, der wird leichter als zu der Zeit, da die literale Zivilisation selbstverständlich war, zur Analyse jenes historischen Einschnitts geführt, der den Übergang von der ursprünglichen Mündlichkeit zur Schriftlichkeit markiert.“ [SCHLAFFER, Einleitung, S. 7]. 407 Dieses und das folgende Zitat: SCHLAFFER, Einleitung, S. 16. Hervorhebung C. S. 408 Dieses und die folgenden Zitate: GOODY/WATT, Konsequenzen der Literalität, S. 66f. 409 Dieses und die folgenden Zitate: BAUSINGER, Traditionale Welten, S. 283. 405 406

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die Wiederholung und darauf, daß im immer neu Wiederholten das Wesentliche enthalten ist.“ Nur in Situationen der Bedrohung oder Krise der Ordnung, in Subkulturen, Übergangs- und Initiationsriten, aber auch in Festzeiten wie dem Karneval werden die Normen spielerisch oder anarchisch außer Kraft gesetzt. Dabei ist die typische gedankliche Operation die der Inversion: Was außer ‚Richtigem‘ und ‚Verkehrtem‘ sollte es sonst schon geben? In seinem Werk über Verkehrte Welt und Lachkultur spricht Michael Kuper in diesem Zusammenhang von einem „von symbolisch ausgeführten Inversionen begleiteten, liminalen Zwischenzustand“,410 in dem eine „spielerische Verfremdung der alltäglichen Erfahrungsmodi und der Alltagsordnung selbst“ stattfindet, deren „Abgrenzungen kurzfristig zu Fall [gebracht] und deren Hierarchien umgekehrt werden“. Die sozial verbindliche Wertwelt könne dabei sogar partiell „zur Farce degradiert werden.“ Hedda Ragotzky schreibt: Das Prinzip der Verkehrung ist in diesem Spiel Medium von Erkenntnis, einer Erkenntnis, die so und nicht anders gewonnen werden kann. Aus der Perspektive der Verkehrung erscheinen die Erfahrungsgesetze und Normen, die die herrschende Ordnung konstituieren, in ihrem Geltungsanspruch relativiert, sie werden anschaubar aus der Distanz und können damit zum Gegenstand der Reflexion werden. Nur so verfestigen sie sich nicht zu abstrakten Setzungen, sie können befragt werden und bleiben offen für sich verändernde Ansprüche der Praxis.411

In ihrem Aufsatz Zur Funktion „verkehrter Welt“ führt Ragotzky weiter aus: „Das Bedrohliche wird auf diese Weise ins Komische verkehrt, Verkehrung ist auch hier ein Akt, der spielerische Befreiung und damit soziale Entlastung bewirkt.“412 Ob und inwieweit Hebbel dieses typische Merkmal einer am ‚Selbst-Verständlichen‘ ausgerichteten traditionalen Kultur einsetzt, ist von erheblicher Bedeutung für eine Einschätzung seines Denkstils. In einer mündlichen Kultur ist auch der Zusammenhang zwischen Sprache und Aktion besonders eng: Bedeutungen sind nur in geringem Maße durch explizite ‚VorSchriften‘ festgelegt; indem jemand sich entsprechend bestimmter „Weisen verhält, vollzieht er, ‚meint‘ er, die damit aufgezeigte Bedeutung. Dabei ist unerheblich, ob er sich dieser Intention jeweils bewußt ist oder nicht.”413 Im Drama wird dieser Zusammenhang zum künstlerischen Prinzip gesteigert. Wer hingegen „Worte vergegenständlicht und sie und ihre Bedeutung längerer und gründlicher Prüfung zugänglich macht als gesprochene Worte“,414 der erhält eine „gewisse Kontrolle über die Umbildungen des Gedächtnisses unter den Einflüssen späterer Ereignisse“ – gefördert wird auf diese Weise „privates und individuelles Denken“. Auch die „Idee der ‚Logik‘ – eines unveränderlichen und unpersönlichen Modus des Denkens“,415 ist nach Ansicht von Dieses und die folgenden Zitate: KUPER, Zur Semiotik der Inversion, S. 34. RAGOTZKY, Der Bauer in der Narrenrolle, S. 94. 412 Ebd., S. 97. 413 SELLIN, Mentalität und Mentalitätsgeschichte, S. 576. 414 Dieses und die folgenden Zitate: GOODY/WATT, Konsequenzen der Literalität, S. 114. 415 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 88. 410 411

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Goody und Watt überhaupt erst zu der Zeit, „in der eine alphabetische Schrift allgemein verbreitet war, entstanden“; gemeinsam mit einem „Sinn für die menschliche Vergangenheit als einer objektiven Realität“. Bei der Herausbildung eines Bewußtseins von Geschichtlichkeit, das sich von einem mythischen Weltverständnis ablöst, stehen Mentalitäts- und Medialitätswandel wiederum in engem Zusammenhang. In einem sehr spezifischen Sinn wird Mentalitätgeschichte so zur ‚Bedeutungsgeschichte‘ – die grundsätzliche Relevanz für eine Dichterbiographie liegt auf der Hand. Die Entwicklung dieser neuen Denkformen vollzog sich durchaus nicht allein im antiken Griechenland mit der Erfindung und erstmaligen Verbreitung der Alphabetschrift. Goody und Watt nehmen vielmehr an, daß sie sich später „– vor allem seit der Erfindung der Buchdruckerkunst – vielfach verstärkt“416 habe. Allzu schematisch wäre dabei die „simple Entgegensetzung“417 einer mündlich-traditionalen (Volks-)Kultur und einer schriftlich-modernen Kultur. In seinem Abriß der Entwicklung von Literalität und Alphabetisierung in Deutschland erläutert Ulrich Knoop: „Mit dem Aufkommen des Mediums Schrift, erst recht aber mit der Fülle geschriebensprachlicher Texte seit 1500, gibt es keine […] Sprache mehr, die allein den Gesetzen mündlicher Formulierung und Tradierung […] folgen könnte. Denn die Fixierung im Schrifttext entscheidender Mitteilungen richtet auch das Sprechen eines jeden auf die Formulierung hin aus“. Die Literatur habe, so Konrad Köstlin „mündliche Traditionen immer wieder zerschnitten, aber auch stabilisiert und um Erzählinhalte erweitert“.418 Darum sind sie nicht als „stabil und homogen und widerspuchsfrei“,419 sondern als „dynamisch und heterogenvielfältig“ zu begreifen. Umgekehrt besitzt auch die Schrift-Sprache keine Autonomie: „Die kulturelle und soziale Organisation des Lebens in der frühen Neuzeit war allerdings solchermaßen, daß sie ihre Mitteilungen auch und gerade aus der stummen und sinnlichen Eingeschränktheit in die für sie entscheidende gesellige Sinnlichkeit umsetzte.“420 So kann wiederum „schriftlich Tradiertes […] mündlich vermittelt […] werden“.421 Diese „gemischten Verhältnisse“,422 die Knoop „treffend mit dem Begriff der ‚Multimedialität‘ gekennzeichnet“ sieht, veränderten sich mit einem gewandelten „Verhältnis zu Lesen und Schreiben […] im Laufe des 18. Jahrhunderts grundlegend.“ Konrad Köstlin meint: „Mit der Schule kam eine neue Welt ins Dorf. Der Staat hatte sich ein Instrument geschaffen, das seine Prinzipien bis in den letzten Winkel tragen konnte. Insofern gehört die Schule notwendig zum modernen Staat. Er konnte so seine neue Vernunft mit Hilfe von Unterricht und Schrift in die alltägliche Lebensführung der Menschen hinein verbreiten.“423 Mit zunehmender Alphabetisierung und Lektüre wurde die Schriftkultur insbesondere seit dem Zeitalter der Aufklärung zum

Ebd., S. 105. KNOOP, Entwicklung von Literalität, S. 866f. 418 KÖSTLIN, Lesen und Volkskultur, S. 11. 419 Dieses und das folgende Zitat: GOETSCH, Die Rolle der mündlichen Tradition, S. 295. 420 KNOOP, Entwicklung von Literalität, S. 867. 421 GOETSCH, Mündliches Wissen in neuzeitlicher Literatur, S. 23. 422 Dieses und die folgenden Zitate: KNOOP, Entwicklung von Literalität, S. 867. 423 KÖSTLIN, Lesen und Volkskultur, S. 16. 416 417

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„Werkzeug der Veränderung und damit der Entsakralisierung oder Säkularisierung“.424 Doch teilweise blieben die alten Bedingungen „auch über das 18. Jahrhundert hinaus“425 wirksam, so etwa „das laute Lesen als Existenzform der geschriebenen Sprachform gerade in den unteren Bevölkerungsschichten aber auch für bestimmte Textbereiche (Belletristik)“. Jeismann und Lundgreen weisen darauf hin, daß selbst der „Anund Halbalphabetismus […] nicht nur bei der Landbevölkerung und den Unterschichten, sondern durchaus noch im unteren Mittelstand durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch in Deutschland verbreitet war“,426 mit Rudolf Schenda nehmen sie an, daß in Deutschland „nahezu die Häfte der Bevölkerung […] bis weit über die Jahrhundertmitte als Leser ausfalle.“427 Nicht so sehr die Literalität an sich, sondern die „vielfältigen Unterschiede im Grad der Partizipation an der literalen Tradition bedingen eine grundlegende Trennung, die es in nicht-literalen Gesellschaften nicht geben kann: die Trennungen zwischen den verschiedenen Graden von Alphabetismus und Analphabetismus.“428 Goody und Watt konstatieren zudem „das Fortbestehen ‚nicht-logischen Denkens‘ in modernen literalen Gesellschaften. Denn ohne Zweifel ist die Schrift in den modernen literalen Gesellschaften keine Alternative zur mündlichen Überlieferung, sondern eine zusätzliche Möglichkeit.“429 Im großen und ganzen spielt sich jedoch in der „Sattelzeit“ des 18./19. Jahrhunderts mediengeschichtlich ein dramatischer Wandel ab, der nicht zufällig parallel zu den mentalitätsgeschichtlichen Umbrüchen hin zur Moderne stattfindet. Zum einen wird mit zunehmender Alphabetisierung und Lesefähigkeit eine restbeständig orale Kultur beschleunigt zurückgedrängt, zum anderen kommt es im Zuge der fortschreitenden Auflösung der ‚gemischten Verhältnisse‘ zu einer zunehmenden funktionalen und sozialen Differenzierung zwischen Oralität und Literalität. Friedrich Hebbels Äußerung, kein Gebildeter könne sich vorstellen, wie ihm „in der Einöde eines Dithmarsischen Marktfleckens, den die Cultur nur in Maculatur-Gestalt berührt“ [WAB 2, 548] und in den nur „der Zufall“ hin und wieder ein Buch verschlage, zu Mute gewesen sei, wirft ein grelles Schlaglicht nicht nur auf die medialen Verhältnisse in Wesselburen und ihre Relevanz für die eigene Entwicklung, sondern auch darauf, wie fremd diese Verhältnisse schon dem zeitgenössischen Publikum waren. Wo ‚Volkskultur‘ einer Kultur der Eliten gegenüber steht, ist sie „kein Medium nur eines ‚inneren Monologs‘ des Volkes, vielmehr auch ein Medium des sozialen Dialogs zwischen den gesellschaftlichen Mehrheiten und den Eliten. Insofern beinhaltet sie Qualitäten und Funktionen einer politischen Kultur: Sie ermöglicht Diskurse, Formen der Interessenartikulation und des Konfliktaustrags“.430 Für Konrad Köstlin stellt sich dieser ‚Dialog‘ in der historischen Bilanz jedoch recht einseitig dar: „Wenn Schriftlichkeit die Teilung in Herrschende und Beherrschte zur Folge hat, dann könnte man aus all dem Gesagten den Schluß ziehen, eben diese Schriftlichkeit sei der entscheidende ASSMANN/ASSMANN, Schrift, Tradition und Kultur, S. 33. Dieses und das folgende Zitat: KNOOP, Entwicklung von Literalität, S. 866. 426 JEISMANN/LUNDGREEN, Handbuch der Bildunggeschichte, S. 286. 427 Ebd., S. 387. 428 GOODY/WATT, Konsequenzen der Literalität, S. 109. 429 Ebd., S. 122. 430 KASCHUBA, Ritual und Fest, S. 248. 424 425

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Schritt zur Entfremdung des Volkes von sich selbst gewesen, der Anfang vom Ende der Volkskultur.“431 In jedem Fall führt der mediale Wandel zu Brüchen, die „nicht nur eine soziale“ 432 Differenz bedeuten. Die im Umgang mit der Schriftkultur versierten Vertreter der Elitekultur bilden vielmehr neuartige Denkstile aus: „Gerade weil sie Gebildete sind, denken und wissen sie nicht nur anderes, sondern sie wissen partiell auch auf andere Art.” Auch mit der Sozialgeschichte steht die Mediengeschichte also in enger Verbindung. Obschon man mit idealtypischen Verallgemeinerungen vorsichtig sein muß,433 lassen sich doch tendenziell deutliche Zusammenhänge zwischen Oralität und traditionaler Orientierung erkennen. Für Gesellschaften, die sich auf die mündliche Überlieferung stützen, machte Carlo Ginzburg geltend, daß das „Erinnerungsvermögen der Gemeinschaft unwillkürlich dazu [tendiert], Veränderungen zu verschleiern oder wieder in sich zurückzunehmen. Die relative Formbarkeit des materiellen Lebens geht einher mit einer ausgesprochenen Starrheit des Bildes der Vergangenheit. Die Dinge sind immer so gewesen: die Welt ist, wie sie ist.“434 Auch die mündliche Überlieferung von einer Generation zur nächsten ist als Prozeß des Erinnerns und Vergessens zwar nicht als statische, wohl aber als „homöostatische Organisation der kulturellen Tradition in der nicht-literalen Gesellschaft“435 anzusprechen: „Was von sozialer Bedeutung bleibt, wird im Gedächtnis gespeichert, während das übrige in der Regel vergessen wird“. Die Ausdehnung der Schriftkultur, so Aleida und Jan Assmann, „zerstört das homöostatische Gleichgewicht, in dem Tradition und Gesellschaft ausbalanciert sind. Mit der Sedimentierung von Vergangenheit entstehen zugleich eine merkliche Diskrepanz zwischen Gegenwart und Vergangenheit und eine Kopräsenz des Vergangenen im Gegenwärtigen“.436 Diese Kopräsenz löst die starre Orientierung auf und führt zunehmend zu einer „Vielstimmigkeit der Tradition“,437 wie auch zu Phänomenen der Desintegration und Desynchronisation. Als Beispiel nennen Goody und Watt die „Kluft zwischen der öffentlichen literalen Tradition der Schule und den ganz anderen, oft konträr entgegengesetzten mündlichen Traditionen der Familie und der Altersgruppen des Schülers“.438 Sofern dieser Prozeß „ein bestimmtes Individuum betrifft, wird dieses zu einem Palimpsest aus Schichten von Überzeugungen und Einstellungen, die aus verschiedenen historischen Zeiten stammen“.439 Die Parallelen zur Form des Mentalitätswandels insgesamt sind evident. KÖSTLIN, Lesen und Volkskultur, S. 22. Dieses und das folgende Zitat: SELLIN, Mentalität und Mentalitätsgeschichte, S. 573. 433 So weisen Assmann/Assmann darauf hin, daß Schrift „als Medium des kulturellen Gedächtnisses“ durchaus auch der „Sakralisierung kulturellen Sinns“, der „hieratischen Stillstellung“ [ASSMANN/ASSMANN, Schrift, Tradition und Kultur, S. 33] und somit der „Traditionsbewahrung“ [ebd., S. 36] dienen könne. 434 GINZBURG, Der Käse und die Würmer, S. 116. 435 Dieses und das folgende Zitat: GOODY/WATT, Konsequenzen der Literalität, S. 68. 436 ASSMANN/ASSMANN, Schrift, Tradition und Kultur, S. 41f. Vgl. Schlaffer: „die Erfindung des Buchdrucks störte dieses Gleichgewicht einer ‚begrenzten Literalität‘ [einer sozialen Elite]“ [SCHLAFFER, Einleitung, S. 11]. 437 ASSMANN/ASSMANN, Schrift, Tradition und Kultur, S. 43. 438 GOODY/WATT, Konsequenzen der Literalität, S. 109. 439 Ebd., S. 107. 431 432

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Auch die Kollektivität der traditionalen Gesellschaft enthält eine mediale Dimension, wie Goody und Watt erläutern: „In einer nicht-literalen Gesellschaft bringt jede soziale Situation das Individuum unausweichlich mit den Denk-, Gefühls- und Handlungsmustern der Gruppe in Berührung: das Individuum hat nur die Wahl zwischen Partizipation an der kulturellen Tradition und Einsamkeit.“440 Entsprechend besitzt die ‚Volkskultur‘ vor allem dort starke Affinität zur Oralität, wo sie ihren kollektiv verbindlichen Charakter bewahrt hat. Wolfgang Kaschuba umreißt diese Zusammenhänge so: Volkskultur bezeichnet hier eine gruppenübergreifende Kultur des Wortes und der Geste, des kollektiven Erlebens und der sinnlichen Erfahrung. Ich betone vor allem nochmals ihre mündliche und interaktive Struktur, die weniger individuell und subjektiv gestaltete Erfahrungen zuläßt, vielmehr auf kontextuellen Vermittlungssituationen in der Familie und Gruppe aufbaut: etwa auf Märchen und Geschichtsstoffen, die formelhafte Idiome wie Inhalte kollektiven Wissens transportieren […] auf den Liedern und Witzen, in denen sich Gesellschaftswahrnehmung und Gruppenidentität metaphernhaft ausdrücken.441

Vor diesem Hintergrund leuchtet ein, daß auch die Sprache als solche nicht nur „als ein Verständigungsmittel zwischen einzelnen Personen wahrgenommen“442 werden kann, wie Eric A. Havelock betonte: Sie sei vielmehr gleichfalls eine „kollektive Angelegenheit; ganze Gruppen der Gesellschaften unterschiedlicher Größe müssen sich auf ihre Regeln geeinigt haben, ehe dem einzelnen innerhalb der Gruppe ihre ‚Bedeutungen‘ zugänglich werden.“ Zu Recht gibt Havelock darum zu bedenken, daß „die Sprache, auch wenn sie offensichtlich von einzelnen Personen gesprochen wird, die meinen mögen, als einzelne und im Blick auf Einzelinteressen zu sprechen, tatsächlich aber ihrer primären Funktion nach eher kollektiven Zwecken dient.“443 Die Verwechslungsgefahr zwischen Individuellem und Kollektivem, vor der Friedrich Sengle mit Blick auf die historische Biographie warnte, gilt generell für historische Kommunikationsverhältnisse, die differenziert zu betrachten sind: Insgesamt ist „der Grad an Individualität persönlicher Erfahrung in nicht-literalen Kulturen geringer als in literalen“.444 So führt die „Entbindung aus der multimedialen Geselligkeit“,445 bei denen „Techniken des Lesens und Schreibens […] eine bedeutsame Rolle“446 spielen, zu einer „Individualisierung des Lesens“,447 oder anders: „Je moderner die Beziehungen zu sein scheinen, desto mehr bedürfen sie der Schriftlichkeit.“448 Diese Entwicklung spiegelt sich nicht nur beim Erwerb von Schreib- und Lesefähigkeiten, sondern auch in der Art ihrer Anwendung, der Lesekultur, wider. Lothar Pikulik schreibt: Ebd., S. 110. KASCHUBA, Ritual und Fest, S. 244. 442 Dieses und das folgende Zitat: HAVELOCK, Als die Muse schreiben lernte, S. 95. 443 Ebd., S. 96. 444 GOODY/WATT, Konsequenzen der Literalität, S. 113. 445 KNOOP, Entwicklung von Literalität, S. 868. 446 GOODY/WATT, Konsequenzen der Literalität, S. 113. 447 KNOOP, Entwicklung von Literalität, S. 868. 448 KÖSTLIN, Lesen und Volkskultur, S. 20. 440 441

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Wo jemand historisch steht, zeigt sich z. B. daran, was er liest. Und wenn es in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts Leser gab, die mit ihrer Lektüre schon bei Goethe standen, so andere, die noch bei Gellert waren, und wieder andere, die sich mit den alten und sich immer gleichbleibenden Kalendern begnügten, neben solchen, die sich ganz auf religiöses Schrifttum beschränkten. Ganz abgesehen davon, daß es im 18. Jahrhundert nicht wenige gab, die noch nicht einmal ins Zeitalter der Schrift eingetreten waren und sich auf die mündliche Kommunikation beschränken mußten.449

Interessanterweise entnimmt Pikulik gerade aus Hebbels Werk einen Beleg dafür, daß der Eintritt ins „Zeitalter der Schrift“ noch lange nichts Selbstverständliches war: „Noch Hebbels Meister Anton kann nicht schreiben (und wohl auch nicht lesen).“ Von dieser literarischen Figur umstandslos auf die Realität zurückzuschließen ist freilich problematisch; die Rekonstruktion der wirklichen Verhältnisse ist gerade angesichts des ‚Archaismus‘-Verdachts gegen Hebbel nicht zu umgehen. Doch nicht nur was, sondern auch wie jemand liest, ist von Belang. Für Erich Schön ist Der Verlust der Sinnlichkeit oder: Die Verwandlung des Lesers ein höchst bedeutsames Anzeichen für den Mentalitätswandel um 1800. Deutlich grenzt sich Schön damit von dem „ScheuklappenBlick“450 der Rezeptionsforschung ab, der faktisch dem „literarischen Bereich eine scheinhafte Eigenständigkeit“ einräume. Ihm geht es vielmehr um die „Einbettung des literarischen Erlebens in die Totalität eines ganzen Lebenszusammenhangs“ und, daraus resultierend, den Versuch, die „Zeugnisse des Umgangs mit Literatur wahrzunehmen im Kontext anderer, gewissermaßen benachbarter Zeugnisse dieses Lebenszusammenhangs, die wenigstens bruchstückhaft etwas von seiner Totalität abbilden“.451 Eine „erstaunliche Feststellung“452 von Novalis aufgreifend, nach der Bücher „vielleicht an die Stelle der Traditionen getreten“ seien, schreibt Ralph-Rainer Wuthenow: „Bücher werden zu einer neuen Gestalt der Überlieferung, die zuvor durch Unterweisung, Haltung, Ritus, Konvention innerhalb des Familien- und des korporativen Verbandes – Kirche, Zünfte, Verwaltung, Armee – vermittelt worden war.“453 Dank Adrian Hummels bemerkenswertem Aufsatz über Hebbels – sehr diffeDieses und das folgende Zitat: PIKULIK, Leistungsethik contra Gefühlskult, S. 83. Auch „Volkskultur, wo sie noch bei sich war, wird fast immer als mündliche Kultur beschrieben“ [KÖSTLIN, Lesen und Volkskultur, S. 10]. Das ist in dieser Eindeutigkeit wiederum problematisch, doch die „Opposition von Lesen und Volkskultur könnte freilich auch deshalb aufschlußreich sein, weil beider Zusammenhang am Beginn der Modernisierung steht, wo das eine, das Lesen nämlich, dem anderen, der Volkskultur, den Garaus gemacht habe“ [ebd.]. 450 Dieses und das folgende Zitat: SCHÖN, Der Verlust der Sinnlichkeit, S. 23. 451 Ebd., S. 27. 452 Dieses und die folgenden Zitate: WUTHENOW, Im Buch die Bücher, S. 28. 453 Wuthenow beschreibt Lektüre jedoch zu undifferenziert und in glatter Negation des Schön’schen „Lebenszusammenhangs“, als „Isolation“ in der sich das lesende Individuum „den Bestand von Wissen und Überlieferung sozusagen in seinem Bewußtsein selbst“ [ebd.] errichte. Vgl. demgegenüber auch Goetsch: „Die Literatur steht in einem engen Bezug zu dem lebensweltlichen Wissen und den religiösen, gesellschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Erklärungssystemen ihrer Zeit und darüber hinaus zu dem überlieferten Wissen überhaupt“. Darum gelte grundsätzlich, daß selbst „literarische Texte zunächst einmal an die alltägliche Lebenswelt anschließen, schon allein deshalb, weil sie den Leser erreichen sollen“ [GOETSCH, Mündliches Wissen in neuzeitlicher Literatur, S. 18]. 449

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rente – Lesegewohnheiten ist die Hebbel-Philologie in Bezug auf diesen Aspekt auf einem sehr avancierten Stand.454 Der von Hummel bereits 1997 angekündigte, nicht minder interessierende zweite Teil über „Wechselbeziehungen zwischen Friedrich Hebbels Lektüre und seinem literarischen Werk sowie die Bedeutung von Lektüre im literarischen Werk selbst“455 ist bis heute nicht erschienen. Das ist bedauerlich, denn erst durch die interpretatorische Anwendung kann der medientheoretische Zugang den Verdacht des SelbstzweckhaftBiographistischen entkräften. Indes ist es sinnvoll, hier nicht allein die entwickelte Literalität zu betrachten, sondern auch Oralität und Formen von Semi-Oralität bzw. Semi-Literalität. Spuren von Mündlichkeit können Texten in vielfältiger Form eingeschrieben sein. Allerdings, so klagte Walter J. Ong, „im großen und ganzen schenkt die Literaturgeschichtsschreibung der Gegensätzlichkeit von Oralität und Literalität nur geringe Aufmerksamkeit. Sie vernachlässigt dabei die Bedeutung dieser Polarität für die Entwicklung des Genres, des Erzählplanes, der Charakterzeichnung, des Verhältnisses von Schreibenden zum Leser […] von Literatur zu den sozialen, intellektuellen und psychischen Strukturen.“456 Dies änderte sich erst in jüngerer Zeit. 1990 präsentierte ein von Paul Goetsch herausgegebener Band über Mündliches Wissen in neuzeitlicher Literatur die Ergebnisse eines interdisziplinären Sonderforschungsbereichs zum Thema „Spannungsfelder und Übergänge zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit“.457 Dabei wurde von Ongs Ansatz abgerückt, „Spuren traditioneller Mündlichkeit in literarischen Texten als oral residues, als gleichsam unbehauene Bruchstücke der Oraltradition,“ anzusehen. Angesichts der weitgehenden Lösung der modernen Literatur von den „Wurzeln in der Mündlichkeit“458 interessiere „nicht mehr der Ablösungsprozeß als solcher“, sondern die „Frage, wie sich die Koexistenz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der Lebenswirklichkeit auf die Literatur auswirkt.“ Dieser Frage näherte sich ein von Aleida und Jan Asmann 1993 edierter Sammelband über Schrift und Gedächtnis wiederum von der Seite der Literalität: „Ausgehend von dem inzwischen gewonnenen Neuland unserer Kenntnisse oraler Kulturen“, fragte er nach den „verändernden Auswirkungen der Literalität speziell auf die Literatur“ bzw. „nach den spezifischen Merkmalen ‚literaler‘ und ‚semi-literaler Literaturen’“.459 Dabei beobachteten die Herausgeber ein „Kontinuum schleichender Übergänge“460 bzw. ein breites „Spektrum an Überblendungen und Mischformen“461 bis weit in die Neuzeit hinein, die „trotz Verbreitung von Schrift im Druck nicht mit

HUMMEL, „Mein Buch ist wie eine Feuerkohle in der Tasche.“ Friedrich Hebbels Lektüre (I): Lesegewohnheiten. 455 Ebd., S. 50, Anm. 61. Die inhaltlichen und formalen Anregungen, die Hebbel von der Literatur empfing, sind demgegenüber häufig Gegenstand von Untersuchungen gewesen, etwa von Richard Maria Werner, Wolfgang Liepe, Wolfgang Wittkowski und Heinz Stolte. 456 ONG, Oralität und Literalität, S. 155f. 457 Dieses und das folgende Zitat: GOETSCH, Vorwort, S. 7. 458 Dieses und die folgenden Zitate: Ebd., S. 8. 459 ASSMANN/ASSMANN, Schrift und Gedächtnis, S. 268. 460 Ebd., S. 272. 461 Ebd., S. 274. 454

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der unterliegenden Gesprächssituation gebrochen hat“.462 Erst der „quantitative Schub in der Buchproduktion gegen Ende des 18. Jahrhunderts korrespondiert mit einer qualitativen Neubewertung der schriftlichen Kommunikation. Das volle Eingeständnis der Schreibsituation bringt es mit sich, daß sie den Schriftsteller dem Leser gegenüber in eine unsichtbare Ferne entrückt und diesen aus der Rolle des unmittelbaren Adressaten entläßt. […] Im Zusammenhang der neuen Produktionsund Distributionsbedingungen erhält die moderne Autorschaft ihr neues Gesicht“. Indem sich nämlich der gedruckte und als Ware verbreitete Text „vom Schreiber unabhängig macht“,463 so erläutert Catherine Viollet, kommen „besonders zur Zeit der Romantik […] neue Begriffe und Vorstellungen wie die der Inspiration, des Genies, der Schöpfung, der Originalität zum Durchbruch, welche die literarische Schreibtätigkeit bezeichnen.“ Ohne Zweifel hat Hebbel schon in Wesselburen solche Vorstellungen von Autorschaft rezipiert. Gleichwohl bleibt die Frage interessant, ob er zugleich nicht auch jenen von Paul Goetsch „allenfalls hier und da“ im heutigen Afrika vermuteten „bicultural eccentrics“464 verwandt sein könnte, die „aufgrund ihrer doppelten literarischen Sozialisation in der Lage sind, traditionell mündliches und modernes schriftliches Erzählen auf besonders eindringliche Weise miteinander zu verbinden“ wissen. Auch in medientheoretischer Hinsicht bieten sich inzwischen ein ganze Reihe unterschiedlicher Analyseansätze dar, die an Hebbel zu erproben wären. Mentalität und Medialität, Sozialisation und Kulturisation lassen sich nicht sauber voneinander trennen. So werden in dieser Arbeit die medialen Verhältnisse immer wieder in der Beschreibung der einzelnen Sozialisationsagenturen mitberücksichtigt: In die Klippschulzeit bei der Jungfer Susanna fallen die Anfangsgründe des Lesenlernens; die Mutter Antje Hebbel überträgt Friedrich das laute Vorlesen religiöser Texte, Schreiben lernt er in der Elementarschule beim Lehrer Dethlefsen, der ihn später zu intensiver privater Lektüre anleitet; beim Kirchspielvogt Mohr übt er die Funktion eines ‚Schreibers‘ aus. Einige Instanzen stehen sich schon durch eine tendenziell gegensätzliche mediale Orientierung polar gegenüber: Hier das fast noch analphabetische Elternhaus – dort die Schule; hier die auf der ‚Heiligen Schrift‘ basierende offizielle Religion – dort der mündlich weitergegebene Volksglaube; hier die Schreibstube bei Mohr – dort die mündliche Gruppenkultur der Jugendlichen auf der Straße. In weiteren Kapiteln ist Medialität direktes Thema, etwa wenn es um die Bedeutung von Oralität und Semi-Oralität im volkskulturellen Kontext Wesselburens geht, oder schließlich um die schaffenspsychologische Relevanz der oralen Prägungen für Hebbel. Nicht alle denkbaren Themen können in dieser Arbeit behandelt werden, die aufgrund der skizzierten Erkenntnisinteressen im Rahmen einer Gesamtdeutung Hebbels notwendig perspektivisch bleiben muß. Die Präferenz für Ansätze jenseits klassischer Literatur- bzw. Geisteswissenschaft bedeutet jedoch keine einseitige methodische Voreingenommenheit, bei der anderen Ansätzen die Relevanz abgesprochen würde; sie spiegelt lediglich den Nachholbedarf in diesen Bereichen. Insofern liefert auch Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 277. Dieses und das folgende Zitat: VIOLLET, Schriftlichkeit und Literatur, S. 659. 464 Dieses und das folgende Zitat: GOETSCH, Mündliches Wissen in neuzeitlicher Literatur, S. 28. 462 463

Vorhaben und Methodik

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diese Arbeit nur Vorstudien für die von Günter Häntzschel als das „größte Desiderat der Hebbel-Forschung“465 bezeichnete Monographie. Zum einen wird sie ein neues und verdichtetes Bild des jungen Friedrich Hebbel wie auch seiner Dithmarscher ‚Lebenswelt‘ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeichnen. Zum anderen wird sie an zahlreichen Beispielen zeigen, daß die Wesselburener Zeit nicht ‚überwunden‘ wird, sondern in Hebbels Leben und Werk dauerhaft prägende Einflüsse ausübt und daß sich die werkbiographischen Zusammenhänge vielfach komplexer, aber in all ihren Widersprüchen auch plausibler darstellen, als bislang erkannt worden ist. Nicht nur die Hebbel-Forschung, sondern die Philologie insgesamt hat sich methodisch in dieser Richtung erst noch zu öffnen. „Langsam beginnen sich auch Nachbardisziplinen wie die Literaturwissenschaft für mentalitätshistorische Fragestellungen zu interessieren“466, schrieb Peter Dinzelbacher in seinem Vorwort zu einer Europäischen Mentalitätsgeschichte. Wenn er diesen Satz einer 2008 erschienenen Neuauflage unverändert wieder voranstellen konnte, deutet dies an, daß sich in den vergangenen 15 Jahren zu wenig verändert hat.

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HÄNTZSCHEL, Künftige Aufgaben der Hebbel-Forschung, S. 148. DINZELBACHER, Vorwort, S. XII.

1. DAS ELTERNHAUS

Die Konstruktion des Elternhauses – feindlicher Vater, liebende Mutter? „Mein Vater haßte mich eigentlich“, beginnt der fünfundzwanzigjährige Friedrich Hebbel die Charakteristik seines Vaters Claus Friedrich Hebbel467 im Tagebuch und fährt fort: auch ich konnte ihn nicht lieben. Er, ein Sclav der Ehe, mit eisernen Fesseln an die Dürftigkeit, die baare Noth geknüpft, [...] haßte aber auch die Freude; zu seinem Herzen war ihr durch Disteln und Dornen der Zugang versperrt, nun konnte er sie auch auf den Gesichtern seiner Kinder nicht ausstehen, das frohe, Brust erweiternde Lachen war ihm Frevel, Hohn gegen ihn selbst, Hang zum Spiel deutete auf Leichtsinn, auf Unbrauchbarkeit, Scheu vor grober Handarbeit auf angeborne Verderbniß, auf einen zweiten Sündenfall. Ich und mein Bruder hießen seine Wölfe; unser Appetit vertrieb den seinigen, selten durften wir ein Stück Brot verzehren, ohne anhören zu müssen, daß wir es nicht verdienten. [T 1323]

Pointierter – und ungünstiger – hätte dieses Zeugnis kaum ausfallen können, auch wenn Hebbel sich beeilt, es zu relativieren: Ein „herzensguter, treuer, wohlmeinender Mann“ sei der Vater „dennoch“ gewesen. Doch zu schwer wogen die Vorwürfe, als daß die nachgeholten Bemäntelungen des Sohnes dagegen ins Gewicht fielen – die Biographen Hebbels haben die Einschränkung meist überhört. In den Augen von Hebbels jüngerem Wiener Freund und erstem Biographen Emil Kuh machten „ein rauher Sinn und eine düstere Beharrlichkeit, denen jede freundliche Vermittlung fehlte, [...] das Bild des Mannes zu einem Sinnbilde der Bedrängnis“.468 Karl Zeiß versuchte, die Drastik seines Porträts wenigstens punktuell zu mildern: „Der Sinn des Vaters wurde immer düsterer, Spiel und Scherz wurden ihm, der seufzend die harte Fronarbeit des Tages zu vollbringen hatte, beinahe verhaßt. Verzweifelten Hohn und schneidende Vorwürfe bekamen die Kinder zu hören, wenn sie nur ein Stück Brot verzehrten, und der im Grunde des Herzens gutmütige Vater wurde in der Schule der Not zum Schrecken der Familie“.469 Der negative Tenor bleibt jedoch vorherrschend. Adolf Stern resümierte: „Hebbels Vater war [...] ein finsterer, strenger, von seiner Armut und den Pflichten des Lebens niedergehaltener Mann, der die Dürftigkeit wie einen Fluch trug“.470 Theodor Poppe machte den „freudenfeindliche[n] Mann“,471 „dessen unbehilfliche, schwerfällige Natur dem Leben nicht gewachsen war“, für die eigene Misere auch charakterlich verantwortlich. Für Franz Faßbinder war es „der Sein eigentlicher Rufname war Friedrich; aus praktischen Günden wird er im folgenden als „Claus“ bzw. „Claus Friedrich“ angeführt. 468 KUH, Biographie, Bd 1, S. 32. 469 ZEISS, Hebbels Leben und Werke, S. 11. 470 STERN, Friedrich Hebbel, S. VIII. 471 POPPE, Lebensbild, S. XIII. 467

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verbissene Stolz des talentlosen Mannes“, der sein „Wesen“ ausmachte.472 Kurt Küchler sah „den kalten, unfreundlichen, verschlossenen Vater fronen und stöhnen im Tagelöhnerdienst“,473 und Isidor Sadger nannte ihn „einen unleidlichen Grämling“,474 der sein Schicksal mit verschuldet habe: „Klaus Friedrich war eine verbissene Natur und stets gedrückt, teils infolge seines mangelhaften Könnens, teils durch die Verhältnisse“.475 Wo der Blick auf die Beziehung zwischen Vater und Sohn fällt, erscheint der strenge Vater fast als Unmensch: „Als sei Christian Friedrich gar nicht sein Sohn, verhielt sich der Vater gegen ihn“.476 Albrecht Janssen argwöhnte: „Er ist sicherlich fleißig zur Kirche gegangen und muß doch wohl gemerkt haben, daß die Lehren Christi und seine Taten im schreienden Kontrast standen“.477 Janssen ging sogar so weit, angesichts des Kontrastes zwischen Vater und Sohn die Vaterschaft Claus Friedrich Hebbels überhaupt in Zweifel zu ziehen – in der sogenannten „VolckmarHypothese“. Kein wesentlich neues Bild bieten die jüngeren Darstellungen, so schrieb etwa Hayo Matthiesen: Seine berufliche Strebsamkeit mischte sich mit kurzsichtigem Eigensinn. Er war erfüllt von dem Wunsch, das Gespenst der Armut [...] fernzuhalten, und seine Verbitterung darüber, daß ihm das nicht gelingen wollte, machte ihn zu einem verschlossenen, harten, empfindlichen Mann.478

Für Michaela Holdenried ist er die „traumatisierende Figur der Kindheit“ Friedrichs, der im Tagebuch „ungeschminkt als der brutale Mensch, der er war“479 erscheine. Für Hargen Thomsen ist sogar ein – obschon „explizit niemals ausgesprochener“ – „Todeswunsch wider den Vater begreiflich“, da „die Erziehungsmethoden des Vaters recht gewalttätiger Art“480 waren. Darüber hinaus „bestritt [der Vater] ihm durch seine Nichtanerkennung geradezu die innere Daseinsberechtigung und vermittelte ihm ein Gefühl der Nichtigkeit“.481 Wenige Wochen vor der Charakterisierung des Vaters, am 18. September 1838, unmittelbar nach ihrem Tod, hatte Hebbel im Tagebuch auch die Mutter beschrieben. „Sie war eine gute Frau“ [T 1295] – so beginnt ihr Porträt. Auch hier steht der erste Satz gleichsam programmatisch über allem übrigen, was über die Mutter zu sagen ist. Zur guten, gütigen Mutter ist Antje Margaretha Hebbel denn auch in der Hebbel-Biographik geworden. Schon Emil Kuh hob an ihr „Vorteile eines flüssigen TemperaFASSBINDER, Friedrich Hebbel, S. 16. KÜCHLER, Friedrich Hebbel, S. 11. 474 SADGER, Friedrich Hebbel. Ein psychoanalytischer Versuch, S. 28. 475 Ebd., S. 7. 476 WERNER, Friedrich Hebbel. Ein Lebensbild, S. 26. 477 JANSSEN, Die Frauen rings um Friedrich Hebbel, S. 8. 478 MATTHIESEN, Friedrich Hebbel, S. 14f. 479 HOLDENRIED, Autobiographie, S. 182. 480 THOMSEN, Grenzen des Individuums, S. 148. An anderer Stelle relativiert Thomsen diese Auffassung; sie „würde die Beziehung zwischen Vater und Sohn allzusehr vereinfachen“ [THOMSEN, Patriarchalische Gewalt, S. 18]. 481 THOMSEN, Grenzen des Individuums, S. 150. 472 473

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ments und ausgesprochener Güte“482 hervor. Eine zusammenfassende Würdigung der „Gattin und Mutter, die so ganz Liebe und Güte war“,483 verfaßte Hermann Nagel: Sie war schlicht und fromm, von unerschöpflicher Herzensgüte und nie ermüdender Lebenskraft. Ihrem Gatten ist sie zeitlebens eine treue Gefährtin gewesen, die mit ihm unerschütterlich den Weg durch Not und Elend ging; ihren Kindern war sie die gütige, verstehende Mutter. [...] Ihre ganze Liebe galt den Kindern, vor allem dem Dichter. [...] So hat sie bis an ihr Lebensende geschafft und gewirkt.484

Theodor Poppe zufolge suchte sie „ihren Kindern und namentlich ihrem Liebling Christian Friedrich die beklemmende Atmosphäre [...] so viel wie möglich zu erhellen“.485 „Sie war der gute Engel in Hebbels Jugend“.486 heißt es noch pathetischer bei Hayo Matthiesen. Den unerreichten Gipfelpunkt der Stilisierung jedoch bildet das Mutter-Kind-Idyll Karl Streckers, der Hebbels autobiographisches Gedicht Aus der Kindheit szenisch ausgestaltete. Der Knabe und seine Katze sind gerade dem Tod durch Ertrinken bzw. Ertränken entronnen: „Mutter“, bittet Friedrich und sitzt aufrecht im Bett: „Nun soll sie auch nicht mehr sterben! Nein?“ Der ganze Sonnenschein der Mutterliebe erhellt das faltige Gesicht. Die noch immer zitternde Hand nimmt die Tasse wieder auf. „Wenn du jetzt deinen Tee trinkst, dann soll sie überhaupt nie sterben.“ Helle Augen lächeln sich an. Mit beiden Händen greift der Knabe nach der dampfenden Tasse...487

Die zeitliche und räumliche Nähe der Eltern-Porträts in Hebbels Tagebuch, ihre offensichtliche Entgegensetzung macht ihre Gegensätzlichkeit erst recht augenfällig. Dabei erscheinen Vater und Mutter nicht nur als charakterologische Gegenbilder, sondern auch als Antagonisten im Verhältnis zu ihrem Sohn. Entsprechend heißt es bei Hermann Nagel: Ihre Gutherzigkeit, ihre Milde und ihr Frohsinn bildeten das Gegengewicht zu ihrem wortkargen, strengen Mann [...]. Wie oft entzog sie sich selbst das Notwendigste, um es ihren Kindern zukommen zu lassen. Wie oft ertrug sie um deretwillen die Gehässigkeiten des Mannes und ließ sich dennoch vom Leben nicht beugen.488

KUH, Biographie, Bd 1, S. 33. NAGEL, Friedrich Hebbels Ahnen, S. 29. 484 Ebd., S. 27f. Motivik und selbst der gerührte Tonfall wirken recht stereotyp, hält man man nur Schillers Beschreibung seiner Mutter von 1790 daneben: „Meine Mutter war eine verständige gute Frau, und ihre Güte, die […] unerschöpflich war, hat ihr überall Liebe erworben. Mit einer stillen Resignation ertrug sie ihr leidenvolles Schicksal und die Sorge um ihre Kinder kümmerte sie mehr als alles Andere“ [zit. nach MÜCK, Friedrich Schiller, S. 41]. 485 POPPE, Lebensbild, S. XIII. 486 MATTHIESEN, Friedrich Hebbel, S. 15. 487 STRECKER, Friedrich Hebbel, S. 41. 488 NAGEL, Friedrich Hebbels Ahnen, S. 27f. 482 483

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Dort der „unleidliche Grämling“, hier die immer gütige, duldsame Gattin; dort der feindliche Vater, hier die beschützende, liebende Mutter – hält die Konstruktion der Eltern als Gegensatz-Paar einer genaueren Überprüfung stand? Die Gender-Forschung hat solche Vorstellungen inzwischen als Mythen durchschaut, die Mentalitätsgeschichte differenziertere Bilder vormoderner Elternrollen entworfen. In der HebbelBiographik ist in dieser Richtung allerdings noch nicht viel unternommen worden. 489 Vor allem am Bild der Mutter wird deutlich, daß die Hebbel-Biographik Stereotypen bedient, die sich weitgehend erst im 19. Jahrhundert zum bürgerlichen Leitbild entwickelt und zu einer normativen „Verfestigung des Weiblichen und des Männlichen zu reinen Charaktermasken“490 geführt haben. Die Frau wurde als das „durch Brutpflege definierte Geschlechtswesen“491 strikt auf die Rolle der Mutter festgelegt, deren Aufgabe es war, angesichts einer „Spaltung von feindlicher Welt und freundlichem Haus“ die Familienmitglieder „mit Frieden und Liebe“ zu bedenken. Von der biologistischen und rollensoziologischen Festlegung war es nur ein Schritt zur Bestimmung von typischen „psychischen Geschlechtseigentümlichkeiten“ der Frau wie „Passivität und Emotionalität“.492 „Im Kontext dieses historischen Prozesses, der die neuen Mütter hervorbrachte, bildete sich auch endgültig jenes Phantasma aus, das sich im Bild der von Natur aus ‚unschuldigen‘ und von allem ‚Bösen‘ (sprich: Triebhaften) gereinigten Mutter verdichtete“.493 Auch das Bild des Vaters war von gelegentlichen positiven Stilisierungsversuchen nicht ausgenommen. So schilderte Hermann Nagel den Vater als „Mann mit einer gewissen geistigen Veranlagung“,494 der zudem „von tiefem religiösen Gefühl durchdrungen“ war. Wilhelm Meyer-Voigtländer forderte 1959: „Sollte man das ‚brutale, finstere, unerfreuliche‘ Bild von Hebbels Vater nicht endlich einmal reinigen und seine wirklichen Farben zum Leuchten bringen?“495 Doch während Nagel vorsichtig vorausgeschickt hatte, „wir wissen leider viel zu wenig von seinem Leben und Werdegang, um ein einigermaßen umfassendes Bild [...] zeichnen zu können“,496 war MeyerVoigtländer von solchen Bedenken kaum angekränkelt. Er selbst brachte Claus Hebbel allerdings in eigenartiger Weise ‚zum Leuchten‘, indem er fragte: „Ist es verwunderlich, wenn ein solcher Mann [...] seine Söhne als Ballast empfindet, als seine ‚Wölfe‘ ansieht, die ihn bei lebendigem Leibe auffressen; denn heranwachsende Söhne haben zu allen Zeiten einen unerhörten Appetit?“497 Doch zugleich ist der Vater bei Meyer-Voigtländer durchaus auch „ein bißchen stolz auf seine Kinder“, handelt „aus zarter Rücksicht“, ja, ist er „im Kern seines Wesens zu weich“.498 Freilich: „Wie soll

Als ersten Ansatz, beschränkt auf die Person des Vaters, vgl. SCHOLZ, Der fremde Vater. KERN/KERN: Madame Doctorin Schlözer, S. 19. 491 Dieses und das folgende Zitat: HAUSEN, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“, S. 377. 492 Ebd., S. 367. 493 NITZSCHKE, Von der Allmacht der Mütter, S. 161. 494 Dieses und das folgende Zitat: NAGEL, Friedrich Hebbels Ahnen., S. 18. 495 MEYER-VOIGTLÄNDER, Der Vater Friedrich Hebbels, S. 137. 496 NAGEL, Friedrich Hebbels Ahnen, S. 16. 497 MEYER-VOIGTLÄNDER, Der Vater Friedrich Hebbels, S. 135. 498 Ebd., S. 139. 489 490

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Vater Hebbel in seinem Jungen das Genie erahnen?“499 In der „Scham“ sah MeyerVoigtländer die zentrale Eigenschaft des Vaters, die „keine Eigenschaft eines wirklich brutalen Vaters [ist], dessen früher Tod für den Sohn ein Glück gewesen sein könnte!“500 Er relativierte schließlich das allgemeine Bild von der ‚düsteren‘ Kindheit: „Hebbels Kindheit war ja nicht immer und ausschließlich und an allen Tagen und zu allen Tagen [sic!] Qual und Pein. Es gab genügend Stunden des Ausgleichs, der kleinen Freuden und des bescheidenen Stolzes“.501 Auch hier durchwärmt ein modernes, emotionalisiertes Vaterideal die Darstellung. Solche Einsprüche gegen das vorherrschende Negativbild von Claus Friedrich Hebbel machen die Lage noch unübersichtlicher. Der auffällige Kontrast der ElternBilder wird auf diese Weise in die Persönlichkeit des Vaters selbst verlegt, deren Inkohärenz nun erst recht ratlos stimmen muß. So konträr die Biographen im einzelnen urteilen, haben sie doch eines gemeinsam: Der Ansatz unreflektierter biographischer Einfühlung spiegelt vor allem den eigenen, modernen Standort. Die Unterschiede in der Bewertung des Vaters ergeben sich erst in zweiter Linie, je nachdem, ob dem eigenen Befremden über ihn stattgegeben, oder aber der Versuch einer modernisierenden Aufhellung unternommen wird. Hebbel selbst hatte dieser Rezeption Vorschub geleistet, wenn nicht vorgearbeitet. Schon bei ihm fand sich der unaufgelöste Widerspruch in der Charakterisierung des Vaters: Hier der haßerfüllte, harte, mißgünstige „Sclav der Ehe“, dort ein „herzensguter, treuer, wohlmeinender Mann“. Doch lassen sich bei ihm noch Spuren eines Retuschierens erkennen, die eine gewisse Unschlüssigkeit erkennen lassen. So verwischt er das Bild durch Formeln wie „eigentlich“ bzw. „wäre ich davon nicht innig überzeugt“, die abschwächend und beteuernd zugleich wirken. Erst in jüngerer Zeit ist diese Widersprüchlichkeit von Hargen Thomsen explizit thematisiert worden: Gerät die Vater-Sohn-Beziehung zu einer derart existentiellen Auseinandersetzung, sollte man meinen, daß der Gegner, d. h. der Vater, in der Rückschau des Sohnes in düsteren Farben gezeichnet wird, daß Haß, Zorn und Empörung in die Erinnerung einfließen und wenigstens in Träumen Mordphantasien ausgelebt werden. Doch nichts davon bei Hebbel! Nirgendwo findet sich bei ihm auch nur eine Äußerung des Unmuts, geschweige denn des Hasses. [...] Äußerungen aus späteren Jahren [...] sind durchaus von untergründiger Sympathie getragen.502

Thomsen sucht die Erklärung für die zwiespältige Haltung in der Psyche Hebbels: Beim Tod des Vaters habe sich der Vierzehnjährige in einer pubertären Entwicklungsphase befunden, in der die „innere Loslösung von den Eltern“ noch nicht erreicht sei. Der Vater blieb dadurch „als identifikatorische Instanz noch unmittelbar präsent“503 und Hebbel „innerlich in einer Haltung stecken, in der er um Liebe und Anerkennung

Ebd., S. 142. Ebd., S. 137f. 501 Ebd., S. 146. 502 THOMSEN, Grenzen des Individuums, S. 150. 503 Ebd., S. 152. 499 500

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des Vaters kämpfte“.504 Damit ent-mündigt Thomsen freilich noch den erwachsenen Friedrich Hebbel. Die These von der stets fortwirkenden, unbewußten Präsenz des Vaters als identifikatorischer Instanz setzt ein wohl doch freudianisch aufgefaßtes, modernes Vater-Sohn-Verhältnis voraus.505 Nüchterne Distanz („auch ich konnte ihn nicht lieben“) muß hingegen hier das vorherrschende Gefühl gewesen sein. Ein Vorbild konnte der einfache Maurer wohl kaum lange abgeben; im Gegenteil, bei der Arbeit auf dem Bau habe der etwa zwölfjährige Sohn „sich mit dem Vater hart entzweit, dann die Baustelle verlassen und der Ausübung dieses Handwerks auf immer den Rücken gekehrt“ [HP I, 9]. All dies zeugt eher von Selbständigkeit und Selbstbewußtsein eines ‚kleinen Erwachsenen‘. Bezeichnend ist darüber hinaus, wie selten die angebliche ‚identifikatorische Instanz‘ überhaupt noch in seiner Erinnerung auftaucht. Nach seinem frühen Tod verfällt der autoritäre Hausvater zwar nicht einer damnatio memoriae, aber Hebbels Interesse an ihm und seiner gerechten Würdigung bleibt doch sehr begrenzt. Dabei bemerkt Thomsen selbst, daß „die Charakterisierung des Vaters schon 1838 seltsam objektiviert“506 wirkt. Und in der Tat billigt Hebbel diesem sogar zu, er habe ihn „von seinem Gesichtspuncte aus mit Recht“ [T 1295] angefeindet. Wenn Hebbel hier ausdrücklich die Perspektive des Vaters in Anschlag bringt, sind gerade die positiven Äußerungen über ihn nicht als unreflektierte ‚Seelenaussprache‘, sondern als sachlich-distanziertes Urteil zu bewerten. Bei ihm selbst dominiert gegenüber dem Vater die ablehnende, bestenfalls indifferente Haltung. Schon hier, nicht erst in der späteren Biographik zeigt sich ein Riß zwischen traditionaler und moderner Anschauung – er geht durch Hebbels eigenes Leben: Anders als seine Biographen ist er daher durchaus in der Lage, sich den historischen „Standpunct“ des Vaters zu vergegenwärtigen – obschon er selbst einen neuen gewonnen haben mag. Die Beziehung zur Mutter wird demgegenüber von Hebbel sowohl intensiv reflektiert als auch positiv bewertet. Bei genauerem Hinsehen ist allerdings auch diese Bewertung nicht ganz eindeutig. Die Mutter, schreibt er, sei eine „gute Frau, deren Gutes und minder Gutes mir in meine eigne Natur versponnen scheint“ [T 1295]: Kaum ausgesprochen, wird die Grundaussage schon relativiert, wenn auch so, daß ‚Schlechtes‘ immer noch als „minder Gutes“ apostrophiert wird. Das Attribut gleicht dem des „herzensguten“ Vaters, nur daß der Mutter von vornherein zugeschrieben wird, was Hebbel dem Vater erst nach einigem Lavieren zugesteht. Auch wenn er bei der emotionalen Einschätzung der Eltern vordergründig ganz unterschiedliche Ebd., S. 151. Vgl. dagegen Muchembled: „Wie ließe sich denn auch eine bruchlose Kontinuität denken zwischen der bürgerlichen Kultur, die ins berühmte Fin-de-siècle-Wien einmündet, und einer Welt der Promiskuität und lebhafter, aber jeweils abgeschotteter und wesentlich außerhalb der Familie gelebter Geselligkeit […]? […] Der Ödipus-Komplex findet hier keinen besonders fruchtbaren Boden. Er scheint im Gegenteil bis zum Ende des Ancien Régime deutlicher mit dem Komfort intimer Milieus, der Spezialisierung der Zimmer, der Geschlechtertrennung in den Kirchen, der durch die Religion geförderten Schuldgefühle und der Verinnerlichung der Leidenschaften verbunden zu sein, wie sie die städtische Welt charakterisieren.“ [MUCHEMBLED, Die Erfindung des modernen Menschen, S. 303]. 506 THOMSEN, Grenzen des Individuums, S. 151. 504 505

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Akzente setzt, ist die sachliche Parallelität, die bis in die jeweilige Relativierung reicht, nicht zu leugnen. ‚Gut‘ sind beide Eltern – ein recht nüchternes Zeugnis, verglichen mit den rührenden Hymnen und harten Abfertigungen der Biographen. Gutsein bezeichnet eine sittlich-moralische Ausrichtung, die Erfüllung allgemeingültiger traditionaler Normen und Tugenden, die, graduell abweichend, auch ‚minder gut‘ sein kann. Die vermeintliche Gegensätzlichkeit der persönlichen oder Geschlechtscharaktere tritt dagegen in den Hintergrund. – Sollten Vater und Mutter, die nach Hebbels Aussage meist „im besten Frieden mit einander“ [W 8, 82f.] lebten, doch näher zusammenrücken, als es Hebbel selbst und eine zunehmend polarisierende Biographik wahrhaben wollten? Noch im späten 19. Jahrhundert war in direkter Anschauung erlebbar, was erst die mentalitätsgeschichtliche Forschung wieder ins Bewußtsein gerückt hat, „daß beim Landvolk [...] Stimme, Gesichtszüge und Benehmen der beiden Geschlechter in dieser niederen Schicht sich sehr ähnlich sind, der charakteristische [!] Unterschied also erst in der Atmosphäre der höheren Bildung sich auch schärfer ausprägt.“507 Die Normen der patriarchalischen Welt – wenngleich sie ex post als ‚männliche‘ decouvrierbar sein mögen – besaßen in der Mentalität der Zeit Gültigkeit als allgemeine gesellschaftliche Normen. Andererseits gab es durchaus ‚kleine Unterschiede‘: Im Rahmen der zugewiesenen „Geschlechterrollen“ bestand für die Frau die Möglichkeit und manchmal auch die Notwendigkeit tendenziell abweichenden Verhaltens, etwa durch Einnehmen einer vermittelnden Position zwischen Vater und Sohn, zwischen überindividueller Norm und individuellem Anspruch. Kaum aber war Antje Margaretha Hebbel, geboren 1787, schon die ideale Familienmutter des 19. Jahrhunderts, ganz Güte, Liebe und Fürsorge, und – die ‚moderne‘ Frau, zu der die Hebbel-Biographen sie stilisieren wollten. Der Versuch, individualpsychologische „Charaktere“ der Eltern zu rekonstruieren, erweist sich schon vom Ansatz her als wenig sinnvoll. Die Zwänge, die sich aus traditionalem Wertekanon, Rollenmustern und sozialen Bedingungen ergaben, ließen individualisierten Verhaltensweisen in der vormodernen Gesellschaft wenig Raum. Die traditionalen Normen, die alltägliche Gewohnheit erscheinen stattdessen als weit stärker prägend. Diese gilt es, unter Zuhilfenahme kultur- und alltagsgeschichtlicher Forschungsergebnisse, eingehend und detailliert in einer „dichten Beschreibung“ zu analysieren. Denn: „Ist eine Wissenschaft induktiv auf das Menschenbild hinter den äußeren Erscheinungen gerichtet, so braucht sie viele Details der Lebenswelt, um den einzelnen als soziale Person [...] zu erkennen“. 508 Auf diese Weise lassen sich Anhaltspunkte für die Mentalität und ihren Wandel gewinnen. Die bei Hebbel anzunehmende Differenzierung zwischen traditionaler Primärsozialisation und sekundär erworbener Modernität ermöglicht zugleich eine kritische Grenzziehung zwischen Deskription und Stilisierung in seinen Äußerungen. Dort, wo Hebbel – etwa im Blick auf die Mutter – scheinbar moderne Züge überliefert, wäre dies also seiner persönlichen, ‚modernisierten‘ Betrachtungsweise zuzuschreiben. Allzulange wurden in der Sekundärliteratur die Kindheitsschilderungen Hebbels unkritisch übernommen und ihre modernisierende Tendenz fort- und festgeschrieben. Es ist Zeit, dieses zementierte 507 508

Zit. nach HAUSEN, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“, S. 382. WEBER-KELLERMANN, Landleben im 19. Jahrhundert, S. 11.

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Bild von Hebbels primärer Sozialisation aufzubrechen – wenn man will: zu ‚dekonstruieren‘ – und zu revidieren.

„Fluch“ der Armut oder „Armutskultur“? Für die irritierende, befremdliche Wesensart des Vaters gibt Hebbel eine einzige Begründung, mit der dessen Charakteristik eingeleitet und beschlossen wird: „die Dürftigkeit, die baare Noth“, kurz „die Armuth hatte die Stelle seiner Seele eingenommen“ [T 1323]. „Noth u Elend“ als „de[n] ärgste[n] Fluch eines menschlichen Daseyns“ [WAB 1, 161] betrachtete er aber auch als sein eigenes Schicksal, seit er als Sechsjähriger „die Schmach des Sturzes mit meinem Vater zu theilen“ hatte [W 8, 113] – als dieser nämlich das eigene Häuschen verlassen und in eine Mietwohnung umziehen mußte. Friedrich Hebbel, der Dichter des Hungers – diese Rezeptionslinie reicht von einer so betitelten Aufsatzreihe des Jahres 1877509 bis zu einem Aufsatz des Jahres 1997, in dem Dirk Dethlefsen die Armut und davon ausgehend „ein weites Spektrum des großen Mangels“510 als Hebbels Wesen prägende Versehrungen herausstellte. Doch auch hier ist der zeitliche wie innere Abstand zu berücksichtigen, mit dem Hebbel und erst recht seine Biographen über die Vergangenheit schrieben. Einleitend zu seinem Buch Armut in der Geschichte erklärt Wolfram Fischer, „warum wir über die Armut oft mehr Falsches als Richtiges wissen: […] Moralische und politische Impulse führen die Feder; die Historie dient nur zur Illustration“.511 Dies ist auch bei Hebbel ins Kalkül zu ziehen. So merkte bereits Ernst Alker kursorisch an: „Ohne in der Kindheit von äußerstem Elend bedrängt gewesen zu sein, hat Hebbel […] in der Rückschau bei aller subjektiven Ehrlichkeit dies nicht für wahr haben wollen.“512 Wolfram Fischer warnt ausdrücklich davor, Zustände ohne Berücksichtigung der vorangehenden Perioden „als ‚neu‘ zu erklären“;513 und schon ein früher Bekannter Hebbels, Christoph Marquard Ed, fühlte sich 1877 genötigt, auf die sozialen Verhältnisse der früheren Zeit hinzuweisen: „Ohne Zweifel war Hebbel, als Sohn eines unbemittelten Maurers, nach unseren heutigen Begriffen sehr schlecht bekleidet; aber ältere Leute wissen, daß dies zu jener Zeit allgemeiner Zustand in Stadt und Land war“.514 Zu vermeiden ist deshalb, wie der Volkskundler Utz Jeggle mahnte, „eine undifferenzierte Elendsschilderung, die ihre Maßstäbe vom Heute her bezieht“.515 Autor der in der Wiener Neuen Freien Presse erschienenen Serie war Alfred Königsberg. Vgl. dazu Bornstein: „H. selbst hätte sich entschieden dafür bedankt, als „Dichter des Hungers“ gefeiert zu werden“ [HP I, 470]. 510 DETHLEFSEN, Versehrungen, S. 81. Vgl. auch Eulenberg, Hebbels Jugend und Dichtung. 511 FISCHER, Armut in der Geschichte, S. 8. 512 ALKER, Die deutsche Literatur im 19. Jahrhundert, S. 560. 513 FISCHER, Armut in der Geschichte, S. 7. 514 HP I, 34. Ed wußte, wovon er sprach: „Lesen und Schreiben hatte […] Ed nie in einer Schule gelernt, 1808 geboren […], wuchs er als Halbwaise […] in Armut auf. Bereits 1820 […], ging er bei der Hamburgischen Rathsbuchdruckerei in die Lehre.” [DAHMS, Bergedorf, S. 159f.]. 515 JEGGLE, Kiebingen, S. 137. 509

„Fluch“ der Armut oder „Armutskultur“?

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„Armut“, schreibt Fischer, war „am Vorabend der Industrialisierung auch in Deutschland so weit verbreitet […], daß man darin eine normale Situation der Bevölkerungsmehrheit sehen muß“.516 Das gilt auch für die Landarmut in SchleswigHolstein: „Das 19. Jahrhundert bis weit in seine zweite Hälfte hinein ist die Zeit des Pauperismus, jener strukturellen Arbeitslosigkeit und Armut, die durch den Druck der wachsenden Bevölkerung auf ein stagnierendes oder nur gering expandierendes Arbeitsplatzangebot zurückzuführen ist“.517 Handwerker wie Hebbels Vater gehörten „zu den potentiell Armen – wie eh und je“,518 und dies betraf die meisten Einwohner Wesselburens, die nicht zur dünnen Oberschicht der großen Bauern, Kaufleute und Honoratioren zählten. Utz Jeggle berichtet aus dem von ihm modellhaft untersuchten schwäbischen Ort Kiebingen für das 19. Jahrhundert: „Keinem einzigen Maurer gelang es, seine sozialen Fesseln abzustreifen“.519 Claus Friedrich Hebbel war schon in kleinen Verhältnissen in Meldorf aufgewachsen und konnte als zugewanderter Mauermann in Wesselburen keine wesentliche Änderung seiner Lebensverhältnisse erwarten. Daß er es als wenig qualifizierter Handwerker kaum je zu Wohlstand bringen würde, mußte ihm klar sein. Mangel aber „wird erst spürbar, wenn dessen Abschaffung zumindest denkbar ist“.520 Auch die relative Armut im Vergleich mit den Bessergestellten war nicht der „Fluch“ Claus Hebbels. Zwar konnten prinzipiell „grundlegende Spannungen […] von der sozialen Ungleichheit im Dorf ausgehen“521, doch vermeldet Hebbel davon nichts. Im Gegenteil: „Das damalige Proletariat. Kein Gedanke, daß die Gleichheit herbei geführt werden könne: kein Neid, nur Staunen, kein Haß. Nur, wenn Unmenschlichkeit sich bei dem Reichen zeigte, bleibende Erinnerung daran“ [W 15, 20]. Ist der Begriff „Proletariat“ auch ein Anachronismus, der gerade Hebbels ‚modernen‘ historischen Standort der 1850er Jahre markiert, so bezeugt die Notiz inhaltlich die traditionale, grundsätzlich indifferente Haltung gegenüber Standesunterschieden in einer noch statischen Gesellschaft.522 „Die ‚natürliche‘ Armut“, schrieb Ingeborg WeberKellermann denn auch über das Landleben im 19. Jahrhundert, „bedeutete im Denken der damaligen Zeit das Eingeordnetsein in die christlich-soziale Stufenleiter“.523 Insgesamt dürfte sich Jeggles Schilderung der Kiebinger Verhältnisse auch auf Wesselburen übertragen lassen: Ungleichheit war in Kiebingen etwas Vorgegebenes und Natürliches; die immerwährende Statik der Besitzverhältnisse hatte diesen einen unwandelbaren Charakter gegeben, sie schienen dem Bereich menschlicher Gestaltbarkeit real entzogen, und sie wurden deshalb als Naturgesetz erlebt. Der Schichtbegriff, soweit er in entwickelten Gesellschaften angewandt

FISCHER, Armut in der Geschichte, S. 55. LORENZEN-SCHMIDT, Auf dem Weg in die moderne Klassengesellschaft, S. 404. 518 FISCHER, Armut in der Geschichte, S. 62. 519 JEGGLE, Kiebingen, S. 245. 520 Ebd., S. 136. 521 SCHLUMBOHM, Kinderstuben, S. 66. 522 Zu Hebbels im Kern gleichfalls anachronistische Haltung zur „sozialen Frage“ der fortgeschrittenen Industriegesellschaft vgl. SCHOLZ, Die soziale Frage. 523 WEBER-KELLERMANN, Landleben im 19. Jahrhundert, S. 331. 516 517

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wird, hat immer auch Elemente von Aufstieg und Dynamik, trägt Partikel der eigenmächtigen Schicksalsbestimmung in sich. Ungleichheit in Kiebingen wurde ohne solche Auswegversprechen erlebt, sie wurde, weil noch nie etwas anderes gedacht worden war und nichts anderes denkbar schien, gar nicht erlebt.524

Gewiß, auch zur damaligen Zeit gab es unterschiedliche Konjunkturen. Während der jahrzehntelangen „Ruhe des Nordens“ bis zum Jahr 1806 erlebte der dänische Gesamtstaat und mit ihm Schleswig-Holstein und insbesondere Dithmarschen eine lange Zeit relativen Wohlstands. Der aus Eiderstedt stammende Philosoph und Mathematiker Johann Nicolaus Tetens berichtete 1788 in seinen Neuesten Reisen in die Marschländer über die Dithmarscher: Wer sie an Sonntägen in der Kirche sieht, dem fallen dort die silbernen Knöpfe auf den Westen, die seidenen Futterhemde bei den Knechten, die seidenen Halstücher und die Spizen an den Hauben bei den Mägden in die Augen. Die groben Leinwandkittel der Bauernknechte auf unserer Geest stehen dabei ab. Solch grobes Tuch, als der Geestbauer zum Hochzeitskleide hat, trägt kaum der Dienstjunge in der Marsch.525

In diese Zeit wurden Hebbels Eltern hineingeboren, Antje Margaretha Schubart im Jahr 1787, Claus Friedrich Hebbel 1790. Doch der volkswirtschaftliche Niedergang begann schon in ihrer Jugendzeit mit den Napoleonischen Kriegen, in die der dänische Gesamtstaat 1807 hineingezogen wurde. Die Belastung der Bevölkerung mit Steuern und Abgaben stieg kontinuierlich, was nicht verhinderte, das 1813 – im Geburtsjahr Friedrich Hebbels – der Staatsbankrott erklärt wurde: Das Silbergeld wurde eingezogen, das ausgegebene Papiergeld wurde rasch entwertet. Auch Sachwerte waren nicht sicher: „Die Belastung des Grundbesitzes mit einer Abgabe in Höhe von 6% des Steuerwertes ließ endgültig den Wert der Güter steil abfallen. Stießen die besser gestellten Landwirte an die Grenzen der ökonomischen Leistungsfähigkeit, so schritt die Verelendung der Kätner und Eigner kleinerer Landstellen in beängstigendem Maße fort“.526 Im Kosakenwinter von 1813/1814 hatte zudem insbesondere Norderdithmarschen unter Einquartierungen und Requirierungen russischer Truppen zu leiden. Nach einer kurzen Erholungsphase gab es nicht nur neue Einquartierungen von August bis Dezember 1819; in diesem Jahr begann auch eine erneute, zehn Jahre anhaltende Agrarkrise. „In den zwanziger Jahren kam es gerade im westlichen Holstein wieder zu einem eklatanten Anstieg der Konkursverfahren, was seinen Grund nicht zuletzt in der kreditwirtschaftlichen Orientierung dieser Region hatte.“527 Brandstiftung und Versicherungsbetrug waren an der Tagesordnung. Schwere Schäden, vor allem in Norderdithmarschen, brachte die Sturmflut im Februar 1825, die insgesamt „9000 Hektar Marschland“528 vernichtete. Hinzu kamen Mäuseplagen, Seuchen wie die „Dithmarscher Krankheit (vermutlich eine Form der Syphilis) JEGGLE, Kiebingen, S. 200. Zit. nach SIEVERS, Volkskultur und Aufklärung, S. 94. 526 ELKAR, Junges Deutschland, S. 30. 527 MÖLLER, „Warm verköpen“, S. 144. 528 OPITZ, Dithmarschen 1773 – 1867, S. 241. 524 525

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und das Marschenfieber“.529 1828, 1829 und 1830 kam es erneut zu Mißernten,530 so daß die gesamte Periode der Kriegs- und Nachkriegsjahre „bis 1831/32 […] nur als Sorgenjahre bezeichnet“ werden können.531 Das Handwerk arbeitete nur für den lokalen Bedarf, so daß sich diesem Wirtschaftszweig „die Agrarkonjunktur stets direkt mitteilte und das wirtschaftliche Auskommen zwischen Landhandwerk und Landwirtschaft parallel lief“.532 Dem tagelöhnernden Flickmaurer Claus Friedrich Hebbel erging es wie vielen anderen: Mit seinen knapper werdenden Einkünften gelang es ihm nicht, seine teils vom Schwiegervater Christian Schubart übernommene Schuldenlast zu tilgen – seine Kate in der damaligen Norderstraße, der heutigen Hebbelstraße (Abbildung 1), verlor er 1821 (Abbildung 2). Der Verlust des eigenen Hauses ist der dramatische Wendepunkt in der Lebensgeschichte Claus Hebbels, so wie der Sohn sie entwirft. Der soziale Abstieg wird als „Weltuntergang“ [W 8, 112] erinnert, der Vater zum Opfer eines anonymen Gläubigers stilisiert. Laut Hebbel habe dieser den Vater „durch allerlei listige Vorspiegelungen in die Bürgschaft hinein geschwatzt“ [W 8, 112], so daß sich dieser „bei seiner Verheirathung […] mit fremden Schulden beladen“ habe. Nur dem Umstand, daß sein Gläubiger „glücklicher Weise die lange Strafe einer Brandstiftung im Zuchthause abzubüßen“ hatte [W 8, 111], verdankte der Vater „die wenigen Jahre ruhigen Besitzes“ [W 8, 112], anderenfalls würde er „ohne Zweifel schon viel früher ausgetrieben worden sein“ [W 8, 111]. An dieser Darstellung stimmt so viel, daß gegen „den angesehenen Kaufmann“533 Johann Friedrich Siemssen wegen Brandstiftung ermittelt wurde, „weswegen er einige Zeit im Gefängnis verbrachte.“ Der eigentliche Sachverhalt stellt sich nach den im Hebbel-Museum und im Landesarchiv SchleswigHolstein vorhandenen Akten, die von den Forschern niemals ausgewertet wurden, anders dar. Wie war es wirklich um das Schubartsche Haus bestellt? Der Wesselburener Amtsschuhmachermeister war mit Schulden belastet, die teils noch aus dem Jahr 1799 herrührten und mit 5 ¼ Prozent jährlich zu verzinsen waren. Bereits er hatte dafür seine sämtliche „Habe und Güter verpfändet und solche dem Subhastationsrecht unterworfen“ [H IV a 6] – also dem Recht des Gläubigers, bei Zahlungsunfähigkeit die Zwangsversteigerung in die Wege zu leiten. Als Claus Friedrich Hebbel mit seiner Frau gegen Ende des Jahres 1811 in das Haus der Schwiegereltern einzog, nahm er es keineswegs gleich in Besitz. Im Gegenteil, erst am 18. Januar 1817, ein Dreivierteljahr vor ihrem Tod schloß die inzwischen verwitwete Anna Margaretha Schubart mit ihm einen förmlichen Ueberlassungs- und Alimentations-Contract [H IV a 8] folgenden Wortlauts:

MÖLLER, „Warm verköpen“, S. 166. Vgl. OPITZ, Dithmarschen 1773 – 1867, S. 240. 531 ELKAR, Junges Deutschland, S. 30. 532 Ebd., S. 27. 533 Dieses und das folgende Zitat: MÖLLER, „Warm verköpen“, S. 145. 529 530

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§. 1. Es tritt ab und überläßt vorgedachte Wittwe […] an ihren Schwiegersohn Friedrich Häppel ihr im Flekken Wesselburen an der Norderstraaße stehendes Wohnhaus nebst Hofstelle und Gartenplatz, wie diese Immobilien und – niet- und nagelfest, wie auch befriediget, an Ort und Stelle, vorhanden; nicht weniger mit sämmtlichen beweglichen Gütern, als: Betten, Schränke, Tische, Stühle, Coffren und sonstigen Mobilien und Hausgeräthe wie auch etwanigen Activforderungen so wie die nach ihrem Tode vorhandenen Kleidungsstükke, kurz ohne Ausnahme, mit allen Freiheiten und Gerechtigkeiten auch Lasten und Beschwerden; dergestalt, daß er solches alles sogleich nach der Unterschrift dieses Kontraktes, als sein Eigenthum, antritt. Wohingegen §. 2. Friedrich Häppel für sich und seine Erben und jeden derselben in solidum sich verpflichtet nicht nur seiner Schwiegereltern sämmtliche sowohl bekannte als auch etwa noch unbekannte Cassir-Schulden als die Seinigen zu übernehmen; sondern auch seine obenbenannte Schwiegermutter so lange sie lebt bey sich im Hause zu behalten, und mit Essen, Trinken, Kleidung, Hege und Pflege sowohl in gesunden als kranken Tagen unentgeldlich zu versorgen und zu veralimentiren; nicht weniger, wenn sie nach Gottes Willen ihre zeitlichen Tage erlebt haben wird, ihre Leiche anständig und christüblich beerdigen zu lassen. [H IV a 8]

So lange wie nur irgend möglich, hatte sich die Schusterswitwe Schubart an den Besitz des Hauses geklammert, in dem die Hebbels fünf Jahre lang nur Gäste waren. Erst als sie dem Tod nahe war – sie starb am 28. Oktober 1817 – sah sich die alte Frau genötigt, ‚abzutreten‘, um damit zugleich ihre „Hege und Pflege“ zu sichern. Mit der Kate übernahm der Schwiegersohn selbstredend auch die darauf lastenden Obligationen – insofern war er keineswegs „mit fremden Schulden beladen“ [W 8, 111], wie der Dichter glauben machen wollte: Claus Friedrich hätte das Haus gar nicht erhalten, wenn nicht die Gläubiger, namentlich Hans Detleffs aus Norddeich und Hans Jacob

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Schubart aus Heide, im Vorfeld ihre Einwilligung dazu gegeben hätten. Letzterer hatte am 5. Dezember 1816 in Heide zu Protokoll gegeben: Ich Endesunterschriebener Hans Jacob Schubart hieselbst bewillige hiedurch: daß die Immobilien, die mir von dem Schuster Christian Schubart wey[land] in Wesselbuhren in einer von demselben am 11ten Aug. 1810. an mich auf 100 f Cour. ausgestellten Obligationen mit verpfändet, und jetzt dem Friderich Häppel in Wesselbuhren verkauft sind, demselben unter der Bedingung zugeschrieben worden, daß zwei meiner Obligationen wieder auf dessen fol. [?] mit derselben Pfandgerechtigkeit protokolliret wurde, die sie bisher auf Christ. Schubart sel. gehabt hat.534

Hausbesitz und Altschulden waren nur die zwei Seiten einer Medaille. Obendrein hatte der Wesselburener Kirchspielvogt Bruhn die Umschreibung des Hauses nur „unter Vorbehalt der Forderungen der Reichsbank, genehmiget“ [H IV a 6] – dahinter verbarg sich die offenkundig noch immer nicht geleistete sechsprozentige Abgabe, die der dänische Staat bereits 1813 auf allen Grundbesitz erhoben hatte. Daß das Haus jederzeit zur Disposition stand, wußte der Maurer von Anfang an; er selbst ließ in den Kontrakt mit seiner Schwiegermutter hineinschreiben: Zur Sicherheit für die übernommenen Verpflichtungen verpfändet Friedrich Häppel sein gesammtes jetziges und zukünftiges Vermögen, insbesondere das an ihn verkaufte Haus cum pertin[entiis]. [H IV a 8]

Wenn der Sohn den Vater als Opfer eines einzigen ruchlosen Gläubigers hinstellte, so bedarf auch dieses der Korrektur. Ein Auszug aus dem Wesselburener Schuld- und Pfandprotokoll vom 14. August 1818 führt neben Hans Detleffs, Hans Jacob Schubart und der königlichen Reichsbank auch Hans Jasper zum Wehren, den Wesselburener Kirchspielschreiber Voss und Hinrich Greve in Norddeich als Gläubiger an.535 Um diese endlich zu befriedigen, nahm Hebbel bei Siemssen ein neues, gewaltiges Darlehen auf:

534 535

H IV a 7. Vgl. auch H IV a 6. Vgl. H IV a 10.

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Das Elternhaus

Anno 1818 den 21 August Friederich Hebbel in Wesselbuhren declarirt vig. obligat. vom 20sten d. M. u. J. an den Eingesessenen Johann Friederich Siemssen in Wesselbuhren schuldig zu seyn ein Darlehn von 373 1/3 Rbthl. oder 700 mf [?] vormahl. Cour. à 5 perct auf halbjährliche Loskündigung sub hypotheca omnium bonorum in specie seines im Flecken Wesselbuhren an der Norderstraße stehenden Wohnhauses nebst Hofstelle cum pert[inentiis]. [LA S-H, Abt. 101, Ksp. Wesselburen, Nr. 100.197]

Die zum Teil jahrzehntealte Schuldenlast einschließlich Zinsen und Zinseszinsen war dem Flickmaurer völlig über den Kopf gewachsen; die Umschuldung konnte den Offenbarungseid vertagen, aber nicht verhindern. Obendrein war Siemssen auch danach keineswegs der einzige Gläubiger. 1820 stand Hebbel noch bei „Johann Ploogs Ehefrau in Norddeich“ [H 4 a 11] und dem „Kaufmann Jacob Hahn in Wesselburen“ [H 4 a 12] in der Kreide. Schließlich drängte der Hauptgläubiger Siemssen, aber auch Hahn, auf Bezahlung, so „daß ich durchaus kein Mittel zu ihrer Befriedigung weiß“, wie Hebbel im November 1820 in einem Schreiben an den Landvogt Griebel eingestehen mußte: „alle angewendete Mühe dieses Capital anderweitig zu regaliiren und zu den Zinsen und Lasten Anstalten zu machen sind vergeblich gewesen“ [H 4 a 12]. Hebbel hatte jeden ‚Kredit‘ verloren, niemand war mehr bereit, ihm noch weiteres Geld zu leihen. So sah er nur noch eine Option, nämlich „meine Creditorn mein Vermögen zu übergeben und unterthänig zu bitten, Ihre Hochwohlgeboren geruhen concessionem bonorum mir rechtsgeneigtest zu bewilligen und alle Execution bis zum Verhör zu suspendiren“ [H IV a 12]. Die sogenannte cessio bonorum ermöglichte einen ‚ehrenhaften‘ Konkurs, indem sie den Bankrotteur vermögenslos, aber schuldenfrei zurückließ. Der Landvogt bewilligte, doch Hebbel wählte – ob etwa „unter listigen Vorspiegelungen“ Siemssens, muß dahingestellt bleiben – einen anderen Weg. In einer Vereinbarung vom 6. Dezember 1820 erklärte der Kaufmann sich bereit, seinem Schuldner nochmals Geld zur Befriedigung der übrigen Gläubiger vorzustrecken. Sollte dies gelingen, würde Hebbel ihm anschließend sein Haus für den Betrag seiner protocollirten Forderung von 700 fl. Cour. verkaufen, wogegen Supplicant dann nicht nur sämmtliche auf diese Forderung rückständige Zinsen und Lasten fallen läßt: sondern auch alle auf dem Hause haftenden rückständigen Onera übernimmt. [H IV a 13]

Tatsächlich wurde am 29. Dezember 1820, „da niemand in termino erschienen ist, […] die dem Citanten verstattete cessio bonorum hiedurch wiederum aufgehoben“ [H IV a 14]. Am 16. Januar 1821 trat Hebbel dann Haus und Hypotheken an Siemssen ab: Da Friedrich Hebbel und Johann Friedrich Siemssen beide in Wesselburen vor mir endesunterschriebenem Kirchspielschreiber erklärt haben: daß sie in Gemäßheit eines in Königl. Landvogtei unterm 6.n Decbr. 1820 geschlossenen Vergleichs, folgenden Handel mit einander getroffen, dergestalt daß gedachter Friedrich Hebbel sein in hiesigem Flecken an der Norderstraße stehendes Wohnhaus nebst Hofstelle und Garten cum pertin: onere et commodo

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an obenbemeldeten Johann Friedrich Siemssen um und für den Betrag seiner protocollirten Forderung von 700 fl. Schreibe Siebenhundert Mark AG [?] Courant, wohlbedungenen Kaufgeldes verkauft und erb- und eigenthümlich überlassen; unter den Bedingungen: daß der Käufer nicht nur sämmtliche auf jene 700 fl rückständigen Zinsen und Lasten fallen läßt, sondern auch alle auf dem Hause lastenden rückständigen Onera übernimmt [LA S-H, Abt. 101 Ksp Wesselburen, Nr. 2969 (Verkaufsprotokoll 1812 – 1827)]

Zwar konnte Hebbel so den unausweichlich scheinenden Bankrott abwenden, doch erhandelte er sich damit nur die Freiheit, weiter Schuldendienst leisten zu dürfen. Eine weitere Klausel des Vertrags mit Siemssen sah vor, daß dieser Hebbel „zur Abhandlung seiner Creditoren 100 fl. vorschießt, die mit 5 p[ro] c[ent] p[er] a[nnum] verzinst in jährlichen Terminen von 10 fl wieder abgetragen werden sollen“ [LA S-H, Abt. 101 Ksp Wesselburen, Nr. 2969 (Verkaufsprotokoll 1812 – 1827)]. Diese Zahlen vermitteln zugleich eine Vorstellung von der Höhe der ursprünglichen Schuldenlast: 10 Gulden Abtrag pro Jahr wollte Hebbel leisten; auf 700 Gulden zuzüglich Zinsen hatte sich die Siemssen vor dem Hausverkauf geschuldete Summe belaufen. In den vier Jahren als Hauseigentümer536 konnte sich der Maurer Hebbel keinen Moment „eines ruhigen Besitzes“ [W 8, 112] erfreuen – er wußte selbst am besten, wieviele „fremde“ Besitztitel darin steckten. So ist Hermann Krumm klar zu widersprechen, wenn er das Haus als „das einzige, was Klaus Friedrich Hebbel wirklich [!] sein Eigentum nennen konnte“,537 bezeichnet. Indirekt deutet dies der Dichter in einer späten Tagebuchnotiz selbst an: „Heute morgen fiel mir ein, wie glücklich mein armer Vater gewesen wäre, wenn er es jemals zu einem so bescheidenen kleinen Besitz gebracht hätte! Es war ihm nicht vergönnt, und doch hat er mehr Tropfen Schweiß vergossen, als das Haus Atome zählt“.538 Der tagelöhnernde Maurer hatte sich einfach von vornherein finanziell übernommen. Vielleicht wähnte er sich noch in der vergangenen ‚goldenen‘ Zeit, da „der Eine lieber ihm borgen [wollte], als der Andere“ und „seine Hypothek […] einen unermeßlichen Werth“ besaß.539 Doch handelte er weder bloß „fahrlässig“,540 noch irgendwann „vorzeiten“,541 sondern betrieb konsequent die Gründung eines eigenen Haus-Standes – unter zusehends schwierigeren wirtschaftlichen Bedingungen und festgelegt durch die familiären Bande. Des eingegangenen Risikos mußte sich Claus Friedrich Hebbel von Anfang an bewußt sein, zumal Zwangsversteigerungen allerorten an der Tagesordnung waren. 35 Marschbauernhöfe standen allein im Kirchspiel Wesselburen unter Zwangsverwaltung,542 die Zahl der zwangsversteigerten Kleinstellen und Katen wird um ein Mehrfaches höher gewesen Da die Überschreibung des Hauses erst 1817 stattfand, irrt Nagel, wenn er schreibt: „Das alles durfte Hebbels Vater fast 8 Jahre lang sein Eigen nennen“ [NAGEL, Friedrich Hebbels Ahnen, S. 17]. 537 KRUMM, Friedrich Hebbels Leben, S. 17. 538 T 5389. Hervorhebungen C. S. 539 Heike Jürgensen, zit. nach MÖLLER, „Warm verköpen“, S. 144. 540 STOLTE, Friedrich Hebbel, S. 6. 541 ZEISS, Hebbels Leben und Werke, S. 11. 542 Vgl. MATTHIESEN, Friedrich Hebbel, S. 17. 536

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Das Elternhaus

sein. Als wirklicher ‚Eigentümer‘ des Hauses hatte er sich definitiv zu keinem Zeitpunkt fühlen können. Ihn traf weder ein individuelles noch ein unvorhersehbares Schicksal. Oder sollte er jeden Überblick über die Höhe seiner Schuldenlast verloren, oder gar nie besessen haben? Dann hätte der Fall auch eine mediale Dimension: Natürlich war es unangenehm, von Gläubigern, denen man im Ort ständig über den Weg lief, bei jeder Gelegenheit an Schulden erinnert zu werden, doch ließen diese sich im mündlichen Verkehr abwimmeln, einwickeln oder vertrösten. Neuerdings war es jedoch die Bürokratie, welche die Übersicht behielt – für, oder eben auch gegen den Bürger, der es mit Schreiben und Rechnen – sei es aufgrund fehlender Kenntnisse – nicht so genau nahm. Im Jahr 1813 war eine königliche Verordnung ergangen, die „die allgemeine Einführung der Schuld- und Pfand-Protokolle“543 allerorten zur Pflicht machte. Diese Bürokratisierung löste bewährte mündliche Formen nicht ab, sondern trat ergänzend hinzu. So wird es Claus Hebbel peinlich berührt haben, daß sein Vertrag mit Siemssen „zu 3.en Malen, von 14 zu 14 Tagen, vor dem hiesigen versammleten Kirchspiele, öffentlich, verlesen“ [LA S-H, Abt. 101 Ksp Wesselburen, Nr. 2969 (Verkaufsprotokoll 1812 – 1827)] wurde, so daß buchstäblich das ganze Kirchspiel über seine finanziellen Verhältnisse unterrichtet war. Die Familie Hebbel und ihre beiden Mietparteien mußten das Haus nicht sofort verlassen. Der Kaufvertrag legte fest, „daß der Verkäufer und die Häuerleute der beiden verhäuerten Stuben noch bis den 1.ten May d. J. unentgedlich in dem Hause wohnen bleiben“ [LA S-H, Abt. 101 Ksp Wesselburen, Nr. 2969 (Verkaufsprotokoll 1812 – 1827)]. Die Hebbel-Forschung war sich bislang nicht einmal darüber im klaren, wann sich diese Ereignisse, die Hebbel zu seinem zentralen Kindheitstrauma stilisierte, abgespielt haben. Nagel, Cölln und noch Matthiesen datieren sie fälschlich auf 1819;544 Matthiessen spricht zudem irrtümlich von einer „Versteigerung“545 des Hauses. Mit dem Vertragsabschluß zwischen Hebbel und Siemssen am 16. Januar und dem Auszug zum 1. Mai 1821 stehen die exakten Daten nun endlich fest. Doch das komplexe Geschehen, das nur im familiären wie allgemeinen wirtschaftlichen Kontext richtig eingeschätzt werden kann, erhält von Hebbel auch eine moralische Dimension. Er personalisiert – allerdings nicht in der Weise, daß er seinen Vater in die Verantwortung nimmt. Für ihn ist der Vater vielmehr Opfer eines „Brandstifters“, eines erzbösen Menschen mit „einem teuflischen Humor“ [W 8, 111]: Dieß war einer der furchtbaren Menschen, die das Böse des Bösen wegen thun und den krummen Weg sogar dann noch vorziehen, wenn der gerade rascher und sich’rer zum Ziele führt; er hatte den lauernd-boshaften Höllenblick, den Niemand aushält, und der in einer noch kindlichen Zeit den Glauben an Hexen und Hexenmeister entzündet haben mag. […] Krugwirt und Krämer seines Zeichens, und für seinen Stand mehr als wohlhabend, hätte er die friedlichste und fröhlichste Existenz führen können, aber er mußte durchaus mit Gott und Welt in Feindschaft stehen [W 8, 111]. FRIEDRICH VI. VON DÄNEMARK, Verordnung betreffend die allgemeine Einführung der Schuld- und Pfand-Protocolle in den Herzoghümern. 544 Vgl. NAGEL, Friedrich Hebbels Ahnen, S. 20, CÖLLN, Zeittafel, S. 121, und MATTHIESEN, Friedrich Hebbel, S. 15. 545 MATTHIESEN, Friedrich Hebbel, S. 15. 543

„Fluch“ der Armut oder „Armutskultur“?

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Einige Biographen übernahmen und prononcierten auch hier willig Hebbels Sichtweise. So sprach Emil Kuh vom „entlassenen Sträfling, der Eltern und Kinder harpyenhaft aus dem Hause treibt“,546 Karl Zeiß vom „verkommene[n] Wirt“547 und Karl Strecker erphantasierte gar „eine große, fremde Gestalt“ mit dem „blassen, aufgedunsenen Gesicht eines bartlosen Fünfzigers“ und stechendem Blick, der „unwillkürlich an einen Schlangenbiß denken“ läßt.548 Rüdiger Möller hat erst vor kurzem auf die Subjektivität von Hebbels eigener Sichtweise hingewiesen: Friedrich Hebbel mag in seiner Jugend den Gläubiger des Vaters auf diese Art erlebt haben, gab er ihm doch auf kindliche Weise die Schuld am Verlust seines Elternhauses. Die häufigen Besuche zur Eintreibung der Schulden mögen das Kind Hebbel so eingeschüchtert haben, daß der erwachsene Hebbel von dieser frühen Einschätzung wohl nicht abweichen mochte.549

Nicht unbedingt kindliche Naivität ist es jedoch, was aus der gezielten Stilisierung des Kaufmanns Johann Friedrich Siemssen zum ‚altbösen Feind‘ Gottes und der Menschen spricht. Mit der altmodisch-religiösen Metaphorik werden eher naiv-traditionale Vorstellungen von teuflisch erlangtem Reichtum einerseits und „moralischer Ökonomie“ andererseits aufgerufen. Nicht selten finden sich in schleswig-holsteinischen Gerichtsakten Zaubereivorwürfe gegen reichgewordene Dorfgenossen: „Der Beschuldigte konnte demnach nicht besser wirtschaften als sein mißgünstiger Nachbar, sondern mußte sein Gut durch Zauberei erlangt haben.“550 Was Hebbel verteufelt, ist zudem eine Handlungsweise, die sich nicht mehr an der „Befriedigung konkreter Lebensbedürfnisse“,551 der „Idee der Nahrung“ ausrichtet, obwohl dies doch „die friedlichste und fröhlichste Existenz“ [W 8, 111] gesichert hätte. Verteufelt wird das rein kaufmännische Handeln zweier Gläubiger – die ihrerseits um Außenstände zu fürchten hatten. Auch der zweite der 1820 nervös gewordenen „Creditorn“, Jacob Hahn, war ja Kaufmann gewesen. Solch gewinnorientiertes Verhalten, das zumindest Siemssen „für seinen Stand [!] mehr als wohlhabend“ [W 8, 111] gemacht haben soll, mußte damals als etwas unerhört Neues empfunden worden sein, das ihn, zumindest in den Augen Dritter, „durchaus mit Gott und Welt in Feindschaft“ setzte [W 8, 111]. Denn aus Bibel und Katechismus hatte jedermann gelernt: „Die da reich werden wollen, die fallen in Versuchung und Stricke und viel törichte und schädliche Lüste, welche versenken die Menschen ins Verderben und Verdammnis.“552 Nach den napoleonischen Kriegen wurden die Menschen zu Zeugen eines Umbruchs, dessen Vorboten auch in Wesselburen geschickte Konjunkturritter waren: „Die symbolische

KUH, Biographie, Bd 1, S. 123. ZEISS, Hebbels Leben und Werke, S. 11. 548 STRECKER, Friedrich Hebbel, S. 30. 549 MÖLLER, „Warm verköpen“, S. 145. 550 SANDER, Aberglauben, S. 67. 551 Dieses und das folgende Zitat: SCHLUMBOHM, ‚Traditionale‘ Kollektivität und ‚moderne‘ Individualität, S. 267. 552 1. Timotheus 6, 9–10. Vgl. auch: „Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?“ [Matthäus 16, 26]. 546 547

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Ordnung des Christentums wurde durch die Entwicklung des Kapitalismus […] überrannt.“553 Diese neue Mentalität muß es gewesen sein, die Claus Hebbel unvorbereitet traf, nachdem er zuvor immer irgendwie mit seinen Schuldnern und Schulden ‚ausgekommen‘ war. Die umfassendste Garantie aber hatte dem ‚Gläubigen‘ das neunte Gebot geliefert: „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus“, dessen nähere Bestimmungen im Kleinen Katechismus sehr genau aufgeführt waren: Was verbietet Gott im neunten Gebot? Daß wir unserm Nächsten nicht mit List nach seinem Erbe oder Hause stehen und mit einem Schein des Rechts an uns bringen. […] Was heißt des Nächsten Haus mit einem Schein des Rechts an uns bringen? Wenn man das Recht vorwendet, das keines ist, oder auch das befugte Recht [!] allzu scharf wider den Nächsten treibt, daß er seine Güter mit Schaden verlassen muß.554

Die Abhängigkeit, aber auch die ‚Geborgenheit‘ im Rahmen dieses moralisch und religiös eingebetteten Beziehungs- und Besitzgeflechts wurde mit den Geschehnissen des Jahres 1820 buchstäblich ad acta gelegt. Jetzt trat ein moderner, privatwirtschaftlich denkender Akteur, ein „Brandstifter“ an der alten Gesellschaftsordnung, auf den Plan – vom Dichter symbolisch überhöht in der Gestalt des Kaufmanns Johann Friedrich Siemssen. Die konkreten Lebensumstände der Familie Hebbel werden sich auch nach dem Hausverkauf nicht sehr geändert haben. Gewiß, man mußte aus den zwei Zimmern der ‚Eigentums‘- in eine Mietwohnung in der Oesterstraße Nr. 3 (Abbildung 3) ziehen, die aus „einem gegen Osten gelegenen Eckzimmer und einer kleinen Küche“555 bestand. Doch auch vorher schon hatte die Mutter – ob als Amme oder als Waschfrau – mit hinzuverdienen müssen; auch danach fand die Familie ihr karges Auskommen. Vielleicht kann man nach der ‚Befreiung‘ von der drückendsten Schuld- und Zinslast sogar von einer gewissen Entspannung der finanziellen Lage ausgehen. Auch jetzt stellte die Armut an sich wohl nicht das eigentliche Übel dar, diese „allgemeine Misère, welche die Frage nach Schuld und Versöhnung so wenig zuläßt, wie der Tod, […] und deshalb eben so wenig, wie dieser, zur Tragödie führt“ [WAB 4, 577]. Die verbreitete Knappheit materieller Güter war nur eines von vielen Merkmalen der traditionalen Existenzweise. Wenn Hebbel später schrieb: „Das ist der Fluch der Armuth, man darf keiner menschlichen Empfindung folgen“ [T 2880], dann traf er in der Tat einen Aspekt der traditionalen, mit der „Armutskultur“ zusammenhängenden Mentalität – doch was er

SUCHSLAND, Julia Kristeva zur Einführung, S. 150. LUTHER, Kleiner Katechismus, S. 79. Zur Verwendung von Luthers Kleinem Katechismus als Schulbuch vgl. Claus Harms: „Auf daß die Gleichförmigkeit erhalten werde, dafür sorgt die Kirche durch die Anordnung allgemeiner Lehrbücher beym Schulunterricht, in den Herzogthümern Schleswig und Holstein sind es der Lutherische kleine Katechismus und ein größerer, betitelt: Kurzer Unterricht im Christenthum“ [HARMS, Dießjähriger Leitfaden, S. 3]. Bei dem zweiten Titel handelt es sich um den zuerst 1785 erschienenen Landeskatechismus von Johann Andreas Cramer (1818: 35. Auflage, 1834: 65. Auflage). 555 NAGEL, Friedrich Hebbels Ahnen, S. 20. 553 554

Standesdenken, Kollektivismus und die ‚Öffentlichkeit des Privaten‘

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beschrieb, war eine praktisch alternativlose psychische Disposition, die als „Fluch“ nicht wahrgenommen worden war. Wenn Hebbel meinte, die Armut hätte beim Vater „die Stelle seiner Seele“ eingenommen, dann setzte er eine Fähigkeit zu einem „beseelten“ Selbstgenuß voraus, die breiten Bevölkerungsschichten, auch den wohlhabenderen, schlicht unbekannt, ja unverständlich war. Der schaurig-behagliche Leitspruch „Leinenlos, ehrlos“, den die Mutter „immer“ [T 5991] auf den Lippen trug, zeigt, wie ebensogut das Leinen im Schrank „die Stelle der Seele“ einnehmen kann, als materialisierte Form der Ehre. Gerade die eigensinnige „Seele“ versuchten die Eltern ihrem Sohn gewaltsam auszutreiben: „Am jungen Goethe wurde in der Jugend schon das Selbstgefühl so gelobt. Ich hatte es auch, wurde aber hart dafür getadelt und oft gezüchtigt, wenn es hervor trat. Das ist der Fluch der Armuth, daß Alles, was Selbstgefühl verräth, sich nicht mit ihr verträgt, sondern als Hochmuth, Anmaßung und Lächerlichkeit erscheint“ [W 15, 16]. Von speziellem Interesse ist in diesem Zusammenhang die Doppeldeutigkeit, in der Hebbel den Begriff des „Selbstgefühls“ beläßt. War es nun eine selbst-bewußte, gleichsam goethesche Innerlichkeit, die dem verträumten Jungen ausgetrieben werden sollte, oder doch mehr sozialer Stolz und ständische Anmaßung? Die unterschwellige Vergeistigung des Begriffs zeigt die Inkommensurabilität des im nachhinein angelegten Maßstabs, der dann ohnehin wieder aufs Materielle abzielte: Der gereifte Dichter, der sich mit dem jungen Goethe verglich und eine „behagliche Existenz“ [T 3430] für sich forderte, um schaffen zu können, mochte die Armut in der Tat als „Fluch“ auffassen. Zu Hebbels Wesselburener Zeit waren solche Ansprüche und Ambitionen allerdings nicht anderes als eine „Lächerlichkeit“.

Standesdenken, Kollektivismus und die ‚Öffentlichkeit des Privaten‘ „Ein wesentlicher Zug der bäuerlichen Wirtschafts- und Lebensweise war in den meisten Teilen Deutschlands noch im 18. Jahrhundert der dörfliche ‚Kollektivismus’“.556 Dieser äußerte sich in „normierten und meist ökonomisch bestimmten Beziehungen“; das Leben gestaltete sich als „feste[s] Netzwerk [...], aus dem auszubrechen für den einzelnen Dorfbewohner fast unmöglich war“.557 Geradezu ein „anthropologisches Grundgesetz“ nannte Ingeborg Weber-Kellermann dabei „das Prinzip der Gegenseitigkeit. Dadurch formen sich Beziehungen von Familie zu Familie, von Gruppe zu Gruppe, deren Fäden sich durch das Dorf spannen und seine Normen und Werte bestimmen“.558 Zugleich galten scharfe Maßnahmen der Sozialkontrolle. Auch die „gegenseitige Aufsicht der Bürger fügte die Gemeinde zu einem Verbund zusammen, der einen in Obhut nahm, aus dem es aber auch kein Entrinnen gab.“559 Solche Erfahrungen machte Hebbel schon im zarten Kindesalter, als er nach dem mißglückten Versuch, unbemerkt die Klippschule zu schwänzen, von der eigenen SCHLUMBOHM, Kinderstuben, S. 65. WEBER-KELLERMANN, Landleben im 19. Jahrhundert, S. 11. 558 Ebd., S. 13. 559 JEGGLE, Kiebingen, S. 63. Vgl. auch ebd., S. 217. 556 557

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Mutter vor ein öffentliches ‚Tribunal‘ regelrecht ‚geschleift‘ wurde: „sie trieb mich heraus und brachte mich, obgleich ich sie flehentlich beschwor, es nicht zu thun, und mich vor ihr auf der Erde wälzte, noch zur Schule, wo ich denn zum Spott und Gelächter meiner Mitschüler und Mitschülerinnen eben um die Zeit, wo sie die Schule verlassen wollten, ankam“ [T 2520]. Öffentlicher Spott war noch eine vergleichsweise milde Form negativer Sanktionierung. Wer aber ernstlich gegen die gemeinsamen Werte verstieß, konnte rigoros aus der Gemeinschaft ausgestoßen werden. Hebbel selbst hat als Kind einen solchen Vorgang miterlebt und in seinen Notizen zur Biographie angedeutet: „Der erste Dieb, Claus Nehlsen: dies Herauslösen aus dem Gemeinde-Verband“ [W 15, 8]. Was dies für Menschen bedeutete, die „nur durch die lokale Gruppe lernen, wie sie ihr Menschsein verwirklichen können“,560 läßt sich denken. Es hieß, „isoliert und entpersönlicht zu werden“561 – ein Alptraum für das vormoderne Individuum. Wenngleich „Geschlossenheit und Aufeinanderangewiesensein nicht Konfliktlosigkeit im Innern erzeugten“, so überwog doch nach Ansicht des Volkskundlers Karl Kramer „der Wille zu positiven sozialen Beziehungen, der sich dann vielfach in symbolischen Interaktionen und kulturellen Objektivationen ausdrückte“.562 Familien-, Kirchen- und Kalenderfeste prägten zusammen mit gruppenspezifischen Bräuchen den Jahresablauf. In Dithmarschen reichte das Spektrum von Ringreiten, Vogel- oder Scheibenschießen über Kinder- und Fensterbiere, Jahrmärkte, Hochzeits- und Neujahrsschießen bis zu Formen des „Umschwierens“ und brauchtümlichen Bittgängen. Solche Veranstaltungen waren weniger Feste um ihrer selbst willen, sondern hatten essentielle Funktionen bei der Regelung und Stabilisierung sozialer Beziehungen unter Einbezug von Aspekten gegenseitiger Fürsorge. Zu diesem Bereich gehörten auch die „Hilfepflicht in Notfällen, Erteilung von Rat […] und, verbunden mit all dem, die Entwicklung von Lebensformen, eines Systems von Normen und Formeln, typisch für das eigene Gemeinwesen“563. Dieser dörfliche Kollektivismus äußerte sich auch in Wesselburen in einer Vielfalt genossenschaftlicher Verpflichtungen. So hatte Claus Friedrich Hebbel entsprechend seiner finanziellen Leistungsfähigkeit zur Entlohnung des Nachtwächters und der Klippschullehrerin in Geld und Naturalien beizutragen, welche noch in brauchtümlicher Form eingefordert wurden; er hatte nachts selbst auf „Schleichwachdienst“ [W 15, 8] zu gehen und sich im Notfall zur Deichverteidigung einteilen zu lassen. Andere Leistungen waren mehr informeller Art. Bedeutsam war in dieser Hinsicht „ein sehr ergiebiger Pflaumenbaum, der nicht nur uns selbst, sondern noch obendrein den halben Ort und wenigstens uns’re ziemlich weitläuftige Gevatterschaft zu versorgen pflegte“ [W 8, 92]. Aus dem unmittelbaren sozialen Umfeld kamen auch die Aufträge für den Maurer Claus Hebbel; die Verhandlungen fanden in Gegenwart der Kinder bei ihm zu Hause statt, „wo wir auch, wenn Jemand kam, der dem Vater eine kleine Arbeit auftrug, uns nicht dankbar genug bezeugen zu können glaubten“ [T 3921]. Diese allgegenwärtige, direkte und durchaus reziproke AbhängigDIAMOND, Kritik der Zivilisation, S. 72. Ebd., S. 59. 562 KRAMER, Volksleben in Holstein, S. 74f. 563 Ebd., S. 76. 560 561

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keit der Ortsgenossen überhöhte Hebbel gleichfalls zum widrigen individuellen Schicksal: „[W]egen meiner so niedrigen Geburt, welche mich zwang, jeden Wurstkrämer, von dem mein Vater im Tagelohn verdiente, als ein höheres Wesen zu respectiren“, sei „jene verfluchte Schüchternheit, die […] meine Jugend verdüsterte, […] in das Innerste meines Wesens, in meinen Character übergegangen“ [WAB 1, 191]. Gegen diese Selbststilisierung sprechen jedoch anderslautende Tatsachen. Häufig stand Vater Hebbel „bei dem Bauunternehmer Elvers […] in Arbeit“564 – was den Sohn keineswegs einschüchterte. Denn aus Friedrichs Jugendzeit wußte Emil Kuh zu berichten: „Am Sonntag Nachmittag fand er sich dann und wann bei […] Paul Elvers ein, dessen Söhne und Töchter ihm gewogen waren. Hier hatte die damalige Jugend Wesselburens ihre Börse aufgeschlagen und die Börsengeschäfte bestanden in Singen, Tanzen und Pfänderspiel“.565 Gerade aus diesem Haus kam gar „seine erste Flamme Wiebke Elvers; das erste Mädchen nämlich, dem er galante Aufmerksamkeit erwies […]. Wiebke war bei allen Gelegenheiten, auf Bällen und in Gesellschaften, seine Dame“. Die nachgeholte Verinnerlichung ging mit einer Verdüsterung Hand in Hand. Sie verschärfte sich noch in der psychologisierenden Analyse der sozialen Verhältnisse, die Hebbel seiner gewesenen Gönnerin Amalie Schoppe im Jahr 1840 vom Studium gab: Ich kannte jetzt die Menschen, ich wußte, daß sie für Erbärmlichkeiten einen unendlichen [!] Dank verlangen und daß sie dem Bedürftigen die Kette, an der er eben schmachtet, nur abnehmen, um ihn an eine andere, die sie selbst in der Hand halten, zu fesseln [WAB 1, 335].

Solchen Subjektivierungen stehen umgekehrt Überhöhungen des Kollektiven im geschichtlichen Rahmen gegenüber, die nicht minder einseitig blieben. Dies setzte bereits ein mit der Dissertation von Emil Rousseau über die Schlachten bei Thermopylä und Hemmingstedt, basirt auf eine Darstellung und Parallele der socialen Zustände (1838), bei der Hebbel dem jüngeren Freund und ‚Schüler‘ mehr oder weniger die Feder geführt hatte und die „nichts enthält, was man nicht auch als Hebbels Gedankengut gelten lassen darf“.566 Die Arbeit zog eine direkte Verbindungslinie von den Verhältnissen der Dithmarscher Bauernrepublik, die bis 1559 Bestand hatte, zur Gegenwart, wonach „der Dithmarsische Staat, auch wenn er bestürmt, auch wenn er unterworfen wurde, doch sein eigenes, selbstständiges Leben fortführen konnte, wie es denn die Geschichte auch erwiesen hat.“567 Der idealisierten Historie werden verklärte Vorstellungen traditionaler Kollektivität entnommen: In Dithmarschen galt der Satz: Alle für Einen und Einer für Alle. Dieser Satz gewann Seele [!] in den Geschlechtsverbindungen und machte sich geltend bis zur Verbindung des ganzen Volkes hinauf, und wie er aus der Nation hervorgegangen war, so lebte und waltete er in ihr fort.568 NAGEL, Friedrich Hebbels Ahnen, S. 17. Dieses und das folgende Zitat: KUH, Biographie, Bd 1, S. 89. 566 STOLTE, Golo Mann, Hebbel und Emil Rousseau, S. 12. 567 ROUSSEAU, Schlachten bei Thermopylä und Hemmingstedt, S. 46. Hervorhebungen C. S. 568 Ebd., S. 45f. 564 565

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Zugleich unterwandert hier eine solidarische, edel fühlende „Seele“ das vormoderne ‚Clandenken‘ der Dithmarscher Bauern – jene „Seele“, die Hebbel beim Vater schmerzlich vermißt hatte. Doch galt auch für den kommunalen „Not- und Zwangsverband“, daß die Gemeinsamkeiten nicht „durch Interessenausgleich und Übereinstimmung […], sondern nur durch gegenseitige Überwachung“569 möglich waren. Wenn die Rousseausche Dissertation die Geschichte idealisierend aktualisierte, so stellten Hebbelforscher des 20. Jahrhunderts in unbekümmerter Naivität noch kühnere Verbindungen von überzeitlichem Geltungsanspruch her. Franz Bielfeldt sah Hebbel „seinem zuchtvollen, allumfassenden nordischen Lebensgefühl gemäß“ im Kampf für „eine dem Einzelmenschen übergeordnete Gemeinschaftsidee“ – „im Gegensatz zu der individualistischen Lebensauffassung des Liberalismus“,570 die einen „Angriff auf die germanischen Lebensideale“571 dargestellt habe. Und noch Wolfgang Wittkowski stellte Hebbels „enge Bindung ans Gesellschaftliche“ in den „Rahmen des diesseitsgerichteten germanischen Empfindens.“572 Die konkrete Lebenswirklichkeit wurde so wechselweise durch „Seele“, „Ideale“ oder rückwärtsgewandte ideologische Konstrukte ersetzt. Die kollektive Verfassung der Gesellschaft bedeutete jedoch keinesfalls eine unbedingte Homogenität; sie konnte im Gegenteil zu einer merkwürdigen Dialektik von Ein- und Ausgeschlossensein und im Einzelfall eben auch zur Abspaltung des Individuums führen. Tief in Hebbels Erinnerung eingebrannt hatte sich „die Schmach des Sturzes“, die er mit seinem Vater „zu theilen“ hatte [W 8, 113], wenngleich dies rein äußerlich nur den Umzug von der eigenen in die kleinere, gemietete Wohnung bedeutete. So wie die „Versorgung der Armen durch die Institution Gemeinde wie durch die moralisch-verpflichtende Gesinnung der Besitzenden […] zum Alltag des Dorfes“ gehörte,573 so bedeutete auch dieser relative soziale Abstieg kein Ausstoßen aus der Gemeinschaft, wenngleich dem Haushalt nun ein regelrechtes Stigma anhaftete: „Zunächst wurden meine Eltern feierlich als ‚Hungerleider‘ eingekleidet“ [W 8, 114], was möglicherweise mit dem ‚unehrlichen‘ Konkurs in Zusammenhang stand. Das dichte ‚soziale Netz‘ persönlicher Beziehungen trug auch jetzt noch: Den mitverpfändeten Hausstand durfte die Familie weiter benutzen,574 sogar ‚Kredit‘ bekam man in späteren Jahren wieder.575 Doch das Angewiesensein auf kollektive Solidarität provozierte natürlich die öffentliche Diskussion; „zwar wurde der Arme geschützt, aber wehe es wurde einer arm, für ihn hatte die ganze Gemeinde zu leiden und sie ließ ihn das wissen“.576 Diese Ambivalenz erfuhr auch Friedrich Hebbel, der erkannte: „es ist characteristisch an den geringen Leuten, daß sie das Sprichwort: Armuth sei keine Schande! zwar erfunden haben, aber keineswegs darnach handeln“ [W 8, 114]. Auch die Statusänderung überhaupt – in einer zumindest dem Bewußtsein nach ‚statischen‘, JEGGLE, Kiebingen, S. 61. BIELFELDT, Hebbels Menschengestaltung, S. 110. 571 Ebd., S. 108. 572 WITTKOWKI, Der junge Hebbel, S. 43. 573 WEBER-KELLERMANN, Landleben im 19. Jahrhundert, S. 334. 574 Vgl. MATTHIESEN, Friedrich Hebbel, S. 15. 575 So im September 1838 nach dem Tod der Mutter, vgl. WAB 1, 234 und WAB 1, 239f. 576 JEGGLE, Kiebingen, S. 63. 569 570

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ständischen Gesellschaft – wurde als sensationell empfunden. Entsprechend schrieb Hebbel rückblickend in emotionaler Aufwallung: An und für sich schaut der Käthner auf den Häuerling herab, wie der Bauer und der reiche Bürger auf ihn, und ebenso wird mit einem gewissen Respect wieder zu ihm hinauf geschaut. […] kann er sich aber auf seiner Höhe nicht behaupten, so geht es ihm, wie jeder Größe, die zu Falle kommt: die Unteren rächen sich dafür an ihm, daß er sie einst überragt hat [W 8, 113].

Allein der Umzug als augenfällige Form sozialer ‚Mobilität‘ war sicherlich ein ungewöhnliches Ereignis – wo doch schon „uns’re Groß-Eltern über ein halbes Jahrhundert“ im alten Haus verbracht hatten, in dem sonst selbst die Möbel „kaum bei’m Weißen des Zimmers von der Stelle gerückt wurden“ [W 8, 112]. Über 40 Jahre danach notierte Hebbel beim Abriß eines alten Hauses in Wien: „Als es gebaut wurde, war ohne Zweifel noch eine Zeit, wo die Familien nicht daran dachten, die einmal bezogene Wohnung vor dem Tode wieder zu verlassen und wo Tische und Schränke von Generation auf Generation übergingen, bis sie in Staub zerfielen“ [T 5814]. – „Wie bezeichnet ein solcher Zug den Unterschied zweier Jahrhunderte!“, setzte er hinzu. Bei dem Versuch, ‚unstandesgemäße‘ Armut zu verbergen und den status quo zumindest nach außen hin zu bewahren, kam es auch im Hause Hebbel mitunter zu grotesk wirkenden Szenen, von denen Hebbel einige notiert hat: „Wie Hans Diener eines Sonntags Morgens so lange blieb und die Mutter, die Nichts zu kochen hatte, immer fingirte, als ob sie kochte, in die Küche ging, pp bis er seine Pfeife anzünden wollte“ [W 15, 22] – und so ihren Täuschungsversuch entdecken mußte. Eine dazu parallele Anekdote erzählt Gundula Hubrich-Messow aus früherer Zeit, als man „den mittelsten Deich auf Büsum“ baute und die Arbeiter das Mittagessen in Körben zur Baustelle gebracht bekamen: „Manche, die gar nichts hatten, ließen sich wenigstens zum Scheine des Mittags die leeren Körbe nachbringen.“577 Die Sorge um das tägliche Brot prägte den Alltag nicht nur im Hause Hebbel. ‚Hunger‘ und ‚Essen‘ nahmen allgemein im Denken der damaligen Zeit einen ungleich größeren Raum ein, als heute vorstellbar ist. Hunger und Sattheit waren nicht einfach individuelle physiologische Tatsachen, sondern in vielerlei Hinsicht mit ‚Öffentlichkeit‘ verbunden. Schon der soziale Status des kleinen Friedrich in der Klippschule wie auch unter den Spielkameraden war vorzüglich vom elterlichen Obstbaumbesitz abhängig, wie Hebbel in den Aufzeichnungen aus meinem Leben anschaulich schilderte [W 8, 90, 92, 113 f.]. Mit dem Verlust des Hauses ging die soziale Stigmatisierung als „Hungerleider“ einher. Und als der Vater mit seinen beiden Söhnen die Großeltern in Meldorf besuchte, begab er sich mit ihnen nach anstrengendem Marsch zuerst in einen Bäckerladen, wo er „eine Masse Brod kaufte, das wir verzehren mußten, indem wir uns weiter schleppten. Als wir uns murrend für satt erklärten, brachte er uns zur Großmutter“ [T 2523]. Das aus früher kindlicher wie aus später autobiographischer Perspektive unverständliche Verhalten des Vaters reproduzierte Hebbel selbst als Freitisch-Gänger in Hamburg: Er „hun577

Die Teuerung. In: HUBRICH-MESSOW, Sagen und Märchen aus Dithmarschen, S. 50.

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gerte lieber, als seine Dürftigkeit zu zeigen“.578 Doch auch wer unter den Wesselburenern besser aß, als ihm zustand, hatte Grund, dies zu verbergen. Davon zeugt die im Hause Hebbel „im Dunkeln genossene Hühnersuppe, damit Niemand das Huhn sehe“ [W 15, 16]. Das Standesdenken betraf nicht weniger die Kleiderordnung. Wer zur arbeitenden Bevölkerung gehörte, hatte auch nach Arbeit auszusehen. Dies führte dazu sogar, „[d]aß mein Vater sich neue Kleider schmutzig machte.“579 Doch im Normalfall war das standesgemäße Erscheinungsbild eher durch Mangel gefährdet, wie Hebbel am eigenen Leibe erfuhr, „[a]ls ich baden sollte und kein Hemd an hatte“ [W 15, 10], oder „[a]ls ich an einem heißen Tage aus dem nämlichen Grunde die Jacke nicht ausziehen wollte“ [W 15, 10]. Alle diese Notizen zur Biographie hat Hebbel nie ausgeführt. Was als anekdotische Schnurre daherkommen könnte, ging vielleicht auch dem arrivierten Dichter noch zu nah, als daß er es zu autobiographischen Genrebildern hätte verarbeiten mögen. Es blieb bei den halb kryptischen Stichworten. Und doch treten in diesen Momentaufnahmen grundlegende Strukturen der traditionalen Mentalität zutage, die im Wesselburen Friedrich Hebbels dominierend waren: ‚Kollektivismus‘ statt Individualismus, weitgehende Sozialkontrolle statt privater Freiräume. Dem Menschen des 20. Jahrhunderts sind diese Kategorien nicht mehr ohne weiteres vertraut; entsprechend weit ‚hergeholt‘ sind oftmals die Deutungen solcher Züge: „Das Gesetz der Ehre ist für den einfachen Handwerker so unbedingt verpflichtend wie für die Helden der germanischen Vorzeit“,580 schrieb etwa Ilse Münch über die Figur des Meister Anton aus Maria Magdalena. Der historische Erklärungswert solch anachronistischer Begrifflichkeiten und weitgreifender Parallelisierungen ist denkbar gering. Um die traditionale Mentalität nachzuvollziehen, muß man ihr im Gegenteil möglichst ‚nahe‘ kommen. Denn auch wenn sich der Ruf einer Familie aus „vielen nur verschwommen sichtbaren Gründen“ zusammensetzte, so lauerten die Anlässe für Statuseinbußen „in den hintersten und dunkelsten Ecken des täglichen Lebens“: Wie wurden die Kinder zur Schule geschickt […]? Ließ der Mann sich etwa lumpen, oder […] gab [er] für alle Burschen im Wirtshaus eine Runde aus? Für Menschen, die sich seit langem kannten, waren solche Dinge von großer Bedeutung. Und die Tyrannei der prüfenden Blicke der Dorfgemeinschaft war so groß, daß das Innenleben einer Familie für die alles überragende Aufgabe mobilisiert wurde, ein Gesicht herzurichten, um den Gesichtern in der umgebenden Gemeinschaft begegnen zu können.581

Nicht anders empfand Friedrich Hebbel, der noch 1840 an Amalie Schoppe schrieb: „[W]er weiß, was es heißt, von seines Gleichen über die Achsel angesehen zu werden, der wird sich lieber das Essen entziehen, als bei öffentlichen Gelegenheiten hinter WERNER, Friedrich Hebbel. Ein Lebensbild, S. 67. Vgl. auch: „Es wird erzählt – und das ist bezeichnend für seine ganze haltungsvolle [!] Natur –, daß er oftmals Hunger leiden mußte; wurde er dann von Freunden zu Tisch geladen, so kam er, versuchte aber keinen Bissen, um nicht seine Dürftigkeit zu zeigen.“ [HP I, 43]. 579 W 15, 12. Dieses Verhalten hatte möglicherweise auch eine abergläubische Bedeutung, vgl. dazu BÄCHTOLD-STÄUBLI, Handwörterbuch, Bd IV, Sp. 1470f. 580 MÜNCH, Die Tragik des germanischen Wesens, S. 360. 581 SHORTER, Die Geburt der modernen Familie, S. 65. 578

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Andern zurück stehen“. [WAB 1, 335] Kein ‚germanisches Empfinden‘ steht hinter Hebbels ‚stolzem‘ Bewußtsein, sondern ein tief eingeprägtes kollektives und standesbewußtes Denken. Doch wird dies nicht einfach dominiert durch „von außen her diktierte Prinzipien“,582 wie Ilse Brugger meinte. Denn das „ängstliche Fragen nach dem Urteil der Leute“ bedeutet nicht, so schon Ilse Münch, „sich wesensfremden Anschauungen knechtisch zu unterwerfen“.583 Meister Anton und Klara in Hebbels Maria Magdalena „empfinden selbst nicht anders als die Menschen, deren Verachtung sie fürchten“. Diese innere Haltung ist eng verbunden mit der lokalen sozialen Lebenswelt, in der sich alternative Denkweisen gar nicht eröffnen. Und dennoch wird hier eine Sollbruchstelle der traditionalen Mentalität sichtbar. Wenn die Abhängigkeit von der Umwelt, die eigenverantwortlichem Handeln kaum Spielraum läßt und die den Menschen zum „Sclav“ nicht nur der Ehe, sondern der Gesellschaft überhaupt macht, letztlich zu auswegloser Selbstzerstörung führt, dann ist auch ein Umschlag, eine neue Perspektive möglich. Die am eigenen Leib erfahrene soziale Stigmatisierung kann zu solidarischer Einfühlung, zu moderner Empathie führen. Dies gilt für das große Drama wie für das kleine Leben. Angesichts der peinlichen EntkleidungsSzenen an den heißen Tagen in der Kindheit konnte Hebbel aus ganzer Seele sagen: „[I]ch […] fühle mich mit jedem Nackenden nackt“ [WAB 1, 151]. Die „Schmach des Sturzes“ zwang die Familie Hebbel einerseits erst recht zu einer krampfhaften Orientierung an den internalisierten Konventionen. Doch der ‚Fall‘ besaß andererseits strukturell desintegrative Momente. Denn „der Nicht-Besitz eines Hauses war sozial signifikant und auffällig“.584 Kein Haus zu haben, „hieß in Abhängigkeit leben, sowohl ökonomisch als auch privat, […] keine Heimat haben“. Der Verlust des ‚ganzen Hauses‘ beschädigte nach außen den alten gesellschaftlichen Status und zerstörte intern die ideelle und materielle Grundlage des ‚Generationenvertrags‘ und Familienzusammenhalts. Für die Söhne, die sich ‚enterbt‘ und entwurzelt sehen mußten, bedeutete dies ex negativo gleichsam den Beginn einer Existenz als ‚Individuum‘, die durch das Gefühl der „Schmach“ eingeprägt wurde. In der notgedrungenen Freisetzung, der Distanz zum einmal erschütterten Regelsystem lag aber auch die Chance zu neuartigem Handeln. Die Bedeutung dieses ersten Einschnitts für Friedrich Hebbel erkannte schon Emil Kuh: Diese offene Verachtung der Niedrigkeit, in der die Seinen lebten, drückte ihn in die Erkenntnis der Not und der Geringschätzung, welche sie einflößt, hinein, und aus solchen inneren Erfahrungen und Beschämungen, deren ihm vermutlich viele beschieden gewesen sein mögen, bildete sich in seinem Gemüt eine Mischung von Schüchternheit und Trübsinn aus, welche sich nur zu bald mit einem trotzigen Lebens- und Selbstgefühl verhängnisvoll paaren sollten.585

BRUGGER, Die „Mensch-Ding“-Problematik bei Hebbel, S. 78. Dieses und das folgende Zitat: MÜNCH, Die Tragik des germanischen Wesens, S. 360. 584 Dieses und das folgende Zitat: JEGGLE, Kiebingen, S. 134. 585 KUH, Biographie, Bd 1, S. 37. 582 583

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Auch Friedrich Sengle betonte die „dramatische Seite dieses sozialen Sturzes“ und folgerte: „Ein unbändiger Aufstiegswille war wohl das Ergebnis dieses Früherlebnisses.“586 Nicht die verbreitete Armut, die Hebbel „mit dem Menschen selbst gesetzt[…]“ [WAB 4, 577] erschien, war ‚dramatisch‘, sondern die plötzliche Isolierung des Individuums. Aus ihr resultierte der schrankenlose „Aufstiegswille“ Friedrich Hebbels ebenso wie das unbegrenzte Gewinnstreben eines Johann Friedrich Siemssen. Mit dem von ihm verteufelten Kaufmann verband Hebbel mehr, als er selber wahrhaben wollte. Beide Beispiele, wie auch das Schicksal des ‚ersten Diebes‘ Claus Nehlsen zeigen, daß das „Herauslösen“ des Individuums noch ungewöhnlich, oft aus schmachvollen Erfahrungen geboren und negativ sanktioniert war. „Daß diese Freisetzung der individuellen Fähigkeiten bei den Unfähigkeiten begann, war sicherlich nicht unwichtig für den weiteren Verlauf der Einschätzung der Anders-handelnden, die von allem Anfang an als Gesetzesbrecher oder Autoritätspersonen erschienen. Der Andersartige, Abweichende konnte nicht mehr mit dem traditionellen Repertoire behandelt und in die Ordnung eingebunden werden.“587 Hier mag man auch einen ersten biographischen Anhaltspunkt für die Entwicklung der ‚dramatischen‘ Phantasie bei Friedrich Hebbel erkennen. Wenn Desintegration zur Individuation führt, wird aus Schicksal Tragik. Vor diesem Hintergrund läßt sich etwa die Figur der Judith als mentalitätsgeschichtliche Übergangsfigur deuten: Während sie im Bewußtsein auszog, eine „heilige Pflicht“ [W 1, 80] für Gott und Volk zu erfüllen und die von Herodes angetane kollektive Schmach zu tilgen, kehrt sie zwar unter öffentlichem Jubel zurück, doch bedeutet dieser in dem Moment nichts mehr, als sie erkennt: „Nichts trieb mich, als der Gedanke an mich selbst“ [W 1, 72]. Die äußere Schmach hat einem inneren Schuldgefühl Platz gemacht. Auch hier geschieht die Entdeckung der „Seele“ unter dem negativen Vorzeichen eines tragischen „Herauslösens aus dem Gemeinde-Verband“. Die archaisierende Dramatik Hebbels beharrt dabei auf einer auch gegen den Willen des Individuums fortwirkenden Bindung ans Gesellschaftliche. Dieses tragische Prinzip, das in Hebbels subjektivem Erleben der Wesselburener Lebensumstände wurzelt, tritt in anderer Form auch in Maria Magdalena auf, wo eine „äußerlich geordnete Welt […] innerlich zur Brutstätte für menschliche Tragödien geworden ist.“588 Hilmar Grundmann analysierte: „Maßlos im tragischen Sinne Hebbels ist hier die damalige gesellschaftliche Ordnung […] Das Ganze ist maßlos, und zwar in der Hinsicht, daß es jeden Anspruch auf ein Minimum an Individualität bereits im Ansatz unmöglich macht. […] Die tragische Isolierung wurzelt nicht nur im Individuellen, sondern ebenso im Sozialen.“589 Grundmann sah hierin „eine ganz wichtige Beschreibung der Hebbelschen Idee vom Tragischen“; ob sie aber „schlagwortartig die Modernität Hebbels deutlich macht“ erscheint fraglich. Wenn in der Romantik das autonome Subjekt emphatisch begrüßt wurde, das schon im realistischen Roman die Züge des gesellschaftlich isolierten Sonderlings annahm, so wirkt gerade die von traditionalen

SENGLE, Biedermeierzeit, S. 338. JEGGLE, Kiebingen, S. 269f. 588 BRUGGER, Die „Mensch-Ding“-Problematik bei Hebbel, S. 79. 589 Dieses und die folgenden Zitate: GRUNDMANN, Hebbels Gesellschaftsbegriff, S. 64. 586 587

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Momenten geprägte Bedeutung des Gesellschaftlichen bei Hebbel im zeitgenössischen literarischen Kontext auffällig durch ihren tendenziellen Anachronismus. Die „verfluchte Schüchternheit“, die „Schmach“, die Scham, die Hebbel so sehr bewegten, weisen auf einen weiteren Aspekt der traditionalen Lebensform hin, der mit dem des Kollektivismus eng verknüpft ist: auf die Durchlässigkeit der Privatsphäre gegenüber der Gesellschaft, auf die – pointiert formuliert – ‚Öffentlichkeit des Privaten‘. „Daß der Mensch der ständischen Gesellschaft ein ‚öffentliches‘ Leben führt, ist im Bewußtsein derselben von jeher verankert gewesen“590 stellte Dieter Borchmeyer mit Blick auf den goethezeitlichen ‚Weltmann‘ fest. Eine Privatsphäre im modernen Sinn entwickelte sich überhaupt erst mit der Etablierung des bürgerlichen Lebensentwurfs seit dem späten 18. Jahrhundert. Privat war nun „alles, was sich außerhalb der ‚Welt‘ vollzieht, namentlich […] die Innerlichkeit der bürgerlichen ‚Familie‘ gegenüber den öffentlich-repräsentativen Beziehungen des adligen ‚Hauses‘.“ Was für die ‚große‘ Welt galt, traf auch auf die kleine Welt Wesselburens zu. „In Wesselburen giebt es keine Geheimnisse, außer zwischen Mann und Frau; deswegen darf ich annehmen, daß Ihnen Alles, was ich Ihnen über meine Reise mittheilen könnte, schon bekannt seyn wird“, [WAB 1, 77] schrieb Hebbel 1836 aus Heidelberg mit ironischem Unterton an den Kirchspielschreiber Klaus Voß. „Das ‚Haus‘ hatte als Institution nicht die der modernen Familie eigentümliche relative Distanz zur Gesellschaft“.591 Die Finten, mit denen die Familie Hebbel eine interessierte Öffentlichkeit über ihre wahren Lebensverhältnisse zu täuschen versuchte, zeigen, wie wenig ihr ‚Haus‘ nach außen abgeschlossen war. Dies galt schon in dem konkreten Sinn, daß „die Haustür in jener Zeit bei armen Leuten in Dithmarschen nicht verschlossen wurde“592 und jedermann Zutritt hatte. Die „Öffentlichkeit des Wohnens“ führte zu einem „unbedenkliche[n] ‚Überschreiten der Grenzen’“, bis hin zu Hausfriedensbrüchen. Die Ambivalenz dieser Praxis liegt auf der Hand. Sie wirkte gemeinschaftsstabilisierend, soweit gegenseitiges Zuschauen in einem brauchtümlich-zeremoniellen Rahmen und mit Abstand und Würde erfolgt. Die Kehrseite, die in einem Verlust des Geborgenseins unter den Umständen böser Nachbarschaft besteht, muß aber auch zur Kenntnis genommen werden. Unsere Beispiele haben gezeigt, wie bedrohlich Haß und Bosheit aus solcher Nähe erwachsen können.593

Auch intern war das ‚Haus‘ nicht ‚familiär‘ organisiert, sondern stellte eher ein verkleinertes Abbild der Gesellschaft dar. In der Kate, der Claus Hebbel als Hausvater vorstand, wohnten zunächst auch noch die Eltern der Mutter (die 1813 und 1817 starben), zeitweise ein angenommener Säugling, ferner das alte Maurerehepaar Ohl sowie eine weitere Tagelöhnerfamilie – die „sogenannten Nachbaren, die uns fast eben so viel galten als die Mutter [!]“ [W 8, 85], wie Hebbel sich erinnerte. Zuweilen verbrachten obendrein zwei Brüder des Nachbarn Ohl, die „meistens im Lande herum Dieses und das folgende Zitat: BORCHMEYER, Höfische Gesellschaft, S. 48. HARDACH-PINKE/HARDACH, Kinderalltag, S. 27. 592 STRECKER, Friedrich Hebbel, S. 30. 593 KRAMER, Volksleben in Holstein, S.151. 590 591

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streiften und Taugenichtse sein mochten, den Winter bei ihm“ [W 8, 87]. Hebbel beschrieb die häuslichen Verhältnisse bis in die Wortwahl exakt in traditionaler Auffassung: Die Miethsleute wechselten nie, und für uns Kinder gehörten sie mit zum Hause, wie Vater und Mutter, von denen sie sich auch, was die liebreiche Beschäftigung mit uns anlangte, kaum oder gar nicht unterschieden.594

Dieses dichte Milieu endete nicht am Gartenzaun: „Noch sieht mir der lustige Tischler über den Zaun, noch der grämliche Pfarrer über die Planke. Noch sehe ich den vierschrötigen, wohlgenährten Milchhändler […] in seiner Thür stehen; noch den Weißgärber mit seinem gallig-gelben Gesicht“ [W 8, 82] – die Augen sämtlicher Anwohner scheinen auf den kleinen Friedrich gerichtet. Der Kommentar Edward Shorters, „zu viele neugierige Gesichter drängten sich in das Intimleben“,595 scheint hier buchstäblich zu gelten. Hebbels Aufzeichnungen zeugen nicht von exklusiver familiärer Intimität, sondern von einer offenen Struktur der Nahbeziehungen. Wenn Richard Maria Werner meinte, kritisch anmerken zu müssen: „Die Kinder schlossen sich sogar den Fremden leichter an als dem Vater“,596 dann zeugt dies von einem Befangensein in ‚modernem‘ Denken, nicht aber von Verständnis für die traditionale Mentalität. Erst im modernen bürgerlichen Kontext wird die „Öffentlichkeit der Daseinsweise der traditionellen Familie […] abgelöst durch die Intimität und Privatheit eines Innenraums mit hoher emotionaler Intensität, aus welchem die Produktionssphäre verbannt ist“.597 Hebbels primäre Sozialisation dagegen spielt sich auf der Bühne des Lebens ab – und das Publikum fehlt nicht.

Die Familie als Produktions- und ‚Erbengemeinschaft‘ Wenn schon die Offenheit von Haus und Familie nach außen Intimität und individualisierte Verhaltensmöglichkeiten ihrer Mitglieder einschränkte, so wirkte die innere Struktur der Familie in die gleiche Richtung. Die traditionale Familie war „weit mehr eine Produktions- und Reproduktionseinheit als eine gefühlsmäßige Einheit“,598 faßte Edward Shorter in seinem Standardwerk über Die Geburt der modernen Familie eine communis opinio der Mentalitätshistoriker zusammen. „In der Tat waren Familie und Haushalt [...] zunächst einmal eine Gemeinschaft der Arbeit“,599 und damit direkter Ausdruck einer ‚moralischen Ökonomie‘, so Jürgen Schlumbohm: „Die Wirtschaft hatte der Erfüllung der Lebensbedürfnisse aller zu dienen; nicht die profitable Ver-

W 8, 80f. Hervorhebung C. S. SHORTER, Die Geburt der modernen Familie, S. 70. 596 WERNER, Friedrich Hebbel. Ein Lebensbild, S. 23. 597 HELD, Soziologie der ehelichen Machtverhältnisse, S. 57. 598 SHORTER, Die Geburt der modernen Familie, S. 17. 599 SCHLUMBOHM, Kinderstuben, S. 69. 594 595

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wertung individuellen Privateigentums [...] sollte oberstes Gesetz sein“.600 Philippe Ariès schrieb: „Die Mission, von der diese alte Familie geprägt war, war die Erhaltung des Besitzes, die gemeinsame Ausübung eines Handwerks, die alltägliche gegenseitige Hilfe.“601 Im Rahmen der allmählichen Ausbreitung der „an bürgerlichen Leitbildern und Lebensformen orientierten ‚Privat-Familie’“602 beschränkten sich diese „Haushalte ohne ‚Familienleben’“ zunehmend auf den Handwerkerstand. In dieser Sachzwang-Kultur der armen Leute stand im Vordergrund der Familienorganisation der beständige Zwang, durch Arbeit das Existenzminimum zu sichern und die Familie vor dem Abgleiten in Not und Armut zu bewahren. Es galt die Arbeits- und Sozialordnung nach Art des „ganzen Hauses“: Mann, Frau und Kinder arbeiteten nach ihren Kräften und Fähigkeiten im Betrieb und in der Hauswirtschaft, in der Landwirtschaft und im Garten mit.

Jede Beziehung, schrieb Utz Jeggle in schonungsloser Offenheit, „mußte als Basis einen geschäftlichen Charakter haben“. Ein solches Geschäft läßt sich auch als Basis für die Gründung des gemeinsamen Haus- und Ehestands der Eltern Hebbels erschließen. Während Claus Hebbel besitzlos und an verschiedenen Orten ansässig gewesen war, gehörte seinem Schwiegervater in spe, dem Amtsschuhmachermeister Christian Schubart ein kleines Anwesen. Drei von dessen sechs Kindern waren früh gestorben; im Juni 1811 starb als viertes Kind die Tochter Catharina Margaretha, am 26.11.1811 folgte ihr der 21jährige Bruder Christian Conrad. Es ist anzunehmen, daß dieser einzige bis dahin verbliebene Sohn, der nach dem Vater benannt und „wegen seiner Gaben allgemein angestaunt[…]“ [W 8, 106] worden war, das Haus einmal erben sollte. Erst mit dessen Tod war offenbar unversehens die Stunde für Claus Hebbel gekommen, der mit seiner Braut bis dato schon „mehrere Jahre“603 in Wöhrden ansässig gewesen war. Keine zwei Wochen nach dem Ableben von Christian, nämlich am 8.12.1811, fand die Hebbel-Schubartsche Hochzeit am ‚Familiensitz‘ in Wesselburen statt, obwohl das Paar „eigentlich in Wöhrden […] kopuliert werden“ sollte. Das Geschäft war perfekt: Claus Friedrich Hebbel übernahm die Anwartschaft auf Haus und Hypotheken, die Schwiegereltern wußten sich auf ihre alten Tage versorgt. Daß der Ueberlassungs- und Alimentations-Contract, den die Parteien im Januar 1817 schlossen, die einzelnen Verpflichtungen genau aufführte, angefangen damit, die „obenbenannte Schwiegermutter so lange sie lebt bey sich im Hause zu behalten“, bis dahin, sie nachher „anständig“ zu begraben, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Grundlagen der Beziehungen. Der erste Sohn des jungen Paares erhielt den Rufnamen Christian nach dem verstorbenen Onkel und dem Großvater mütterlicherseits. Mit dieser Namenreihe kam eine Kontinuität zum Ausdruck, die sich an der gedachten Besitzerfolge orientierte, und nicht an der genealogischen Linie vom Vater her – lediglich der zweite Name Ebd., S. 73. ARIÈS, Geschichte der Kindheit, S. 47. 602 Dieses und die folgenden Zitate: JEISMANN/LUNDGREEN, Handbuch der Bildungsgeschichte, S. 59. 603 Dieses und das folgende Zitat: Wesselburener Kirchenbuch, zit. nach BARTELS, Kinderland, S. 423. 600 601

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Das Elternhaus

„Friedrich“ entsprach dem Zweitnamen des Vaters. Die subtile Zurücksetzung dokumentierte die soziale Differenz zwischen den Eheleuten: Antje Schubart war die Tochter eines am Ort angesessenen Hausbesitzers – Claus Friedrich Hebbel kam mit leeren Händen nach Wesselburen. Aber sollte nicht ein Maurer das Geschick mitbringen, ein ‚ganzes Haus‘ zu erhalten? Der Wechsel auf die Zukunft verband zwei ungleiche Partner und barg dadurch ein erhebliches Konfliktpotential. Mit der Gründung des gemeinsamen ‚Haushalts‘ nahm jeder auch eine Hypothek auf den Andern auf; finanzieller und menschlicher Offenbarungseid lagen dicht beieinander. Auch in der nächsten Generation brachten eher handfeste Vorteile die Brüder dazu, eine Ehefrau zu nehmen. Über Johann Hebbels Damen-Wahl heißt es: „[E]in Tischler habe ihm zur Zeit des Kriegs vorgeschlagen, sich mit ihr zu verbinden, und da er dadurch als Militairpflichtiger gleich um fünf Jahre älter und des Dienstes quitt und ledig geworden sey, habe er geantwortet: meinetwegen!“ [WAB 4, 260] Weitere ‚persönliche‘ Gründe lassen sich hier sogar explizit ausschließen, denn von Johann stammte zugleich „die Versicherung, er habe die Frau vor der Verheirathung nie mit Augen gesehen“.604 Trotzdem war auch dies eine „gute“ Ehe; „übrigens sey er auch ganz gut mit ihr zufrieden“ [WAB 4, 260], ließ der glücklich den Soldaten Entronnene verlauten. Auch wenn Hebbel in seinen Äußerungen über diese Allianz den Akzent auf „das Komische“ [WAB 4, 260] legte, so war die traditionale Vorstellung von der geschäftlichen Basis der intimen Beziehungen auch bei ihm noch wirksam. Er hatte bereits das zweite Kind mit Elise Lensing, als er ihr erklärte, „eine Ehe, die kein reelles Fundament in einem Vermögen hat, das die Existenz sichert“, sei „ein Sprung in den Abgrund“ [WAB 1, 672f.]. Die Hochzeit mit Christine Enghaus kam – bei aller Liebe – nur zustande, weil sie als pensionsberechtigte Burgschauspielerin auch ihm eine gesicherte Existenz bot, wie Hebbel in diskreter Form, aber „unumwunden“ [T 3874] eingestand: „Ich verlobte mich mit Fräulein Enghaus; ich that es sicher aus Liebe, aber ich hätte dieser Liebe Herr zu werden gesucht und meine Reise fortgesetzt, wenn nicht der Druck des Lebens so schwer über mir geworden wäre, daß ich in der Neigung, die dieß edle Mädchen mir zuwendete, meine einzige Rettung sehen mußte“ [T 3874]. Wo hingegen keine Besitztitel zu verteilen waren, spielten auch die mit der Ehe verbundenen Rechtstitel kaum eine Rolle.605 Für Wesselburen belegt dies eindrucksvoll die laute Klage des Pastors Meyn aus dem Jahr 1837, „daß die wilden Ehen immer allgemeiner werden, und manche Personen, wie Jedermann weiß, als Mann und Frau miteinander leben, ohne copulirt zu seyn. Manche lassen sich wohl noch verloben, ohne durch nachfolgende Copulation das Ehebündniß sakramentiren zu lassen“.606 „Jedermann” wußte es – doch niemanden außer dem Pastor schien es zu kümmern. Selbst Elise Lensing drängte Hebbel erst gegen Ende ihrer zehn Jahre währenden

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WAB 4, 260. Die Hochzeit mit Antje, geb. Holling, verwitwete Staack, fand am 11. November 1848 statt. Zu Johann vgl. HOLM, Johann Hebbel. Ein Leben im Schatten des Bruders. Dies ist in Entwicklungs- und Schwellenländern oft heute noch so, vgl. GOODY, Die Logik der Schrift, S. 257f. MEYN, Bericht zur Generalkirchenvisitation an Generalsuperintendent Herzbruch v. 15.8.1837. LA S-H, Abt. 19, Nr. 111/1.

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Beziehung auf eine Heirat, als zu erwarten stand, daß der nach Deutschland heimkehrende Reisestipendiat nun endlich zur Existenzgründung schreiten würde. Relikte dieses Gedankenguts finden sich auch in Hebbels literarischem Werk, wo sie mit moderneren Entwürfen kollidieren. Die schauerromantische Erzählung Die Räuberbraut (1833) besitzt jenseits der offensichtlichen Tragik unglücklicher Leidenschaften einen ganz unpsychologischen, undramatischen ‚Subtext‘. Eigentlich wäre alles ganz einfach: Der Förstersohn Gustav ist mit Emilie im Wald aufgewachsen, „da starb Gustavs Vater, und ihm wurde dessen Amt zu Theil. Nun endlich glaubte er, den Zustand seines Herzens entdecken zu dürfen“ [W 8, 21]. Nach traditionalem Verständnis durfte er kaum abgewiesen werden; doch die Entdeckung – bzw. das Ausbleiben – der romantischen Liebe macht das Ehevorhaben zunichte: „[V]erlangt keine Liebe!“ ruft Emilie dem sie begehrenden Jüngling zu und verliebt sich ihrerseits in die „vollendete Mannsschönheit“ [W 8, 17] eines Degenhelden. Nach Hause bringt sie „keine Erdbeeren, aber einen Himmel mit“ [W 8, 20]. Dabei hätten sie ökonomisch so gut zusammengepaßt – der Jäger und die Sammlerin. Die Erzählung läßt keinen Zweifel daran, daß das folgende tragische Geschehen einer ‚verkehrten Welt‘ angehört, die nur auf den ersten Blick räuber-‚romantisch‘ wirkt. Der rachedürstige Gustav muß „wie in den Bauch des Felsen [sic!]“ in „eine große unterirdische Grotte“ hineintauchen, um in die „Wohnung der Kinder der Nacht und der Verworfenheit“ zu gelangen [W 8, 23]. Die Verliebten als „Kinder der Nacht“ teilen diese Etikettierung mit Mordgesindel, ihr Liebesnest ist eine Lasterhöhle. – Nach einer sündigen Hochzeit und drei Todesfällen steht fest, was man schon vorher wissen konnte: In der ständischen Gesellschaft müssen sich die Verliebten selbst dort „verlieren, […] wo ein günstiger Zufall die ungeheure Kluft ausgefüllt zu haben scheint, welche zwischen uns befestigt war“ [W 8, 19]. Für Arno Scheunert offenbaren sich die Figuren am Schluß „in ihrer individuellen Verranntheit“.607 Aus traditionaler Perspektive müßte man sagen: in einer Verranntheit in die Individualität. Unter dem allwaltenden Primat der Ökonomie war Liebe durchaus keine notwendige, sexuelle Praxis keine hinreichende Bedingung der Ehe, selbst wenn – wie das Beispiel Hebbels zeigt – Kinder daraus hervorgingen. In seinem Aufsatz über Friedrich Hebbel und die Sexualität hat Alexander Klähr geschildert, wie „unproblematisch“608 eine von weiteren Implikationen freie Sexualität im primären kulturellen Umfeld Hebbels gehandhabt wurde – während er dann in seiner Dramatik einer von jungdeutschen Literaten propagierten „Emancipation des Fleisches“ eine Absage erteilte: So scheitert Judith mit dem Versuch der Instrumentalisierung der Sexualität am Erwachen ihrer eigenen „Seele“. Diese schwer erkämpfte ‚bürgerliche‘ Errungenschaft wollte Hebbel nicht mehr zur Disposition stellen. In Wesselburen hatte er sich hingegen noch „mit verlorenen [!] Geschöpfen hin und wieder abgegeben“609 – offenbar ohne sich selbst zu ‚verlieren‘. Hebbel stand auch hier am Scheidepunkt zweier grundverschiedener Mentalitäten.

SCHEUNERT, Der Pantragismus, S. 313. KLÄHR, Friedrich Hebbel und die Sexualität, S. 334. 609 KUH, Biographie, Bd 1, S. 153. 607 608

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Die Konsequenzen geschlechtlicher Betätigung außerhalb der Ehe waren zuvörderst nur biologischer Natur. Eine „vor- oder außereheliche Geburt“610 war zumindest bei den einfachen Leuten „selten ein Problem“; jedenfalls gab es „keinerlei Grund zu moralischer Entrüstung oder unüberlegten Handlungen“. Manchmal war eine Schwangerschaft als eine „Art der Eheanbahnung sogar kalkuliert“ (in dieses Umfeld gehört das Beispiel Klaras in Maria Magdalena); manchmal diente sie dazu, die Fruchtbarkeit der Partner zu prüfen. Schließlich war die Ehe nicht nur eine Produktions-, sondern auch eine Reproduktionsgemeinschaft. Insofern ist die in einem Nürnberger Fastnachtsspiel vorgeführte dörperliche Welt, die einem stadtbürgerlichen Publikum als Gegenbild vorgehalten wurde, so ‚verkehrt‘ doch wieder nicht. Darin wird der Wert der Braut von einem Bauern, der zur Partei des Bräutigams gehört, in Frage gestellt; die Braut ist nicht nur schwanger, sie hat ein uneheliches Kind. Genau besehen ist das keine Infrage-Stellung ihres Werts, wie ihn schon der Brautvater entworfen hat, im Gegenteil, es bestätigt dessen Rede. Folglich leugnet dieser das schon vorhandene Kind auch nicht ab, er verweist den vorlauten Moralapostel aus der Gegenpartei vielmehr darauf, daß dieser nach den gleichen Wertmaßstäben lebt, schließlich hat dessen Frau sogar drei von anderen Männern gezeugte Kinder.611

Daß diese buchstäblich ‚altfränkischen‘ Familienverhältnisse gar nicht allzu weit ‚hergeholt‘ sind, beweisen Tatsachen aus Hebbels engstem Familienkreis, die zum Teil bis heute der Hebbel-Biographik unbekannt sind.612 So hatte die ältere Schwester von Antje Hebbel, Catharina Margaretha sogar vier uneheliche Kinder, zuletzt brachte sie am 14. Juni 1811 zur Welt: Elsabe Catharine Puls aus dem neuen Armenhause Ein außer der Ehe erzeugtes Kind der zum viertenmale geschwächten Cathrina Margaretha Schubert […], welche zum Vater desselben ausgesetzet einen Soldaten von der Jägerkompanie des vierten Batailons vom Oldenburger Regiment Namens Hans Puls [Wesselburener Tauf-Protokoll 1803 – 1822 Nr. 60 1811]

Selbst über Hebbel munkelten die Wesselburener Zeitgenossen, er sei ein außereheliches Kind seiner Mutter mit dem Wesselburener Pastor Friedrich Carl Adolph Volckmar613 (1766 – 1814). Dieses Gerücht versuchte Albrecht Janssen in seinem 1919 erschienenen Buch Die Frauen rings um Friedrich Hebbel wissenschaftlich zu erhärten. Unter anderem stellte er fest, daß beim Traueintrag im Wesselburener Kirchenbuch vor dem Namen der Mutter Antje Margaretha „der sonst stets übliche Titel ‚Jungfrau‘ weggelassen“614 wurde, während ihr Bräutigam Claus Friedrich richtig als „Junggeselle“ firmierte. Janssen ermittelte ferner: „In Wesselburen sind beide Titel Dieses und die folgenden Zitate: BEUTELSPACHER, Kultivierung bei lebendigem Leib, S. 55. RAGOTZKY, Der Bauer in der Narrenrolle, S. 82. 612 Die nachstehenden Ausführungen folgen zum Großteil meinem Aufsatz „Darüber kann kein Mann weg“? Zwei unbekannt gebliebene Halbbrüder Friedrich Hebbels. 613 Vgl. JANSSEN, Die Frauen rings um Friedrich Hebbel, S. 9ff. 614 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 15. 610 611

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noch bis 1875 gebräuchlich gewesen, und es ist mir ausdrücklich von authentischer Seite versichert worden, daß jede Fortlassung ein begründetes Manko in sittlicher Beziehung bedeute.“ Diese These Janssens rief in der Hebbelforschung sofort heftigen Widerspruch hervor. Bereits 1921 hatte Adolf Bartels in seinem mit Akribie und rabulistischem Eifer verfaßten Aufsatz über Hebbels Herkunft zahlreiche Gegengründe versammelt. Zur Entkräftung von Janssens zentralem Argument bezweifelte er jedoch lediglich die „Exaktheit“615 der Kirchenbücher und behalf sich im übrigen mit einem Bekenntnis: „Ich glaube aber nicht an den schlechten Ruf der Antje Margarethe Schubart“.616 Denn dann „wäre sie ein großes Luder gewesen“ und hätte „die Liebe ihres ältesten Sohnes wie die Achtung ihrer Mitbürger gründlich verscherzt“.617 In moralischer Empörung über den scheinbar ungeheuren Verdacht erging sich zwei Jahre später Hermann Nagel in seinem Buch über Hebbels Ahnen, das Neues über Hebbels Herkunft und die Volckmarhypothese beisteuern wollte: „Ich meine, eine Gattin und Mutter, die so ganz Liebe und Güte war, dürfte man gar nicht des Ehebruchs schuldig machen [sic!]. Was hätte sie denn dazu auch getrieben? […] Die Fortlassung des Titels ‚Jungfer‘ vor ihrem Namen, ein Hauptstützpunkt Janssens, besagt überhaupt nichts, denn dieses Fehlen habe ich bei der Durchsicht der Kopulationsregister, die ich daraufhin vornahm, auf Schritt und Tritt gefunden.“618 Dieser Fund besagt indes mehr, als Nagel sich vorstellen konnte – uneheliche Schwangerschaften waren zu damaliger Zeit an der Tagesordnung. Nach dieser Kontroverse ließ die HebbelForschung das Thema ruhen – bis heute619. Dabei bringt das Wesselburener TaufProtokoll 1803 – 1822 Klarheit in die delikate familiengeschichtliche Angelegenheit. Unter „Nr. 48“ des Jahres 1809 findet sich mit dem Geburtsdatum des 17. April 1809: Clas Johann Böh aus Wesselburen Ein außer der Ehe erzeugtes Kind der Anna Margaretha Schubart Tochter des hiesigen Schuster A. M. [= Amtsmeister] Christian Schubart, die zum Vater ausgesetzt hat einen Arbeitsmann aus Wöhrden, Nament Clas Böh. [Wesselburener Tauf-Protokoll 1803 – 1822 Nr. 48 1809]

Nicht der Wesselburener Pastor nahm Antje Schubart den Jungfrauen-Titel, sondern ein Arbeiter aus dem Nachbarort. Die Tatsache, daß sie sich die Achtung ihrer Mitbürger eben nicht „gründlich verscherzt“ hatte – bei allem „Wesselburner Klatsch“,620 den es um sie gab – zeigt, wie eng trotz aller rigiden Verbote die ‚verkehrte Welt‘ noch mit der ‚richtigen‘ verschwistert war. Für die moderne Biographik des 20. Jahrhunderts waren diese Verhältnisse schlicht nicht mehr vorstellbar. BARTELS, Hebbels Herkunft, S. 64. Ebd., S. 62. 617 Ebd., S. 65. 618 NAGEL, Friedrich Hebbels Ahnen, S. 29. 619 Nur kurz ging Ida Koller-Andorf jüngst auf die zeitgenössische „Gerüchteküche“ ein, der sie erstaunliche Wirkungen zuschrieb: „Daraus erklärt sich die besonders strenge Behandlung durch den Vater“, „Hebbels spätere Abrechnung mit seinem Prinzipal“ sowie seine „Abneigung gegen die ‚Dorfgeschichten’“ [KOLLER-ANDORF, Hebbel ist anders, S. 17]. 620 BARTELS, Hebbels Herkunft, S. 68. 615 616

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Die Vermutung, daß solche sexuellen Fehltritte nicht nur vor, sondern oftmals auch neben der Ehe geschahen, bestätigt wiederum ein ‚naheliegendes‘ Beispiel – das von Hebbels Vater. So meldet das Tauf-Protokoll unter dem 3. Mai 1817 einen: Hans Friedrich Hebbel aus dem Pflegehause unehelicher Sohn der Trina Magdalena Sauer aus Schülp, […] und des zum Vater ausgesetzten Einwohners und Maurers Friedrich Hebbel. [Wesselburener Tauf-Protokoll 1803 – 1822 N. 51 1817]

Seinen fast gleichnamigen jüngeren Halbbruder hat Hebbel an keiner Stelle erwähnt; auch in der Sekundärliteratur ist er nicht bekannt. Dabei wirft seine Existenz ein grell erhellendes Licht auf die häuslichen Verhältnisse der Hebbels: Weder der voreheliche Sohn der Mutter, noch der außereheliche Sohn des Vaters konnten einen Platz im ‚Schoß der Familie‘ finden. Wenn bereits mit Friedrich Hebbels jüngerem Bruder Johann die wirtschaftliche „Not im Hause“ wuchs,621 so wurde der kleine Hans Friedrich Hebbel schon als Säugling ins örtliche Pflegehaus gegeben. Dies geschah bereits volle zwei Jahre vor dem Notverkauf des Hebbelschen Hauses in der damaligen Norderstraße. Der materielle Verlust galt schon Hebbel als ‚Familientragödie‘; die vorangegangene menschliche ‚Tragödie‘ wurde dagegen gar nicht als solche wahrgenommen. Die ‚unsägliche‘ Existenz des Sohnes und Bruders zeigt, das seine Ausschließung aus dem ‚Gedächtnis‘ mit einer tabuartigen Konsequenz erfolgt sein muß. Wie es diesen abgeschobenen Kindern in dem 1805 als „Kranken-, Arbeits-, und Erziehungs-Haus“622 errichteten Institut erging, läßt sich lediglich aus einer knappen Schilderung des Pastors Volckmar von 1813 erahnen: „Besonders traurig ist das Schiksal einer Menge Kinder die in dem neuen Armenhause durch die Armenkasse verpflegt werden. An Leib und Seele verwahrlost bringen sie dort ihr elendes Leben zu, und wenn sie auch schon mit nicht ganz ungesundem Körper dies Haus verlassen könnten, so will doch nur selten jemand ihre Dienste“.623 Wie der letzte Satz andeutet, stand der Kirchenmann mit seiner mitleidigen Haltung unter den Wesselburenern weitgehend allein da. Daß Akzeptanz und Ablehnung häufig unvermittelt nebeneinander stehen, daß gerade die Abschiebung des Kindes die soziale Integrität der Eltern befördert, ist die Folge einer Beziehungsstruktur zwischen den Partnern untereinander und zu ihren Kindern, die auf kühlem wirtschaftlichem und rechtlichem Kalkül basiert. An Patchwork-Familien mußte dies besonders hervortreten: „Kinder, die nicht eigene waren, die also außerhalb dieses Pflichtzusammenhangs [des ‚ganzen Hauses‘] standen, hatten auch kein Recht auf Zuwendung und Pflege, denn sie würden auch die Stiefeltern im Alter – weil dazu nicht verpflichtet – nicht pflegen. Darüber hinaus waren die Kinder aus der anderen Ehe die Feinde und Konkurrenten der eigenen, sie nahmen ihnen etwas weg“.624 Der „Sclav der Ehe“ Claus Hebbel ließ sich nicht auch noch als Sklave NAGEL, Friedrich Hebbels Ahnen, S. 20. SCHRÖDER, Topographie des Herzogthums Holstein, S. 457. 623 VOLCKMAR, [Bericht v. 27.6.1813] Zum GK. Visit. Protocoll von Norderdithmarschen 1813. Anlage Eb). LA S-H, Abt. 19, Nr. 75. 624 JEGGLE, Kiebingen, S. 223. 621 622

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seiner außerehelichen Sexualität „mit eisernen Fesseln“ an eine noch größere „Dürftigkeit“ ketten. Vielleicht war er nicht einmal unglücklich, als Hans Friedrich am 24. Februar 1819 im Alter von „1 ¾ Jahr“ [Totenregister des Kirchspiels Wesselburen] wieder verstarb – das von Volckmar beklagte traurige Schicksal der Pflegehaus-Insassen hatte sich an diesem ‚Pflege‘-Kind nur allzu früh erfüllt. Der andere Halbbruder, Clas Johann, war bereits nach einer Lebensspanne von vier Wochen wieder verstorben.625 Angesichts der hohen Kindersterblichkeit schrieb Susanne Dettlaffs nüchtern: „Unter dem wirtschaftlichen Aspekt betrachtet, stellten uneheliche Kinder langfristig also kein Problem dar.“626 Den fein differenzierten, rechtlichen Charakter aller Zuwendung hatte schon der zweijährige Friedrich erspürt, will man der Überlieferung seines Bruders Johann glauben. Als er dessen ‚Milchbruder‘ wiegen sollte, antwortete er der Mutter: „Meinen Bruder will ich wiegen, aber den fremden Bruder nicht!“ [HP I, 7]. Die öffentliche Ablehnung unehelicher Kinder beruhte gleichfalls „nicht so sehr auf moralischen Reflexionen“,627 sondern auf ‚volkswirtschaftlichen‘ Erwägungen. Vor allem die Tatsache, „daß sich die Eltern aus der Verantwortung zogen und die Verwahrlosung der Kinder später ihren Tribut forderte, ihre Arbeitsfähigkeit und ihr Verantwortungsgefühl gegenüber der Gemeinde nur reduziert entwickelt wurde“, verlangte „eine Distanzierung“. So wurden auch die Kinder aus dem Wesselburener Pflegehaus ganz ‚sachlich‘ in „graue Kittel“ gekleidet und in der Schule auf eine „eig’ne Bank“ gesetzt [W 8, 115]. Angesichts solcher Stigmatisierungen berührt die Vorstellung heute um so eigenartiger, daß unter den so gekennzeichneten „Pflegehaus-Jungen“, die sich an die gewesenen Kätnerssöhne Hebbel nach deren sozialem Abstieg heran „drängten“, ebensogut auch der Halbbruder Hans hätte befinden können – als einer von denen, die sich „selbst als halbe Aussätzige betrachteten und sich nur dem näherten, den sie verhöhnen zu dürfen glaubten“ [W 8, 115]. Möglichkeiten der Geburtenkontrolle waren zur damaligen Zeit nur in der Oberschicht bekannt und verbreitet. Zufällig genau aus Hebbels Geburtsjahr liegt dazu eine aufschlußreiche Aussage des Pastors Volckmar vor: Es seyen „in der Regel die ärmeren Einwohner diejenigen welche die meisten Kinder haben; die unselige Kunst nach Gefallen nicht zu gebähren ist unter unsern galanten Frauen längst kein Geheimnis mehr und so kann man auf eine gleiche Anzahl Kinder Armer immer mehr Kinder rechnen als auf eine gleiche Anzahl der Wohlhabendern“.628 Volckmars sozialpsychologische Charakterisierung ist interessant: In den vornehmen, „galanten“ Kreisen zeichnete sich ein Wechsel hin zur modernen Kleinfamilie ab – der von der Kirche durchaus mißbilligt wurde, während in der breiten Bevölkerungsmehrheit Familienplanung noch unbekannt war: Man nahm die Kinder hin, wie sie eben kamen.

Er starb laut Totenregister des Kirchspiels Wesselburen am 13. Mai 1809. DETTLAFF, Sittliche Verstöße, S. 412. 627 Dieses und die folgenden Zitate: JEGGLE, Kiebingen, S. 122. 628 VOLCKMAR, [Bericht v. 27.6.1813] Zum GK. Visit. Protocoll von Norderdithmarschen 1813. Anlage Eb). LA S-H, Abt. 19, Nr. 75. 625 626

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Stabilisierend auf die innerhäuslichen Verhältnisse wirkte demgegenüber der feste Kanon von Rechten und Pflichten, der die familiären genauso wie die dörflichen Gruppenbeziehungen prägte: Die Binnenstruktur des Hauses, Rechte und Pflichten seiner Mitglieder, waren bis in Einzelheiten durch die Rechtsordnung geregelt [...]. Diese Regeln normierten sowohl den im modernen Sinne arbeitsrechtlichen Bereich der Beziehungen zwischen Herrschaft und Gesinde als auch den familienrechtlichen Bereich der Beziehungen zwischen Ehegatten und Kindern.629

Der sachliche und rechtliche Charakter aller Verbindungen entsprach nicht zuletzt auch der Mentalität der Menschen. Sie verlangte die einklagbare Form der Beziehungen als „Schuldigkeit“, die „aber eben noch nicht als Schuldgefühl eingeschliffen wurde“.630 Nur so konnte eine Gesellschaft funktionieren, in der, mit Hebbel gesprochen, „die Armuth die Stelle der Seele“ einnahm, denn „freischwebende Zuwendung ohne solchen verpflichtenden Charakter wäre jeden in dieser Armutskultur teuer zu stehen gekommen.“631 Das „gemeinsame Geschäft“,632 zu dem die Arbeitskraft beider Ehepartner benötigt wurde, war die Grundlage auch des Hebbelschen Ehelebens. Genau so nüchtern beschrieb es der Sohn: „Meine Eltern lebten im besten Frieden mit einander, so lange sich Brot im Hause befand“ [W 8, 82f.]. Umgekehrt blieb der Vater auch in schlechteren Zeiten „ein Sclav der Ehe“, die ihn „mit eisernen Fesseln an die Dürftigkeit, die baare Noth“ knüpfte [T 1323]. Wenn Hebbel von „zuweilen ängstliche[n] Scenen“ spricht, die „im Winter, wo es an Arbeit fehlte, öfter“ vorkamen [W 8, 83], nahm Antje Margaretha Hebbel selbstverständlich und selbstbewußt zu den beruflichen Schwierigkeiten ihres Mannes Stellung. „Wie oft wird diese rische, rasche Frau ihrem Manne die Hölle heiß gemacht haben!“,633 spekulierte Wilhelm Meyer-Voigtländer wohl nicht ganz zu Unrecht. Namentlich in Bauhandwerkerfamilien hatte die Frau oftmals zum Familieneinkommen beizutragen: Sie war „ein produktiver Arbeiter, [...] dem sich die ‚Wahl‘ zwischen Beruf und Familie nicht stellte; dementsprechend fehlte eine eindeutig männliche Ernährerrolle.“634 Ohne die diversen Nebenverdienste Antje Margarethas wäre die Familie Hebbel nicht über die Runden gekommen. Auch dies konnte nicht ohne Wirkung auf die Familienstruktur bleiben. Aus der außerhäuslichen Erwerbstätigkeit der Frau resultiert tendenziell „ein egalitäres eheliches Machtverhältnis“.635 Karin Hausen wies darauf hin, daß dort, wo „das Einkommen des Mannes allein nicht ausreichte, um den Familienbedarf zu decken, und deshalb weder Hausnoch Erwerbsarbeit geschlechtsexklusiv ausgeführt werden konnten, [...] die spezi-

HARDACH-PINKE/HARDACH, Kinderalltag, S. 27 f . JEGGLE, Kiebingen, S. 148. 631 Ebd., S. 220. 632 Ebd., S. 217. 633 MEYER-VOIGTLÄNDER, Der Vater Friedrich Hebbels, S. 143. 634 HELD, Soziologie der ehelichen Machtverhältnisse, S. 50. 635 Ebd., S. 55. 629 630

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fische Kontrastierung der Geschlechtscharaktere irrelevant war“.636 Thomas Held wiederum resümierte in seiner Soziologie der ehelichen Machtverhältnisse, daß unter solchen Bedingungen „kaum von einem deutlichen Gegensatz zwischen männlichem und weiblichem Orientierungshorizont gesprochen werden“ könne.637 Auch in Hebbels Erzählung vom Meister Schnock werden die Zeremonien der patriarchalischen Hausordnung nur noch der Form nach aufrechterhalten. Zu Beginn seiner unglücklichen Ehe wird der widerstrebende Schnock von seiner Frau unablässig nach seinen Wünschen gefragt: Zuletzt aber ging ich auf den Spaß ein, erklärte gravitätisch, wie Könige im Puppenspiel, meinen Willen, und ergötzte mich nicht wenig, wenn die Suppe Mittags wirklich so auf den Tisch kam, wie ich sie Morgens bei’m Frühstück, wo ich, würdevoll den Großvaterstuhl ausfüllend, meine lächerlichen Instructionen ertheilte, bestellt hatte. [W 8, 168]

Lächerlich sind die „Instructionen“ vor allem deswegen, weil der hünenhafte Hasenfuß den männlichen Machtanspruch nicht ‚auszufüllen‘ versteht. Von der Literaturwissenschaft wurde solche ‚Komik‘ fast durchgehend als mißglückt empfunden. In der Tat erinnert die in Schnock vorgeführte verkehrte Welt mehr an ein Anprangern im Rahmen überkommener Rügesitten, als an ‚realistischen‘ Humor. Für das „traditionelle Paar waren die Rollen der Geschlechter absolut bindend, und die Gemeinschaft strafte jene mit Spott und Hohn, die versuchten, sie zu überwinden.“638 Spätestens an der öffentlichen Aufmerksamkeit fand darum die Egalität der Machtverhältnisse ihre Grenze. Hebbel selbst hat seine männlichen Vorrechte ganz unironisch beansprucht. In München ließ er sich von Josepha Schwarz die Wäsche waschen, das Zimmer aufräumen, Frühstück, Zeitung und Kaffee bringen, in Hamburg von Elise Lensing bedienen; war diese abwesend, nahm er murrend mit ihrer Mutter vorlieb: „Du fehlst mir sehr, liebe Elise. Deine Mutter hat guten Willen, aber nicht das geringste Geschick, und den guten Willen hat sie auch nur Deinetwegen. Ob eine Speise leicht ist, oder schwer, ob man dem Magen dies bieten darf, oder das, sie weiß es nicht. Was ich befehle, wird pünctlich ausgeführt, aber in solchen Zuständen ist man zum Befehlen so wenig aufgelegt“ [WAB 1, 353]. Wenn Hebbel auch den „guten Willen“ des Gegenübers als dessen ‚Zugeständnis‘ an die bürgerliche Form der Partnerschaft voraussetzt, so läßt er doch an dem Befehlscharakter seiner Essens- und sonstigen Wünsche keinen Zweifel. Erst in seiner Ehe mit der Berufsschauspielerin Christine Enghaus fand er zu partnerschaftlicheren Umgangsformen. Die Sorge um Auskommen und Statuserhaltung dominierte auch im Umgang mit Kindern, die so früh wie möglich zur Arbeit angehalten wurden. Die elterlichen Gefühle gegenüber ihrem Nachwuchs waren dabei von nüchterner Ambivalenz: Last und Plage sind die Jungen, sofern sie nur auf der faulen Haut liegen, nicht mit anpacken wollen oder sich ungeschickt anstellen [...] typisch ist: ein handfester naiver Materialismus. HAUSEN, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere”, S. 382. HELD, Soziologie der ehelichen Machverhältnisse, S. 49. 638 SHORTER, Die Geburt der modernen Familie, S. 84. 636 637

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Das Elternhaus

Kinder sind familiäre Last und familiäre Glücksbringer. Sie sollen ‚heranschaffen‘: Geld, Besitz, Ansehen, Nachkommen; andernfalls sind sie überflüssig639.

So bestand das „Grundmuster der Erziehung“640 schlicht in den „wachsenden Arbeitsanforderungen an die Kinder“. ‚Kindheit‘ war in diesem Rahmen „nichts anderes als das physische Unvermögen, alle bäuerlichen Arbeiten leisten zu können, und das Heranwachsen bedeutete eben die Zunahme an Arbeitsvermögen und Geschicklichkeit“. Gewöhnlich begannen die Kinder „mit sechs oder sieben Jahren zu arbeiten, ein Alter, das der Brauch und die körperliche Reife festgesetzt hatten.“641 Zunächst wurden sie meist in den Sommerferien zum Viehhüten eingesetzt. Auch Hebbel erinnerte sich, daß „mein Vater jeden Winter, wie von einem Lieblingsplan“ davon sprach, daß der Sohn „den Bauerjungen spielen“ sollte [T 1295]. In der Arbeit des „Bauerjungen“ lag allerdings nichts Despektierliches; im Gegenteil, die bäuerliche Arbeit genoß als die eigentlich produzierende das höchste Sozialprestige. Dies drückte sich auch in dem „Examen meines Vaters mit mir, ob ich die Kornarten auch kennte“, aus, das der Sohn allerdings „schlecht bestand“ [T 4876]. Von einem individuell ausgeheckten „Lieblingsplan“ konnte angesichts der Normativität der Lebensläufe gleichfalls kaum die Rede sein – um so erstaunlicher, daß sich Claus Hebbel mit seiner Forderung nicht durchzusetzen vermochte. Nach Beendigung der Schulzeit versuchte der Vater, seinem Ältesten das eigene Handwerk beizubringen. Emil Kuh schilderte dies so: „Es war um das Jahr 1825, als Friedrich unter vielen und heißen Tränen mit dem Vater auf Arbeit ging. Er benahm sich aber dabei so ungeschickt, daß er, anstatt mit dem Mörtel Steine aneinander zu fügen, sich selbst bekleisterte und belegte“.642 Ein Gewährsmann Paul Bornsteins erinnerte sich, Hebbel habe sich bei der Arbeit „mit dem Vater hart entzweit, dann die Baustelle verlassen und der Ausübung dieses Handwerks auf immer den Rücken gekehrt“ [HP I, 9]. Damit aber scheiterte das eigentliche erzieherische Programm des Vaters. Da die Menschen wußten, daß „der Zweck ihres Lebens darin bestand, die kommenden Generationen zu lehren, alles genauso zu tun, wie es die Generationen der Vergangenheit getan hatten, verfügten sie über eindeutige Regeln, nach denen die Beziehungen innerhalb der Familie geformt und durch die entschieden wurde, was wesentlich war und was nicht.“643 Wenn Claus Hebbel resigniert vor sich hin murmelte: „Der Junge taugt doch auch zu gar Nichts“ [WAB 4, 484], oder „[d]er [Jun]ge wird Komödiant“,644 dann drückte sich darin weniger „Verachtung und Gleichgültigkeit“645 aus, sondern vor allem tiefe Ratlosigkeit und die Befürchtung, der Sohn würde einen im Verständnis der traditionalen Gesellschaft ‚unehrlichen‘ und lächerlichen Beruf ausüben müssen.

RICHTER, Das fremde Kind., S. 198f. Dieses und das folgende Zitat: WEBER-KELLERMANN, Landleben im 19. Jahrhundert, S. 245. 641 GILLIS, Geschichte der Jugend, S. 30. 642 KUH, Biographie, Bd 1, S. 53. 643 SHORTER, Die Geburt der modernen Familie, S. 15. 644 W 15, 8. Werner liest „Zeuge“ statt „Junge“. Vgl. auch KUH, Biographie, Bd 1, S. 54. 645 KUH, Biographie, Bd 1, S. 54. 639 640

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Bedenkt man die allgemeine, existentiell begründete Wertschätzung der praktischen Arbeit, dann mußte Hebbels Desinteresse, Ungeschick und seine „Scheu vor grober Handarbeit“ [T 1323] in der Tat „auf angeborne Verderbniß, auf einen zweiten Sündenfall“ [T 1323] deuten: Arbeit war familiäre und Christenpflicht! Auch davon besitzt Hebbel noch ein Bewußtsein, wenn er angesichts der „Anfeindungen meines Vaters“ diesem zugesteht, daß er „(von seinem Gesichtspuncte aus mit Recht) in mir stets ein mißrathenes, unbrauchbares, wohl gar böswilliges Geschöpf erblickte“.646 Jeismann und Lundgreen brachten dies auf den Punkt in dem Satz: „Kinder waren geschätzt als Arbeitskraft, und ihre Wertschätzung war direkt proportional ihrer Leistung“.647 In der Hebbelforschung sind diese Zusammenhänge bisher nicht so gesehen worden. Gerade dort, wo der Vater verteidigt wurde, dominierte eine psychologisierende Betrachtungsweise, die den sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Tatbeständen keine Rechnung trug. Hermann Nagel bezog sich ohnehin nur selektiv auf die Erziehungsversuche des Vaters,648 während sich Wilhelm Meyer-Voigtländer bemühte, väterliche Befürchtungen aus der Binnenperspektive eines ‚Inneren Monologs‘ nachzuvollziehen.649 Andere Biographen gaben nur zusammenhanglose Pauschalurteile ab: „Der Vater wollte von diesen brotlosen Künsten natürlich nichts wissen“,650 meinte Karl Strecker; Theodor Poppe schrieb: „Der verbissene Vater drang darauf, daß der unnütze, verträumte Junge so bald wie möglich mit Geld verdienen half“.651 In der saloppen Diktion Hayo Matthiesens „verfiel er auf den Gedanken“, 652 die Söhne auf dem Bau arbeiten zu lassen, als sei dabei ein willkürlicher Einfall das ausschlaggebende Motiv – dies aber lag außerhalb des Denkens der (berufs-)ständisch organisierten Gesellschaft. Hargen Thomsen ist sicher zuzustimmen, wenn er aus Hebbels Perspektive einen Grund für dessen stetigen „Rechtfertigungszwang“ im Verhältnis zum Vater sieht. Doch wenn er dies auf die „Nichtanerkennung vom Vater“ zurückführt, die den Sohn obendrein „vom (biologisch-geistigen) Ursprung abgeschnitten und damit im eigentlichen Sinne heimatlos“653 gemacht habe, dann vertauscht er Ursache und Wirkung. Denn der Vater vertrat nichts anderes als ‚ursprüngliche‘ Werte, die freilich mit Thomsens „biologisch geistigen“ recht wenig zu tun haben. Die ‚Heimatlosigkeit‘ Hebbels geht vielmehr zurück auf dessen eigene „Nichtanerkennung“ traditionaler Werte. Erst durch seine innere Abkehr und die dadurch ausgelöste ‚Individuation‘ öffnete sich der Raum für das „Geistige“, oder anders: die „Seele“, die man am biologischen Ursprung vergeblich sucht. Der Gedanke an die Erhaltung oder die Verminderung des Vermögens beherrschte „als Richtschnur“654 die Denk- und Verhaltensweisen der Menschen. Eigentum, die Frucht aller Arbeit hatte man „als höchsten und wichtigsten aller Werte mit aller SorgT 1295. Vgl. dazu auch die Äußerungen Valentins in Vier Nationen unter einem Dache [W 5, 290]. JEISMANN/LUNDGREEN, Handbuch der Bildungsgeschiche, S. 59. 648 Vgl. NAGEL, Friedrich Hebbels Ahnen, S. 19. 649 Vgl. MEYER-VOIGTLÄNDER, Der Vater Friedrich Hebbels, S. 141 f. 650 STRECKER, Friedrich Hebbel, S. 42. 651 POPPE, Lebensbild, S. XIV. 652 MATTHIESEN, Friedrich Hebbel, S. 13. 653 THOMSEN, Grenzen des Individuums, S. 168. 654 JEGGLE, Kiebingen, S. 151. 646

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falt zu sichern“655 – diese Lektion wurde auch Friedrich Hebbel eingebleut, als er wegen eines verlorenen Geldstücks verprügelt wurde [W 15, 13]. Diebstahl erscheint vor diesem Hintergrund als das schlimmste Verbrechen. „Was zum Teil wie paranoid aussieht, wenn Leute wegen eines entwendeten Apfels angezeigt wurden, […] offenbart die Angst, die auftauchte. Sie war nicht wahnhaft, sondern sie hatte eine reale Basis in der Furcht, ebenso arm zu werden, wie die Äpfel- oder Grasdiebe.“ Kein Wunder, wenn ein Hans Grimm, der als Dieb vor dem Gerichtsschreiber Hebbel stand, diesen durch die Erinnerung „uns’res gemeinschaftlichen Aepfel-Diebst[ahls]“ [W 15, 12] noch Jahre später in Verlegenheit zu bringen suchte. Der schon erwähnte Claus Nehlsen büßte seine Taten mit der ‚psychischen Höchststrafe‘, dem Ausschluß aus der dörflichen Gemeinschaft. Und selbst die Hauskatze der Hebbels wurde für ein Eigentumsdelikt gnadenlos zur Rechenschaft gezogen: „Ja, das Kätzchen hat gestohlen,[/] Und das Kätzchen wird ertränkt“ [W 6, 194], beginnt Hebbels Gedicht Aus der Kindheit. Gerade in ihrer Disparatheit illustrieren diese Beispiele die Omnipräsenz der Eigentumsfrage. Gegenüber den Beziehungen zu den beiden „Konstanten Arbeit und Besitz“656 traten die zwischenmenschlichen Beziehungen zurück. Sie waren denen „zwischen Personen und Sachen nachgeordnet“,657 denn „die Dinge waren unersetzlich, nicht die Menschen“.658 Die Logik dieser Gefühlswelt war ebenso einfach wie unerbittlich; „wenn die Frau starb, dann heiratete man wieder, Kinder konnte man neue machen“.659 An dem katastrophischen Handlungsablauf in Hebbels Erzählung Die Kuh erkannte Ilse Brugger darum ganz richtig: „Eine Kuh hat größeren Wert als ein Kind. Man könnte geradezu sagen, der Wert des Dinges lasse den menschlichen Wert in Vergessenheit geraten“.660 Das Lesepublikum des Jahres 1849 erkannte in der Erzählung die Vorliebe des Autors für Gräßlichkeiten, für gesucht Abnormes und Schauerliches wieder.661 Gut hundert Jahre später analysierte Ilse Brugger: „Was hierbei in die Augen springt, ist die Verwechselung von Werten“.662 Beide Urteile zeugen davon, daß die Wertwelt der traditionalen Gesellschaft in der Moderne außerhalb des überhaupt Vorstellbaren liegt und deshalb wie eine ‚verkehrte Welt‘ wirken muß. Nicht etwa nur in gräßlichen Ausnahmefällen, auch im Alltag wurde „Kommunikation – in einem emphatischen Sinn – der Besitzsicherung untergeordnet.“663 So interessierte sich Hebbels Bruder Johann anläßlich eines Aufenthalts seines Neffen Karl in Hamburg nicht für seine Person, wohl aber für seine Kleidung. An Emil Kuh schrieb er: „Wie ich gehört habe, ist Carl Hebbel noch in Hamburg, und da ich, wenn er abreist, seine nachgelassenen Kleider haben soll, und sie benöthigt bin, aber keine

Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 227. Ebd., S. 225. 657 Ebd., S. 151. 658 Ebd., S. 230. 659 Ebd., S. 226. 660 BRUGGER, Die „Mensch-Ding“-Problematik bei Hebbel, S. 80. 661 Vgl. W 8, S. XLVI. 662 BRUGGER, Die „Mensch-Ding“-Problematik bei Hebbel, S. 80. 663 JEGGLE, Kiebingen, S. 228. 655 656

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genaue Adresse weiß, sonst wollte ich sie wohl bekommen.“664 Diese Denkweise konnte Kuh in sein Weltbild nicht einordnen. Die Mentalität der Brüder Hebbel, „wo die Kontraste grell, seltsam nebeneinander stehen“,665 schien ihm ein „Roman“ zu sein, „aber ein schlechter“, Johann ein „Schelm“. Komisch waren die prägenden Erfahrungen gewiß nicht gewesen. Der kümmerlichste Anlaß genügte für ein familiäres Zerwürfnis; entsprechende Erinnerungen tippte Hebbel in seinen Notizen denn auch nur an: „Tante Elspe und die Brotrinden“ [W 15, 14], heißt es lapidar und doch vielsagend. Mit Utz Jeggle ließe sich übersetzen: „Die Dinge, die zum Lebensunterhalt notwendig waren, […] wurden mehr geliebt als die Menschen“.666 An solchen Beispielen zeigt sich die essentielle Bedeutung einer strikt geregelten Zuteilung der materiellen Zuwendungen, deren elementare und alltägliche Form die Versorgung mit Nahrung darstellte. So beklagte Hebbel, daß ihm die Bissen vom Vater förmlich in den Mund gezählt wurden: „Ich und mein Bruder hießen seine Wölfe; unser Appetit vertrieb den seinigen, selten durften wir ein Stück Brot verzehren, ohne anhören zu müssen, daß wir es nicht verdienten“ [T 1323]. Dieser Satz Friedrich Hebbels über den Vater klingt für heutige Ohren besonders grausam: Selbst das zum Leben Notwendige schien ihm der Vater zu mißgönnen. Doch auch hier ist eine moderne individualpsychologische Interpretation nicht angebracht. Denn die Versorgung mit Nahrung galt als Äquivalent zur Erfüllung der übertragenen Pflichten. Über die Spruchweisheit (das „wichtigste Medium der Erfahrungsverarbeitung und -weitergabe“)667 ‚Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen‘ schreibt Ulrich Herrmann: „Das leuchtet ein, bedarf keiner Übersetzung in den Horizont der eigenen Lebenspraxis, an Sachzwängen ist nicht zu deuteln“. Es gab auch drastischere Maßnahmen, getreu einem anderen Grundsatz: „Die unnützen Fresser müssen aus dem Haus“,668 der nicht nur im Märchen von Hänsel und Gretel Anwendung fand.669 Als ‚unnützer Fresser‘ konnte auch der zur praktischen Arbeit untaugliche und unwillige Friedrich gelten – aus dem Haus mußte er immerhin nicht. Dieses Schicksal traf dafür den jüngeren Halbbruder Hans Friedrich, auf dem weniger der Fluch der unehelichen als der ‚späten‘ Geburt lastete: Drei Kinder konnte der Hebbelsche Hausstand nicht ernähren. Auch der Haushund „Caro“ mußte eines Tages „fort“, „weil er zu groß wurde“ [W 15, 13] und folglich zu viel fraß. Aus solchen Beispielen wird eines deutlich: Bei dem Verhalten des Vaters geht es nicht einfach um den „unerhörten Appetit“ des Sohnes (wie Meyer-Voigtländer in seinem unglücklichen Verteidigungsversuch des Brief Johann Hebbels, zit. nach HOLM, Johann Hebbel, S. 142. Brief Emil Kuhs an Klaus Groth, Wien, 9. Mai 1867, zit. nach HOLM, Johann Hebbel, S. 142. 666 JEGGLE, Kiebingen, S. 226. 667 Dieses und das folgende Zitat: HERRMANN, Kunde fürs Volk, S. 71. 668 RICHTER, Das fremde Kind, S. 198. 669 Vgl.: „Wie stark bürgerliche Familiarität sich noch innerhalb der Entstehungs- und Auflagengeschichte der Kinder- und Hausmärchen entwickelt hat, sei an […] der ‚Kindesaussetzung‘ in Hänsel und Gretel [dargestellt] […]. Was aber in den Verhältnissen der alten Gesellschaft klar, wenn auch nicht einfach ist („der Mann wollte lang nicht“), muß unter den Bedingungen neuer bürgerlicher Väterlichkeit und Mütterlichkeit als Herzlosigkeit gegenüber den Kindern empfunden werden. So wird in den späteren Textbearbeitungen die Entscheidung des Mannes zum Ergebnis eines fast tragischen Konflikts, der mit psychologischer Einfühlung in das Innenleben des Mannes expliziert wird“ [RICHTER, Das fremde Kind, S. 225f.]. 664 665

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Vaters glauben machen wollte), auch nicht um persönliche Mißgunst und schikanöses Verhalten. Es geht schlicht um die gerechte und geregelte Verteilung eines knappen Guts. Entsprechend ließe sich umgekehrt formulieren: ‚Wer arbeitet, der soll auch essen‘. Um diesen Grundsatz wenigstens nach außen hin einzuhalten, geschah es, daß der Vater selbst „gern [!] hungerte, wenn der Nachbar ihn nur für satt hielt“ [HP II, 164]. Die Institution Familie war nicht nur Produktionsgemeinschaft, sondern auch „ein Mechanismus zur Übertragung von Besitz und Stellung von Generation zu Generation.“670 Die „Generationenfolge war wichtig, das Zusammensein am Mittagstisch war es nicht“, meinte Shorter lapidar zu dem Gegensatz traditionaler und moderner Anschauungen. Auch hier kam es in der Hebbel-Forschung zu ideologisch gefärbten Fehlinterpretationen. Das Nichtverstehen des funktionalen Beziehungscharakters verführte etwa Franz Bielfeldt dazu, im Verhalten des Meister Anton „das natürliche, nordische Sippenbewußtsein des nordischen Menschen“671 als lebensfernen Erklärungsansatz zu bemühen. „Sippenbewußtsein“ zählte allerdings spätestens in Erbauseinandersetzungen wenig. Hebbel selbst wußte aus seiner Verwandschaft ein trauriges, aber bezeichnendes Beispiel anzugeben: „die blaue Schürze, Hader wegen ihrer gleich nach dem Tode“ [W 15, 14]. Geschwister waren angesichts späterer Teilungen von vornherein „potentielle Konkurrenten“,672 „Kooperator und Feind gleichzeitig“. In seiner Kiebinger „Heimatgeschichte“ führte Utz Jeggle aus: Wegen dieser beiden oppositionellen Anforderungen wird man von einer charakterlichen Ausgewogenheit der Kiebinger kaum reden können. Worauf es ankam, war die situative Abrufbereitschaft einmal der einen und dann der andern Fähigkeit. Man mußte mit dem Bruder zusammen pflügen können, gleichzeitig aber aufpassen, daß derselbe Bruder sich nicht durch irgendwelche Tricks bei den Eltern lieb Kind machte, um sich so eine künftige Bevorzugung zu erschleichen.673

Obschon der Maurer Claus Hebbel nicht viel zu vererben hatte, bestand zwischen seinen Söhnen eine grundsätzliche Konkurrenzsituation: Mit Christian Friedrich wurde 1813 der Stammhalter geboren; als jedoch 1815 der zweite Sohn Johann Hinrich hinzukam, „wuchs die Not im Hause“.674 Als sich die Untauglichkeit des Erstgeborenen fürs Praktische abzeichnete, spaltete sich die Zuneigung der Eltern auf, wie Friedrich Hebbel schilderte: „Ich war ihr Liebling, mein zwei Jahre jüngerer Bruder der Liebling meines Vaters. Der Grund war, weil ich meiner Mutter glich und mein Bruder meinem Vater zu gleichen schien“ [W 8, 82]. Unter den Brüdern dürfte dies zu gegenseitigem Mißtrauen und einer ambivalenten Gefühlsstruktur geführt haben, wie Hebbel sie modellhaft in dem frühen Märchen Die einsamen Kinder von 1833 entwirft. Darin findet sich Wilhelm, dem die Verantwortung für den jüngeren Bruder

Dieses und das folgende Zitat: SHORTER, Die Geburt der modernen Familie, S. 17f. BIELFELDT, Hebbels Menschengestaltung, S. 42. 672 Dieses und das folgende Zitat: JEGGLE, Kiebingen, S. 224. 673 Ebd., S. 153. 674 NAGEL, Friedrich Hebbels Ahnen, S.20. 670 671

Sachlichkeit statt Gefühl

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eine Last ist, vor eine mörderische Alternative gestellt: Er kann dem bewußtlosen Theodor einen lebensrettenden Trank einflößen – oder nicht. Wilhelm stand einen Augenblick in tiefen Gedanken verloren: ihm war, als habe er bisher nur noch immer geträumt, als sey eben das Leben mit all seinen Schätzen an ihm mit leichtem Gruß vorübergegangen, als sey er aber sogleich in den alten dunklen Traum von einer Hütte im Walde, von einem Bruder, dem er Wurzeln graben müsse, zurückgesunken. Doch da fiel sein Blick von ohngefähr auf Theodor, der still und regungslos in seinem Bette lag. All die Liebe, welche er einst für den Bruder gefühlt hatte, erwachte in seinem Herzen, und schnell ergriff er den Becher und flößte ihm den Trunk ein. Er bestrebte sich, all seine Gedanken auf den Bruder zu richten und all seine Wünsche in dem Wunsch für dessen Leben zu vereinigen; aber dennoch erinnerte er sich einmal mit sehnsüchtigem Verlangen der Wunderwelt, in deren Umkreis er noch vor wenigen Minuten verweilt hatte; da wurde die Wange seines Bruders, die schon zu erröthen anfing, merklich blässer, sein Auge schloß sich wieder, und er machte mit den Händen krampfhafte Bewegungen. Als Wilhelm dieses bemerkte, war es ihm, als sey er der Mörder seines Bruders geworden; er warf sich vor dem Bett auf die Knie nieder und schrie mit thränenerstickter Stimme: „Ach Theodor, mein Theodor!“ [DjH II, 68]

In dem Schwanken Wilhelms kommt – literarisch verdichtet – die Grundbefindlichkeit der traditionalen Familie zum Ausdruck, daß nämlich „konsequente Beziehungen zwischen Menschen meist nicht möglich, sondern nur situativ erlebbar waren und nicht auf Dauer gestellt werden konnten“.675 Vor allem aber war im Rahmen der Familie „ein Ich mit einer eigenen Entwicklung und einer eigenen Perspektive nicht vorgesehen. Man war zum einen in das kooperierende Kollektiv, zum anderen in das ver- und beerbende Familienschicksal eingebunden. Die Aufgaben waren festgelegt, jeder Freiraum, jede abweichende Entwicklung wurde frühzeitig beschnitten, wenn nötig abgeschnitten.“676 Monika Ritzer hat Hebbels Mährchen jüngst als „Individuationsmodell“677 interpretiert. Dieses Modell fußt allerdings auf einer negativen Ausnahmesituation: Am Beginn der emotionalen ‚Emanzipation‘ der einsamen Kinder steht die Auflösung des „kooperativen Kollektivs“ durch den Tod der Eltern.

Sachlichkeit statt Gefühl Zu der Schilderung Antje Hebbels als einer Mutter, die „ganz Liebe und Güte war“,678 will der Satz Ulrike Prokops nicht passen, nach der die Liebe „in der alten Ordnung als etwas Störendes, als Bedrohung der Ordnung“679 erschien. Ist es möglich, „daß Mütterlichkeit keine überzeitliche, gleichsam ‚natürliche‘ Eigenschaft“ ist und daß Mutterliebe erst „mit der Definition der ‚Natur der Frau‘ und dem realgeschichtlichen

JEGGLE, Kiebingen, S. 224. Ebd., S. 201. 677 RITZER, Das Individuationsmodell in Hebbels Märchen Die einsamen Kinder. 678 NAGEL, Friedrich Hebbels Ahnen, S. 29. 679 PROKOP, Die Illusion vom großen Paar, S. 389. 675 676

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Aufgabenwandel“680 der bürgerlichen Epoche entstand? Solchen nüchternen Sichtweisen hielt Olwen Hufton entgegen: Man hat uns weismachen wollen, die Beziehung zwischen Eltern und Kind sei nicht von Fürsorge geprägt gewesen, sondern die Eltern seien dem Kleinkind feindlich gesonnen gewesen oder hätten ihm bestenfalls gleichgültig gegenübergestanden, und die Interessen des Kindes hätten als denen der ganzen Familie untergeordnet gegolten. Mutterschaft wurde als negativer Zustand gedeutet. In jüngerer Zeit indes wurde die Eltern-Kind-Beziehung von den Historikern und Historikerinnen in milderem Licht gesehen.681

Nun gab es zwar, so meinte Elisabeth Badinter vermittelnd, „zu allen Zeiten liebende Mütter“, doch beweise dies „auf keinen Fall, daß dies eine universelle Haltung gewesen sei“.682 Wenn „’Gefühl‘ und ‚Emotion‘ […] keineswegs überzeitliche, universelle Konstanten“683 sind, sondern „sozial und historisch wandelbar“, dann ist Vorsicht gegenüber den eigenen Vorstellungen von ‚Normalität‘ und dem Vertrauen in das eigene Einfühlungsvermögen angebracht. Erforderlich ist eine sozial- und mentalitätsgeschichtlich fundierte Fallanalyse. Im Wesselburener Hebbel-Museum wird ein Raum präsentiert, der neben einem Eckschränkchen aus dem Nachlaß Antje Hebbels684 (Abbildung 4) allerlei Dinge aus der ‚guten alten Zeit‘ zeigt. Dieses Ensemble sollte nach dem Willen der Museumsgründer von 1913 veranschaulichen, „wie der junge Hebbel in Wesselburen gelebt hatte“685 (Abbildung 5). Doch erinnert das Inventar mit verglastem Vitrinenschränkchen, gerahmten Wandbildern, polierten Messinggeräten, Tischdeckchen, Gardinen und kunsthandwerklich hergestellten, gemusterten Bettvorhängen mehr an „die drangvolle Gemütlichkeit einer kleinbürgerlichen Wohnstube“686 der späteren Zeit als an die „karg ausgestattete Stube und Kammer im Kleinhaus, in der neben Tisch und Sitzbank […] nur noch Kisten und Kasten und einfache Wandgestelle vorhanden waren“.687 Was Hebbel an Mobilien im Elternhaus erwähnt, sind außer einem „grünen Coffer“ [W 15, 9] (also einer Truhe oder Holzkiste) unter einem Spiegel noch „der runde, wurmstichige Speisetisch“ [W 8, 112] und eine „ehrwürdige holländische Schlaguhr, die nie richtig ging“ [W 8, 112] und nur noch als überkommenes Statussymbol ihren Dienst erfüllen mochte. Der seit rund hundert Jahren fast unveränderte – und schon insofern ‚museale‘ – Raum im Hebbel-Museum trug ursprünglich die Bezeichnung eines „Wohnzimmers in Wesselburen zu Hebbels Zeit“.688 Die Vorstellung biedermeierlicher Gemütlichkeit, in SIEDER, Sozialgeschichte der Familie, S. 39. HUFTON, Arbeit und Familie, S. 48. 682 BADINTER, Die Mutterliebe, S. 62. 683 Dieses und das folgende Zitat: SIEDER, Sozialgeschichte der Familie, S. 62. 684 SCHULZ, Das Hebbel-Museum in Wesselburen, S. 175. Das Schränkchen war dann in den Besitz Johann Hebbels übergegangen. Vgl. BIEDER, Führer durch das Hebbel-Museum, S. 8. 685 SCHULZ, Das Hebbel-Museum in Wesselburen, S. 175. 686 WEBER-KELLERMANN, Die Arbeiterfamilie des 19. Jahrhunderts, S. 216. 687 KRAMER, Volksleben in Holstein, S. 107. 688 SCHULZ, Das Hebbel-Museum in Wesselburen, S. 175. Seit dem Umzug des Museums 1952 in die Kirchspielvogtei wird die Inszenierung im Vorraum der Schreiberstube noch irritierender als 680 681

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der die freundliche Hausfrau waltet – vor der Tür das „lächelnde Gartenglück“689 – ist allerdings ein moderner Anachronismus. Die kleine Zweizimmerwohnung im eigenen Haus dürfte sich dabei in der Wohnqualität nicht sehr von der späteren Mietwohnung der Hebbels unterschieden haben. Die Enge der Wohnverhältnisse sorgte keineswegs für besondere ‚Nähe‘ der Familienmitglieder. Sie trug vielmehr mit dazu bei, „Intimität, Liebe, Auszeichnung des Einzelnen“690 im Keim zu ersticken, denn „all das setzt Abgrenzung von anderen Menschen voraus, und einen Raum, diese Abgrenzung leben zu können.“ Auch dies war in den Kleinwohnungen der Familie Hebbel nicht möglich. Abgrenzung mußte in der Familie daher auf viel direktere Weise hergestellt werden: „Es scheint, daß – infolge der beengten Wohnverhältnisse und den im Vergleich zum bäuerlichen Haushalt mangelnden Ausweichmöglichkeiten der Kinder – das Verhältnis der Kinder zum Vater im ‚Ganzen Haus‘ des Handwerks besonders durch Furcht und Respekt charakterisiert war“.691 Da es kaum „intimisierte Rückzugsbereiche“ gab, waren auch die sonstigen Umgangsformen „wenig emotional und eher formell“692 zu gestalten. Überhaupt erlaubte „die lebenslange Unsicherheit und Knappheit die Ausgestaltung eines ‚Heims‘ und die Schaffung eines intimen Binnensystems nicht“.693 Wo die Familie vor allem die Aufgabe hatte, durch ständige Arbeit den notwendigen Lebensunterhalt zu sichern, „gab es keinen Anhaltspunkt für die Vorstellung, die Familie sei primär ein Freiraum für die Entfaltung menschlicher Gefühle, für emotionale Befriedigung und psychische Absicherung ihrer Angehörigen“694. Jürgen Schlumbohm beobachtete, daß die Eltern „offenbar in der Regel recht wenig Zeit für ihre Kinder aufwendeten und sich nicht viele Gedanken um Erziehung und Erziehungsziele machten. Der Mann und oft auch die Frau waren so weitgehend – vielfach mehr als 12 Stunden am Tage – damit beschäftigt und belastet, für den Lebensunterhalt zu arbeiten, daß kaum Raum für eine aktive Beschäftigung mit den Kindern blieb.“695 Es war die normale Situation, daß „in der Arbeiterfamilie des 19. Jahrhunderts in der Regel eher [...] Gefühlskälte, Distanziertheit, Rigidität im Umgang herrschten und Zärtlichkeit fehlte“.696 Antje Hebbel ging gleichfalls außer Haus; wie es denn noch lange „ganz selbstverständlich“ war, „daß in einer ‚Handarbeiter-Familie geringster Classe‘ die Ehefrau und mindestens ein Kind mitverdienen müsse, um das Existenzminimum zu erreichen“.697 Allenfalls im gehobenen Bürgertum wurden „endlich Zärtlichkeit und körperliche Kontakte zwischen Mutter und Kind möglich. [...] „(nachgebautes) Geburtszimmer“ bezeichnet [ENGEL, Von Wesselburen in die Welt, S. 21; [SCHULZ], Kleiner Museumsführer, [3]; SCHULZ, Das Hebbel-Museum in Wesselburen, S. 178]. Theobald Bieder sprach 1927 noch schlicht vom „alten Zimmer“ [BIEDER, Führer durch das Hebbel-Museum, S. 8]. 689 STRECKER, Friedrich Hebbel, S. 30. 690 Dieses und das folgende Zitat: PROKOP, Die Illusion vom großen Paar, S. 385. 691 RÜNZLER, Vater-Sein, S. 27. 692 JEISMANN/LUNDGREEN, Handbuch der Bildungsgeschichte, S. 56. 693 HELD, Soziologie der ehelichen Machtverhältnisse, S. 55. 694 SCHLUMBOHM, Kinderstuben, S. 10. 695 SCHLUMBOHM, ‚Traditionale‘ Kollektivität und ‚moderne‘ Individualität, S. 270. 696 FERTIG, Zeitgeist und Erziehungskunst, S. 81. 697 FISCHER, Armut in der Geschichte, S. 61.

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Die mütterlichen Liebkosungen [...] zeugen von einer neuen Liebe zum Kleinkind. Um das alles zu leisten, muß die Mutter ihr Leben dem Kind widmen“698 (Abbildung 6). Dazu aber wird die Wäscherin, Näherin und Zugehfrau, Hausfrau, Amme und Mutter Antje Hebbel kaum fähig gewesen sein. Für ihre Lage gilt die Beschreibung Elisabeth Badinters: „Mit allen möglichen Aufgaben überhäuft, hat die Mutter keine Zeit, ihre Nachkommenschaft zu beaufsichtigen oder gar mit ihr zu spielen“.699 Dies zeigte sich schon bei der Säuglingspflege, wenn tatsächlich der zweijährige Friedrich seinen Bruder Johann und den mit ins Haus genommenen „fremden Bruder“ in den Schlaf zu wiegen hatte [HP I, 7]. Selbst das Wiegen als solches geschah weniger aus Fürsorge, sondern war eher ein brachiales Mittel, unruhige Kinder durch unablässiges und „unmäßiges Schaukeln in den Schlaf zu zwingen“,700 so daß Edward Shorter die Wiege „in den Händen von Bauern ein lähmendes und betäubendes Monstrum“ nannte. An den Kindern des Lehrers Dethlefsen übte Friedrich sein Wiege-Amt offenbar so gedankenlos bzw. ins Lesen vertieft aus, daß er, nach den scherzhaften Worten Dethlefsens, mehr als einmal „mit der Wiege zur Tür hinaus“ [HP I, 8] geriet. Auch das ältere Kind blieb eine „schwere Belastung“,701 der sich die Mutter „häufig gern entledigt, indem sie es, wenn es größer ist, draußen spielen läßt.“ Hebbel bestätigte dies und war bemüht, es im gleichen Atemzug zu beschönigen: „[W]ir spielten von früh bis spät, von der Betzeit bis zur Bettzeit, im Garten und hatten an den Schmetterlingen Gesellschaft genug“ [W 8, 85]. Wenn Badinter mit Blick auf das neue Bürgertum schrieb, die Aufsichtspflicht der Mutter sei „von unbegrenzter Dauer“,702 muß das Alleinlassen der Kinder bedenklich stimmen. Tatsächlich liefert Hebbels autobiographisches Gedicht Aus der Kindheit auch zu solchen Bedenken die passende Illustration. Der Knabe, der die Katze zu ertränken hat, springt ihr unversehens nach, was schlimm hätte enden können: „Eilte Peter nicht, der lange, [/] Gleich im Augenblick herzu, [/] Fände er, es ist mir bange, [/] Hier im Teich die ew’ge Ruh“ [W 6, 196]. Angesichts ihrer häufigen Abwesenheit ist verständlich, daß die Nachbarn „uns fast eben so viel galten, als die Mutter“ [W 8, 85], auch wenn sie den gleichen wirtschaftlichen Zwängen unterworfen waren: „Im Sommer hatten sie ihre Arbeit und konnten sich nur wenig mit uns abgeben, da war es aber auch nicht nothwendig, denn wir spielten von früh bis spät“ [W 8, 85]. Im Winter aber „ging fast Alles, was uns unterhielt und erheiterte, von ihnen aus“ [W 8, 85]. Aus bürgerlicher Sicht ist dies eine unverzeihliche Sünde am Kind. Schon 1794 lautete ein Ärztlicher Rat für die körperliche und seelische Gesundheit der Kinder: Kann diese Liebe und Sorgfalt der Mutter durch andere Menschen ersetzt werden? Nein, nichts kommt der mütterlichen Liebe gleich.703 BADINTER, Die Mutterliebe, S. 163. Ebd., S. 179. 700 Dieses und das folgende Zitat: SHORTER, Die Geburt der modernen Familie, S. 198. 701 Dieses und das folgende Zitat: BADINTER, Die Mutterliebe, S. 179. 702 Ebd., S. 167. 703 Zit. nach SCHLUMBOHM, Kinderstuben, S. 53. 698 699

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Solche Aufklärung blieb auch auf die Hebbel-Biographik, die Antje Margaretha Hebbel gemeinhin in Schutz nahm, nicht ohne Wirkung. So mußte Kurt Küchler – trotz bemäntelnder Mütterlichkeitsrhetorik – eingestehen: Auch die Mutter, die durch Botendienste dem Haushalt um ein kärgliches aufhalf, war ihrer Veranlagung nach nicht geschaffen, die ganze Wärme ihrer Liebe, die sie sicherlich [!] im Herzen trug, über die Kinder hinströmen zu lassen, obwohl sie mütterlich genug für die Kinder sorgte, sie reinlich hielt und ihnen, wenn’s der Vater nicht bemerkte, auch manchmal einen guten Bissen, einen Eierkuchen oder ein wenig Obst, zukommen ließ.704

Erst recht „der proletarische Vater fiel als Erzieher insofern aus, als er infolge der überlangen Arbeitszeit oft nur spät am Abend und sonntags anwesend war. [...] Eine innere Bindung der Kinder an den Vater war deshalb oft schon aus diesen Gründen unmöglich“.705 Auch Claus Hebbel hatte mit den Kindern und Kinderspiel gemeinhin wenig zu schaffen. In seinem Hause bildete eine einzige Ausnahme das Weihnachtsfest, dessen „Herrlichkeit […] zwei volle Tage“ dauerte706 und an dem sich ausnahmsweise auch er einmal mit seinem Nachwuchs beschäftigte. Von gewissen rollenbedingten Abweichungen abgesehen, werden sich die Eltern gegenüber den Kindern prinzipiell ähnlich verhalten haben. Denn die rechtlichen, moralischen und materiellen Grundlagen des Familienlebens in der traditionalen Gesellschaft wirken geschlechterübergreifend in ein und dieselbe Richtung; in der familiären Arbeitsgemeinschaft geht es primär nicht um die Individuen und ihre emotionale Beziehung zueinander. Daß sich die Kinder von früh bis spät ‚draußen vor der Tür‘ befinden, ist symptomatisch: Auch aufgrund der engen Wohnverhältnisse spielte sich das Leben auf der Straße ab. Andererseits waren die Familienmitglieder so auch räumlich eingebunden in die Kollektivität der Nachbarschaft: „Für gefühlsmäßige Bindungen und soziale Kontakte war außerhalb der Familie gesorgt; sie entwickelten sich in einem sehr dichten und warmen ‚Milieu‘, das sich aus Nachbarn, Freunden, [...] Kindern und Greisen, Männern und Frauen zusammensetzte“.707 Die Nachbarn kümmerten sich eben mit um die Kinder; Frau Ohl machte sich geradezu ein „Geschäft daraus, mir die Nägel zu beschneiden“ [W 8, 88]; der lange Peter war „im Augenblick“ zur Stelle, als das Kind ins Wasser gefallen war. „Wenn Licht angezündet wurde, gingen wir zum Nachbarn Ohl hinüber“, erzählte Hebbel, und seine Identifikation mit dem alten Mann ging so weit, daß er sich sogar dessen „beträchtlich geröthete[...] Nase [...] einmal mit Sehnsucht gewünscht haben soll, als ich, auf den Knieen von ihm geschaukelt, zu ihm hinauf sah“ [W 8, 85f.]. Auch diese „ausgeprägte Sozialität stand der Herausbildung des Familiengefühls lange Zeit entgegen, weil keinerlei Intimität aufkommen konnte“.708 Vor diesem Hintergrund kann nicht mehr überraschen, wenn Hebbel über seinen Vater sagt: „auch ich konnte ihn nicht lieben“ [T 1323] – denn dies wurde auch gar KÜCHLER, Friedrich Hebbel, S. 35. FERTIG, Zeitgeist und Erziehungskunst, S. 81. 706 T 1368. Vgl. dazu SCHOLZ, Vom ‚Brauch zum ‚Überfluß‘ – Der Wandel des Weihnachtsfestes am Beispiel Hebbels. 707 ARIÈS, Geschichte der Kindheit, S. 47. 708 Ebd., S. 547. 704 705

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nicht erwartet. Und wenn Kurt Küchler schreibt: „Der Vater blieb den Kindern immer fremd“,709 beschreibt er, ohne es zu wissen, eine emotionale Grundbefindlichkeit innerhalb der traditionalen Gesellschaft, nämlich die einer formalen Distanz zwischen Kindern und Eltern. Insofern irrt auch Hargen Thomsen, wenn er die VaterSohn-Dyade ahistorisch zum „Vertrauensverhältnis einer natürlicherweise [!] intimen Beziehung“710 stilisiert. Ilse Münch hingegen hat dieses Distanzverhalten an Friedrich Hebbel selbst konstatiert: „Auch dies Bedürfnis, einen Abstand zwischen sich und anderen zu schaffen, die Scheu, sein Innerstes zu zeigen, ist ein […] Zug, der Hebbel selbst eigen war und den fast alle seine Helden zeigen.“711 Allerdings sei dieser Zug – einmal mehr – ein „echt germanischer“. Dabei genügt der Blick auf die zeitgenössischen Verhältnisse. Der familiäre Liebes-Anspruch entwickelte sich weitgehend erst im 19. Jahrhundert. Wenn man aus Hebbels Satz, „auch ich konnte ihn nicht lieben“ [T 1323], ein spätes Bedauern herauslesen möchte, dann muß man zugleich den zeitlichen Abstand dieser Äußerung berücksichtigen, aus der ein – im Erwachsenenalter mühsam genug erworbenes – moderneres Familien-Bild sprach. Auch in dieser Hinsicht war Hebbel offenbar eine mentalitätsmäßig ‚gespaltene‘ Persönlichkeit, wenngleich er dies selbst verdrängte. Wie etwas fast Vergessenes und Fremdes tauchte die Problematik unversehens wieder auf: „Etwas nicht haben – ist es wohl Sünde? Z. B. Gefühl und Gemüth nicht haben. Wir denken (und wie schön ist dies) so edel von der Menschen-Natur, daß uns scheint, so edle Ingredienzien könnten Keinem fehlen, er müsse sie zerstört und ausgelöscht haben“ [T 1327]. Soweit die Theorie, der eine Vorstellung von erschreckender Zwiespältigkeit folgt: „Ein Mensch ohne Gefühl, der ahnt, daß er es ist“ [T 1327]. Im Märchen Die einsamen Kinder erscheint vor dem geistigen Auge des älteren Bruders „tänzelnd und spielend ein langer Zug kaum sichtbarer Gestalten, unter welchen Wilhelm mit Entsetzen seine Eltern erkannte. Diese geberdeten sich vor Allen lustig; sie hüpften an ihm vorüber und warfen, obgleich sie ihn wohl bemerkten, gleichgültige Blicke auf ihn“ [DjH II, 62]. Dieses Szenario ähnelt der Charakterisierung des Vaters, der „im Hause sehr ernster Natur, außer demselben munter und gesprächig“ [W 8, 82] gewesen sei. In der Zwiespältigkeit der Elternwahrnehmung deuten beide Zitate einerseits auf den sachlichen, den Pflichtcharakter der familiären Beziehungen hin, andererseits auf eine außerhalb des Familienverbands gesuchte und gefundene emotionale Befriedigung. Auch bei Wilhelm selbst verknüpfen sich die lustvollen Verheißungen mit der Aufgabe der brüderlichen Solidarität. All dies bedeutet wohlgemerkt nicht, daß Gefühle im traditionalen Geschlechterund Generationenverhältnis keine Rolle gespielt hätten. „Es war kein rohes und gänzlich unpersönliches Zweckbündnis“, meinte Richard van Dülmen, man habe sich durchaus vom Ehegatten „eine gewisse ‚Liebe‘ und ‚Affektion’“712 erhofft. Doch die Emotionen waren insgesamt stark situativ bedingt und höchst widerspruchsvoll, KÜCHLER, Friedrich Hebbel, S. 36. THOMSEN, Patriarchalische Gewalt, S. 20. 711 Dieses und das folgende Zitat: MÜNCH, Die Tragik des germanischen Wesens, S. 361. 712 VAN DÜLMEN, Vorbemerkung, S. 11. 709 710

Sachlichkeit statt Gefühl

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wobei „die Widersprüche mitten durch die Beteiligten durch gingen“.713 Wie und warum aber sollten und konnten diese verbalisiert werden? Selbst positive Gefühle äußerten sich „nicht über Empathie und Sprache, sondern durch Symbole und rituelle Verhaltensweisen.“714 Ins Monumentale gesteigert erscheint dies etwa bei den Eheleuten Herodes und Mariamne, die trotz gegenseitiger ‚romantischer‘ Liebe nur zu ‚rudimentären‘ Kommunikationsformen in der Lage sind – worüber der elaborierte dramatische Sprachcode Hebbels nicht hinwegtäuschen darf. Wie in Wesselburen gibt es auch hier „keine Geheimnisse, außer zwischen Mann und Frau“ [WAB 1, 77]; Vertreter der eigenen peer group wie Joseph oder, um ein weiteres Beispiel zu nennen, Gyges, scheinen den Protagonisten Herodes bzw. Kandaules näher zu stehen als die Partnerin. Auch Mariamne kommuniziert über zweideutige symbolische Akte wie den „Tanz auf dem Grab“, auch sie „ist nicht fähig, sich in andere einzufühlen“ 715 und empfindet stattdessen „nur den Eingriff in ihr Menschenrecht“. Recht oder Liebe – auch Hebbels Dramen sind interpretierbar als die Verwicklung bzw. AuseinanderSetzung traditionaler und moderner Bewußtseinsschichten. Für langfristige Verwerfungen im traditionalen ‚Gefühls-Haushalt‘ sorgte die Verschiebung der Machtverhältnisse bei der Ablösung der Generationen; „jeweils bei der Überschreitung einer Altersgrenze im Familienverband wurde eine andere Fähigkeit dominant“,716 der Alte, der vorher das Sagen hatte, mußte sich jetzt unterordnen. Lebensgeschichtlich schlug das Pendel „von der Unterordnung über die Unterdrückung zur Unterordnung zurück.“ Diese „widerspruchsvolle Aufgabe“717 erzeugte eine seelische Struktur, die gemessen an modernen Maßstäben ‚charakterlos‘ erscheint: „Stärke in einem psychologisch-relevanten Sinn war nicht das Ziel, sondern eine phasenweise Aktivierbarkeit der jeweils nötigen Fähigkeit. Das Ergebnis konnte im Grunde nur sein: stark gegen Schwache, schwach gegen Starke“. Angesichts der widersprüchlichen emotionalen Gesamtbefindlichkeit der Familie ließ sich Ordnung in konkreten Situationen nur durch eindeutige, autoritäre Strukturen herstellen. „Soweit die Familie dem heranwachsenden Kind im kleinen Bürgertum überhaupt das Bild einer in sich konsistenten Struktur bot, war sie offenbar geprägt durch die überlegene Machtstellung der Eltern, meist wohl besonders des Vaters, und durch einen sehr strengen Stil.“718 Die „freudlose Strenge“719 Claus Hebbels, die schon Emil Kuh hervorhob, ist daher nur rollengerecht. In solchen „positions-orientierten Familien“720 erfüllen die Eltern Autoritätsrollen, die dazu dienen, den vorgegebenen Regeln und Normen Geltung zu verschaffen und „Schuldigkeiten“ einzuklagen. Innerhalb einer solchen Familienstruktur sind die „Rollenvorschriften nach Alter, Geschlecht und Altersbeziehungen […] klar und genau definiert“, der JEGGLE, Kiebingen, S. 225. BREUSS, „Ein Gegenstand der ernsten Verantwortung“. Die Einstellung zum Kind, S. 136. 715 Dieses und das folgende Zitat: MÜNCH, Die Tragik des germanischen Wesens, S. 363. Hervorhebung C. S. 716 Dieses und das folgende Zitat: JEGGLE, Kiebingen, S. 151. 717 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 152. 718 SCHLUMBOHM, ‚Traditionale‘ Kollektivität und ‚moderne‘ Individualität, S. 272. 719 KUH, Biographie, Bd 1, S. 39. 720 Dieses und die folgenden Zitate: FEND, Sozialisierung und Erziehung, S. 207f. 713 714

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„Entscheidungsraum (discretion) der Kinder ist eng begrenzt“, Gehorsam besitzt oberste Priorität. Die Rollenkonformität wird „in erster Linie durch Gefühle der Scham unterstützt“, also durch die „Erfahrung der öffentlichen Erniedrigung in den Augen der Gruppenmitglieder. Es ist eine ‚Schande‘, bestimmte Regeln übertreten zu haben.“721 Überwiegend außengeleitet ist auch der – gleichwohl modern-verliebte – Gustav in Hebbels Räuberbraut, der den Gefahren der Gefühle erliegt, weil seine „Tugend“ keine verinnerlichte ist: Er ist „eine von denjenigen Naturen, die gut geblieben sind, weil keine Umstände [!] sie schlecht gemacht haben, und deren Tugend um deswillen auf Sand gebauet ist“ [W 8, 21]. Auch als Rächer seiner Schande ist er gewissermaßen eine unglückliche mentalitätsgeschichtliche Übergangsfigur: Er handelt ‚stark‘ gegen Schwächere; vor dem Stärkeren verliert er sich hingegen „[z]ähneknirschend […] in das Gebüsch“ [W 8, 19] – gemessen am modernen Tugendkatalog ist er ein gewissenloser Schurke. Solch kruder Außenlenkung steht die Erziehungspraxis in „person-orientierten Familien“722 diametral gegenüber. „Geduld und vernünftige Behandlung“, verbale Reaktionen oder wortlose Gesten des Lobes und Tadels von seiten der – hier für die Kinder emotional unvergleichlich wichtigen – Eltern ersetzten „Schläge“ oder doch ein gut Teil davon. „Launen und Eigensinn“ suchten diese Eltern in ihrem Verhalten gegenüber ihren Kindern zu vermeiden, die Erwartungen und Ansprüche an das Kind sollten konsistent sein. Bei den Sanktionen sollte es vor allem auf die innere Absicht der Kinder ankommen. Deutlich zeichnet sich hier als Ziel die Internalisierung der Normen durch das Kind, die Ausbildung eines ‚Gewissens‘ ab.723

Hier wird durch Gewissensbildung die „Entwicklung eines Ich begünstigt, dessen Verhalten weitgehend von verinnerlichten Normen und nicht so sehr von den Erwartungen und Regeln einer Gruppe“ 724 gesteuert wird. Dieser zweite, historisch spätere Familientypus breitete sich sozial nur allmählich von oben nach unten aus. „Die herrschenden Autoritätsverhältnisse und ihre Praktizierung durch die Hausväter zeigen, daß man von einer tatsächlichen Annäherung an das propagierte Leitbild der ‚bürgerlichen Familie‘ und ihrer (relativen) Partnerschaftlichkeit und emotionalen gegenseitigen Zuwendung noch weit entfernt war.“725 Weit entfernt von diesem Leitbild war auch die Kindheit Friedrich Hebbels. Die Sachlichkeit und Verrechtlichung der menschlichen Beziehungen führt auf einen durchgehenden Aspekt in Hebbels literarischem Werk, der in der Forschung schon oft im Zusammenhang mit „Verdinglichung“ und „Besitzdenken“ angesprochen worden ist. In einer an Martin Buber angelehnten Terminologie schrieb Ludger Lütkehaus, Hebbel habe in seinen Dramen „mit beklemmender Eindringlichkeit Konflikte vorgeführt, die darauf beruhen, daß dort „Ich–Es“ ‚gesagt‘ wird, wo „Ich–Du“ ‚gesagt‘ werden sollte. Immer wieder hat Hebbel Gestalten geschaffen, die Ebd., S. 209. Ebd., S. 207. 723 SCHLUMBOHM, ‚Traditionale‘ Kollektivität und ‚moderne‘ Individualität, S. 281. 724 Ebd., S. 284. 725 JEISMANN/LUNDGREEN, Handbuch der Bildungsgeschichte, S. 59. 721 722

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einem Menschen – oder einem Gott – als einem Es gegenüberstehen, das Grundwort Ich–Es zu ihm sprechen, für die er Ding unter Dingen und aus Dingen bestehend ist.“726 So kenne etwa Holofernes in seinem Umgang mit Menschen „letztlich nur die Alternativen […] Verdinglichen oder Verdinglichtwerden“.727 Schwerer tat sich die Forschung mit der historischen Einordnung dieser Phänomene. In seiner großangelegten Monographie Gegenwartsdarstellung. Verdinglichungsproblematik. Gesellschaftskritik bettete Lütkehaus sie ein in die sozioökonomischen Verhältnissse des sich entfaltenden Kapitalismus mit seiner „Grenzenlosigkeit des Macht- und Besitzwillens an sich“.728 Ähnlich beobachtete Ulrich Fülleborn in Hebbels Tagebüchern „die Übertragung der Vorstellung vom frei verfügbaren Besitz auf sämtliche Bereiche des Daseins, wobei das Geld, speziell Kapital und Zinsen zu bevorzugten Metaphern werden“, und sprach von „Hebbels Verführbarkeit durch das Besitzdenken an seiner dramatischen Gestaltung großer Individuen.“729 Weniger zeitbezogen argumentierte Ilse Brugger, die im Zusammenhang mit der „Mensch-Ding“-Problematik bei Hebbel gar dessen prophetische Gabe rühmte: „Hebbel hat in vielfacher Hinsicht der Zukunft vorbehaltene Entwicklungen vorausgeahnt, und seine eindringlichen Hinweise auf Gefahren, die mit der Verwandlung der Person in Ding verbunden sind, mögen uns heute als weithin leuchtendes Warnungssignal vor sehr wirklichen Bedrohungen erscheinen.“730 Zugleich aber erkannte sie in dieser Problematik ein „Urmotiv“, daß „notwendigerweise in der gesamten erlebnismäßig-schöpferischen Haltung des Dichters verwurzelt“, aber auch von einer „metaphysischen Reichweite“731 und „ewiger Gültigkeit“732 sei. Hebbel selbst hätte demgegenüber „z. B. im Hinblick auf Herodes und Mariamne oder Gyges und sein Ring vielleicht zu ausschließlich die geschichtliche Konstruktion betont und gerade von der Mensch-Ding-Problematik versichert, es handle sich um Zustände, die mit dem Heraufkommen zivilisierterer Zeiten und verfeinerter Begriffe überwunden worden seien.“ Alle diese Überlegungen lassen das Naheliegende aus. „Besitzdenken“ und „Verdinglichung“, die „durch und durch versachlichten Beziehungen zwischen Menschen“733 sind ein prominentes Merkmal der traditionalen Mentalität. „Man mußte die Menschen so in der Erziehung hinkriegen, daß sie die Dinge nicht beeinträchtigten, denn die Dinge waren unersetzlich, nicht die Menschen. […] Zu was kann man das brauchen – das ist die Basisfrage“.734 Mit dem „Heraufkommen zivilisierterer Zeiten“ mochten solche Denkweisen allmählich überwunden werden. Doch geschah dies nicht in ferner Vergangenheit, sondern war Teil von Hebbels eigener Biographie. Den ‚zivilisierten‘ Zeitgenossen waren solche Erfahrungen kaum mehr verständlich. So wußte Hebbel „voraus“, daß Gyges und sein Ring LÜTKEHAUS, Verdinglichung, S. 85. Ebd., S. 90. 728 Ebd., S. 88. 729 FÜLLEBORN, Besitzen als besäße man nicht, S. 213. 730 Dieses und die folgenden Zitate: BRUGGER, Die „Mensch-Ding“-Problematik bei Hebbel, S. 67. 731 Ebd., S. 69. 732 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 76. 733 JEGGLE, Kiebingen, S. 148. 734 Ebd., S. 230. 726 727

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beim Publikum „einen schweren Stand haben“ würde, denn: „Es ist nicht leicht, sich aus der modernen Welt heraus in eine Anschauung zu versetzen, wornach das Weib bloß Sache war“ [WAB 3, 383]. Hebbels poetische Verarbeitung bedeutete auch eine Distanzierung von der eigenen Vergangenheit, die „geschichtliche Konstruktion“ war eine ‚Schutzbehauptung‘, die ihn der Beantwortung peinlicher Fragen enthob. In seinen Werken hingegen münden solche Distanzierungen in tragische – oder komische – Auseinandersetzungen. Psychosoziale Risse werden dadurch nicht bloß freigelegt, sondern oftmals erzeugt, was die Frage nach der Schuld unlösbar machen kann. Die „Funktionsbestimmung der Kinder als Prestige-, als Reputationswert und die zugehörigen Rollendiktate“,735 die Ludger Lütkehaus an Karl und Klara in Maria Magdalena konstatiert und die er im Moloch, im Vatermord, in Agnes Bernauer, Barbier Zitterlein und Julia wiederfindet, sind Elemente der traditionalen Familienstruktur. Die bei Hebbel in unterschiedlicher Weise motivierte Totalisierung dieser Ansprüche jedoch, die etwa bei Zitterlein aus Angst und Liebe erwächst, paßt nicht mehr zum durchaus ökonomisch-pragmatischen Denken dieser Mentalität. So sind Hebbels Texte aus mentalitätsgeschichtlicher Sicht durchaus hybride Gebilde: Die traditionalen Stoffe brauchen die moderne Anreicherung und Perspektive, um tragikfähig zu werden.

Elterliche ‚Gewalt‘ und Strafe Die Aufrechterhaltung nicht einer ‚prästabilierten Harmonie‘, wohl aber der gottgewollten Ordnung erfolgte vor allem durch Bestrafung. Weit verbreitet in der traditionalen Gesellschaft war eine Anschauung, die „Erziehen und Strafen teilweise geradezu gleichsetzte“.736 Auch hierfür ist Hebbel der beste Zeuge. Signifikant ist eine von ihm beobachtete „Scene in Töning, wo ein fast ertrunkenes Kind von einem Anderen mit Lebensgefahr gerettet wurde, und der Vater des Kinds es abprügeln wollte, weil es in’s Wasser gefallen war“ [T 359]. Nicht Freude über die Rettung des Kindes, nicht Dankbarkeit gegenüber dem Retter, sondern der Straf-Vollzug war hier erster Gedanke des Vaters. Strafen war durchgängig noch im 18. Jahrhundert „so selbstverständlich und unproblematisch wie etwa das Füttern der Kinder oder ihre Anleitung zum Beten“;737 im frühen 19. Jahrhundert hatte sich in Dithmarschen daran kaum etwas geändert. Strafen bedeutete fast selbstverständlich auch die Ausübung körperlicher Gewalt, nicht nur im privaten Rahmen: „In der alten, der vorbürgerlichen Gesellschaft wurde die Verletzung der herrschenden Normen durch unmittelbaren Gebrauch von Körpergewalt […] geahndet und öffentlich bestraft“738. Das Gewaltprinzip besaß praktisch universale Geltung und durchgängige Akzeptanz. Der Vater nehme „den Sohn gerne auf’s Knie und erzählt ihm von den Schlägen, die die Dänen bekommen haben“ LÜTKEHAUS, Friedrich Hebbel. Maria Magdalene, S. 51. FERTIG, Zeitgeist und Erziehungskunst, S. 99. 737 Ebd., S. 99. 738 Dieses und das folgende Zitat: RICHTER, Das fremde Kind, S. 53f. 735

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[WAB 2, 548], berichtete Hebbel über die Dithmarscher in seinem autobiographischen Brief an Arnold Ruge. Der eigene Vater hielt es mit seinen Söhnen „wie Friedrich der Große mit seinen Officieren, indem er sie bestrafte, wenn sie sich prügelten, und sie verhöhnte, wenn sie sich etwas bieten ließen“ [W 8, 116]. Wenn der kleine Friedrich sich mit anderen Jungen schlug, „stieg [ich] dafür im Ansehen bei meinem Vater“ [W 8, 116]. Das war keineswegs die Ausnahme: „Wehr dich brav, so bistu mein Kind“,739 war die gängige Losung von Eltern. Erziehung wurde mit Körpergewalt oftmals gleichgesetzt. Speziell über Norderdithmarschen berichtete Ernst Erichsen: „Erziehen hieß eben noch, Muskelkraft schrankenlos walten zu lassen oder sich gleichgültig zu stellen. Der humanen Auffassung der Neuzeit begegnen wir noch selten“.740 In diesen Kontext sind Hebbels ‚einschlägige‘ Kindheitserinnerungen einzuordnen: „Ich träumte mich neulich ganz und gar in meine ängstliche Kindheit zurück, es war nichts zu essen da und ich zitterte vor meinem Vater, wie einst“ [T 937], vertraute Hebbel 1837 dem Tagebuch an. Die Angst hatte vor allem einen Grund – die regelmäßige Züchtigung: „In meiner Jugend wurde mein Geburtstag dadurch gefeiert, daß ich am 18ten März von meinem Vater keine Schläge erhielt; wenn ich sie verdiente, bekam ich sie am nächsten Morgen“.741 Was aus heutiger Sicht gerade grausam wirkt, unterstreicht eigentlich nur die Regularität, den rechtlichen Charakter der Strafe, die aufgeschoben, nicht aber aufgehoben werden kann. Prügel wurden aber wohl auch ‚vorsorglich‘ ausgeteilt, wie eine knappe Notiz Hebbels andeuten mag: „Die Peitsche, die ich fand und womit ich gezüchtigt wurde“ [W 15, 11]. Auch diese Praxis darf nicht überraschen; körperliche „Züchtigung“ war, wie der Begriff selbst andeutet, integraler Bestandteil von „Zucht“ und Ordnung. Denn die „Natur im Kinde“ 742 war „Symbol des Bösen, Träger der Erbsünde. Hier wurde die verderbte menschliche Natur sichtbar; sie – und damit das Kind – mußte in der Vorstellung dieser Zeiten bekämpft werden“. Zittern sollte es letztlich vor dem höheren Vater, zur „Vermittlung der Gottesfurcht […] gehörte es auch, die Kinder zu zügeln und zu strafen.“ So befremdlich, ja makaber es klingen mag; Prügel zu verabreichen, galt geradezu als christliche Pflicht: Es wäre auch sündhaft gewesen, den Kindern nicht permanent die Schranken zu zeigen und mit Schlägen zu sparen. Im Alten Testament war nachzulesen, wie man es mit der Strafe zu halten hatte, etwa in den Sprüchen Salomos: „Wer wider die Strafe halsstarrig ist, der wird plötzlich verderben ohne alle Hilfe.“ „Rute und Strafe gibt Weisheit; aber ein Knabe, sich selbst überlassen, macht seiner Mutter Schande.“ „Züchtige deinen Sohn, so wird er dich ergötzen und wird deiner Seele sanft tun.“ In allen Konfessionen hielt man sich über Jahrhunderte an die alttestamentarische Strenge. Tief geprägt vom Erbsündendogma, war man im allgemeinen eher für striktes Bändigen als für freie Entfaltung, eher für Gewalt als für Sanftheit. Die Strafe wurde nicht so sehr als notwendiges Übel verstanden, das man minimieren müsse, sondern als geradezu metaphysische Größe, deren Berechtigung gar nicht in Frage gestellt wurde. Wie Gott zu Gericht saß über die Menschen und die Obrigkeit über die

Zit. nach SCHLUMBOHM, ‚Traditionale‘ Kollektivität und ‚moderne‘ Individualität, S. 276. ERICHSEN, Schulgeschichte der Landschaft Norderdithmarschen, S. 106. 741 WAB 4, 17; vgl. T 3977. 742 Dieses und die folgenden Zitate: FERTIG, Zeitgeist und Erziehungskunst, S. 3. 739 740

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Untertanen, befanden auch die Eltern über die Kinder. Furcht und Schrecken zu verbreiten war Christenpflicht; Mitleid zu empfinden konnte für alle Beteiligten böse Folgen haben. 743

Angesichts einer außengeleiteten Mentalität, bei der normkonformes Verhalten nur „eine Notwendigkeit sozialen Lebens“, nicht auch „ein Bedürfnis des Individuums“744 war, waren Gott und Vater unverzichtbare externe Strafinstanzen. Dem Vater war „ein Amt gegeben, und Gottes unbewegter Blick, den er auf sich ruhen fühlte, bestätigte täglich das Amt. Aufgetragen war ihm, seinerseits mit solchem Auge auf seine Kinder zu blicken“.745 Wie selbstverständlich war dabei „das Urteil des Vaters zugleich das Urteil Gottes“. Nur die permanente und personifizierte Androhung von Sanktionen konnte den nicht über interne Kontrollen verfügenden Einzelnen „zu normkonformem Verhalten motivieren“.746 Wenn Albrecht Janssen also mit direktem Bezug auf den prügelnden Claus Hebbel schrieb: „Er ist sicherlich fleißig zur Kirche gegangen und muß doch wohl gemerkt haben, daß die Lehren Christi und seine Taten im schreienden Kontrast standen“,747 dann beweist dies nichts als eine Unvertrautheit mit den mentalitätsgeschichtlichen Zusammenhängen. Denn Friedrich begriff gerade am „Gräuel der Verwüstung“ [W 8, 92], den ein Gewitter im Vaterhaus angerichtet hatte, nicht nur, daß „Dinge geschehen, welche den Eltern so unwillkommen sind, wie ihm selbst die Schläge“ [W 8, 91], sondern auch, „warum mein Vater des Sonntags immer in die Kirche ging […]; ich hatte den Herrn aller Herren kennen gelernt“ [W 8, 92]. Das heutige Erstaunen darüber, „daß die Erziehungsmethoden des Vaters recht gewalttätiger Art waren“, sollte auch nicht dazu führen, daraus umstandslos einen „Todeswunsch wider den Vater“ abzuleiten,748 wie Hargen Thomsen es tat. Wenn Hebbel seinen Vater fürchtete, so war damit vor allem eines erreicht – das Erziehungsziel. Lediglich Wilhelm Meyer-Voigtländer widersprach in diesem Punkt dem allgemeinen Tenor der Hebbel-Biographik: Für Claus Hebbel spreche, „daß er seine Jungen nicht mehr züchtigte, als es damals zeitüblich war“749 und daß er „trotz der ihm nachgesagten Brutalität dennoch nicht hart genug gewesen ist, die Schutzmauer, welche die Mutter um ihren Ältesten errichtet hatte, rücksichtslos einzureißen und sich und seinen Willen [...] durchzusetzen“.750 So gelangte er zu dem Ergebnis: „Nein, mir will scheinen, als sei Hebbels Vater das Gegenteil eines brutalen Menschen gewesen, er war nicht zu hart, er war im Kern seines Wesens zu weich, und seine Härte war nichts anderes als ein geliehener Mantel“.751 Auch diese Aussagen sind freilich nicht ganz frei von interpolierender subjektiver Einfühlung. Dabei sollte es weder darum gehen, Claus Friedrich Hebbel zu ‚entschuldigen‘, noch darum, die Ängste des Sohnes zu bemänteln. Angemessen ist vielmehr, die heute fremd anmutenden VerEbd., S. 99. FEND, Sozialisierung und Erziehung, S. 155. 745 Dieses und das folgende Zitat: MATT, Verkommene Söhne, S. 308. 746 FEND, Sozialisierung und Erziehung, S. 154. 747 JANSSEN, Die Frauen rings um Friedrich Hebbel, S. 8. 748 THOMSEN, Grenzen des Individuums, S. 148. 749 MEYER-VOIGTLÄNDER, Der Vater Friedrich Hebbels, S. 140. 750 Ebd., S. 145f. 751 Ebd., S. 139. 743 744

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haltensweisen vor dem Hintergrund der Mentalität der Zeit und der konkreten Lebenssituation Friedrich Hebbels zu bewerten. Der prügelnde Vater war keineswegs die monumentale ‚Ausnahmeerscheinung‘, zu der er im Nachhinein von der HebbelBiographik stilisiert wurde. Das zeigt auch ein Blick über die Familie hinaus. In der Schule war „das wichtigste Erziehungsmittel [...] der Rohrstock. Durch ihn lernten die Kinder von kleinauf, daß Schlagen und Geschlagenwerden zu den rechtmäßigen Mitteln der Macht gehören“.752 Eine ‚kreative‘ Erweiterung der Strafmaßnahmen konnte hingegen schnell negativ sanktioniert werden, wie ein von Hebbel erzähltes Beispiel zeigt: Der Lehrer der Elementarschule, „lange Zeit wegen seiner strengen Zucht höchlich gepriesen, hatte ein naseweises kleines Mädchen zur Strafe für irgend eine Ungezogenheit entblößt auf den heißen Ofen gesetzt, vielleicht um ein noch größeres Lob davon zu tragen, und das war denn doch auch den unbedingtesten Verehrern der Ruthe zu stark gewesen“ [W 8, 105]. Dieser Lehrer wurde entlassen – ein Zeichen dafür, daß auch körperliche Strafen im Rahmen sanktionierter Formen bleiben mußten. Ungesühnt blieb aber wohl die Tat von Hebbels Großvater Christian Schubart an seinem ältesten Sohn Daniel: „Durch den Großvater […], so geschlagen auf Anreizung der Schwiegermutter, daß er Blut spie, dann starb“ [W 15, 14], notierte Hebbel im Protokollstil. Daniel wurde achtzehn Jahre alt; der Großvater war „sonst mild“ [W 15, 14]. Daß man auch einmal ‚zu fest‘ zuschlug, konnte passieren und hatte offenbar keine strafrechtlichen Konsequenzen. Der Grundsatz „Schont ihn, er ist noch ein Kind!“ war in der traditionalen Gesellschaft ohnehin ein „wenig gekannter und kaum beherzigter Grundsatz“.753 Einmal mehr öffnen Hebbels unscheinbare Notizen zur Biographie ein winziges Fenster zu einer anderen Welt. Wie weit entfernt scheint hier der Gedanke der Aufklärung, die Gesundheit des Kindes sei „Hauptgegenstand der elterlichen Besorgnis“!754 Doch Hebbel war selbst Teil dieser Welt und handelte nach ihren Maximen. Ein weiterer knapper Beleg aus seinen Notizen spricht Bände: „Mops, zum Tode verurtheilt, weil er den Pinsel fortgeschleppt. Wie ich ihn peitschte“ [W 15, 13]. Was beim Mops recht war, konnte beim Max nur billig sein. Erst angesichts des Todes seines dreieinhalbjährigen Söhnchens Maximilian gestand Hebbel sich ein: „Und wie oft war ich hart, grausam gegen das Kind, wenn es mir in meinen finstern Stimmungen in seiner rührenden unschuldigen Lebenslust entgegen trat!“ [T 2805] Das Verhalten, das er an seinem Vater beklagte, hatte Hebbel am eigenen Sohn reproduziert – mit einem entscheidenden Unterschied: Während Claus Hebbel noch ganz in eine kollektive Mentalität eingebunden war, hätte Friedrich Hebbel durchaus über Verhaltensalternativen verfügt. Die tatsächliche Gespaltenheit seiner Haltung kommt in dem Wörtchen ‚rührend‘ zum Ausdruck. Was er selbst im Nachhinein für rührend hielt, hatte ihn früher vollkommen ungerührt gelassen. Auch die bewußte Parallelisierung von Lebenslust und Unschuld läßt die radikale gedankliche Umwertung noch durchscheinen: In der überkommenen Ordnung war Lust mit dem glatten Gegenteil, mit Schuld verbunden gewesen, der durchaus „hart, grausam“ zu begegnen war. WEBER-KELLERMANN, Landleben im 19. Jahrhundert, S. 105. RICHTER, Das fremde Kind, S. 54. 754 BADINTER, Die Mutterliebe, S. 165. 752 753

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Kindliche „Unschuld“ ist demgegenüber erst eine späte Entdeckung des bürgerlichen Zeitalters. Der quasi universale Geltungsbereich des Gewaltparadigmas machte auch vor dem Verhältnis zwischen Mann und Frau nicht halt – mit einer bezeichnenden Asymmetrie. Denn in der patriarchalischen Gesellschaft besaß der Mann in letzter Instanz das Herrschaftsmonopol „einschließlich Strafgewalt und Züchtigungsrecht“.755 Wo „alle Beziehungen innerhalb der Familie […] im Innersten nicht von Zärtlichkeit, sondern von Furcht bestimmt waren“, prägten „Gewalttätigkeit und Strenge“ auch „das Los der Ehefrau“.756 Offenbar schlug auch Claus Hebbel seine Frau, wenn sie, wie Hebbel etwas verklausuliert überlieferte, mitunter „über sich selbst etwas Hartes, woran es wahrlich im eigentlichsten Sinne des Wortes nicht fehlte, ergehen“ lassen mußte [T 1295]. Doch das heißt eben noch nicht, so Edward Shorter, „daß die kleinbürgerlichen Ehemänner alle Bestien gewesen und ihre Frauen brutal behandelt worden wären, sondern eher, daß jeder einem genau festgelegten Rollenverhalten zu folgen hatte.“757 Wenn umgekehrt bekannt wurde, daß eine Frau ihren Mann schlug, wurde diese Rollenübertretung mit Katzenmusiken oder anderen brauchtümlichen Formen angeprangert und gerügt. Denn „für das traditionelle Paar waren die Rollen der Gesellschaft absolut bindend, und die Gemeinschaft strafte jene mit Spott und Hohn, die versuchten, sie zu überwinden.“758 Gerade hinsichtlich der körperlichen Gewalt gegen die Frau widersprechen sich traditionale und moderne Mentalität auffällig; ihre Konfrontation muß daher zu besonders grotesken Effekten führen. Hebbel notierte einmal als „[s]eltsames Idyll“: „Ein Russe, der seine Frau so zärtlich liebt, daß er ihr kein Haar auf dem Haupt krümmen mögte. Die Frau dagegen theilt den allgemeinen Volksglauben und zweifelt an seiner Liebe, weil er sie nicht prügelt, weint, ist unglücklich“ [T 3825]. Schon in seinem frühen, unausgeführten Drama Die Dithmarschen hatte er eine vergleichbare Szene geplant. Ausgehend von der aktiven Rolle der Frauen in der Schlacht bei Hemmingstedt gegen König Johann von Dänemark notierte er sich als burlesken Zug: „Die Weiber, beleidigt, daß er auf sie Rücksicht nimmt“ [W 5, 80]. Vor diesem Hintergrund ist interessant zu beobachten, wie Antje Margaretha Hebbel das ihr übertragene erzieherische Amt gegenüber dem Sohn ausübte. „Die äußerst gutherzige Mutter sah ihm vieles nach, was der strenge Vater mit harter Rede oder derber Züchtigung strafte“,759 schrieb Karl Zeiß gemäß der Theorie polarer Geschlechtscharaktere. Von liebevoller Zärtlichkeit Antje Hebbels ist allerdings nichts bekannt, wohl aber von Strenge und harten Strafen. Im Falle des todeswürdigen, weil diebischen Kätzchens trägt sie das Urteil des Vaters trotz der flehentlichen Intervention des Sohnes („Mutter, laß das Kätzchen leben“ [W 6, 195]) voll mit: „Nein, der Vater hat’s geboten, / Hundert Mal ist ihr verziehn! [...] Einerlei! Ihr Tag erschien!“

Brockhaus Enzyklopädie, Bd 14, S. 303. BADINTER, Die Mutterliebe, S. 33f. Vgl. die Äußerungen Klaras [W 2, 57], die Utz Jeggle als geradezu exemplarisch ansieht: „Es gab viele Klaras“ [JEGGLE, Kiebingen, S. 151]. 757 SHORTER, Die Geburt der modernen Familie, S. 80. 758 Ebd., S. 84. 759 ZEISS, Hebbels Leben und Werke, S. 8f. 755 756

Elterliche ‚Gewalt‘ und Strafe

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[W 6, 195]. Keinen Erfolg haben auch die Bitten des Schulschwänzers nach seiner Entdeckung durch die Mutter, ihn nicht an die Mitschüler ‚auszuliefern‘: […] meine Mutter aber, das ganze Gesicht eine Flamme, […] packte mich bei Armen und Haaren, um mich noch in die Schule zu bringen. Ich riß mich los, ich wälzte mich auf dem Boden, ich heulte und schrie, aber Alles war umsonst, sie schleppte mich, viel zu empört darüber […], um auf mich zu hören, mit Gewalt fort […], während Susanna [die Lehrerin], die einsehen mogte, daß die Lection zu streng war [!], mich zu begütigen suchte.760

Wie anders dagegen geht etwa zur gleichen Zeit (1836) Die erzählende Mutter im gleichnamigen Geschichtenbuch von Franz Hoffmann mit ihrem säumigen Sohn um: „Wo bist du gewesen, mein Sohn?“, fragte sie. – Max hat die Schule geschwänzt, und er belügt die Mutter, aber weil er einsichtig ist, wird er dafür nicht bestraft. „Damit du aber kennen lernst, wie viel Unheil die Lüge anrichtet, und wie sehr der Lügner sich selbst schadet, will ich dir heute Abend die Geschichte eines lügenhaften Knaben erzählen“.761

Die ‚unaufgeklärte‘ Pädagogik Antje Margaretha Hebbels bediente sich handfesterer Mittel. Sie prügelte ihren Sohn auch wegen einer unabsichtlich verlorenen Münze, und das, obwohl er treuherzig eine zufällig gefundene zweite vorlegte: Ein anderesmal hatte ihm die Mutter einen Schilling, um Essig damit zu kaufen, gegeben. Blumen und Schmetterlinge jedoch lockten ihn auf eine Wiese, wo er das Geldstück verlor. Da fand er auf dem traurigen Heimwege zu seiner freudigen Überraschung einen zweiten Schilling. Zu Hause angelangt, prahlte er mit der gefundenen Münze, diese aber wurde durchaus nicht in Rechnung gebracht, er empfing eine Züchtigung […] und obendrein den Auftrag, den Essig zu borgen.762

Neben körperlicher Gewalt zeichnet sich bei diesen Exempeln ein zweiter Typus der Strafe ab, der nicht weniger archaisch wirkt, und sich am ehesten als „spiegelnde Strafe“ ansprechen läßt. Die Sanktion äußert sich dabei im Ausagieren einer Handlung, „deren Vollzug in der Öffentlichkeit für diese den Zusammenhang mit dem betreffenden Delikt erkennen ließ, es gewissermaßen wie in einem Spiegel zeigte, und durch die Grausamkeit von der Begehung dieses Delikts abhalten sollte.“763 Indem sie die Absurdität der Normverletzung öffentlich und plastisch vor Augen führt, appelliert die Bestrafung weniger an ein internalisiertes Schuld- als an ein offenes Schamgefühl. So wird der Schulschwänzer zur Schule geschleift, obwohl, oder besser: weil der Unterricht im gleichen Augenblick vorbei ist und der Missetäter von seinen Mitschülern ausgelacht wird. Und so wird der Knabe, obwohl er doch das Geld zum Kauf noch immer in der Tasche hat, zur eigenen Schande noch einmal ausgeschickt, nun, um den Essig zu borgen. Auch die Vernichtung des corpus delicti, der ein frühes ‚Werk‘ Hebbels zum Opfer fiel, gehört in den Kontext der spiegelnden Strafen: W 8, 96. Vgl. auch T 2520. RICHTER, Das fremde Kind, S. 104. 762 KUH, Biographie, Bd 1, S. 34. 763 HOKE, Österreichische und deutsche Rechtsgeschichte, S. 126. 760 761

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In seinem zehnten Jahre dichtete er einen Evolia, der Räuberhauptmann. [...] Schon dieses Erstlingswerk hatte ein Schicksal. Er betrug sich nämlich unartig gegen seinen jüngeren Bruder, indem er ihn mit dem Fuße in den Leib stieß, weil der neugierige Johann einmal in sein Buch hatte schnappen wollen, und da die Mutter, welche eben für den Mittagstisch kochte, Zeuge der Szene ward, so erwischte sie das Manuskript mit der Herdzange und steckte es ins Feuer. So fand der Evolia sein Ende.764

Das gleiche Verhalten übte auch der Vater, als er das vom Sohn heimlich gelesene Volksbuch über die Schildbürger, „wie eine gefährliche Schlange, ins Feuer“765 warf, oder als er „die mir von Harding geliehene Zeichnung (eine Weintraube) zerknitterte, weil er über die Zeit, die es kostete, verdrießlich war“ [T 2647]. Was in seinen Augen ohnehin wertlos ist – die verkehrte Welt der Schildbürger ebenso wie die falsche Traube – wird auf handgreifliche Weise in seiner Wertlosigkeit vorgeführt. Als spiegelnde Strafe läßt sich auch die Reaktion des Vaters interpretieren, als sein Sohn das ‚Kornarten-Examen‘ so „schlecht bestand: [...] Dann warf er mir die Stachelbeeren, die er, zu meiner Belohnung bestimmt, in der Tasche getragen hatte, an den Kopf“ [T 4876]. Was auf den ersten Blick bloß impulsiv oder gehässig wirkt, erweist sich bei näherem Hinsehen als pädagogische Demonstration: Wer die Getreidearten nicht kennt, der verachtet die Grundlagen der Ernährung. Dies wird dem Sohn als ‚verkehrte Welt‘ in Form der buchstäblichen Verschwendung der Beeren vorgeführt.766 Diese Kommunikation funktioniert auch ohne Worte, ist über Symbole vermittelt und starr an gegebenen Normen orientiert. Weit entfernt ist diese Praxis vom „Gesetz“ und „Lust“ verknüpfenden „psychologischen Diskurs“ der modernen Familie, wie ihn Friedrich Kittler in seiner Studie über Dichter – Mutter – Kind charakterisiert: Der psychologische Diskurs besteht aus Stimmen, die zu einer verschmelzen: zur „Vernunft“, die „mit sanfter Stimm’“ spricht. […] Erziehend und bildend, läßt der psychologische Diskurs die Liebe zwischen den Familienmitgliedern zirkulieren. Er trägt die Imago des idealen Vaters in ihrer aller Herzen. Er bewegt sie dazu, den psychologischen Diskurs fortzusetzen und so einander ihre Innerlichkeiten zu offenbaren.767

Nur ganz langsam faßte eine veränderte Einstellung Fuß, die besagt: „Das Kind ist nicht amoralisch, für sittliche Unterscheidungen unempfänglich, ‚roh’“.768 Allgemeiner schreibt Dieter Richter: „Erst mit der zunehmenden Distanz zwischen Erwachsenen und Kindern entwickelt sich allmählich jene Haltung, die körperliche Attacken gegen Kinder nach Möglichkeit zu vermeiden trachtet“. Doch die „nicht zu den oberen und KUH, Biographie, Bd 1, S. 52. WERNER, Friedrich Hebbel. Ein Lebensbild, S. 27. 766 Literarisch gesteigert kehrt dieses ‚spiegelnde‘ Prinzip etwa in der Selbstverdammung Golos in der Genoveva wieder: In metaphorischer Verquickung mit dem Sisyphus-Mythos wird ihm seine Tat zum Stein, „und mir ist’s recht, wenn sie zuletzt, [/] Herunter rollend, mich zermalmt!“ [W 1, 199]. 767 KITTLER, Dichter – Mutter – Kind, S. 53f. 768 HENTIG, Vorwort, S. 10. 764 765

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mittleren Schichten gehörenden Kinder [...] sind nach wie vor [...] Opfer direkten körperlichen Zwangs“. So setzt sich „das neue Gewaltparadigma“ erst „im 19. und 20. Jahrhundert allmählich auch ‚nach unten‘ durch“.769 Claus Hebbel steht dagegen in einer ganz anderen Tradition, und auch Antje Hebbel war kaum die „verstehende Mutter“,770 zu der sie nicht nur Hermann Nagel stilisierte. Friedrich Hebbel aber, der seinen Mops erst „peitschte“, dann „für ihn bat“ [W 15, 13], der unter seinem Vater litt und seinen Sohn leiden ließ, steht gleichsam zwischen den Zeiten. Diese aus moderner Sicht schwer nachfühlbaren mentalitätsgeschichtlichen Fakten müssen auch in die Deutung der Werke einbezogen werden. Dabei dürfen sie weder zu individuellen Charakterdeformationen erklärt, noch zu mythischen Werten monumentalisiert werden. So erscheint höchst fraglich, ob man bei der Interpretation von Frühwerken Hebbels wie Rosa [W 7, 28] oder Ritter Fortunat mit Wolfgang Wittkowski ein „Racheethos“ bemühen muß, in dem „ein Empfinden vorchristlich-germanischer Provenienz herrscht“,771 das als „altjüdisches, germanisches [!] Ethos“772 anzusprechen sei. Dieses Überspringen der Geschichte, das durch die historische Motivik keineswegs gerechtfertigt ist, kehrt die Zusammenhänge um: Auch Hebbels Weg zu den Nibelungen begann bei den Voraussetzungen der eigenen Zeit. Wittkowskis Ringen um Begriffe zeigt, wie sehr die traditionale Mentalität des frühen 19. Jahrhunderts schon im toten Winkel des modernen Bewußtseins liegt.

Keine ‚Kindheit‘ Der Tod eines Kindes wird in der heutigen Gesellschaft meist als das größte Unglück empfunden, das eine Familie treffen kann. Die traditionale Gesellschaft verhielt sich auch in dieser Hinsicht vollkommen anders. „Die Ratgeberliteratur bereitete Eltern auf den Tod von Neugeborenen und Kleinkindern vor, deren Ableben nicht dieselbe Art von Gram hervorrief, wie bei den älteren Kindern; denn die Verhältnisse befahlen, daß man sich selbst und der Nachkommenschaft das Äußerste an Enttäuschung ersparte. Also setzte man auch keine speziellen Erwartungen in diesen Jungen oder jenes Mädchen, nicht einmal dann, wenn das Kind schon über Zehn war“.773 Zumal die jüngeren Kinder wurden häufig „als jemand betrachtet, der entbehrlich war“. Sie waren „eine Art Überschuß, dessen Verwertbarkeit sich drastisch verringerte, wenn erst einmal der älteste Sohn […] das Anwesen übernommen hatte“. Der Umstand, daß Nachwuchs sich pünktlich ‚alle Jahre wieder‘ einstellte, veranlaßte Hebbel zu einer – heute geschmacklos anmutenden – Weihnachtsbotschaft an den Redakteur Fischer: „Für den Weihnacht weiß ich Ihnen Nichts zu wünschen, so wenig Christgeschenke, als Kindlein; für jene ist man zu alt, sobald das zwölfte Jahr überschritten ist, und RICHTER, Das fremde Kind, S. 54. NAGEL, Friedrich Hebbels Ahnen, S. 27. 771 WITTKOWKI, Der junge Hebbel, S. 107. 772 Ebd., S. 67. 773 Dieses und das folgende Zitat: GILLIS, Geschichte der Jugend, S. 27. 769 770

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diese würden Ihnen vermuthlich zu unbequem fallen“ [WAB 1, 66]. Aus der lapidaren und eher ablehnenden Haltung gegenüber Kindern wie Weihnachtsgeschenken spricht jedoch nur eine traditionale, unter Zeitgenossen offenbar konsensfähige Einstellung. Auch der frühe Tod von Kindern gehörte zur Normalität. Der Blick auf Hebbels nächste Verwandtschaft macht dieses Faktum in aller Drastik deutlich. Christian Schubart, der Großvater Friedrich Hebbels, war das einzige überlebende von drei Kindern, nachdem die älteren Geschwister über das erste Lebensjahr nicht hinausgekommen waren. Von seinen Kindern starben gleichfalls zwei im Alter von unter zwei Jahren. Auch Claus Hebbel hatte einen älteren Bruder, der im Alter von nicht einmal fünf Jahren gestorben war.774 Von Friedrich Hebbels vier leiblichen Kindern starben drei bekanntlich schon im frühen Kindesalter: Maximilian lebte von 1840 bis 1843, Ernst von 1844 bis 1847, Emil nur von Dezember 1846 bis Februar 1847. Angesichts solchen ‚Kommens und Gehens‘ lag der Gedanke an die Stellvertreterschaft der Kinder nahe – in völligem Gegensatz zur Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit des Kindes in der modernen Zwei- oder Ein-Kind-Familie. So ersetzte Claus Hebbel seinen ein oder zwei Jahre älteren toten Bruder auch in der Weise, daß er den gleichen Namen trug; die früh verstorbenen älteren Schwestern von Antje Schubart trugen beide den Namen Margaretha, der ihr schließlich als Zweitname beigegeben wurde. Bei Friedrich Hebbel wurde dieser Gedanke explizit. Nach dem Tod seines ersten Sohnes Max argumentierte er gegenüber der – erneut schwangeren – Mutter Elise Lensing mit dessen Ersetzbarkeit: „[D]och, scheint mir, sollten wir in unserer Lage eher, wie tausend Andere, den Verlust verschmerzen können [...], ich bin da und auch für das Kind wird Dir Ersatz, Du brauchst den Kreis Deiner Lieben nicht einmal zu verengern“ [WAB 1, 521]. Einige Monate später, kurz vor der Geburt des zweiten Kindes schrieb er ihr: „Träte aber der äußerste Fall ein, daß dieses todt zur Welt käme, so wirst [D]u775 Dich in den Verlust zu finden wissen, wenn Du bedenkst, wie unsicher unsere äußere Lage noch immer ist, […] denn gewiß würden wir in der Ehe ein Kind wieder erhalten“ [WAB 1, 588]. Nach dem Tod auch des dritten und der Geburt des vierten Kindes teilte er mit: „Was mich betrifft, so geht es mir in meinem Hause gut und in der Welt nicht schlecht. Statt des Söhnchens, dessen Geburt ich Ihnen vor drei Jahren anzeigte, erfreut mich ein Töchterchen“ [WAB 2, 69]. Der gleiche Gedanke findet sich, wie Ludger Lütkehaus bemerkte, im Trauerspiel in Sicilien: „Das qualitativ unverwechselbare Kind gerät zu einer numerischen Größe: dem, wie man hofft, ersetzbaren ‚Erstling’“.776 Schon angesichts der hohen Sterbeziffer ‚lohnte‘ es sich nicht, zu viel Gefühl in die Kinder zu ‚investieren‘. „Ernst genommen und wie Menschen behandelt“ wurden sie erst, „wenn sich mit einiger Sicherheit sagen ließ, daß sie zu den Überlebenden gehören würden“, und „wenn eine gewisse Sicherheit gewährleistet war, daß man von diesem Kind auch im Alter etwas haben würde“.777 Vorerst war ein Kind „ein Angaben nach der „Stammtafel des Hebbelschen Geschlechtes“ in NAGEL, Friedrich Hebbel Ahnen. 775 WAB 1, 588 transkribiert „du“. Vgl. dagegen B 3, 77. 776 LÜTKEHAUS, Antikommunistisches Manifest oder karitative Utopie?, S. 137. 777 JEGGLE, Kiebingen, S. 225. 774

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Wechselbrief, […] weiter Nichts“ [WAB 1, 672]. Mußte der Vater eingestehen, daß er ihn „nicht bezahlen“ [WAB 1, 671] konnte, dann war es um so übler für das Kind: Es war der einunddreißigjährige Friedrich Hebbel, der so dachte und der Mutter seiner Kinder kühl beschied: „Wie kannst Du z. B. glauben, daß ich das eine Kind anders betrachten könne, als das andere?“ [WAB I, 671f.] Elise Lensings Gefühle, die „so allgewaltig die Mutterliebe […] beherrsch[te]“ [WAB 2, 645], und insbesondere ihre Trauer über den Verlust der zwei Kinder „– ach man muß Mutter zweier himml. Geschöpfe gewesen sein u sie Beide verloren haben um das mitzuempfinden! –“ [WAB 2, 645] stießen bei ihrem Partner auf kein Verständnis. In einem ihrer wenigen erhaltenen Briefe an Friedrich Hebbel, schrieb sie über die Begegnung mit ihm in Wien kurz nach dem Tod des Sohnes Ernst: „Ganz als wäre Nichts vorgefallen empfingst Du mich – ich mußte statt mich auszusprechen, alles verschließen“ [WAB 2, 645]. Nur unter dem unmittelbaren Druck der „Reue“ [T 3873] und der Angst um das Leben der Freundin drang Hebbel für einen kurzen Moment zu einer anderen Haltung durch: „O, wenn ich mir das denke, daß dies Kind […] Keiner – mich selbst, den Vater, den großen Dichter ausgenommen […] – ohne Freude und Entzücken betrachten konnte“ [T 2805], dann, so möchte man ergänzen, erinnert das stark an den eigenen Vater, der die Freude „auf den Gesichtern seiner Kinder nicht ausstehen“ [T 1323] konnte. Die Armut setzte Hebbel auch an die Stelle seiner Seele, wenn er beteuerte, „ich hatte selten einen anderen Gedanken als den: wie soll ich ihn ernähren, und in meiner unmännlichen Verzagtheit war ich stumpf und dumpf gegen das Glück, das sich um mich herum bewegte“ [T 2805]. Auch wenn Hebbel sich nun „nie einreden lassen“ wollte, „daß Gefühllosigkeit Kraft ist“ [T 2805] und seinen toten Sohn in der Anrede „O Du theures, liebevolles Kind!“ [T 2805] förmlich zu beschwören versuchte, mußte er sich eingestehen, daß sich die Fähigkeit zu Empathie und Einfühlung nicht willkürlich erzeugen ließ: „Könnte ich wenigstens Dein Bild in mir hervor rufen. Ich kann’s nicht, ich hab’s nie gekonnt“ [T 2805]. Erst spät, anläßlich der Geburt des dritten Sohnes Emil am 27. Dezember 1846, gelangte Hebbel zu einem anderen Vatergefühl: „ich kann mir nicht helfen, aber ich empfinde für dieses Kind ganz anders, wie für die Beiden früheren, die Natur macht mehr von der Liebe […] abhängig, als man denkt [!], doch soll mich dieß nie abhalten, meine Pflichten gegen mein Kind von Elise zu erfüllen“ [T 3874]. In der Gegenüberstellung von „Pflicht“ und „Liebe“ offenbart sich die tiefe Kluft zweier Mentalitäten – im Fall Hebbels in einer einzigen Psyche. Seine Wandlung war so offenkundig, daß sie auch Bekannten nicht verborgen blieb. Sein römischer Zimmernachbar, der Maler Louis Gurlitt, schrieb ihm 1848 anläßlich der Geburt der Tochter Christine: „Mein [sic!] besten Glückwünsche zur Geburt Deiner kleinen Tochter, mir scheint, Du seiest schon eines besseren belehrt, denn früher glaubtest Du so kleine Kinder würden Dir keine Freude machen können“ [WAB 1, 1023]. Daß man mit Kindern, die noch nicht arbeitsfähig waren, auch kommunikativ und emotional ‚nichts anfangen‘ konnte, war ein weiteres grundlegendes Merkmal der traditionalen Mentalität. Die ‚Kindheit‘ des Kindes wurde schlicht ignoriert – ja, sie

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mußte überhaupt erst bewußt gemacht werden. Diese „Entdeckung der Kindheit“778 geschah in Europa erstmalig „zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert“. Bis dahin, so Irene Hardach-Pinke und Gerd Hardach, „waren Kinder unterschiedslos mit der Welt der Erwachsenen vermischt [...]. Es gab, über die Phase der physischen Unselbständigkeit und Hilfsbedürftigkeit hinaus, keinen der Erwachsenenwelt gegenübergestellten besonderen Bereich der Kindheit. [...] Die Moderne erst ‚entdeckte‘ die Kindheit, konstruierte eine lange Übergangsphase zwischen dem Kleinkinderdasein und der Existenz als vollwertigem Gesellschaftsmitglied“. Natürlich nahm auch die traditionale Gesellschaft die offensichtlichen Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen wahr und berücksichtigte sie in der „abgestuften Rechtsfähigeit“ und einer „Übergangsphase“ vom Kinder- zum Erwachsenendasein. Dennoch gab es in der damaligen Zeit „keine ‚Kindheit‘ in unserem Sinne. Die Vorstellung von einer schutzbedürftigen Kindheitsphase und von einem Recht auf das Eigenleben der Kinder ist historisch bedingt; es gab sie nicht zu allen Zeiten“.779 Generelles Ziel war es, sie „möglichst schnell in die Erwachsenenwelt einzugliedern“. So galt für Friedrich Hebbel ebenso wie für die vorangegangenen Generationen: „Nicht eine abgeschirmte ‚Kinderstube‘ sondern ‚das Leben‘ selbst war ihre Schule“.780 Eltern und Kinder besaßen auch in dieser Hinsicht eine gemeinsame, eine ‚kollektive‘ Existenz, da „das Leben der Söhne und Töchter im wesentlichen in der gleichen, durch die Geburt bestimmten Standesbahn verlaufen würde wie das ihrer Väter und Mütter. Die frühzeitige Einfügung des jungen Menschen in die kollektiv getragenen Werte und Ordnungen von Stand und Gemeinde, die Gewöhnung der Kinder in Straße und Dorf an ein von einer Gruppe bestimmtes Leben war eine geeignete Form der Sozialisation für Menschen, die nicht so sehr als Individuum verinnerlichten Normen zu folgen hatten, sondern sich vielmehr an den Regeln ihrer Standes-, Dorf- oder Zunftgenossenschaft orientierten“. Eine Kindheit ohne Arbeitspflicht und unbedingten Gehorsam, nur um ihrer selbst willen, wäre schlicht als ‚zwecklos‘ abgelehnt worden. Symptomatisch ist in diesem Zusammenhang die Haltung zum Spiel, das in einer „so einseitig orientierten Arbeitswelt kaum einen anerkannten Platz finden“,781 konnte. So galt es noch im 18. Jahrhundert „als dem Lernen und der ernsthaften Arbeit hinderlich“.782 Wenn der Spieltrieb als typisch kindlich erkannt wurde, dann lediglich als Zeichen präzivilisierter ‚Wildheit‘, die ausgetrieben werden mußte. In August Hermann Franckes Schriften trifft man „verschiedentlich den Willen an, diesen Trieb soweit wie möglich zu unterdrücken. [...] Das Spiel galt nicht selten als Indiz für die Tierheit im Menschen und deshalb als bekämpfenswert“. Überdies sah man Spielfreude „als Zeichen für Verweichlichung und Unbeständigkeit, ihre Pflege als Verschwendungssucht, Sündhaftigkeit und die Laster fördernd“ an. Ein „zweckfreies Spiel schien höchst gefährlich. Beschäftigungslosigkeit galt als der Anfang aller Laster“.783 Auch Wesselburen machte da keine Ausnahme, wie Ernst Erichsen bestäDieses und die folgenden Zitate: HARDACH-PINKE/HARDACH, Kinderalltag, S. 9f. Dieses und das folgende Zitat: FERTIG, Zeitgeist und Erziehungskunst, S. 3. 780 Dieses und das folgende Zitat: SCHLUMBOHM, Kinderstuben, S. 12f. 781 WEBER-KELLERMANN, Landleben im 19. Jahrhundert, S. 246. 782 Dieses und die folgenden Zitate: FERTIG, Zeitgeist und Erziehungskunst, S. 129. 783 Ebd., S. 75. 778 779

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tigt: „In Dithmarschen herrschte noch die Auffassung des Pietismus, die das kindliche Spiel als verderblich und als Sünde ansah“.784 Wenn Hebbel also von seinem Vater schrieb: „Hang zum Spiel deutete auf Leichtsinn, auf Unbrauchbarkeit“ [T 1323], ist dies im modernen Kontext durchaus als persönliche Anklage zu verstehen. Ohne solche ‚Hintergedanken‘ gelesen, stellt der auffallend unpersönlich gehaltene Satz dagegen eine reine Feststellung von Tatsachen dar. Hebbels Zwiespältigkeit durchzieht seine Sprache bis in die schillernde Ambiguität einzelner Sätze. Auch hinter der ‚Entdeckung der Kindheit‘ stand „ein sozialer Wandel, der sich als ein Prozeß fortschreitender Individualisierung beschreiben läßt.“785 Diese Entwicklung beschrieb Ludwig Fertig so: Für das Kind mit seinen spezifischen seelischen Regungen konnte man erst Verständnis entwickeln, als man sich den Bedürfnissen des Mitmenschen gegenüber geöffnet hatte. Verständnis für die Nöte der Kinder setzt Verständnis für Not, Mitleidsvermögen, voraus. Dies aber wurde etwa seit der Mitte des Jahrhunderts in der Empfindsamkeitsbewegung kultiviert. Das ‚empfindsame Herz‘ mit der Fähigkeit mitzuleiden sollte die Kälte der zwischenmenschlichen Beziehungen überwinden – [...] ein Zug zur Verinnerlichung ist unübersehbar.786 Die Beeinflussung der Kinder wurde subtiler, die Beobachtung der kindlichen Individualität notwendig, auch deshalb, weil, entgegen der alten ständischen Lebensweise, der einzelne in der auf Dynamik angelegten bürgerlichen Welt generell eine Potenz darstellte, eine zu verwirklichende Möglichkeit, nicht mehr nur ein Glied des Ganzen war, festgelegt auf bestimmte Funktionen.787

Fertig betonte aber auch: „Nur eine ganz dünne Schicht unterschied sich in der Behandlung der Kinder von der großen Masse der Bevölkerung. Die Nichtbeachtung eines notwendigen kindlichen Schonraumes blieb im Bauerntum, in den ‚niederen Ständen‘ in den Städten, später im Proletariat weitgehend bestehen“.788 Der mentalitätsgeschichtliche Prozeß der Zivilisation hat mehrere soziale Dimensionen: „Wie das ‚Volk‘ den ‚Gebildeten‘, so werden die ‚Kinder‘ den ‚Erwachsenen‘ zum Gegenstand der Wahrnehmung und des Interesses also erst im Laufe des Prozesses, indem sie ihnen zunehmend als fremd erscheinen.“789 Auch Friedrich Hebbels ‚Entdeckung der Kindheit‘ geschah historisch und biographisch spät. 1838 formulierte er im Tagebuch den zwischen Banalität und Paradoxie oszillierenden Satz: „nur wer Kind war, wird Mann“ [T 1323]. Darauf war er allerdings nicht selbst gekommen, sondern durch den äußeren Anstoß der Lektüre Tiecks790. Die plötzliche Erkenntnis erschütterte ihn dafür umso stärker: „[I]ch ERICHSEN, Schulgeschichte der Landschaft Norderdithmarschen, S. 129. HARDACH-PINKE/HARDACH, Kinderalltag, S. 26. 786 FERTIG, Zeitgeist und Erziehungskunst, S. 11. 787 Ebd., S. 19. 788 Ebd., S. 67. 789 RICHTER, Das fremde Kind, S. 175f. 790 In Tiecks Erzählung Dichterleben (Erster Teil) heißt es: „Und dennoch könnt Ihr den Elementen, die Euch ernährt, den Umgebungen, die Euch erzogen haben, nicht entfliehen. Wenn der Mensch kein Mannesalter finden wird, der keine Kindheit gehabt hat, worauf soll denn die Welt, 784 785

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erbebte, als ich dies zum ersten Male las, nun hatte das Gespenst, das mich um mein Leben bestiehlt, einen Namen“ [T 1323]. Offenbar hatte Hebbel bis dahin selbst nie bewußt zwischen dem „Kind“ und dem „Mann“ unterschieden. Im Überraschungsmoment dieser Einsicht mochte auch die deskriptive Schlichtheit des Satzes begründet sein. Gewissermaßen erst nach einer Schrecksekunde bricht Hebbel in ein wortreiches Lamento aus, das in der eingangs dieses Kapitels zitierten Klage über den Vater gipfelt: „Wie war nicht meine Kindheit finster und öde!“ [T 1323] Im ersten Moment aber erkennt sich das traditionale Bewußtsein: Es hat gar keine Kindheit gegeben. Angesichts dieser späten Entdeckung wird Hebbels Aufarbeitung der eigenen Kinderzeit in den Tagebüchern, den Aufzeichnungen aus meinem Leben und in den skizzenhaft gebliebenen Notizen zur Biographie besser verstehbar. Nicht umsonst bilden diese Versuche Hebbels zusammen mit Bogumil Goltz’ Buch der Kindheit den Beginn der „neue[n] Gattung der Kindheits- und Jugenderinnerungen“.791 Den mentalitätsund sozialgeschichtlichen Hintergrund dieses Phänomens umriß exakt Dieter Richter: Erinnerte Kindheit als die lebensgeschichtliche Erfahrung des gesellschaftlich produzierten Bruchs zwischen ‚Kindsein‘ und ‚Erwachsensein‘ ist also ein Begründungsmoment ‚modernen‘, also nachtraditionalen Bewußtseins ebenso wie der Literatur im bürgerlichen Zeitalter. [...] Die neue Sensibilität gegenüber den Zäsuren des Lebens entsteht aus dem sozialen Vorrecht, eine Kindheit haben zu dürfen“.792

Richter fügte differenzierend hinzu, daß sich „der Bruch zwischen Kindsein und Erwachsensein […] zeitlich und in der Art seiner Verarbeitung bei Angehörigen verschiedener sozialer Schichten unterschiedlich bemerkbar“ mache. Bei Hebbel geschah dies in der Weise, daß er mit dem Gedanken des „Vorrechts“ auf eine Kindheit konfrontiert wurde, ohne es selbst empfunden und genossen zu haben. An der durch die Tieck-Lektüre gewonnenen Erkenntnis hielt er zeitlebens fest. „Ich bleibe dabei: die Sonne scheint dem Menschen nur einmal, in der Kindheit und der früheren Jugend. Erwarmt er da, so wird er nie wieder völlig kalt, und was in ihm liegt, wird frisch herausgetrieben, wird blühen und Früchte tragen“ [T 1323]. Aus seinem Todesjahr stammt die Tagebuchnotiz: „Der erste Segen, der dem Menschen zu Theil werden kann, ist, möglichst lange ein Kind zu bleiben“ [T 6314]. Das „Problem der Lieblosigkeit“, eines Mangels, der „biographisch kaum noch aufzuholen“ sei, verursacht nach Alexander Mitscherlich einen „Kaspar-HauserKomplex“: eine „grundsätzliche Unbelehrtheit über die Welt […], die dadurch entsteht, daß der Mensch nicht von der überschwingenden Kraft des Herzens seiner die der Dichter uns gibt, feststehen, wenn er selbst den notwendigsten Stützpunkt, der ihn tragen muß, wegwirft?“ [TIECK, Novellen, S. 349]. – Im Zweiten Teil erzählt „Shakespeare“ seine Jugendgeschichte, aus der Hebbel einige stilisierende Züge für seine autobiographischen Schilderungen entlehnt haben könnte. Auch bei Shakespeare war der Vater „in seinem Gewerbe zurückgekommen“ [S. 455], „ein finsterer Mann“ [S. 454] und „immer unzufrieden mit mir“ [S. 454], Zerstreuungen waren ihm „Bosheit und Sünde“ [S. 455] etc.; die Mutter dagegen „nahm sich meiner an, ihr Gemüt war heiter und sinnig“ [S. 454]. Zu weiteren Parallelen vgl. ebd., S. 454ff. 791 RICHTER, Das fremde Kind, S. 317. 792 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 316.

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Eltern und der nächsten Menschen seiner Umwelt in diese hineingeleitet wird.“793 Wahrscheinlich machte Hebbel in Heidelberg nähere Bekanntschaft mit dem Schicksal des Findelkinds Kaspar Hauser. Sein Lehrer Karl Josef Anton Mittermaier, dessen Kolleg über die „Zurechnung“ Hebbel besuchte, hatte sich intensiv mit dem Fall beschäftigt und 1834 im Morgenblatt für gebildete Stände verkündet: „Im Besitz aller über Kaspar Hauser erschienenen Schriften und vieler von Freunden mitgetheilten, dem größern Publikum nicht bekannten Nachrichten über Hausers Benehmen, hoffe ich einst noch auf manche weniger bisher beachtete Rücksichten aufmerksam machen zu können.“794 Gottfried Keller, der ebenfalls bei Mittermaier hörte, hat Züge Hausers auf seinen Grünen Heinrich übertragen – denkbar ist, daß Hebbel an sich selbst gewisse Parallelen ausmachte. Die Diagnose Anselm von Feuerbachs über Kaspar Hauser hätte er jedenfalls auch für sich nachsprechen können: „Wie lang er auch leben möge, er bleibt ewig ein Mensch ohne Kindheit und Jugend, ein monströses Wesen, das naturwidrig sein Leben erst in der Mitte des Lebens angefangen hat“,795 einer, dem man „nicht bloß den schönsten Theil des Menschenlebens genommen, sondern auch sein ganzes übriges Leben […] verkümmert und verkrüppelt habe“. Auch Hebbel fühlte sich „um Kindheit, Jugend und Jünglingszeit betrogen“ [WAB 1, 687] und sah sich dadurch zu seinem „Dichter-Talent“ in ein „so übles Verhältniß gestellt“: Die „Hebel, durch die sich meine Kräfte in Bewegung setzen lassen, sind zerbrochen“. So stilisierte Hebbel sich implizit gleichfalls zum Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben eines Menschen – so der Untertitel von Feuerbachs 1832 erschienener Schrift über Kaspar Hauser. Im direkten Vergleich hätte Hebbels Schicksal freilich nicht im entferntesten mit dem des sonderbaren Findelkindes mithalten können. Eine offene Opferkonkurrenz konnte auch nicht in Hebbels Interesse liegen. Denn auf der anderen Seite bemühte er sich, die abgebrochenen Brücken zu seiner Kindheit nach dem Vorbild der versöhnlichen, verklärenden Perspektive in Goethes Dichtung und Wahrheit wiederherzustellen. Wenn sein Satz, „nur wer Kind war, wird Mann“, nicht so weit geht wie das paradoxe Diktum des englischen Romantikers William Wordsworth: „Das Kind ist der Vater des Mannes“, so konstruiert doch auch Hebbel an vielen Punkten mystische Verbindungen zwischen autobiographischem Ich und dem vergegenwärtigten Kind. Im Widerstreit von Idyllisierung und Anklage, Verneinung und Bejahung zeigt sich die Schwierigkeit einer adäquaten öffentlichen Rede über traditionale Kindheit schon zu Hebbels Lebzeiten. Hebbel selbst war schließlich in die Widersprüche des mentalitätsgeschichtlichen Umbruchs tief verwickelt: Das Verhalten, das er am Vater beklagte, reproduzierte er, trotz seiner reflektierteren ‚Bewußtseinsstufe‘, zu großen Teilen an den eigenen Söhnen. ‚Nur wer Kind war, hat auch Eltern‘ – so könnte man eine weitere Implikation des Kaspar-Hauser-Komplexes auf den Punkt bringen. Während dieser Aspekt der Alexander Mitscherlich, Ödipus und Kaspar Hauser, zit. nach SCHULTE VAN KESSEL, Jungfrauen und Mütter, S. 294. 794 Zit. nach SCHULTE VAN KESSEL, Jungfrauen und Mütter, S. 37f. 795 Dieses und das folgende Zitat: Anselm von Feuerbach, zit. nach SCHULTE VAN KESSEL, Jungfrauen und Mütter, S. 51. Feuerbach war seit 1817 Erster Präsident des Appellationsgerichts in Ansbach, wo Karl Julius Rousseau, der Vater von Hebbels engstem Studienfreund Emil, als Regierungsrat amtierte. 793

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Das Elternhaus

Elternlosigkeit bei dem Waisenknaben Hauser offenkundig war, gab es zwar einen Claus Hebbel, doch wurde dessen Vaterschaft biologisch wie psychologisch direkt in Frage gestellt. So orakelten ja schon die Wesselburener Zeitgenossen, der Maurer sei nur der Stiefvater, während die Biographen moralisierten – „als sei Christian Friedrich gar nicht sein Sohn, verhielt sich der Vater gegen ihn“.796 Denkt man an Hans Friedrich Hebbel, der im Pflegehaus mit anderen „arme[n] Waisen“ [W 8, 115] zusammenlebte, dann bekommt die Vaterlosigkeit eine sehr reale Bedeutung. Und wieder gab Friedrich Hebbel diese psychische Erblast weiter: Auch Ernst Hebbel, der zweite Sohn des Dichters, kannte seinen Erzeuger nicht. Er lebte vom 14. Mai 1844 bis zum 12. Mai 1847 – seinen in Frankreich, Italien und dann in Wien weilenden Vater sah er nie. Aus Sicht der Hebbel-Biographik bedeutete der Tod Claus Hebbels am 10. November 1827 „die Freilassung aus der Hölle, in der der Alte seinen Sohn hatte festhalten wollen“,797 einen „Segen für den Sohn“,798 einen „Vorgeschmack von Erlösung“. An solche Vorstellungen anknüpfend konnte Hargen Thomsen die – später relativierte – These vom „Todeswunsch wider den Vater“799 aufstellen, obwohl „nichts davon“, nicht „auch nur eine Äußerung des Unmuts, geschweige denn des Hasses“800 bei Hebbel zu lesen ist. Die „dichterischen Bearbeitungen des traumatischen Vaterkonflikts“801 wären demnach eher motivgeschichtlich als autobiographisch zu interpretieren.802 Aufschlußreicher für das Verhältnis zwischen Vater und Sohn ist eine überlieferte autobiographische Schlüsselszene, wie sie prominenter nicht sein könnte. In der Literatur ist das Totenbett „traditionellerweise eine letzte Klimax heiliger Autorität“,803 auf dem sich der Vater, sei es als Verfluchender oder als Prophet, im Angesicht der Ewigkeit und als Sachwalter eines höheren Vaters noch einmal zu mythischer Größe erhebt: „Beides, Fluch und Prophetie, sind sakrale Gesten, archaische Elemente also, die sich aber in diesem literarischen Konfliktfeld von der Antike bis in die Moderne gehalten haben.“804 Schon 1830 erklärte der junge Hebbel in einem seiner Aphorismen, „was ein Vaterfluch ist: er besteht zwar in einem einzigen Worte, aber wisse, dies einzige Wort legt dem Verfluchten die ganze Hölle auf die Brust und jagt alle Teufel in sein Herz“ [DJH II, 113]. Dies weiß auch sein Mirandola, der an das Sterbebett des Vaters eilen muß: „O, Vaterfluch wälzt die Verdammniß der ganzen Hölle auf die Brust eines Sterblichen und preßt alle Teufel in seinen Busen“ WERNER, Friedrich Hebbel. Ein Lebensbild, S. 26. POPPE, Lebensbild, S. XIV. 798 Dieses und das folgende Zitat: WINTERFELD, Friedrich Hebbel, S. 18. 799 THOMSEN, Grenzen des Individuums, S. 148. 800 Ebd., S. 150. 801 DETERING, Hebbel oder Die Vernichtung der Vaterwelt, S. 78. 802 Fraglich ist auch, ob die Novelle Anna eine „’verschobene‘ Variante der Imagination vom Vatermordswunsch, der in die Selbsttötung umgelenkt wird“ [DETERING, Die Vernichtung der Vaterwelt, Anm. S. 77f.], darstellt. Detering weist S. 76f. selbst im Vergleich mit Hebbels Situation auf die zahlreichen Abweichungen hin. 803 MATT, Verkommene Söhne, S. 183. 804 Ebd., S. 63. 796 797

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[DjH II, 14]. Was aber spielte sich im ‚wirklichen‘ Leben Hebbels ab? „Das Gebet am Krankenbett des Vaters“ [T 223] lautet noch kryptisch ein erster Tagebucheintrag unter dem 1. Juli 1836, mit dem Hebbel sich innerlich an die Szene herantastet, die er ein halbes Jahr später, am 10. Dezember niederschreibt: Als mein Vater am Sonnabend, Abends um 6 Uhr, den 11 Nov. 1827, nachdem ich ihn am Freitag zuvor noch geärgert hatte, im Sterben lag, da fleht’ ich krampfhaft: nur noch 8 Tage, Gott; es war, wie ein plötzliches Erfassen der unendlichen Kräfte, ich kann’s nur mit dem convulsivischen Ergreifen eines Menschen am Arm, der in irgend einem ungeheuren Fall, Hülfe oder Rettung bringen kann, vergleichen. Mein Vater erholte sich sogleich; am nächstfolgenden Sonnabend, Abends um 6 Uhr, starb er! [T 483]

Der angstvoll flehende Sohn am Sterbebett des Vaters – das ist zweifellos eine pathetische Szene. Wäre die Lage nicht so ernst, könnte man die Situation jedoch fast als burlesk empfinden. Denn der Sohn fleht nicht um das Leben des Vaters, sondern nur um einen Aufschub von 8 Tagen, der „sogleich“ gewährt wird: Gott greift als deus ex machina ein und dreht die Zeiger der Lebensuhr noch einmal zurück.805 Der Sohn fleht um Gnade, nicht etwa, weil er den endgültigen Richterspruch des Vaters erwartet, sondern weil er ihn „am Freitag“ noch geärgert hat. Nicht wegen eigener mörderischer Phantasien, sondern wegen einer Lappalie fühlt er sich schuldig; nicht der zu erwartende Tod des Vaters, sondern nur der momentane Zeitpunkt kommt ungelegen. Die vermeintliche ‚Urszene‘ könnte – bei anderer Beleuchtung – in einem Volksstück spielen. Am Totenbett des Vaters ereignet sich kein Drama, sondern – eine Anekdote. Weder Mord, noch „Hülfe oder Rettung“ – dem Vater und seinem Tod gegenüber zeigt sich Hebbel in jeder Beziehung gleichgültig. Diese Haltung reicht noch in die Aufschreibesituation herüber. Denn nicht einmal die Daten sind richtig angegeben, wie Paul Bornstein ermittelte: „Hebbels so bestimmte Angaben über den Tod des Vaters sind falsch. Klaus Friedrich starb nicht, wie wir aufgrund dieser Tagebuchstelle bisher annahmen, am 18. Nov., sondern nach dem Kirchenbuch bereits am 10. Nov. Der 11. Nov. 1827 war überhaupt kein Sonnabend, sondern ein Sonntag“ [DjH, I, 256]. Von Trauer spricht Hebbel hier und andernorts ebensowenig wie von der Beerdigung – überliefert ist nur, daß der Kartoffelvorrat für den Winter zur Deckung der Begräbniskosten verkauft werden mußte. Einmal mehr belegt dies den Vorrang der Dinge vor den Menschen und die ‚Sachlichkeit‘ der Beziehungen. Martin Beutelspacher registrierte, daß die Menschen der traditionalen Gesellschaft auf den Tod meist „fatalistisch“ und „lapidar“806 reagierten: „Trauer wird vorgezeigt […], wenn der Tod einen realen und merklichen Verlust bewirkt. Eine Trauerursache, die nur im emotionalen Bereich zu suchen ist, hat sich noch nicht ausgebildet – und wird moralisch offenbar auch nicht gefordert. […] Trauer zu heucheln, ohne sie zu verspüren, ist unüblich. Der Pflicht der Nachkommen ist dann Genüge getan, wenn die Verstorbenen ‚ehrlich begraben‘ sind“.807 Um diese Mentalität zu erleben, brauchte Vgl. dazu den Volksglauben: „Jeder Mensch hat eine von Gott bei der Geburt festgesetzte Todesstunde“ [BÄCHTOLD-STÄUBLI, Handwörterbuch, Bd VIII, Sp. 449]. 806 BEUTELSPACHER, Kultivierung bei lebendigem Leib, S. 55. 807 Ebd., S. 59f. 805

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Das Elternhaus

Hebbel bloß aus seinem Münchner Zimmerfenster „der Abfahrt einer Leiche auf den Gottes-Acker“ zuzusehen: „Der Priester sprach trocken seine Gebete, die Nachbarsleute standen trocken umher, Kinder unterbrachen für einen Augenblick ihr Spiel, ein Holzhacker, der auf der Straße seine Handthierung trieb, machte eine Pause. Aber kein Auge, das weinte, kein Gesicht, das die geringste Bekümmernis ausdrückte“ [T 1050]. Verblüffend ist dagegen der unvermittelte Umschlag der Machtverhältnisse. Wird der Vater in Darstellungen aus dem 18. und 19. Jahrhundert sonst „sakralisiert durch die Prophetie, die ihm auf dem Totenbett – meist im Kreise einer erschreckten Familie – zuwächst“,808 so bleibt Claus Hebbel wortlos. Friedrich ärgert ihn, doch er kann nicht mehr zurückschlagen. Mehr noch: Der Sohn ist jetzt Mittler zu Gott, und in seiner Imagination fällt ihm sogar die Macht über das Leben des Vaters zu. Die Autorität des Vaters fällt lautlos in sich zusammen. Früher hatte er dem Sohn die unnütze Lektüre stets verboten, jetzt liest dieser an seinem Sterbebett Novellen von Contessa und den „zweiten Theil des Don Quixotte“ [W 15, 13]. Wohl nicht nur in den Novellen hinterließ das „Gespenstische, Beklommene einen starken Eindruck“ [T 2476] bei dem Vierzehnjährigen. Angesichts der plötzlichen Verkehrung der Ordnung machte auf ihn selbst der harmlos-verkehrte Don Quijote einer für die Jugend bearbeiteten Fassung „den Eindruck eines Wahnsinnigen“ [W 15, 13]. Die unheimliche Faszination dieser Figur übertrug Hebbel laut Richard Maria Werner dann auf seinen Schnock, einen „Verblendeten, der Furchtbares sieht, wo es nicht ist, der sich mit Dingen abquält, die einem jeden andern gar keine Schwierigkeiten machen würden“.809 Angesichts solcher desorientierenden Vermischung von Literatur und Leben hätte sich der Vater noch ein letztes Mal in seinem Verbot des Romanlesens bestätigt finden können. Doch schon bald sollte sich eine neue Ordnung herausbilden. Der Vater war tot, der ältere Sohn trat an seine Stelle und wurde zum Versorger der Familie. Manchmal bleibt auch der verstorbene Vater „unglaublich lebendig. Er bleibt lebendig, wenn er lebendig erhalten wird, dadurch z. B., wie von ihm gesprochen wird […]. Dabei wird er fast immer zu einem besonders ‚guten‘ Vater. Es wird eine ‚Idealfigur‘ aus ihm. […] So kann also ein toter Vater alle klassischen Vaterfunktionen übernehmen, auch diejenigen des ‚Identifikationsobjektes‘!“810 Claus Friedrich Hebbel findet hingegen in den Tagebüchern und Briefen seines Sohnes nur selten Erwähnung. Der selbst ‚keine Kindheit‘ hatte, besaß auch an seinem Vater nur geringes Interesse. Eine „Idealfigur“ konnte dieser darum nicht werden, im Gegenteil: das was Hebbel von ihm überlieferte, reichte, um ihn in der Biographik zum „bösen“ Vater zu stilisieren, gegen den sich eine „liebe“ Mutter um so wohltuender abhob.

MATT, Verkommene Söhne, S. 66. WERNER, Friedrich Hebbel. Ein Lebensbild, S. 108. 810 Hanne-Lore v. Canitz, Väter. Die neue Rolle des Mannes in der Familie, zit. nach SCHULTE VAN KESSEL, Jungfrauen und Mütter, S. 24. 808 809

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Die „Große Mutter“ – Besonderheit und Ambivalenz der Mutter-KindBeziehung Die mentalitätsgeschichtliche Analyse der Verhältnisse in Hebbels Elternhaus hat ein neues Bild ergeben. Danach treten „Persönlichkeit“ und „Charakter“ hinter rollenkonformen Verhaltensweisen zurück, wobei von einer prinzipiell gleichgerichteten Orientierung der Eltern auszugehen ist. Die „’klassische‘ Differenzierung zwischen der Vater- und der Mutterrolle“,811 wonach der Vater „Autorität und ‚Strenge‘, die Mutter Verständnis und ‚Zärtlichkeit’“ verkörpern, war in Hebbels Elternhaus noch nicht sonderlich ausgeprägt. Überhaupt entsprach solche Polarität möglicherweise eher ideologischen Postulaten als der Realität – die „Festschreibung der bürgerlichen Geschlechtscharaktere, die Verfestigung des Weiblichen und des Männlichen zu reinen Charaktermasken“ bezeichneten Barbara und Horst Kern jedenfalls als „den Endpunkt einer Vereinseitigung und Normierung“.812 Wenn die von Hebbel tradierten Elternbilder stark divergieren, wenn es Antje Hebbel war, die zur „Idealfigur“813 werden konnte, dann muß dies als Produkt einer Identifikationsarbeit des Sohnes interpretiert werden, die keineswegs in einem a priori gegebenen, gegenseitigen „Verstehen“814 wurzelte. Dies gilt es im folgenden herauszuarbeiten, wobei allerdings auch eine gewisse Sonderstellung der Frau zu berücksichtigen ist. Denn auch im vormodernen Rollenverhalten von Mann und Frau gab es signifikante Unterschiede, die zum Ansatzpunkt der pychischen Bearbeitung werden konnten. Und natürlich waren gerade in der traditionalen patriarchalischen Gesellschaft geschlechtspezifische Rollenvorschriften wirksam. Der Hausvater als Repräsentant der Familie hatte die gesellschaftlichen Normen im Zweifelsfall auch gegenüber der Ehefrau zu vertreten und durchzusetzen, während diese im häuslichen Rahmen offenbar gewisse Spielräume besaß. Die Mutter stand außerdem den Kindern schon durch ihre Betreuungsaufgaben von Anfang an näher als der Vater. Darüber hinaus war eine sichtbar unterschiedliche Verteilung von Zuwendung auf die einzelnen Kinder gang und gäbe. Gerade die traditionale Familie zeichnete sich ja dadurch aus, daß ‚Hitzigkeit‘ und Kälte unvermittelt nebeneinander stehen konnten. All dies konnte zu einer vielfältigen Aufspaltung der Wahrnehmung der Eltern führen. Fragt man nach den besonderen Freiräumen und Entfaltungsmöglichkeiten der Mutter-Kind-Beziehung innerhalb des traditionalen familiären Kontextes, darf man sich daher nicht zur imoder expliziten Unterstellung eines modernen Mutterbildes verführen lassen. Schon durch die Abhängigkeit des Kleinkindes von der Mutter wird eine grundlegende Sonderbeziehung zwischen Mutter und Kind begründet. Arno Scheunert nannte den „Zustand, in dem sich das Kind in der Wiege befindet“ ein „Verbundensein mit dem Ideal“,815 ein Stadium, das der Tiefenpsychologe und Schüler C. G. Dieses und das folgende Zitat: SCHLUMBOHM, ‚Traditionale‘ Kollektivität und ‚moderne‘ Individualität, S. 280. 812 KERN/KERN, Madame Doctorin Schlözer, S. 19. 813 Canitz, zit. nach SCHULTE VAN KESSEL, Jungfrauen und Mütter, S. 24. 814 Vgl. T 1295, sowie: NAGEL, Friedrich Hebbels Ahnen, S. 27. 815 SCHEUNERT, Der Pantragismus, S. 54. 811

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Das Elternhaus

Jungs, Erich Neumann, als das des „Uroboros“ bezeichnet hat. Das Kleinkind, das „noch nicht imstande ist, sich mit Bewußtsein zu orientieren und die Welt zu erkennen“,816 das sich als „wehrlos und winzig, als enthalten und rettungslos angewiesen“ erfährt,817 nimmt die vor allem durch die Mutter repräsentierte Welt wahr als „Umschließendes“.818 In diesem phylo- wie ontogenetischen Frühstadium ist der Mensch geborgen, getragen und gehalten von der großen Mutter Natur, die ihn wiegt und der er ausgeliefert ist im Guten und Bösen. […] Sie ist bergend und nährend […]. Alles Positive des Müterlichen wird gerade in diesem Stadium deutlich, in dem das Ich noch embryonal ist und keine Eigenaktivität besitzt. Hier ist der Uroboros der mütterlichen Welt Leben und Seele in einem, er gibt Nahrung und Lust, schützt und wärmt, tröstet und verzeiht. Er ist die Zuflucht alles Leidenden, die Sehnsucht alles Begehrenden. Denn immer ist diese Mutter die Erfüllende, Spendende und Helfende. Dies lebendige Bild der guten großen Mutter ist in allen Notlagen die Zuflucht der Menschheit gewesen.

Diese Abhängigkeit von der Mutter wird nicht als negativ empfunden, solange das „kindliche Ichbewußtsein schwach“819 ist und sich „noch nicht in seiner Eigentlichkeit und Anders-Artigkeit“ entdeckt hat. Elementar erfährt das Kind die Macht und Zuwendung der Mutter, wenn es an der Brust gestillt wird. Doch ist auch dieser ‚natürliche‘ Zusammenhang in höchstem Maß kulturabhängig. In der vormodernen Kultur war es keineswegs selbstverständlich, sein Kind zu stillen – dafür gab es Ammen, die ihrerseits die ‚doppelte Last‘ zu Erwerbszwecken auf sich nahmen. So ist zwar richtig, „daß die Bäuerinnen in ihrer großen Mehrheit immer ihre Kinder gestillt haben, doch waren darunter auch viele bereit, einen kleinen Fremdling [...] an ihrer Milch teilhaben zu lassen, um ein Einkommen zu haben“.820 Daher ist der „Wille, sein Baby selbst zu stillen“, bzw. umgekehrt „allein dieses und kein anderes zu stillen“, laut Elisabeth Badinter überhaupt „das erste Anzeichen“ für den „Wandel des mütterlichen Verhaltens“ hin zur intimisierten Mutter-Kind-Beziehung. Auch das Stillen an sich sagt also weniger über die emotionalen als über die ökonomischen Verhältnisse aus. Mit Edward Shorter wäre nur diejenige Mutter als „modern“821 zu bezeichnen, die „nur ihr eigenes Kind säugte und keine anderen zu sich nahm“, weil „solche Nichtfamilienmitglieder in die neu entdeckte Intimität der häuslichen Gruppe“ störend eindrangen. Auch Hebbel selbst hat dieses Thema in seinem Epos Mutter und Kind aufgegriffen. Peter Hanssen wollte das Werk geradezu „das Hohelied der Mutterliebe und der Stillung“ nennen. Kein anderes Erzeugnis deutscher Dichtung sei „so voll von Sprüchen über Stillung und Ernährung an der Brust wie gerade dieses Epos“.822 Niemals sei „Mutter-

NEUMANN, Die große Mutter, S. 44. Ebd., S. 43. 818 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 25. 819 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 26. 820 BADINTER, Die Mutterliebe, S. 160. 821 Dieses und die folgenden Zitate: SHORTER, Die Geburt der modernen Familie, S. 210. 822 HANSSEN, Mutter und Kind, S. 1. 816 817

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glück schöner, nie Mutterliebe reiner dargestellt, nie der enge Zusammenhang zwischen Mutter und Säugling, den nur die Stillung an der Brust bewirkt, inniger geschildert worden“823 als in diesem Werk. Die Realität in Friedrich Hebbels Kindheit sah freilich auch in diesem Punkt anders aus, wie Emil Kuh überliefert hat. Demnach wurde die Lage „noch trauriger, als zwei Jahre nach Friedrichs Geburt ein Knabe, namens Johann, hinzukam. Um sich diese Lage nur ein wenig zu erleichtern, hatte die Mutter zu dem Neugeborenen einen Säugling gegen Bezahlung angenommen“.824 Obendrein lehnte der kleine Junge den neuen Konkurrenten ab, indem er sich weigerte, den „fremden Bruder“ [HP I, 7] zu wiegen. Die Mutter ist es, die das Kind mit seiner engsten häuslichen und außerhäuslichen Umwelt vertraut macht, auch wenn sie dies in der offenen kleinstädtischen Gesellschaft keineswegs exklusiv tut. Das Haus ist ihr Bereich, und „[k]ein Haus ist so klein, daß es dem Kinde, welches darin geboren ward, nicht eine Welt schiene, deren Wunder und Geheimnisse es erst nach und nach entdeckt“ [W 8, 107]. Die Mutter ist die – wenn auch prosaische – Verwalterin all dieser Geheimnisse: „Schaudernd schleudert“ das Kind die rätselhaften Dinge, die es auf dem Dachboden findet „wieder von sich [...]; doch die Mutter hebt das Eine oder das Andere bedächtig wieder auf, weil sie gerade eines Riemens bedarf, der sich noch aus dem Stiefel des Großvaters heraus schneiden läßt, oder weil sie glaubt, daß sie mit der Kunkel der Urtante noch einmal Feuer anmachen kann“ [W 8, 107f.]. – „Macht nun schon das Haus unter allen Umständen einen solchen Eindruck auf das Kind: wie muß ihm erst der Ort vorkommen!“ [W 8, 109], schreibt Hebbel in den Aufzeichnungen aus meinem Leben weiter, um von seinem ersten Spaziergang durchs Dorf an der Hand der Mutter eine eindrückliche Schilderung zu geben: So war es denn auch für mich ein unvergeßlicher und bis auf den gegenwärtigen Tag fort wirkender Moment, als meine Mutter mich den Abendspatziergang, den sie sich in der schönen Sommerzeit an Sonn- und Feiertagen wohl gönnte, zum ersten Mal theilen ließ. Mein Gott, wie groß war dies Wesselburen: fünfjährige Beine wurden fast müde, bevor sie ganz herum kamen! Und was traf man Alles unterwegs! [W 8, 109f.]

So führt die Mutter den Sohn allmählich der männlich dominierten Außenwelt zu. Doch „ist zu vermuten, daß das engere Kind-Mutter-Verhältnis der früheren Phasen“ tendenziell auch darüber hinaus bestehen blieb und die „hausväterliche Strenge Mutter und Kind gegenüber diese Bindung noch festigte.“825 Helmut Möller sah die Ursache dafür „im Rollenunterschied von Mann und Frau“:826 Die Führungsrolle des Hausvaters [...] manifestierte sich nach außen in der Vertretung der Gruppe, nach innen als ‚Herr im Haus‘, ein Anspruch, der im äußersten Fall mit Brachialgewalt durchgesetzt wurde. [...] Der sich hieraus möglicherweise ergebenden Gefährdung der Gruppe von innen wird [...] dadurch entgegengewirkt, daß die Frau einerseits gemäß ihrer Ebd., S. 4. Kuh, Biographie, Bd 1, S. 3. 825 MÖLLER, Die kleinbürgerliche Familie, S. 47. 826 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 299f. 823 824

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Rolle als Hausmutter an den Führungsaufgaben partizipiert, zum anderen für die übrigen Gruppenmitglieder eine Möglichkeit darstellt, ihre ambivalenten Einstellungen gegenüber dem Familienoberhaupt zu manipulieren.

Genau dies wußte Hebbel ja von der Mutter zu berichten, daß sie „mich fort und fort gegen die Anfeindungen meines Vaters [...] mit Eifer in Schutz nahm“ [T 1295]. Und auch Meister Anton hätte gegenüber seinem Sohn Karl „gerne strengere Saiten aufgezogen als seine Frau, obwohl ihm die Erinnerung an die ‚hitzige‘ Liebe der eigenen Mutter noch das Herz erweicht“.827 Bernd Nitzschke kommentierte dieses Phänomen wohl zu Recht pragmatisch: Die tiefere Ursache sind oft „ausgedünnte emotionale Beziehungen zwischen den Eltern“.828 Die Mutter, „deren emotionaler Kontakt zum Mann stark eingeschränkt ist, wendet sich mit ihren Beziehungswünschen vornehmlich an das Kind“. So werden hinter einem scheinbar selbstlosen Verhalten konkrete Interessen sichtbar – das Kind wird zum Faustpfand. Eine entsprechende Differenzierung ereignet sich beim Kind: „Der Vater ist unerreichbar. Um so mehr wird die Mutter gebraucht“.829 Auch in Friedrich Hebbels erster Jugendzeit blieb die Mutterbeziehung letztlich dominant. Nicht Claus, sondern Antje Hebbel bestimmte die Richtung seiner Entwicklung. Gegen den Willen ihres Mannes sorgte sie nicht nur für den regelmäßigen Schulbesuch des Sohnes, sondern auch für dessen außerschulische Weiterbildung. Nur vorüberhehend konnte der Vater in seinem Sinne Einfluß auf Friedrichs Werdegang nehmen, indem er ihm das Maurerhandwerk beizubringen versuchte. Wenn dies ohnehin nicht schon an Unwillen und Unfähigkeit des Sohnes scheitern mußte, so sorgte nach dem frühen Tod des Vaters im Jahre 1827 die Mutter erneut für die entscheidenden Weichenstellungen, indem sie ihn zum Kirchspielvogt Mohr gab. Bei mehreren Kindern wird das familiäre Beziehungsnetz komplexer. Bevorzugung des einen Kindes geht einher mit der Benachteiligung des anderen. Mutter und Vater verteilen ihre Zuwendung dabei durchaus komplementär – dies sind nicht zuletzt Mittel im „stumme[n] Kampf der Geschlechter [...]. In diesem Konflikt zwischen Mann und Frau spielt das Kind eine wesentliche Rolle. Wer es beherrscht und auf seiner Seite hat, kann damit rechnen, sich durchzusetzen“.830 Diese emotionale Spaltung gab es auch im Hause Hebbel: „Ich war ihr Liebling, mein zwei Jahre jüngerer Bruder der Liebling meines Vaters. Der Grund war, weil ich meiner Mutter glich und mein Bruder meinem Vater zu gleichen schien“ [W 8, 82], berichtete Friedrich Hebbel nüchtern, als verstünde sich die ungleiche Aufteilung elterlicher Gunst von selbst. In der Tat bestätigt die Bevorzugung des älteren Bruders durch die Mutter ein „fast durchweg“831 zu beobachtendes Verhaltensmuster: „Was sie an Zärtlichkeit und Stolz besitzt, behält die Mutter ihrem Ältesten vor“, konstatiert Elisabeth Badinter. An die

LÜTKEHAUS, Friedrich Hebbel. Maria Magdalene, S. 51. Dieses und das folgende Zitat: NITZSCHKE, Von der Allmacht der Mütter, S. 159. Ähnlich MÖLLER, Die kleinbürgerliche Familie, S. 300. 829 PROKOP, Die Illusion vom großen Paar, S. 91. 830 BADINTER, Die Mutterliebe, S. 14. 831 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 67. 827

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„kaum glaubliche Ungleichbehandlung der Kinder“832 knüpft sie die Frage: „Wie kann die Liebe, wenn sie etwas Natürliches und daher Spontanes ist, sich mehr auf ein Kind als auf ein anderes richten? […] Steckt darin nicht das Eingeständnis, daß man ein Kind vor allem deshalb liebt, weil es uns in gesellschaftlicher Hinsicht etwas einbringt und weil es unserem Narzißmus schmeichelt?“ Sie selbst beantwortet die Frage damit, daß „dieser mütterlichen Zärtlichkeit ein gehöriger Schuß Vorsorge“833 zugrunde lag: „Wenn der Vater vor der Mutter stirbt und diese gebrechlich wird, von wem hängt dann ihr Überleben, ihre Alterssicherung und ihr Glück ab, wenn nicht von dem Erben? Man muß sich daher mit demjenigen, von dem das eigene Schicksal abhängen kann, gut stellen.“ Als Claus Hebbel 1827 starb, übernahm Friedrich als der Erstgeborene tatsächlich die Versorgung der Mutter, indem er das beim Kirchspielvogt Mohr verdiente Taschengeld bei ihr ablieferte. Der frühe Tod des Vaters dürfte die besondere Beziehung zur Mutter auch aus der Sicht des Sohnes noch verstärkt haben: „An Hebbel wiederholt sich, was häufig zu sehen, wenn eine Familie frühzeitig ihr Oberhaupt verliert. Der älteste Sohn, so er gut geartet, wird alles aufbieten, den Hinterbliebenen den Vater zu ersetzen. Ja, er wacht oft eifersüchtig über dieses Recht“.834 Daß diese Rechnung für Antje Hebbel einigermaßen aufging, war erkauft durch ein erhebliches familiäres Konfliktpotential, solange der Vater lebte. Die Hebbelforschung hat auch dies mit dem ‚Mantel der Liebe‘ – oder zumindest des Schweigens – zugedeckt. Einer allerwege ‚liebenden‘ Mutter waren selbstsüchtige Ungerechtigkeiten nicht zuzutrauen! Um so mehr richtete man das kritische Augenmerk auf den Vater. Eine Ausnahme bildete nur Hebbels erster Biograph Emil Kuh, der durch die langjährige freundschaftliche Beziehung recht intime Kenntnisse besaß. Zwar meinte auch er, die Mutter sei „anders geartet“835 gewesen als der Vater, verhehlte aber nicht, daß diese Andersartigkeit sehr relativer Natur war. So wies er auf „Szenen heimlicher Zwietracht und offenen Haders“ hin, an denen die Mutter nicht unschuldig war, da sie den älteren Sohn Friedrich „bevorzugte und dieses dem Vater mißfiel! Die besten Stücke an Kleidung und Wäsche erhielt er, und wo grobe Arbeit zu verrichten war, da kam sie auf Johann“. Diese „Ausnahmestellung Friedrichs“ erschien Kuh „um so bedenklicher […], als sie auf mißlichen Heimlichkeiten beruhte“. Die spätere Biographik wollte solche Differenzierungen nicht mehr zur Kenntnis nehmen. Kuh wußte hingegen noch von weiteren prekären Begebenheiten zu erzählen: „Als die Mutter einst für den eben von einer Krankheit genesenen Friedrich eine Hühnersuppe bereitet hatte, da genoß sie der Knabe im Dunkeln, damit niemand das Huhn zu Gesicht bekomme; sicherlich würde Johann gemurrt und der Vater gescholten haben“. Hebbel gestaltete diese Szene in der Erzählung Die beiden Vagabonden in bezeichnender Weise um. Er ließ den wundergläubigen Jacob erzählen:

Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 66. Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 67f. 834 SADGER, Friedrich Hebbel. Ein psychoanalytischer Versuch, S. 63. 835 Dieses und die folgenden Zitate: KUH, Biographie, Bd 1, S. 33f. 832 833

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Aber, wie ich größer wurde, da wollte Jedermann, und vornehmlich mein Vater, ein harter, unbilliger Mann, finden, ich sei eigentlich äußerst ungelehrig und ungeschickt, und ich hieß der dumme Jacob. Dieß zog ich mir einmal an einem Abende zu Gemüthe, wollte das Hühnel, das meine Mutter mir heimlich gebraten hatte, nicht essen, und begann bitterlich zu weinen [W 8, 136].

Von einer überstandenen Krankheit ist darin nicht die Rede, stattdessen kontrastiert Hebbel das heimlich gebratene „Hühnel“ direkt mit der mangelnden Arbeitstauglichkeit des wehleidigen Essers. Aus dessen Sicht erscheint der Vater zwar als ‚hart‘ und ‚unbillig‘. Zugleich wird jedoch die Äquivalenz von Essen und Arbeiten normativ vorausgesetzt; das harsche Urteil Jacobs über den Vater als nur subjektiv entlarvt. Das Urteil über die Komplizenschaft der Mutter mit dem Sohn bleibt dem Leser überlassen. In wiederum anderer Form erscheint diese Zwiespältigkeit des ‚mütterlichen‘ Verhaltens in einer autobiographischen Episode, von der Hebbel in den Aufzeichnungen aus meinem Leben berichtet: Mein Vater wurde, wenn er seinem Handwerk nachging, meistens bei den Leuten, bei denen er arbeitete, beköstigt. Dann aßen wir zu Hause, wie alle Familien, um die gewöhnliche Zeit zu Mittag. Mitunter mußte er sich aber gegen eine Entschädigung im Tagelohn selbst die Kost halten. Dann wurde das Mittags-Essen verschoben und zur Abwehr des Hungers um zwölf Uhr nur ein einfaches Butterbrot genossen. [...] An einem solchen Tage buk meine Mutter Pfannkuchen, sicher mehr, um uns Kinder zu erfreuen, als um ein eigenes Gelüst zu stillen. Wir verzehrten sie mit dem größten Appetit und versprachen, dem Vater am Abend Nichts davon zu sagen. [...] [W 8, 83].

Motive und Fortgang des Geschehens – die treusorgende, selbstlose Mutter; die unschuldigen Kleinen, die das Geheimnis herausplappern; der gestrenge, Rechenschaft verlangende Vater – dies alles paßt ins fortgeschrittene 19. Jahrhundert, in dem Hebbel das Erinnerte als schon fast rührselige Geschichte niederschreibt. Aus traditionaler Sichtweise verdient sie eine nüchternere Betrachtung: Es wurde ganz einfach „gegen die Hausordnung gefehlt“ [W 8, 83], wie Hebbel selbst eingestand. Zu den Wohltaten der Mutter hatte er innerlich sehr wohl ein ambivalentes Verhältnis. Diese Zwiespältigkeit war um so mehr angebracht, als man sich auf die Bevorzugung durch ein Elternteil nie verlassen konnte – diese basierte eben nicht unbedingt auf konstanten Gefühlen, sondern durchaus auf instrumentellem Denken oder spontanen Antrieben. Eine kohärente Erziehungspraxis, bei der auch die Eltern ihr Verhalten an bestimmte Maßstäbe anpassen, war in der traditionalen Gesellschaft, abgesehen von der ‚Logik des Strafens‘, oft nicht gegeben. Bei Antje Margaretha Hebbel kamen „minder gute“ Eigenschaften wie „Jähzorn“ und „Aufbrausen“ ebenso hinzu, wie „die Fähigkeit, schnell und ohne Weiteres Alles, es sey groß oder klein, wieder zu vergeben und zu vergessen“ [T 1295]. Bei solcher Wechselhaftigkeit konnte die ungerechte Bevorzugung ihres älteren Sohns Friedrich ebenso schnell ins Gegenteil umschlagen, wie eine andere autobiographische Szene zeigt:

Die „Große Mutter“

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Ein Kind [Friedrich] ist krank und leidet heftigen Durst, es sehnt sich nach einem Glas Limonade und bittet seine Mutter darum, die Limonade wird endlich gemacht, aber nun ist in der Krankheit des Kindes ein neues Stadium eingetreten, es mag sie kaum sehen, geschweige denn trinken, darüber wird die Mutter so aufgebracht, daß sie das kranke Kind fast mißhandelt [T 3313].

Hier zeigt sich das übliche Bild: Unverständnis und Ungeduld gegenüber dem Kind, dessen Krankheit kaum in Rechnung gestellt und das stattdessen – womöglich zusätzlich zur fälligen Züchtigung? – „fast mißhandelt“ wird. Zu ihrer Verteidigung setzte Hebbel hinzu, daß „jene Mutter den letzten Heller für die Limonade des kranken Kindes ausgegeben und nicht so viel übrig behalten habe, um für das gesunde, das Mittags aus der Schule kam, Brot zu kaufen“ [T 3313] – ohne recht zu merken, daß hier ein fragwürdiges Handlungsmotiv vom nächsten abgelöst wurde: Wegen der Limonade für den Lieblingssohn hätte der andere so oder so aufs ‚täglich Brot‘ verzichten müssen. Die längere Verzögerung, nach der das Getränk „endlich“ gemacht wurde, deutet an, daß die Mutter selbst zögerte und eigentlich dagegen war. Hebbel fühlte, daß ihr inkohärentes und gewalttätiges Verhalten neueren Standards von ‚Mütterlichkeit‘ nicht mehr entsprach, und setzte gleichsam meta-kommentierend hinzu: Wenn eine solche Geschichte ohne Commentar erzählt würde, wie würden uns’re sentimentalen Damen auffahren, wie würden sie der Mutter alle mütterliche Gefühle absprechen, und wie würde es sie beleidigen, wenn der Erzähler sie unterbräche: Sie irren sich, meine Gnädigen, es war eine Mutter, so gut, wie es nur die beste von Ihnen seyn kann! [T 3313].

Da ist sie wieder: die den modern-„sentimentalen Damen“ entgegengesetzte „gute“ Mutter der traditionalen Gesellschaft – deren Verhalten ohne „Commentar“ allerdings nicht mehr zu verstehen ist. Für sie brachte Hebbel zwar ein Maß an Verständnis auf, an das gegenüber dem Vater kaum zu denken war. Seine Distanz äußerte sich jedoch auch hier: in der grammatischen Form der ‚dritten Person‘, in der Rede vom „Kind“ und „seiner Mutter“, als wären es Fremde. Und doch hatte er die Geschichte „in meiner Kindheit selbst erlebt“ [T 3313]. Liebe um ihrer selbst und um des Kindes willen belegen die angeführten Beispiele nicht. Aus Sicht des Kindes stehen der Genugtuung über die bevorzugte Behandlung Angst und Mißtrauen gegenüber, die teils nur situativ bedingten Privilegien zu verlieren. Schon Emil Kuh schränkte ein: „Auf der Straße freilich nahm man nicht wahr, daß Friedrich der Mutter Liebling sei“,836 und Isidor Sadger erachtete die Zeit nach der Geburt des jüngeren Bruders als „eine Zeit, wo Friedrich sich nicht bloß von seinem Vater zurückgesetzt wähnte, sondern auch von der Mutter“.837 Sadger fand diese strukturellen Verlustängste Hebbels in dem Märchen Die einsamen Kinder gespiegelt, „das wohl nur darum so rasch produziert wurde, weil der Stoff seit langem in ihm bereit lag [...] und die Geschichte von der zerbrochenen Tasse auf ein wirkliches 836 837

KUH, Biographie, Bd 1, S. 34. Dieses und das folgende Zitat: SADGER, Friedrich Hebbel. Ein psychoanalytischer Versuch, S. 31f.

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Das Elternhaus

Erlebnis zurückgehen dürfte.“ Daß „das Märchen im persönlichen Erleben des Dichters“ wurzele,838 hielt auch Wolfgang Liepe für unzweifelhaft: „In dem Verhältnis Wilhelms, des älteren der beiden Brüder, zu dem jüngeren Theodor spiegeln sich unverkennbar die eifersüchtigen Spannungen wider, die sich in Hebbels Haltung zu seinem jüngeren Bruder auswirkten“. Die Geschichte enthält folgende Episode: Die Mutter hatte einmal eine schöne Tasse zerbrochen gefunden; sie hatte geglaubt, daß Wilhelm, den sie immer den Ungestümen, den Wilden zu nennen pflegte, am Zerbrechen der Tasse schuld gewesen sey; sie hatte ihn zur Rede gesetzt, und, ohne auf die flehentlichen Betheuerungen seiner Unschuld zu hören, ihn hart gezüchtigt. Späterhin, als Theodor von seinem Spatziergange mit seinem Vater aus dem Walde zurückgekehrt war, hatte dieser bekannt, er habe die Tasse unvorsichtiger Weise an die Erde geworfen, und statt ihn zu strafen, hatte die Mutter ihm seine Unvorsichtigkeit kaum in einigen gelinden Worten verwiesen, und ihn dann, als ihm eine Thräne über die Wange floß, gleich wieder geliebkos’t.839

Zu dieser Märchenpassage stellt Sadger fest: „Im Gegensatz zu des Dichters Aufzeichnungen und den mündlichen Mitteilungen an Emil Kuh ist Johann [= Theodor, C. S.] da nicht bloß vom Vater bevorzugt, was ja den tatsächlichen Verhältnissen entsprach, sondern auch noch von der Mutter begünstigt [...]. Wie ist nun der Widerspruch zwischen der Wirklichkeit und jener wiederholten Behauptung des doch sichtlich autobiographischen Märchens zu beheben?“840 Als Psychoanalytiker griff Sadger zu dessen Klärung auf frühkindliche Erfahrungen zurück, als des kleinen Bruders „körperliche Hilflosigkeit intensivere Beschäftigung der Mutter mit dem Kindlein heischte, auch wenn sie innerlich dem älteren den Vorzug geben mochte“.841 Doch ist diese Rekonstruktion unnötig: Angesichts des traditional-inkohärenten Verhaltens der Mutter, zu dem Wechselhaftigkeit, Unberechenbarkeit und geringe Kontrolle des eigenen Verhaltens zählen, kann man davon ausgehen, daß das Verhältnis auch des Lieblingssohnes zu ihr von einer latenten, grundlegenden Unsicherheit geprägt war, die schon beim Zubruchgehen einer Tasse bestätigt und manifest wurde. Die Scherben als Symbol dafür, wie abrupt dieser „in seinen heiligsten Gefühlen verletzt und seinen Eltern ohne sein Zuthun entfremdet“ [DjH II, 87] werden kann, zeigen zugleich die Brüchigkeit der „heiligen“ Gefühle und der Familienverhältnisse überhaupt. Die starke Ambivalenz der Mutter-Kind-Beziehung in der vormodernen familiären Konstellation läßt sich hinsichtlich der kindlichen Perspektive mit dem tiefenpsychologischen Befund Erich Neumanns in einen Zusammenhang bringen, gemäß dem im Archetyp der Großen Mutter „eine Fülle gegensätzlicher Aspekte miteinander verbunden“842 sind. Sobald das früh-menschliche Ich ein vom mütterlichen „Uroboros“

Dieses und das folgende Zitat: LIEPE, Hebbels philosophisches Jugendmärchen Die einsamen Kinder, S. 9. 839 DjH II, 87. Vgl. neuerdings, mit Blick nicht auf die Sozialisation, sondern auf die „Individuation“: RITZER, Das Individuationmodell in Hebbels Märchen Die einsamen Kinder. 840 SADGER, Friedrich Hebbel. Ein psychoanalytischer Versuch, S. 32f. 841 Ebd., S. 34. 842 Dieses und die folgenden Zitate: NEUMANN, Die große Mutter, S. 257f. 838

Die „Große Mutter“

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unterscheidbares Selbst-Bewußtsein entwickelt, wird die Mutter als „wesentliche Ursache der Ichüberwältigung und Orientierungsunfähigkeit des Bewußtseins“ wahrgenommen. So entwickeln sich aus der anfänglichen „ununterscheidbaren und paradoxen Fülle“ allmählich „zwei Seiten des Mutterarchetyps, neben einer dunklen, furchtbaren steht eine helle, segenspendende“.843 Ihm gegenüber sind gleichzeitig „Positives und Negatives“,844 „Liebe und Haß“ wirksam. Dieser Zustand der Ambivalenz ist nach Neumann „sowohl für den Primitiven wie für das Kind ursprünglich“. Die dunkle, negativ faszinierende Seite der Großen Mutter äußert sich „besonders häufig und deutlich betont“845 in zwei Motiven: „das eine ist das blutige und grausame Wesen der großen Muttergöttin, das andere ihre Zauber- und Hexenkraft.“ So droht dem erwachenden männlichen Ich durch die „wild-emotionale Leidenschaftsnatur des Weiblichen“,846 die in vielerlei Form sublimierte und unterdrückte „Tötung und Zerstückelung oder Kastration“.847 Diese „Destruktion ist nun wieder, und wird auch oft so dargestellt, mit einem Akt des Essens und der Einverleibung verbunden.“848 Die Mutter wird zur „Fleischfresserin“849 am eigenen Kind. Nun möchte man kaum denken, daß solche archaischen Vorstellungen auch in Wesselburen umliefen und Antje Hebbel gegenüber ihrem Friedrich eine „als grauenerregend empfundene Macht“ ausgeübt haben soll, die das „noch fragile Subjekt zu verschlingen droht“.850 Und dennoch bezieht sich der „erste starke, ja fürchterliche Eindruck“ [W 8, 88], den Hebbel überhaupt aus der Bibel bekam, auf genau diese Vorstellung – als nämlich die alte Frau Ohl von nebenan „mir aus dem Jeremias die schreckliche Stelle vorlas, worin der zürnende Prophet weissagt, daß zur Zeit der großen Noth die Mütter ihre eigenen Kinder schlachten und sie essen würden“.851 Damit hatte sie an eine Ur-Angst des kleinen Friedrich gerührt. Denn dieser schrieb später: Ich erinnere mich noch, welch ein Grausen diese Stelle mir einflößte, als ich sie hörte, vielleicht, weil ich nicht wußte, ob sie sich auf die Vergangenheit oder auf die Zukunft, auf Jerusalem oder auf Wesselburen bezog, und weil ich selbst ein Kind war und eine Mutter hatte.852

In Judith hat Hebbel diese Vorstellung in aller Drastik ausgemalt [W 1, 77f.]. Damit nicht genug: In rationalisierter und verallgemeinerter Form kehrte sie in einer Idee für Hebbels nicht realisiertes Drama [Z]u irgendeiner Zeit wieder, wo, „so wie jetzt die Kindes-Mörderinnen bestraft werden, sie dann eine Belohnung erhalten und daß Staats-

Ebd., S. 113. Dieses und die folgenden Zitate: Ebd., S. 261. 845 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 54. 846 Ebd., S. 43. 847 Ebd., S. 58. 848 Ebd., S. 107. 849 Ebd., S. 58. 850 SUCHSLAND, Julia Kristeva zur Einführung, S. 121. 851 W 8, 88. Zum Kannibalismus-Motiv bei Hebbel vgl. SCHOLZ, „Weil mich’s schauderte vor der unmenschlichen Speise“: Kannibalismus und Vampirismus im Werk Friedrich Hebbels. 852 W 8, 88. Hervorhebung C. S. 843 844

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Das Elternhaus

anstalten existiren müßten, worin die Kinder der Pauperisten getödtet würden.“853 Erst später erfuhr Hebbel, daß seine urweltliche „Phantasie“ schon längst von dem „National-Oeconom Malthus“ vorgedacht worden war.854 Im Zusammenhang mit dem Pauperismus-Problem und der allzu großen Vermehrung der Menschen hatte Hebbel auch spekuliert, daß „sie sich nothwendig selbst auffressen müssen“. Das entsprang nun nicht unbedingt aufgeklärtem nationalökonomischem Denken – die Figur des „Kinderfressers“ gehörte dafür zum Inventar der vormodernen Schreckgestalten, die in Hebbels Kopf seit Kindertagen ihren Platz hatten und diesen zu behaupten wußten. Lebhaft entsann er sich etwa eines großen Nußknackers, den er als Kind von der Bäckersfrau geschenkt bekommen hatte: Vergnügt den Rückweg antretend und den Nußknacker als neugewonnenen Liebling zärtlich an die Brust drückend, bemerke ich plötzlich, daß er den Rachen öffnet und mir zum Dank für die Liebkosung seine grimmigen weißen Zähne zeigt. Man male sich meinen Schreck aus! Ich kreischte hell auf, ich rannte, wie gehetzt, über die Straße, aber ich hatte nicht so viel Besinnung oder Muth, den Unhold von mir zu werfen, und da er natürlich nach Maaßgabe meiner eigenen Bewegungen während des Laufens sein Maul bald schloß, bald wieder aufriß, so konnte ich nicht umhin, ihn für lebendig zu halten, und kam halb todt zu Hause an. [W 8, 102f.]

Auch wenn der Junge dafür von der Mutter erst ausgelacht, dann ausgescholten wurde – sie selbst prägte ihrem Sohn eine tiefsitzende Angst vor dem im Nachbarhaus wohnenden Weißgerber ein, indem sie „immer“ sagte, „er sähe aus, als ob er Einen verzehrt hätte und den Anderen eben bei’m Kopf kriegen und anbeißen wolle“. An der dauerhaften Wirkung dieses oft gehörten Spruchs der ‚Großen‘ Mutter ließ Hebbel keinen Zweifel, denn er fügte hinzu: „Dieß war die Atmosphäre, in der ich als Kind athmete. Sie konnte nicht enger sein, dennoch erstrecken sich ihre Eindrücke bis auf den gegenwärtigen [!] Tag“ [W 8, 82f.]. Eine merkwürdige Koinzidenz: Hebbels Karriere als Dramatiker begann damit, daß eine nach zeitgenössischem Verständnis unerhört starke und aktive Frau den männlichen Helden „bei’m Kopf kriegen“ sollte – es war Judith, die – mit Erich Neumann gesprochen – die Identitätsängste eines „phallischen Jünglingsgottes“855 theatralisch aktualisierte. Wenn man partout von einem „Todeswunsch wider den Vater“856 oder gar der Vernichtung der Vaterwelt857 sprechen möchte, dann müßte man konsequenterweise akzeptieren, daß dieser archaische Wunsch nicht weniger mit Blick auf die „fressende böse“ 858 Mutter am Platze war. Doch in der vormodernen Gesellschaft sind diese Phantasien noch in weit geringerem Maße internalisiert und fokussiert als später bei

Dieses und die folgenden Zitate: WAB 1, 586. HUMMEL, „Mein Buch ist wie eine Feuerkohle in der Tasche“, S. 45, Anm. 19, bezog auch die „Kindsmörderinnen“-Stelle irrtümlich auf die Mutter Hebbels! 854 Allerdings nicht in dieser Form, vgl. dazu WAB 1, 590, Anm. 7. 855 NEUMANN, Die große Mutter, S. 58. 856 THOMSEN Grenzen des Individuums, S. 148. 857 DETERING, Hebbel oder Die Vernichtung der Vaterwelt. 858 NEUMANN, Die große Mutter, S. 25. 853

Kommunikation zwischen Mißverstehen und Identifikation

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den Patienten Sigmund Freuds. Sie finden konkrete mythologische Projektionsfiguren in Bibel, Märchen, Volksglauben – und wenn es sein muß, auch in einem Nußknacker. Dies nimmt der traditionalen Mentalität jedoch nichts von ihrer psychosozialen Dramatik. Gerade die panische Reaktion Friedrichs auf den gähnenden Nußknacker, der eben noch der „zärtlich“ gedrückte „Liebling“ gewesen war, zeigt, wie präsent die stete Erwartung eines ins Gegenteil umschlagenden Verhaltens war. Auch die reale Beziehung zur Mutter war – bei aller Bevorzugung des älteren Sohnes – weniger von Liebe und Zärtlichkeit als von Verunsicherung und Angst geprägt. Männliches und weibliches Verhalten unterschieden sich allenfalls graduell voneinander. Wenn es dennoch zu einem Zurückdrängen ihrer dunklen Seiten kommt, so liegt dies an der zunehmenden Emanzipation von der Mutter in den Knaben- und Jünglingsjahren, während die Erinnerung an ihre besondere Bedeutung in der Frühzeit bleibt. Die ambivalente Beziehung zu ihr wird dahingehend bearbeitet, daß „ihr Bild von widersprechenden Erfahrungen abgetrennt“859 und vereindeutigt wird. Auch menschheitsgeschichtlich, so Erich Neumann, wurde „die ursprüngliche Sakralfruchtbarkeit mit ihren grausamen Kastrationsriten abgelöst durch das Liebesmotiv“,860 das im Mythos der „Beziehung des Sohngeliebten zur Großen Mutter“ Gestaltung fand.

Kommunikation zwischen Mißverstehen und Identifikation Hebbels archaische Ängste tauchen allenfalls in kuriosen und kommentierungsbedürftigen Anekdoten auf – in den zentralen Aussagen über die gemeinsame Geschichte von Mutter und Sohn haben sie keinen Platz. Wurde dem Vater eine Seele rundheraus abgesprochen, so gilt ihr gegenüber der Glaube, sie müsse trotz aller Beschränktheit „doch immer eine Ahnung meines innersten Wesens gehabt haben“ [T 1295]. Ahnung und Liebe aber entspringen einer angeblichen Wesensverwandschaft beider. „Ich war ihr Liebling“, schrieb Hebbel, „weil ich meiner Mutter glich“ [W 8, 82]. Diese sei „äußerst gutherzig und etwas heftig“ [W 8, 82] gewesen; „aus ihren blauen Augen leuchtete die rührendste Milde, wenn sie sich leidenschaftlich aufgeregt fühlte, fing sie zu weinen an“ [W 8, 82]. Diese Emotionalität war auch des Dichters Erbteil, wie aus dessen Bekenntnis hervorgeht, daß ihr „Gutes und minder Gutes mir in meine eigene Natur versponnen scheint: mit ihr habe ich meinen Jähzorn, mein Aufbrausen gemein, und nicht weniger die Fähigkeit, schnell und ohne Weiteres Alles, es sey groß oder klein, wieder zu vergeben und zu vergessen“ [T 1295]. Von dieser Ähnlichkeit zur verbindenden „Ahnung“ war es für Theodor Poppe nur ein kleiner Schritt: „In ihr war wohl, wie Hebbel, der von ihr seinen Jähzorn, sein Aufbrausen erbte, später gemeint hat, eine Ahnung seines innersten Wesens lebendig, das ihn zu Besserem bestimmte als zum Nachfolger des Vaters im Maurerhandwerk“.861 Karl Strecker fundamentalisiert die psychische Ähnlichkeit hingegen zu PROKOP, Die Illusion vom großen Paar, S. 91. NEUMANN, Die große Mutter, S. 52. 861 POPPE, Lebensbild, S. XIII. 859 860

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Das Elternhaus

einem „mütterliche[n] Gefühl“, dessen Instinktivität ein Pendant zur Genialität darstellt, die dem Manne – wenn auch nicht jedem – gegeben ist: Wie so oft bei begabten Kindern, namentlich bei jungen Dichtern und Künstlern, stand auch bei Hebbel der Vater seinem Wesen stumpf, ja fremd und beinahe feindlich gegenüber, während das feinere mütterliche Gefühl instinktiv ein Verständnis für die notwendige Besonderheit der genialen Anlage hatte.862

Durch solche Parallelisierung von Mütterlichkeit und Genialität entsteht unter der Hand ein Mythos; er erschafft schließlich die ‚Dichtermutter‘. Die Mutter wird Muse, die Frau „Mittlerin zwischen dem Individuum und dem Kosmos“.863 Wer Antje Hebbel in solche Sphären hebt, übersieht leicht, daß Hebbel selbst ganz anders urteilte: Ernüchternd seine Auskunft, daß „sie mich niemals verstanden hat und bei ihrer Geistes- und Erfahrungsstufe verstehen konnte“ [T 1295]. Von „Verstehen“ und „Verständnis“ in einem emphatischen Sinn kann im Rahmen der traditionalen Gesellschaft ohnehin kaum die Rede sein. Den Einzelnen in seiner Besonderheit zu verstehen, war überflüssig – er hatte ‚verständig‘ zu sein. Denn in diesem geordneten, statischen Kosmos ‚verstand‘ sich ohnehin alles von selbst und war in klare Regeln und Redewendungen gegossen: „‘Leinenlos, ehrlos‘ sagte meine Mutter immer“ [T 5991]; und „Regen, Regen rull, [/] Regen, Regen, strull! [/] sang meine Mutter in Dithmarschen, wenn sie mich und meinen Bruder bei schlechtem Wetter im Sommer als kleine Jungen aus dem Fenster kuken ließ“.864 Die immergleichen Lebensformen äußern sich in immergleichen Formeln und spiegeln sich noch in den sprachlichen Wiederholungsstrukturen von Reihung, Alliteration und Reim, typischen Kennzeichen einer oralen Sprachkultur.865 Diese Merkmale sind Merkhilfen – das Einprägen hat Vorrang vor dem Verstehen. Die Vermittlungsformen von kulturellem Wissen waren vor ‚Erfindung‘ der Pädagogik keineswegs kindgemäß, so daß man mit Mutmaßungen über einen inneren Gleichklang von Mutter und Sohn zurückhaltend sein sollte. Symptomatisch sind z. B. die Erinnerungen an den ersten gemeinsamen Spaziergang mit der Mutter durch den Ort: „Nun sind wir auf dem Lollfuß! Das ist Blankenau! Hier geht’s zum Klingelberg hinüber! Dort steht das Eichennest!“ [W 8, 109], ‚erklärte‘ die Mutter dem Fünfjährigen (Abbildung 11). Verstehen konnte er davon nichts. Die ‚Sachlichkeit‘ der mütterlichen Informationen stand vielmehr im Kontrast zu den Eindrücken, die Dinge und Klänge bei ihm hinterließen: „Schon die Namen der Straßen und Plätze, wie räthselhaft und abentheuerlich klangen sie! […] Je weniger sich ein Anhaltspunct für sie fand, um so sicherer mußten sie Mysterien verbergen!“ [W 8, 109]. Unwillkürlich entstanden aus den bildhaften Rätselnamen Vorstellungen der „Sachen selbst“, die Phantasie trat erstmals an die Stelle des Verstehens. An diesen Namen deutete noch der Erwachsene herum – erscheint doch der offizielle, aber unverständliche HausSTRECKER, Friedrich Hebbel, S. 21. BEAUVOIR, Das andere Geschlecht, S. 182. 864 WAB 4, 682. Vgl. KUCKEI, Volkslieder aus Dithmarschen, S. 24, mit einer etwas anderen Meldorfer Fassung. 865 Vgl. dazu SCHOLZ, Orale Überlieferung im Wandel. Ein Kinderlied. 862 863

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und Straßenname „Eken-esch“ in Hebbels Bericht in inkorrekter hochdeutscher Übersetzung als „Eichen-nest“. Wie Hebbel sich den Namen „Lollfuß“ zurecht legte, ist nicht überliefert – noch Richard Maria Werner deutete ihn blumig und irrig als Reminiszenz an die „barfüßigen Lollbrüder der Alexianer, deren murmelnder Gesang einstens bei Leichenbegängnissen ertönte und vielleicht in Beisetzungsfeierlichkeiten noch lange fortlebte“.866 Bezeichnend für die Kommunikationsweise der Mutter ist auch, was Hebbel aus seiner frühesten Klippschulzeit erzählt: In meinem vierten Jahre brachte mich meine Mutter in die Schule. [...] Dort wurde ich, wie ich glaube, zuerst mit einer Masse von Knaben bekannt, und es dauerte nicht lange, so erfuhr ich Allerlei, was ich besser noch nicht erfahren hätte, nämlich, daß der Storch die Kinder nicht brächte, sondern daß sie ganz wo anders her kämen; auch, daß es nicht das Kind Jesus sey, welches mich zu Weihnacht beschenke, sondern, daß meine Eltern das thäten. Letzteres konnte ich nicht für mich behalten, sondern theilte es meiner Mutter gleich mit, sie bestritt mich nicht, sondern sagte mir bloß, daß ich, nun ich an das Kind Jesus nicht mehr glaube, auch zu Weihnacht Nichts wieder bekommen würde.867

Der Schilderung dessen, was der noch nicht Vierjährige in der Schule als erstes ‚lernte‘, schickt Hebbel die Bewertung voraus, daß er diese Dinge „besser noch nicht“ erfahren hätte – die „sentimentalen Damen“ hören mit. Wie aber reagierte Antje Hebbel? Die ‚Aufklärung‘, die der Sohn in der Schule über das Christkind erhielt, wurde von ihr schlicht ignoriert, das Kind seiner Verwirrung überlassen. Allerdings wurde das neue Wissen bestraft, was die Angelegenheit noch undurchsichtiger machen mußte: Möglicherweise war es gerade das Kind Jesus, das, als Sanktion für den Glaubensverlust, keine Weihnachtsgeschenke mehr bringen würde und so gerade ex negativo seine Existenz erwiese. Die Reaktion der Mutter beließ den Sachverhalt insgesamt in einer Schwebe zwischen Rationalem und Irrationalem. Unentschieden blieb aber auch, wem man glauben konnte: Der Mutter mit Jesus im Hintergrund, oder der neuen peer group in Gestalt der „Masse“ gleichaltriger Knaben? – Daß die Mutter ihn „kurz abfertigte, ohne daß der Knabe dadurch gestört oder aufgeklärt worden wäre“,868 ist auch von einem anderen Ereignis überliefert. Einmal glaubte ich im Wachen unsern Herrgott (Ausdruck meiner Eltern) in unserm Hause zu sehen, und zwar (lächerlich, aber wahr) in einem Zimmergesellen, der zu meinem Vater kam. Ich fragte meine Mutter nachher: nicht wahr, das war unser Herrgott? und wurde von ihr abgefertigt; ich erinnre mich aber nur des Factums, nicht dessen, was ich dachte oder empfand. Der Zimmergesell trug eine blau- und weißgestreifte Jacke. [T 1329]

Eine Erklärung dieser merkwürdigen Gedankenkombination hat erst Isidor Sadger versucht: „Die Brücke zu jener merkwürdigen Annahme schuf wohl, was er in der WERNER, Friedrich Hebbel. Ein Lebensbild S. 24. Erst in jüngerer Zeit wurde die Bedeutung überzeugend geklärt in: HERTING/LAUR, Der Straßenname „Lollfuß“ in Schleswig und Wesselburen. 867 T 2520. Dieser Zusammenhang erklärt die Notiz: „’Kind Jes!’ Das ist Deine Mutter.“ [W 15, 12]. 868 KUH, Biographie, Bd 1, S. 46. 866

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Das Elternhaus

Schule lernte, daß Jesus der Sohn eines Zimmermannes war, während die Farben der gestreiften Jacke vielleicht an den Himmel selber erinnern, blaues Firmament mit weißen Wolkenstreifen“.869 Vision und Beobachtung, Religion und Pragmatik, Rationalität und Irrationalität werden nicht zu einem umfassenden „Verstehen“ integriert. Die realen Hindernisse und Mißverständnisse im Verhältnis zur Mutter stehen in starker Spannung zur angeblichen Wesensgleichheit, gewollten Identifikation und ‚spiegelbildlichem Erkennen‘. Ob der Knabe dadurch nicht „gestört“ wurde, wie Emil Kuh meinte, ist zweifelhaft. Defizitäre Kommunikationsformen unter „Menschen, die einander innerlich verwandt sind, sich doch nicht näher kommen können“,870 stellen denn auch ein Grundproblem in Hebbels Tragödien dar. Wo die Gegenspieler „Vertreter verschiedener Weltanschauungen“ – bzw. verschiedener Mentalitäten – sind, tritt dieser Zug „am schärfsten“ hervor. Nach Inge Münch ist dies „der Fall in Judith, in Herodes und Mariamne, in Gyges und sein Ring und in Agnes Bernauer“.871 Bei Hebbel selbst wirkten kommunikative Defizite weiter in obsessivem Tagebuch- und Briefschreiben;872 sie verlieren sich erst allmählich in reiferen Jahren, in denen er den Wert des mündlichen Gesprächs regelrecht neu entdeckt. Nach dem Tod Antje Hebbels am 3. September 1838 wird das Schreiben über die Mutter zum Ersatz für fehlende wirkliche Kommunikation: „Wie stark in ihm der Wunsch war, ihr auch einmal vergelten zu können, ihr zu zeigen, was er für sie fühlt, denn sagen konnte er es ihr nie, dafür waren beider Naturen einander zu ähnlich in ihrer Herbheit und Verschlossenheit, das sagt die bitter schmerzhafte Eintragung in sein Tagebuch“,873 vermutete Etta Federn und suchte so noch in der Sprachlosigkeit den Gleichklang der „herben“ Naturen aufzufinden. Doch Hebbels Äußerungen blieben auch nach dem Tod der Mutter zunächst von stereotyper Kühle: Der rechte Schmerz wird erst kommen, wenn ich wieder ich selbst bin, wenn ich in Erinnerungen aus der Vergangenheit und in Träumen der Zukunft webe. [...] Ich habe, ich bekenne es, nur selten an meine Mutter gedacht, es war mir zu peinlich, mich in ihre trüben Zustände zu verlieren, in die ich keinen Sonnenstral fallen lassen konnte, es griff in’s Räderwerk meines ohnehin nicht mehr kräftig getriebenen Lebens störend ein.874 In meiner Kindheit und Jugend konnte ich, wenn meiner Mutter nur das Geringste fehlte, vor Kummer kein Auge schließen; jetzt ist sie gestorben, [...] und ich schlafe so gut, wie immer. Bin ich schlechter geworden? Ich würde Ja sagen, wenn ich müßte, aber ich glaube es nicht. Ich bin nur abgestumpft [WAB 1, 263]. SADGER, Friedrich Hebbel. Ein psychoanalytischer Versuch, S. 41. Vgl. auch: „Wir wohnten einem Zimmerplatz gegenüber, auf dem die Gesellen bei Tage im Schweiß ihres Angesichts arbeiteten und des Abends zur Erholung ihre Pfeife rauchten, auch wohl pfiffen und sangen. Nun bildete ich mir ein, einer derselben sey der liebe Gott, ein schon etwas ältlicher Mann, der beständig eine blaugestreifte Jacke trug“ [W 15, 31]. 870 Dieses und die folgenden Zitate: MÜNCH, Die Tragik des germanischen Wesens, S. 361. 871 Allerdings sah Münch auch hier jene „Spannungen, welche die germanische Seele erfüllen“, am Werk [ebd., S. 362]. 872 Vor allem an Elise; vgl. dazu KNEBEL, Aspekte des ‚Briefschreibens‘, S. 72–76. 873 FEDERN, Friedrich Hebbel, S. 12. 874 WAB 1, 240f. Werner liest: „zu störend“ [B 1, 312]. 869

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Weit weniger denk’ ich an Dich, theure Mutter; ich kann’s nicht helfen, überhaupt bin ich starr und kalt und werde vom Leben nur noch hin und wieder im Vorbeigehen besucht. [T 1414].

Die Sprachlosigkeit gegenüber der Mutter auf der realen Ebene, die anhaltende Kühle im Tagebuch nach ihrem Tod, die hilflos wirkenden Rechtfertigungsversuche – all dies paßt nicht zum Bild der innigen Beziehung zwischen Mutter und Sohn, das sich durch die Biographik zieht. Während Hebbel die Ursachen seiner Kälte in den äußeren Umständen sucht und Isidor Sadger sie in sein Inneres verlegt („Die blanke Unfähigkeit des Schwerbelasteten, bei einer Empfindung lang auszuharren“),875 kommt Kurt Küchler dem eigentlichen Grund wohl näher. Ganz beiläufig notiert er, daß der Tod des Studienfreundes Emil Rousseau Hebbel mehr erschütterte „als der kurz vorher, im September 1838, erfolgte Tod der zwar geliebten, aber seinem Innersten doch fremd gebliebenen Mutter“.876 Unbeabsichtigt und unversehens rückt er sie damit neben den Vater, denn auch er „blieb den Kindern immer fremd“.877 Geflissentlich wurde dies von den Biographen ignoriert, um zu eindeutigen Urteilen zu kommen – die insgesamt einander widersprechen: „Wie tief, bis in die Grundfesten seines Seins ihn dieser Schlag [der Tod der Mutter] erschüttert, lassen seine Tagebücher und die Briefe an Elise erkennen“,878 schreibt Karl Strecker vollmundig. Nicht weniger deutlich kritisiert dagegen Albrecht Janssen den „fehlenden Familiensinn“879 Hebbels und beklagt: „Auch das Grab von Hebbels Mutter hat nie ein Kreuz oder ein Denkstein geschmückt. Die Taten stehen im seltsamen Kontrast zu den Worten in den Tagebüchern und Briefen“.880 Isidor Sadger schöpft anhand eines Zitats aus Maria Magdalena Verdacht: „‘Ich glaube, er liebt mich nicht einmal. Hast du ihn ein einzigmal weinen sehen während meiner Krankheit?‘ Wiederholt das nicht nackt das Betragen des Dichters gegen seine Mutter?“881 Zumal die Gestalt des Holofernes ist für ihn „ein getreues Abbild des narzißtischen Dichters“.882 „Was ihn am Gedanken, von einer Mutter geboren zu sein, am meisten abstößt, ist, daß ihm diese der Spiegel seiner Ohnmacht wäre von gestern und morgen.“883 Doch solche starken Worte macht Hebbel gerade nicht oder eben nur in der Fiktion. Anläßlich des Todes der Mutter schreibt er an den Wesselburener Kirchspielschreiber Voss zweideutig und hintergründig: „Ich sage Ihnen Nichts über das, was ich empfinde. [...] Mein Streben geht zu sehr in’s Unermeßliche, als daß ich die Empfänglichkeit für das, was man auf Erden Glück nennt, behalten haben könnte“ [WAB 1, 242]. Die Distanz zur Mutter, auch wenn dem Briefpartner durch das ‚Liebernichts-Sagen‘ das Gegenteil suggeriert werden soll, ist unüberhörbar. Zugleich aber SADGER, Friedrich Hebbel. Ein psychoanalytischer Versuch, S. 141. KÜCHLER, Friedrich Hebbel, S. 64. 877 Ebd., S. 36. 878 STRECKER, Friedrich Hebbel, S. 162. 879 JANSSEN, Die Frauen rings um Friedrich Hebbel, S. 7. 880 Ebd., S. 73. 881 SADGER, Friedrich Hebbel. Ein psychoanalytischer Versuch, S. 369. 882 Ebd., S. 334. 883 Ebd., S. 335. 875 876

168

Das Elternhaus

ermöglicht die geringe „Empfänglichkeit“ eine Überhöhung der Beziehung ins „Unermeßliche“. Genau diese Bewegung kennzeichnet auch den allerersten Tagebucheintrag nach dem Tod der Mutter, der ein „Neues Irren; neues Leben!“ und ein „Neues Tagebuch“ [T 1294] einleitet: Er beginnt im amtlichen Schreiberton und geht dabei zunächst über in den Stil eines ärztlichen Bulletins, samt der Diagnose des mütterlichen Charakters: Sonntag, den 16ten d. M., als ich kaum zu Mittag gegessen hatte, erhielt ich einen Brief von meinem Bruder, worin er mir anzeigte, daß meine Mutter Antje Margaretha, geb. Schubart, in der Nacht vom 3ten auf den 4ten um 2 Uhr gestorben sey. Sie hat ein Alter von 51 Jahren und 7 Monaten erreicht und ist, was ich für eine Gnade Gottes erkennen muß, nur 4 Tage krank gewesen, 4 Tage ganz leidlich, so daß sie noch selbst aufstehen konnte, den 5ten sehr bedeutend, mit Krämpfen geplagt, die ein Schlagfluß mit dem Leben zugleich (auf sanfte Weise, wie der Arzt sich aussprach) endete. Sie war eine gute Frau, deren Gutes und minder Gutes mir in meine eigene Natur versponnen scheint“ [T 1295].

Auch in der autobiographischen Herstellung einer seelischen Übereinstimmung von Friedrich und Antje Hebbel, die der Dichter in ihrer „Ahnung meines innersten Wesens“ [T 1295] gipfeln ließ, zeigt sich die Abtrennung von „widersprechenden Erfahrungen“, an der die Biographik eifrig weiterarbeitete. Hebbel aber sollte es vorbehalten bleiben, diese Beziehung ins Poetische zu steigern.884

884

Vgl. dazu den Abschnitt Heilige Mutter – göttlicher Sohn.

2. KLIPPSCHULE ODER: DIE VERKEHRTE WELT

Verhältnis der Eltern zur Schule „In meinem vierten Jahre wurde ich in eine Klippschule gebracht“ [W 8, 88], berichtete Hebbel einleitend über seinen zweiten Lebensabschnitt. Schon diese schlichte Mitteilung wirft Fragen auf. Denn die Schulpflicht begann meistens „mit 6 Jahren, ebenfalls im Kirchspiel Wesselburen“.885 Auch in dieser Hinsicht war Hebbels ‚Kindheit‘ in der Tat kurz. Dabei war seine Einschulung schon „immer wieder verschoben[…]“ [W 8, 97] worden. Sollte dahinter etwa eine ungeahnte Bildungsbeflissenheit der Eltern zu vermuten sein? In solche „Vorbereitungsschulen […] schickten gut situierte Eltern ihre Kinder, um ihnen den Anfang in der Volksschule leicht zu machen“,886 meinte Detlef Cölln, der langjährige Rektor der Wesselburener Mittelschule. Optimistisch vermutete auch Rainer S. Elkar: „Die Bereitschaft, die Kinder schon früh zur Schule zu schicken, sprach eher für eine gewisse Aufgeschlossenheit gegenüber Bildung“.887 Anders beurteilte John R. Gillis die Funktion der Schule: „Sie nahm den Eltern ihre überzähligen Kinder ab“.888 Ausführlicher stellten Jeismann und Lundgreen die sozialgeschichtlichen Hintergründe dieses Sachverhalts dar: Bis ins Ende des 18. Jahrhunderts herrschte eine wirtschaftlich, psychologisch und bildungstheoretisch motivierte Tendenz zur Verfrühung des Zeitpunkts der Einschulung. Gerade in bäuerlichen und handwerklichen Elternkreisen beobachtete man die Volksschule zunächst häufig noch als ein Hindernis für die Beschäftigung der Kinder im elterlichen Betrieb; die verschärften staatlichen Zwangsmaßnahmen zur Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht veranlaßten die Landbevölkerung daher dazu, die arbeitsuntüchtigen Kleinkinder so früh als möglich einzuschulen, um die älteren Schulkinder um so ausgiebiger in Anspruch nehmen zu können […]. Die meisten Schulordnungen der deutschen Länder antworteten aber auf diese Verfrühungstendenz seit etwa 1820 mit der schulrechtlichen Festlegung des Einschulungsalters. Im Regelfalle kann davon ausgegangen werden, das seitdem das vollendete 6. Lebensjahr an Georgi bzw. Martini zur Schulpflicht führte.889

Die frühe Einschulung der Kinder zeugte also nicht von einer besonderen Akzeptanz der Schule seitens der Eltern, sondern vom Gegenteil. Je früher die Kinder zur Schule kamen, um so eher standen sie den Eltern im arbeitsfähigen Alter wieder zur Verfügung. Hebbels Beispiel zeigt, daß die Tendenz zur verfrühten Einschulung im konservativen Holstein über das Ende des 18. Jahrhunderts hinaus anhielt. Sogar bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten sich diese Verhältnisse nicht wesentlich ERICHSEN, Schulgeschichte der Landschaft Norderdithmarschen, S. 102. CÖLLN, Zeittafel, S. 127, Anm. 1. 887 ELKAR, Junges Deutschland, S. 141. 888 GILLIS, Geschichte der Jugend, S. 34. 889 JEISMANN/LUNDGREEN, Handbuch der Bildungsgeschichte, S. 147. 885 886

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Klippschule oder: Die verkehrte Welt

geändert: „Noch 1864 fand Bischof Koopmann bei seiner Generalkirchenvisitation in der Unterelementarklasse in Wesselburen ungefähr 30 Kinder von 5 Jahren und darunter vor und die Klasse deswegen überfüllt“.890 Das Verhältnis der Menschen zur Schule war dem der modernen ‚Wissensgesellschaft‘ geradezu diametral entgegengesetzt. Verbesserungen und Reformen im Schulbereich sowie die zunehmende Durchsetzung der Schulpflicht trafen auf zähen Widerstand seitens der sozialen Primärgruppe der Familie: „Da sollen die Kinder, oftmals schon bedeutende Arbeitskräfte für Haus und Hof, aus der Großfamilie ausgegliedert werden, um in einer sekundären Gruppe, in einer fremden Institution den kuriosesten Einflüssen ausgesetzt sein? Schließlich war für die meisten Kinder das Lesenlernen, insbesondere nach der schrecklichen Buchstabier- und Syllabiermethode, ein Geschäft, das keinen raschen Erfolg zeitigte“,891 schrieb Rudolf Schenda. Ludwig Fertig meinte: „Bis etwa zur sogenannten ‚Goethezeit‘ erhielt sich ein fast als ‚natürlich‘ zu nennendes Mißtrauen gegen die Schule als Institution“.892 Erst recht an der geographischen und kulturellen Peripherie Deutschlands änderte sich an dieser Haltung weiterhin wenig. Konkret aus der Schulgeschichte der Landschaft Norderdithmarschen berichtete Ernst Erichsen von der „Verständnislosigkeit der Eltern gegenüber der Schule, deren Arbeit sie oft als unnütz und überflüssig ansahen“.893 Bis zu der Zeit, als Schleswig-Holstein preußische Provinz wurde, also bis in die sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts hinein, sei im Verhältnis der Eltern zur Schule „gegenüber früher keine wesentliche Änderung eingetreten. […] Einsicht war noch überaus selten vorhanden“.894 Dabei folgten diese Eltern nur ihren eigenen Einsichten. In ihren Augen zog die Schule die Kinder lediglich von der Arbeit ab. Erichsen schrieb: „Einerlei, ob Arme, ‚Häusner‘, Kätner oder größere Besitzer, – alle hielten ihre Kinder im Sommer aus Gewinnsucht der Schule fern. Sie nahmen oder gaben sie in Dienst“.895 Ob aus Gewinnsucht oder Notwendigkeit, sei dahingestellt: Schon „mit acht Jahren fanden die Kinder zum Viehhüten Verwendung“896 – auch Hebbel sollte ja eigentlich den „Bauerjungen spielen“ [T 1295]. So beschränkte sich die Unterrichtszeit „im wesentlichen auf den Winter; im Sommer besuchten meist nur die kleineren Schüler den Unterricht“.897 Trotzdem bildeten die Schulversäumnisse, oft über Wochen und Monate, „ein ständiges Kreuz für Lehrer und Inspektoren“.898 Doch selbst diese hatten ein Einsehen: „Bis zur preußischen Zeit läßt sich kaum ein Fall nachweisen, daß die Prediger, sei es infolge Gleichgültigkeit oder um altem Herkommen nicht entgegenzutreten, das Gesuch um Befreiung von der Sommerschule ablehnten“.899 Der ERICHSEN, Schulgeschichte der Landschaft Norderdithmarschen, S. 190. SCHENDA, Alphabetisierung und Literarisierungsprozesse, S. 10. 892 FERTIG, Zeitgeist und Erziehungskunst, S. 39. 893 ERICHSEN, Schulgeschichte der Landschaft Norderdithmarschen, S. 101. 894 Ebd., S. 195. 895 Ebd., S. 103. 896 Ebd., S. 102. 897 Ebd., S. 192. 898 Ebd., S. 190. 899 Ebd., S. 192. 890 891

Verhältnis der Eltern zur Schule

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Wesselburener Pastor Volckmar gestand in einem Visitationsbericht aus dem Jahr 1813 sogar ein, daß „viele Kinder die Schule gar nicht […] besuchen; indem kein Zwang statt findet, dem dadurch auch an unsern Orten überall ausgewichen ist, daß manche Häuser gar nicht schulpflichtig sind“.900 Dies galt namentlich für Kinder auf Aussiedlerhöfen, die nicht zum „Dorfschaftsterritorium“ und folglich auch nicht zum Einzugsgebiet der Dorfschule gehörten! Auch Volckmars Nachfolger Marxen konnte nicht entgehen, daß der Schulbesuch „hier in einzelnen Schulen noch immer kläglich ist“,901 wogegen weder Kontrollbesuche in der Schule, noch „Ermahnungen und Drohungen bei den Eltern” etwas ausrichten konnten. Um die Schulbildung auf dem Lande war es daher äußerst schlecht bestellt: Die Dithmarscher Hütekinder lagen „30 Sommerwochen müßig auf dem Felde herum, verwilderten und vergaßen das Erlernte. Wenn die Kinder im Herbst wieder zur Schule kamen, mußten sie fast von vorne anfangen, sie waren widersetzlich, scharfe Strafen waren nötig, durch die ihnen die Schule noch mehr verleidet wurde“.902 Zusätzlich zu der ohnehin erheblichen Heterogenität der Großklassen wirkten die häufigen Versäumnisse der ärmeren Kinder auch „hemmend auf die Fortschritte der wohlhabenderen, die durchgängig regelmäßiger zur Schule kamen“.903 So ergab sich ein Teufelskreis, bei dem der Sinn von Schule schlechthin in Frage gestellt werden konnte: Ohne innere Wärme und ohne Freude müssen die Kinder die Schule besucht haben, die weder ihrer Entwicklungsstufe Verständnis erwies, noch sie fortschreitend förderte, sie weder mit den Dingen und Vorgängen ihrer Umgebung vertraut oder mit denen des Lebens bekannt machte, noch ihnen Impulse fürs Leben einhauchte. Lustlos und mit innerer Abneigung müssen sie dem Schulbetrieb gegenüber gestanden haben. Während der ersten Schuljahre trieben sie nichts als Buchstabieren, unternahmen nebenher erste Schreibversuche und lernten den – nicht erklärten – Katechismus gedankenlos auswendig. Mit 12 Jahren hatten sie dann meist alles gelernt, was die Schule ihnen zu bieten vermochte, nämlich neben Lesen, Schreiben und Rechnen religiöse Memorierstoffe. Auf dieser Stufe blieben sie dann bis zur Konfirmation stehen. Wenn der Pastor von ihnen verlangte, am Montag den Hauptinhalt der Sonntagspredigt schriftlich vorzulegen, waren sie meist außerstande, den entsprechenden Entwurf des Lehrers richtig abzuschreiben. Bis zur Schulentlassung hin lernten sie Unverstandenes auswendig, ohne innere Anteilnahme und ganz monoton.904

Den gleichbleibend desolaten Schulverhältnissen entsprach die gleichgültige Haltung vieler Eltern der Schule gegenüber: „Sie hatten meist selbst nichts Rechtes gelernt, und so verlangten sie nicht, daß ihre Kinder besser unterwiesen wurden. Rechnen, Lesen und Schreiben sowie religiöses Gedächtniswerk genügten ihnen, weitere Kentnisse fürs Leben achteten sie nicht. Sie vertraten sogar die Ansicht: wer nicht viel weiß, von Dieses und das folgende Zitat: VOLCKMAR, Bericht. Zum GK. Visit. Protocoll von Norderdithmarschen 1813. Anlage Eb). LA S-H, Abt. 19, Nr. 75. 901 Dieses und das folgende Zitat: MARXEN, Bericht über Veränderungen in Kirchen- und SchulAngelegenheiten. 10.8.1821. LA S-H, Abt. 19, Nr. 75. 902 ERICHSEN, Schulgeschichte der Landschaft Norderdithmarschen, S. 102. 903 Ebd., S. 226. 904 Ebd., S. 106. 900

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Klippschule oder: Die verkehrte Welt

dem kann Gott auch nicht viel fordern“.905 Andererseits konnte, wer nicht viel wußte, auch von der Respektsperson des Vaters nicht zu viel fordern. Diese Haltung war Hebbel selbst offenbar allzu gut vertraut. Den Richter Kilian in Der Diamant ließ er als pädagogische Maxime aussprechen: „Der Junge soll nicht klüger werden, als sein Vater ist. Er ist mir schon jetzt zu klug […] und macht mich schaamroth. Lass’ ich ihn noch weiter kommen, so verliert er zuletzt allen Respect vor mir“ [W 1, 353]. Unter anderen Anekdoten hatte Hebbel schon 1833 notiert: Der Bettelvogt eines kleinen Orts, der von dem Universum der menschlichen Kenntnisse nur einen höchst geringen Theil umfaßt, und es kaum so weit gebracht hatte, seinen Namen zu schreiben, ward von Jemandem gefragt, warum er seinen Sohn – ein Kind von 8 Jahren – der früher die Schule sehr ordentlich besucht, jetzt gar nicht mehr dahin schicke. „Mein Junge,“ war die Antwort, „weiß jetzt gerade so viel, wie ich; wenn er mehr lernte, müßte ich mich ja am Ende vor meinem eignen Jungen schämen!“ [DjH II, 102]

Die kleine Satire des jungen Hebbel zeigt, daß die Schule in zweifacher Weise als irritierendes Moment in die traditionale Ordnung einbrach: Einerseits vermittelte sie Kenntnisse, die kaum einen praktischen Nutzwert besaßen; andererseits mußte man sich „schämen“, diese nicht zu besitzen – besonders, wenn es um religiöses Heilswissen ging. Hebbel berichtete, wie „ungemein“ es dem gutmütigen Nachbarn Ohl „imponirte“, daß „ich bald besser wußte, als er selbst, was der wahre Christ Alles glaubt“ [W 8, 104]. Was aber mochte der Vater darüber denken? Hebbel hat es nicht überliefert. Womöglich brachte dieses neue „Ansehen“ [W 8, 104] den schuldigen „Respect“ des kleinen Besserwissers und damit die familiäre Ordnung insgesamt ins Wanken. Franz Faßbinder meinte, „auch dies wenige“, was die Schule Friedrich zu geben vermochte, „gönnte ihm sein Vater nicht. Er machte Versuche, ihn zu seinem Maurerhandwerk heranzuziehen“906. Doch nicht aus Mißgunst zog Claus Hebbel den Sohn zur Arbeit heran. Es hatte Tradition, die sonderbare Klippschule für überflüssig, die moderne Elementarschule gar für schädlich zu halten. Seine Bemühungen, dem Sohn das eigene Handwerk beizubringen, mußte ihm dagegen als die eigentliche ‚Schule des Lebens‘ gelten. Wenn der Maurer seine Kinder als Handlanger „in graue Leinenkittel“907 steckte, dann war dies keine schöne, aber eine zweckmäßige Kleidung. Und wenn er selbst „neue Kleider schmutzig machte“ [W 15, 12], dann zeigt sich, wie deutlich die traditionale Arbeitsmentalität ihm auch äußerlich eingeprägt war: Wer im schmutzigen Kittel ging, sah auch nach Arbeit aus. Anders hatte die Mutter an ihren Kindern gehandelt. Über sie stimmte Hebbel die Lobeshymne an: „Ihr allein verdanke ich’s, […] daß ich regelmäßig die Schule besuchen, und mich in reinlichen, wenn auch geflickten Kleidern öffentlich sehen lassen konnte“ [T 1295]. Da die Kinder „ordentlicher gekleidet zur Schule gehen [mußten], als es für das Hüten des Kleinviehs nötig war“908 (oder auch für die Arbeit auf dem Bau), erlebte man die Polarität der beiden Ebd., S. 99. FASSBINDER, Friedrich Hebbel, S. 20. 907 MATTHIESEN, Friedrich Hebbel, S. 14. 908 ELKAR, Junges Deutschland, S. 141. 905 906

Verhältnis der Eltern zur Schule

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Sphären konkret am eigenen Leibe. Der direkte Zusammenhang von Schulbesuch und öffentlichem Sich-sehen-Lassen wurde von Hebbel unverblümt ausgesprochen. Auch daß Hebbel dank der Mutter „regelmäßig“ die Schule zu besuchen hatte, war zuallererst ein gesellschaftliches Signal. Erichsen berichtete, daß es die wohlhabenderen Kinder waren, die durchweg regelmäßiger zur Schule kamen. Wer sein Kind zur Schule statt auf die Weide schickte, zeigte damit, auf Kinderarbeit nicht angewiesen zu sein. Mutter Hebbel wußte sehr gut, warum sie ihren Sohn zum steten Besuch einer Schule anhielt, von deren eigentlichem Sinn und Zweck sie nicht viel verstand. Nicht Bildungsbeflissenheit, sondern ein gesellschaftliches Status- und Anspruchsdenken ist als Motivation zu vermuten, das durchaus komplementär zur Haltung des Vaters ist: Was dieser fortwährend erkämpfen muß, wird von der Wesselburener Amtschuhmachermeistertochter als Erreichtes präsentiert. Vordergründig kontrastierte das eifrige Bemühen Antje Hebbels nicht nur mit der Ablehnung durch den Vater, sondern auch mit der Zaghaftigkeit des Jungen, dem die Klippschule von vornherein nicht geheuer war. Denn, ganz gleich wie man zur Schule stand: Die Einschulung der Kinder bedeutete einen „ganz gewaltigen Einbruch in das soziale Gefüge der Primärgruppe Familie“909, also in die vorgängige und selbstverständliche Arbeits- und Sozialordnung. So schilderte auch Hebbel – wenngleich mit freundlicher Ironie – „meine Entlassung aus dem väterlichen Hause in die Schule“910 als das „große Ereigniß“ einer ersten Lebenswende. Dies kündigte sich schon am Vorabend des ersten Schultags an. Im Hause wurden die vermutlichen Auswirkungen dieses Schritts in den ‚Ernst des Lebens‘ kontrovers besprochen. Die hexenhafte Nachbarin Meta prophezeite: „Er wird weinen“, Nachbar Ohl hingegen meinte: „Er wird sich tapfer halten“. Die Mutter aber begleitete den Knaben die wenigen Schritte die Norderstraße entlang, bis an die Schwelle dieses neuen Lebensabschnitts: Die Mutter ging mit, um mich feierlich zu introduciren, der Mops folgte, ich war noch nicht ganz verlassen, und stand vor Susanna, ehe ich’s dachte. Susanna klopfte mich nach Schulmeister-Art auf die Backen und strich mir die Haare zurück, meine Mutter empfahl mir in strengem Ton, der ihr viel Mühe kostete, Fleiß und Gehorsam und entfernte sich eilig, um nicht wieder weich zu werden, der Mops war eine ziemliche Weile unschlüssig, zuletzt schloß er sich ihr an.

Diese Übergangssituation war für Hebbel offenbar nur schwer zu bewältigen. Genauestens registrierte er deren Details: von der Schulmeister-„Art“ der merkwürdigen Lehrerin über die plötzliche falsche Strenge der Mutter bis hin zur – rückblickend humoristischen – Schilderung des mütterlichen Trabanten, des Mopses. Nachdem seine Herrin gegangen war, blieb er noch „eine ziemliche Weile unschlüssig“ – „zuletzt“ erst folgte er der mütterlichen Autorität. Für den Sohn aber bedeutete diese Trennung das erstmalige Verlassen der ‚mütterlichen‘ Welt. Hebbel kommentierte: „Ich war bis dahin ein Träumer gewesen, der sich am Tage gern hinter den Zaun oder den Brunnen verkroch, des Abends aber im Schooß der Mutter oder der Nachbarin909 910

SCHENDA, Alphabetisierung und Literarisierungsprozesse, S. 10. Dieses und die folgenden Zitate: W 8, 97f.

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Klippschule oder: Die verkehrte Welt

nen kauerte und um Märchen oder Gespenstergeschichten bat. Jetzt ward ich in’s thätige Leben hinein getrieben; es galt, sich seiner Haut zu wehren“ [W 8, 115]. Hebbel nennt hier noch einmal die Merkmale der kindlich-‚uroborischen‘ Welt – mündliche Erzählkultur, Geborgenheit, Träumerei, Frommsein – aus der ihn die Mutter in eigener Person „in’s thätige Leben“ getrieben habe. Doch konnte dies das ‚richtige‘ Leben sein, wo man die bisherigen Ideale zu verraten und sich zu wehren hatte? Konnte die Mutter ihm wirklich seine Regressionswünsche verargen? An sich gehörte Friedrich zu den regelmäßigen Schulbesuchern. Aber: Ein einziges Mal ließ ich mich durch einen älteren Knaben, den Sohn eines Tischlers, der neben uns wohnte, verleiten, ohne Bewilligung meiner Mutter aus der Schule weg zu bleiben. Es war ein heißer, heißer Nachmittag, auf der Straße oder einem Spielplatz wagte ich nicht, mich blicken zu lassen, weil ich von meiner Mutter gesehen zu werden fürchtete; auf den Rath jenes Knaben verkroch ich mich also zwischen einer Menge von Brettern und Balken, die seinem Vater gehörten und die zwischen unserem Hause und dem des Tischlers aufgeschichtet lagen; in diesem dunklen, dumpfen Schlupfwinkel, wo ich mich vor Hitze nicht zu lassen wußte, beschloß ich so lange zu verharren, bis die anderen Kinder aus der Schule kämen; es war ein peinlicher Zustand, dennoch war ich gar wohl zufrieden, der Schule, in welcher es mir gut ging, einmal entronnen zu seyn. Aber mein Verführer, der seinen Spaß mit mir treiben mogte, verrieth mich zuletzt an meine Mutter, als sie zum Wasserschöpfen ging, er zeigte ihr meinen [sic!] Versteck, sie trieb mich heraus und brachte mich, obgleich ich sie flehentlich beschwor, es nicht zu thun, und mich vor ihr auf der Erde wälzte, noch zur Schule, wo ich denn zum Spott und Gelächter meiner Mitschüler und Mitschülerinnen eben um die Zeit, wo sie die Schule verlassen wollten, ankam [T 2520].

Noch einmal wird Hebbel zum „Träumer“, der sich in einem dunklen „Schooß“ verkriecht – allerdings unter merkwürdiger Umkehrung der geschlechtlichen Orientierung. Denn angesichts der Kontrollfunktion der Mutter liegt das Versteck nicht im mütterlichen Bereich, sondern unter einem Bretterhaufen, im handwerklichen Umfeld der Väter. Mit Hilfe eines männlichen Komplizen versteckt sich der Knabe hier vor der ‚Großen Mutter‘. Sie hingegen verzeiht ihm diese Regression, die zugleich ein Akt des Widerstands ist, keineswegs und entpuppt sich in Ausübung des Strafamtes als ‚männliche‘ und ‚furchtbare‘ Mutter. Sie zerrt den schreienden und zappelnden Sohn hervor, um ihn ein zweites Mal ‚abzunabeln‘ und an der Schule zu ‚introduciren‘,911 „in welcher es mir gut ging“, wie der Autobiograph beteuerte, um dem Geschehen einen fürsorglicheren Anstrich zu geben. Hebbel stilisierte auch die übrigen Elemente dieser Episode in aufschlußreicher Weise: sich selbst als unschuldiges Kind, den Nachbarjungen, der schon im ‚Kätzchen-Gedicht‘ Aus der Kindheit sein Unwesen als Verräter getrieben hatte, hingegen als Verführer. Bezieht man die weiteren Requisiten dieser Szene mit ein, dann werden die aufgeschichteten Bretter zum Scheiterhaufen, zur „dunklen“, „dumpfen“ Hölle, wo der Sohn sich bereits vor Hitze nicht zu lassen wußte und aus der ihn die zum Wasserschöpfen gehende Mutter errettete. Wie aber der Knabe das rigorose Verhalten der Mutter nicht verstehen konnte, so haftet auch dem späteren Bericht – bei aller bis ins Religiöse spielenden Stilisierung – 911

Vgl. W 8, 94–96.

„Jungfer Susanna“

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noch ein zwiespältiges, irritatives Moment an. Denn mit dem besänftigten Mutterideal des 19. Jahrhunderts ließ sich Antje Hebbels Verhalten nicht zur Deckung bringen. Irritierend mußte im Nachhinein ihr Unverständnis gegenüber den kindlichen Beziehungswünschen, ihre brüske Reaktion und überhaupt die energische Überschreitung der ‚weiblichen‘ Charakterrolle wirken. Dies mutet um so merkwürdiger an, als Hebbel über seine ersten ‚Schulerfolge‘ berichtete: „[I]ch verscherzte doch sehr bald das mütterliche Lob, ein frommes Kind zu sein, das mir bis dahin so wohl gethan hatte, und stieg dafür im Ansehen bei meinem Vater“ [W 8, 116]. So ergibt sich ein Bild widersprüchlicher und einander durchkreuzender Haltungen: Der Vater lehnte die Schule unwirsch ab; die Mutter bejahte sie, doch nicht aus Bildungsbeflissenheit, sondern eher aus ständischer Eitelkeit. Offensiv betrieb sie damit die Emanzipation des Sohnes von ihr – gegen dessen regressive Wünsche, die ihm selbst nicht transparent waren. Die harsche Art und Weise schließlich, mit der sie ihren Anspruch durchsetzte, erinnerte wiederum an die Strenge des Vaters. Zwischen den verschiedenen Sozialisationsinstanzen Eltern und Schule, Vater und Mutter, Individuum und Öffentlichkeit werden so Polaritäten sichtbar, die der vermeintlichen Geordnetheit einer scheinbar in sich ruhenden traditionalen Gesellschaft widersprechen. Mit dem „Einbruch“ der Schule in das Familiengefüge kommt es zu Rollenvertauschungen, wechselnden Koalitionen und Kollisionen von Ansprüchen, die bei dem kaum vierjährigen Knaben frühe Verwirrung stiften.

„Jungfer Susanna“ „Klipp-“ ist das „Vorderglied zu einer Reihe von abschätzigen Ausdrücken“,912 denen die Bedeutung „des Kleinen oder des Geringen“913 gemeinsam ist. Die „Klippschule“ der „Jungfer Susanna“, die Hebbel vom vierten bis zum siebten Lebensjahr besuchte, machte ihrer Bezeichnung alle Ehre. Hebbel lernte nach eigener Auskunft „Nichts darin, als Lesen“ [T 2520]. Entsprechend gering ist die Aufmerksamkeit, die Hebbels erster Lehrerin gewidmet worden ist. Hayo Matthiesen behauptet in seiner RowohltMonographie schlicht: „Ein unbekanntes Schicksal hatte diese Lehrerin […] nach Wesselburen geführt“.914 Dabei hatte Ludwig Koopmann im Hebbel-Jahrbuch 1956 ihren Lebensweg immerhin umrißhaft dargestellt: Sie wurde als Susanne Margaretha Claasen 1779 in Koldenbüttel im Eiderstedtischen geboren, war einige Jahre in Garding mit einem Johann Krätzer verheiratet, trennte sich von ihm und kam um 1800 nach Wesselburen, fand Aufnahme bei einer Pastorswitwe als Dienstmädchen, übernahm die Klippschule (eine Art Kindergarten), blieb der Pastorswitwe befreundet, starb am 2.12.1833, zu einer Zeit also, als Hebbel noch in Wesselburen war. In

KLUGE, Etymologisches Wörterbuch, S. 378. DROSDOWSKI, Duden. Etymologie, S. 334. 914 MATTHIESEN, Friedrich Hebbel, S. 16. 912 913

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Klippschule oder: Die verkehrte Welt

Wesselburen hatte sie ihren Mädchennamen wieder angenommen, war aber unter dem Namen „Susanna“ bekannt“.915

Ihre Tätigkeit als Lehrerin schien kaum eines Kommentars bedürftig, hatte Hebbel sie doch selbst lebendig genug geschildert. In der Tat widmete er den Ereignissen in der Klippschule gleich mehrere Kapitel seiner Aufzeichnungen aus meinem Leben, was der Geringfügigkeit dieses Instituts geradewegs zu widersprechen scheint. Doch kam es ihm im Rückblick weniger auf die vermittelten Lehrstoffe an, als auf die subjektive Bedeutung, die er dieser ersten außerhäuslichen Sozialisationsinstanz beimaß. Dabei sind Hebbels Schilderungen nicht als reiner ‚Schlüsseltext‘ zu lesen, aus dem sich – in Übereinstimmung mit der autobiographischen Perspektive – Einflußlinien von der Kindheit bis in seine Schreibgegenwart ziehen ließen. Der Konstruktion des Elternhauses stellt er vielmehr eine Konstruktion der Schule an die Seite, die gleichfalls kritisch zu lesen, zu ‚dekonstruieren‘ ist. Mentalitätsgeschichtliche Analyse und literaturwissenschaftliche Interpretation können auch hier Einsichten ergeben, die Hebbels eigene Perspektive und deren Tendenz zu Geschlossenheit und Idyllisierung aufbrechen. Im autobiographischen Rückblick ordnete Hebbel seine Klippschulzeit insgesamt einer von der Gegenwart fernen Epoche mit kaum mehr erklärlichen Phänomenen zu: „Bis dahin hatte der Staat sich in die erste Erziehung gar nicht, in die spätere wenig, gemischt; die Eltern konnten ihre Kinder schicken, wohin sie wollten, und die Klippund Winkelschulen waren reine Privat-Institute, um die sich selbst die Prediger kaum bekümmerten, und die oft auf die seltsamste Weise entstanden“ [W 8, 105]. Schon die Ankunft der von Mann und Heimat geschiedenen Susanne Margaretha Krätzer schilderte Hebbel als seltsam sturm- und geheimnisumwittert: So war Susanna einmal an einem stürmischen Herbstabend, ohne einen Heller zu besitzen, und völlig fremd, auf hölzernen Pantoffeln nach Wesselburen gekommen und hatte bei einer mitleidigen Pastors-Wittwe um Gottes willen ein Nachtquartier gefunden; diese entdeckt, daß die Pilgerin lesen und schreiben kann, auch in der Schrift nicht übel Bescheid weiß, und macht ihr darauf hin Knall und Fall den Vorschlag, im Ort, ja in ihrem Hause, zu bleiben und Unterricht zu geben. [...] Susanna stand ganz verlassen in der Welt da und wußte nicht, wohin sie sich wenden oder was sie ergreifen sollte, sie vertauschte die gewohnte Handarbeit daher gern, obgleich nicht ohne Angst, nach ihrem eigenen Ausdruck, mit der schweren Kopf-Arbeit, und die Speculation glückte vollkommen und in kürzester Frist [W 8, 105].

Der Herbststurm eingangs dieser Schilderung verweht gleichsam Susannas zweifelhafte Herkunft und Vergangenheit – die schriftkundige Fremde wird als „Pilgerin“ eingeführt, die unter Aufsicht, nicht des Staates oder der Kirche, sondern der Pastorswitwe ein gottgefälliges Lehramt antreten soll. Der Frau Pastor mochte es scheinen, daß die Pilgerin vom Herrn geschickt worden war, um die verwaiste Schulstelle einzunehmen: Eine allein wandernde fremde Frau dürfte selten genug bei ihr eingekehrt sein; daß diese auch noch literat war, konnte wie ein Wunder anmuten. In der Erzählung Hebbels ist für solche gläubige Gewißheit kein Platz. Das traditionale 915

KOOPMANN, Bisher unveröffentlichter Brief Friedrich Hebbels, S. 101.

„Jungfer Susanna“

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Grundmuster der Geschichte konnte er nur aus ironischer Distanzierung wiedergeben: Aus seiner Sicht erfolgte der Vorschlag der Pastorswitwe unverantwortlicherweise „Knall und Fall“; das kleine Wunder wird zur „Speculation“ säkularisiert. Susannas hart erkämpfte innere Bejahung der „schweren Kopf-Arbeit“ bedurfte hingegen nur der unkommentierten Wiedergabe, um dem aufgeklärten Leser ein wissendes Lächeln abzugewinnen. Doch ist dies eine moderne Perspektive. Lesen, Schreiben, Bibelfestigkeit hatte die Pfarrersfrau an Susanna geprüft und für ausreichend befunden. Mit diesen Fähigkeiten waren auch die Erwartungen der Eltern vollauf befriedigt, so sie denn überhaupt welche hatten. Denn „beim Lehrer setzten sie nur das voraus, was er ihre Kinder lehren sollte“.916 Dort hingegen, wo Eltern die Wahl des Lehrers nach aufgeklärten Maßstäben treffen sollten oder wollten, kam es mitunter zu grotesken Verwerfungen. So zeigte sich noch 1848 bei einer Lehrerwahl in Büsum, „daß viele kleine Arbeitsleute nicht lesen konnten; sie gaben deshalb die unrechten Stimmzettel ab“917 und votierten einhellig für einen unfähigen Kandidaten. Viehhirten und andere Saisonarbeitskräfte, entlassene Soldaten oder sonstwie im ‚richtigen Leben‘ Unbrauchbare bildeten noch bis ins 19. Jahrhundert hinein das übliche Personal an den Land- und Nebenschulen. Viele von ihnen waren freilich auch als Pädagogen vollkommen ungeeignet, so etwa der Wesselburener Elementarlehrer, dessen Unvermögen überhaupt die Einrichtung von Susannas Klippschule ermöglichte, wie aus einem Bericht des Wesselburener Pastors Meyn von 1813 hervorgeht: Den Lehrer an dieser Schule ein alter Arbeitsmann wählte man mehr aus Barmherzigkeit, als aus Ueberzeugung von seiner Geschiklichkeit. Bald nach der Wahl sah man den gemachten Fehlgriff ein, und fühlte die Nothwendigkeit für seine Kinder einen anderen Unterricht zu suchen. Dies gab Gelegenheit zur Entstehung 2r Winkelschulen, die ich neben der privilegirten Elementarschule bisher benannter [?] Umstände nach geduldet habe918

Den Lehrer des Hedwigenkoogs, Schmidt, wollte Meyn dagegen im Jahr 1821 nicht länger dulden, da er sein Amt zugunsten einer lukrativeren Tätigkeit sträflich vernachlässige: „Er ist gewiß der erste Geldnegotiant in beyden Ditmarschen und hat zugleich einen Handel im Schulhause stabilirt, und soll sich durch seine Prokuratur- und GeldGeschäfte schon ein bedeutendes Vermögen erworben haben. Er ist erst wieder in solchen Angelegenheiten nach Hamburg gereiset“.919 Weil Schmidt ein ärztliches ERICHSEN, Schulgeschichte der Landschaft Norderdithmarschen, S. 99f. Ebd., S. 196. 918 MEYN, Pflichtmäßiger Bericht über die Verfassung des Kirchen-Schul- und Armen-Wesens im Kirchspiele Wesselburen. LA S-H, Abt. 19, Nr. 75. Vgl. GRÖNHOFF, Friedrich Hebbels Lehrer, S. 242, der modernisierend und auch fehlerhaft transkribiert. Während Meyn die Vorgänge nur allgemein umreißt, konzentriert Hebbel sie zur drastischen Anekdote: „Die Jugend, wenigstens der kriechende Theil derselben, war nämlich gerade verwais’t, der bisherige Lehrer, lange Zeit wegen seiner strengen Zucht höchlichst gepriesen, hatte ein naseweises kleines Mädchen zur Strafe für irgend eine Ungezogenheit entblößt auf einen heißen Ofen gesetzt […] und das war denn doch auch den unbedingtesten Verehrern der Ruthe zu stark gewesen.“ [W 8, 105]. 919 Dieses und das folgende Zitat: MEYN, Pflichtmäßiger Bericht des Hauptpastors J. J. Meyn zu Wesselburen bey der General Kirchenvisitation d 10 Aug 1821. LA S-H, Abt. 1, Nr. 75. 916 917

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Attest vorlegen konnte, nach dem ihm „die sitzende Lebensart“ nicht bekomme, durfte er sich für den Unterricht einen Substituten halten – das Amt aber behielt er. Verglichen mit solch wohlbestallten Amtsinhabern kann man sich die Ausgangssituation der Krätzer in Wesselburen kaum prekär genug vorstellen. Wohl weniger, um sich als kompetente Religionslehrerin zu empfehlen, ließ sie sich zur frommen Pilgerin stilisieren. Eher kommen dafür handfeste Gründe in Frage: Hebbel schilderte sie als „ganz verlassen“ und vollkommen perspektivlos. Daß sie ihrem Ehemann in Garding davongelaufen war, war ein unerhörtes Geschehen und wurde von ihr anscheinend verschwiegen: Noch Hebbel war sie nur als „alte Jungfer“ [T 2520/W 8, 88] bekannt. Inwieweit man von Susannas erster Existenz als Ehefrau wußte, läßt sich nicht mehr entscheiden. Vielleicht stand ihre merkwürdige Lebensform Hebbel mit vor Augen, als er selbst dichterisch eine verheiratete Jungfrau schuf, die ihren angestammten Platz aufgibt – die Judith, deren nicht vollzogene Ehe zum Auslöser der dramatischen Handlung des Dramas wird. Beide Frauen gewinnen durch ihre singuläre Stellung eine ungeahnte persönliche Handlungsfreiheit. Bei Susanna war sie freilich damit erkauft, daß sie als mittellose Vagabundin nur zu leicht wie anderes fahrendes Volk und zumal als Frau in den Ruch der „Unehrlichkeit“ kommen konnte. Aber nicht einmal als Landstreicherin war sie adäquat ausgerüstet gewesen: Daß sie, statt in Wanderstiefeln, auf „hölzernen Pantoffeln“ gekommen war, blieb auch Jahrzehnte nach ihrer Ankunft noch im kollektiven Gedächtnis präsent. Susanne Margaretha Krätzer ergriff offenbar von Anfang an entschiedene Maßnahmen, um – wenigstens in einer Außenseiterrolle – in die lokale Gesellschaft Wesselburens integriert zu werden. Die Aufnahme im Pastorenhaus war zugleich der Durchgangsort in eine neue Existenz; sie verließ es als – ewige Jungfrau. Denn von nun an war sie weder „Frau Krätzer“, noch „Mamsell Claasen“. Stattdessen wurde sie beim Vornamen gerufen, nach dem Vorbild einer Ordens- oder anderweitig karitativ tätigen „Schwester“. Ein derartiges, außerhalb der typischen Geschlechtsrollen angesiedelte Modell weiblicher Identität war geeignet, der entlaufenen Ehefrau zu einer stabilisierten, wenn auch marginalen Position in der Gesellschaft zu verhelfen. Auch ihr Vorname erfuhr noch eine minimale Veränderung – nicht, wie man erwarten könnte, in Form einer Verkürzung oder plattdeutschen Verballhornung, sondern zu der ‚gelehrten‘ Form „Susanna“. Die Auswechselung des letzten Buchstabens markiert – frei nach Derrida – die différance zwischen früherer und neuer Identität. In dieser Form verweist der Name auf eine Patronin in der Schrift und Schwester im Geiste. Das aufschlußreiche Vor-Bild ist die keusche „Susanna im Bade“, die aufgrund ihres moralisch-erbaulichen Charakters schon im Mittelalter volkstümlich und in der Neuzeit zum populären Stoff lehrhafter Dramen geworden war. Der wahre Jakob, der weise Salomo, der ungläubige Thomas oder eben die keusche Susanna – „ein jeder dieser Namen, ja jede vereinzelte, mit ihnen verbundene Situation, die der Volkssinn sich eingeprägt und als sprachliche Münze in Umlauf gebracht hat, bezeichnet elementare menschliche Möglichkeiten. […] In diesen Geschichten kann der Mensch sich selber begreifen“,920 schrieb Walther Killy in einem Essay über Die Bibel als Sprache. 920

KILLY, Die Bibel als Sprache, S. 86.

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Wenn Frau Krätzer in Wesselburen als „Susanna“ und zugleich als „Jungfer“ auftrat – ein Titel, der ja auch im Wesselburener Trauregister nie ohne Grund fortgelassen wurde921 – dann stellte die exakte namentliche Identifikation mit der apokryphen ‚Schwester‘ nicht nur eine ‚nominelle‘ Bestätigung ihrer sittlichen Integrität und Keuschheit dar, sondern zugleich eine präventive ‚Schutzbehauptung‘ gegen übelwollende Nachrede oder gar Nachforschung. Wie leicht konnten Gerüchte über frühere moralische Vergehen der Wesselburener Lehrerin vom nordfriesischen an das Dithmarscher Eiderufer herüberdringen! Der Verweis auf das berühmte biblische Vorbild mußte daher jedem Lästerer oder Kolporteur eine Mahnung sein. Denn schon jene Susanna wurde durch zwei von ihr verschmähte jüdische Älteste fälschlich des Ehebruchs bezichtigt, aber durch das Verhör des Propheten Daniel gerettet. Die Verleumder kostete es den Kopf. Auch die unter rätselhaften Umständen in Wesselburen gestrandete Klippschullehrerin präsentierte sich so als ‚verfolgte‘, aber glücklich entkommene ‚Unschuld‘ – zur Warnung an Lästerer und als unabdingbare Voraussetzung für ein neues Leben. Ihre angenommene Identität blieb freilich zwiespältig und spannungsvoll – ob als unschuldig Verklagte, als Neubürgerin ohne Herkunft, als schreib- und schriftbewanderte Frau oder schließlich als alternde Jungfer. Es konnte scheinen, als sei die Existenz Susannas ein einziger Widerspruch zu den geltenden gesellschaftlichen Rollenkonventionen. Die religiöse Überhöhung, mit der die Pastorswitwe ihre Inauguration als Schulhalterin begleitete, verlieh dieser Widersprüchlichkeit nur zusätzlich ein changierendes Glänzen. Auch vom äußeren Erscheinungsbild her schildert Hebbel sie als zwittriges Wesen: Im Stehen war sie „hoch und männerhaft von Wuchs“ [W 8, 88], saß sie, dann „in einem Respect einflößenden urväterlichen Lehnstuhl“ [W 8, 88]. Als Insignium der Macht lag auf dem Tisch vor ihr „ein langes Lineal, das aber nicht zum Linienziehen, sondern zu unserer Abstrafung benutzt wurde, wenn wir mit Stirnerunzeln und Räuspern nicht länger im Zaum zu halten waren“ [W 8, 89]. Väterlich, wenn nicht urväterlich, wirkten auch „ihre weiße thönerne Pfeife im Munde und eine Tasse Thee“ vor ihr [W 8, 88]. Die Pfeife galt gemeinhin als „Zeichen patriarchalischer Männlichkeit“.922 So wachten etwa bei den Handwerkern „Zunft- und Gesellenverbände als Anstands- und ‚Sittengericht‘ darüber, daß kein Lehrling, sondern nur Gesellen und Meister die Schenke besuchten oder Tabak rauchten“.923 Unter „geordneten bürgerlichen Verhältnissen“ galt die Regel: „Wenn einem jungen Menschen eine Pfeife angeboten ward, so war dies gleichsam eine feierliche Erklärung, daß man ihn schon für voll mitzählte“.924 Bei Frauen kam das Pfeiferauchen offenbar nur in dezidiert vormodernem oder unterbürgerlichem Kontext vor. So ist aus den Hamburger Vierlanden seit Mitte des 18. Jahrhunderts die sogenannte „Jungfernp[feife], so sich recht vor die Jungfern passet“,925 überliefert. Doch schon „gegen die Jahrhundertwende hin hat die Vgl. JANSSEN, Die Frauen rings um Friedrich Hebbel, S. 15. MEHL, Der Gutshof als Kosmos, S. 9. 923 Dieses und das folgende Zitat: SCHLUMBOHM, Kinderstuben, S. 9. 924 Schumacher, Genrebilder aus dem Leben eines siebenzigjährigen Schulmannes. Zit. nach SCHLUMBOHM, Kinderstuben, S. 9. 925 Dieses und das folgende Zitat: BÄCHTOLD-STÄUBLI, Handwörterbuch, Bd VI, Sp. 1575. 921 922

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oberschichtige Frauenwelt das Rauchen aufgegeben, wenngleich es sich bei Bäuerinnen und Marktweibern bis an die Schwelle unserer Zeit erhält. So wird die P[feife] zum Attribut des Mannes“. Daß in der traditionalen ländlichen Gesellschaft die Geschlechtsrollen noch relativ pragmatisch gehandhabt werden konnten, zeigen auch die Beobachtungen von Johann Nicolaus Tetens in der Wilstermarsch: „Wenn die Braut nach der Trauung aus der Kirche ins Hochzeitshaus zurückkommt, steht der Schafner bei der Stubentür und reicht ihr eine gestopfte Tabakspfeife dar, die sie selbst an Kohlen entzündet und raucht“.926 Für Kai-Detlev Sievers ist diese Zeremonie ein Zeichen dafür, daß die Frau „eine gewisse Selbständigkeit genießt“.927 Daß sie „keine untergeordnete Rolle“928 spiele, bestätige auch die von Tetens erwähnte Tatsache, daß „verheiratete Frauen sich in den Wirtshäusern Tabak und Wein reichen lassen und mit übergeschlagenen Beinen rauchen dürfen“. Wenn in einem Neuruppiner Bilderbogen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch eine Szene mit der Bildunterschrift: „Der Herr füttert das Kind, die Frau raucht Tabak“929 dargestellt wird, dann geschieht dies bereits in einem völlig veränderten Kontext. Die Szenen dieses Bogens illustrierten nun nichts anderes als Die verkehrte Welt. Rauchen wird seit jeher auch mit geistiger Aktivität konnotiert. „Einer der studiert“, schrieb schon 1650 der Arzt Beintema von Palma, müsse „notwendig rauchen, damit die Geister nicht verloren gehen oder, da sie anfangen, zu langsam umzulaufen, wieder aufgeweckt werden“.930 Auch Goethes Mutter gestand: „Ohne ein prissgen Tabak wären meine Briefe wie Stroh – wie Frachtbriefe!“931 Allgemein galt: „Den Studiosus macht die Pfeife“. So gab Susannas Pfeife nicht nur Rauch-Zeichen hausväterlicher Autorität, sondern auch ihrer „schweren Kopf-Arbeit“ [W 8, 105]. Dies wurde wirkungsvoll unterstrichen durch den Tisch vor ihr, der „mit Schulbüchern beladen“ [W 8, 88] war, obgleich ihre Schüler kaum über das ABC hinausgelangten. Es ist kaum zu entscheiden, ob „der Widerwille und die Scheu, die der Knabe gegen die männliche Erscheinung dieser seltsamen Pädagogin empfand“932 authentischer Eindruck oder Produkt des autobiographischen Rückblicks ist. Eine Faszination dürfte von ihr jedenfalls ausgegangen sein. Die aktive, „männliche“ Jungfrau kehrt auch in Hebbels Werken in verschiedener Gestalt wieder, so als „Jungfrau von Hohenwöhrde[n]“ [W 5, 92] bzw. als „Telse, die Bannerträgerin“ [W 5, 72] seiner Dithmarschen-Fragmente, in seiner Geschichte der Jungfau von Orleans von 1840 und in dem Sonderfall der ‚verheirateten Jungfrau‘ Judith. Allerdings sind dies eher schwache Reflexe traditionaler Frauenbilder; im allgemeinen folgen seine Frauengestalten stärker der ‚modernen‘ Geschlechterpsychologie des 19. Jahrhunderts. In der traditionalen Gesellschaft Wesselburens fand sich für die unkonventionelle Susanna, die sich gewissermaßen im biographischen wie geschlechtlichen Niemandsland bewegte, wenigstens ein bescheidener Platz. Die „systematische[…] Verdrängung von Geburtshelferinnen, Zit. nach SIEVERS, Volkskultur und Aufklärung, S. 112. SIEVERS, Volkskultur und Aufklärung, S. 112. 928 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 113. 929 [Neuruppiner Bilderbogen], Nr. 281, Die verkehrte Welt. 930 Zit. nach tabago, S. 52. 931 Zit. nach tabago, S. 73. 932 GROSS, Lebensbild, S. 10. 926 927

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Kindermägden, weisen Frauen durch Beamte einerseits, bürgerlich gebildete Mütter andererseits“933, mit der die „europäische Kinderstubenreform“ begann und die „dem neuen Modell der selbst- und körperlosen Frau“934 folgte, hatte Wesselburen offensichtlich noch nicht erreicht. Aufgrund der generell gleichgültigen Einstellung der Eltern gegenüber Schule, aber auch als eines jener „Privat-Institute, um die sich selbst die Prediger kaum bekümmerten“ [W 8, 105], war Susannas Winkelschule in einem randständigen Bereich der Gesellschaft angesiedelt, konnte sich dort aber über lange Jahre halten und eine prägende Wirkung auf den kleinen Friedrich entfalten.

Verwirrungen des Zöglings Hebbel Hatte es schon bei der Bestallung Susannas an Kontrolle gefehlt, so galt dies auch für ihre Schulhaltung. Der Unterricht fand in einem „dumpfen Saal“ [W 8, 110] statt, der „ziemlich finster war“ [W 8, 88]. Hier „scheint es Bänke nicht gegeben zu haben; die Kinder wurden ‚an den Wänden herum gepflanzt‘, mußten also wohl stehen oder gar knien“ [DjH I, 254], schloß Paul Bornstein aus Hebbels Angaben. Während des Unterrichts wurde nicht nur gegessen, auch andere Körperfunktionen wurden von den Kleinsten noch nicht durchgängig beherrscht. Eine Magd Susannas wurde darum „von dem jüngsten Zuwachs mitunter auf äußerst unerfreuliche Weise in Anspruch genommen, weshalb sie scharf darüber wachte, daß er nicht zu viel von den mitgebrachten Süßigkeiten zu sich nahm“ [W 8, 89]. Susanna hatte ihren Platz an dem in der Mitte des Raumes stehenden Tisch, „an den Diejenigen, die älter waren, als ich, […] zum Schreiben heran treten durften, während ich und meines Gleichen nur dann herbei gerufen wurden, wenn wir unsere Lection aufsagen oder Schläge in Empfang nehmen sollten“ [T 2520]. Zwar lag hier unübersehbar „ein langes Lineal […] zu unserer Abstrafung“ [W 8, 89] bereit, doch konnten Disziplin und Ordnung nicht bis an die Peripherie des Saales durchdringen, wo es in jeder Hinsicht drunter und drüber ging. Dabei waren eigentlich „’Still sitzen‘ lernen“ und die „dressierende[…] Disziplinierung des Verhaltens“ gerade für die jüngeren Jahrgänge „ein ebenso wichtiges Lernziel wie Fortschritte im kognitiven Bereich“.935 Auch dies widersprach freilich partiell den außerhalb der Schule geltenden Maßstäben. Denn die Knaben „mußten wild sein, wurden gereizt und aggressive Reaktionen wurden auch von den Müttern als aufregend männlich begrüßt. Bis vor kurzer Zeit war es in der Schule vollkommen normal, daß […] die Buben nur mit äußerster Mühe auch nur zu kurzzeitigem Stillsitzen und Ruhigsein veranlaßt werden konnten.“936 Ausgerechnet Friedrich war das bevorzugte Opfer seiner ungebärdigen Mitschüler. Dieses und das folgende Zitat: KITTLER, Aufschreibesysteme, S. 113. PROKOP, Die Illusion vom großen Paar, S. 424. 935 SCHLUMBOHM, ‚Traditionale‘ Kollektivität und ‚moderne‘ Individualität, S. 272. 936 JEGGLE, Kiebingen, S. 144. Jeggle fährt fort: „Diese Unruhe war früher die Form, aus der sich die männliche Qualifikation entwickelte, die ja einer hohen Motorik und eines starken Schwankens zwischen hitziger Aktivität und dumpfer Trägheit bedurfte“ [ebd.]. 933 934

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Um verständlich zu machen, daß sich „an diese Schulstube mein erster und vielleicht bitterster Martergang“ [W 8, 93] knüpfte, mußte der Autobiograph „etwas ausholen“ [W 8, 93]: Schon in der Kleinkinderschule finden sich alle Elemente beisammen, die der reifere Mensch in potenzirterem Maaße später in der Welt antrifft. Die Brutalität, die Hinterlist, die gemeine Klugheit, die Heuchelei, Alles ist vertreten [...]. Das war denn auch in Wesselburen der Fall. Von dem rohen Knaben an, der die Vögel bei lebendigem Leibe rupfte und den Fliegen die Beine ausriß, bis zu dem fixfingrigen Knirps herunter, der seinen Kameraden die buntpapiernen Merkzeichen aus der Fibel stahl, war jede Species vorhanden […]. Der Auswurf hat immer in so weit Instinct, daß er weiß, wen sein Stachel am ersten und am schärfsten trifft, und so war denn ich den boshaften Anzapfungen eine Zeit lang am meisten ausgesetzt. Bald stellte sich Einer, als ob er sehr eifrig im Katechismus läse, den er dicht vor’s Gesicht hielt, raunte mir aber über’s Blatt weg allerlei Schändlichkeiten in’s Ohr [...]. Bald rief ein Anderer mir zu: willst Du einen Apfel haben, so nimm ihn Dir aus meiner Tasche, ich habe einen für Dich mit gebracht! Und wenn ich das that, so schrie er: Susanna, ich werde bestohlen! Und läugnete sein Wort ab. Ein Dritter bespukte wohl gar sein Buch, fing dann zu heulen an, und behauptete mit frecher Stirn, ich habe es gethan [W 8, 93f.].

Solchen Quälereien war Friedrich teils „fast allein Preis gegeben“, teils mußten sie sich „Alle ohne Ausnahme gefallen lassen“ [W 8, 94]. Hebbel verwendete dafür den Begriff „Vexationen“ [W 8, 94], der zugleich ‚Irreführung‘ bedeutet und dessen Wortstamm im „Vexierbild“ wiederkehrt. In diesem Sinn trifft das Wort den Sachverhalt genau: Die infamen Mitschüler handeln dem Augenschein genau entgegengesetzt: Der Lästerer gibt sich tugendhaft, der Lügner verklagt den Vertrauensseligen als Dieb, der freche Blasphemist vergießt heuchlerische Tränen, und immer gibt sich der Täter als Opfer aus. Eine verinnerlichte Moral gibt es nicht, was nach Hebbel jedoch nicht am Alter, sondern am zivilisatorischen Zustand der Gesellschaft insgesamt liegt. Hier schon ist die verkehrte, sündige Lebenswirklichkeit vorgezeichnet, die „der reifere Mensch in potenzirterem Maaße später in der Welt antrifft“ [W 8, 93] und die in Hebbels Der Diamant strukturbestimmend werden sollte. Wolfgang Hecht konstatierte an dieser „Komödie“: „Der König als oberster Hüter der Ordnung in einem Lande verspricht einem Dieb Straffreiheit und höchste Belohnung; der Arzt […] hat Mordpläne; der Richter wird zum Rechtsbeuger; der Gefangenenwärter flieht mit dem Gefangenen; der Dieb verteidigt seinen Diebstahl als sittliche Tat; der Ehrliche preist seine Fähigkeit im Lügen; der Gläubiger ist seinem Schuldner untertan“.937 Als Autor verbannte Hebbel diese Figuren ins Lustspiel – doch ein ‚befreites‘ Lachen war weder ihm noch seinen Rezipienten möglich. Neben anderen Neuigkeiten in eroticis, die er „besser noch nicht erfahren hätte“ [T 2520] lernte der vier- oder fünfjährige Hebbel „in Susannas dumpfer Schulstube […] auch die Liebe kennen“ [W 8, 96], obgleich die Geschlechter – „die Knaben auf der einen Seite, die Mädchen auf der andern“ [W 8, 88] – streng getrennt voneinander plaziert waren. „[S]ie hieß Emilie und war die Tochter des Kirchspielschreibers“ [W 8, 98]. Dadurch blieben weitere Verwirrungen nicht aus. War sie nicht die Tochter „einer 937

HECHT, Hebbels Diamant, S. 217.

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gewaltigen Respectsperson“938 und damit für den Häuslingssohn unerreichbar? Tatsächlich: „Niemand durfte ahnen, was in mir vorging, und Emilie am Wenigsten“ [W 8, 98]. Daß er ihretwegen „bald das Lob [...] des besten Schülers davontrug“, verstand sich für Hebbel zwar „von selbst; mir war dabei aber eigen zu Muth, denn ich wußte gar wohl, daß es nicht die Fibel war, die mich zu Susanna hintrieb, und daß ich nicht, um schnell lesen zu lernen, so emsig buchstabirte“ [W 8, 98]. Seine Fortschritte auf dem Gebiet der literalen Kommunikation nützten ihm in Liebesdingen wenig – im Gegenteil. Als er Emilie von einem Knaben in eine Ecke gedrängt und „gemißhandelt“ [W 8, 99] sah, geriet er in „Raserei, […] fiel über ihn her, warf ihn zu Boden und gab ihm seine Püffe und Schläge doppelt und dreifach zurück“ [W 8, 99]. Offensichtlich hatte er die Situation verkehrt ausgelegt: „Emilie, weit entfernt mir dankbar zu sein, rief selbst für ihren Feind nach Hülfe und Beistand […] und verrieth so unwillkürlich, daß sie ihn lieber hatte, als den Rächer“ [W 8, 99]. Sollte ihr Ritter nicht standesgemäß und deswegen unwillkommen gewesen sein? Auch die durch das Geschrei herbeigeeilte Susanna „forderte, mürrisch und unwillig, wie sie natürlich war, strenge Rechenschaft wegen meines plötzlichen Wuthanfalls; was ich zur Entschuldigung hervor stotterte und stammelte, war unverständlich und unsinnig, und so trug ich denn als Lohn für meinen ersten Ritterdienst eine derbe Züchtigung davon“ [W 8, 99]. Wieder steht Friedrich Hebbel da wie ein Simplicius, in einer Welt, deren – hyperaktiver! – Teil er ist und die er doch nicht versteht; der emsige Buchstabierer wird zum stotternden Stammler. Susanna, die ‚männliche Jungfrau‘, die selber zwischen allen Stühlen saß, war nicht imstande, in diesem moralischen und kommunikativen Chaos für Ordnung und Orientierung zu sorgen. Stattdessen geschah es, daß sich auch die „unfreundliche Magd […] hin und wieder sogar einen Eingriff in’s Strafamt erlaubte“ [W 8, 89]. Der offiziöse Terminus macht unmißverständlich deutlich, daß die ‚amtliche‘ Ordnung damit von ihren Hütern selbst mißbraucht und pervertiert worden sei. Bereits hier wollte Hebbel im kleinen erlebt haben, was er später in seinem Trauerspiel in Sicilien die Soldaten Ambrosio und Bartolino – die vermeintliche „Degenspitze der Gerechtigkeit“ [W 2, 79] – vorexerzieren ließ: den Mißbrauch von Recht und Macht durch ihre Repräsentanten. So hatte Hebbel nicht nur unter seinen Mitschülern, sondern „besonders viel von der Magd zu leiden, die mir das Unschuldigste gehässig auslegte, das Ziehen eines Taschentuchs z. B. einmal als ein Zeichen, daß ich es gefüllt haben wollte, was mir die glühendste Schaamröthe auf die Wangen und die Thränen in die Augen trieb“ [W 8, 90]. Was Hebbel der Magd als Charakterfehler anlastete, wurzelte in Wahrheit in der traditionalen Kultur. Danach galten schon „wohlgefälliges Beschauen“ oder auch „Loben als Äußerung des Besitzwunsches, des Neides“.939 Aber auch mit Susannas Sinn für Gerechtigkeit war es in Hebbels Augen nicht weit her, so zum Beispiel wenn es Strafe oder Lohn – letzteren in Gestalt einzelner

938 939

W 8, 90. Vgl. auch Hebbels Erinnerung: „In die Liebe zu Emilie mischte sich, daß sie vornehm war“ [W 15, 8]. ERICH/BEITL, Wörterbuch der deutschen Volkskunde, S. 98. Das „Ziehen eines Taschentuchs“ genügte später auch, um Hebbels „Stimmung zu vergällen, seinen Unmut zu erregen“ [KUH, Biographie, Bd 2, S. 465].

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Rosinen – zu verteilen gab. In der Erinnerung nahm Hebbel es mit Humor, wenn er schrieb: „Die Klapse fielen jedoch regelmäßiger, als die Rosinen, ja die Tüte war, so sparsam Susanna auch mit dem Inhalt umging, zuweilen völlig leer, wir lernten daher Kants kategorischen Imperativ zeitig genug kennen“ [W 8, 89]. Seine Bewertung beruht allerdings auf einer zweifachen Verzeichnung der Realität: Denn Susannas Pädagogik war ja noch keineswegs eine ‚aufgeklärte‘; ihr mußte in bewährter Tradition das Strafen allemal richtiger erscheinen als das Verwöhnen. Andererseits ist auch der Bezug auf Kant, so ironisch er gemeint ist, symptomatisch für Hebbels modernisierende Selbstinterpretation ex post. Noch eine weitere Verhaltensweise Susannas, ihre Gabenverteilung zu Weihnachten und anderen brauchtümlichen Anlässen, brandmarkte Hebbel als „sehr partheiisch“ [W 8, 89]. Auch dazu mußte er etwas ausholen: Die Kinder wohlhabender Eltern erhielten das Beste und durften ihre oft unbescheidenen Wünsche laut aussprechen, ohne zurecht gewiesen zu werden; die Aermeren mußten mit dem zufrieden sein, was übrig blieb, und bekamen gar Nichts, wenn sie den Gnadenact nicht stillschweigend abwarteten. Das trat am schreiendsten zu Weihnacht hervor. Dann fand eine große Vertheilung von Kuchen und Nüssen Statt, aber in treuster Befolgung der Evangeliumsworte: wer da hat, dem wird gegeben! Die Töchter des Kirchspielschreibers, einer gewaltigen Respectsperson, die Söhne des Arztes u. s. w. wurden mit halben Dutzenden von Kuchen, mit ganzen Tüchern voll Nüsse beladen; die armen Teufel dagegen, deren Aussichten für den heiligen Abend im Gegensatz zu diesen ausschließlich auf Susannas milder Hand beruhten, wurden kümmerlich abgefunden […]. Ich wurde nicht ganz zurück gesetzt, denn Susanna erhielt im Herbst regelmäßig von unserem Birnbaum ihren Tribut, und ich genoß ohnehin meines ‚guten Kopfs‘ wegen vor Vielen eine Art von Vorzug, aber ich empfand den Unterschied doch auch [W 8, 89f.].

In dem Tagebucheintrag, der den Aufzeichnungen Hebbels zugrundeliegt, wird die weihnachtliche ‚Abfindung‘ in Kuchen genau beziffert: „[I]ch nebst anderen armen Teufeln erhielt einen einzigen und von einer schlechten Sorte“ [T 2520]. In den Häusern der Glücklicheren freilich wurde „selbst gebacken“, und von ihnen wußte Susanna, daß „sie sich gleich den anderen Tag auf gehörige Weise dankbar bezeigen würden“ [T 2520], so wie sie ihr überhaupt „außer dem Schulgelde noch allerlei Eßund Nutzbares in’s Haus brachten“ [T 2520]. Auch dieser Praxis lag für Hebbel eine verkehrte Ordnung zugrunde – daß es sich bei solchem Geben und Nehmen nicht um moderne Weihnachtsgeschenke oder Spenden an Bedürftige handelte, sondern um traditionale „Reziprozitätsbräuche“940, um eine „brauchförmig geregelte Anerkennung“ auf der Basis der Gegenseitigkeit, wollte er nicht akzeptieren. Sein ironischer Kommentar, daß Susannas Kuchenverteilung, „in treuster Befolgung der Evangeliumsworte: wer da hat, dem wird gegeben“, erfolgte, hat jedoch seinerseits einen ‚vexierenden‘ Charakter. Denn der angelegte altruistisch-religiöse Maßstab von Gerechtigkeit wäre nicht weniger verkehrt, weil weltfremd gewesen. Hebbel wußte selbst: „Der Grund war, weil Susanna auf Gegen-Geschenke rechnete, auch wohl rechnen mußte, und von Leuten, die nur mit 940

Dieses und das folgende Zitat: SCHINDLER, Widerspenstige Leute, S. 140.

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Mühe das Schulgeld aufzubringen wußten, keine erwarten durfte.“941 Im übrigen spiegelte sich so die ständische Ordnung auch im kleinen wieder – erwarteten dies nicht auch die Eltern, die ihre Kinder regelmäßig in die Klippschule schickten? Dennoch beurteilte Hebbel „Susannas Partheilichkeit und die Ungerechtigkeit ihrer Magd“ [W 8, 90] in den Kategorien einer christlich-idealistischen Individualethik, die in solch handgreiflichen Kontexten durchaus keinen Geltungsanspuch besaß. Erstaunlich aber ist, daß dieses späte Bewußtsein mit den mystisch-weltfremden Vorstellungen des Kindes zusammenfällt: Sobald die Verhaltensweisen Susannas und ihres Dienstmädchens „mir in’s Bewußtsein traten, hatte ich den Zauberkreis der Kindheit überschritten. Es geschah sehr früh“ [W 8, 90]. Im autobiographischen Rückblick wird die „Kindheit“, die Hebbel sich doch schon mit scheelem Blick aufs Vaterhaus abgesprochen hatte, hier zum „Zauberkreis“ romantisiert und dadurch gleichermaßen entrückt wie angeeignet. Vermittelt durch ‚Dichtung und Wahrheit‘ reichen sich Kind und Dichter die Hände. Über alle mentalitätsgeschichtlichen Brüche hinweg, wobei auch noch die Leiden in versöhnlicherem Licht erscheinen, schreibt sich der Autobiograph so ein durchgängiges, von den Aberrationen der Mitmenschen unkorrumpierbares seelisches Erleben zu. Die Biographen schlossen sich dieser Argumentation nicht nur willig an, sie schlossen zugleich aus, was dazu nicht paßte. Hargen Thomsen ontologisierte Hebbels Klippschulerfahrungen zum „ursprünglichen [?!] Mißverhältnis des einsamen [?] Kindes zur Welt“.942 Doch verscherzte Hebbel sich nicht selbst bald das „Lob, ein frommes Kind“ zu sein? Er war keineswegs isoliert, wußte sich durchaus „seiner Haut zu wehren“ und verfügte – weit entfernt von romantischer Einsamkeitssuche und melancholischem Weltschmerz – über probate Mechanismen der Frustrationsbewältigung. Denn er war selbst Teil der traditionalen Gesellschaft, die ihm zu schaffen machte. Allzu verlockend ist die – von Hebbel freilich soufflierte – Versuchung, deduktiv moderne Qualitäten des späteren Dichters schon im Kind aufzufinden. So will Thomsen „vom Trauerspiel in Sizilien ausgehend“ einen „Faden zurückspinnen“ zu einem „Sockel des Einsamkeitserlebnisses, der sozialen Isolation“943, so setzt er die „Tragödie, die in Gyges und sein Ring in der Gestalt Rhodopes verkörpert ist“944 ineins mit Hebbels persönlicher „Tragödie eines träumerisch veranlagten Kindes“. Bei Hebbel selbst werden indes keineswegs alle Spuren des traditionalen Bewußtseins getilgt. Umgeben von „Brutalität“, „Hinterlist“, „Heuchelei“ und „Heimtücke“ [W 8, 93] steht der Knabe „immer so da, wie Adam und Eva auf dem Bilde unter den wilden Thieren“ [W 8, 93]. Die religiöse Symbolik entspricht hier durchaus dem volkstümlichen Muster, die Welt zu ordnen: in gottgefällig und sündig, gut und böse, richtig und verkehrt. Auch an diesen Maßstäben gemessen erweist sich Susannas Klippschule als das ‚parallele Universum‘ einer verkehrten Welt. Es ist eine Schule, in der „Nichts“ gelernt wird, in der man zu Kameraden „junge Sünder[…]“ [W 8, 93] hat, und die ‚Geliebte‘ als Feindin. Den Reichen wird gegeben; wer Recht schaffen W 8, 90. Hervorhebung C. S. THOMSEN, Grenzen des Individuums, S. 170. 943 Ebd., S. 169. 944 Ebd., S. 170. 941 942

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soll, ist ungerecht; der Unschuldige muß leiden. Freilich steht der religiöse Maßstab in diesem Beispiel noch nicht über der traditionalen Welt: Er ist nur ‚das Ganz Andere‘; er „ist nicht von dieser Welt“, im eigentlichen Sinn „weltfremd“. In der holzschnittartigen, unmißverständlichen Entgegensetzung von Mensch und wilden Tieren zeigt sich die traditionale Mentalität noch ohne psychologische Tiefendimensionalität. Das ‚zweidimensionale‘ Prinzip der Inversion, mit der freilich auch eine gewisse ‚ZweiDeutigkeit‘ allen Geschehens verbunden ist, deutet sich hier als grundlegende Erkenntnisoperation der traditionalen Volkskultur an: „Darstellungen einer verkehrten Welt sind uns seit dem Mittelalter bekannt. Volkslied und Märchen geben Zeugnis davon, daß wir es mit einer Vorstellung zu tun haben, die weithin geläufig war“.945

Reinigendes Gewitter? Wenn schon „das Schicksal, das die besser gearteten und darum zum Leiden verdammten Mitschüler den jungen Sündern zuweilen im Zorn prophezeihten, […] an mehr, als Einem, buchstäblich in Erfüllung“ [W 8, 93] ging,946 so war aus solch naivgläubiger Sicht nur folgerichtig, wenn sich auch über der Klippschule insgesamt ein donnerndes Gottesgericht zusammenbraute: Es war ein schwüler Sommer-Nachmittag, einer von denen, welche die Erde ausdörren, und alle ihre Creaturen rösten. Wir Kinder saßen träge und gedrückt mit unseren Katechismen oder Fibeln auf den Bänken umher, Susanna selbst nickte schlaftrunken ein und ließ uns die Späße und Neckereien, durch die wir uns wach zu erhalten suchten, nachsichtig hingehen [W 8, 91].

Die Situation ist wie geschaffen für ein Strafgericht: Susanna versäumt in geradezu eklatanter Weise ihre pädagogischen Pflichten, wieder grassieren die ordnungswidrigen „Neckereien“ „vorwitz’ger Störer“ [W 3, 336]. Obwohl die „Creaturen“ an diesem heißen Tag schon wie in der Hölle „rösten“, scheint zunächst nichts an den „Schlaf der Welt“ [W 3, 336] zu rühren, „nicht einmal die Fliegen summten, bis auf die ganz kleinen, die immer munter sind“, als auf einmal der erste Donnerschlag erscholl und im wurmstichigen Gebälk des alten, ausgewohnten Hauses schmetternd und krachend nachdröhnte. In desperatester Mischung [...] folgte nun ein Schlossengeprassel, welches in weniger, als einer Minute, an der Windseite alle Fensterscheiben zertrümmerte, und gleich darauf, ja dazwischen, ein Regenguß, der eine neue Sündflut einzuleiten schien. Wir Kinder, erschreckt auffahrend, liefen schreiend und 945 946

WELZIG, Ordo und verkehrte Welt, S. 371. Vgl. den Bibelspruch (Matthäus 18, 6–7) im Kleinen Katechismus zur der sechsten Bitte des Vaterunsers bzw. zur Frage: „Wie versucht uns die Welt?“: „Wer ärgert dieser Geringsten einen, die an mich glauben, dem wäre besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft würde im Meer, da es am tiefsten ist. Wehe der Welt der Ärgernisse halben. Es muß ja Ärgernis kommen; doch wehe dem Menschen, durch welchen Ärgernis kommt“ [LUTHER, Kleiner Katechismus, S. 142].

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lärmend durch einander, Susanna selbst verlor den Kopf, und ihrer Magd gelang es erst die Läden zu schließen, als Nichts mehr zu retten, sondern der bereits herein gebrochenen Ueberschwemmung zur Erhöhung des allgemeinen Entsetzens und zur Vermehrung der eingerissenen Verwirrung nur noch die egyptische Finsterniß beizugesellen war. In den Pausen zwischen dem einen Donnerschlag und dem anderen faßte Susanna sich zwar nothdürftig wieder und suchte ihre Schützlinge, die sich, je nach ihrem Alter, entweder an ihre Schürze gehängt hatten oder für sich mit geschlossenen Augen in den Ecken kauerten, nach Kräften zu trösten und zu beschwichtigen; aber plötzlich zuckte wieder ein bläulich flammender Blitz durch die Ladenritzen, und die Rede erstarb ihr auf den Lippen, während die Magd, fast so ängstlich, wie das jüngste Kind, heulend aufkreischte: der liebe Gott ist bös! und wenn es wieder finster im Saal wurde, pädagogisch griesgrämlich hinzusetzte: Ihr taugt auch Alle Nichts! Dies Wort, aus so widerwärtigem Munde es auch kam, machte einen tiefen Eindruck auf mich, es nöthigte mich, über mich selbst und über Alles, was mich umgab, hinauf zu blicken, und entzündete den religiösen Funken in mir [W 8, 91f.]

Der Gedanke, in Gewitter und „Schloßengeprassel“ ein Strafgericht Gottes zu erblicken, lag buchstäblich in der Luft. Blitz und Donner, für die Menschen der vortechnischen Zeit die „eindrucksstärkste Lichterscheinung“ und der „akustisch gewaltigste Klang“, galten seit jeher als „der Wink und der Hinweis der zürnenden Gottheit“.947 Schon der Psalmist wußte: „Er wird regnen lassen über die Gottlosen Blitze, Feuer und Schwefel, und wird ihnen ein Wetter zum Lohn geben“.948 Dies war die Fortsetzung der Predigt mit anderen Mitteln; wird das in der Bibel und von der Kanzel verkündete Wort Gottes „nicht gehört, so predigt er selbst; mit Kriegen, Pest, Feuer, Wasser, Teuerung, Gewittern und anderen zeitlichen Plagen“.949 Gerade Blitz und Donner sind „die Vorzeichen des Jüngsten Tages“.950 So geht auch in Susannas Schule das Gewitter mit einer „Sündflut“ einher und bringt Zerstörung, „Ueberschwemmung“, „Finsterniß“ und ein symbolisches Ende mit sich: Susannas „Rede erstarb“, sie „selbst verlor den Kopf“. Die in der Schule ohnehin herrschende Unordnung wird durch das unversehens hereinbrechende Gewitter – biblisch gesprochen – zum „Tohuwabohu“ gesteigert. Die verkehrte Wirklichkeit erfährt so eine monumentale Spiegelung im Strafgericht Gottes, das zur Buße, zur ‚Umkehr‘ ruft. Gewissensbildung erfolgt hier auf einer sehr archaischen Stufe: „Das Gewissen wird von außen angesprochen“,951 durch und als ein „auditives Phänomen“.952 Dabei wird die „mangelnde Eigenkraft“ des Gewissens „kompensiert durch die imaginierte Strafgewalt des zornigen Gottes“.953 Heinz D. Kittsteiner ordnete diesen Bewußtseinsstand in seiner Studie über Die Entstehung des modernen Gewissens in erster

KITTSTEINER, Die Entstehung des modernen Gewissens, S. 31. Psalm 11, V. 6. Umgekehrt läßt Hebbel den Samaja in Judith fragen: „Wenn er [Gott] jetzt Wunder thun wollte, warum läßt er nicht regnen?“ [W 1, 36]. 949 KITTSTEINER, Die Entstehung des modernen Gewissens, S. 42. 950 Ebd., S. 32. Vgl. ebd., S. 99. Vgl. auch die Ankündigung des Jüngsten Tages in 2. Petrus 3, 10–13, bzw. im Kleinen Katechismus [LUTHER, Kleiner Katechismus, S. 122]. 951 KITTSTEINER, Die Entstehung des modernen Gewissens, S. 94. 952 Ebd., S. 32. 953 Ebd., S. 155. 947 948

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Linie dem 17. Jahrhundert zu;954 der Bericht Hebbels zeigt, daß solche vormodernen Residuen noch lange darüber hinaus Bestand hatten. Die Reaktion der Betreuerinnen folgt exakt Kittsteiners Beschreibung der „altbackenen Christen“: Sie stellen sich die Wetter noch als Zornesrute Gottes vor; ihr Gewissen erinnert sie an ihre vielfältig begangenen Sünden, und also machen sie den Vernunftschluß, daß Gott sich jetzt an ihnen rächen werde. Sie fürchten sich vor seinen Strafen, denken an nichts als Hölle und Verdammnis, und diese Angst macht sie ganz kopflos. Sie werden unfähig, die rechten Mittel zur Selbstrettung zu ergreifen.955

In Hebbels Judith repräsentiert der greise Sünder Samuel beispielhaft dieses Denken. Als sei er innerlich unbeteiligt, spricht er über sich wie über einen Dritten: „Samuel schor sich das Haupt und stellte sich vor seine Thür, und harrte der Rache“ [W 1, 32], die er in Pest, Elend oder Tod erwartete. Die Archaik von Susannas Reaktion im geistesgeschichtlichen Kontext wird deutlich, wenn man eine Passage aus Peter Ahlwardts bereits 1745 erschienener Bronto-Theologie vergleichend daneben hält: „Wir müssen überführet seyn, daß Gott unser liebreicher Vater sey und wir seyne wahrhafte Kinder seyn, an welchen nun nichts verdammliches mehr ist. Wir müssen auch schlüssen, das Gott uns keineswegs durch seinen Donner und Blitz im Zorn, sondern nur mit Gnade, heimsuchen werde“.956 Die übertriebene Furcht vor dem zornigen Rächergott paßt nicht zu der moderneren Auffassung des gnädigen und guten Hirten. Die Schöpfung erschien dem Physiko-Theologen nicht mehr als bedrohlich und unberechenbar, sondern als gesetzmäßig und wohlgeordnet. Denn man wußte nun, wie man sich vor Blitzschlag schützen konnte: Als 1767 in Hamburg der Turm der Nicolaikirche getroffen wurde, war die „zeitgemäße Reaktion darauf nicht eine Bußpredigt, sondern es finden sich aufgeklärte Geister, die die Errichtung eines Blitzableiters vorschlagen. 1769 wird der Kirchturm mit der neuen Anlage versehen und die ‚Patriotische Gesellschaft‘ empfiehlt die weitere Verbreitung dieser nützlichen Erfindung“.957 Das demonstrative Erwecken und Erwachen des Gewissens im Gewitter aber gilt zunehmend als „unschicklich“.958 Wo das Gewissen noch nicht verinnerlicht ist, ist aber auch der Schrecken nicht lange von heilsamer Wirkung. Statt in sich zu gehen, wird die Schuld lieber auf andere abgeschoben. Diesem Muster folgt das Verhalten der Magd, die sich im allgemeinen Chaos einen letzten Eingriff in das Strafamt anmaßt. Aus deren „widerwärtigem Munde“ ertönt das Gottesurteil, das sie, die eben noch „fast so ängstlich, wie das jüngste Kind“ war, doch offenkundig selbst mit einschließt: „Ihr taugt auch Alle Nichts!“ Vgl. ebd., S. 32. Ebd., S. 78. 956 Peter Ahlwardt, Bronto-Theologie, oder: Vernünftige und Theologische Betrachtungen über den Blitz und Donner, wodurch der Mensch zur wahren Erkenntniß Gottes und seiner Vollkommenheiten, wie auch zu einem tugendhaften Leben und Wandel geführt werden kann. Greifswald 1745. Zit. nach KITTSTEINER, Die Entstehung des modernen Gewissens, S. 78. 957 KITTSTEINER, Die Entstehung des modernen Gewissens, S. 82. 958 Ebd., S. 86. 954 955

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Zu Hause hatte das Unwetter nicht weniger arg gewütet, wie Friedrich recht bald feststellte: „Aus der Schule in’s väterliche Haus zurück geholt, fand ich auch dort den Gräuel der Verwüstung vor; unser Birnbaum hatte nicht bloß seine jungen Früchte, sondern auch seinen ganzen Blätterschmuck verloren, und stand kahl da, wie im Winter“ [W 8, 92]. Dies waren die unmißverständlichen Symptome der Verkehrtheit, geeignet, der sündigen Welt ihr wahres Bild vorzuhalten. Von dem Birnbaum hatte Susanna „im Herbst regelmäßig […] ihren Tribut“ [W 8, 90] erhalten. Doch auch ein „sehr ergiebiger Pflaumenbaum, der nicht nur uns selbst, sondern noch obendrein den halben Ort und wenigstens uns’re ziemlich weitläuftige Gevatterschaft zu versorgen pflegte, war sogar um den reichsten seiner Aeste gekommen und glich in seiner Verstümmelung einem Menschen mit gebrochenem Arm“ [W 8, 92]. Der Baum mit abgebrochenen Ästen ist gleichfalls ein volksläufiges Bild des Widersinns an sich, wie es auch in Sagen und historischen Erzählungen vorkam, in denen etwa Feinde oder Soldaten „von den Bäumen die Zweige abhackten, weil sie zu faul waren, die Äpfel zu pflücken“,959 unbekümmert „um künftiges Wachstum“.960 Charakteristisch für das vormoderne, außengeleitete Schuld- und Schamgefühl ist seine mangelnde Konstanz. Wenn etwa die Unwetter „schadlos vorbeigehen, haben sie nichts weiter zu bedeuten“961. Auch im Elternhaus hatte sich die Aufregung schon gelegt, als Friedrich von der Schule kam. Jedenfalls überlieferte Hebbel von der Mutter eine erstaunlich pragmatische Reaktion: „War es nun schon für die Mutter ein leidiger Trost, daß unser Schwein jetzt auf acht Tage mit leckerer Kost versehen sei, so wollte er mir ganz und gar nicht eingehen“ [W 8, 92]. Sie nahm das Geschehene fatalistisch hin, versuchte, kurzfristig das beste daraus zu machen und sich mit dem Hinweis auf das glückliche Schwein zu trösten. In dem prägbaren kindlichen Gemüt des Sohnes geschah indes etwas anderes. Kindlicher Spieltrieb war durchaus sein erster Reflex, aber „kaum die reichlich umher liegenden Glasscherben, aus denen sich auf die leichteste Weise von der Welt durch Unterklebung mit feuchter Erde die trefflichsten Spiegel machen ließen, boten für die unwiederbringlichen Herbstfreuden einigen Ersatz“ [W 8, 92]. Die Zeit naiver Freuden ist vorüber, der aus Glas und Erde selbstgemachte Kinderspiegel ist nichts als Tand. Das Spiel mit den herumliegenden Scherben weicht einer tieferen ‚Reflektion‘, die den ‚Zauberkreis der Kindheit‘ ebenso wie den traditionalen Horizont erstmalig transzendiert. Der aufblitzende Zorn Gottes über die verkehrte Welt entzündet „den religiösen Funken“ im Knaben, der zuallererst die gedankenlose tägliche Religionsübung, dann auch das Verhältnis zu Gott und Eltern grundlegend verändert: Jetzt aber begriff ich’s auf einmal, warum mein Vater des Sonntags immer in die Kirche ging, und warum ich nie ein reines Hemd anziehen durfte, ohne dabei: das walte Gott! zu sagen; ich hatte den Herrn aller Herren kennen gelernt, seine zornigen Diener Donner und Blitz, Hagel und Sturm hatten ihm die Pforten meines Herzens weit aufgethan, und in seiner vollen Majestät war er eingezogen. Es zeigte sich auch kurz darauf, was innerlich mit mir vorgegangen war, denn als der Wind eines Abends wieder mächtig in den Schornstein blies und der JEGGLE, Kiebingen, S. 45. BAUSINGER, Traditionale Welten, S. 284. 961 KITTSTEINER, Die Entstehung des modernen Gewissens, S. 95. 959 960

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Regen stark auf’s Dach klopfte, während ich zu Bett gebracht wurde, verwandelte sich das eingelernte Geplapper meiner Lippen plötzlich in ein wirkliches ängstliches Gebet, und damit war die geistige Nabelschnur, die mich bis dahin ausschließlich an die Eltern gebunden hatte, zerrissen, ja es kam gar bald so weit, daß ich mich bei Gott über Vater und Mutter zu beklagen anfing, wenn ich ein Unrecht von ihnen erfahren zu haben glaubte.962

Das Erschrecken bleibt hier kein ephemeres Ereignis, sondern begründet ein kontinuierliches, lebendiges, ja vertrauliches Verhältnis zu Gott, das schließlich sogar gegen die Eltern ausgespielt wird. Peter von Matt schilderte die traditionale Hierarchie der Autoritäten als unverrückbar: „Still und unverwandt blickte Gottes Auge auf den Vater. Darüber wurde dieser unanfechtbar und unerschütterlich. Ihm war ein Amt gegeben, und Gottes unbewegter Blick, den er auf sich ruhen fühlte, bestätigte täglich das Amt. Aufgetragen war ihm, seinerseits mit solchem Auge auf seine Kinder zu blicken. Für sie war der eine Strahl vom andern nicht zu unterscheiden“.963 Auf Kinder mußte solche Machtübertragung „ominös“ wirken: „Durfte man je einen Unterschied machen zwischen dem Vater im Himmel und dem Vater auf Erden? Wenn zum Beispiel der auf Erden noch unerbittlicher erschien als der im Himmel – konnte man gegen jenen an diesen appellieren?“ Auf genau diese Frage erhielt Friedrich eine Antwort durch Blitz und Donner. Indem er den Zorn Gottes verinnerlichte und beherzigte, trennte er sich von der Mentalität seiner Umwelt, die nach dem Abzug des Unwetters weiter lebte, als wäre nichts geschehen. Durch die geglaubte eigene Nähe zu Gott spaltete sich dem Kind die Einheit der Autoritätsinstanzen auf, denen es sich bis dahin unentrinnbar ausgeliefert sah. Hebbel schrieb: Das Kind hat eine Periode, und sie dauert ziemlich lange, wo es die ganze Welt von seinen Eltern, wenigstens von dem immer etwas geheimnißvoll im Hintergrund stehen bleibenden Vater abhängig glaubt und wo es sie eben so gut um schönes Wetter, wie um ein Spielzeug, bitten könnte. Diese Periode nimmt natürlich ein Ende, wenn es zu seinem Erstaunen die Erfahrung macht, daß Dinge geschehen, welche den Eltern so unwillkommen sind, wie ihm selbst die Schläge, und mit ihr entweicht ein großer Theil des mystischen Zaubers, der das heilige Haupt der Erzeuger umfließt, ja, es beginnt erst, wenn sie vorüber ist, die eigentliche menschliche Selbständigkeit [W 8, 90f.].

Der Blitz als die „electrische“ Initialzündung von Individualität und „Selbständigkeit“ in früher Kindheit – diese moderne Interpretation, die der Autobiograph dem Leser anempfiehlt, ist sicherlich zu hoch gegriffen. Allerdings gab es von nun an Wahlmöglichkeiten: Zählte noch das Wort des Vaters, oder war in höherer Instanz ein anderer Spruch möglich? Genau diese Möglichkeit bringt Albrecht auf die Frage der Agnes Bernauer, „Und wenn Euer Vater flucht?“ ins Spiel, indem er antwortet: „So segnet Gott!“ [W 3, 172] Es erscheint zunächst paradox, wenn der Knabe ausgerechnet nach diesem „ersten furchtbaren Eindruck“ [W 8, 90] des katastrophalen Unwetters in das „trauliche Ver-

962 963

W 8, 92f. Zu „das walte Gott!“ vgl. T 2468. Dieses und die folgenden Zitate: MATT, Verkommene Söhne, S. 308.

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hältnis von du und du“964 mit dem Allmächtigen eintrat. Denn dieser Gott war eben doch noch nicht der aufgeklärte ‚liebe Gott‘ zu dem man vertrauensselig emporblicken konnte. „Der liebe Gott ist bös!“, war es Susannas Magd im Augenblick der Angst höchst doppelsinnig entfahren; „Wir sollen Gott fürchten und lieben“, war im Kleinen Katechismus der Erklärung jedes Gebots vorangestellt und Friedrich tat es durch sein erstes „wirkliches ängstliches Gebet“. Die fundamentale Ambivalenz aber, so der Anthropologe Stanley Diamond, ist Kennzeichen eines primitiven Gottes, der sich als „Gaukler“965 offenbart: „Er schafft und vernichtet aus Gründen, die über das menschliche Verständnis hinausgehen“.966 Er ist „Schöpfer und Zerstörer, Geber und Verneiner, [der] weder Gut noch Böse kennt […] jedoch für beide verantwortlich ist“.967 Doch gerade dieser Gott steht dem Menschen in einer noch weitgehend naturabhängigen, traditionalen Gesellschaft nahe: „Einen Gott, der sich schon von der Natur getrennt und über sie erhoben hatte, konnte man sich in der von Not und Katastrophen geschüttelten Kiebinger Welt nicht leisten“,968 meinte etwa Utz Jeggle über die Religiösität in dem von ihm untersuchten schwäbischen Dorf. Die Natur selbst „erschien zwielichtig, gebend und nehmend, versorgend und versagend“.969 Zweifellos wurde dieses Bewußtsein zunehmend als abergläubisch bewertet und in die sagenhafte Überlieferung abgedrängt. Dort aber behauptete es seinen Platz: Der „scheinbar gute Geist foppte einen alsbald, der goldene Hafen zerfiel zu unansehnlicher Asche, hatte man die Schätze, entpuppten sie sich als faulig, was man in die Hand nahm, zerrann“. Doch auch im Gefühl der Menschen blieb Gott direkt erfahrbar und magisch beeinflußbar – gerade auch im Gebet während eines Unwetters. Beten hieß nach Luther: „Ein herzliches Gespräch mit Gott dem Herrn haben, da wir alle unsere Not und mannigfaltigen Anliegen dem allmächtigen Gott auf seinen Befehl und gnädige Zusage vortragen und […] allerlei geistliche und leibliche Gaben von ihm erbitten“.970 Neben dem orthodoxen Gesetzgeber-Gott, dessen Gebote mechanisch aus dem Katechismus „eingelernt“ und heruntergebetet wurden, stand so der ungleich attraktivere charismatische Geber, bei dem der Knabe sich nun „zu beklagen anfing“, wenn er glaubte, von seinen Eltern ungerecht behandelt worden zu sein. Das Gewitter behielt für Hebbel seine auferbauende Kraft trotz physikalischer Erklärbarkeit und säkularisierender Entmächtigung. Der Neunzehnjährige faßte seinen Eindruck in dem Gedicht Gott in Verse: Wenn Stürme brausen, Blitze schmettern, Der Donner durch die Himmel kracht, Da les’ ich in des Weltbuchs Blättern Das dunkle Wort von Gottes Macht; KUH, Biographie, Bd 1, S. 46. DIAMOND, Kritik der Zivilisation, S. 162. 966 Ebd., S. 162. 967 Radin, zit. nach DIAMOND, Kritik der Zivilisation, S. 162. 968 JEGGLE, Kiebingen, S. 67. 969 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 28. 970 LUTHER, Kleiner Katechismus, S. 125. 964 965

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Da wird von innern Ungewittern Das Herz auch in der Brust bewegt: Ich kann nicht beten, kann nur zittern Vor Ihm, der Blitz und Sturm erregt“ [DjH II, 175].

Auch hier zeigt sich im Gewitter „Gottes Macht“, die den Menschen „zittern“ läßt. Allerdings folgt die Reaktion des lyrischen Ich nicht mehr dem traditionalen Muster: Statt zu beten antwortet es kongenial mit „innern Ungewittern“, durch die das Herz „bewegt“ wird. Bei aller Furcht kommuniziert es kongenial mit dem Schöpfer, liest „in des Weltbuchs Blättern“, aus dem es das „dunkle Wort“ in die Sprache der Dichtung überträgt. Paul Bornstein erkannte hierin „durchaus christliche und deistische Vorstellungen, die sich damals mit materialistischen sehr gut bei H[ebbel] vertrugen“ [DjH II, 252]. Doch geschieht hier mehr als die eklektische Vermengung verschiedener geistesgeschichtlicher Strömungen. Das Dichten selbst erweist sich als inspirierter Aufschwung: Indem Hebbel, aller Aufklärung scheinbar ungeachtet, das archaische Gewitter-Empfinden aufgreift, um es sich in subjektivierter Form noch einmal zu eigen zu machen, verbindet er es mit subjektiver Religiösität zu etwas Neuem: zu Poesie. Diese Welthaltung projiziert der Autobiograph mit der Schilderung des Donnerwetters in Schule und Elternhaus im Ansatz bereits auf seine Kindheit, wo das Strafgericht nicht die Bestätigung der Autoritäten bewirkt, sondern den Knaben auf die Bewußtseinsstufe eines trauten Zwiegesprächs mit Gott erhebt. Alles Irdische scheint zurückzubleiben, wenn der kleine Junge beginnt, „über mich selbst und über Alles, was mich umgab, hinauf zu blicken“. So läßt er den ‚horizontalen‘ Weltbezug mit seinen Widersprüchen und Verkehrungen zurück und orientiert sich an einer ‚vertikalen‘ Achse. Die Unmittelbarkeit zu Gott ermöglicht die Distanzierung auch von den eigenen Verkehrtheiten und gewährt die Erhebung „über mich selbst“. Diese Erfahrung führt den Knaben Friedrich aus dem „Zauberkreis“ der Kindheit unmittelbar in einen neuen, transzendentalen, in dem er über sich selbst und über den Dingen steht. Die einstigen Widerspüche innerhalb der traditionalen Welt können so zum Widerspruch zwischen Ich und der Welt stilisiert werden. In Wirklichkeit zog das Kind den archaischen „Geber und Verneiner“ in seine kleine Welt hinab, um sich mit ihm zu verbünden und ihn entsprechend der eigenen naiven Wünsche zu beeinflussen. Der sich erinnernde Autor wiederum löst das ferne Kind aus seinen Kontexten, um ‚mit sich selbst identisch‘ zu werden; der tiefe lebensgeschichtliche Bruch zwischen traditionaler Kindheit und sekundärer Modernität verschwindet hinter der (bio)graphischen Linearität der erzählten ‚Lebensgeschichte‘. Das „vertrauliche“ Verhältnis zu Gott erweist sich als zukunftsträchtig – das Gewitter animiert noch den jungen Mann und Schreiber zum schauerlich-behaglichen Lesen in Gottes ‚Weltbuch‘. Aus amtskirchlicher Sicht war beides – das primitive Wunschdenken des Kindes, wie die poetisierende Interpretation des Dichters – nicht anders als in den Kategorien der Selbstüberhebung, der Blasphemie oder des Aberglaubens beschreibbar.

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Last des Lesens So altertümlich, wie sich der gesamte schulische Kontext darstellt, gestaltete sich konkret auch die Alphabetisierung Friedrich Hebbels. Wenn der Autobiograph mit sarkastischem Unterton erklärte, daß er an der Klippschule „Nichts“ gelernt habe, „als Lesen“ [T 2520], dann war dies aus der traditionalen Sichtweise durchaus schon ‚mehr als genug‘. Denn Lesefähigkeit war zur damaligen Zeit noch längst nicht allgemein verbreitet. Zwar hatte sie sich in Deutschland bereits im 16. Jahrhundert auf „vielleicht 20, vielleicht gar 31 Prozent der Bevölkerung“ verteilt,971 allerdings wurde diese Entwicklung durch den Dreißigjährigen Krieg zunichte gemacht, so daß es danach erneut „ein Mißverhältnis von etwa einem Zehntel von Lesegebildeten und etwa neun Zehnteln von Analphabeten“ gab. Von dieser Relation ging Rudolf Schenda auch für das 18. und 19. Jahrhundert aus. Nach Jeismann und Lundgreen war An- und Halbalphabetismus „nicht nur bei der Landbevölkerung und den Unterschichten, sondern durchaus noch im unteren Mittelstand durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch in Deutschland verbreitet“;972 ausdrücklich machten sie darauf aufmerksam, „wie langsam sich die Fähigkeiten des Schreibens, Lesens und Rechnens in der Gesamtbevölkerung durchsetzen“. Schenda konstatierte gar, „daß bis in unser [20.] Jahrhundert hinein und trotz aller verordneten Schulpflicht das Lesen für viele Kinder eine Geheimwissenschaft geblieben ist“.973 Dies galt gerade im niederdeutschen Raum, wo das Lesenlernen „zwangsläufig mit dem Erlernen einer Fremdsprache“,974 des Hochdeutschen, verbunden war. Sinn und Notwendigkeit der Ausbildung von Lesefähigkeiten waren keineswegs offenkundig; denn die traditionale Gesellschaft war in medialer Hinsicht weitgehend durch orale Kommunikationsformen geprägt. Rudolf Schenda erläuterte: Der Dorfbewohner überblickt diese seine traditionelle Welt, er hat teil am ganzen kulturellen Patrimonium, die Techniken sind imitabel, das Vokabular zur Gänze memorierbar, Überflüssiges kann er fallen lassen. Diese Welt ist reich an Kulturgütern, reich nicht zuletzt an direkten Kommunikationsakten, an verbalen Ausdrucksformen, an phantasievollen Sprachbildern und Erzählungen. […] Diese Welt der primären Kulturvermittlung erfährt durch Alphabetisierung und Literarisierung beträchtliche Veränderungen in der sozialen Organisation und kulturalen Transmission.975

Die von vielen nicht ‚beherrschte‘ Schrift als Werkzeug von Kirche und Obrigkeit drang in diese Kultur als etwas tendenziell Fremdes und Befremdendes ein. Für den modernen Leser kaum noch nachzuvollziehen, ist Lesen-Können „kein positives Kulturfaktum an sich, es wird erst, unter bestimmten historischen Bedingungen, dazu

SCHENDA, Alphabetisierung und Literarisierungsprozesse, S. 2. JEISMANN/LUNDGREEN, Handbuch der Bildungsgeschichte, S. 386. 973 SCHENDA, Alphabetisierung und Literarisierungsprozesse, S. 10. 974 Ebd. Vgl. Hebbels Notizen „Wann Hochdeutsch?“ [W 15, 8] und „Uebergang von Plattdeutsch zu Hochdeutsch: mir fast ganz unbewußt“ [W 15, 21]. 975 SCHENDA, Alphabetisierung und Literarisierungsprozesse, S. 3. 971 972

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gemacht“.976 So läßt sich nicht in Abrede stellen, „daß der erste Antrieb zur Ausbreitung der Lesefähigkeiten in den Unterschichten ein religiös-indoktrinärer war […]. Die ersten neuen Leser sollten die Grundregeln der christlichen Kirche besser kennenlernen“. Auch Hebbels akademisch gebildeter Sekretär Christian in Maria Magdalena weiß, daß die Knaben sich „so hartnäckig gegen das A. B. C. wehren“, und diese wissen ihrerseits „warum; sie haben eine Ahnung davon, daß, wenn sie sich nur mit der Fibel nicht einlassen, sie mit der Bibel nie Händel bekommen können!“ [W 2, 47] Das christliche Schulziel stand in Spannung zu der Mentalität der Menschen: In moralischer Hinsicht war ihr Denken von Gewohnheit und Pragmatismus geprägt, in religiöser von magischen und abergläubischen Elementen durchsetzt, die mit der offiziellen Kirchenlehre durchaus nicht leicht in Einklang zu bringen waren. Doch nicht nur inhaltlich, auch formal war das Lesenlernen eine höchst unerquickliche Beschäftigung, da es, „insbesondere nach der schrecklichen Buchstabier- und Syllabiermethode, […] keinen raschen Erfolg zeitigte“977. Der um etwa eine Generation jüngere Friedrich Paulsen, Landsmann Hebbels aus dem nahen Nordfriesland und Professor für Pädagogik, erinnerte sich: „Das Lesenlernen blieb für manche, die bloß die Wintermonate in die Schule kamen, eine jahrelange Mühsal, durch Buchstabieren, Syllabieren bis zum Wörterlesen hingeschleppt, und doch ohne ganzen Erfolg, das Schreiben ein kümmerliches Nachmalen der Buchstaben; der Hauptertrag langer Plage: das Herplappern des immer wieder auswendig gelernten Katechismus und einiger Sprüche und Kirchenlieder“.978 Nicht viel anders äußerte sich der Schriftsteller und Pädagoge Johann Hinrich Fehrs, der im holsteinischen Mühlenbarbek zur Schule gegangen war: „Der enge dumpfe Raum, in dem klein und groß, Mädchen und Knaben sich sammelten, das ewige Einerlei der Übungen im Lesen, Schreiben und Rechnen, besonders aber die Nöte des Aufsagens von Bibelsprüchen, Kirchenliedern und des greulichen Landeskatechismus, den wir mit allen Noten und Anmerkungen auswendig lernen mußten, lähmten den Eifer und nahmen vielen alle Lust.“979 Die Verhältnisse in Hebbels engster Heimat Norderdithmarschen faßte Ernst Erichsen zusammen: „Die Ergebnisse des Leseunterrichts waren im allgemeinen denkbar dürftig. Die Schulinspektoren erhoben immer erneut Klagen über das ausdruckslose und schleppende Lesen sowie die Unfähigkeit der Kinder, den Sinn des Gelesenen zu erfassen“.980 Solche Schwierigkeiten waren offenbar universell, wie ein früher Einblattdruck illustriert: „Er präsentiert den Jesusknaben vor offenem ABC-Buch, den Finger etwas ratlos im Mund, während ein hilfreicher Erzieher-Engel auf eine Buchseite weist. Doch diese Anspielungen auf Leseschwierigkeiten selbst bei Gottes Sohn ließ sich gut als pädagogische Aufmunterung an strebsame Nachgeborene deuten“.981 Kein Wunder, wenn es auch im Hause Hebbel ein bedeutsames Ereignis war, als Friedrich

Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 8. Ebd., S. 10. 978 Friedrich Paulsen, Das deutsche Bildungswesen in seiner geschichtlichen Entwicklung. Zit. nach KOCH, Johann Hinrich Fehrs, S. 14. 979 Johann Hinrich Fehrs, Aus der Jugendzeit, zit. nach KOCH, Johann Hinrich Fehrs, S. 14. 980 ERICHSEN, Schulgeschichte der Landschaft Norderdithmarschen, S. 96. 981 NIES, Bilder von Bildung und Verbildung durch Lesen, S. 206. 976 977

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„das erste Mal, ohne zu stottern oder gar zu stocken“ [W 8, 104], etwas vorlas – auf die Konsequenzen dieses Ereignisses ist noch zurückzukommen. Ansonsten hat sich Hebbel über derlei Hindernisse früher Literalisierung wenig geäußert – vielleicht, weil er als Künstler „die krausen willkürlichen Zeichen der Schriftsprache schon deshalb hassen muß, weil er immer schöne, reine Formen vor sich sieht“ [WAB 1, 409]. Dies nahm er selbst jedenfalls von Berthel Thorvaldsen an und wollte kaum wahrhaben, welch „wunderbare Dinge“ [WAB 1, 409] Adam Öhlenschläger über den hochverehrten Bildhauer erzählte – daß dieser nämlich über das Buchstabieren kaum hinausgekommen war: „Er kann – kaum lesen; sollte man es glauben? […] die Buchstaben machen ihm Schwierigkeiten, er braucht so viel Zeit zu einer Zeile, wie Max, wenn er sieben Jahr ist, zu einer Seite gebrauchen wird.“982 Allerdings müssen Hebbel die Nöte, welche die archaische Buchstabiermethode mit sich brachte, aus eigener Anschauung nur zu gut vertraut gewesen sein. Es ist bemerkenswert, wie oft das ABC in seinen Tagebüchern und Briefen für Vergleiche und Metaphern unterschiedlichster Art herhalten muß – ein Symptom dafür, wie tief sich die schier unendliche Geschichte der schulischen Alphabetisierung bei ihm eingeprägt hatte.983 Aus einem späten Notat von 1859, mit dem Hebbel sein fünftes Tagebuch beschloß, sprach auch die Erinnerung an die Schulzeit, als flüssiges Lesenkönnen die absolute Ausnahme war: „Der große Styl des Lebens unterscheidet sich vom gewöhnlichen [!], wie Lesen vom Buchstabiren“ [T 5768]. Seine Schilderung, Wie die Krähwinkler ein Gedicht verstehen und auslegen, 1831 im Dithmarscher und Eiderstedter Boten veröffentlicht, gewährt bei aller Satirik durchaus einen realen Einblick in die „gewöhnliche“ Lesepraxis. Am Grab eines Mädchens entziffert die Trauergemeinde kollektiv ein dort angeheftetes Gedicht, das in seiner geschraubten Syntax und Metaphorik auch einem geübten Leser nicht sofort eingehen dürfte. Darin warnt die „Verblichene“ [DjH II, 96] die Leser unter anderem, es sei: „Das Laster eine Hure, die Minuten [/] Die Sinne kitzelnd euch berührt“ [DjH II, 97]. Daraufhin durchfährt ein Unwille die Menge: „Hure! Hure! […] das junge sittsame Mädchen eine Hure!“ Der Totengräber rettet die Situation, indem er erklärt: „Das Wort Hure ist ein Schreibfehler: die in demselben Verse vorkommenden: ‚Minuten‘ ergeben ja deutlich, daß eine Uhre gemeint ist!“ [DjH II, 97] Dem satirischen Spötter ist dies Beweis für die grenzenlose Dummheit der „nachterfüllte[n] Köpfe“, in die sich das „Licht der gesunden Vernunft“ unmöglich hineinbringen lasse. Sachlich betrachtet, umreißt die Szene exakt das Phänomen des „Gruppenalphabetismus“984 sowie die Probleme, die sich bei orthographischer Unsicherheit und langsamer Wort-für-WortLektüre für die semantische Kohärenzbildung zwangsläufig ergeben. Eher unabsichtlich erfaßte Hebbel hier ein Stück mediengeschichtlicher Realität; Verständnis zeigte er dafür wenig: Aufbrausend verlieh er zuweilen seiner Verachtung der nur unzulänglich alphabetisierten Menschenklasse beredten Ausdruck: „Wie können sich doch WAB 1, 409f. Gemeint ist Maximilian, Hebbels 1840 geborener Sohn. Nur eine Auswahl von Belegen aus den den Tagebüchern: T 1622, T 1890, T 1903, T 2167, T 2395 (vgl. T 2380), T 2569, T 2728, T 2889, T 3073, T 3093 [T 3421, T 3427, T 5262 = Buchstabenrätsel], T 3795, T 5159, T 5174, T 5501, T 6128. 984 SCHENDA, Vorlesen, S. 13. 982 983

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Menschen der Art, bei denen schöne Buchstaben eine Cardinal-Tugend am Brief sind, nur einbilden, ich könne ihnen regelmäßig schreiben“,985 schrieb er einmal an Elise Lensing. An der Klippschule herrschte hingegen noch ein anderer Ton. Wortführer waren hier „einige[...] hochaufgeschossene[…] Rangen“, die „von Zeit zu Zeit die Schule schwänzten“ und hernach unter „Prahlereien“ ihre „Abentheuer“ [W 8, 94] zum besten gaben. Wie sollte es anders sein, da die Schule „weder ihrer Entwicklungsstufe Verständnis erwies, noch sie fortschreitend förderte, sie weder mit den Dingen und Vorgängen ihrer Umgebung vertraut oder mit denen des Lebens bekannt machte, noch ihnen Impulse fürs Leben einhauchte. Lustlos und mit innerer Abneigung müssen sie dem Schulbetrieb gegenüber gestanden haben“.986 Wenn der Sekretär aus Maria Magdalena zu berichten wußte, daß sich die Jungen generell „so hartnäckig gegen das A. B. C.“ sträubten [W 2, 47], so erzählte Hebbel in eigener Sache von recht uneigentlichen Motivationen, das Alphabet doch zu studieren: Außer der Neigung zu der Mitschülerin Emilie war es das, „was der Knabe mit den Rosinen erlebte; ihretwegen erlernte er die Buchstaben“ [T 3317]. Auch die These, die Joseph Chilton Pearce von Hans G. Furth übernahm, kommt bei Hebbel sicherlich in Betracht: „Kinder, die in der Schule sehr schnell lesen lernen, wollen damit […] den Beifall von Lehrern und Eltern erringen, sie möchten die Bindung an die Erwachsenen festigen und unterdrücken dafür sogar den natürlichen Fluß des Lebens“.987 Verlockend war aber auch „die neue Fibel mit Johann Ballhorns Eier legendem Hahn unter’m Arm“ [W 8, 97], mit welchem Beistand sich der ABC-Schütze „beherzt“ [W 8, 97] auf den Weg in die Klippschule machte. Das ungewöhnliche und von Hebbel demonstrativ zur Schau gestellte Bild verdient eine genauere Betrachtung. Der Hahn auf dem Hinterumschlag, die einzige Illustration dieser sonst noch bilderlosen Fibel, stand bei der Benennung einer ganzen Klasse von ABC-Büchern als Wappentier Pate. Die sogenannten „Hahnenfibeln“ besaßen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert eine enorm große Verbreitung und Volkstümlichkeit, die „in vielen Sprichwörtern und selbst in der Märchenwelt einen beredten Ausdruck gefunden hat. Wer in seiner Fibel nicht bis zum Hahn [also bis zur letzten Seite, C. S.] gekommen war, der konnte nicht lesen, hieß es im Volksmund“.988 In Hebbels Augen hatte es mit diesem Hahn eine besondere Bewandtnis, denn er fungierte als schillernder Lockvogel. Den Sekretär Christian ließ Hebbel schimpfen: „Aber schändlich genug, man verführt die unschuldigen Seelen, man zeigt ihnen hinten den rothen Hahn mit dem Korb voll Eier, da sagen sie von selbst: Ah! und nun ist kein Haltens mehr“ [W 2, 47].

WAB 1, 171. Damit bezog er sich auf „die Meinigen“ ebenso wie auf den Kirchspielschreiber Voß! 986 ERICHSEN, Schulgeschichte der Landschaft Norderdithmarschen, S. 106. 987 PEARCE, Die magische Welt des Kindes, Anm. S. 267. Vgl. dazu unten den Abschnitt Der Predigtvorleser. 988 MUTH, Fünf Fibeln, S. 43. Von dieser Popularität zehrt auch Jean Pauls parodistischer Roman Leben Fibels. 985

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„Niemand wird glauben, daß sich in dem Abc-Buch Hebbels wirklich ein eierlegender Hahn befunden hat“989, schrieb Käthe von Jezewski in einem Beitrag Zur Fibelhahnfoschung apodiktisch – ihr war kein einziges derartiges Exemplar bekannt. Auch der Buchwissenschaftler Josef Benzing bezog sich in seinem Aufsatz Zur Entstehung der Hahnenfibel auf Hebbels Äußerung, nur um die Existenz dieses Bildmotivs in Abrede zu stellen. Benzing behauptete ebenfalls: Eine Fibel „mit Johann Ballhorns Eier legendem Hahn“ kann er nicht besessen haben. […] Denn diese hat es nie gegeben, d. h. eine Darstellung des Hahnes ohne Sporn mit ein paar Eiern oder einem Korb mit Eiern daneben, wie sie dem Lübecker Drucker Johann Balhorn (1527 – 1573) oder seinem gleichnamigen Sohn und Nachfolger (1575 – 1604) zugeschrieben wurde.990

Von Balhorn ging „die Rede, daß er bei einer Neuauflage […] bei dem Schlußbild, das üblicherweise einen Hahn als Sinnbild der Wachsamkeit zeigte, die Sporen des Hahns entfernt und diesen neben einen Korb mit Eiern gesetzt haben soll“.991 Auch wenn Balhorns Urheberschaft nicht geklärt ist, ist der Existenznachweis des Hahnes mit Eiern inzwischen geführt worden. Ingeborg Willke entdeckte in einem undatierten deutschen ABC-Buch „auf der letzten Seite ein[en] Hahn mit einem Korb, Eiern und einem kleinen Hahn“.992 In schwedischen Fibeln, die auf deutsche Vorbilder zurückgehen, fand sie mehrere Variationen dieses Motivs (Abbildung 7). In diversen, zwischen 1715 und 1817 entstandenen Fibeln hält der Hahn gar „seinen Zeigestock auf die eine der aufgeschlagenen Buchseiten mit den Worten: ‚HEY HEY KAC KAC KAC KAC EIN EY’“.993 Auch Benzings Vermutung, der Hahn verweise als Druckermarke eines Johann Eichhorn auf die Herkunft der ersten „Hahnenfibel“ aus Frankfurt/Oder, das den Hahn im Stadtwappen führt,994 und sei als bloßer Buchschmuck tradiert worden, wird der ikonographischen und symbolischen Bedeutung des Motivs nicht gerecht, wie Willke dargelegt hat: Uns erscheint das Bild eines Hahnes so intim mit dem Inhalt des Buches verbunden, daß es als Symbol der darin enthaltenen Lehre angesehen werden kann. Der Inhalt eines ABCBuches dieser Zeit besteht aus den Hauptstücken des christlichen Glaubens. Wir vertreten somit die Hypothese, daß der Hahn die letzte Seite eines ABC-Buches als christliches Symbol schmückt. […] Die bekannteste Stelle dürfte Markus 14, Vers 30 bzw. 72 sein: ‚Und der Hahn krähte zum andernmal. Da gedachte Petrus an das Wort, das Jesus zu ihm sagte: Ehe der Hahn zweimal krähet, wirst du mich dreimal verleugnen.‘ […] Der Hahn als Verkünder JEZEWSKI, Zur Fibelhahnforschung, S. 109. Jezewski hält Die Jobsiade von Karl Arnold Kortum für die Quelle des Motivs. Darin läßt der Autor seinen komischen Helden, den Kandidaten Jobs die „Balhornfibel verbessern, d. h. unter anderem dem Fibelhahn […] ein großes Ei zur Seite setzen“ [ebd.]. 990 BENZING, Zur Entstehung der Hahnenfibel, S. 9. 991 FRANK, Literatur in Schleswig-Holstein, S. 86. 992 WILLKE, ABC-Bücher, S. 107, Anm. 22. 993 Ebd., S. 106. 994 Vgl. BENZING, Zur Entstehung der Hahnenfibel, S. 13. 989

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des christlichen Glaubens, gezeichnet durch die Bänder der Verleugnung, der Sünde. Sehr oft geht dem Bild des Hahnes das Sündenbekenntnis voraus.995

Innerhalb des christlichen Deutungsrahmens sind allerdings vielfältige Bedeutungszuschreibungen möglich. Der Hahn ist das „Sinnbild der Wachsamkeit und des Heldenmutes“, „der Gewissensprüfung, der Reue und des Gebetes. Mit seinem unermüdlichen Eifer repräsentiert er die Wißbegierde und den Fleiß und steht als Symbol des Unterrichts, der Lehre, des Lehrers und des Predigers“.996 Aber auch in Mythologie und Volksaberglauben spielt der Hahn eine große Rolle, so „im Erntebrauch, wohl als Fortbestehen germanischen Brauchtums, als Symbol der Fruchtbarkeit“.997 Dieser Bedeutungsaspekt liegt nach Willke auch den „Darstellungen der ABC-BuchHähne mit Belohnungen zugrunde“. Denn neben der Rute hält er mitunter auch einen „Korb voller Früchte“998 – oder eben auch voller Eier bereit. Aus dieser Ikonographie der dem Hahn untergeschobenen Eier ist die Verbindung zu Hebbels „eierlegendem“ Hahn noch nicht zwingend gegeben. Die Frage, warum Hebbel das Motiv sowohl in den Aufzeichnungen aus meinem Leben als auch in Maria Magdalena gerade in dieser Weise interpretierte, beantwortete Benzing vage: „Hier muß er übertrieben haben, vielleicht weil ihm eine solche Darstellung interessanter erschien“.999 Doch braucht man auch hier Hebbels Erfindungsgabe nicht zu bemühen: „Der Hahn brütet die Eier aus“ – dies ist im späteren 19. Jahrhundert noch ein Motiv des Neuruppiner Bilderbogens über Die verkehrte Welt,1000 wodurch die Vertauschung der Geschlechterrollen symbolisch karikiert wird. Der Volksaberglauben aber kannte nicht nur den brütenden, sondern auch den eierlegenden Hahn und bewahrte auch dessen mythologische, durchaus unheimliche Bedeutung. Aus dem Dithmarschen benachbarten Kreis Steinburg ist bekannt: „De olle Sag gait noch an vele Steden: en Hahn, de söven Johr in een Huus levt hett, de legt en Ei, un ut dat Ei kümt en markwürdig Deert rut, dat ward ünnerscheden nömt: en Drak, Krokodil etc.“1001 Was es damit auf sich hat, erklärt das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens genauer: „Ein Hahn meist von schwarzer, aber auch roter Farbe legt, wenn er sieben oder neun, zehn Jahre alt wird, ein Ei. Wird es im Mist ausgebrütet, so entsteht daraus eine Schlange oder meist ein Basilisk“1002 (Abbildung 8). Dieser Volksglaube beruht auf der Vorstellung vom „dämonischen“ schwarzen oder roten Hahn und dem „Naturwidrigen, also Teuflischen der angeblichen Tatsache“. Damit wird auch die etwas kryptische Äußerung des Sekretärs Christian WILLKE, ABC-Bücher, S. 100. Ebd., S. 102. 997 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 104. 998 Ebd., S. 107. 999 BENZING, Zur Entstehung der Hahnenfibel, S. 9. 1000 KOSCHATZKY, Karikatur & Satire, S. 238. Vgl. darin den Neuruppiner Bilderbogen Nr. 281, „Die verkehrte Welt“. Käthe von Jezewski glaubt, daß „der ‚eierlegende Fibelhahn‘ eine Art sprichwörtliche Redewendung geworden sein muß“ [JEZEWSKI, Zur Fibelhahnforschung, S. 109], kann aber als einzigen ‚Beweis‘ wiederum nur die Stelle in Hebbels Aufzeichnungen anführen. 1001 Der Flöter im Eulengiebel. In: HUBRICH-MESSOW, Sagen aus Schleswig-Holstein, S. 174. 1002 Dieses und die folgenden Zitate: BÄCHTOLD-STÄUBLI, Handwörterbuch, Bd III, Sp. 1337. 995 996

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über die ‚schändliche Verführung‘ der ‚unschuldigen‘ Kinderseelen durch den – auch bei ihm roten – Fibelhahn deutlicher. Aus der abergläubischen Sicht des Volkes bringt die Kenntnis der ‚schwarzen Kunst‘ des Lesens Ungeheuer hervor, Basilisken, deren Anblick gleichsam tödlich ist: Denn der Übergang von der Fibel zur Bibel, wie später vom naiven Rechtsverständnis zum Corpus juris läßt die lebendige Kommunikation verstummen – „was vergißt man nicht über Justinian und Gajus!“ [W 2, 47]. Die Ausführungen des Sekretärs lassen sich mit den Erfahrungen des Schreibers Hebbel in Deckung bringen: Ihm selbst hielt der Kirchspielvogt Mohr „die Wissenschaft, als den Basilisken, der erst versteinern müsse, bevor man leben könne oder dürfe, entgegen“1003 – eine Prognose, die keineswegs unangebracht war: 1837 gab Hebbel sein Jurastudium endgültig auf, weil „Jahre langes, sclavisches Versenken in das rein Positive, wie die Jurisprudenz es verlangt, ihn tödten“ [T 748] würde. So blieb durchaus unentschieden, ob das Wappentier der Fibel ein Symbol der Verheißung oder der Verführung, ob die aufgeklärt-literale oder die abergläubisch-orale Welt die ‚verkehrte‘ sei. Erst später durfte sich Hebbel über solche Zweifel erhaben fühlen. Er verwandelte das traditionale Vexierbild des eierlegenden Hahns in eine schillernde literarische Metapher – in den Basilisken, vor dem versteinert, wer ihm ganz verfällt. Indem Hebbel den sonderbaren Hahn ausdrücklich mit Johann Ballhorn in Verbindung brachte, wies er nebenbei auch auf spezielle Tücken der Alphabetisierung hin. Der ehrwürdige Lübecker Frühdrucker hatte das ABC-Buch seinerzeit „durch Einführung der Doppelbuchstaben ff, tt und ss ‚verbessert’“1004 – also eigentlich verkompliziert – und ging so als ‚Verballhorner‘ und notorischer Anders-Buchstabierer in die Geschichte ein. Mit diesem altertümlichen Patron mußte die schulische Alphabetisierung auch dem modernen Leser von Hebbels Autobiographie in fragwürdiger Beleuchtung erscheinen. Was aber hatte es wirklich mit der so von Hebbel etikettierten Hahnenfibel auf sich, und wie muß man sich die Alphabetisierung mit ihr vorstellen?

Archaische Alphabetisierung Die Hahnenfibeln folgten einem simplen Unterrichtsprinzip – der Buchstabiermethode. Diese war „das älteste Verfahren, lesen zu lehren“,1005 wurde schon von dem Kirchenvater Hieronymus empfohlen und „nach griechischem und römischem Vorbild in Deutschland übernommen“. Im Rahmen der protestantischen Schulreformen des 16. Jahrhunderts fand sie Eingang in den neuen Typus der Katechismusoder Hahnenfibeln. Bereits zur damaligen Zeit regte sich Kritik. So hatte Valentin Ickelsamer „schon in den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts die Fragwürdigkeit der sogenannten ‚Buchstabiermethode‘ aufgewiesen und ein sinnvolleres Verfahren vorgeschlagen“. Ickelsamers Vorschläge blieben jedoch ohne größeren Einfluß und WAB 1, 134. Das Motiv des Basiliskenblicks auch in Schnock [W 8, 146]. FRANK, Literatur in Schleswig-Holstein, S. 86. 1005 Dieses und die folgenden Zitate: BAUMGÄRTNER, Methoden der Leseerziehung, S. 356. 1003

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die Hahnenfibeln auch während des gesamten 17. Jahrhunderts der gängige Fibeltyp. Erst durch die pietistisch und philanthropisch beeinflußte Pädagogik des 18. Jahrhunderts entstand eine ernsthafte Konkurrenz. Für Gisela Teistler stellte das Jahr 1770 bzw. die „zu diesem Zeitpunkt explosionsartig einsetzende Entwicklung der Herstellung von Fibeln“1006 einen „radikalen Wendepunkt“ dar. Allerdings blieben die alten ABC-Bücher „trotz intensiver aufklärerischer Pädagogik noch lange bis in das späte 18. Jahrhundert hinein“1007 in Gebrauch. Josef Benzing meinte: „Um 1800 herum oder auch etwas später muß die Hahnenfibel ein Ende gefunden haben, vielleicht verdrängt durch die stärker sich in den Vordergrund schiebende Bilderfibel“.1008 1803 wurde die Buchstabiermethode durch die bayrischen Schulbehörden sogar regelrecht verboten.1009 Wenn Hebbel also um 1820 noch immer aus der Hahnenfibel lernte, wurde er nach einer längst anachronistischen Methode alphabetisiert. An den progressiven Schulen war sie schon fünfzig Jahre, vielerorts immerhin schon zwanzig Jahre vorher aus dem Unterricht verbannt worden. Werfen wir einen Blick in das schmale Heftchen, das den Schüler der Wesselburener Klippschule mehrere Jahre lang begleitete. „Die frühen einfachen Fibeln, die immer Oktavformat haben und acht Blätter umfassen, haben meist den gleichen oder sehr ähnlichen Inhalt: Das große und kleine Alphabet, die zehn Gebote, den christlichen Glauben, das Vaterunser, etwas von der Taufe usw., also vorzugsweise Lesestücke religiösen Inhaltes, deren Texte zu Übungen in Silben- und Wörterlesen bestimmt waren“.1010 Der Unterricht vollzog sich nach immer gleichem Muster in drei Schritten. Das Kind mußte zuerst die Namen der Buchstaben kennenlernen. Am Anfang stand daher das Alphabet in kleinen und großen Druckbuchstaben. Schon darin deutet sich die Crux dieser Methode an, da sich Buchstabenname und Lautwert keineswegs entsprechen. Oft wurde – man denke an Bal(l)horn – „die alphabetische Reihenfolge, in der schon auf mögliche Verdoppelungen hingewiesen war, durch eine Gliederung in Konsonanten, Vokale und ‚gedoppelte Lautbuchstaben‘ ergänzt“1011. Für den Schüler bedeuten die Doppelbuchstaben eine zusätzliche Erschwernis bei der Worterkennung. Nicht transparent wurde dabei, daß in einigen Fällen ein Laut durch eine Kombination verschiedener Buchstaben wiedergegeben wird. So beklagte Joachim Heinrich Campe 1806 in den seinem Abeze- und Lesebuch vorangestellten Allgemeine[n] Grundsätze[n] und Regeln: „Wer sollte vermuthen, daß die Buchstaben a und e, wenn sie zusammengezogen werden, wie ä lauten, c und h wie che; und nun vollends s, c, h, wie sche?“1012 – Nach dem Kennenlernen des Alphabets folgte als zweite Phase das „Sillabieren“, das darin bestand,

Dieses und das folgende Zitat: TEISTLER, Fibeln, S. 270. Ebd., S. 271. 1008 BENZING, Zur Entstehung der Hahnenfibel, S. 14. 1009 In Preußen ließ das amtliche Verbot noch bis 1872 auf sich warten. Vgl. BAUMGÄRTNER, Methoden der Leseerziehung, S. 356. 1010 BENZING, Zur Entstehung der Hahnenfibel, S. 10. 1011 MUTH, Fünf Fibeln, S. 43. 1012 CAMPE, Abeze- und Lesebuch, S. 17. 1006 1007

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daß die Namen der Buchstaben, die eine Silbe bilden, nacheinander genannt und dann die Silben ausgesprochen wurden: „Esceha – we – e – i – eszet, Schweiß.“ Bei mehrsilbigen Wörtern wurde jede Silbe auf diese Weise behandelt und nach jeder neuen Silbe alles Vorangegangene noch einmal ausgesprochen: „El – a – en – de, Land; es – te – er – a, stra, Landstra; eszet – e – ße, Landstraße“.1013

Schon auf dieser Stufe des Sillabierens konnten die vorher gelernten Buchstabennamen „keine echte Hilfe mehr bieten, denn nun mußten ja die Lautqualitäten der einzelnen Buchstaben berücksichtigt werden, obgleich das den alten Schulmeistern meist nicht bewußt war“.1014 Nicht einmal Hebbel war sich dessen bewußt, wenn ihm der Satz ebenso plausibel wie notierwürdig erschien: „Alles Sprechen ist ein rasches Buchstabiren“ [T 4636]. Das Sillabieren erschwerte zudem die Möglichkeit, Morpheme zu erkennen, da ja die sinntragenden Einheiten durch die Silbentrennung zerschnitten werden. Wenn die Sillabierübungen über längere Zeit praktiziert woren waren, ging man zur Arbeit an Texten über. ‚Lesen‘ konnte man dies wohl nicht nennen, denn es geschah gleichfalls buchstabierend und sillabierend. Auf diese Weise arbeitete man sich allmählich durch die ganze Fibel durch. „Am Ende stand dann ein Lesen, das auf Grund der praktizierten additiven Leselehrmethode ein Zusammensetzen von Buchstaben, beziehungsweise das Aneinanderreihen von deren Lautwerten, zu Silben, von Silben zu Wörtern und von Wörtern zu Sätzen war“.1015 Als „absurd und geeignet, den Schülern alle Freude zu rauben“,1016 nannte Ernst Erichsen dieses Verfahren in seiner Norderdithmarscher Schulgeschichte mit vollem Recht. Denn die Klagen über die „Qual, die das Verfahren für die Kinder bedeutet, über den Ekel am Lesen, den es erzeugt, seine Vernunftwidrigkeit und Ineffizienz ziehen sich durch die Jahrhunderte“.1017 Indes kursierte in Susannas Schulstube neben der religiösen Hahnenfibel noch ein weiteres, ungleich attraktiveres Leselehrbuch, in dem „Wörter, wie Tulpe und Lilie, wie Kirsche und Apricose, wie Apfel und Birne“ [W 8, 101] vorkamen. ‚Realien‘ wie „Pflanzen, Tiere, Steine, Maße und Gewichte, Landwirtschaftliches, Historisches und Grammatisches“1018 setzten sich als Fibelinhalte unter dem Einfluß des Philanthropismus durch. So wenig welthaltig die ersten säkularen ‚Lesefrüchte‘ Hebbels waren, ihr Eindruck war überwältigend: Die Obst- und Blumennamen „versetzen mich unmittelbar in Frühling, Sommer und Herbst hinein, so daß ich die Fibel-Stücke, in denen sie vorkamen, vor allen gern laut buchstabirte und mich jedes Mal ärgerte, wenn die Reihe mich nicht traf“ [W 8, 101]. Im Gewirr der Buchstaben wurden auf einmal ganze, sinnhafte Wörter erkannt. Ihre Erkenntnis wurde unterstützt durch „supplementäre Sinnlichkeiten“1019 – jedoch nicht, wie sie im Buche, sondern wie sie in Susannas Garten standen: „Hinter dem Hause war ein Hof, an den Susannas Gärtchen BAUMGÄRTNER, Methoden der Leseerziehung, S. 357. MUTH, Fünf Fibeln, S. 43. 1015 BAUMGÄRTNER, Methoden der Leseerziehung, S. 357. 1016 ERICHSEN, Schulgeschichte der Landschaft Norderdithmarschen, S. 95. 1017 BAUMGÄRTNER, Methoden der Leseerziehung, S. 358. 1018 Ebd. 1019 KITTLER, Aufschreibesysteme, S. 39. 1013 1014

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stieß […], das voll Blumen stand“ [T 2520]. Wie der Hortus conclusus der biblischen Susanna wurde auch dieser peinlich „vor uns verschlossen gehalten“ [W 8, 89], obschon aus anderen Gründen: Ein reiner Ziergarten besaß angesichts des omnipräsenten Nutzdenkens die Aura des Seltenen und Kostbaren.1020 Wenn die Lehrerin, die ihr Obst von den Eltern als Unterrichtsvergütung bezog, „gut gelaunt war, so schenkte sie uns von den Blumen“ [T 2520]. Dies tat sie wohlweislich „jedoch erst dann, wenn sie dem Welken nah’ waren; früher raubte sie den [...] Beeten […] Nichts von ihrem Schmuck“ [W 8, 89]. Das Glück im Winkel der Sinnlichkeit oder anders, das „Ausleben der körperlichen Phantasie und damit das mimetische Erleben von Affekten“1021, das die traditionale Mentalität von moderner „Empathie“ unterscheidet, ist die Ausnahme. Tulpen und Rosen in Texten sind ebenso rar wie reale Rosinen, und für die verführten „unschuldigen Seelen“ [W 2, 47] ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie „mit Grausen inne werden, in welche Wildniß die verfluchten 24 Buchstaben, die sich Anfangs im lustigen Tanz nur zu wohlschmeckenden und wohlriechenden Worten, wie Kirsche und Rose, zusammenstellten, sie hineingelockt haben!“ [W 2, 47] Nicht nur in moralischer, auch in medialer Hinsicht steht schließlich das unschuldige ‚Blumenkind‘ verlassen in der Ödnis des Buchstabendickichts da – und wieder ein wenig „wie Adam und Eva auf dem Bilde unter den wilden Thieren“ [W 8, 93]. Auch diese zweite Fibel Hebbels war nur ein bescheidener Ausdruck der Versuche, die „sachwidrige und unpsychologische Methode“1022 des Buchstabierens zu verbessern oder zumindest zu verfeinern. Ein Grundproblem war dabei, daß die Buchstabenschrift „weder unmittelbar den Gehör- noch den Tastsinn“1023 beansprucht, sondern „ganz einseitig die visuelle Fähigkeit des Menschen“ verlangt. So schafft sie, wie Marshall McLuhan formulierte, „eine Kluft zwischen dem Auge und dem Ohr, zwischen der semantischen Bedeutung und dem visuellen Kode“.1024 Avancierter waren daher Bilderfibeln mit Abbildungen von Tieren oder Gegenständen, die den Buchstaben der Form nach ähnelten, um eine Brücke zwischen diesen und den Lauten herzustellen. Eine Fibel von 1650 zeigt z. B. einen gewundenen Aal, und erklärt dazu, daß der lesenlernende Hans „lange das a nicht behalten konnte, bis er die Köchin sah, einen Aal abtun, der sich recht also krümmte und ein a machte, wie er hier abgemalt ist“.1025 In späteren Fibeln wurde „das ‚e‘ auf das Ohr des Esels, das ‚s‘ auf eine gewundene Schlange oder die Form eines in Windungen liegenden Seils, das ‚d‘ auf die des Degens bezogen“.1026 Oft waren den Bildern kurze gereimte Verse zugeordnet, die das Einprägen zusätzlich erleichtern sollten. In Campes Abeze- und Lesebuch wurde sogar jeder Buchstabe „mit einem kurzen fabelartigen Text, zu dem eine Bildseite gehört, eingeführt“.1027 Vgl. SCHOLZ, Gartenlust in Lilliput. Wesselburens verschwundener „Park“ und ein wiederentdecktes Hebbel-Gedicht. 1021 Dieses und das folgende Zitat: SCHÖN, Der Verlust der Sinnlichkeit, S. 89. 1022 DODERER, Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur, S. 380. 1023 Dieses und das folgende Zitat: WALZ, Leser, Nichtleser, Analphabeten heute, S. 134. 1024 Zit. nach WALZ, Leser, Nichtleser, Analphabeten heute, S. 134. 1025 Zit. nach ALT, Bilderatlas zur Schul- und Erziehungsgeschichte, S. 392f. 1026 BAUMGÄRTNER, Methoden der Leseerziehung, S. 359. 1027 DODERER, Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur, S. 380. 1020

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Während aber alle diese Verfahrensweisen vom Einzelbuchstaben ausgehen und als „synthetische“ zu bezeichnen sind, entwarf bereits Valentin Ickelsamer eine umgekehrte, „analytische“ Methode. Er arbeitete statt mit Buchstaben mit Lauten; vor allem aber entwickelte er ein „Verfahren zur Gewinnung der Laute aus dem Ganzen des gesprochenen Wortes“.1028 Nach diesem Prinzip ergibt sich „aus der Analyse der gesprochenen und gehörten Wörter die Kenntnis der Laute“. Ickelsamers Versuche blieben freilich Episode. Bahnbrechend wurde erst die Lautiermethode des bayrischen Schulaufsichtsbeamten Heinrich Stephani: 1802 brachte er eine Fibel oder Elementarbuch zum Lesenlernen heraus, die sich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts schnell in ganz Deutschland durchsetzte. Die Erfolge der neuen Lautiermethode blieben nicht aus: „Im Vergleich mit der alten Buchstabiermethode führte sie schneller und für die Kinder auf weniger quälende Weise zum Ziel des Lesenlernens“.1029 Überdies hatte sie positive Auswirkungen auf die Aussprache und die Rechtschreibung. Friedrich Kittler sah in Stephanis Lautiermethode eine entscheidende Grundlage für die medialen und literarischen Umwälzungen der Schwellenzeit um 1800. Denn von nun an sei Lesenlernen nicht mehr „eine Funktion der Schrift“1030 gewesen und „unter den Primat der Mutter“1031 geraten. Schleiermacher, so Kittler, „lehnt alle schulischen Leselehrmethoden ab, weil das ‚Lesen in den gebildeten Ständen vor dem Eintritt in die öffentlichen Schulen beginnt‘ und ‚als häusliches Lesen‘ ‚doch gewöhnlich unter der Direction der Mütter steht’“. In diesem Kontext sei Heinrich Stephani „eine wirkliche Fibel, die aber nur Spiel, Mütterlichkeit und Oralität ins Werk setzt“ gelungen. Jetzt wurden „Phonetik und Alphabet auf kurzgeschlossenem Instanzenweg“,1032 über die Mütter, auf gleichsam ‚natürliche‘ Weise miteinander verbunden. Denn: „Die durch Stephanis Methode gegangenen Mütter bringen ihren Kindern überhaupt keine Grapheme im Sehfeld bei, sondern ideale Laute im Hörfeld. Ihre Stimme ersetzt und reproduziert die Buchstaben wie Natur die Künstlichkeit“.1033 Dies bleibe nicht ohne Konsequenzen auf die Vermittlung der Inhalte: „Zumal der Schatz gelehrtes Wissen brauchte zu den Kindern einen langen Weg und viele, jeweils repräsentative Instanzen“.1034 Jetzt hatte „das Auswendiglernen […] dem Verstehen zu weichen“.1035 Von hier schlägt Kittler den Bogen zur Literatur: „Es ist diese Medienverschiebung, die hermeneutisches Lesen ermöglicht. Statt Rätselbuchstaben entziffern zu müssen, lauscht Anselmus [in E.T.A. Hoffmanns Der goldene Topf] einem Sinn zwischen den Zeilen; statt Zeichen zu sehen, halluziniert er die Erscheinung einer Geliebten, die ihrerseits in Gestalt der Mutter erscheint“.1036 In diesem Sinn formuliert Kittler programmatisch: „Es wird also darum gehen, die Einsetzung von Müttern an den Diskursursprung als Produktionsbedingung der klassisch-romantischen Dichtung und Dieses und das folgende Zitat: BAUMGÄRTNER, Methoden der Leseerziehung, S. 360f. Ebd., S. 363. 1030 KITTLER, Aufschreibesysteme, S. 42. 1031 Dieses und die folgenden Zitate: Ebd., S. 41f. 1032 Ebd., S. 38. 1033 Ebd., S. 121. 1034 Ebd., S. 38. 1035 Ebd., S. 39. 1036 Ebd., S. 121. 1028 1029

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Die Mutter als jene erste Andere zu analysieren, die von der poetischen Hermeneutik verstanden wird“.1037 Eine nicht minder weitgespannte Linie ließ Hebbel den Sekretär Christian in Maria Magdalena vom ABC zum Corpus Juris ziehen. Dennoch mag man Kittlers kühne Verbindung von Aufschreibesystem und romantischer Literatur als überanstrengt und überinterpretiert empfinden. So ist zu bedenken, daß mit Heinrich Stephanis 1802 erschienener Fibel keineswegs der Endpunkt der Entwicklung erreicht war. Jeismann und Lundgreen waren der Ansicht, daß der „Drill […] im 19. Jahrhundert keineswegs geringer als im vorausgegangenen Zeitalter“1038 war; auch hat es „das ganze 19. Jahrhundert und einen Teil des 20. Jahrhunderts hindurch nicht an Versuchen gefehlt, die Lautiermethode, so wie sie von Stephani und seinen Nachfolgern vertreten wurde, zu verbessern“.1039 Dennoch gab es zwischen 1770 und den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts eine methodische Dynamik des Erstleseunterrichts, die insgesamt von weittragenden Konsequenzen war. Dies illustriert nicht zuletzt die veränderte Funktion des Wappentiers der alten Fibel: Wenn der Hahn dort, als einzige Abbildung überhaupt, ein Symbol war, das genauso rätselhaft blieb wie die „krausen willkürlichen Zeichen der Schriftsprache“ [WAB 1, 409], so war er in den neuen Lautierfibeln dazu da, im Verein mit der „Mutterstimme“1040 durch „sein Krähen den Kindern den Laut I nahezubringen“1041 und zur „Naturalisierung“1042 des Erstleseunterrichts beizutragen. Hebbels Alphabetisierung fand erst ganz am Ende des betrachteten Zeitraums statt. Dennoch ist er nicht in den Genuß wirksamer Reformen gekommen. Dieser Befund wiegt umso schwerer, als Hebbels traditionale Alphabetisierung nicht nur im gesamtkulturellen, sondern selbst im lokalen Umfeld den Ansprüchen der neuen bürgerlichen Kultur nicht mehr entsprach. Während er sich mit dem Gros seiner Wesselburener Altersgenossen mit einem Lehrbuch abmühte, das sich seit dem 16. Jahrhundert nicht verändert hatte, waren in den besseren Häusern schon die ersten ‚neuen‘ Mütter aktiv. Unter den Restbeständen der Bibliothek des Kirchspielvogts Mohr befinden sich noch heute zwei Exemplare von Heinrich Stephanis Handfibel oder Elementarbuch zum Lesenlernen, die zugleich deren schnelle und weite Verbreitung veranschaulichen: die 9. Auflage von 1815 und die 23. von 1823.1043 Folgte man Kittler, so wäre bei Hebbel eine zentrale „Produkionsbedingung der klassisch-romantischen Dichtung“ nicht erfüllt gewesen; er hätte die moderne „Medienverschiebung“ schlicht verpaßt.

Ebd., S. 38. JEISMANN/LUNDGREEN, Handbuch der Bildungsgeschichte, S. 136. 1039 BAUMGÄRTNER, Methoden der Leseerziehung, S. 363. Vgl. dazu auch JEISMANN/ LUNDGREEN, Handbuch der Bildungsgeschichte, S. 136f. 1040 KITTLER, Aufschreibesysteme, S. 39. 1041 MUTH, Fünf Fibeln, S. 43. 1042 KITTLER, Aufschreibesysteme, S. 39. 1043 Hebbel-Museum, Signatur 12b016. 1037 1038

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„Unterweisung zur Seligkeit“: Von der Fibel zur Bibel Global gesehen fand eine Entwicklung „von den synthetischen“ 1044 zu den „analytischen“ Leselernmethoden statt. Die analytischen, oder „ganzheitlichen“ Methoden beginnen, ganz ähnlich wie schon Ickelsamer vorschlug, „mit größeren Einheiten – dem Wort, dem Satz oder gar einem ganzen Text“ und führen „durch akustische und optische Analysen dieses sprachlichen Ganzen zur Kenntnis der Elemente“. Auch wenn demgegenüber das mühselige Buchstabierenlernen höchst fragmentarisch ist, meint Jakob Muth interessanterweise, daß auch „bei dieser Art des Vorgehens besonders mit den religiösen Fibeln die Kinder ganzheitlich lesen lernten“.1045 Muth begründet seine These mit der Bindung der Buchstabiermethode an religöse Texte. Die Kinder kannten sie entweder „schon aus ihren Elternhäusern“ oder sie wurden „in der Schule auswendig gelernt, noch ehe der Erstleseunterricht begann“. Wenn ein Lehrer beispielsweise das Glaubensbekenntnis mit den Schülern buchstabierend und lesend erarbeitete, so konnte jedes Kind auf der Grundlage seines vorgängigen Verstehens die einzelnen Wörter ohne weiteres lokalisieren, und das Syllabieren bereitete ihm keine Schwierigkeiten, weil es jedes Wort schon kannte und ohnehin aussprechen konnte. Die ständige buchstabierende Arbeit führte zweifellos nach und nach zur Herausbildung der Gestaltprägnanz der einzelnen Wörter. Von da aus war der „schöpferische Sprung“ in das selbständige Erlesen durchaus möglich.

Aus dieser engen Verbindung von Lesenlernen und religiösem Stoff erklärt sich für Muth auch die späte Durchsetzung der Lautiermethode: Sie konnte erst erfolgen, „nachdem die Fibel andere, dem Kinde sprachlich fremde, Inhalte bekommen hatte“. Dies ist aber weniger ein Indiz für den Erfolg der Buchstabiermethode, als für das lange Festhalten am sturen Memorieren religiöser Inhalte. Wenn auch bei besonders begabten Schülern der „schöpferische Sprung“ zum verstehenden Lesen gelingen mochte, waren die Resultate in den allermeisten Fällen dürftig. Im allgemeinen lernten die Kinder „den – nicht erklärten – Katechismus gedankenlos auswendig“,1046 wie Ernst Erichsen in seiner Schulgeschichte der Landschaft Norderdithmarschen ausführte. Die „fähigen und fleißigeren Schulbesucher begannen damit bereits während der ersten Schuljahre und sagten bis zur Konfirmation den Katechismus immer wieder her. Manche mußten ihn im Jahr zehnmal – und öfter wiederholen“.1047 Das fortwährende Auswendiglernen, „womit ein großer Teil der ‚Unterrichts‘stunden verstrich“,1048 sorgte zugleich für „ständige Unruhe im Schulbetrieb jener Tage, lernten die Kinder doch laut, die Finger in die Ohren gepreßt“. Den Erfolg beurteilte Erichsen entsprechend skeptisch: „Entweder dachten sich die Kinder nichts oder etwas Falsches

Dieses und die folgenden Zitate: BAUMGÄRTNER, Methoden der Leseerziehung, S. 356. Vgl. auch ebd., S. 367f. 1045 Dieses und die folgenden Zitate: MUTH, Fünf Fibeln, S. 43f. 1046 ERICHSEN, Schulgeschichte der Landschaft Norderdithmarschen, S. 106. 1047 Ebd., S. 94. 1048 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 106f. 1044

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dabei. Die Folge des frühen Auswendiglernens war, daß man sich mit dem oft gehörten Wortschall begnügte, statt Vorstellungen damit zu verbinden“.1049 Wo das ‚Lesen‘ an das Aufsagen gebunden bleibt, hat man es „mit oralen Residuen in einer literalen Kultur zu tun, mit dem Zurückbleiben eines Kulturzweiges“,1050 wie Jack Goody formulierte: „Solche Unterrichtsformen sind für viele vorindustrielle Gesellschaften charakteristisch, in denen Lesen und Schreiben als Hilfe für die mündliche Kommunikation gilt“. Bücher dienen nicht der Information, sondern eher „als Gedächtnishilfe und müssen auswendig gelernt werden, ehe sie als ‚gelesen‘ gelten. Der Anfangsunterricht legt deshalb auf die Wiederholung des Inhalts größeres Gewicht als auf den Erwerb von geistigen Fähigkeiten, so daß das Studium von Büchern eine Starrheit annimmt, die den genauen Gegensatz zu dem forschenden Geist darstellt, den die Beherrschung der Schrift anderswo begünstigt“.1051 Wenn Hebbel sich einmal genötigt sah, dem mit ihm in Korrespondenz stehenden Pfarrer Luck mitzuteilen, „ich weiß die Bibel, zu deren Lesung Sie mich ermahnen, von Jugend auf halb auswendig“ [WAB 4, 122], dann zeigt dies, daß mit einer derart altertümlichen Kulturisation um 1860 schon gar nicht mehr gerechnet wurde. In der Zeit des Wilhelminismus konnte Jacob Burckhardt dann bereits schreiben, es wachse „ein Geschlecht heran, das von Joseph und allen Erzvätern nichts mehr weiß.“1052 Die Dominanz der Inhalte beim traditionalen Lesenlernen erschließt sich auch aus der Etymologie des Wortes „Fibel“, das ableitbar ist von „Bibel“. Die Änderung des Anlautes entstammt „vermutlich der Kindersprache, sie ist bereits um 1400 belegt“.1053 Die Bibel wurde ursprünglich beim Lesenlernen verwendet. Mit der Übersetzung Luthers stand dann ein Text zur Verfügung, von dem ein starker Anstoß zum Lesenlernen ausging, da aus ihm die ‚Unterweisung zur Seligkeit‘ zu entnehmen war. Die Leseerziehung in den im 16. Jahrhundert gegründeten Elementarschulen war denn auch vor allem religiöse Erziehung und stellte sich dementsprechend die Aufgabe, zur Lektüre der Bibel anzuleiten. Texte aus der Bibel bildeten zugleich die Grundlage des Lesenlernens: Die Fibeln des 16. Jahrhunderts enthielten neben Texten aus Katechismus und Gesangbuch so gut wie ausschließlich biblische Geschichten. In vielen Fibeln änderte sich daran bis weit ins 19. Jahrhundert hinein nur wenig.1054

Lese- bzw. ‚Sillabierstoff‘ waren die zehn Gebote, das Glaubensbekenntnis, das Vaterunser sowie einige Stücke aus dem Katechismus; bei den Fortgeschrittenen wurde der Unterricht im kleinen Katechismus fortgesetzt. Wenn Hebbel das „Lesen“ als einzigen Lernerfolg an der Klippschule für erwähnenswert hielt, so vernachlässigte er dabei die gleichzeitig vermittelten religösen Inhalte. Gleichwohl wurden die „nothwendigen ersten Gedächtnißübungen […] auch schon mit mir angestellt, denn so wie der Knirps Ebd., S. 94. Dieses und das folgende Zitat: GOODY/WATT, Entstehung und Folgen der Schriftkultur, S. 44. 1051 Ebd., S. 43. 1052 Zit. nach KILLY, Die Bibel als Sprache, S. 84. 1053 DODERER, Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur, S. 378. 1054 BOUEKE, Zur Geschichte der Leseerziehung, S. 372. 1049 1050

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sich vom geschlechtslosen Rock zur Hose und von der Fibel zum Katechismus aufgedient hatte, mußte er die zehn Gebote und die Hauptstücke des christlichen Glaubens auswendig lernen, wie Doctor Martin Luther, der große Reformator, sie vor dreihundert Jahren als Richtschnur für die protestantische Kirche formulirt hat. Weiter ging’s nicht“ [W 8, 103]. In Anbetracht der Bedeutung, die dieses Heilswissen für den guten Christen besaß, wird verständlich, daß es keineswegs um das Lesen als Selbstzweck bzw. als wertneutrale Kulturtechnik ging. Es bestand vielmehr ein umgekehrter Kausalzusammenhang: Die „religiöse“ oder „Katechismusfibel“, wie der Typus der Hahnenfibel noch bezeichnet wird, „diente zwar auch dem Leselernprozeß, in erster Linie sollte sie aber, gleich dem Katechismus, ein Buch sein, das dem jungen Menschen eine Hilfe zu einem gottgefälligen Leben gewährte“.1055 Auf diese Weise, so Ulrich Herrmann, „lernte zwar niemand fließend und sinngemäß lesen, aber er wußte – hoffentlich! –, was er zu tun und zu lassen hatte“.1056 Herrmann schreibt dem Unterricht aus der Fibel eine geradezu umfassende sozialisatorische Bedeutung zu: Prozesse der Alphabetisierung und Literarisierung […] modellierten Einstellungen und Mentalitäten, soziales Verhalten, die Wahrnehmung und Bewertung von Normalität und Abweichung, von Richtig und Falsch, Oben und Unten. Und das sollten sie ja wohl auch; denn sonst hätte man nicht mit soviel Aufmerksamkeit und Geschick, aber auch mit soviel plumper Direktheit in die Buchstabier-, Syllabier- und Lesetexte Botschaften eingebaut, wo immer es ging.

Herrmann ist überzeugt: „Die Botschaft der Fibel hat ihre Wirkung nicht verfehlt“.1057 Dies mochte auf die zunehmend realitätsnahen und kindertümlichen Fibeln des 19. Jahrhunderts zutreffen, jedoch kaum auf die Katechismusfibeln, in denen keine „Rücksicht auf adäquate kindliche Welteröffnung und Sprache“1058 genommen wurde. Wenn es schon schwierig genug war, den Kindern einzutrichtern, „angepaßt, fleißig und bescheiden, kritiklos“1059 zu sein, dann stieß die Durchsetzung dieser frommen Wünsche bei den Erwachsenen ganz offensichtlich auf erhebliche Schwierigkeiten. Unter der Überschrift „Die erste Arretirung, Selbstmord u. s. w. und der Katechismus“ [W 15, 22] vermerkte Hebbel: „Ueberraschung des Kindes, wie schlecht die Erwachsenen, die ihn doch auswendig gelernt, ihn respectirten“ [W 15, 22]. Dies widerspricht ganz offensichtlich der Einschätzung Herrmanns vom durchgreifenden Erfolg der Fibelerziehung: „Die Kinder und jungen Leute waren dieser Zurichtung schutzlos ausgesetzt; denn auch ihre Eltern wußten es durchweg nicht anders. Woher denn auch?“ Die Frage zeigt, wie wenig auch Herrmann mit den Erfahrungen und Traditionen einer autonomen Kultur rechnet, die gegenüber den ‚zivilisatorischen‘ bzw. disziplinierenden Eingriffen von Obrigkeit und Kirche eine große Reserviertheit bewahrte und teilweise die Züge einer ‚Gegenkultur‘ trug. Dies ließ sich schon am MUTH, Fünf Fibeln, S. 43. Dieses und das folgende Zitat: HERRMANN, Kunde fürs Volk, S. 70f. 1057 Ebd., S. 84. 1058 SCHMACK, Der Gestaltwandel der Fibel, S. 123. 1059 Dieses und die folgenden Zitate: HERRMANN, Kunde fürs Volk, S. 84. 1055 1056

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Verhältnis der Eltern zur Sozialisationsagentur der Schule ablesen – brauchtümliche Formen wie Karnevals-, Rüge- oder andere Sitten kamen hinzu. Zwar nicht reflektierte Kritik und ‚Diskussion‘, eine „Erforschung von Begründungszusammenhängen“, die Herrmann vermißt, wohl aber flexibel gehandhabte Aktionsmuster trotziger, spöttischer oder auch witziger Verkehrung waren probate Mittel, die jeweils andere Seite der Wirklichkeit hervorzukehren. Ein illustratives Beispiel für die Schlitzohrigkeit, mit der die „Botschaft der Bibel“ genutzt und zugleich unterlaufen wurde, gestaltete Hebbel in der Novelle Die beiden Vagabonden: Der vermeintliche Goldmacher Jürgen verteidigt den naiv-leichtgläubigen Meister Jacob mit den Worten: „Vielleicht hat das, was die Welt Thorheit und Wahnsinn schilt, einen tieferen Grund. Oft bleiben die Ohren der Weisen verschlossen, und den Einfältigen offenbart sich der Himmel!“ [W 8, 129] Sein Gegenüber, der Wirt erwidert darauf „mit einem schlauen Lächeln“: „Dagegen läßt sich Nichts einwenden, […] denn es steht in der Bibel“ [W 8, 129]. Bibelworte als ‚Sklavensprache‘ – das Volk drehte der Kirche das Wort im Munde herum. So besitzt die vermeintlich geschlossene Gesellschaft vormoderner Prägung eine innere Heterogenität, die zu eigenartigen sprachlichen und mentalen Kombinationen und Konfrontationen führen kann – manchmal entstehen sogar Dichter dabei. Seiner Begegnung mit den religiösen Inhalten von Fibel und Katechismus hat Hebbel einen instruktiven Abschnitt der Aufzeichnungen aus meinem Leben gewidmet: [D]ie ungeheuren Dogmen, die ohne Erklärung und Erläuterung aus dem Buch in das unentwickelte Kinder-Gehirn hinüber spatzierten, setzten sich hier natürlich in wunderliche und zum Theil groteske Bilder um, die jedoch dem jungen Gemüth keineswegs schadeten, sondern es heilsam anregten und eine ahnungsvolle Gährung darin hervor riefen. Denn, was thut’s, ob das Kind, wenn es von der Erbsünde oder von Tod und Teufel hört, an diese tiefsinnigen Symbole einen Begriff oder eine abentheuerliche Vorstellung knüpft; sie zu ergründen, ist die Aufgabe des ganzen Lebens […]. Merkwürdig war allerdings dabei, daß Luther in meiner Einbildung fast unmittelbar neben Moses und Jesus Christus zu stehen kam, doch es hatte ohne Zweifel darin seinen Grund, daß sein donnerndes: ‚Was ist das?‘ immer augenblicklich hinter den majestätischen Laconismen Jehovas herscholl, und daß obendrein sein derb-kerniges Gesicht, aus dem der Geist um so eindringlicher spricht, weil er offenbar mit dem widerstrebenden dicken Fleisch um den Sieg erst kämpfen muß, dem Katechismus in nachdrücklicher Schwärze vorgedruckt war. Aber auch das hatte meines Wissens für mich eben so wenig nachtheilige Folgen, als mein Glaube an die wirklichen Hörner und Klauen des Teufels oder an die Hippe des Todes, und ich lernte, sobald es noth tat, sehr gut zwischen dem Salvator und dem Reformator unterscheiden. [W 8, 103f.]

Auffällig ist die ausgesprochene visuelle und auditive Sinnlichkeit der Eindrücke, die der trocken-dogmatischen Lektüre zu widersprechen scheint. Worin bestehen hier die „supplementären Sinnlichkeiten“? Kein farbiger Fibelhahn, aber das Konterfei des Verfassers Martin Luther höchstselbst war dem Katechismus „in nachdrücklicher Schwärze vorgedruckt“, wie Hebbel formulierte. War dieses gedruckte und beeindruckende Gesicht „Fleisch“ oder „Geist“, oder beides im Kampf „um den Sieg“ – vergleichbar dem Kampf des buchstabiererenden Schülers – an dessen Ende das Fleisch und Wort eins werden sollten? „Spricht“ dieser Martin Luther gar sein

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„donnerndes: ‚Was ist das?’“, das man selbst unzählige Male vor sich hingemurmelt hat, so wie der donnernde Gott des Gewitters „das eingelernte Geplapper meiner Lippen“ [W 8, 93] in ein wirkliches Gebet verwandeln konnte? Wahrhaftig eine „abentheuerliche Vorstellung“, wie Bild und Text, Halb-Wissen und Glaubensgewissheit in der Schilderung Hebbels zusammenfallen können! Abenteuerlich mutet auch an, daß Hebbel diese und andere, abergläubische und „groteske Bilder“ im Rückblick mit den „tiefsinnigen Symbole[n]“ identifiziert und kurzschließt, deren Ergründung „Aufgabe“ nicht der Kindererziehung, sondern „eines ganzen Lebens“ sei. Weniger Herrmanns disziplinierende „Zurichtung“, als vielmehr „groteske Bilder“ und „ahnungsvolle Gährung“ bewirkte die Botschaft der Bibel bei dem fünf- oder sechsjährigen Klippschüler. Die harmonisierenden ‚redaktionellen‘ Eingriffe des Autobiographen ändern daran wenig. Daß seine abergläubisch unterwanderten Vorstellungen von Tod und Teufel nicht „nachtheilige Folgen“ hatten, ließ sich wohl erst aus dem später erworbenen Sicherheitsabstand des Bildungsbürgers behaupten. Was sich vormals noch unbewußt als „ahnungsvolle Gährung“ äußerte, erschien nun in geklärter Form und zu absichtsvollen poetischen Operationen der metaphorischen Verdichtung und der metonymischen Verschiebung verwandelt. So wie einst Christus neben Luther, kam jetzt der Dichter neben dem Klippschüler zu stehen. Denn die mediale wie inhaltliche Heterogenität und Kontingenz des Erinnerungsmaterials gestaltet sich unter dem autobiographischen Blick zur Linearität kontinuierlicher Entwicklung. So wie „der werdende Mensch […] doch gleich bei’m Eingang an ein Alles bedingendes Höheres gemahnt“ wurde [W 8, 104], um das es schließlich dem Dichter zu tun ist, so wird umgekehrt dieser seines Werdens inne. Zu dieser heimlichen Verbindung aber bedurfte es gerade keiner modernen, aufgeklärten Ausbildung, wie Hebbel betonte, indem er reformkritisch hinzufügte, „ich zweifle, ob sich das gleiche Ziel durch frühzeitige Einführung in die Mysterien der Regel de Tri oder in die Weisheit der Aesopischen Fabeln erreichen läßt“ [W 8, 104]. Wie sollte ein Genie auch nicht mit Leichtigkeit ein paar Klassen überspringen? Die Biographik führte diesen Selbstmythos mit Eifer weiter, anstatt ihn kritisch zu befragen. Hermann Krumm orakelte: „Friedrich Hebbels Kindheit trägt den Stempel einer durch eine gärende Einbildungskraft von seltenster und reichster Unmittelbarkeit genährten Frühreife an der Stirn. Aus welchen Quellen diese Kraft floß, vermag niemand zu sagen“.1060 Das krause Bildungsangebot der Klippschule kam dafür offenbar nicht in Frage; ergo mußte dem Dichter die „Frühreife“ auf der Stirne gestanden haben. Gleichwohl setzten sich die Buchstabenwüsten dem begabten Knaben mitunter zu sinnlichen Bildern zusammen – nicht nur angesichts von Fibelhahn und Lutherkopf. Bei Friedrich gab es das von Muth unterstellte ‚ganzheitliche‘ Leseerlebnis tatsächlich, auch wenn dabei durchaus Disparates aneinandermontiert wurde. Dies aber war eine höchst seltsame, weil seltene Erscheinung in Susannas Alphabetisieranstalt – und für Hebbel genug, darauf einen persönlichen Mythos aufzubauen. Daß die ‚Früh-Reife‘ damit eine weitere „Quelle“ in der späten autobiographischen Konstruktion besitzt, 1060

KRUMM, Friedrich Hebbels Leben, S. 19.

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kann und darf aus Sicht der Biographen ebenfalls nicht sein. Denn die Einsicht in die Gemachtheit der Biographie würde die schon im Kind vorausgesetzte, unwandelbare und unteilbare Einheit des genialen Individuums in Frage stellen. Das Kind als kontinuierlich zu entwickelnde Potentialität – dies war die moderne Perspektive, die Hebbel auf seine traditionale Kindheit richtete. Die mentalitätsgeschichtlichen Brüche erschienen dabei in poetisierender Verklärung.

„Das erste Dichten. Theetopf“ So unverhohlen wie seine Biographen hatte Hebbel in den Klippschüler allerdings noch nicht den Dichter hineingeheimnißt. Über die kindliche Weltsicht schrieb er distanziert: „Die Welt der Kindheit ist eine Schimmelwelt, aber Kinder vergrößern so sehr, daß der Schimmel ein Wald wird, fast größer, als der spätere des wirklichen Lebens“ [W 15, 11]. So „steht auch das mit Phantasie begabte Kind nur deshalb vor einem Sandkorn still, weil es ihm ein unübersteiglicher Berg scheint. Die Dinge selbst können hier also nicht den Maaßstab abgeben, sondern man muß nach dem Schatten fragen, den sie werfen, und so kann der Vater oft lachen, während der Sohn Höllenqualen erleidet, weil die Gewichte, womit Beide wiegen, eben grundverschieden sind“ [W 8, 101]. Diese grundverschiedene Gewichtung veranlaßte Hebbel zu einer durchaus reservierten, selbstironischen Haltung, zum „Lachen“ über sich selbst und zur Distanzierung. „[O]bgleich ich seit meinem 5ten Jahre Gedichte, Novellen, Trauerspiele u. d. gl. gemacht habe“ [WAB 1, 312], wie er Charlotte Rousseau gestand, war „von einem Beziehen derselben auf den Dichter-Begriff natürlich erst in späteren, in den frühsten Jünglings-Jahren, die Rede“ [WAB 2, 549] – so schrieb er Arnold Ruge. Diese ambivalente Haltung Hebbels zeigt sich exemplarisch einem Gedicht gegenüber, das er schon als Schüler Susannas verfaßt hatte, und das seinen Bekennermut wahrhaft auf die Probe stellte. In seinem letzten Lebensjahr schrieb Hebbel in einer Mischung aus Heiterkeit und Melancholie an seinen Dithmarscher Landsmann Klaus Groth: „Ich bin 49, habe schon in meinem 4ten oder 5ten gepfiffen, nämlich Bonaparte und den Theetopf besungen, und frage mich doch bereits sehr ernst, ob ich wohl noch hoffen darf, meinen Demetrius und meinen Jesus Christus unter Dach und Fach zu bringen“ [WAB 4, 560]. Daß er seine letzten – tatsächlich unvollendet gebliebenen – Dichtungen mit den zwei frühen ‚Werken‘ in einem Atemzug nannte, war nicht nur scherzhaft gemeint. Auch in den Notizen zur Biographie wurden diese dreimal auf kürzestem Raum erwähnt; unter den Überschriften „Poetische Stationen“ [W 15, 12], „Erste Verse“ [W 15, 14] bzw. „Das erste Dichten“ [W 15, 7] stellte Hebbel sie quasi bewußt an den Beginn seines Schaffens. Schon 1852 hatte er Arnold Ruge über sein „Dichtertalent“ [WAB 2, 549] geschrieben: „Dieß regte sich sehr früh; ich habe schon Verse, wenigstens Reime gemacht, als ich noch nicht im Stande war, sie aufzuschreiben und kann mich noch jetzt einiger aus meinem vierten Jahre erinnern“. Wenn er dann hinzufügte: „Man glaube jedoch nicht, daß ich mich darum auch für einen Dichter hielt; im Gegentheil“, so wurde diese Relativierung im nächsten Satz ihrerseits

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wieder relativiert. Denn ein „großer, ja der größte Begriff von der Kunst war, ich muß mich so ausdrücken, mit mir geboren und stieg mit meiner Entwicklung“. Allerdings zog Hebbel einen Schleier vor diese poetischen Anfänge, indem er Ruge geheimnisvoll erklärte, daß jene ersten Verse „freilich nie ein Menschenkind aus meinem Munde vernehmen wird“.1061 Doch auch dabei blieb es nicht. Für Emil Kuh lüftete Hebbel den Vorhang und der Biograph hat „das Sprüchlein“1062 der Nachwelt überliefert. „So lautet Friedrich Hebbels erster Vers“, verkündete Kuh etwas pathetisch, ließ ihn aber ansonsten unkommentiert. Was war daran auch Poetisches zu finden? Der Teetopf erfunden Zum Teegebrauch, In mannigen Stunden Dampft daraus ein Rauch.1063

Das Versteckspiel um den kuriosen ‚Erstling‘ Hebbels besitzt in Jean Pauls humoristischer Erzählung Leben Fibels ein hübsches Seitenstück. Dort sind die ABC-Verse der Fibel – also ein ähnlich naives Opus – der Ausgangspunkt der Ezählung; gefragt wird nach deren Urheber. Einleitend heißt es: „Das Zähl-Brett hält der Ziegen-Bock“ sind die sieben letzten Worte, die der Verfasser [der Bienrodischen Fibel] der gelehrten Welt zurief […]. Dieses Werk nun, das mit den Elementen aller Wissenschaften, nämlich dem Abcdef etc. etc. zugleich eine kurze Religionslehre, gereimte Dichtkunst, bunte Tier- und Menschenstücke und kleine Still-Leben dazu, eine flüchtige Natur- und Handwerks-Geschichte darbringt, hat gleichwohl einen Verfasser, den in der deutschen Nation kein Mensch namentlich kennt, ausgenommen ich.1064

Nicht nur die „gereimte Dichtkunst“ Fibels ist derjenigen Hebbels in diesem Fall kongenial. Beide Male stößt die ‚Identifikation‘ des Verfasser mit dem Text auf Probleme – der Ruhm der Autorschaft konnte in jedem Fall nur ein zweifelhafter sein. So ist Leben Fibels die reine Ironie; während Der Theetopf in die Hebbelsche historisch-kritische Werkausgabe von Richard Maria Werner nur als Fußnote Aufnahme fand.1065 In jüngerer Vergangenheit hat Heinz Stolte den Vierzeiler in einem Aufsatz Zur lyrischen Biographie Friedrich Hebbels wieder aufgegriffen. Stolte widerstand, wie er kokettierend versicherte, „der Versuchung des Philologen, nachzuweisen, daß sich hierin schon das ganze Genie unseres Dichters offenbart habe und der erste Keim der Nibelungentrilogie finden lasse“.1066 Keineswegs aber widerstand er der Versuchung, mit dem Hinweis auf die „Geradlinigkeit und Einseitigkeit, das Trotzig-Zwanghafte und Leidenschaftliche eines Talents, das aus den ersten kindlichen Dämmernissen des Bewußtseins mit diesem Bewußtsein selber schon erwächst“ eine gewaltige organische Entwicklungsperspektive anzudeuten. Mochte Stolte zu Recht Angst vor der eigenen WAB 2, 549f. Hervorhebung C. S. Dieses und das folgende Zitat: KUH, Biographie, Bd 1, S. 52. 1063 Ebd. Laut Kuh habe Hebbel den Spruch erst „als sechsjähriges Kind“ gedichtet. 1064 JEAN PAUL, Leben Fibels, S. 559. 1065 Vgl. W 15, 7. 1066 Dieses und das folgende Zitat: STOLTE, Ahne das Wunder der Form, S. 16. 1061 1062

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Courage bekommen – ein wenig interpretatorischer Mut gegenüber dem Verslein ist doch angebracht. Man muß nur die Perspektive umkehren. Denn so bedeutungslos das Textchen an sich ist; wenn Hebbel es dennoch gegenüber Arnold Ruge und Klaus Groth erwähnte, in seinen nachgelassenen Notizen mehrmals vermerkte, und schließlich seinem Biographen zu Protokoll gab, dann mußte der Dichter als Interpret seiner selbst eine dezidierte Bedeutung daran knüpfen. Worin konnte der Sinn dieses harmlosen ‚Teekesselchens‘ liegen? So wie Hebbel den Vers zeitlich seiner Klippschulzeit zuordnet, so könnte der Anfang formal dem Merkspruch einer Fibel entstammen. ABC-Verse, die bis etwa 1800 in den Fibeln vorkamen, sollten sich „dem Gedächtnis einprägen und sich mit der Gestalt des Schriftzeichens verbinden“.1067 „Der Theetopf erfunden [/] Zum Theegebrauch“ [W 15, 7] eignete sich in der alliterierenden Häufung des ‚T‘ bestens zur Einprägung dieses Buchstabens; um so mehr, als Buchstabenname und bezeichneter Gegenstand zusammenfallen. Sinnvoll ist diese Zeile in der Tat nur als Merkhilfe – „erfunden“ zum ‚T-Gebrauch‘, während sie inhaltlich nur tautologisch ist. Auch die semantische Leere ist ein typisches Kennzeichen vieler solcher Knüttelverse, wo sie es nicht ohnehin „auf Scherz und Belustigung abgesehen“1068 hat. Ein mit Hebbels Theetopf vergleichbarer Zweckreim zum Buchstaben ‚B‘ lautete etwa: „Der Bergmann muß im Berge sehn, [/] und sollt’s auch mit der Brill’ geschehn“.1069 Die Wirksamkeit dieser Art ‚Zweckdichtung‘ illustriert eines von Goethes Zahmen Xenien: „Dummes Zeug […] vors Auge gestellt, [/] Hat ein magisches Recht: [/] Weil es die Sinne gefesselt hält, [/] Bleibt der Geist ein Knecht“.1070 Im weiteren Verlauf von Hebbels Gedichtchen passiert indes genau das Gegenteil. Hier wird der „Geist“ durch die „Sinne“ erst anschaulich und damit frei. Der zweite Teil von Hebbels Gedichtchen belohnt den Leser zunächst mit einem doppelten Reim und mit den „supplementären Sinnlichkeiten“ eines behaglichen Bildes: „In mannigen Stunden [/] Dampft daraus ein Rauch“. Dieses Bild hatte der Knabe täglich in Susannas Schulstube vor Augen, wenn Teetopf und Pfeife um die Wette ‚rauchten‘. Doch das ist nur die vordergründige Wahrnehmung. Durch die „Sinne“ wird der „Geist“ des Gedichts hier anschaulich: Der dampfende „Rauch“, dieses nebulöse ‚Etwas‘, das sich in ein ‚Nichts‘ auflöst, widerspricht der normalen Wahrnehmung des Gegenständlichen. Der Erwachsene denkt sich nichts dabei – doch für einen Fünf- oder Sechsjährigen liegt darin das Wunderbare des Theetopfs. Wie die Kanne Rauchzeichen gibt, so das „erfundene“ und aufgesagte Gedicht. Die Laute sind ebenso ein Hauch wie der Rauch; auf magische Art und Weise sind sie zugleich mehr als ‚Schall und Rauch‘. Sie sind etwas und nichts zugleich. Um dieses Mysterium geht es beim Lesenlernen wie beim Dichten, zumindest, solange man – wie der fünfjährige Hebbel – die Schriftzeichen noch nicht beherrscht. Der Sinn erschließt sich nicht beim utilitaristischen Kurzschluß der ersten Zeile, sondern im sinnlichen Erahnen des SCHMACK, Der Gestaltwandel der Fibel, S. 92. Ebd. Vgl. auch die Tafel in Jean Pauls Leben Fibels. 1069 Zit. nach SCHMACK, Der Gestaltwandel der Fibel, S. 58. 1070 Zahme Xenien II. Zit. nach DOBEL, Lexikon der Goethe-Zitate, Sp. 137. Vgl. SCHMACK, Der Gestaltwandel der Fibel, S. 93. 1067 1068

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Zusammenhangs von Lauten, Wort und Ding.1071 Dies ereignet sich immer dann, wenn der halbalphabetisierte Knabe tut, „was ich noch thue und was bei mir mit der poetischen Thätigkeit unzertrennlich verbunden ist“, nämlich den Memoriervers „halb abzusingen“ [WAB 2, 549]. Dieser sinnliche Sinn rührt an den Grund von Dichtung schlechthin. Solcherlei „bei kaltem Blut“ zu „[r]eflectiren“ [WAB 2, 549], ist nur Sache des erwachsenen Bewußtseins. Geschieht es aber, ist zugleich die Verbindung zum unbewußten Reimen des Kindes hergestellt. Nicht als Beginn qualitätvoller poetischer Schöpfungen, sondern aufgrund dieser heimlichen Verbindung darf der Dichter den Vers, wenn auch verschämt, „Das erste Dichten“ nennen. Daß diese Verbindung wiederum erst in der autobiographischen Perspektive hergestellt wird, ließ schon Emil Kuh außer acht, indem er dem Kind das „unbewußte Verwandeln“ der Gegenstände „in Symbole“1072 zutraute. Abgesehen von dem in sich widersprüchlichen Konstrukt eines ‚unbewußten Symbolisierens‘ ist diese Vorstellung auch aus entwicklungspsychologischer Sicht unplausibel, da sich die Abstraktionsfähigkeit des Kindes erst in höherem Alter entwickelt. Der Glaube, das Kind habe in seine Äußerungen hineingelegt, was Dichter und Interpret nur zu entnehmen brauchen, ist ein Mythos. Viel näher lag dem kindlichen Horizont dagegen das religiöse Vorbild. Insbesondere im „Sakrament der Heiligen Taufe“, wie es der Kleine Katechismus erklärte, war ein ähnliches Wunder vorgezeichnet: Auf die Frage „Was ist die Taufe?“ lautete die Antwort: „Die Taufe ist nicht allein schlicht Wasser, sondern sie ist das Wasser in Gottes Gebot gefasset und mit Gottes Wort verbunden“.1073 Wie aber „kann Wasser solche großen Dinge tun?“ – Antwort: „Wasser tuts freilich nicht, sondern das Wort Gottes, so mit und bei dem Wasser ist, und der Glaube, so solchem Worte Gottes im Wasser trauet. Denn ohne Gottes Wort ist das Wasser schlichtes einfaches Wasser und keine Taufe; aber mit dem Worte Gottes ist es eine Taufe, das ist ein gnadenreich Wasser des Lebens und ein Bad der neuen Geburt im Heiligen Geist“.1074 Kindgemäß waren solche Dogmen nicht. Wenn sich Wasser aber in Dampf und in den reinen Hauch überführen ließ, dann mochte umgekehrt auch der Geist im Wasser anschaulich werden.

Vgl. diesen Zusammenhang in menschheitsgeschichtlicher Dimension bei Erich Neumann: „Auch die Hauch-Atem-Rauch- und die Wort-Logos-Gruppe gehören in diesen Symbolkanon, in dem das obere Männliche sich vom unteren Männlichen, der Phallusstufe abhebt.“ [NEUMANN, Die große Mutter, S. 133]. 1072 KUH, Biographie, Bd 1, S. 50. 1073 LUTHER, Kleiner Katechismus, S. 148. 1074 Ebd., S. 153. 1071

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Klippschule oder: Die verkehrte Welt

Die Sprache und die Dinge Kuh stellte noch einen zweiten Aspekt an Hebbels kindlicher Psyche heraus: „Dieses Einswerden der Gegenstände mit seinem schauenden [!] Gemüte […] kündigte seine dichterischen Kräfte an“.1075 Mit dieser Feststellung konnte sich Kuh auf ähnliche Aussagen Hebbels berufen. So schrieb dieser: „In meiner Jugend und frühsten Kindheit gingen die Dinge, die mich umgaben, fast in mich über“ [T 2646]. Doch ob die identifikatorischen bzw. ‚seherischen‘ Kräfte, wie Kuh meinte, schon ein spezifisch poetisches Potential darstellen, ist gleichfalls fraglich. Konfrontiert man Kuhs Befund mit dem heutigen Wissen über die kindliche Entwicklungspsychologie, verliert er einiges von seiner Außerordentlichkeit. Joseph Chilton Pearce schrieb über den kognitiven Zusammenhang von Sprache und Gegenständen beim Kind: Sprache ist eine Körperbewegung und hat für das ganze System die gleiche koordinierende Funktion wie die Augen für alle anderen Sinne. Der Name eines Gegenstands wird in das Gehirnmuster für diesen Gegenstand aufgenommen und ist ein fester Bestandteil von ihm, nicht etwa eine Beschreibung oder ein Symbol. Diese Konkretheit der Sprache ist ein bleibender Bestandteil des Ur-Prozesses und des Körperwissens in den ältesten Teilen des Gehirns.1076

In den „konkreten Begriffen seines Geist-Gehirn-Systems“, so Pearce über das acht- oder neunjährige Kind, „bilden Wort und Gegenstand noch eine Einheit“. Genau dies spiegelte sich in Hebbels Erfahrungen mit Worten „wie Tulpe und Lilie, wie Kirsche und Apricose, wie Apfel und Birne“ [W 8, 101]: Die „Tulpe schien mir ihren Thau zum Abküssen zu bieten, die Rose duftete mir, die scheußliche Rippe stank“ [T 3353]. Dabei „hatte das Wort Rippe in dem lutherischen Katechismus etwas so Gräßliches für mich, daß ich, sonst gewohnt, meine Bücher zu schonen, das Blatt ausriß, wo es stand“.1077 Dieses synästhetische Gefühl blieb nicht nur auf Substantive beschränkt, sondern erstreckte sich auch auf „Eigenschaftswörter, insofern sie etwas Schönes und Liebliches ausdrücken“ [T 280]. Aus Hebbels „schauendem Gemüte“ (Kuh) blickten „Augen, die zu thränen anfangen, wenn sie nur das Wort Zwiebel sehen!“ [T 3531] All dies beschreibt zunächst einmal Die magische Welt des Kindes, wie Pearce sein Buch überschrieb. Wort und Gegenstand stehen in dieser Welt miteinander in sympathetischer Verbindung; „ein Ding kann über das Wort verändert werden“.1078 Hierin trifft sich die magische Welt des Kindes mit der traditionalen Welt naiven Glaubens und Aberglaubens: Als Gott seine „zornigen Diener Donner und Blitz, Hagel und Sturm“ [W 8, 92] unter die Wesselburener schickte, erwachte auch Friedrichs Glaube an die Kraft des Gebets, durch das sich die Dinge beeinflussen ließen. Nach Pearce beginnt im Alter von etwa neun Jahren die Entwicklung der „Differenzierungslogik des Kindes, zwischen Wörtern und den Dingen, die sie bezeichnen, KUH, Biographie, Bd 1, S. 50. Dieses und das folgende Zitat: PEARCE, Die magische Welt des Kindes, S. 211. 1077 T 280. Vgl. auch: T 2546, T 3012, WAB 2, 551. 1078 PEARCE, Die magische Welt des Kindes, S. 211. 1075 1076

Die Sprache und die Dinge

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zu unterscheiden. Die Sprache wird allmählich ein eigenständiger Denkprozeß“.1079 Die „Bewegung zum reinen abstrakten Denken, tritt im elften Jahr ein, und die Trennung von Wort und Gegenstand ist der erste Schritt auf diesem Weg zum formalen Denken. Erst jetzt kann ein Wort ein Ding oder Ereignis beschreiben oder vertreten, aber diese Entwicklung darf nicht zu Lasten der körperlichen Sprache oder der UrProzeß-Sprache gehen.“ Die Art der Alphabetisierungsprozesse spielt dabei eine wesentliche Rolle. So meint Pearce: Zwingen wir ein Kind vorzeitig zum abstrakten Denken, so zerstören wir die lebenswichtige Einheit von Ich und Welt. Das Schreiben (und in geringerem Maße auch das Lesen) erfordert eine Trennung von Wort und Gegenstand, und wenn die Differenzierungslogik ohne rechte Vorbereitung zu diesem Schritt gezwungen wird, so werden Ich und Welt auseinandergerissen. […] Der Zusammenhang wird zerschlagen, und es entsteht eine Isolation und Verlassenheit, die wir mit dem Begriff „Individualität“ wegzurationalisieren versuchen. Jerôme Brunner stellte fest, daß Lesen und Schreiben auf die Kinder in Belgisch-Kongo einen ungeheuren Einfluß ausübte, „weil es sie zur Kommunikation außerhalb ihres unmittelbaren Erlebniszusammenhangs zwang“. Das gleiche Phänomen beobachtete er bei afrikanischen Wolfkindern, bei denen Gedanken und deren Objekte eine Einheit zu bilden schienen, bis man ihnen Lesen und Schreiben beibrachte.1080

Was Pearce anhand von Ergebnissen ethnologischer Forschungen belegt, ist keineswegs an exotische Schauplätze gebunden, sondern beschreibt eine entwicklungspsychologische conditio humana. Die frühe Alphabetisierung Hebbels in Susannas Klippschule seit seinem vierten Lebensjahr, die archaische Buchstabiermethode und nicht zuletzt die unanschaulichen dogmatischen Lehrstoffe sind starke Indizien für die Zerschlagung des Zusammenhangs von Ich und Welt. Friedrich Kittler schrieb verkürzt: „Wer das Lesen an ellenlangen Bibelnamen gelernt hat, weiß keine Brücke zwischen Zeichen und Empfindungen“.1081 Natürlich ist diese Problematik auch bei moderneren Formen des Lesenlernenes gegeben. Eindrucksvoll beschrieb Walter Benjamin die zwiespältige Wirkung aus Last und Lust, aus Distanz und Teilhabe, die das Lesen beim Kind erregt: Beim Lesen hält es sich die Ohren zu; sein Buch liegt auf dem viel zu hohen Tisch, und eine Hand liegt immer auf dem Blatt. Ihm sind die Abenteuer des Helden noch im Wirbel der Lettern zu lesen wie Figur und Botschaft im Treiben der Flocken. […] Es ist viel näher unter die Gestalten gemischt als der Erwachsene. Es ist unsäglich betroffen von dem Geschehen und den gewechselten Worten, und wenn es aufsteht, ist es über und über beschneit von dem Gelesenen.1082

Weil das Lesen für das Kind noch „eine vor kurzem erworbene Kunst“ ist, liest es „zugleich altertümlicher und ursprünglicher“1083 als die Erwachsenen. Wo das Kind Dieses und das folgende Zitat: Ebd. Ebd., S. 212. 1081 KITTLER, Aufschreibesysteme, S. 101. 1082 Walter Benjamin, zit. nach KILLY, Über das Lesen, S. 10. 1083 KILLY, Über das Lesen, S. 11. Hervorhebung C. S. 1079 1080

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unter modernen didaktischen Bedingungen behutsam zum Lesen geführt wird, ist das identifikatorische Lesen zur gängigen Erfahrung geworden, Hebbel dagegen war es noch als ein Wunder und großartiger Ausnahme-Zustand in der „Wildniß“ [W 2, 47] der Buchstaben erschienen, als Einheit von entziffertem Wort und gemeintem Gegenstand. Dieses Wunder verdankte sich nicht den Kittler’schen „supplementären Sinnlichkeiten“ einer ‚mütterlichen‘, pädagogisierten Alphabetisierung, sondern einer altertümlichen, noch weitgehend von Mündlichkeit geprägten Kommunikationskultur. Von erzählten biblischen Geschichten etwa ging eine ganz andere Wirkung aus, als von katechetischen Exerzitien. Der Befund von Pearce bestätigt so noch einmal in fundamentaler Weise, warum die Schule aus der Warte traditionaler Instanzen als verkehrt und lebensfremd erschien. Was Hebbel als „Wildniß“ und als Dastehen „wie unter den wilden Thieren“ zu umschreiben versuchte, trifft sich ‚medienpsychologisch‘ mit der von Pearce beobachteten „Isolation und Verlassenheit“ des früh alphabetisierten „Individuums“. So ergeben sich bei Hebbel einmal mehr die Symptome einer spannungsvollen Prägung. Denn auch der Ewachsene wurde zuweilen noch von der „körperlichen“ oder „Ur-Prozeß-Sprache“ aus „jenen Zeiten reinster Empfänglichkeit“ [T 280] erreicht, so daß, selten genug, eine „Brücke zwischen Zeichen und Empfindungen“ entstand: Als Heidelberger Student empfand er es „einmal recht lebhaft wieder“ [T 280], im Pariser Jardin des Plantes überraschte ihn 1844 jenes „Gefühl, wie in der Kindheit“ [T 3012], und auch in Rom kam es 1845 zu einer „Wiederholung des Jugend-Eindrucks“ [T 3353]. In dem autobiographischen Brief an Arnold Ruge aus dem Jahr 1852 machte Hebbel die spezielle Fähigkeit, daß ihm das Wort den „Gegenstand, den es bezeichnet, so grell vor die Seele stellte“, gar zur kreativitätspsychologischen Grundlage seines ersten Dramas. Denn: „Jetzt kam sie mir zu Statten, die Judith entstand in unglaublich kurzer Zeit, nämlich in 14 Tagen, es war als ob alle Adern sich auf einmal ausspritzten“ [WAB 2, 551]. An anderer Stelle notierte er hingegen, ihm zögen beim Lesen nur „wie aus weiter Ferne, die ersten Eindrücke wieder vorüber, die in den frühsten Tagen der Kindheit einzelne Wörter und ganze Ausdrücke auf mich gemacht haben“ [T 280]. Hebbel hat auch in dieser Beziehung die ersten Anstöße zur Mythisierung gegeben. Doch der Grundtenor dieser Äußerungen zeigt das normale Zurücktreten der Konkretheit der „körperlichen Sprache“. Der Zusammenhang von „Wort“ und „Fleisch“, Geist und Materie wurde jetzt als aufkündbar erfahren oder als existentielles Übel erlitten: Ja, wenn man so sieht, wie sich das durch einander verschlingt, das Leben und der Tod, wenn man bedenkt, daß auf der ganzen Erde vielleicht kein Stäubchen ist, das nicht schon gelacht und geweint, geblüht und geduftet hätte, so wird einem trostlos zu Muthe und alle Philosophie schlägt nicht dagegen an, denn leider, was hat der Geist, wenn er Nichts, als sich selbst hat? Er muß immer auf’s Neue die Mesalliance eingehen, wenn er es einmal mußte, und bei der Unsterblichkeit kommt Nichts heraus, als das Wieder- und Wiederkäuen [T 3012].

Wenn das „Einswerden“ von Vorstellungen und Dingen, von Ich und Welt beim Kinde dennoch zur Verwunderung Anlaß geben konnte, dann, weil es sich auch gegen eine Alphabetisierung behauptete, die Worte und Sinn in Buchstaben und Silben zer-

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stückelte. Wenn das „schauende Gemüt“ beim erwachsenen Hebbel gelegentlich die Augen aufschlug, dann nicht wegen, sondern trotz seiner Erfahrungen in der Klippschule der Jungfer Susanna. Die prosaische Umgebung ließ die benennende einprägende Kraft der Worte nicht nur in umso hellerem Licht strahlen – hierin suchte und fand der Dichter den gemeinsamen Ursprung von Religion und Poesie.

3. KIRCHE, GLAUBE, BIBEL – DIE AMBIVALENZ DES SAKRALEN

Zweifelhafte Autorität: Die Kirche im Dorf Den weithin sichtbaren Mittelpunkt Wesselburens bildet die auf einer hohen Wurt gelegene Bartholomäuskirche (Abbildung 9). Die Straßen, so sah es schon Hebbel, „sind in Kreuzes- oder vielmehr Stern-Form um sie herum gebaut, so daß man keine betreten kann, die nicht zum Hause des Herrn führte“ [W 15, 32]. Eindrucksvoll signalisiert schon ihre Lage den Anspruch der Kirche, der zentrale und unverrückbare Orientierungspunkt für die Bevölkerung zu sein. Wer ‚die Kirche im Dorf lassen‘ will, ist gegen radikale Veränderungen: ‚Dorf‘ und ‚Kirche‘ gelten als Orte, an denen Traditionen noch ihre Bedeutung haben und die fraglos zusammengehören. Was heute zur unreflektierten Redensart geworden ist, war früher allerdings keineswegs selbstverständlich. Für die traditionale Gesellschaft kann von einer gleichförmigen Ausrichtung der Menschen auf die Kirche und ihre Repräsentanten durchaus nicht die Rede sein. Bevor die Moderne mit ihren wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen Anpassungen auf breiter Front durchsetzte, waren es in vielerlei Hinsicht die religiösen Institutionen, die das breite Volk mit zivilisatorischen wie bürokratischen Zumutungen konfrontierten und dabei oftmals Befremden und Abwehr auslösten: Gottes Botschaft und Gottes Boten trafen auf erhebliche Widerstände und Schwierigkeiten. Wenn ‚Dorf‘ und ‚Kirche‘ heute gemeinsam Assoziationen von Tradition und Beschaulichkeit auslösen, dann ist dies vor allem ein Effekt des modernen Betrachterstandpunkts diesseits der Revolutionen des 19. Jahrhunderts. Bis dahin aber war die Kirche vielleicht nie richtig im Dorf ‚angekommen‘ – auch nicht im Dithmarscher Marktflecken Wesselburen. Dies läßt sich an der Person des Pastors und an seinen Amtshandlungen, am Gottesdienst und an ungeschriebenen Ordnungen ablesen. Die Distanz zwischen ‚gemeinem‘ Volk und Amtskirche machte sich zuallererst im Verhältnis zu den Ortsgeistlichen bemerkbar. Utz Jeggle spricht vom „Doppelcharakter der kirchlichen Autorität“,1084 in der sich Vertrautes mit Fremdem verbunden habe. Auch wenn der Pfarrer „ein Mensch wie alle anderen, mit Neigungen, Eigenarten und Schwächen“ war, stand er über seiner Gemeinde. Er „kam nicht aus dem Dorf, sprach einen anderen Dialekt, zudem war seine Amts-Sprache die FremdSprache par excellence, deren Unverständlichkeit zum System gehörte.“1085 Auch die Amtstracht unterstrich seine Andersartigkeit; „der HE. Pastor auf der Kanzel stellt Jehova vor“.1086 Seine höchste Autorität war nicht von dieser Welt; er „konnte binden

Dieses und das folgende Zitat: JEGGLE, Kiebingen, S. 72. Ebd., S. 66. 1086 HEBBEL, Sämmtliche Werke, Tagebücher, Bd 4, S. XV. 1084 1085

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und lösen, Brot und Wein in andere Substanzen verwandeln“;1087 er „beherrschte die Natur, sowohl die äußere als auch die innere“1088 und dies „auf eine magische [Art]“. In einem Bericht an seinen kirchlichen Vorgesetzten meinte sogar der Wesselburener Pastor Volckmar 1813 es als positiv hervorheben zu müssen, daß man weiland „den Klerus mit einer Art von superstitiöser Achtung verehrte“.1089 Eingebunden waren dessen imponierende Fähigkeiten in die „zwangsweise verordneten Rituale zur Erlangung des Seelenheils“.1090 So scheint die Beichte „eher den Charakter eines Verhörs gehabt zu haben, als dessen Ausgang man sich weniger der Verzeihung als vielmehr der Bestrafung seiner Sünden gewiß sein konnte. Dieser Beichte wurde dann noch ein Katechismusexamen zur Überprüfung der zu erlernenden Glaubensinhalte angeschlossen, bis man sich als der Absolution und damit des Abendmahles würdig erwiesen hatte.“1091 Diese ‚bürokratisierte‘ moralische Gängelung konnte zum Aufbegehren reizen. Wer sich jedoch dem „kirchlichen Formalismus“1092 entzog, auf den wurde „nicht mit Verständnis“1093 eingegangen. „Im Gegenteil: die Obrigkeit, die sich als Stellvertreter Gottes auf Erden empfindet, wird in ihrer Amtsausführung genau so schrecklich wie der Gott, den sie sich vorstellt.“ Der Respekt vor den Kirchendienern war zuallererst eine Lektion, die den Menschen etwa in den Christlichen Fragestücken des lutherischen Kleinen Katechismus erteilt wurde: Wer richtet aber solche Gnade Gottes aus? Die verordneten Prediger und Diener Gottes, welche für unsere Seele wachen. Woher haben sie solche Macht? Von ihrem Herrn Christo, der ihnen die Schlüssel des Himmelreiches anvertraut hat.1094

Der Distanzanspruch, der sich aus dem religiösen Amt ergab, verstärkte sich noch durch die sozialdisziplinierenden Aufgaben, die von den Landeskirchen im Auftrag der weltlichen Landesherren übernommen wurden. Als „Zuchtmeister seiner Gemeinde“1095 war der Pastor zugleich in das „rechtliche Überwachungs- und Strafsystem“ einbezogen. Die damit verbundenen Aufgaben reichten „von der Anzeigepflicht der Pastoren im Falle unehelicher Kinder, die zur Taufe gebracht wurden, über die Gewährung oder Verweigerung des bräutlichen Schmuckes bis zur strafenden Predigt, die den Toten nachträglich aburteilte“. Angesichts von Kirchenbußen, öffentlicher Bloßstellung von der Kanzel herab und einer „schroffen Reglementierung“1096 des eben nicht ‚privaten‘ Bereichs sei, so Karl S. Kramer, eine „Distanz zwischen Kirche und Prediger auf der einen und dem Volk JEGGLE, Kiebingen, S. 66. Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 67. 1089 VOLCKMAR, [Bericht v. 27.6.1813]. Zum GK. Visit. Protocoll von Norderdithmarschen 1813. Anlage Eb). LA S-H, Abt. 19, Nr. 75. 1090 REHDER, Volksfrömmigkeit und Kirchenzucht, S. 88. 1091 Ebd., S. 140. 1092 KRAMER, Volksleben in Holstein, S. 259. 1093 Dieses und das folgende Zitat: REHDER, Volksfrömmigkeit und Kirchenzucht, S. 88. 1094 LUTHER, Kleiner Katechismus, S. 180. 1095 Dieses und die folgenden Zitate: KRAMER, Volksleben in Holstein, S. 259. 1096 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 268. 1087 1088

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auf der anderen Seite nicht zu leugnen. Man hat nicht den Eindruck, daß sich die einfachen Leute in den Drangsalen ihrer Alltagswelt im Glauben geborgen fühlen konnten.“ In diesen Rahmen lassen sich auch Hebbels persönliche Erfahrungen einordnen. Seine Kindheitserinnerungen an den im Nachbarhaus wohnenden Prediger spiegeln anschaulich diese Mischung religiöser, rechtlicher und auratischer Distanziertheit: Vor diesem hatten wir eine unbegränzte Ehrfurcht, die sich eben so sehr auf sein ernstes, strenges, milzsüchtiges Gesicht und seinen kalten Blick, als auf seinen Stand und seine uns imponirenden Functionen, z. B. auf sein Herwandeln hinter Leichen, die immer an unserem Hause vorbei kamen, gegründet haben mag. Wenn er zu uns hinüber sah, was er zuweilen that, hörten wir jedes Mal zu spielen auf und schlichen uns in’s Haus zurück.1097

Der frühe Eindruck wurde später durch die kirchliche Praxis bestätigt. „Als die Dämmerzeit der Kindheit vorüber war, da hörte das trauliche Verhältnis von du zu du zwischen Friedrich und seinem Gotte auf und es trat eines zwischen ihm und den Dienern Gottes an die Stelle“,1098 schrieb Emil Kuh über den Zeitpunkt, als Friedrich in den Kreis der Wesselburener Chorknaben eintrat. Dieses muß kühl und distanziert gewesen sein. Denn das Sängeramt brachte Dienstverpflichtungen mit sich, an denen zugleich die kirchliche Hierarchie fühlbar wurde. Nicht erst beim Kirchspielvogt Mohr, sondern hier schon empfahl sich Hebbel als williger Dienstbote und Laufbursche: Am Samstag Abend mußte er die Singtafeln an den Wänden aufstecken, am Sonntage die Kirchenglocke ziehen, zur Sakristei schlüpfen und wenn der letzte Vers im Gesang „Gott allein in der Höh’!“ gesungen ward, den Pastor zur Kanzel begleiten, die schmale Tür aufund zumachen, endlich des Mittags die Becken, wo Geld eingestochen wird, welche er am Morgen aus des Pastors Hause geholt und an die Kirchentür gestellt hatte, wieder in dessen Wohnung hinüberbringen.

Doch neben Ergebenheit und Ehrfurcht gab es in den Gemeinden auch Widerstand und Trotz. Gerade in Dithmarschen, meinte Pastor Volckmar noch 1813, „läuft es gegen die Verfassung unserer Republick dem Prediger auch nur die mindeste Auctorität einzuräumen“.1099 In ihrer Arbeit über Volksfrömmigkeit und Kirchenzucht in Schleswig-Holstein wies Frauke Rehder auf eine „ausgeprägte Gleichgültigkeit und einen weniger auf Frömmigkeit als vielmehr auf Zerstreuungen aller Art ausgerich-

W 8, 81. Wie bedeutsam die Position des Pastors in der Leichenprozession auch für seine gesellschaftliche Stellung war, zeigt eine Äußerung des Wesselburener Diakons Volckmar, nach der die Prediger vormals durch ihre niedrige Stellung in der „Grosfürstlichen Rangverordnung […] wenig kompromittirt [wurden], da bei Leichenprocessionen ihr gewöhnlicher Platz vor der Leiche vorauf war“ [VOLCKMAR, [Bericht v. 27.6.1813] (Zum GK. Visit. Protocoll von Norderdithmarschen 1813. Anlage Eb). LA S-H, Abt. 19, Nr. 75]. 1098 Dieses und das folgende Zitat: KUH, Biographie, Bd 1, S. 46. 1099 VOLCKMAR, [Bericht vom 27.6.1813] (Zum GK. Visit. Protocoll von Norderdithmarschen 1813. Anlage Eb). LA S-H, Abt. 19, Nr. 75. 1097

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teten Lebenswandel“1100 der Bevölkerung hin. Ermahnungen und Disziplinierungen seitens der Kirche waren, so Karl S. Kramer „nicht unbegründet angesichts der rauhen Lebens- und Umgangsformen mit Nachbarn und Fremden, die sich mit christlichem Ethos kaum vereinbaren ließen.“1101 So waren die „gebildeten frühbürgerlichen Eliten mit ihrer Forderung nach einer verstetigten moralischen Lebensführung“1102 einen „schweren Weg“1103 gegangen. Im konfessionellen Zeitalter bestanden zunächst „die inneren Affinitäten zwischen aristokratischer und populärer Kultur fort – nicht nur in der gemeinsamen grobianischen Lachkultur, sondern auch in einer körperzentrierten Lebensweise“. Um 1800 sahen sich die normsetzenden bürgerlichen Schichten, wenngleich in staatlichem Auftrag, noch immer einer Volkskultur gegenübergestellt, die von den moralasketischen Botschaften kaum innerlich erreicht wurde. Angesichts dessen mußte es den Wesselburener Hauptpastor Wolf mit Genugtuung erfüllen, wenn er 1788 feststellen konnte: „Ein sogenannter Bürgergehorsam ward errichtet.“1104 Schon der Begriff verrät, daß das Gefängnis keineswegs nur für kriminelle Außenseiter bestimmt war. Mit Strafandrohungen allein waren die Übel unsittlicher Ausschweifungen freilich noch nicht abgestellt, wie der Seelenhirte zugab: „Daß wir von allen Mißbräuchen frei wären, kann wol eben nicht gesagt werden. Allein die noch vorhandenen sind doch wol größtentheils solche, die in unsre innerliche Verwaltung so tief eingewebet sind, daß sie ohne große Zerrüttung nicht so plötzlich heraus gerissen werden könen“.1105 Während Wolf noch sehr genau sah, daß die „Mißbräuche“ tief in der Mentalität verwurzelt waren, brachte sein Nachfolger Meyn rund 50 Jahre später dieses Verständnis nicht mehr auf. Er glaubte, es sei „der frivole irreligiöse Zeitgeist“, der „auch in diese Gemeine […] nicht wenig Unheil gebracht“1106 habe, während sich die Mentalität des breiten Volkes in Wirklichkeit gegenüber früher kaum verändert hatte. Sein Bericht zur Generalkirchenvisitation 1837 geriet zu einer schrillen Klage über mangelnden Gottesdienstbesuch und schlechten Kirchengesang, Hurerei und wilde Ehen, Spielleidenschaft und Trunksucht: Überhaupt ist der Hang zu Lustbarkeiten in dieser Gemeine sehr groß, am meisten in der unteren Classe; wodurch dann nicht allein der religiose Sinn erstikt, Sittenlosigkeit begünstigt, sondern auch besonders, Verarmung herbeygeführt wird. Wie wenig hier von Polizey zu finden ist, geht auch daraus hervor, daß man […] oft mehrere Tage und Nächte ja ganze Wochen, ununterbrochen in den Wirthshäusern spielt und zecht; welches Unwesen dann auch, den nachtheiligsten Einfluß auf den Bereich der Kirche hat; indem die Wüstlinge, besonders wenn sie durch die Nacht von Sonnabend auf Sonntag, bis zum hellen Morgen durchgesoffen haben, lieber das Bett als die Kirche suchen; auch in letzterer wenig gewinnen würden.

REHDER, Volksfrömmigkeit und Kirchenzucht, S. 140. KRAMER, Volksleben in Holstein, S. 268. 1102 SCHINDLER, Widerspenstige Leute, S. 171. 1103 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 169. 1104 Zit. nach SIEVERS, Volkskultur und Aufklärung, S. 115. 1105 Ebd., S. 116. 1106 Dieses und das folgende Zitat: MEYN, Bericht vom 15.8.1837 zur Generalkirchenvisitation an Generalsuperintendent Herzbruch. LA S-H, Abt. 19, Nr. 111/1. 1100 1101

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Der mentalitätsgeschichtliche Bruch verlief aber auch durch die lokale Elite selbst. Der seit 1797 in Wesselburen amtierende Pfarrer Volckmar (1766 – 1814) – den schon eine zeitgenössische Fama für Hebbels unehelichen Vater hielt – erfüllte die an seine Position geknüpften moralischen Anforderungen nur ungenügend. So hatte er „Schulden mit ins Amt genommen“,1107 galt als „Schlemmer“,1108 war dreimal verheiratet und hatte zwei uneheliche Kinder mit seiner Dienstmagd, lange bevor er mit ihr 1804 auf dem Krankenlager die Ehe einging. „Überhaupt muß der Herr es arg getrieben haben“, orakelte Albrecht Janssen. Von anderem Holz war dagegen Volckmars Kollege Meyn (1769 – 1852) geschnitzt, der jünger war, jedoch auf der kirchlichen Ämterlaufbahn an ihm vorbeizog: Während Volckmar nur die Stelle eines Diakons bekleidete, wurde Meyn am 4. September 1803 als Pastor in Wesselburen eingeführt;1109 als zwei Jahre später die Stelle des Archidiakons mit dem Tod des Inhabers Peter Nikolaus von Horsten aufgelöst wurde, fiel ihm das Amt des Hauptpastors zu. „Pastor Meyn scheint für Pastor Volckmar überhaupt das rote Tuch gewesen zu sein“, schrieb Adolf Bartels, denn Meyns ethischer Rigorismus machte auch vor dem älteren Amtskollegen nicht halt. In den Jahren 1809 bis 1810 wurde Volckmar nochmals „beschuldigt, sein Dienstmädchen geschwängert zu haben. Während der Untersuchung war er vom Amte suspendiert. Als seine Freisprechung erfolgte, erhielt Herr Pastor Meyn vom Konsistorium eine Rüge, nicht ganz einwandfrei gehandelt zu haben“.1110 Meyn war bereits kurz nach Dienstantritt 1804 auch mit dem Kirchspielvogt Christian Peter Bruhn im Armenkollegium aneinandergeraten, aus dem er sich dann stillschweigend zurückzog: Erst 1814 wurde der Fall öffentlich, wobei der vom Superintendenten zur Rede gestellte Pastor „schwere Vorwürfe gegen den Kirchspielvogt erhob.“1111 Auch als Schulaufseher griff Meyn konsequent durch: „Die Lehrer hatten sich am ersten Sonntage jeden Monats nach dem Gottesdienst bei ihrem Schulinspektor einzufinden. Der Hauptpastor […] pflegte die Lehrer nach dem Hauptgottesdienst in der Sakristei zu instruieren“,1112 auch war – laut dem Norderdithmarscher Schulregulativ von 1818 – „am Montagmorgen […] die Predigt in der Schule katechetisch zu wiederholen“. Über Meyn als orthodoxen ‚Zuchtmeister‘ seiner Gemeinde kursierten noch Jahrzehnte später entsprechende Erzählungen: Wenn die Dorfschulmeister, die, „oft bei beschwerlichen Wegen, früh aus dem Hause mußten, dem langen Gottesdienst beigewohnt hatten, konnte es auch wohl vorkommen, daß die Augen nicht mehr ganz klar waren. Mit einem ‚N. N. he sleppt ja all wedder‘, wurde der Angeredete dann wieder in die Wirklichkeit zurückgerufen“.1113 Auch Hebbels langjähriger Elementarschullehrer Franz Christian Dethlefsen sah sich als ein Opfer des Hauptpastors. Noch 1853 beklagte er sich in einem Brief an Hebbel, „daß ich durch die Chicane und heimlichen lügenhaften Berichte des Pastors Meyn zu BARTELS, Hebbels Herkunft, S. 50. Dieses und das folgende Zitat: JANSSEN, Die Frauen rings um Friedrich Hebbel, S. 12. 1109 Vgl. CLAUSSEN, Die St.-Bartholomäus-Kirche in Wesselburen, S. 39. 1110 BARTELS, Hebbels Herkunft, S. 51. 1111 WAGNER, Wesselburen, S. 57. 1112 Dieses und das folgende Zitat: ERICHSEN, Schulgeschichte der Landschaft Norderdithmarschen, S. 229. 1113 CLAUSSEN, Die St.-Bartholomäus-Kirche in Wesselburen, S. 39. 1107 1108

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Wesselburen und meiner dermaligen Brustschwäche und Kränklichkeit meine Stelle als Rector zu Wesselburen quittiren mußte“ [WAB 2, 637]. Freilich wußte Hebbel selbst „leider nur zu gut“, daß Dethlefsen sich „schon seit 20 Jahren aus Mißmuth u. s. w. dem Trunk ergeben“ [T 5100] hatte und dem rigiden Schulinspektor auf die Dauer ein Dorn im Auge sein mußte. Bei den Wesselburenern stand Meyn „in dem Rufe eines sehr geizigen und habsüchtigen Menschen“,1114 wie Emil Kuh wußte. Wahrscheinlich wurde Hebbel die Abneigung gegen den gestrengen Hirten durch seine Umgebung von klein auf vermittelt; sie sollte offen zu Tage treten, sobald sich der Jüngling dem alten Herrn innerlich gewachsen, ja überlegen fühlte. Beim Gottesdienst, dem zentralen religiösen und gesellschaftlichen Ereignis des gesamten „Kirchspiels“, trafen die gegensätzlichen Vorstellungen von Amtskirche und einfachem Volk unmittelbar aufeinander und traten nicht selten offen zutage. Vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert waren ‚das Heilige und das Profane‘ in den Gotteshäusern kaum voneinander getrennt; die Gottesdienste nicht gerade ein Hort der Disziplin – oder gar der Andacht – gewesen. In den Schleswig-Holsteinischen Provinzialberichten wurde 1830 z. B. beklagt, die Pastoren müßten es sich gefallen lassen, daß „die Bauern ihre Produkte mit in die Kirche bringen“1115 – schließlich waren Korn, Eier und Flachs als Stolgebühren1116 für die Geistlichen bestimmt! In den Kirchenbänken mag es mitunter ausgesehen haben wie auf einem Wochenmarkt. Den ungleichen Zwangsumtausch von materiellen gegen immaterielle Werte fand Hebbel auch als satirischen Stoff reizvoll. Wohl 1846 skizzierte er die Geschichte eines Pfarrers, der „wünscht, daß seine Gemeinde ihm jährlich zum Herbst einen halben Ochsen schenke“ [W 8, 372]. Weil diese „nicht daran“ will, beschließt er, den „Widerspenstigen“ ins Gewissen zu reden: „Er predigt also von jetzt an 3 Stunden, wie früher 1½“ [W 8, 372], und bewegt so die frustrierte Gemeinde zum Einlenken. Doch auch wenn die Predigten normalerweise ‚nur‘ bis zu einer Stunde dauerten, dürfte die Geduld der Zuhörer kaum ebenso lange vorgehalten haben. Der Andacht wenig dienlich war auch die im Gottesdienst übliche Verlesung von obrigkeitlichen Gesetzen und Verordnungen. 1803 lehnte der Kieler Professor August Christian Heinrich Niemann in einem Beitrag für die Blätter für Polizei und Cultur die prosaischen Kanzelpublikationen ab, weil es ihm „widersprüchlich“ erschien, daß „einerseits die Heiligung des Sabbats polizeilich verlangt wird und man Kirchenbesuch und Wahrung äußerer Religion empfiehlt, andererseits aber weltliche Angelegenheiten besprechen läßt, die die erwünschte Andacht stören und die religiöse Feier entweihen. Denn man mute den Predigern zu, über Blatternimpfung, Pest, Wirtschaft und Polizei geradezu eigene Predigten abzuhalten“.1117 An heiliger Stätte wurden ohne Unterschied auch „die Anmeldung des Schweineschneiders, die Nachfrage wegen verlaufenen Viehs oder die Einladungen zu einem Gildefest“1118 abgekündigt. Dies wiederum geschah mit allem juristischen Bombast – im Kontrast zur Einfachheit von KUH, Biographie, Bd 1, S. 96f. SIEVERS, Volkskultur und Aufklärung, S. 49. 1116 Stolgebühren sind „Gebühren für Taufe, Verlöbnis, Trauung, Begräbnis, Beichte“ [REHDER, Volksfrömmigkeit und Kirchenzucht, S. 27f.]. 1117 SIEVERS, Volkskultur und Aufklärung, S. 46. 1118 Ebd., S. 48. 1114 1115

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Inhalten und Publikum. 1820 wurde in den Provinzialberichten satirisch angeprangert, daß es bis zur Lächerlichkeit unvernünftig sei, wenn man einer größtentheils aus ungelehrten und plattdeutschen Bürger-, Bauern- und Frauensleuten bestehenden, Versammlung etwas […] durch eine öffentliche Vorlesung bekannt machen läßt, die in einer gerichtlichen d. h. mit Lateinischen und geradebrechten Deutschen Ausdrücken und Phrasen und Formeln durchwebten Schreibart abgefaßt ist, z. B., „daß sich jedermänniglich mit seinen dinglichen Ansprüchen […] binnen der gesetzten Frist, sub praeclusi et perpetui silentii […], da und da melden sollen“.1119

In den Provinzialberichten von 1825 beschwerte sich ein alter Geistlicher darüber, die unverständliche Juristensprache bringe nicht selten auch die Pastoren selbst in eine „peinliche Verlegenheit“, die ihrem Ansehen abträglich sei: „Mehrere meiner Collegen haben mir schon geklagt, […] daß sie von Jung und Alt in der Kirche ausgelacht werden, wenn sie die lateinischen Brocken, von denen es in so vielen Bekanntmachungen wimmelt, nicht herauswürgen können, falsch lesen, oder stotternd überschlagen, zudem auf Befragen der Leute keine Antwort zu geben wissen.“ Das dem Pastor aufs Maul schauende Volk machte sich mit lautlichen und semantischen Verballhornungen über ihn lustig. Erst am 11. August 1824 traf ein königliches Reskript eine Neuregelung der öffentlichen Bekanntmachungen: „Die Publikationen sollen künftig nicht mehr von den Kanzeln, sondern, unter Anweisung des Predigers, von dem Küster im Kirchengange geschehen, und die gedruckten Verordnungen und Verfügungen bleiben zur Einsicht vier Wochen bei dem Küster, in Städten auf den Rathäusern“. Weiterhin ‚abgekanzelt‘ wurden hingegen die Menschen selbst. Der Pastor brachte die religiösen und moralischen Verfehlungen Einzelner regelmäßig der gesamten Gemeinde zu Ohren; wer strafweise vom Abendmahl ausgeschlossen wurde, war nicht nur auf Zeit aus der ‚Gemeinschaft der Heiligen‘ verstoßen, sondern während der Eucharistiefeier als ‚Sitzenbleiber‘ auch im öffentlichen Raum der Kirche sichtlich isoliert. Darüber hinaus gerieten die Predigten oft genug zu Strafpredigten. Was Hebbel hier allsonntäglich zu hören bekam, konnte auf seinen ‚Eindruck‘ von Gott nicht ohne Folgen bleiben. Jahre später folgerte er daraus zynisch: „Die Bibel kann schon darum nicht von Gott seyn, weil er darin gar zu viel Gutes von sich selbst und gar zu viel Schlimmes von den Menschen sagt. Oder gleicht der Umstand, daß er diese gemacht hat, Alles aus?“ [T 3303] Wie es um die innere Teilnahme der Gemeindeglieder am Sonntagsgottesdienst bestellt war, läßt sich denken. Frauke Rehder meint sogar: „Einzig die Möglichkeit, in der Kirche sein Sozialprestige demonstrieren zu können, verlieh dem Besuch des Gotteshauses noch einen besonderen Reiz.“1120 Diesen Reiz konnte auch der unterprivilegierte Hebbel sehr wohl nachvollziehen. Noch 1843 sah er im Traum „eine stattliche, vom Morgenroth vergoldete Kirche; ein feister Dithmarsischer Bauer trat herzu und sagte, sie gehöre ihm, ich glaube er verlangte Entré für den Eintritt“ [WAB 1, 447]. In der Realität war die soziale Abgrenzung der Besitzenden kaum subtiler. Sie 1119 1120

Dieses und die folgenden Zitate: Zit. nach SIEVERS, Volkskultur und Aufklärung, S. 47f. REHDER, Volksfrömmigkeit und Kirchenzucht, S. 100.

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erfolgte äußerlich schon durch die Kleidung, was Hebbel noch 1838 ‚keine Ruhe‘ ließ, als er träumte, „wie ich confirmirt werden sollte und von zwei Hüten, die ich hatte, den besten verlor“ [T 1333]. Räumlich geschah die Separation durch die festgelegte Sitzordnung: „Der blaue Stuhl“ [W 15, 9] in der Wesselburener Kirche etwa, den Hebbel in den Notizen zur Biographie erwähnte, war einst die Ehrenloge für den Gottorfer Herzog gewesen (Abbildung 10). Im Schiff waren die Plätze in den vorderen Reihen sowie diejenigen am Mittelgang die begehrtesten. Hier konnte man am besten sehen und gesehen werden: „Um diese Sitzordnung nun, die den sozialen Status eines jeden Gemeindemitgliedes offenbarte, entfachten sich heftige Kämpfe, besonders dann, wenn es aus Platzmangel oder anderen Gründen zu einer Umstrukturierung der bestehenden Sitzverteilung kam“.1121 Dies reichte mitunter bis zur Anwendung körperlicher Gewalt. Auch das kannte man von klein auf, gab es doch regelmäßig „[i]m Kirchensteig bei den Sonntags-Katechisationen Kampf zwischen Dorf und Stadt“ [W 15, 13] – dagegen richteten auch Vorhaltungen, die Verstockten würden vor Gottes Wort „Augen und Ohren verschließen“ [W 5, 13] nichts aus. Auf verschiedene Art versuchten die Menschen, sich angesichts der disziplinierenden Zumutungen vor, in und nach dem Gottesdienst Luft zu machen. Frauke Rehder zitiert Anordnungen, nach denen „niemand den andern durch unzeitig und ungestühmes Aus- und Einlauffen, durch einig Geräusch oder Geklapper mit den Thüren, Gestühlen und Bäncken, durch Plaudern oder ander unziemliches Betragen, in seiner Andacht irren“1122 solle. Als der Lehrer Dethlefsen am Ostermontag 1832 seinen Einsatz als Vorsänger verpaßte und vom Diakon Nehlsen dafür gerügt wurde, rechtfertigte er sich, es sei „wegen des Lerms gar nichts zu verstehen“1123 gewesen. Pastor Meyn war mit seinen Disziplinierungsmaßnahmen in der Kirche anscheinend erfolgreicher: „Wenn der ‚kleine pausbäckige Pastor‘ […] auf die Kanzel stieg und allein das Wort nahm, herrschte eine unerschütterliche Ruhe. Steckten aber bei den damals langen Predigten einmal ein paar Nachbarinnen die Köpfe zusammen, dann unterbrach er seine Predigt und in dem ihm beliebten Plattdeutsch donnerte er los: ‚Küster, riet se mol ut’n een, dor pludert een paar!’“1124 Was mochten seine Zuhörer dabei denken? „Da ging man halt gezwungenermaßen in die Kirche, saß seine Zeit ab, falls sich nicht andere Abwechslungen boten, um sich danach möglichst schnell zu entfernen.“1125 Auch der Kirchenbesuch selbst ließ unter solchen Umständen durchaus zu wünschen übrig. Wenn nichts anderes half, konnte er sogar polizeilich erzwungen werden.1126 So stellte der Wesselburener Hauptpastor Meyn im Jahr 1837 zwar mit einer gewissen Genugtuung fest: „Im Ganzen, ist der Besuch der hiesigen Kirche am Vormittage freylich nicht schlecht zu nennen“, doch fügte er sogleich hinzu: „Er

Ebd., S. 107. Vgl. dazu insgesamt: Ebd., S. 106–120. Zit. nach REHDER, Volksfrömmigkeit und Kirchenzucht, S. 85. 1123 Fr. Chr. DETHLEFSEN an H. A. Nehlsen v. 27.4.1832. LA S-H, Abt. 101, IV C II, 162. 1124 CLAUSSEN, Die St.-Bartholomäus-Kirche in Wesselburen, S. 39. 1125 REHDER, Volksfrömmigkeit und Kirchenzucht, S. 100. 1126 Vgl. SCHMIDT, Grundriß der Kirchengeschichte, S. 420. 1121 1122

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könnte und würde aber besser seyn, wenn die Polizey besser gehandhabt würde.“1127 Auch gäbe es in seinem Kirchspiel Leute, „welche sich auch selten, höchstens nur, bey besonderen Veranlassungen, in den gottesdienstlichen Versammlungen einfinden“. Gar nicht gut sei es um den sonntäglichen Nachmittagsgottesdienst bestellt. Dieser würde „sehr schlecht besucht; so wohl in den Wintermonaten, von Michaelis bis Pfingsten, wo gepredigt wird, als auch im Sommer, wo des Nachmittags Kinderlehre gehalten wird. Von 200 Kindern […] finden sich kaum 50, und zuweilen noch weniger ein“. Dazu trügen nicht zuletzt „die Lustbarkeiten bey, welche dann hier im Flekken oder auf den Dörfern angestellet werden“. Ganz ähnlich hatte schon eine Generation früher der Diakon Volckmar geklagt: 1812 waren sogar „von mehr als 200 Individuen die sich zur Katechisation einfinden müßten […] in der lezten Hälfte des Sommers bei weitem nicht immer nur 20 versammelt“1128 Weder Obrigkeit noch Lehrerschaft würden darauf achten, ja, der Diakon meinte sogar, einige Lehrer hinderten die Kinder „wohl gar an solchen Sonntagen in der Kirche zu erscheinen da nicht der Hauptpastor katechisirt.“ Andere Kinder kämen überhaupt nicht zur Sonntagsschule, namentlich die aus dem „Hedwigenskoog und alle diejenigen Schüler welche nicht in den öffentlichen Schulen gehen, oder welche wie z. B. im Flekken Wesselbuhrn zwar in die öffentliche Schule gehen, aber weil sie so selten kommen, nicht lesen und den großen Katechismus nicht lernen können“. Diese Umstände führten zu der grotesken Situation, daß „alle Jahre mehrere Katechumenen konfirmirt werden müssen die in ihrem Leben keiner Kirchenkatechisation beigewohnt haben“. Auch an den von Jesus selbst eingesetzten Heilsmitteln, den beiden Sakramenten der Taufe und des Abendmahls, war das Interesse des Kirchenvolks gering. Im Jahr 1813 nahm der Wesselburen visitirende Generalsuperintendent Adler zu Protokoll, daß „mehrere in der Gemeine vor vielen Jahren confirmirt worden sind, aber sich noch nie zum Abendmahl eingefunden haben.“1129 Pastor Volckmar lieferte Zahlen: „Ich darf sagen daß die Mehrzahl der Kommunikanten die nicht noch zu den Alten gerechnet werden, durch die beiden Umstände bestimmt wird daß die Frauen genau 4 bis 6 Wochen vor ihrer Entbindung und die zulezt konfirmirten Knaben und Mädchen vorher kommuniciren ehe sie Gevatter stehen sollen.“1130 Die Alten, die Hochschwangeren und halbwüchsige Taufpaten stellten demnach die Mehrheit der Abendmahlsgänger. Über den sorglosen – eigentlich pragmatischen – Umgang der Eltern mit der Taufe ihrer Kinder mokierte sich 1821 Pastor Marxen. Ihn trieb es, „den Wunsch laut werden zu lassen, daß es den Eltern nicht mehr so, wie bisher, frei gestellt bleiben möge, die Taufe nach Laune, nach Willkühr und Bequemlichkeit Jahre lang aufzuschieben“. Das Taufregister beweise, daß „mehrere Eltern die Taufe bereits

Dieses und die folgenden Zitate: MEYN, Bericht zur Generalkirchenvisitation an Generalsuperintendent Herzbruch [v. 15.8.1837]. LA S-H, Abt. 19, Nr. 111/1. 1128 Dieses und die folgenden Zitate: VOLCKMAR, [Bericht vom 27.6.1813] (Zum GK. Visit. Protocoll von Norderdithmarschen 1813. Anlage Eb). LA S-H, Abt. 19, Nr. 75. 1129 General-Kirchenvisitationsprotocoll von Norderdithmarschen 1813. LA S-H, Abt. 19, Nr. 75. 1130 VOLCKMAR, [Bericht vom 27.6.1813] (Zum GK. Visit. Protocoll von Norderdithmarschen 1813. Anlage Eb). LA S-H, Abt. 19, Nr. 75. 1127

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so lange aufschieben, bis ein 2tes Kind zugleich mit getauft werden kann“.1131 Die Angst um das Seelenheil des Kleinkindes war offenbar geringer als die Sorge um den eigenen Geldbeutel, der durch die Tauffeierlichkeiten arg strapaziert wurde. Viele Wesselburener nahmen sich gar die Freiheit, nicht nur in der Kirche zu fehlen, sondern während des Gottesdienstes auf dem Kirchplatz allerlei weltlichen Geschäften und Vergnügungen nachzugehen. Die Klagen der Pastoren reißen auch darüber im Zeitraum von Hebbels Kinder- und Jugendzeit nicht ab. 1813 erfuhr Generalsuperintendent Adler bei seiner Visitation, „daß während des sonntägl. Gottesdienstes in den Schankstuben geschenket, sogar auf dem Kirchhofe Handel getrieben werde.“1132 Zwei Jahre später monierten die Pastoren Meyn und Marxen, daß „immer noch während des Gottesdienstes viel rohes Volk auf dem Kirchhofe stehen bleibt“, daß „Kegel geschoben“ würden und einmal gar „die so genannte türkische Trommel so laut erschallte, daß man sie über einen großen Theil dieses Flekkens hören konnte“.1133 Wenig später hörte Hauptpastor Meyn, „während ich in der Kirche predigte, ein solch lermendes Geräusch auf dem Kirchhofe, […] daß ich durch das wilde Geschrey welches von außen in die Kirche drang, in meinem Vortrage nicht wenig gestört, ja beynahe überstimmt wurde“.1134 Dem Vernehmen nach hatte „eine Streitigkeit zwischen einem Landmann, und den […] auf dem Kirchhofe stehenden Arbeitsleuten“ zu dem Tumult geführt. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang das Verhalten des Kirchspielvogts Bruhn, der durchaus nicht auf der Seite der Prediger stand: Er bestritt Trommeln wie Kegeln, bezeichnete die hochwürdigen Herren als „Denuncianten“, die sich nur beschwerten, um ihn als zuständigen „Beamten boslicherweise anzuschwärtzen“ und empfahl ihnen, daß „sie dergleichen Dinge gar nicht rügten, worauf doch, falls sie auch wahr wären, nie große Rücksicht genommen werden wird“.1135 Als Einheimischer kannte Bruhn seine Dithmarscher! Doch die Geistlichen ließen, inzwischen unterstützt vom Landvogt Griebel in Heide, nicht locker. 1816 klagten sie, daß noch immer „die öffentliche Gottesverehrung […] so frech unter den Augen der Polizey entweiht werde“, insbesondere, daß „schon wieder Kegel geschoben wurde, so daß wir vor dem Altare nicht nur sehr deutlich das Rollen der Kugel, sondern auch das Umfallen der Kegel hören konnten“; und daß Meyn zudem beim Predigen „durch lautes Lermen, solcher rohen Menschen“ gestört worden sei.1136 Zwei weitere Jahre später ging Meyn in seinem Visitationsbericht nur beiläufig auf das leidige Thema ein, doch hatte sich angeblich „nur wenig” geändert. Scharf und verbittert resümierte er: „Noch immer verhindert die Polizey, ungeachtet, deswegen wieMARXEN, Bericht über Veränderungen in Kirch- und Schulangelegenheiten [v. 10.8.1821] LA S-H, Abt. 19, Nr. 75. 1132 General-Kirchenvisitationsprotocoll von Norderdithmarschen 183. LA S-H, Abt. 19, Nr. 75. 1133 J. J. M. MEYN und M. C. MARXEN an die Kirchspielvisitatoren in Norderdithmarschen v. 09.7.1815. LA S-H, Abt. 101 IV, C I, Nr. 355. 1134 Dieses und das folgende Zitat: J. J. M. MEYN [an die Kirchspielvisitatoren in Norderdithmarschen] v. 23.8.1815. LA S-H, Abt. 101 IV, C I, Nr. 355. 1135 Chr. P. BRUHN an die Kirchenvisitatoren in Norderdithmarschen. LA S-H, Abt. 101 IV, C I, Nr. 355. 1136 J. J. M. MEYN und M. C. MARXEN an die Kirchspielvisitatoren in Norderdithmarschen v. 08.5.1816. LA S-H, Abt. 101 IV, C I, Nr. 355. 1131

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derholt, bey der Behörde gemachter Anzeigen, die Wirksamkeit des Predigers“.1137 1821 gab er wiederum eine eindringliche Schilderung des sonntäglichen Treibens rund um die Kirche, nachdem zwischenzeitliche Versuche „ein anderes Local“1138 zu finden, ohne Erfolg geblieben waren: „Denn der Markt ist in der Zeit besetzt mit Torfwagen und mancherley Handelsartikeln, wodurch denn veranlaßt wird daß der Kirchhof doch noch immer der Sammelplatz der rohen zum Theil morgens schon betrunkenen Arbeitsleute ist“. Auf dem Kirchplatz machte sich Jahrmarktstimmung über den Gräbern breit: Fliegende Händler boten Genußmittel wie „Tobak“, aber auch „Eisen-Waaren, Obst, Brodt und andere Sachen zum täglichen Befarf“ an; aus der Österstraße wollte man „schon um 12 Uhr Mittags Tanz Musik“ gehört haben. Wenige Sonntage später legte Meyn nach: Diesmal konnte er „das Börsengetöse während meiner, ganzen Predigt, auf der Kanzel, hören”;1139 auch sollte jemand während des Gottesdienstes „auf dem Kirchhofe Lieder feil geboten“ haben. Kurz darauf mußte der Kirchspielvogt dem Landvogt von „einem fürchterlichen Zusammenlaufen von Arbeitsleuten und Unruhe auf dem Kirchhofe während des Gottesdienstes“1140 berichten, das diesmal ihm selbst bedrohlich schien – geschah doch das bedrohliche „Zusammenlaufen von etwa 600 Menschen vor meinem Hause“. Der Gottesdienst wurde dabei regelrecht ‚gesprengt‘, da der Tumult „in der Kirche selbst solche Stöhrung veranlaßte, daß viele Leute aus der Kirche gingen um zu sehen, was die Veranlassung dieses Geräusches sey“.1141 Dieses Ereignis führte endlich zu einschneidenden Anordnungen durch den Landvogt Griebel. Die Arbeiter sollten sich westlich der Kirche in einem abgesperrten Bereich aufhalten, der sonntägliche Handel wurde verboten, die Branntweinschenken durften während des Gottesdienstes nicht mehr öffnen, und die Polizei sollte je nach Bedarf Hilfskräfte anheuern, um Ruhe und Ordnung zu sichern.1142 Ob diese Maßnahmen auf Dauer mit Erfolg umgesetzt werden konnten, bleibt fraglich. 1837 trug Meyn dem neuen Generalsuperintendenten Herzbruch die alten Klagen vor: [S]o wird Schenken in den Wirthshäusern, Handel und Wandel nicht nur in den Kaufmannsbörsen, sondern auch auf den öffentlichen Plätzen, auf und neben dem hiesigen Kirchhofe, selbst während des Gottesdienstes getrieben. Ja man behauptet sogar: daß in dieser Zeit, in den Wirthshäusern Karten- und Hazard-Spiele Statt finden sollen. Fast jeden Sonntag Morgen muß ich durch den Küster, die hiesige Polizey bitten lassen, die auf dem Marktplatze sich sammelnden Wagen, welche dort zum Verkauf ausbieten wegzuweisen; darauf wurde

MEYN, Pflichtmäßiger Bericht v. 1.9.1818. (Anlage E. Zum GK. Visit. Protocoll von Norderdithmarschen 1818). LA S-H, Abt. 19, Nr. 75. 1138 Dieses und die folgenden Zitate: MEYN, Pflichtmäßiger Bericht des Hauptpastors J. J. Meyn zu Wesselburen bey der General Kirchenvisitation d 10 Aug 1821. LA S-H, Abt. 19, Nr. 75. 1139 Dieses und das folgende Zitat: J. J. M. MEYN an die Kirchenvisitatoren in Norderdithmarschen v. 4.9.1821. Abt. 101 IV, C I, Nr. 355. 1140 Dieses und das folgende Zitat: Chr. P. BRUHN an Landvogt Anton Griebel v. 9.9.1821. 1141 M. C. MARXEN [an die Kirchenvisitatoren von Norderdithmarschen] v. 12.9.1821. LA S-H, Abt. 101 IV, C I, Nr. 355. 1142 Vgl. Anton GRIEBEL an Chr. Peter Bruhn v. 17.9.1821. LA S-H, Abt. 101 IV, C I, Nr. 355. 1137

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dieses Frühjahr, während der Predigt, ein solcher mit Torf versehener Wagen, in der Nähe der Kirche, abgeladen.1143

Auch wenn der Kirchenmann nun eindeutig das Recht auf seiner Seite hatte – durchzusetzen vermochte er es darum noch lange nicht. Die weltliche Obrigkeit drückte vielmehr weiterhin beide Augen zu, in heimlichem Einvernehmen mit dem breiten Volk, dessen Bedürfnisse und Gewohnheiten sich nicht einfach abstellen ließen. Der Amtsdiener schob Dienst nach Vorschrift, indem er sich allsonntäglich erst auf Intervention des Küsters zum Handeln bequemte; und schlitzohrig unterlief ein Betroffener das ‚Parkverbot‘ auf dem Kirchplatz, indem er kurzerhand das ganze Torffuder dort ablud, um es anschließend zu verkaufen. Was sich in den Wirtshäusern abspielte, wußte der Pastor nur vom Hörensagen – er selbst war ja zur fraglichen Zeit in der Kirche. Es war kein offenes Aufbegehren, wohl aber der zähe, passive Widerstand der Menschen, gegen den die Kirche auf Dauer nicht ankam. Dem herangewachsenen Hebbel boten sich noch weitere Protestformen. Über seine Beziehung zu Meyn schrieb Emil Kuh: „Hebbel haßte ihn und besuchte an jenen Sonntagen, wenn der heilige Mann predigte, die Kirche, um sich an dem ebenso wunderlichen als geistlosen Vortrage desselben zu ergötzen und ihm dann die Früchte dieser Ergötzung im Dithmarschen [sic!] und Eiderstedter Boten aufzutischen.“1144 Wohlweislich suchte Hebbel ihn auf literarischem Felde zu schlagen. Seine polemischen Einfälle – oder besser Ausfälle – galten dem Epigrammatiker1145 bzw. Dem Sprachkenner M.1146 Umgekehrt verhielten sich die Ortsgeistlichen „ohne Teilnahme“1147 gegen den nicht standesgemäßen Maurerssohn, dem, so Leopold Alberti, auch hier „der Fluch seines armen und geringen Herkommens“ nachging. Doch Hebbels Attacken dienten ohnehin nicht der standesüberschreitenden Kommunikation, sondern der Selbstverständigung. Entlang der mentalitätsgeschichtlichen Bruchkanten entstanden neue Kraftlinien: Aus volkstümlichem Mutterwitz erwuchs satirische Distanz, aus kollektiv geteiltem Widerspruchsgeist individuelle SelbstBehauptung. In Ansätzen deutete sich hier eine Verbindung zwischen traditionalem Bewußtsein und dichterischem Berufensein an – gegen die Allianz von Kirche und Bürgertum. Nur selten, an den höchsten kirchlichen Festtagen, ging vom Gottesdienst eine Feierlichkeit aus, deren sinnlichem Eindruck man sich nicht entziehen konnte. Über den zu Hebbels Zeit in Wesselburen amtierenden Kantor Johann Christian Lau berichtete Heinrich Claussen: „Zur Reformationsfeier 1817 führte er an beiden Festtagen eine Kirchenmusik auf, wozu er den Text sowohl als auch die Musik gefertigt hatte, welche auch von den anderen Kirchen der Herzogtümer verlangt und gekauft wurde und einen ganz besonderen Effekt machte, wie Hauptpastor Meyn berichMEYN, Bericht zur Generalkirchenvisitation an Generalsuperintendent Herzbruch [v. 15.8.1837]. LA S-H, Abt. 19, Nr. 111/1. 1144 KUH, Biographie, Bd 1, S. 97. Vgl. auch: GROTH, Friedrich Hebbels Jugendjahre, S. 130. 1145 Einem Freunde! In: Neue Flocken (1832). DjH II, 110. 1146 DjH II, 108. Vgl. dazu den Kommentar Bornsteins: „Ihm [Meyn] gelten d. 8. Stück der Einfälle u. d. 3. der Neuen Flocken; vgl. Bf. an Gehlsen v. 9. Okt. 1832“ [DjH I, 273]. 1147 DjH I, 227. Vgl. auch GROTH, Friedrich Hebbels Jugendjahre, S. 130. 1143

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tet“.1148 Während Hebbel über das alltägliche grobianische Treiben weitgehend schwieg, widmete er diesem Erlebnis eine ausführliche Schilderung: „In meinem Geburtsort wurden in der Adventszeit und an den hohen Festtagen der Christenheit Kirchen-Musiken aufgeführt; der Stadtmusikus dirigierte sie“ [T 2867]. Hier erlebte Hebbel als Kind offenbar die raren Glücksmomente einer geradezu barock anmutenden synästhetisch-sinnentrunkenen Seligkeit, in die er sich später in Paris „im großen Saal des Conservatoires“ plötzlich „zurückversetzt“ sah: Waldhörner, Hoboen, Posaunen, Pauken ergossen, von den breiten Orgeltönen, die der sehr geschickte Organist in voller Gewalt hervor zu locken verstand, getragen, ihre wunderbaren, fremdartig-feierlichen Klänge durch das dämmernde Oval der Kirche, der Rector, dessen quäkend-piepige Stimme ich damals als eben so zur Sache gehörend betrachtete, wie das Schneidende der Violin-Töne und das Schmelzende der Flöten, sang mit seltsam verzogenem Gesicht eine Arie und die Chorknaben, die ich so lange beneidete, bis ich selbst ihnen beigesellt wurde, schlossen mit einem Choral. Lampen, die mit der Finsterniß zu kämpfen schienen, weil ihre matten Flammen zitterten, verbreiteten ein röthliches Licht, das all den wohlbekannten Gesichtern in meinen Augen etwas Ueberirdisches verlieh [...] jede Bewegung, die sie machten, das Taschentuch, das der Organist zog, die Brille, die der Stadtmusikus aufsetzte, vor Allem aber die Noten-Bücher, wenn sie auf die Pulte gelegt wurden, hatte für mich etwas Religiöses, wenn die Knaben mit einander flüsterten, so war es mir, als ob ich sie vor der Himmelsthür Scherz treiben sähe, sogar über den die Bälge tretenden Schuster mit dem ungeheuren Mund konnte ich nicht mehr lachen, wenn er so ernsthaft um die Ecke sah, und an den über dem Orgelwerk schwebend abgebildeten Engeln verwunderte es mich ordentlich, daß sie ihre Flügel nicht bewegten [T 2867].

Alle Sinnesdaten der räumlichen, farblichen, gegenständlichen und klanglichen Wahrnehmung sind hier dem festlichen Erleben des Göttlichen zugeordnet; die Feier erhält etwas „Ueberirdisches“, als sei dies ein Vorgeschmack auf „das vollkommene, unaufhörliche Genießen, Lieben und Loben […] Gottes in höchster Freude und in der seligen Gemeinschaft aller erlösten und vollendeten Kinder Gottes“,1149 das Luthers Kleiner Katechismus für das Jenseits versprach. Was Hebbel, sei es beim Lesen der Worte „Rose“ oder „Rippe“, sei es beim Betrachten und Bedichten des Teetopfs erlebt hatte, ereignete sich hier in potenzierter Form; „das Wunder der weltlichen Transsubstantiation vollbrachte sich in meinem Gemüth und alle Welten flossen durch einander“ [T 2867]. Die von Erich Neumann beschriebene frühkindliche UroborosSituation erscheint hier ins Poetische übersetzt, die religiöse Erfahrung im Nachhinein säkularisiert: „Wenn ich mich jener Empfindungen jetzt erinnere, so muß ich sagen: ich schwamm im Element der Poesie, wo die Dinge nicht sind, was sie scheinen und nicht scheinen, was sie sind“ [T 2867]. In der Tat wurden die „quäkend-piepige Stimme“ und das „seltsam verzogene Gesicht“ des Rektors, das „Schneidende“ der Geigentöne, die schlechte Beleuchtung, die Scherze der Knaben und andere Störfaktoren – soweit nicht ignoriert – kurzerhand in die andächtige Wahrnehmung integriert. Das „Element der Poesie“ besteht hier offenkundig im seltenen Gefühl des Einklangs unterschiedlicher „Welten“: des religiösen Wollens und Sollens, des Heiligen und des 1148 1149

CLAUSSEN, Die St.-Bartholomäus-Kirche in Wesselburen, S. 44. LUTHER, Kleiner Katechismus, S. 123.

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Profanen, des Göttlichen und des Kreatürlichen, des Geistes und der Materie, der Volks- und der Elitekultur. Dieses Gefühl hielt freilich nicht über den Moment hinaus an – was Hebbels Darstellung hier ausließ, was aber sein Intimus Emil Kuh nicht zu berichten vergaß: Gar abscheulich nüchtern sei ihm hinterher zumute geworden, wenn die Lampen ausgelöscht und die Notenpulte weggesetzt wurden, wenn die Musiker sich zurückzogen, wenn ordinäre verschnupfte Menschen den Orgelraum füllten und sich mit ihrem Gesangbuch blökend dahin stellten, wo kurz zuvor Hörner und Hoboen im Lampenschein geheimnisvoll geblinkt und geklungen hatten, wenn dann der kleine pausbackige Pastor auf die Kanzel stieg und allein das Wort nahm.1150

Hebbels verklärte Augenblicke dürfen darum nicht als Maßstab, sondern nur als die seltene Ausnahme gelten. In fortgeschrittenem Jugendalter nutzte Hebbel die Gottesdienste auf seine Weise zur gesellschaftlichen Profilierung, indem er instinktsicher die zwischen Frömmelei und Handfestigkeit lavierenden Prediger attackierte. Im Dithmarser und Eiderstedter Boten befehdete er sich öffentlich mit dem – 36 Jahre älteren – Ordinger Pastor Detlev Dieckmann, der eine Eloge auf seine Predigt „am Sonntage den 6ten May 1832“ abdrucken ließ. Ein P. C. Dethlefsen, seines Zeichens Schullehrer zu Brösum, gefiel sich dabei in pietistischen Bußübungen: „Tiefer Fall, drückt überall [/] Meinen Geist, der sich verirrte!“1151 Daraufhin eröffnete Hebbel Einem Gefallenen Dichter kaltblütig: Bist Du auch oft schon gefallen, so fielst Du niemals doch tiefer, Allervortrefflichster, als durch Dein letztes Gedicht [DjH II, 99].

Indem Hebbel das religiöse Bekenntnis bewußt einseitig als Literatur auffaßte und die Position eines Rezensenten einnahm, konnte er durch das blasphemische Aufgreifen des „tiefen Falls“ indirekt auch die fromme Innerlichkeit verspotten. Denn der Pastor hatte den Text des Lehrers ausdrücklich deshalb der „Mittheilung werth“1152 befunden, weil er in Dethlefsen „einen so evangelischgesinnten […] und fleißigen Zuhörer“ wie kaum einen besaß. Auf die empörte Replik Dieckmanns gab Hebbel in einer offen grobianischen Fabel Zwei Lästerern zur letzten Antwort: Rann einst mit plumpem Satze Der Esel den Bären an; Worauf denn dieser die Tatze Gleich auszustrecken begann.

KUH, Biographie, Bd 1, S. 44. Königlich privilegirter Dithmarser und Eiderstedter Bote vom 24.5.1832. 1152 Dieses und das folgende Zitat: Ebd. 1150 1151

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Ging der Esel zum nahen Sumpfe, Schlug drein mit den Füßen stark, Daß über weite Strecke Geschleudert wurde der Quark.1153

Möglicherweise hatte Hebbel damit die Mehrheit der schadenfohen Lacher auf seiner Seite. Doch zu den poetischen Ambitionen des Jünglings, der sich doch „lieber selbst in den Augen des ungebildeten Publicums compromittiren [wollte], als das gebildete Publicum zusehen lassen, wie ich den Stall des Augias miste“ [WAB 1, 7], will die Freude an simplem Reim, „plumpem Satze“ und derber Komik nicht recht passen. In einem weiteren Beitrag, Dem Schullehrer P. C. Dethlefsen in Brösum! gewidmet, verglich Hebbel seinen Widersacher offen mit einem verwöhnten und vorlauten „Kind, das lange die Ruthe nicht gefühlt hat“ [DjH II, 98]. War das nicht ein Stück verkehrte Welt? Kaum selbst aus dem Schulalter heraus, machte Hebbel hier einen gottesfürchtigen und reputierlichen Lehrer öffentlich zum Prügelknaben. – Hier interessiert allerdings nicht der moralische, sondern der mentalitätsgeschichtliche Befund: Reserve gegenüber der geistlichen Obrigkeit, ein volkstümlicher, wenn auch bewußt eingesetzter Grobianismus und ein literarischer Impetus gingen in der ersten literarischen Fehde Hebbels eine noch sehr inhomogene Verbindung ein. Zugleich ist die Episode ein – sozialgeschichtlich erstaunlich später – Reflex darauf, „welch unerhörte Neuerung das Aufkommen eines neuen Frömmigkeitstypus auf protestantischem Boden bedeutete und welche Schwierigkeiten ihm erwachsen mußten, ehe er sich durchsetzen konnte.“1154 Daher erklärten die Bildungsschichten überhaupt „ihre neuerworbene ständische Würde zu einer durch und durch ernsten Angelegenheit“.1155 Demgegenüber klingt Hebbels Verhalten an das von Bachtin als „mittelalterlich“1156 apostrophierte Lachen des traditionalen Menschen an, bei dem der „ernsthafte Ton wie eine Maske abgelegt“ wurde und eine „andere Wahrheit zu tönen“ begann: „närrisch, unziemlich, fluchend, parodierend, travestierend.“ Wie Bachtins karnevalistisches Volk vermochte er es, „fromme Anwesenheit bei der Messe mit dem fröhlichen Parodieren des offiziellen Kultes auf dem öffentlichen Platz zu vereinbaren“. Hebbel kam später einmal auf das unfeine Bild vom „Menschen, worin Gottes Odem sitzt, wie in einem aufgeblasenen Darm“ [T 3734] – möglich, daß er bei diesem derben Einfall unflätig und erleichtert losprusten mußte – er, der doch selbst allzu oft eine krampfhaft aufgeblähte Würde zur Schau stellte.

Königlich privilegirter Dithmarser und Eiderstedter Bote vom 21.6.1832; auch in: DjH II, 99. SCHMIDT, Grundriß der Kirchengeschichte, S. 414. 1155 SCHINDLER, Widerspenstige Leute, S. 168. 1156 Dieses und die folgenden Zitate: BACHTIN, Literatur und Karneval, S. 39f. 1153 1154

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Das „düsterbiblische“ Element Mochten die Diener der Kirche unzulänglich, der rituelle Ballast schwer verständlich sein – auch als reiner Text hatte es das Wort Gottes nicht leicht, zu den Herzen der Menschen durchzudringen. Der ‚Freude des Herrn‘ war durch mancherlei „Disteln und Dornen der Zugang versperrt“, die Bibel den Menschen in vieler Hinsicht ein ‚Buch mit sieben Siegeln‘, obwohl sie im täglichen Leben in höchst unterschiedlichen Derivaten allgegenwärtig war. Aus Fibel, Katechismus, Postille und Evangelienbuch drangen biblische Sprüche, Motive und Geschichten in profane Texte und in die mündliche Kommunikation ein. Innerhalb eines breiten Spektrums verschiedener Rezeptions- und Reproduktionsformen stellten hieratische Aura und alltäglicher Umgang einander entgegengesetzte Pole dar. Die semantische wie pragmatische Spannweite der aus der Bibel hervorgegangenen Textsorten war enorm: Im katechetischen Schulunterricht dienten isolierte Bibelstellen der Begründung und Bekräftigung abstrakter sittlicher Normen; auch Predigt und Predigtbuch besaßen unübersehbar rezeptionslenkende Funktionen, während die unkontrollierte, private Bibellektüre einen ungeheuren Reichtum an drastischen und dramatischen Geschichten in verwirrender Buntheit eröffnen konnte. Von der im Elternhaus wohnenden Nachbarin, der alten Frau Ohl, erzählte Hebbel, daß sie „fleißig in der Bibel“ las, und Friedrich wird oft genug – vielleicht täglich – Gelegenheit gefunden haben, ihr Geschichten abzulauschen. Gerade weil es so schwierig war, beim einmaligen, flüchtigen Hören den opaken Sinn zu erhaschen und zu behalten, waren dabei auch Wiederholungen keineswegs langweilig, sondern geeignet, das Interesse noch zu erhöhen. In der Tat wurde Hebbel niemals von diesen „Jugend-Eindrücken wieder befreit“ [WAB 1, 457]. In einem Brief an den Pfarrer Luck erklärte er noch 1861, daß er die Bibel „von Jugend auf halb auswendig“ [WAB 4, 122] wisse. Davon geben Hebbels Briefe, Tagebücher und Werke eindrucksvoll Auskunft. Seine Korrespondenz ist durchwirkt von Zitaten und Zutaten aus der Bibel. Wie plastisch und exotisch wirken „die Scorpionen des Rehabeam“1157 und der „Eselskinnbacken“1158 des Simson, die Posaunen von Jericho1159 und der „babylonische[…] Thurm“1160 auch im säkularisierten Umfeld. In teils naiver, teils ironischer Form bezog Hebbel die Bibel auf die eigene Person: Da saß schon der kleine Schreiber „in meiner Dithm. egyptischen Finsterniß“ [WAB 1, 201], hoffte, es würde sich „ein Weg durch diesen Felsen aufthun“ [WAB 1, 14] und er werde „aufblühen wie Arons Stab“.1161 Denn, „um einen Bibelvers zu parodieren, der Gott der die Lilien kleidet […] und die Sperlinge unter seinem Himmel ernährt […] der wird auch mein nicht vergessen“.1162 Die Spottrufe „Kahlkopf! Kahlkopf!“1163 fürchtend, die einem Elisa von Gilgal galten,

WAB 1, 12. Vgl. 1. Könige 12, 11. T 5087. Vgl. Richter 14, 15–17. 1159 Vgl. WAB 1, 555. 1. Josua 6, 20. 1160 WAB 3,477. Vgl. auch WAB 1, 487. 1161 WAB 1, 34. 4. Mose 17, 8. Vgl. auch W 6, 65. 1162 WAB 1, 109. Überblendung von Matthäus 6, 26 und 28 bzw. Lukas 12, 6 und 12, 27. 1163 WAB 1, 143. Vgl. 2. Könige 2, 23. 1157 1158

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hoffte er doch auf die Verheißung: „Die Letzten sollen die Ersten seyn!“1164 Dabei wollte er es nicht machen „wie Moses, der seinen Aussatz hinter dem Schleier für göttlich-blendenden Glanz gab u seine Krankheit anbeten ließ“ [WAB 1, 182]. Freilich wußte er: „Zum dritten Himmel kommst du wohl nicht leicht“,1165 zumal wenn er schon auf der Erde fürchten mußte, er „werde nicht leichter durchkommen, wie ein Kameel durch ein Nadelohr“ [WAB 1, 82]. Ein Wiedersehen mit Elise Lensing war für ihn „wie das der drei Männer im feurigen Ofen“ [WAB 1, 699]. Mal fühlte sich Hebbel „wie der nächtliche Dieb im Evangelium“ [WAB 1, 381], mal „wie der israelische Hohepriester“ [WAB 1, 40], ein weiteres Mal meinte er, „ich war der finstre Saul und Sie neben mir der milde David“ [WAB 4, 508]. Zu allen Zeiten und für jede Lebenslage bot die Bibel identifikatorische Vorbilder: „Wenn ich Dir gestern noch hätte schreiben können, so würden die Klagelieder Jeremiae um eins vermehrt worden seyn“ [WAB 2, 415], schrieb er einmal seiner Frau, wohl wissend, „Jeremias war darum nicht minder der Prophet des Herrn, weil er Jerusalem nicht retten konnte“ [WAB 3, 791]. Seinem Verleger Campe konnte er hingegen mitteilen: „Es ist doch erfreulich, wenn man im Widerspruch mit dem alten Bibelvers im Vaterlande zu Ehren kommt“1166 – oder mußte die Menschheit sich nur „einmal wieder ein goldenes Kalb machen, vor dem sie sich beugt“ [WAB 1, 152]? Das kleine Potpourri zeigt, daß es weniger um die Wiedergabe kanonischer ‚Losungen‘ und Weisheiten geht, sondern um eigenwillige Adaptionen von oft bildlicher Drastik, um ihre Anwendung auf den eigenen Lebensbereich. Auch Hebbels poetische Texte sind über weite Strecken von religiösen Stoffen, Motiven und Reminiszenzen geprägt. Im Frühwerk fand Johannes Maria Fischer biblische Motive „häufig“1167 und Richard Maria Werner konzedierte immerhin: „Wurden gleich seine religiösen Zweifel früh rege, so verlor doch die Bibel […] niemals den Reiz für ihn, wenn sie vielleicht auch mehr in den Hintergrund rückt.“1168 Schon Emil Kuh hatte eine umfassende christliche Prägung in Hebbels Gesamtwerk ausgemacht: Unter allen Eindrücken nehmen seine religiösen den obersten Rang ein; von den Chorälen angefangen, die der wortkarge Vater mit den Kindern gesungen, bis zu den inneren Erschütterungen, welche von der Kirche und den mit ihr zusammenhängenden Zeremonien ausgegangen, hinauf. Gestalten der Frömmigkeit und des Glaubens schreiten durch die Mehrzahl seiner Dramen: prophetische durch die Judith, beschwichtigende und asketische durch die Nibelungen, weissagende durch die Schlußszene des Herodes; christliche Symbolik erfüllt die Genoveva, ein strenger protestantischer Geist durchdringt das Bürgerhaus in der Maria Magdalena, und den Hintergrund katholischer Hierarchie schließt die Tragödie seines Demetrius auf.1169

WAB 1, 68. Auch WAB 4, 679. Vgl. Markus 9, 35, Markus 10, 31 und Matthäus 19, 36. Einfälle, 4. Einem Trägen [DjH II, 107]. 2. Korinther 12, 2. 1166 WAB 3, 776. Matthäus 13, 57. 1167 FISCHER, Studien zu Hebbels Jugendlyrik, S. 19. 1168 WERNER, Friedrich Hebbel. Ein Lebensbild, S. 148. 1169 KUH, Biographie, Bd 1, S. 129. 1164 1165

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Die Agnes Bernauer fehlt als einziges der großen Dramen in Kuhs Aufzählung. Doch selbst dieser weltliche Stoff ist, nach den Beobachtungen von Martin Smith, von einer durchgängigen „Passionsanalogie“1170 strukturiert. Obwohl die Forschung häufig auf die religiösen Anleihen in Hebbels Werk einging, wurden Fragen nach ihrem Zusammenhang mit Hebbels konkreter Kulturisation kaum gestellt. Dabei mag nicht zuletzt der monolithische Eindruck ‚der‘ christlichen Kultur eine Rolle gespielt haben. Der Gedanke, daß Gottes Wort grundsätzlich in einer verwirrenden Vielstimmigkeit reproduziert worden sein könnte, verbietet sich quasi von selbst – auch wenn Werkanalysen bei Hebbel immer wieder einzelne Beispiele dafür lieferten. Die modernen Interpreten setzen selber allzuoft eine kanonische Bibelrezeption voraus, wie sie Walther Killy in seinem Aufsatz über Die Bibel als Sprache als normativen Anspruch an den Leser reformulierte: „Jeder Text von Rang nämlich stellt an seinen Leser Forderungen. Als erste die der Unterordnung unter das, was geschrieben steht und verstanden sein will, wie es geschrieben steht, nicht aber, wie der Leser es zu verstehen wünscht.“1171 Will man Gottes Wort recht begreifen, dann darf man die Geschichte der Bibel, der Kirche und der Sprache „nicht abstoßen noch leugnen, sondern man muß mit ihr leben“.1172 Der Leser hat dabei „von seinen eigenen Bedingungen abzusehen und muß sich denjenigen des Textes unterwerfen, in die er eintritt.“1173 Erst auf dieser gesicherten Grundlage kann er die Freiheit gewinnen, sich selbst in seiner „Geschichtlichkeit zu finden“. Damit formulierte Killy elitäre Ansprüche an die Rezeption des kulturellen Erbes. Zu solchen Postulaten eines Literarhistorikers stehen die realen Verhältnisse in ländlichen Gegenden rund 150 Jahre zuvor allerdings in krassem Widerspruch. Diese Voraussetzungen anhand der biblischen Bezüge in Hebbels Werk sichtbar zu machen, wäre nur von einer gleichermaßen mentalitätsgeschichtlich wie theologisch fundierten full-length-study zu leisten. Hier sollen immerhin einige Aspekte aufgezeigt werden. Auch wenn es generell „ein weitverbreiteter Usus [war], biblische und überhaupt sakrale Vorstellungen zu säkularisieren“,1174 läßt sich bei Hebbel ein besonders breites und vielgestaltiges biblisches Stoff- und Metaphernarsenal erkennen – vor allem im Vergleich mit dem dürren Stellenkanon, der im Katechismus-Unterricht eingeprägt wurde. Wolfgang Wittkowski unterschied bei Hebbel „alttestamentlich-germanische“ von „neutestamentlich-idealistische[n] Voraussetzungen“,1175 wobei er letztere als „sekundär“ erworbene „Konvention“1176 apostrophierte. Zu Recht sprach er von „der großen Rolle“,1177 die „der Jehovah“ und „die Ethik des Alten Testaments“ in Hebbels Weltsicht spielen. Tatsächlich setzte sich das „christozentrische Prinzip“1178 des modernen Religionsunterrichts erst seit dem frühen 19. Jahrhundert allmählich SMITH, Das Zeitbewußtsein, S. 162. KILLY, Die Bibel als Sprache, S. 88. 1172 Ebd., S. 92. 1173 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 89. 1174 SCHMIDT, Die Geschichte des Genie-Gedankens, Bd 1, S. 268. 1175 WITTKOWSKI, Der junge Hebbel, S. 45. 1176 Ebd., S. 115. 1177 Dieses und die folgenden Zitate: Ebd., S. 44. 1178 JEISMANN/LUNDGREEN, Handbuch der Bildungsgeschichte, S. 136. 1170 1171

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durch. Das projektierte Christus-Drama, von dem Hebbel erstmals 1844 sprach, blieb bis auf wenige 1863 entstandene Ideen und Szenen unausgeführt. Von einem religiös überhöhten Idealismus hingegen zeugen in Hebbels früher Lyrik Begriffe wie „Himmel“, „Unsterblichkeit“, „Paradies“, „Hölle“, „Nacht“, „Finsternis“ oder „Staub“. Schon Arno Scheunert decouvrierte das „Umsichwerfen mit solchen Worten“ als Ausdruck „des Phrasenhaften und Unfertigen“.1179 Daneben aber behaupten sich eine sinnenfrohe Bildlichkeit und derbe Drastik, die tendenziell auf eine traditional (aber nicht auf eine, wie Wittkowski unterstellte, „germanisch“) geprägte Rezeptionspraxis verweisen. Daß sie quasi separat neben einem sekundär erworbenenen „christlichen Idealismus“1180 Bestand hatte, verweist wiederum auf den Hebbel prägenden Epochenumbruch – hier auf religiösem Gebiet. Nicht umsonst deutete Hebbel auf das „düsterbiblische“ Element, das sich auf finstere alttestamentliche Sitten ebenso wie auf eine Dunkelheit des Sinns beziehen ließ. Schon der von ihm erinnerte „erste starke, ja fürchterliche Eindruck aus diesem düstern Buch“ ist symptomatisch. Er „kam mir, lange bevor ich selbst darin zu lesen vermogte“, als die Nachbarin Ohl „aus dem Jeremias die schreckliche Stelle vorlas, worin der zürnende Prophet weissagt, daß zur Zeit der großen Noth die Mütter ihre eigenen Kinder schlachten und sie essen würden. Ich erinnere mich noch, welch ein Grausen diese Stelle mir einflößte, als ich sie hörte“ [W 8, 88]. Der „starke“ Eindruck verdankte sich vordergründig natürlich dem kannibalischen Inhalt – doch strukturell einer Rezeptionssituation, die in jeder Hinsicht von der kirchlichen Autorität unkontrolliert war. Die direkte mündliche – bzw. „semiorale“ – Ansprache durch die vertrauenswürdige Frau Ohl verbürgte den Wirklichkeitsgehalt des Gehörten in der Art, daß der verängstigte Knabe schließlich nicht mehr wußte, ob sich die Prophezeiung „auf die Vergangenheit oder auf die Zukunft, auf Jerusalem oder auf Wesselburen bezog“ [W 8, 88]. Nicht weniger dramatisch malte er sich den „furchtbaren Untergang“ des „riesigen“ Ninive „auf seine kindische Weise“ aus [WAB 4, 91f.]. Dem Seelenheil waren solche Schauergeschichten wohl kaum förderlich – es sei denn als archaische Drohungen eines rächenden Gottes. Den Bedürfnissen der Phantasie kamen sie jedoch allemal entgegen. Manchmal bediente Hebbel sich auch später noch solch naiver Formen der Aneignung, etwa wenn er Charlotte Rousseau wie selbstverständlich mitteilte: „Jonas, der Prophet, hat sich zuletzt an den Wallfisch-Bauch gewöhnt und es sich bequem darin gemacht; wie sollte man sich nicht auch nach und nach an die Welt gewöhnen!“ [WAB 1, 779] Der kanonische Sinn der prophetischen Berufungsgeschichte wurde bei dieser ‚bequemen‘ Interpretation gerade ins Gegenteil verkehrt. Mangelndes theologisches Wissen, aber auch ein bestimmter ‚volkstümlicher‘ Vorstellungshorizont konnten im Umgang mit der Bibel leicht zu Widersprüchen und zu jener „ahnungsvolle[n] Gährung“ [W 8, 104] führen, die schon am Beginn von Hebbels Erfahrungen mit der Bibel und dem zürnenden Jeremias stand. Mit Qualen, so die zusammenfassende Überschrift über einigen kurzen Notizen zur Biographie, war darum das frühe religiöse Empfinden Hebbels verbunden: 1179 1180

SCHEUNERT, Der Pantragismus, S. 9. WITTKOWSKI, Der junge Hebbel, S. 46.

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Das Nichts. Genaue Schilderung. Jener Morgen, wo ich von Heide kam und die Auferstehung sah. „Nun wird es laut in jedem Grabe, Man fragt, wie man geschlafen habe pp Friedrich Barbarossa und seine Heere. „Aber wo ist Raum für sie?“ Das jüngste Gericht: das In ein-Ander-Gewachsenseyn. [W 15, 14]

Die Knappheit dieser Aufstellung sagt nichts über die wirkliche Bedeutung der eschatologischen Fragen, die in der Hebbel-Forschung gleichwohl schon früh gesehen wurde: „Aus solchen Visionen von Auferstehung und Jüngstem Gericht erwuchs z. B. Des Greises Traum“ stellte Paul Bornstein fest;1181 Richard Maria Werner wies darauf hin, daß die grausige Vorstellung der ineinandergewachsenen Körper aus seiner Jugend Hebbel den Kunstgenuß noch an Michelangelos Jüngstem Gericht gründlich verdarb.1182 In den Augen Bornsteins „künden Erwägungen und Zweifel dieser Art den ungewöhnlich frühe[n] grüblerischen Charakter des Knaben“1183 und Emil Kuh kam mit Blick auf die Auferstehungsvision, die in dieser Hinsicht „bedeutsam“ sei, zu dem Ergebnis: „Die dichterische Empfindung brach bei dem Kinde aus der religiösen hervor.“1184 Die Einschätzungen Bornsteins und Kuhs folgen dem bewährten Muster: Hebbels rätselhafte „Qualen“ werden in eine Sphäre des Besonderen, des Genialen und Poetischen entrückt, Kind und Dichter damit aufeinander projiziert und diese ‚Zweieinigkeit‘ der historisch-kritischen Analyse entzogen. Mit zentralen Gedanken des christlichen Weltbilds hatte bereits der junge Friedrich Hebbel massive Probleme: „Alles kann man sich denken, Gott, den Tod, nur nicht das Nichts“, schrieb er einmal im Tagebuch und explizierte, man könne sich „freilich ohne Mühe ein Nichts neben einem Etwas denken, ich meine aber das Nichts überhaupt, das Nichts an die Stelle des Alls, das Nichts ohne Vergangenheit und Zukunft“ [T 1353]. Um zu fragen, was „das Nichts“ ist, bedurfte es keiner philosophischen Vorbildung. Hebbel berichtete, er habe „über diesen Punct gedacht, solange ich denke“ [T 1353]. Nicht modern-nihilistische Spekulation stand dabei im Hintergrund, sondern das christliche Dogma der Schöpfung als einer Creatio ex nihilo. In einem Tiroler Volksschauspiel über die Erschaffung der Welt konnte Gottvater pleonastisch-rhetorisch räsonnieren, „Nuit ist nuit und aus nuit kann nuit weärn“,1185 um sich wenig später zu überzeugen, er habe aber doch etwas zusammengebracht. Dieses Nebeneinander von Nichts und Etwas war Hebbels Problem. Noch 1845 in Italien schwebte es ihm als Der Wirbel des Seins vor und wurde in literarischer Form fixiert: Denke dir einmal das Nichts! Du denkst es dir neben dem Etwas! Aber, da denkst du’s dir nicht! Hier ist der Wirbel des Seins! [W 6, 339]

DjH I, 256. Zu den literarischen Quellen der Erzählung: DjH. II, 230. Vgl. WERNER, Friedrich Hebbel. Ein Lebensbild, S. 273f. 1183 DjH I, 256. Kuh sprach von einem „ursprünglichen[!] Hang zur Grübelei in ihm“ [KUH, Biographie, Bd 1, S. 50f.]. 1184 GROTH/KUH, Der Briefwechsel, S. 66. 1185 REUSCHEL, Das deutsche Volksschauspiel, S. 62. 1181 1182

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Konkreter und bedrängender wird das Problem von Sein oder Nichtsein allerdings, wenn man eines Morgens – vielleicht unter dem Eindruck eines Gesangbuchliedes oder Bibelwortes1186 – auf dem Weg durch die weite Dithmarscher Marschebene die Auferstehung zu sehen meint, ja, sich die Kreuzzugsheere allein eines Barbarossa vorstellt und unwillkürlich fragt: „Wo aber ist Raum für sie“ bzw. für alle Menschengenerationen, die auf der Erde je gelebt haben? Der Gegensatz von Nichts und Masse war im geschauten Raum nicht unterzubringen. In den Augen Emil Kuhs verstrickte sich Hebbel mit derlei Spekulationen in seine widersprüchliche Subjektivität, bei der ihn die Zweifel „um so stärker peinigten, als sie den Phantasieglauben, der sie doch erzeugt hatte, nicht im mindesten erschütterten, vielmehr umarmten und umrankten wie ein Schlinggewächs den unbeugsamen Stamm“.1187 Doch Hebbels handfeste Zweifel an theologischen Versprechungen waren keineswegs so idiosynkratisch, wie man denken könnte. Der italienische Sozialhistoriker Carlo Ginzburg beobachtete und beschrieb ein frappierend ähnliches Denken an dem Müller Domenico Scandella, genannt Menocchio, der in der Zeit um 1600 in Friaul lebte. Seinen Inquisitoren erklärte dieser, lavierend zwischen kanonischer Botschaft und ketzerischem Menschenverstand, Himmel und Hölle: „Ich habe nie das Paradies geleugnet, wohl habe ich gesagt: ‚O Gott, wo kann die Hölle und das Fegefeuer sein?‘ denn es schien mir, daß es unter der Erde voller Erdreich und Wasser sei und dort weder Hölle noch Fegefeuer sein könne, sondern daß das eine und das andere hier auf Erden sei, solange wir leben“.1188 Trotz drohender Bestrafung rang sich Menocchio dann auch im Hinblick auf ein jenseitiges Paradies zu dem häretischen Bekenntnis durch: „Nein, […] ich glaube nicht, daß wir am Tag des Gerichts mit dem Körper auferstehen können, was mir unmöglich scheint, dieweil wenn sie auferstehen würden, würden die Körper den Himmel und die Erde ausfüllen.“1189 Darum mußte ihm die Auferstehung ein Ding der Unmöglichkeit scheinen. Dies entsprach exakt der Haltung Hebbels, als er sich die Wiederbelebung ganzer Heerscharen von Toten räumlich nicht vorstellen konnte. Ginzburg interpretierte diese Gedanken überzeugend als Ausdruck eines „volkstümlichen“ bzw. „gefühlsmäßigen bäuerlichen Materialismus“.1190 Damit aber erscheint auch Hebbels Vorstellung in anderem Licht und rückt aus dem Ruch grüblerischer Subjektivität heraus, in der sich nebulös schon das ‚Genie‘ ankündigen soll. In denselben Kontext gehört – neben den jenseitigen ‚Platzproblemen‘ bei der Auferstehung – die Frage nach dem individuellen Zusammenhalt von Geist und Körper angesichts der biologischen Zerfallsprozesse. Bei Jesus lag nur eine kurze Zeitspanne zwischen Tod, Auferstehung und Himmelfahrt, so daß der Ordinger Pastor Dieckmann „in Rücksicht auf die neologische Paraphrase […], ‚daß sich sein Geist zum Vater erhoben habe’“1191 triumphierend nachfragen konnte: „Wo blieb denn sein „Nun wird es laut …“. Vgl. dazu DjH I, 256. Vgl. auch Daniel 12, 2, Johannes 5, 28f. und Hesekiel 37, 1–10. 1187 KUH, Biographie, Bd 1, S. 51. 1188 Zit. nach GINZBURG, Der Käse und die Würmer, S. 172. 1189 GINZBURG, Der Käse und die Würmer, S. 114. 1190 Ebd., S. 169. 1191 Dieses und das folgende Zitat: DIECKMANN, Dreyfaches Sedezbüchlein, S. 44f. 1186

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Körper ab? […] Und hätten die Zeugen […] auch dem Geiste nachsehen können?? – ! –“. Doch das Privileg der gleichzeitigen Auferstehung von Leib und Seele am dritten Tage blieb Christus allein vorbehalten. Bei den Normal-Sterblichen war durch den physischen Tod „die Trennung der Seele und des Leibes“1192 erfolgt, wie der Kleine Katechismus erklärte. Am jüngsten Tag aber sollte deren Wiedervereinigung in Gestalt der „Auferstehung des Fleisches“ erfolgen. Und damit keine Mißverständnisse aufkommen konnten, wurde bei der Katechese konkret nachgefragt: „Was ist die Auferstehung des Fleisches?“ Die Antwort war eindeutig: „Da aus Gottes Allmacht am jüngsten Tage aller verstorbenen Menschen Leiber auferstehen und mit ihren Seelen wiederum vereinigt werden.“ Genau hier lag jedoch ein Problem, das jeden ‚bäuerlichmaterialistisch‘ Denkenden umtreiben mußte, und schon Domenico Scandella die leibliche Auferstehung „absurd und unhaltbar“1193 finden ließ. Denn was war mit den Körpern, die längst von den Würmern zersetzt worden waren; was war mit den herrenlosen Knochen, die auf dem Wesselburener Marktplatz immer wieder aus der Erde hochkamen, weil Särge „auf Särge getürmt und oft kaum mit Erde bedeckt“1194 worden waren? Erst in den „1870er Jahren wurde der Marktplatz gepflastert, zur Hauptsache, um das Hochkommen von Knochen zu verhindern“.1195 Vielleicht balgten sich die Hunde um sie; die Kinder sammelten sie auf. Auch die „Pferdezähne“ [W 15, 7], die Hebbel einmal erwähnte, bedeuteten möglicherweise einen solchen „unheimlichen Friedhofsfund“1196 [DjH I, 255]. Daran wurde der irreversible Zerfall der materiellen ‚Identität‘ erschreckend deutlich. Dennoch – oder gerade deswegen – besagte der Volksglaube, „daß an den Knochen etwas vom Toten haftet“,1197 ja mehr noch: Vom Körper durfte vor allem deshalb nichts verloren gehen, weil seine Teile im Jenseits zur leiblichen Auferstehung gebraucht wurden. Diese unheimliche Vorstellung war auch in Dithmarschen verbreitet; von ihr redet etwa die Sage über Das goldene Bein: Nach der Beerdigung des Sohnes mitsamt seiner goldenen Beinprothese denkt die Mutter, „dat weer doch Schad um dat golden Been, dat dat so in de Erd beliggen bliwen schull. Se gung hen un hal sik dat Been wedder.“ Aber abends „gung en ganz gresig Spektakeln loos, un nös [nachher] fung dar een an to hulen: Mien Been! Mien Been! Mien Been! Dat duer so de ganze Nacht hendoer mit dat Hulen un Pultern.“1198 Nach drei Tagen „Hulen un Pultern“ endlich fragt man beim unvollkommen verewigten Sohn nach, was ihm fehle: Bei der Auferstehung kann er auf das – obschon künstliche! – Bein offenbar nicht verzichten.

Dieses und die folgenden Zitate: LUTHER, Kleiner Katechismus, S. 121. GINZBURG, Der Käse und die Würmer, S. 114. 1194 CLAUSSEN, Die St.-Bartholomäus-Kirche in Wesselburen, S. 47. 1195 Ebd., S. 48. 1196 DjH I, 255. Bartels meint, daß diese Hebbel „unheimlich waren, obgleich sie von uns Jungen allgemein zum Glätten des Papiers nach Radierungen benutzt wurden“ [BARTELS, Kinderland, S. 432]. 1197 BÄCHTOLD-STÄUBLI, Handwörterbuch, Bd I, Sp. 979. 1198 HUBRICH-MESSOW, Sagen und Märchen aus Dithmarschen, S. 76f., hier S. 76. Schon in MÜLLENHOFF, Sagen. 1192 1193

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In der gleichfalls in Dithmarschen erzählten Sage vom Totenvogel, einer lokalen Variante des Grimmschen Märchens vom Machandelboom, wird einem Knaben von der bösen Mutter ein regelrechter ‚Gar-Aus‘ gemacht: „De Olsch kakt [kocht] den Jung“ und setzt ihn der Familie vor. Aber ihr anderes Kind „will ne tolang’n“, und so kann letztlich alles wieder gut werden: „De Knaken fögt sik weller tosam’n. Weller lebenni“,1199 heißt es lapidar. Kein Wunder, daß Hebbel angesichts derartiger Gruselgeschichten vor dem bloßen Wort „Ribbe“1200 eine abgrundtiefe Scheu besaß. Aus diesem mehr abergläubischen als frommen Denken ergibt sich auch der Sinn einer Handlung, die Hebbel in den Aufzeichnungen aus meiner Kindheit festhielt: „Ich konnte keinen Knochen sehen, und begrub auch den kleinsten, der sich in unserm Gärtchen entdecken ließ“ [W 8, 101]. Friedrichs Verhalten korrespondierte im kleinen mit der kirchlichen Sitte, daß „nach der Verwesung die Gebeine wieder begraben oder sorgfältig in einem Beinhaus gesammelt werden“.1201 So geschah es auch in Wesselburen, wo man auf dem Kirchhof ständig Platz für neue Beerdigungen brauchte und auch „noch nicht völlig verweste Leichen“1202 ins „Beenhus“ schaffte. Das „dumpfe Beinhaus mit dem Gegitterwerk, [/] Dem runden, und dem grauen verschloßnen Thor“ [DjH II, 193] stand an prominenter Stelle im Winkel zwischen Markt und Glockenstraße neben dem Glockenturm. Hebbel setzte ihm 1833 in dem Gedicht Der Kirchhof ein literarisches Denkmal. In der Vorstellung des betrachtenden lyrischen Ichs scheint es „den Sensenmann, den größten [/] Mäher, der nimmer ermüdet, zu bergen“ [DjH II, 193]. Als sich das Tor plötzlich rasselnd und knarrend öffnet, stürzt der Betrachter voller Angst fort – vor dem heraustretenden Küster. Die Ängste waren hier immerhin schon zum schauerromantischen Gefühl des Zwanzigjährigen säkularisiert und lösten sich in einer Heineschen Pointe auf; vergessen waren sie nicht. Doch nicht nur die Knochen, das „Fleisch“ selbst sollte ja auferstehen – eine für Hebbel widerwärtige und beklemmende Vorstellung angesichts des allgemeinen ‚Stoffwechsels‘ als des banalen Prinzips des Lebens: „Ein Wurmklumpen, Einer durch den Anderen sich hindurch fressend; Jeder so lange vergnügt und in roher ExistenzWollust sich wälzend, bis auch er sich an irgend einer Stelle angenagt fühlt; […] zuletzt wird das Leben, […] aus dem einen Cadaver in den zweiten herüber gezerrt“ [WAB 1, 448]. Was Hebbel am Vorabend seines 30. Geburtstages in einem Brief aus Paris an Elise Lensing so eloquent ausformulierte, hatte ihm schon in seiner Jugend als ekelhaftes Konglomerat visionär vor Augen gestanden: „Das jüngste Gericht: das In einAnder-Gewachsenseyn“ [W 15, 14]. Noch in seinem Testament äußerte er den Wunsch, verbrannt zu werden, „denn von Jugend auf habe ich vor dem Wurm geschaudert“.1203 An alte Ängste fühlte er sich auch erinnert, als 1843 er im Pariser Naturhistorischen Museum eine versteinerte „Erd-Schichte“ sah, „worin Knochen und Gewächse, mehr oder minder vermürbt und zerfallen, saßen, unter Anderem Ebd., S. 96f. Vgl. T 2546 und T 280. 1201 BÄCHTOLD-STÄUBLI, Handwörterbuch, Bd I, Sp. 979. 1202 CLAUSSEN, Die St.-Bartholomäus-Kirche in Wesselburen, S. 47. 1203 Zit. nach KUH, Biographie, Bd 2, S. 523. 1199 1200

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Ochsen-Knochen.“ Wieder überkam ihn das „Gefühl, wie in der Kindheit, wo ich das Wort Ribbe in meinem kleinen lutherischen Katechismus (Stelle: Und Er machte ihm ein Weib aus seiner Ribbe) auskratzte und wo mir, wenn ich einen alten Knochen erblickte, zu Muthe war, als sähe ich den Tod selbst“ [T 3012]. Jetzt dachte er dabei an das fortwährende Wechselspiel von Verschlingen und Verschlungenwerden, von Aufbau und Zerfall der belebten Materie: Ja, wenn man so sieht, wie das sich durch einander verschlingt, das Leben und der Tod, wenn man bedenkt, daß auf der ganzen Erde vielleicht kein Stäubchen ist, das nicht schon gelacht und geweint, geblüht und geduftet hätte, so wird Einem trostlos zu Muthe und alle Philosophie schlägt nicht dagegen an, denn leider, was hat der Geist, wenn er Nichts, als sich selbst hat?1204

Damit kehrt die Frage nach dem Verhältnis von Materie und „Nichts“ zurück, die der erwachsene Hebbel dezidiert pessimistisch beantwortet: Das Fleisch löst sich in „Stäubchen“ auf; „die unendliche Theilbarkeit ist die gräßlichste aller Ideen, und eben sie ist der Grund der Welt“ [WAB 1, 448]. Wie aber ist es mit dem Geist bestellt? Der reine Geist, als ein ‚denkbares Nichts‘, das wäre wohl ‚Etwas‘! Allein: „Er muß immer auf’s Neue die Mesalliance eingehen, wenn er es einmal mußte“ – nämlich bei der Schöpfung – „und bei der Unsterblichkeit kommt Nichts heraus, als das Wieder- und Wiederkäuen.“1205 Die theologischen Geheimnisse von Erschaffung und Auferstehung, die Glaubenssätze, daß das Wort Fleisch ward, und das Fleisch nach dem Tod wiedererstehen wird, werden letztlich an den Wahrnehmungen zuschanden, die schon jedes Kind oder jeder ‚bauernschlaue‘ Menocchio machen konnte – und alle elaborierte Philosophie hilft gerade nicht dabei. Aus den frühen Zweifeln nährt sich die spätere Gewißheit: „[U]nsinnig ist dieß Zurückkriechen der Geister in ihre Staubkittel auf jeden Fall schon deswegen, weil die Leiber sich am Ende aller Tage nach tausendfachen Metamorphosen ärger in einander genestelt haben müßten, wie die Beine der Schildbürger“ [T 3428]. Die abergläubisch-magischen Vorstellungen von der Belebtheit der Materie hat der erwachsene Hebbel zwar weitgehend abgestreift. Was aber bleibt, ist genau jener „bäuerliche Materialismus“, der einen Menocchio schlicht behaupten ließ, daß, „wenn der Körper tot ist, die Seele tot ist.“1206 ‚Bäuerlich‘ ist denn auch die überraschende Wendung, mit der Hebbel beschreibt, was am Ende ‚herauskommt‘: ein permanentes „Wieder- und Wiederkäuen“. – „Die Natur ißt, wenn wir sterben“ [T 3583] notierte Hebbel ein andermal ins Tagebuch, um kurz darauf weiter zu assoziieren: „Der Koth ist fast so allgegenwärtig, wie Gott“ [T 3590]. Diese Gedanken sind bis in die Ausdrucksweise burlesk und blasphemisch – zugleich aber die eigentliche Quelle aller religiösen und philosphischen Qualen. Domenico Scandella war mit seinen Gedanken in seinem sozialen Umfeld keineswegs isoliert, wie Carlo Ginzburg in seiner detaillierten Milieustudie herausarbeitete: „Trotz ihrer Eigentümlichkeit dürften die Behauptungen Menocchios den Bauern T 3012. Zu „Geist“, „Staub“ und „Erde“ vgl. Prediger 12, 7. T 3012. Vgl. auch: „und das Ende? – Vielleicht eine Mitgaardsschlange, die sich in den Schwanz beißt und nicht mehr zu käuen, nur wieder zu käuen braucht!“ [WAB 1, 448]. 1206 Zit. nach GINZBURG, Der Käse und die Würmer, S. 169. 1204 1205

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Montereales, ihren Lebensformen, ihren Glaubensformen und ihren Hoffnungen nicht fremd erschienen sein.“1207 Was in Wesselburen zu Beginn des 19. Jahrhunderts an volkstümlichen Welt- und Gottesbildern kursierte, ist mangels Überlieferung nicht einmal zu erahnen. Hebbels Notizen gewähren hier einmal mehr einen erstaunlichen, wenn auch schmalen Einblick in die traditionale Welt. Freilich gibt es in Hebbels früher lyrischer Dichtung parallel dazu auch ganz andere Töne, die von himmlischen Hoffnungen zeugen. Ob in Der erste und der letzte Kuß, der Elegie am Grabe eines Jünglings, ob bei Rosa oder Laura: Immer winkt das „Friedensreich“ [DjH II, 137], das „Paradies“ [DjH II, 133], „des Geistes Seligkeit“ in „Sternenhöhen“ [DjH II, 138]. Hebbels Fragmente besingen – gegen „Erdendunkel“ und „Erdenschmerz“ – „Unsterblichkeit“ und den „freien Geist“ [DjH II, 139]. Als „Pastorenlyrik in Reinkultur“ [DjH II, 244] bei „noch unerschüttert religiösem Fü[h]len“ [DjH II, 249] etikettierte dies Paul Bornstein. Wolfgang Wittkowski sekundierte: „Der christliche Idealismus und die Hoffnung auf Erlösung spielten eine große Rolle für den jungen Hebbel und besonders für den Anfang seines dichterischen Schaffens.“1208 So finden sich beim jungen Hebbel Einflüsse, die eigentlich unvereinbar sind, etwa im Hinblick auf die Auferstehungsproblematik. An die glatte Oberfläche seiner Lyrik drangen solche Widersprüche jedoch nur in subtiler und gefilterter Form. „Nicht zuletzt im neunzehnten Jahrhundert“1209 machten sich „Priester, Prediger und fromme […] Volksschriftsteller“1210 das „Eliminieren alles Verworrenen, Dunklen und Anstößigen“ zur Aufgabe, das auch Hebbels religiöse Erfahrung noch in erheblichem Maß begleitet hatte. Andererseits verfälschte die obrigkeitlichen Lesart oftmals gerade in ihrer Eindeutigkeit den eigentlichen, komplexen Textinhalt. So belegte Peter von Matt exemplarisch an einer Lesebuchversion der Geschichte Absaloms, des Sohnes König Davids, die pädagogischen Manipulationen im Dienste einer unmißverständlich klaren Moral: Während das Bild des vom Vater zum Tode verurteilten und gehenkten Absalom „in der predigenden Popularisierung […] mit dem Gesetz so in Ausgleich kommt, daß es die Regel zu illustrieren hat: ‚Ungehorsam gegen den Vater, den König, den Allerhöchsten zieht schwere Vergeltung nach sich‘, deckt die Beobachtung solchen Ausgleichs im Originaltext ein abgründiges Gegenspiel mehrfacher Ordnungen und Ordnungsverletzungen auf.“1211 Schon Emil Kuh hatte generell auf widersprüchliche religiöse Einflüsse bei Hebbel aufmerksam gemacht: „Wie aber das fromme Lied des evangelischen Sängers den Poeten im Knaben überströmt hatte, so war es gleichfalls die Kirche, welche den Zweifel in ihm befruchtete“.1212 Zwiespältig wirkten auf ihn gerade auch die ‚Vater-SohnGeschichten‘ von Saul und David, David und Absalom. 1840 überlegte Hebbel, diesen „treffliche[n] Dramenstoff […] [i]n Erwägung zu ziehen bei mehr Muße“ [T 1979], und noch 1861 notierte er die Idee zu einer Trilogie König David und sein Haus. Die Grundidee des zweiten Teils bestand gerade in der moralischen Unentschiedenheit des Ebd., S. 166. WTTKOWSKI, Der junge Hebbel, S. 46. 1209 MATT, Verkommene Söhne, S. 24. 1210 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 25. 1211 Ebd., S. 31. 1212 KUH, Biographie, Bd 1, S. 50. 1207 1208

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Vater-Sohn-Konflikts, wie ein einziges Textfragment blitzartig erhellt: „David. ‚Jeder meiner Söhne ein personif: Laster von mir.’“ [T 6179]. Während obrigkeitliche Instanzen ein Deutungsmonopol beanspruchten und um eine kanonisierende Stillstellung des Sinns bemüht waren, kam es im ‚Volk‘ immer wieder zu eigen-sinnigen Adaptionen in mehr oder weniger profanen Verwendungskontexten. Ernst Schlee hat einen aufschlußreichen Vorgang aus Wesselburens Nachbarkirchspiel Lunden untersucht, bei dem es ebenfalls um eine ‚unorthodoxe‘ Behandlung des David-Stoffes ging. Im Dezember 1832 suchten drei Tagelöhner auf Schloß Gottorf um die Erlaubnis an, ein Spiel von David und Goliath „durch Gesang, Reden und Gesten“1213 hausierenderweise aufführen zu dürfen. Die „biblische Szene“, die sie zum besten geben wollten, war weniger der heiligen Schrift verpflichtet, als den Erfordernissen einer volkstümlichen Vortragsweise. Besonders ausagiert wurden wohl die Kampfszenen: „Selbst bei sakralen Spielen verlangte bekanntlich die Freude an Prügeleien solche Einlagen.“1214 Als „echt volkstümlich“ erkannte Schlee die „Formelhaftigkeit“ und die „Wiederholungen stehender Sätze, ebenso aber auch das plötzliche Umschlagen ins Burleske, betont durch das Hinüberwechseln in das Plattdeutsche.“1215 Das Spiel ging auf eine ältere Überlieferung zurück, wie an den „zerspielten“ Stellen des Textes zu erkennen war.1216 Jetzt entspann sich über das Gesuch der drei Männer ein amtlicher Briefwechsel zwischen dem Lundener Kirchspielvogt und dem Heider Landvogt Griebel. Der ‚volksnahe‘ Lundener Beamte war sich zwar bewußt, daß biblische Stücke „bei den mehr gebildeten Teilen des deutschen Publikums durchgehends keinen Beifall“1217 gefunden hätten, ja, man habe es „sehr getadelt, das Heilige in das Gebiet des Lächerlichen hinüberzuziehen“. Doch hielt er diesen Tadel für „unbegründet […], weil es im Wesen des freien Scherzes liegt, auch das Erhabenste in seinen Kreis zu ziehen, wenn der dabei beabsichtigte Zweck, die Belustigung des Zuschauers, erreicht wird“. Der Heider Vorgesetzte fand es hingegen bedenklich, daß der Stoff „durch ‚geeignete Verkleidungen‘ zur Travestie werde“. Die Antragsteller waren in seinen Augen Faulenzer, von denen noch Schlimmeres zu erwarten sei: „Aus einer Komödiantengesellschaft wird bald eine Bande von Malefikanten werden.“ Trotzdem wurden solche Schauspiele in halbprivatem Rahmen, vor den Haustüren oder auf den Bauerndielen weiterhin zum besten gegeben. Karl S. Kramer fand dafür einen Beleg von 1860 aus Nordhastedt;1218 der Schriftsteller Gustav Frenssen hatte als Kind um 1870 eine solche Aufführung in Barlt in Süderdithmarschen erlebt. Er war hinterher noch „wochenlang mit diesem seltsamen Erlebnis, diesem wunderlichen Bild in der halbdunklen Diele, diesen großmächtigen, fremdartigen Worten beschäftigt, wobei ich mich immer wieder in die Stelle des David versetzte, und noch viel raschere, wuchtigere Reden hielt, als jener kleinere der beiden Knaben getan hatte.“1219 Ob Hebbel eine solche Aufführung mit ansah, ist nicht Dieses und das folgende Zitat: SCHLEE, Ein altes Volksschauspiel, S. 38. Ebd., S. 48. 1215 Ebd., S. 45. 1216 Vgl. SCHLEE, Das Volksschauspiel von David und Goliath, S. 42. 1217 Dieses und die folgenden Zitate: SCHLEE, Ein altes Volksschauspiel, S. 38. 1218 Vgl. SCHLEE, Das Volksschauspiel von David und Goliath, S. 44. 1219 FRENSSEN, Grübeleien, S. 204. 1213 1214

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bekannt; die geschilderten Verfremdungseffekte sind jedoch grundsätzlich typisch für das Volkstheater. Den Stoff von David und Goliath hat Hebbel lediglich in einem sechszeiligen Epigramm verarbeitet. Es lautet: Diesen Riesen zu tödten, war leicht für den muthigen Hirten, Welcher, im Schleudern geschickt, sicher versandte den Stein. Schwerer fand er es schon, den Todten des Haupts zu berauben, Doch es gelang ihm zuletzt durch den verdoppelten Streich. Aber dem Letzten erliegt er, er soll es dem König ja bringen Und nun schleppt er sich todt an der gewaltigen Last. [W 6, 451]

Die klassische Form der Distichen und die gehobene Wortwahl überdecken nur oberflächlich einen merkwürdigen stofflichen Befund: Der Hauptakzent liegt nicht auf der geschickten Tötung des übermächtigen Widersachers – dies „war leicht“. Benannt werden vielmehr die unappetitlichen Mühen des Kopf-Abhackens und die Last des Wegschleppens. Die Gewalttat wird zum Dreischritt gesteigert, um plötzlich – ebenso unerwartet wie unbiblisch – auf den vermeintlichen Sieger zurückzufallen, der sich buchstäblich zu Tode schleppt. Wenn man sich das Geschehen szenisch vergegenwärtigt, so wirkt es wie die burleske, übertreibende Extemporation von Laienspielern auf einer Bauernhausdiele – das Spiel ist aus, wenn die Akteure tot sind. Der Komponist Karl Debrois van Bruyck, dem Hebbel dieses Gedicht in einem Brief mitteilte, war denn auch ratlos, was es, obschon „ein süperbes, treffliches Ding“ [WAB 3, 657], bedeuten solle: „Wenn Sie mich jezt frügen, was darin anschaulich gemacht werde […], so würde ich antworten: eine neue Art von Superlativ“ [WAB 3, 657] – ein reichlich gewundene Etikettierung für die derb-geschmacklose Übertreibung in antikisierenden Versen. In jüngerer Zeit versuchte sich Peter von Matt an der Deutung dieser „Absurdität“,1220 die so gar nicht zu Hebbels Glauben passe, „daß die Wahrheit in den philosophischen Systemen wohnt“. In der „versteckten Kultur des Grotesken“, in der die „Bilder selber wuchern“, und speziell in David und Goliath findet Matt ihn „unverhofft modern“, sieht er eine Wahrheit veranschaulicht, „an der das späte zwanzigste Jahrhundert laboriert“ – nur an Hebbels eigene Geschichte kann er den Befund nicht anschließen. Vielleicht ist es kein Zufall, daß das Gedicht in Weimar in einem Moment entstand, wo Hebbel die Stadt unter „Tausenden“ von Orten „am lebhaftesten an Wesselburen“ erinnerte. Da sich „wohl Niemand von den Jugend-Eindrücken wieder befreit“, hatte er den „beklommen-düsterbiblische[n]“ [WAB 1, 457] Stoff lediglich in das neue Gewand der ‚silbernen Klassik‘ zu fassen. Hier wie an anderen Stellen ist es aber immer noch durchwirkt von volkstümlichem Eigen-Sinn. Je kecker dieser sich äußert, um so mehr wird er zugleich formal bemäntelt. In Hebbels Dramenfragment Die Dithmarschen ist es darum ein gewitzigter Narr, der die „düsterbiblische“ Liebesund Mordgeschichte zwischen David, der schönen Bathseba und deren unglücklichem Gatten Uria in prahlerischer Manier umerzählt: „Ich an König Davids Stelle hätte mir aus der Sünde Nichts gemacht. Ich hätte sie dreist dem Himmel zugeschoben und so argumentirt: hätte Gott mich bei Zeiten blind werden lassen, so würden alle Weiber

1220

Dieses und die folgenden Zitate: MATT, Armer Sieger.

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der Welt mich nicht im Psalmendichten gestört haben“ [W 5, 84]. Der Narr verhält sich eigentlich nur ‚bauernschlau‘: Statt sich um die ‚richtige‘ Auslegung des biblischen Textes zu bemühen, legt er ihn sich buchstäblich nach den eigenen ‚Bedürfnissen‘ zurecht. In Hebbels Novelle Die beiden Vagabonden verständigt sich der Wirt „mit einem schlauen Lächeln“ mit einem der Landstreicher über die profanierende und blasphemische Anwendung einer Bibelstelle, wonach gerade „den Einfältigen […] sich der Himmel“ [W 8, 129] offenbare. Caspar Bernauer segnet den die göttliche Staats- und Ständeordnung gefährdenden Ehebund von Agnes und Albrecht unter Berufung auf den Bibelvers: „Sie sollen Vater und Mutter verlassen und an einander hangen!“ [W 3, 174]. Auch in Maria Magdalena gibt es solche Beispiele pragmatischer ‚Aneignung‘. Jesu Aufforderung an die Apostel, „klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben“1221 zu sein, variiert Leonhard zu dem Ratschlag an seine Braut: „Sei Du ohne Falsch, wie die Taube, ich will klug, wie die Schlange sein, dann genügen wir, da Mann und Weib doch nur Eins sind, dem Evangelienspruch vollkommen“ [W 2, 21]. Dem Brautvater Meister Anton sagt er deutlich „meine Meinung“ über die Geschichte von Jakob und Rahel in der Genesis, indem er nicht auf die Liebe Jakobs, sondern auf die Mitgift Rahels abhebt: „Sogar die heiligen Erzväter verschmähten nicht den Mahlschatz ihrer Weiber, Jacob liebte die Rahel und warb sieben Jahre um sie, aber er freute sich auch über die fetten Widder und Schaafe“ [W 2, 27]. Doch nicht nur der sophistische Leonhard, auch die naiveren Figuren legen sich ‚ihre‘ Wahrheit zurecht. Zur Verteidigung seines Alkohlkonsums beruft sich Klaras Bruder Karl auf den Pfarrer, der „sagt, im Wein sitzt der liebe Gott“ [W 2, 64]. Klara selbst wagt es in ihrer Not sogar blasphemisch, Gottes ‚unerforschlichen‘ Ratschluß in Frage zu stellen und sich selbst an seiner Statt zu denken: „Gott im Himmel, ich würde mich erbarmen, wenn ich Du wäre, und Du ich“ [W 2, 50]. Klara ist es auch, die Gott versuchen will, indem sie abwartet, ob nicht ein vom Wind losgerissener Ziegel vom Kirchdach auf sie herabstürzt, um ihrem Leiden ein Ende zu setzen – aber: „Ich hoffte umsonst“. Golo erklimmt aus ähnlichem Motiv den „Schwindelrand“ [W 1, 106] des Burgturms, von dem ein Sturz „unvermeidlich“ [W 1, 108] scheint: „Brech’ ich nicht Hals und Bein […], [/] So leg’ ich’s aus: ich soll ein Schurke sein“ [W 1, 107]. War im Volk einerseits eine stete Bereitschaft für ‚Zeichen und Wunder‘ verbreitet, so andererseits ein handfester Skeptizismus. Nicht anders bei Hebbel: Seine Ideen zu einem Drama über Christus waren weniger durch philosophische Kühnheit als durch ihren ‚gesunden Menschenverstand‘ provokativ. Lag es nicht nahe, daß einer „sich blind stellt, ohne das Ch[ristus] selbst es weiß, und der sich von ihm heilen läßt, um ihm Muth zu machen“ [W 5, 316]? Konnte es nicht sein, daß Christus „im Besitz von Kräften (magnetisch-electrischen)“ war, „die er selbst nicht kennt“, und die ihn darum mit „Ehrfurcht vor sich selbst“ [W 5, 317] erfüllten? Lag Maria Magdalenas Reumut etwa daran, daß sie als zurückgewiesene „Jugendliebe von Christus“ [W 5, 318], versucht hatte, ihn „eifersüchtig“ [W 5, 317] zu machen? Zweifel gegenüber mystischen Glaubensaussagen legte Hebbel seinem Christus sogar selbst in den Mund: „Wie könnt ich Mensch geworden seyn, wenn ich 1221

Matthäus 10, 6.

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jetzt noch fühlte, Gott zu seyn?“ [T 4031] Der frommen Genoveva blieb unbegreiflich, „wie das menschliche Geschlecht [/] Die Sündenschuld […] Durch aller Sünden ungeheuerste [/] Hat tilgen können durch den Mord an Gott“ [W 1, 143] – eine ebenso simple wie unsinnige Sicht, die vom einfachen Prinzip von Schuld und Sühne nicht abrücken und die paradoxe Heilstat Christi nicht annehmen will. Nicht der „Mord“, sondern der Opfertod Christi, nicht „das menschliche Geschlecht“, sondern Gottes Gnade tilgt aus kanonischer Sicht die menschliche Sünde. Sub specie aeternitatis gilt das Erdenleben als eine durch die Ursünde verkehrte Welt. Vom ‚weltlichen‘ Standpunkt aus gesehen ist es hingegen die Religion, welche die Welt auf den Kopf stellt. Als „Religion“ – im Sinne einer theologisch untermauerten, unangefochtenen Heilsgewißheit – bezeichnete Hebbel einmal „das Vermögen, alle Widersprüche nicht aufzuheben, sondern zu verneinen“ [T 1853]. Hebbel läßt diese Widersprüche auch in Glaubensdingen dagegen zu. Mit Recht bemerkte darum Günter E. Salter: „Instead of a progressively clearer and more coherent formulation of Hebbel’s conception of God, we find an oscillation ranging from the good ‚Hausvater‘ to bold abstraction“.1222 Die von Walther Killy formulierten Ansprüche an eine ‚adäquate‘ Rezeption von Gottes Wort hat Hebbel sich keineswegs zu eigen gemacht. Salter schreibt: „Personal experience, individual feeling, emotion, intuition, and perception lead to God, not dogma and tradition of whatever origin. That is why Hebbel so vehemently attacks the Bible and its claim to be the only revelation of God“.1223 Das in Salters Sicht individuelle Bild Gottes und der Bibel speist sich dabei nicht zuletzt aus der Fülle volkskultureller Einflüsse. Die un-‚orthodoxe‘, auf das eigene Leben bezogene Interpretation von Bibelstellen ist oft nicht ein Zeichen intellektueller Libertinage, sondern eines ebenso ‚wilden‘ (Lévi-Strauss) wie ‚realistischen‘ volkstümlichen Denkens. Teils ohne Verständnis, teils ohne Respekt wurde Gottes Wort, das durch Wiederholungslektüre und Auswendiglernen stets verfügbar war, in das eigene Fühlen und Denken eingegliedert. So zahlreich die biblischen Bezüge bei Hebbel sind, so groß ist darum ihre Polyphonie. Der Interpret hat es in diesem Stimmengewirr schwer – der Sinn der Bibel bleibt auch in Hebbels Werken „düster“.

Der Predigtvorleser Wie schon die von Hebbel beschriebene Szene mit Frau Ohl und der Jeremias-Stelle zeigte, besaß die Problematik einer adäquaten Bibelrezeption auch eine mediale Dimension. Nicht jeder konnte selber lesen, geschweige denn, mit der Fülle der Stoffe umgehen. Schon seit der Reformationszeit gab es seitens der kirchlichen Institutionen Versuche, die Unmenge der biblischen Stoffe zu ordnen, zu filtern und in gewünschter Weise zu interpretieren. „Es ist nicht ‚die Bibel‘, was über Jahrhunderte hin die europäische Kultur geprägt und mit Bildern von Glanz und Grauen durchsetzt hat,

1222 1223

SALTER, Friedrich Hebbel’s Conception of God, S. 138. Ebd., S. 141.

Der Predigtvorleser

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sondern es sind jene Teile und Elemente der Bibel, die von den lehrenden und predigenden Instanzen ausgewählt und zu einem anderen Ganzen neu arrangiert wurden“, resümiert Peter von Matt.1224 Weiteste Verbreitung fanden erbauliche Bücher, deren Form von der Zurichtung für die regelmäßige Andacht bestimmt war. Entsprechend berichten relativ wenige Zeugnisse von Bibellektüren; „Predigtsammlungen, Postillen […] sind sicherlich, auch im protestantischen Bereich, beliebter gewesen als das Buch der Bücher“.1225 Auch in Hebbels Elternhaus gab es ein solches Predigtbuch. Eine autobiographische Notiz Hebbels – „Die Festtage und die Postille“ [W 15, 6] – deutet die zugehörige Rezeptionsform an, die eingebunden war in einen feierlichen Rahmen. Der Umgang mit dem Buch „war durch Konventionen geregelt und teilweise ritualisiert“.1226 An Sonn- und Feiertagen wird Vater Hebbel den dicken Band hergenommen und der Familie, so gut er konnte, die Predigt für den Tag daraus vorgelesen haben. Erkennbar ist „eine Situation autoritativ bestimmten Vorlesens“.1227 Aus dem „Konglomerat lebensweltlich vorgegebener Autoritätsstrukturen, Ehrfurcht vor der ‚Schrift‘ […] und dem Gefühl eines Mangels angesichts der oft nicht beherrschten Kulturtechnik des Lesens ergibt sich eine Situation mit asymmetrischer und autoritativer Rollenverteilung.“1228 Rudolf Schenda schrieb: „Das Kanzelwort stieg aus dem Gotteshaus in die profanen Wohnräume, oder: Die vorgelesene Predigt verwandelte die Stube des Plebejers in einen geweihten Ort“.1229 Der offiziöse Kirchenton wurde so bis ins Wohnzimmer übertragen; eine lebendige Erfahrung des Wortes Gottes ist unter diesen Umständen nur schwer denkbar. Trotz der aufmerksamkeitsheischenden Umstände waren die Glaubenswahrheiten nicht einmal kognitiv einigermaßen zu erfassen. Im Gegenteil – die häusliche Postille barg ihre Geheimnisse schon äußerlich wie eine schwere, unzugängliche Schatulle: Zwischen schweren Deckeln, gesichert von metallenen Beschlägen und Schließen, thronte sie im Hause Hebbel für das Kind unerreichbar auf dem Schrank. Die altertümliche Scharteke ließ sich nicht einfach für ein privates Andachtsstündchen hernehmen, wie die neueren, kleinformatigen Bücher des Aufklärungszeitalters. Auf eigenes Erleben geht wohl zurück, was Hebbel seinen Schnock erzählen ließ: „[I]m Hintergrund drohte schon die große, unhöfliche, dick mit Eisen und Messing beschlagene Postille, die mir einmal, als ich noch ein Kind war, fast den Kopf zerschmettert hätte, indem das Ungethüm ungeschlacht vom Schrank herunter plumpte“ [W 8, 189]. Dieses Buch war in keiner Hinsicht benutzerfreundlich, sondern ebenso ‚bedrohlich‘ wie der Herr, vor dem man zitterte. Der Eindruck geheimnisvoller Verschlossenheit blieb jedoch nicht ohne Wirkung. Nicht der ‚Schrift‘, sondern dem „Ungethüm“ als Ganzem schienen besondere Kräfte innezuwohnen. Dieser Gedanke MATT, Verkommene Söhne, S. 24. SCHENDA, Vorlesen, S. 10. 1226 JÄGER, Historische Lese(r)foschung, S. 494. 1227 SCHÖN, Der Verlust der Sinnlichkeit, S. 179. 1228 Ebd., S. 180. 1229 SCHENDA, Vorlesen, S. 8. Vgl. auch Schön: „der Hausvater verstärkte seine Autorität, indem aus seinem Munde die Heilige Schrift oder ein anderes ‚gültiges‘ Buch sprach […] für das Kleinbürgertum […] findet sich diese Rezeptionssituation bis ins 19. Jahrhundert“ [SCHÖN, Der Verlust der Sinnlichkeit, S. 194]. 1224 1225

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entsprang einer „dinglich-magischen Vorstellung von der Heiligkeit“ und dem naiven Glauben, mit dem heiligen Buch „’den Herrn selbst‘ realiter zu besitzen.“1230 Schon darum ließ sich durchaus „[a]n die Bibel glauben, wie an die Algebra, von der man Nichts versteht, und die man doch nicht bestreitet“ [T 1970], wie Hebbel einmal im Tagebuch formulierte. Bibeln, Gesang- oder Erbauungsbücher wurden in SchleswigHolstein noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts auch zu zauberischen Zwecken gebraucht.1231 Neben der Festtagspredigt aus der Postille waren „tägliche Andachten und tägliche Lektüre der Bibel und der Erbauungsliteratur“ eine verbreitete Sitte.1232 Die intensive Lektüre, also die Wiederholungslektüre weniger Bücher, mit denen man lebte und die man vererbte, war geeignet, wenn nicht großes Verständnis, so doch eine „große ‚reproduktive Kraft’“1233 zu entfalten. Auch hier war die semiliterarische Vermittlungsform des Vorlesens vorherrschend, wobei die autoritäre Struktur im Alltagskontext zurücktreten konnte. Neben ihr gab es eine „Tradition des Vorlesens als einer dienenden Rolle“.1234 So mußte auch der kleine Friedrich seiner Mutter „immer aus einem alten Abendsegenbuch den Abendsegen vorlesen“ [T 134]; später wurde ihm obendrein der Predigtvortag aus der Postille anvertraut [W 15, 13]. Das Vorlesen setzte, „so banal das klingen mag, fortgeschrittene Lese- und gar manchesmal auch Sprach-Kenntnisse voraus“,1235 wie Rudolf Schenda betonte. Der Lektor mußte sich vom gesprochenen Platt auf das Schriftdeutsche umstellen und konnte zudem „allzuoft über elaborierte Vokabeln stolpern“. Der „Akt des kontrollierten Text-Dekodierens“ war daher durchaus schwierig, wie aus zeitgenössischen autobiographischen Quellen hervorgeht.1236 Dennoch „genügte der bescheidene Erwerb, den ich bei Susanna davon trug, vollkommen, mir zu Hause ein gewisses Ansehen zu verschaffen“, erinnerte sich Hebbel, „meine Mutter wurde fast zu Thränen gerührt, als ich ihr das erste Mal, ohne zu stottern oder gar zu stocken, bei der Lampe den Abendsegen vorlas, ja sie fühlte sich so davon erbaut, daß sie mir das Lectoramt für immer übertrug, welches ich denn auch geraume Zeit mit vielem Eifer, und nicht ohne Selbstgefühl, versah“ [W 8, 104]. Der Effekt der Rührung bei der Mutter rührte keineswegs vom religösen Inhalt her, wie es bei empfindsamen Zeitgenossen zu erwarten gewesen wäre – sondern von der fehlerfreien Textwiedergabe durch den Sohn. Offenbar hatte es eine Zeit gedauert, bis dies endlich gelang; Antje Hebbel selbst hatte es wahrscheinlich nie so weit gebracht. Paradoxerweise ist dies kein Zeichen weiblicher ‚Schwäche‘: Nur bei oberflächlicher Betrachtung erinnert ihr Verhalten an die Rollenvorgaben im 19. Jahrhundert, welche die Frau auf passives Zuhören und gefühliges Reagieren festlegten. Die Hausmutter Antje Hebbel delegierte stattdessen ein Amt, das für den frisch initiierten kleinen Leser Ehre und Ansporn bedeutete. So wie sie sich seiner Fähigkeiten bediente, diente BÄCHTOLD-STÄUBLI, Handwörterbuch, Bd I, Sp. 1212. Vgl. SANDER, Aberglauben, S. 56–58. 1232 ENGELSING, Die Perioden der Lesergeschichte, S. 126. 1233 JÄGER, Historische Lese(r)forschung, S. 494. 1234 SCHÖN, Der Verlust der Sinnlichkeit, S. 177. 1235 Dieses und die folgenden Zitate: SCHENDA, Vorlesen, S. 6f. 1236 Vgl. ebd., S. 9. 1230 1231

Der Predigtvorleser

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ihm die Aufgabe zur erstmaligen, heimlichen Bestätigung seines „Selbstgefühls“. Doch war diese Beziehung von anderer Art, als es Friedrich Kittler bei dem um 1800 in moderner Form vom „Muttermund“ Alphabetisierten unterstellte: Wen der Muttermund von vornherein mit Sinnwörtern alphabetisiert, der ist immer schon in einer bestimmten Szene, die ihn und Die Frau umfängt. Er muß nur noch lernen, wie die Stimme, die aus Natur geworden ist, auch noch Buch werden kann, ohne daß Anschauung dabei in Buchstaben unterginge. [...] Und wenn um 1800 Unnatur allemal dem Buchstaben zuzuschreiben ist, heißt Dichterwerden, Schriften wieder als Stimmen zu vernehmen.1237

Mit Kittlers Vorstellungen vom „Dichterwerden“ läßt sich die Szene, die Hebbel „und Die Frau umfängt“, gerade nicht verbinden. Denn im Unterschied zu romantischen Dichterjünglingen wie dem Anselmus in Hoffmanns Der goldene Topf vernimmt Friedrich bei der Lektüre eben keine „Stimme, die aus Natur geworden ist“ und die eine „halluzinatorische Audition des Muttermundes“1238 bedeutet. Was Kittler dem „Aufschreibesystem“ der Romantiker um 1800 zuordnet, hat bei dem um mehr als eine Generation jüngeren Dithmarscher nicht stattgefunden – Zeichen einer zurückgebliebenen Kulturisation. Weil Hebbel noch um 1820 in archaischer Weise buchstabiert und das Lesen „an ellenlangen Bibelnamen“1239 gelernt hat, kann er nach Kittler „keine Brücke zwischen Zeichen und Empfindungen“ wissen. Nicht die ‚halluzinierte‘, sondern die ‚reale Gegenwart‘ der Mutter als Bezugspunkt ist darum jetzt für den Knaben wichtig, weil ihre „Initiation“ alles andere als eine Einführung in „Naturpoesie“1240 ist. So pragmatisch die Übertragung des Leseamts war, so nüchtern ging es auch bei dessen Ausübung her. Für die Kinder bedeutete das Vorlesen „oftmals auch einen Zwang: Der spätere Pädagoge Friedrich Paulsen mußte der Mutter sonntags aus August Hermann Franckes Postille eine Predigt vorlesen, und das dauerte meist länger als eine Stunde.“1241 Auch Hebbel berichtete, daß er nur „geraume Zeit“ mit Eifer bei der Sache war, die ihm „für immer“ [W 8, 104] übertragen worden war. Obwohl die Lesefähigkeit der Kinder die der Eltern übertraf, war ihr Verständnis für die Zusammenhänge oft geringer, wie Johannes Maria Fischer auch bei Friedrich Hebbel mutmaßte: „Den Sinn der Worte, die er rezitierte oder sang, erfaßte der Knabe anfangs wohl nur im geringen Maße“.1242 Mitunter heißt es in der Memoirenliteratur, „der zuhörende Erwachsene habe korrigierend eingegriffen – ein Akt unangenehmer Bevormundung, der den Autobiographen offenbar im Gedächtnis haften blieb.“1243 Etwas kryptisch hielt Hebbel selbst eine entsprechende Situation in seinen Notizen zur Biographie fest: „Postille. Koththier. [?] Lachen. Ohrfeige.“ [W 15, 13]. Trotz der spärlichen Angaben läßt sich der Situationszusammenhang rekonstruieren: Beim Vortrag KITTLER, Aufschreibesysteme, S. 101. Ebd., S. 99. 1239 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 101. 1240 Ebd., S. 99. 1241 SCHENDA, Vorlesen S. 8. 1242 FISCHER, Studien zu Hebbels Jugendlyrik, S. 17. 1243 So bei Karl Friedrich von Klöden oder bei Flora Thompson; vgl. SCHENDA, Vorlesen, S. 8. 1237 1238

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aus der Postille las Friedrich fatalerweise offenbar „Koththier“ für „Korinther“ – das despektierliche Lachen wurde von der Mutter sofort handgreiflich bestraft. Ob dies die Andacht beförderte, ist nicht überliefert. So spiegeln sich in diesen frühen Lektüreerfahrungen einmal mehr vor allem die beträchtlichen Zugangsschwierigkeiten zum Buch der Bücher wider. Die vermeintliche Ursprünglichkeit erweist sich als überlagert von komplizierten Prozessen der Vermittlung und der ‚uneigentlichen‘ Aneignung. Doch Lesefehler wie außergewöhnliche Leseleistungen haben als ephemere äußerliche Abweichungen von der Norm keine tiefere Bedeutung: Traditionelle mündliche Kommunikation hat auch etwas vom Geist der Kommunion, sofern sie eine zeremonielle Vergegenwärtigung des gemeinschaftlichen Sinnvorrats inszeniert. […] Dazu gehört die Standardisierung von Themen, die Schaffung überhöhter und schematisierter Figuren (Ong), ikonische Konstanz (Ngal) und die eindeutige Polarisierung von Gut und Böse (Olrik). Solche Stereotypen des Inhalts verweisen auf das Grundmuster gesellschaftlicher Wirklichkeitskonstruktion, wie sie für Gedächtniskulturen kennzeichnend sind. […] Durch […] die Stiftung immer wieder einlösbarer Identifikationsangebote ist das Thema zugleich eindrücklich und unvergeßlich.1244

Zu der halböffentlichen, lauten und ritualisierten Lektüre immer gleicher Texte stand eine modernere Rezeptionsform in Kontrast, die Hebbel in seiner Elementarschulzeit erwarb: die der privaten, stillen Lektüre, die mit einem ‚authentischen‘, empathischen, ja identifikatorischen Erleben einherging: Als ich ein Knabe von 9 oder 10 Jahren war, las ich in einem alten, halb zerrissenen Neuen Testament (ich glaube, die zerrissene Gestalt des Buchs gehörte mit zum Eindruck) zum ersten Mal die Leidens-Geschichte Jesu Christi. Ich wurde aufs Tiefste gerührt, und meine Thränen flossen reichlich. Es gehörte seitdem mit zu meinen verstohlnen Wonnen, diese Lectüre in demselben Buch um dieselbe Stunde (gegen die Abend-Dämmerung) zu wiederholen und der Eindruck blieb lange Zeit jenem ersten gleich. [T 983]

Der desolate Zustand des Mediums tat hier der Rezeption keinen Abbruch, im Gegenteil, die traurige Gestalt des Buches war integraler Bestandteil einer den Leser umfangenden Situation, in der Zeit, Atmosphäre, Medium, Lektüreerlebnis und körperliche Reaktion zusammenwirkten. Die Fähigkeit zur Identifikation mit dem ‚Leidensgenossen‘ Jesus ermöglichte zugleich eine Emanzipation von der extratextuellen Autorität der Mutter. Mit altbackener ‚Erbaulichkeit‘ hatte diese synästhetisch-mystische Erfahrung wenig zu tun. Allerdings erwies sie sich als nicht willkürlich reproduzierbar: Einmal aber bemerkte ich zu meinem Entsetzen, daß mein Gemüth ziemlich ruhig blieb, daß meine Augen sich nicht mit Thränen füllten. Dies drückte mir, wie die größte Sünde, das Herz ab, mir war, als stände meine Verstocktheit wenig unter dem Frevel jenes Kriegsknechts, der des Heilands Seite mit seinem Speer durchstach, daß Wasser und Blut floß, ich wußte mich nicht zu trösten, ich weinte, aber ich weinte über mich selbst. Wie nun aber die gesunde Natur sich immer zu helfen weiß – ich schob meines Herzens Härtigkeit auf die 1244

ASSMANN/ASSMANN, Schrift und Gedächtnis, S. 270f.

Der Predigtvorleser

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Stunde, ich ergab mich der Hoffnung, die alten Gefühle würden in einer andern Stunde schon mit der alten Gewalt sich wieder einstellen, ich war aber – unbewußt – klug genug, keine meiner Stunden wieder auf die Probe zu stellen, ich las die Historie nicht wieder. [T 983]

Im Selbstversuch kam hier die traditionale Praxis der Wiederholungslektüre an eine natürliche Grenze: Dem neuen Anspruch auf vertieftes authentisches Erleben konnte das repetitive Lesen auf Dauer nicht genügen. Dies warf weitere Fragen auf: Konnte ein lebendiger Gott durch die stets gleichen Texte sprechen? Nach dieser Erfahrung brauchte es immer neue Texte, um das religiöse Gefühl immer wieder aufs Neue anzusprechen. Auch diese gab es in dem großen Abendsegenbuch. Der inzwischen dreizehnjährige Hebbel mußte der Mutter, noch immer in Ausübung seines „Lectoramts“, allabendlich den Abendsegen vorlesen, „der gewöhnlich mit einem geistigen Liede schloß“: Da las ich eines Abends das Lied von Paul Gerhard, worin der schöne Vers: „Die goldnen Sternlein prangen Am blauen Himmelssaal“ vorkommt. Dies Lied, vorzüglich aber dieser Vers, ergriff mich gewaltig, ich wiederholte es zum Erstaunen meiner Mutter in tiefster Rührung gewiß 10 Mal. Damals stand der Naturgeist mit seiner Wünschelrute über meiner jugendlichen Seele, die Metall-Adern sprangen und sie erwachte wenigstens aus einem Schlaf. [T 134]

Die äußere Mechanik der Wiederholung wird zum Erstaunen der routinierten Zuhörerin von „tiefster Rührung“ konterkariert. Im Erleben des Sohnes ist allerdings eine weitere Verschiebung eingetreten, der sie nicht mehr zu folgen vermag. Das Lied Paul Gerhards oszilliert bereits zwischen religiösem und poetischem Text. Der wegweisende Charakter des Wortes Gottes erscheint durch die „Wünschelrute“ eines obskuren „Naturgeists“ ersetzt. Der Text Gerhards fährt in melancholischer Gefaßtheit fort, um ein „Bild der Sterblichkeit“ zu geben: „Also werd ich auch stehen, [/] Wenn mich wird heißen gehen [/] Mein Gott aus diesem Jammerthal.“1245 Doch dies beschäftigt den ergriffenen Vorleser schon nicht mehr, so sehr ist er von dem poetischen Eindruck der stillen Pracht der goldenen Sternlein am Nachthimmel gefangen. Indem das dichterische Erleben das religiöse überlagert, erhält der Text zugleich einen neuen Sinn. Mit diesem Erlebnis ließ Hebbel in rückblickender Selbstdeutung ein neues, wenngleich immer schon in ihm angelegtes Stadium seiner Entwicklung beginnen. Noch in den nachgelassenen Notizen zur Biographie wird Gerhards Nun ruhen alle Wälder zweimal, unter den Rubriken „Poetische Stationen“ [W 15, 12] und „Der Poet“ [W 15, 14] erwähnt. Die explizite Würdigung war jedoch schon früh, am Neujahrstag des Jahres 1836, im Tagebuch erfolgt: Bis in mein 14tes Jahr habe ich, obwohl ich Verse machte, keine Ahnung gehabt, daß ich für die Poesie bestimmt seyn könne. Sie stand mir bis dahin als ein Ungeheures vor der Seele, 1245

GERHARDT, Die Gedichte, S. 54.

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und eher würde ich es meinen körperlichen Kräften zugemuthet haben, eine Alp zu erklimmen, als meinen geistigen, mit einem Dichter zu wetteifern, obwohl mich Beides reizte. Ich stand in einem Verhältniß zur Poesie, wie zu meinem Gott, von dem ich wußte, daß ich ihn in mich aufnehmen, aber ihn nicht erreichen könne. [T 134]

Das Verseschmieden hatte mit Poesie ebenso wenig zu tun, wie das Herunterbeten christlicher Texte mit Religion. Das Dichtertum schien ebenso unerreichbar wie Gott. Jetzt aber war die „Stunde“ gekommen, „in welcher ich die Poesie in ihrem eigenthümlichsten Wesen und ihrer tiefsten Bedeutung zum ersten Mal ahnte“ [T 134]. Mit der Lösung des Lesers von der religiösen Vorlage emanzipierte sich auch der Sohn von der Mutter, für die er nun selbst zum Anlaß der Verwunderung wurde. Sie war nicht mehr Adressatin, sondern nur noch Zeugin – einer Offenbarung, die mit ihrem Gott wenig mehr zu tun hatte. Doch was Hebbel hier in die Chiffren des Poetischen und Quasi-Religiösen kleidet, war nicht zuletzt eine mediale Erfahrung. Paul Gerhardts Nun ruhen alle Wälder und Matthias Claudius‘ Abendlied sind Beispiele einer Textsorte, die schon durch ihre Sangbarkeit ‚sinnlich‘ und einprägsam war – das geistliche Lied. Von Hebbels Vater weiß man, daß er „an den langen Winterabenden in der Dämmerung gern Choräle, auch wohl weltliche Lieder sang und es liebte, wenn die Kinder mit einstimmten“.1246 Johannes Maria Fischer nannte diese Lieder gar „die ersten poetischen Erzeugnisse, mit denen der junge Hebbel zusammentraf.“ Er sang sie regelmäßig in den Gottesdiensten, als der Kantor ihn den Wesselburener Chorknaben zuteilte. Sie spiegeln also tendenziell eine mündliche Stufe der Kulturisation wider. Als Hebbel die vielgehörten Lieder als Text förmlich entgegenhallten, so daß er selbst mit einstimmen mußte, erlebte er gewissermaßen eine Auferstehung des lebendigen Worts aus dem toten Buchstaben – im Gegensatz zur Abnutzung des Identifikationseffekts bei der Wiederholungslektüre des Lebens Jesu. Die geglückte Übertragung der Zeichen ins andere Medium wirkte hier auf den Rezipienten, wie die unmittelbare Wahrnehmung von Wirklichkeit in einer unwirklichen Form. In der modernen „Mediengesellschaft“ ist kaum noch vorstellbar, als wie außergewöhnlich Bild, Schrift oder musikalische Kompositionen in einer weitgehend oralen Kultur empfunden werden. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an den verzaubernden Eindruck der Wesselburener Kirchenmusiken auf den Knaben; daran, daß Friedrich in der Klippschule das Wort „Rippe“ aus seinem Katechismus ausmerzte, als wäre es das grausige Objekt selbst; und erinnert sei an die berückende Wirkung von Bildern: Dem Katechismus „in nachdrücklicher Schwärze vorgedruckt“ [W 8, 104] war Luthers „derb-kerniges Gesicht, aus dem der Geist“ förmlich „spricht“, wie Hebbel es ausdrückte.1247 Die volkstümliche Vorstellung, daß Gott im Evangelienbuch ‚materialisiert‘ sei, war hier nur ein besonders krasser Auswuchs. Doch „[ü]ber Nacht“ wußte sich auch Hebbel einmal des „absurdesten aller Träume“ nicht zu erwehren: „Ich träumte nämlich, das 16te Jahrhundert läge neben mir im Bett, in Gestalt eines großen Bilderbuchs, und ich suchte es umsonst zu erwecken. Ich 1246 1247

Dieses und das folgende Zitat: FISCHER, Studien zu Hebbels Jugendlyrik, S. 17. In Kopenhagen erblickte er plötzlich „solche echt-Dänische Gesichter, die mich in frühster Jugend schon aus einer alten Chronik angeschaut haben“ [WAB 1, 431].

Der Predigtvorleser

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sah in dem Bilderbuch allerlei Gestalten jenes Jahrhunderts und weißen Raum dabei auf den Blättern“ [T 1466]. Wahrscheinlich gegen Ende 1833 entstand das Gedicht Des Kindes Weihe, in dem Hebbel das Motiv der abendlich-frommen Lektüre im Rahmen einer häuslichen Mutter-Kind-Szene in einer Weise ausgestaltete, die den neuen medialen Erfahrungen Rechnung trug. So sind in der kommunikativen Situation erhebliche Verschiebungen gegenüber der eigenen Vorlesetätigkeit festzustellen. Die Szenerie ist insofern modernisiert, als die Mutter zu lautloser Lektüre der „innigsten Gebete“ in der Lage ist. Mit dieser Isolierung korrespondiert, daß das noch „kleine Kind“ ohnehin kein berufener Zuhörer zu sein scheint: Die Mutter saß so still am Tisch, Es regnete und wehte; Sie las aus den [sic!] bestäubten Buch Die innigsten Gebete. Und draußen ward’s allmälig still, Der Mond war aufgegangen, Und es war schön, wie aus dem Blau Hervor die Sterne drangen. Das kleine Kind war aber sacht An’s Fensterlein getreten. „Ach, Mutter, Mutter,“ rief es aus, „Ich kann alleine beten!“ [DjH II, 199]

Unter modernen Vorzeichen scheint das Gedicht zunächst eine alte Erfahrung zu bestätigen: Die Lektüre der ‚Schrift‘ stiftet keineswegs von sich aus eine ‚Gemeinschaft der Heiligen‘. Doch dann geschieht ein kleines Wunder, indem das unbeschäftigte Kind ans Fenster tritt: „Der Mond war aufgegangen, [/] Und es war schön, wie aus dem Blau [/] Hervor die Sterne drangen“. Dem im Text eingefangenen Bild sind freilich andere Texte schon voraufgegangen: Louis Brun wies auf die Ähnlichkeit der Strophe mit Matthias Claudius’ Abendlied hin („Der Mond ist aufgegangen“), doch erinnern die „Sterne“, das „Blau“ des Himmels und die Reime auf „-angen“ ebenso an Hebbels Schlüsselstelle aus Paul Gerhardts Nun ruhen alle Wälder. Wie drinnen wird es auch draußen „allmälig still“; Text und Wirklichkeit scheinen zu verschmelzen. Was in Hebbels autobiographischer Szene im Buche stand, wird im Gedicht zur umgebenden Aura; was die Mutter gerade im Buch lesen könnte, erblickt das Kind am Abendhimmel. „Gewiß hatte Hebbel schon oft als Kind staunend zum gestirnten Himmel aufgeblickt, ganz erfüllt von dem Gefühl des Gewaltigen und Erhabenen“,1248 vermutete Johannes Maria Fischer – in der flachen Ebene der Marsch ist der Himmel bekanntlich besonders weit. Doch das Gedicht bedeutet mehr als eine biographische Reminiszenz. In der Fiktion werden alle Mühen der Alphabetisierung ignoriert – sowohl bei der Erwachsenen wie beim Kind. Und unversehens wird die Mutter nun in 1248

FISCHER, Studien zu Hebbels Jugendlyrik, S. 17.

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entgegengesetzter Richtung überholt. Während sie flüssig lesen kann, erlebt das noch nicht alphabetisierte Kind ganz unabhängig von ihr und dem „bestäubten Buch“ ‚Natur-Poesie‘ in Reinkultur. Das poetische Erleben ist auf die Vermittlung durch die Schrift nicht mehr angewiesen. Einmal mehr deutet Hebbel auf die geheime Verbindung zwischen Kind und Dichter, zwischen dem „Eigenen“ und der „Kultur“ – unter Negierung der tatsächlichen Kulturisation und ihrer Instanzen. Mit dieser Re-Naturalisierung geht eine Ontologisierung einher. Denn auch die Verbindung zu Gott wird auf kürzestem Wege hergestellt, indem das Kind ausruft: „Ich kann alleine beten!“ In der selbstbewußten, vielleicht ‚trotzigen‘ Absage an Mutter und Text vereinen sich paradox Emanzipation und ‚Ursprünglichkeit‘. Aus entwicklungspsychologischer Sicht läßt sich mit Erich Neumann sagen: „Der Frühzustand des Beginns projiziert sich mythologisch ins Kosmische […]. Noch ist kein reflektierendes, d. h. selbstbewußtes Ich vorhanden, das etwas auf sich beziehen, d. h. reflektieren könnte. Das Psychische ist nicht nur weltoffen, sondern noch weltidentisch und weltunabgehoben, es erkennt sich als Welt und in der Welt, erfährt sein eigenes Werden als Weltwerden, seine eigenen Bilder als Sternhimmel und seine eigenen Inhalte als weltschaffende Götter“.1249 Das kleine Kind am Fenster erblickt einen ‚lieben Gott‘ noch in der Form, wie auch „der primitivsten Menschheitsstufe religiös ein Ur-Monotheismus zugeordnet“1250 ist: „Aller Wahrscheinlichkeit nach ist es meist der Nachthimmel oder der Taghimmel oder die Vereinigung von beiden mitsamt ihren mannigfachen, Leben vortäuschenden Erscheinungen, infolge deren er als eine Persönlichkeit aufgefaßt wird.“1251 Was später davon bleibt, ist die kosmische ‚Nachtseite‘ der Welt, eine ‚ganz andere‘ Wirklichkeit, die den Realitäten des Tages entgegengesetzt ist. Im Lied der Geister hat sich der eine Gott des Himmels und der Erde in zahllose Gestalten atomisiert: „Wenn die Sterne tanzen am Himmelszelt, [/] Erwacht die schlummernde Geisterwelt“ [DjH II, 162]. Das theologische Weltbild gerät aus den Fugen, die Verhältnisse kommen ins Tanzen und es entsteht Raum für neue Mythen. Nicht das alte Beten, sondern ein neues Deuten ist nun notwendig. Die Gerhardtschen Verse trafen den Knaben „wie ein Zauberspruch“1252 meinte Johannes Maria Fischer. In Hebbels Jugendlyrik stellte er dann eine „deutliche Verwandschaft mit dem geistlichen Liede“ fest, die, wie in dem Gedicht Der Quell [W 7, 16], bis in „die eigentümliche Strophenform, die in der letzten Zeile keine Hebung mehr hat“,1253 hineinwirkt. Doch „erst in Heidelberg gelang es ihm, im Nachtlied, diese [!] Eindrücke nun auch selbst in eine vollendete dichterische Form zu kleiden“.1254 Von der religiösen Gewißheit des kirchlichen Liedguts ist darin freilich nichts mehr zu spüren. Die „Quellende, schwellende Nacht, [/] Voll von Lichtern und Sternen“

NEUMANN, Die große Mutter, S. 18f. Ebd., S. 226. 1251 Konrad Theodor Preuß, Geistige Kultur der Naturvölker, zit. nach NEUMANN, Die große Mutter, S. 226. 1252 Dieses und das folgende Zitat: FISCHER, Studien zu Hebbels Jugendlyrik, S. 18. 1253 Ebd., S. 19. 1254 Ebd., S. 18. 1249 1250

Die ‚Heilige‘ Schrift

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nötigt den jungen Dichter stattdessen zum fragenden Ausruf: „Sage, was ist da erwacht!“ [W 6, 143]. Ist es im Lied der Geister die „schlummernde Geisterwelt“, so hier – das schwingt zumindest im Wort mit – die „Sage“, was „da erwacht“ ist. Der heilige Text, der nur vorgelesen zu werden braucht, wird ersetzt durch ein Genre, das noch geheimnisvoll aber doch schon ‚weltlich‘ ist, und das sich erst noch zu konstituieren hat: „Sage“ lautet der Imperativ, von dem nicht ganz klar ist, ob er noch an ein höheres Wesen oder schon an ein literarisches Ich gerichtet ist.

Die ‚Heilige‘ Schrift zwischen Negierung und Naturalisierung Bis zum Ende der Wesselburener Jugendjahre hatte Hebbels kritische Haltung gegenüber der Bibel einen grundsätzlichen Charakter angenommen. Das „Heft 2“ seines Tagebuches begann er im Juli 1835 in Hamburg mit einer rhetorischen Frage: „Folgt daraus, daß der Teufel umher geht, wie ein brüllender Löwe, daß jeder Löwe ein Teufel sey?“ [T 71] In einem zunächst ganz simplen Sinn lag diese Frage nahe. Denn es ist oftmals Gott, der in der Bibel in seiner Machtfülle oder seinem Strafamt mit dem Löwen verglichen wird.1255 Konkret bezog sich Hebbels Frage jedoch auf den achten Vers im fünften Kapitel des Petrus-Briefs. Natürlich wußte er, daß sein einfacher Umkehrschluß bei diesem Satz nicht statthaft war. Doch der offenkundige seelsorgerische Sinn des Satzes interessierte ihn hier nicht. In gewollter Naivität nahm er eine ‚verkehrte‘ Perspektive ein, die vom Bild, von der körperlichen Vorstellung des Löwen als direktem Anhalt ausging. Hatte man erst einmal das gefährliche Tier vor Augen – was der fromme Vergleich doch beabsichtigte: woran sollte man dann sehen, ob er ein verkappter Teufel war? Hebbel nahm den allegorischen Löwen beim Wort, um mit dem schiefen Vergleich implizit die pädagogisch-manipulative Tendenz der biblischen Warnung bloßzulegen. Diese exemplarische Kritik am Detail markierte nur den Auftakt zu einer programmatischen Abrechnung, zu der Hebbel den Beginn seines neuen Tagebuchs nutzte. Hatte er schon in Wesselburen die Predigten der Ortsgeistlichen polemisch rezensiert, so versuchte er sich nun als Kritiker an der Bibel selbst und insgesamt. Das Notat über den brüllenden Löwen steht im Zusammenhang mit weiteren Äußerungen zwischen dem 16. Juli und dem 1. August 1835, in denen grundsätzliche Zweifel am ‚Wort‘ Gottes zum Durchbruch kamen: „Ich kann mir keinen Gott denken, der spricht“ [T 66], hatte Hebbel schon am Ende des vorigen Hefts niedergeschrieben; jetzt meinte er: „Warum schrieb Christus nicht, wenn er die Evangelien wollte?“ [T 73] Mit diesen einfachen Gedanken stand der Offenbarungscharakter der Heiligen Schrift überhaupt in Frage. Die Antwort legte Hebbel sich selbst zurecht, wobei er paradoxerweise noch von einer „christlichen“ Grundlage aus zu argumentieren suchte: Die Offenbarung Gottes in der Bibel folgt nicht einmal aus christlichen Begriffen. Wenn er sich offenbaren wollte, so hätte er vermöge seiner Liebe, die es ihm nicht erlaubte, die 1255

Vgl. das Stichwort „Löwe“ in: SCHLATTER, Calwer-Bibellexikon, Sp. 830.

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Menschen irre zu führen, und vermöge seiner Allmacht, die es ihm möglich machte, ein Buch liefern müssen, welches über alle Mißdeutung erhaben war und von jedem, wie er selbst, erfaßt werden konnte. So hat er sich z. B. in der Natur ausgesprochen, die von jedem verstanden wird. [T 72]

Im Widerspruch zum normativen „christlichen“ Bild Gottes, das seinem Wort „Liebe“, „Allmacht“ und absolute Wahrheit zuschreibt, äußert Hebbel eine ganz andere ‚Urerfahrung‘ im Umgang mit der Bibel: die der häufigen „Mißdeutung“ durch Laien wie durch die exegetischen Instanzen der Kirche, deren Zeuge er von klein auf gewesen war. Wenn Hebbel jetzt glaubte, die Bibel selbst sei über „Mißdeutung“ nicht „erhaben“, dann stellte er ihre Deutbarkeit überhaupt in Frage. Dann läßt sich aber auch von „Mißdeutung“ nicht sprechen – der Begriff hält mit dem Gedankengang schon nicht mehr Schritt. Seine Erkenntnis sanktionierte theoretisch, was Hebbel in der Praxis längst betrieb: ein zunehmend virtuoses Spiel mit biblischen Stoffen und Zitaten. Auf der Suche nach Wahrheit galt es hingegen, sich vom trügerischen Wort auf die „Natur“ zurückzubesinnen, die als Gottes Schöpfungswerk für sich selbst sprach und „von jedem verstanden wird“, wie Hebbel hier meinte. In dem Gedicht Gott hatte Hebbel diesen Gedanken bereits zur Anschauung gebracht, wo die Wirkung von Blitz und Donner der Lektüre in „des Weltbuchs Blättern“ [DjH II, 175] gleichkam. Bereits der Kirchenvater Augustinus sprach vom „Buch der Schöpfung“ und vom „Buch der Schrift“ – allerdings, um damit die „Einheit von natürlicher und übernatürlicher Offenbarung zu demonstrieren“. In den biblischen Schriften sollten diejenigen lesen, „welche die Buchstaben gelernt haben; in dem Buch der Welt sollte auch der des Lesens und Schreibens Unkundige, der Analphabet lesen“.1256 Ivan Illich schrieb: „Die Natur ist nicht nur wie ein Buch; die Natur selbst ist ein Buch, und das von Menschen gemachte Buch ist ihr Analogon“.1257 Doch aus kirchlicher Sicht war es die Natur, die in der Gefahr stand, mißverständlich zu sein – nicht die Bibel. Der franziskanische Theologe Bonaventura war der Ansicht, „die Heilige Schrift habe das Buch der von Gott geschaffenen Welt wieder lesbar gemacht. Durch den Sündenfall sei nämlich das „Weltbuch“ unleserlich, die Lesefähigkeit des Menschen beschädigt worden. ‚Das Nicht-mehr-lesen-Können im Buch der Schöpfung‘, argumentierte Bonaventura, ‚ist die dauernde Verfaßtheit des Sünders.’“1258 Ihm wurde der Sinn der Welt darum in einem zweiten Buch, der Heiligen Schrift, erneut aufgehellt. Die Theologie ist, so Julia Kristeva, die im Mittelalter „dominierende Sinnstruktur“,1259 deren symbolischer Bezug „auf eine sinnstiftende Transzendenz […] prinzipiell eindeutig und unumstößlich“ ist. Das Christentum könne so als ein „Versuch gesehen werden, Wort und Fleisch, Sprache und Körper, Gesetz und Lust, soziosymbolische Ordnung und Natur miteinander zu versöhnen.“1260

SCHREINER, Maria. Jungfrau, Mutter, Herrscherin, S. 155. ILLICH, Im Weinberg des Textes, S. 132. 1258 SCHREINER, Maria. Jungfrau, Mutter, Herrscherin, S.155. 1259 Dieses und das folgende Zitat: SUCHSLAND, Julia Kristeva zur Einführung, S. 57. 1260 Ebd., S. 143. 1256 1257

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Genau dieser Versuch ist in Hebbels Augen gescheitert, wenn er das ‚Buch der Natur‘ gegen die Schrift ausspielt. In seinem Rückzug auf die ‚einfache‘, unverstellte Natur trifft sich das naive Weltbild eines volkstümlichen Materialismus mit Einflüssen der modernen Naturphilosophie.1261 Entsprechend hatte sich die Theologie gegen solche ‚Aufklärung‘ nach zwei Seiten zugleich zu verteidigen. Dies geschah in populärwissenschaftlichen Schriften liberaler Kirchenvertreter, die sich bemühten, den ‚Naturglauben‘ zu vereinnahmen und zugleich wieder auf den theologischen ‚Begriff‘ zu bringen. Der Potsdamer Superintendent Samuel Christoph Wagener, der dem Kreis um Friedrich Nicolai nahestand, veröffentlichte 1828 ein umfangreiches Buch über Das Leben des Erdballs und aller Welten, das er Allen Erforschern und sinnigen Freunden der Natur widmete. Da sich die Natur „überall so groß und so göttlich“ 1262 zeige, äußerte er Verständnis, „wenn ihre enthusiastischen Freunde und Liebhaber sie zuweilen mit ihrem unerschaffenen Urheber verwechselt haben“. Wagener rückte indes die Natur wieder an die zweite Stelle: „Gott ist der ewige Geist – die ganze ungeheure Natur aber der Körper, durch welchen er wirkt“. In der eingängigen allegorischen Figur vom Weltall als dem Körper Gottes wurde die Natur wieder im Text eingefangen – nicht mehr verklausuliert in Dogmen und auf der Grundlage nur schwer erklärbarer Schöpfungsberichte, sondern als „die menschlichste, die einfachste“ Vorstellung von der Welt. Auch Hebbel spielte am Anfang des zweiten Tagebuch-Hefts gegen den ‚mißdeutbaren‘ Text der Bibel die körperliche Welt der ‚einfachen‘ Natur aus. Anders als Wagener sah er in ihr aber nicht Gott unmittelbar am Werk, sondern eine „Idee“ wirksam. Gott und Welt korrespondieren lediglich auf der Basis einer parallelen ‚Struktur‘, die auch Gott eine physische Dimension zuweist: So ist Gott „Inbegriff aller Kraft, physischer, wie psychischer“,1263 und besitzt „sinnliche Begierden“ [T 77]. Damit ist, was bei Wagener undenkbar wäre, das Prinzip der Dualität in Gott selbst hineingetragen. In der Hebbel-Forschung ist dies schon oft grundsätzlich bemerkt worden. Woher aber rührt diese Zweiheit? Auch hier zeigt sich das Aufbrechen mentalitätshistorischer Widersprüche – zwischen Hochreligion und Volksglauben, zwischen abstraktem und ‚materiellem‘ Denken, zwischen schriftlicher und mündlicher Kultur. „Sinnliche Begierden“ zersetzen im Verein mit theologischer Unbekümmertheit und interpretatorischer Finesse ein theologisches System, das sich davor zu schützen suchte, indem es sich allein auf die Schrift – sola scriptura – berief, und sich einer Rhetorik bediente, die dem schlichten Menschenverstand kaum zugänglich war. Die aufbrechenden weltanschaulichen Probleme setzten in Hebbels zweitem Tagebuchheft die Suche nach neuen Synthesen in Gang. Im göttlichen Schöpfungsprozeß dachte er sich ein „[m]erkwürdiges Zusammentreffen beider Kräfte in höchster Potenz: der Geist selig in Hervorbringung der Ideen, der Körper in Hervorbringung der Körper, denn die Idee ist dem Geist synonym“ [T 77]. Sind aber neben Geist und Idee auch Geist und Körper „synonym“? Zwar konstatierte Hebbel allgemein eine WITTKOWSKI, Der junge Hebbel, S. 111, sieht hier den Einfluß Gotthilf Heinrich Schuberts wirksam. 1262 Dieses und die folgenden Zitate: WAGENER, Das Leben des Erdballs und aller Welten, S. VI. 1263 T 77. Hervorhebungen C. S. 1261

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„[m]erkwürdige Uebereinstimmung der äußeren und inneren Natur“ [T 86]. Doch bezogen auf den Menschen kleidete er diese Aussage in die Gestalt einer eher skeptischen Frage: „Wenn Seele und Leib keinen gemeinsamen Punct hätten, wovon sie ausgehen, wie könnten sie zusammen ausdauern? Anziehungskraft ist doch die allgemeinste Kraft der Welt“ [T 83]. Hier klangen deutliche Zweifel an der Übereinstimmung von Leib und Seele an. Und nicht einmal der Zusammenhang zwischen der „Idee“ der Natur und dem menschlichen „Geist“ schien eindeutig gegeben. War der Mensch tatsächlich die verwirklichte Idee, die sich als Geist ihrer selbst wieder bewußt wird? Das fehlende „absolute Bewußtseyn meiner Unsterblichkeit“ [T 75] weckte Zweifel nicht nur an der Verbindung mit Gott, sondern war womöglich der „Hauptbeweis gegen das Daseyn Gottes“ [T 74]! Andererseits äußerte Hebbel die Überzeugung: „Gedanken sind Körper der Geisterwelt, bestimmte Abgränzungen des geistigen Lichts, die nicht vergehen, da sie übergehen in die Erkenntnis des Menschen“ [T 86]. Doch zu solch kongenialer Erfahrung der ‚übersinnlichen Wirksamkeit‘ schienen nur wenige berufen: „Aus den Wirkungen des Genies auf Gott zu schließen“ [T 81], lautete der Anspruch, den Hebbel selbst einzulösen gedachte. Schon in der Sturm und Drang-Bewegung hatten die jungen Dichter-Genies ihr Tun mit dem des Weltenschöpfers gleichgesetzt – bei Hebbel sollte die Kunst gleichfalls Ideelles anschaulich ‚verwirklichen‘. Seine Vorstellung vom Gedanken als „Körper“ war mehr als ein paradox anmutender Aphorismus; sie war eine fundamentale poetologische Erkenntnis. Nach einer Inkubationszeit von wenigen weiteren Wochen trug er am 24. Oktober 1835 ins Tagebuch ein: „Heute – Nichts zu notiren, viel zu behalten“ [T 108]. Dieses ‚Viele‘ behielt er jedoch keineswegs für sich; schon im übernächsten Eintrag wollte er nichts Geringeres als „meinen Begriff der Kunst aussprechen“ [T 110]. Sein Credo lautete: „[D]ie Kunst soll das Leben in all seinen verschiedenartigen Gestaltungen ergreifen und darstellen. Mit dem bloßen Copiren ist dies natürlich nicht abgethan, das Leben soll bei dem Künstler etwas Anderes, als die Leichenkammer, wo es aufgeputzt und beigesetzt wird, finden“ [T 110]. Aufgeputzte Leichen wollte der junge Dichter verständlicherweise in der Kunst nicht sehen – doch wie lebendig konnte das unwirkliche „Leben“ in der Kunst sein? Weitere zwei Monate später, am 5. Januar 1836 blickte Hebbel erstmals auf seine künstlerische Entwicklung zurück, insbesondere auf den zwei Jahre zurückliegenden „geistigen Wendepunct“, der ihn vom einfachen „Nachleiern Schillers“ zu dem an Uhland gewonnenen „erste[n] Resultat“ führte, „daß der Dichter nicht in die Natur hinein- sondern aus ihr heraus dichten müsse“ [T 136]. Bis dahin hatte sich Hebbel vorwiegend der Produktion rhetorischer Pastorenlyrik und idealistischer Gedankendichtung hingegeben. Durch den fernen Uhland sah er sich plötzlich auf das Naheliegende verwiesen. Hebbel, der die ihn umgebende rohe Volks-Natur verzweifelt hinter sich zu lassen versuchte, nahm sich nach diesem ‚Uhland-Erlebnis‘ vor, Dichtung als zweite „Natur“ aus der ersten „heraus“ zu gestalten. Denn: „Es hilft überall Nichts, von dem Göttlichen und Höchsten zu sprechen, wenn dies auch mit Engelzungen geschieht. Es soll dargestellt werden, d. h. es soll leben. Dies thut es nur dann, wenn es aus der Erde, ihrer Beschränkungen ungeachtet, in markiger, kräftiger Gestalt hervor geht, und sich mit ihr verträgt“ [T 1079]. Die Rückkehr zur Natur bedeutete jedoch nicht die umstandslose Übernahme eines bodenständigen ‚Naturalismus‘. Das

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vom „Göttlichen“ durchwirkte „Leben“, das in „markiger“ Gestalt noch einmal „aus der Erde“ hervorgehen sollte, gehörte als ‚zweites Leben‘ einem über-natürlichen Zwischenreich an – dem der Kunst. Konnte Hebbel sich „keinen Gott denken, der spricht“, so war gerade eine innerweltlich transzendierende Literatur aufs Sprechen, auf ‚den Text‘ verwiesen, um eine Brücke zwischen Geist und Materie schlagen zu können, um „Gedanken“ zu „Körpern der Geisterwelt“ werden zu lassen. „Darstellen ist im Gebiet des Geistes vom Wort abhängig“, war Hebbel sich bewußt. Doch trotz der medialen Beschränkung bedeute es nichts anderes als „nachschaffen, Leben packen und formen“. Daraus schloß er: „Das Wort finden, heißt also die Dinge selbst finden!“ [T 1965] An der ‚Körperlichkeit‘ eines künstlerischen Textes sollte konkret fühlbar werden, was ausgerechnet die pastorale Rhetorik vermissen ließ: Statt das Wort ‚Fleisch‘ werden zu lassen, erging sie sich in fader Allegorik und moralisierenden Vergleichen. Die „markigen“ biblischen Gestalten als zu moralischen Figuren ‚geputzte Leichen‘ – eine grausige Vorstellung für den angehenden Dramatiker. Überhaupt wurde die Allegorik in der Folgezeit immer wieder zur Zielscheibe von Hebbels Kritik: „Eine poetische Idee läßt sich gar nicht allegorisch ausdrücken; Allegorie ist die Ebbe des Verstandes und der Produktionskraft zugleich“ [T 197]; „Allegorie ist Puppenspiel“ [T 261]; Allegorien sind „schwindsüchtige Töchter des Verstandes“ [T 594] – so lauteten Hebbels Urteile, zu denen erst später etwas mildere, relativierende Bewertungen hinzutraten. Indem Hebbel theologische Kritik und poetisches Programm über das Konzept der ‚Naturalisierung‘ in Beziehung setzte, brachte er das frühe Erlebnis mit dem Gerhardtschen Lied – wie schon literarisch – nun auch begrifflich auf den Punkt. Hebbels Vorstellung vom Gedanken als „Körper“, die er einer falschen, maskenhaften Konkretheit entgegensetzte, besitzt nicht nur eine welt-anschauliche Dimension. Sie verweist bereits auf eine Präferenz für das Drama, in dem Gedanken konkret ‚verkörpert‘ werden. Dies hat wiederum eine mediale Implikation: Zwar werden Dramen in der Regel schriftlich konzipiert und in gedruckter Form rezipiert; doch fingieren sie gesprochene Sprache und werden auf der Bühne mündlich realisiert. Die Dramensprache ist doppelbödig: In ihr vereint sich die Distanz des schaffenden „Geistes“ mit der Unmittelbarkeit der sprechenden „Körper“; der ‚tote‘ Buchstabe wird zum ‚Leben‘ erweckt. Als Hebbel am 24. Oktober 1835 „Nichts zu notiren“ hatte, schrieb er dennoch weiter, weil er sich „aussprechen“ mußte. In der ‚Aussprache‘ wird eine Körperlichkeit des Sprechens vorgegeben, die Intimität, Unmittelbarkeit und Wahrheit verbürgen soll. Zugleich äußert sich darin die paradoxe Abkehr vom schriftlichen Medium innerhalb dieses Mediums. Von einer distanziert ‚notierenden‘ Kenntnisnahme als der Voraussetzung von Vergleich und sachlicher Unterscheidung – mithin von einer schriftbasierten ‚gelehrten‘ Kommunikation – grenzte Hebbel sich hier als Dichter spürbar ab. Auf derselben Haltung gründete auch seine Skepsis gegenüber der ‚Heiligen‘ Schrift und ihrer unvermeidlichen „Mißdeutung“. Seine Bestimmung der Kunst, der er förmlich „Leben“ einhauchen wollte, ist dagegen geradezu mystisch. Zahlreich sind seine Aussagen, in denen er auf „die Geheimnisse des Gestaltungs- und Verlebendigungs-Processes“ [WAB 2, 4] der Produktion deutet: „Dichten heißt nicht Leben-Entziffern, sondern Leben-schaffen!“ [T 2265] Bereits Ende 1836 glaubte Hebbel, die bedeutsame „Erfahrung […] über mich selbst

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im letzten Jahr gemacht zu haben, nämlich die, daß es mir durchaus unmöglich ist, etwas zu schreiben, was sich nicht wirklich mit meinem geistigen Leben auf’s Innigste verkettet. […] Die Kunst ist das einzige Medium, wodurch Welt, Leben und Natur Eingang zu mir finden“ [T 548]. Damit werden gleichsam spezielle ‚Sinnesorgane‘ vorausgesetzt, durch die das „Medium“ Kunst „Eingang“ finden kann. Wenig später äußerte Hebbel „die innerste Ueberzeugung, daß nur die Kunst für mich zur Erfassung des Höchsten außer und in mir ein ausreichendes Medium sey, und daß ich, falls sich meine Kräfte für sie als unzulänglich ausweisen würden, mich als einen geistigen Taubstummen betrachten müsse“ [T 575]. Diese ‚existenzielle‘ Bedeutung verlor die Kunst für Hebbel nie. In einem Brief an Alexander Jung schrieb er 1852: „Wäre das dichterische Darstellen nicht der einzige Ausathmungs-Proceß, dessen meine Natur fähig ist; gäbe es für mich ein anderes Mittel, mich der Elemente zu entledigen, die aus Welt und Zeit übermächtig auf mich eindringen: ich hätte diesen Kampf [mit der Stumpfheit des Publicums und der Trivialität der Directionen] längst aufgegeben. Aber mir bleibt keine Wahl“ [WAB 2, 522]. Wenn Hebbels Schriftkritik sich in starkem Maß am geistlichen Wort entzündete, so lehnen sich die schriftmystischen Tendenzen bei ihm an Vorstellungen des Aberglaubens an. Die ‚körperlich‘-magische Rezeption von Sprache und Bildern bewahrt dabei etwas von dem archaischen Staunen über die wunderbar sprechenden Zeichen. Sie kommt einer aus dem Mittelalter geläufigen Wahrnehmung nahe, die dem Buch noch ganz konkret einen „ontologische[n] Status“1264 zuerkannte: „In den Zeilen der Seite begegnen dem Leser, der von Gott erleuchtet ist, Geschöpfe, die dort warten, um Sinn ans Licht zu bringen“,1265 formulierte Ivan Illich, „und das Lesen ist alles andere als ein Akt der Abstraktion, es ist ein Akt der Inkarnation.“ Auch der Dramatiker läßt in seinen Figuren das Wort noch ‚Fleisch‘ werden – doch an die Stelle Gottes setzt sich der schaffende Dichter. Das Wunder der göttlichen Offenbarung verwandelt sich dabei in ein magisch-zauberhaftes ‚Schauspiel‘. Auch der Kommunikationswissenschaftler Michael Giesecke wies in seinen Studien zur Vorgeschichte der Informationsgesellschaft auf „diese magische Funktion der Verschriftlichung von Gedanken für die betreffende soziale Gemeinschaft“ hin, um hinzuzufügen, hier sei eine „etwas andere Vorstellung von ‚Magie‘ erforderlich als man sie bei germanistischen Fachprosaforschern bislang häufig antrifft.“1266 Giesecke ging es „um die psychischen Folgen von Verschriftung von Wissen als solchem für die Zeitgenossen“ und „nicht um die Suche nach ‚abergläubischen‘ Inhalten“. So sinnvoll die analytische Trennung ist – auch diese Inhalte verdienen bei Hebbel eine genauere Betrachtung, der das folgende Kapitel gewidmet ist.

ILLICH, Im Weinberg des Textes, S. 132. Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 131f. 1266 Dieses und das folgende Zitat: GIESECKE, Sinnenwandel – Sprachwandel – Kulturwandel, S. 204f. 1264 1265

4. ABERGLAUBE – MEHR ALS NUR DER ‚FALSCHE GLAUBE‘

Hebbels „metaphysischer Krankheitsstoff“ – die Sicht der Biographen „Wie tief das religiöse Gefühl in dem Kinde saß, aber auch wie einfältig rein und keusch, nicht mit jenem kalten Aberglauben vermengt, den die Kinder geringer Leute nicht selten gleich einer Hausgewohnheit sich angeeignet haben“1267 – dies alles meinte Emil Kuh in Hebbels Gedicht Bubensonntag erkennen zu können. Zu diesem frommen Kinderbild paßten gewisse Attitüden des Jugendlichen allerdings weniger. Auch wenn Emil Kuh es vermied, bei Hebbel offen von Aberglauben zu sprechen, unterließ er es nicht, an „den metaphysischen Krankheitsstoff [zu] erinnern, der die Bildlichkeit seiner Poesie nur zu oft trübt“.1268 Dieses „Überwuchern der Metaphysik“1269 sei sogar „das hervorstechende Merkmal“ Hebbels, meinte Kuh. Allerdings machte er das Phänomen auch etwa bei Kleist aus, um es verallgemeinernd herunterzuspielen: Die ganze Erscheinung dieser metaphysisch umschleierten Dichter hat nichts Auffallendes, wenn wir uns erinnern, daß die Poesie aus der religiösen Wurzel hervorsteigt. Im Jugendalter der Völker ist sie mit mythologischen und allegorischen Bestandteilen so sehr durchsetzt, daß eine vollkommene Scheidung gar nicht möglich wäre. Wenn sie nun allmählich reine, selbstbewußte Kunst und von den Meistern zum Gipfel geführt worden, so kehrt sie auf dem philosophischen Wege, weil der schmale Naturpfad der Religion sich verloren hat, von neuem an den geheimnisvollen Ursprung zurück.1270

Religion, ‚mythologische und allegorische Bestandteile‘, Philosophie, Poesie und Geheimnis vereinigen sich demnach organisch beim „metaphysisch umschleierten Dichter“ – zumindest wenn die Apotheose den „Meister“ auf einen fernen „Gipfel“ entrückt. Ohnehin fand Kuh an Hebbel den Umstand „höchst beachtenswert […], daß hinter den Gedichten seiner Frühlyrik die grobe Wirklichkeit der äußern Erlebnisse unseres Freundes sich tief verborgen hat.“1271 Dennoch sei der Integrationsprozeß dem jungen Hebbel erst unvollkommen gelungen: Neben poetischen Hervorbringungen von formklarer Gestalt in der lyrischen Sphäre gewahren wir Unfertiges und Rohes zur Genüge. Schemen und Schatten bedrängen fortwährend seine Einbildungskraft; er tändelt mit ungeheuerlichen Grillen, mit barocken Themen und spitzfindiger Phantastik. Bald wollte er einen Roman: Der Teufel, der eine Jungfrau als

KUH, Biographie, Bd 1, S. 44. Ebd., S. 298. 1269 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 355. 1270 Ebd., S. 356. 1271 Ebd., S. 112. 1267 1268

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Geliebter umspinnt, schreiben, bald eine Novelle: Der Blutsmann, worin die Gier des Raubtiers, in eine menschliche Phantasie verlegt, dargestellt werden sollte.1272

Auch entging Kuh nicht „Hebbels Verweilen bei den Nachtseiten der menschlichen Natur, sein Hang, die Rinde der Dinge abzukratzen, sein unheimliches Aufdecken der Wurzeln“,1273 ebenso wie „ein geschäftiges Zusammentragen der bitteren, häßlichen Eindrücke, ein emsiges Aufzählen aller Unglücksposten“. Solche Dissonanzen mußten den klassisch-harmonischen Dreiklang des Wahren, Schönen und Guten in der Kunst empfindlich stören. Entsprechend urteilte Kuh über die frühen literarischen Versuche Hebbels; dieser „langte nach dem künstlerisch Guten und ward unversehens zum Häßlichen fortgerissen.“1274 Dies betraf sowohl den „zweifelhaften Humor“ 1275 des blutdürstigen Barbier Zitterlein, „der fortwährend Miene macht, in das Gräßliche umzuschlagen“, als auch die „plastische Ausführlichkeit des Grauenhaften“1276 in dem gespenstischen Nachtgemälde des Holion, dem Kuh immerhin attestierte: „Dies alles ist nicht bloß allegorische Phantastik, wie sie ein junger Mensch ersinnt, dies alles hängt schon mit dem Kerne Hebbels enger zusammen als es den Anschein hat.“ Zwar sah er in den phantastischen Visionen und ängstlichen Stimmungen, im „Vorwalten jener Bangigkeit, die uns beim Anblicke gräßlicher Puppen beschleicht“, ausnahmslos die „Schule Hoffmanns“, namentlich der Elixiere des Teufels wirksam, in denen „ganze Bilderreihen“ vorkämen, welche „den Schilderungen in Hebbels Holion zum Verwechseln ähnlich sind.“ Doch registrierte er bei Hebbel eine ‚selbständige‘ Rezeption in Form eines Mißverstehens, wodurch diesem das Artifizielle bei Hoffmann entgangen sei: Sichtlich nahm unser junger Freund die gespenstige Welt des deutschen Callot ohne weiteres ernsthaft hin, hatte er noch keine Ahnung von der Marionette, welche Hoffmann, einem schlauen Götzenpriester gleich, selber ungläubig dirigiert. Hebbels von Grund aus pathetischer Geist setzte die Humoristik des Schauerlichen, die ihm aus Hoffmanns Schriften entgegentrat, in die Wahrhaftigkeit des Furchtbaren um; was allerdings schon in Anbetracht seiner Jugend begreiflich ist, denn mit dem Gräßlichen spielen kann nur das reife Alter.

Daß es sich hierbei nicht allein um ein passives „Hinnehmen“ aufgrund von Hebbels „pathetischer“ Veranlagung handelte, daß es vielmehr in Hebbel selbst „ernsthaft“ etwas gab, was der „gespenstigen Welt“ Hoffmanns voraufging und antwortete, paßte Hebbels jüngerem Freund und Biographen gar nicht ins Konzept. Was er der „Jugend“ Hebbels noch ‚verzeihen‘ konnte, bemängelte er schon an der Genoveva mit deutlichen Worten: „Gegen die diabolische Verwandlung Golos gehalten, kommt die volkstümlich mittelalterlich kolorierte Hexe Margarete mit ihrer Teufelskralle nicht auf. Nur in der finstern Visionszene zu Straßburg sprühen dämonische Lichter, wiewohl hier die an Hebbel hervortretende Sucht [!], in das Sagenhafte hinein zu erfinden Ebd., S. 146. Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 121. 1274 Ebd., S. 147. 1275 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 166. 1276 Dieses und die folgenden Zitate: Ebd., S. 95f. 1272 1273

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und das von der Volksphantasie Geprägte zu überprägen, nicht eben angenehm auffällt.“1277 Wiewohl Kuh durchaus die metaphysischen Irritationen Hebbels erahnte, maß er hier nach eigener – rein ästhetischer – Elle. Die Auswirkungen einer solchen Haltung skizzierte schon Arno Scheunert, der insbesondere gegenüber den frühen Werken „eine besondere, eine Betrachtungsweise sub specie aeternitatis“1278 geboten sah: „Wer diese Produkte zum ersten Male durchliest, ohne sich über ihre tiefere Bedeutung klar zu sein, der wird in ihnen kaum mehr finden, als Wucherungen eines unreifen Geistes, die, schülerhaft und kindisch, nur in der Jugend des Verfassers ihre Entschuldigung finden.“ Scheunerts Mahnung fand wenig Gehör; das Urteil späterer Biographen zu Hebbels Jugendwerken fiel erwartbar schroff aus: Während Richard Maria Werner zwar die „schwächliche Zeit“ und „ihre Kritiker“ ablehnte, die behauptet hatten, daß Hebbels Gestalten und Situationen „vielfach etwas Ungeheuerliches und Unnatürliches an sich tragen,“1279 kritisierte er seinerseits an Holion „die verblasene Phantastik der Vorstellungen“, die bei Hebbel „doch kaum mehr als literarische Tradition, nicht Lebensresultat“ sei.1280 Die Novelle Eine Nacht im Jägerhause nannte Karl Strecker „eine sehr belanglose Spukgeschichte ohne Spuk, zu der vermutlich ein Erlebnis gelegentlich einer Fußwanderung mit Rendtorff den Anstoß gegeben hat.“1281 „Keineswegs bedeutend“ und fast ohne jede „Spur von Eigenart“ waren für Strecker pauschal „des Dichters erste Versuche aus der Zeit 1829/33“, 1282 die „vielen Gedichte, die im Dithmarser und Eiderstedter Boten erschienen“1283 und die „von seinem geistigen und künstlerischen Eigenwuchs […] noch so wenig“ sagen. Rezensiert wird hier im Grunde die Biographie, die sich gleichfalls noch als wenig ‚eigenwüchsig‘ und im Grunde belanglos darstellt. Ernster nahm sie hingegen Heinrich Wicht. Über Das Unheimliche in der Lebensauffassung Storms und Hebbels schrieb er 1921, beide Dichter hätten die „Neigung für das Unheimliche schon als ureigene Veranlagung mitgebracht. Sie wird ein wesentliches Element ihrer Dichtungen und bestimmt ihre ganze Lebensauffassung“, und zwar auch noch jeweils die „des Mannes“.1284 Auch Heinz Stolte betonte in seinem Aufsatz Zur lyrischen Biographie Friedrich Hebbels im Hebbel-Jahrbuch 1961 solche lebensgeschichtlichen Prägungen. Als das „erste, das Ur-Gefühl seines erwachenden Bewußtseins“ sah Stolte bei Hebbel eine „Angst […] aus den Tiefen seines Wesens“, die „kein bloßes Sich-Fürchten ist, sondern sich über jeden faßlichen Anlaß hinweg geradezu am Kosmos überhaupt entzündet, dem Numinosen, antwortend, zugleich primitiv und ohne Vernunft wie auch über alle Vernunft hinaus“.1285 Diese Angst war das Einfallstor für abergläubische und phantasEbd., S. 378. Dieses und das folgende Zitat: SCHEUNERT, Der Pantragismus, S. 255. 1279 WERNER, Friedrich Hebbel. Ein Lebensbild, S. 17. 1280 Ebd., S. 51. 1281 STRECKER, Friedrich Hebbel, S. 147. Ottto Rendtorff war ein Schul- und Studienfreund Hebbels. 1282 Ebd., S. 63. 1283 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 64. 1284 WICHT, Das Unheimliche in der Lebensauffassung Storms und Hebbels, S. 1. 1285 STOLTE, Ahne das Wunder der Form, S. 13. 1277 1278

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tische Vorstellungen, die dem Knaben in vielerlei Form vermittelt wurden und denen „eine immer wache Bildkraft, überreizte Phantasie“ antwortete, die sein „Angstgefühl in schneidend scharfen Formen verkörpert und der Seele wahrhaft objektiv macht“.1286 Darin erkannte Stolte bereits erste „schöpferische Strukturen des geistigen Menschen“, die später literarisch überformt worden seien: Man halte auch alle Voraussetzungen zusammen, aus denen diese frühe Lyrik aufsteigt: die Schauerromantik primitiver Gemeinschaft mit Hexengeschichten und Gespensterspuk, die numinose Angst des Oppositiven, seine frühe Katastrophenwitterung, das autodidaktisch zufällige Aneignen spärlicher literarischer Bildung –, so erweist sich wohl, warum sein Schaffen zuerst in solcher Nacht-, Kirchhofs- und Schreckensballadik beginnen mußte.1287

Doch die von Stolte veranstaltete Revue einiger biographischer ‚Urszenen‘ vermag nur anzudeuten, was den jungen Hebbel umtrieb. Stoltes Rede von einer ‚dem Numinosen antwortenden Angst‘ bleibt ebenso unbestimmt wie die vom „Unheimlichen“ bei Wicht oder vom „metaphysischen Krankheitsstoff“ bei Kuh. Erst der vergleichende Blick auf konkrete Aspekte des traditionalen Aberglaubens, ermöglicht einen deskriptiven wie analytischen Zugriff auf die Phänomene des Phantastischen. Die Biographik übte sich diesbezüglich in großer Zurückhaltung – höchst ungern sah man Hebbel in einem derartigen Zwielicht. Darum ist es notwendig, abergläubische Motivkomplexe bei Hebbel überhaupt erst zu erschließen und zu benennen. Dabei geht es nicht darum, ihm eine mehr oder weniger starke abergläubische Naivität nachzuweisen. Viel interessanter und für den Dichter relevant ist die Frage, ob und wie welche Vorstellungen des Volks- und Aberglaubens offen oder unterschwellig in seinen Texten weiterwirkten und möglicherweise eine spezifische poetische Produktivität entfalteten.

Aberglaube als Volksglaube in Dithmarschen um 1800 Neben der ‚offiziellen‘ Religion, die zur volkstümlichen Mentalität in Spannung stand und keineswegs allen spirituellen Bedürfnissen der Menschen gerecht wurde, war der Aberglaube, der ‚Gegenglaube‘, weit verbreitet und tief verwurzelt. Der Volkskundler könne „eine ‚Bezauberung‘ der Welt feststellen, die im Kleinbürgertum jener Zeit viel weiter ging, als man angesichts der Geistesgeschichte der Oberschichten gemeinhin annimmt“, schrieb Helmut Möller. In seiner sozialhistorischen Untersuchung des deutschen Kleinbürgertums im 18. Jahrhundert kam er zu dem Ergebnis, daß der Aberglaube bei einem großen Teil der Bevölkerung „normaler Bestandteil“1288 der Denk- und Glaubenswelt sei und „eine reich differenzierte Wirklichkeit“1289 darstelle. Arbeiten speziell über den schleswig-holsteinischen Raum ergaben Ähnliches. Karl S. Kramer schrieb über das Volksleben in Holstein bis 1800: „Nicht Gebet und Andacht Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 14. Ebd., S. 17f. 1288 MÖLLER, Die kleinbürgerliche Familie, S. 230. 1289 Ebd., S. 241. 1286 1287

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dominieren offenbar bei den Gläubigen in kritischen Situationen, sondern die Zufluchtnahme zu supranormalen Kräften und Ritualen, die in den Bereich des Volksund Aberglaubens gehörten.“1290 Dabei schien die „Glaubensenergie“ gerade „auf diesem Gebiet besonders stark zu sein.“. Der Gardinger, später Wesselburener Pastor Friedrich Carl Volckmar stellte in den schleswig-holsteinischen Provizialberichten von 1799 die Frage: Woher die Kreuze, die man so oft in der 1. Mainacht vor den Hausthüren verzeichnet findet? woher das Kräutersuchen und Aufhängen derselben in der Johannisnacht? woher die Mummereien am Neujahrs- und heilig Dreikönigeabend? usw. Ich wage es frei zu behaupten, daß in beiden Herzogtümern gewis auch nicht ein einziges Kirchspiel existiren [sic!], in dem nicht wenigstens Ein Mensch auf diese Art [als zauberkundig] gefürchtet und gerühmt würde.1291

Das „Supranormale“ war zugleich etwas ganz Alltägliches, wie Kirsten Sander gleichfalls anhand schleswig-holsteinischer Quellen bestätigte: „Man rechnete jederzeit mit Schadenzauber und beobachtete das Verhalten der Nachbarn daraufhin mißtrauisch.“1292 Umgekehrt versprach man sich von magischen Praktiken auch ganz praktische Lebens-Hilfe: „Abwehrzauber, Böten [= Besprechen von Krankheiten] und Praktiken, mit deren Hilfe man verborgene Dinge zu entdecken suchte, schienen wie alte Hausmittel, zum Teil wie Medizin angewandt worden zu sein.“ Wenn in „archaischen Gesellschaften nichts – auch nicht das Alltägliche – ohne den Rückgriff auf das Religiöse erklärbar“1293 ist, so läßt sich diese Feststellung getrost auf den Bereich des Aberglaubens übertragen. Sander bezeichnete ihn daher als „’Universalkonstante‘ menschlichen Denkens und Handelns“1294 bzw. schlichter als „eine kulturelle Äußerung – vor allem auch der ‚einfachen Leute’“.1295 Der Zeitzeuge Volckmar sah den Aberglauben hingegen in allen Volksschichten verbreitet: „Man sehe doch, in wie vielen sonst guten Häusern noch immer Adler- und Krebssteine, Hechtkiefer und Lebern, Elendsklauen, Lamsknochen etc. als köstliche Amulette zu finden sind, und schließe dann aus dem, was noch in guten Häusern angetroffen wird, auf den Vorrath der gemeinen Volksklasse.“1296 Daß solche Dinge sogar in den besten Häusern anzutreffen waren, belegt das Beispiel Jakob Graverts, des Vetters und Kutschers des Kirchspielvogts Mohr: Der Schwerhörige trug Ohrringe, „denn nach allgemeinem Aberglauben sollte das gegen sein Leiden helfen.“1297 Gerade in Dithmarschen, meinte Volckmar, „wo man sich selbst in guter Gesellschaft Visionen und Anzeigen erzähle“1298, sei der Aberglaube besonders virulent: „Nirgendwo werde in den Mainächten so viel Unfug getrieben, um die ausfahrenden Dieses und die folgenden Zitate: KRAMER, Volksleben in Holstein, S. 260. Zit. nach SIEVERS, Volkskultur und Aufklärung, S. 133. 1292 Dieses und das folgende Zitat: SANDER, Aberglauben, S. 82. 1293 SOEFFNER, „Typus und Individualität“ oder „Typen der Individualität“?, S. 36. 1294 SANDER, Aberglauben, S. 10. 1295 Ebd., S.13. 1296 Zit. nach SIEVERS, Volkskultur und Aufklärung, S. 133. 1297 BIEBAU, Der Kirchspielvogt Mohr, S. 172. 1298 Dieses und das folgende Zitat: Paraphrasierung Volckmars durch SIEVERS, Volkskultur und Aufklärung, S. 133f. 1290 1291

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Hexen zu belauschen und ihre Zusammenkünfte zu stören, wie hier.“ Um Zauberei geht es auch in Hebbels Erzählung Die beiden Vagabonden. Zwar hat er das Geschehen in eine ferne Vergangenheit verlegt, doch erinnert das Kolorit deutlich an das zeitgenössische Dithmarschen; in den beiden Hauptfiguren lassen sich sogar Hebbel selbst und sein Freund Barbeck erkennen. Hier werden „gewisse Kräuter und Moose“ [W 8, 122] benötigt, „chaldäische Worte“ gelernt, „die keine sterbliche Zunge nach Sonnenuntergang aussprechen darf“ [W 8, 125] und die „wunderbaren Recepte“ [W 8, 123] abgeschrieben, durch die man „Kenntniß der vier Erden [erhält], die sich in der heiligen Nacht bei einer durch die Knochen eines unschuldigen Lammes genährten Flamme begatten müssen“ [W 8, 123]. Quelle dieses Wissens ist ein in einem Kästchen eingeschlossenes „altes Buch“, das die Anleitung enthält, „auf nächstem Wege den Stein der Weisen zu gewinnen“ [W 8, 122]. Solche Bücher gab es auch in Wesselburen. Zwar sind Kuhs Angaben über „Kräuterbücher“ und „chemisch-mystischalchemistische Schriften“1299 in der Mohrschen Bibliothek vollkommen spekulativ, jedoch hütet das Hebbel-Museum eine dickleibige Scharteke aus dem Bestand des Hauptpastors Meyn: Es ist das von Caesar Longinus herausgegebene Trinum magicum Sive Secretorum Magicorum Opus in einer frühen, bei Anton Hummius in Frankfurt 1616 erschienenen Ausgabe1300, das unter anderem die mystera mysticae philosophiae […] Chaldaeorum offenbarte. Auch die kirchlichen Institutionen ignorierten den Aberglauben also keineswegs. Schon im Katechismusunterricht wurden die Schüler mit Zauberei konfrontiert. Um genau zu wissen, wovor man sich zu hüten hatte, erfuhr man dort, wie diese funktionierte: „Durch allerlei Aberglauben mit Besprechen und Wahrsagen, Zeichendeuten, Geisterbannen und dergleichen, da man das Heilige mißbraucht und die hochgelobte Dreieinigkeit, Gottes Wort, Sakrament und Kreuz lästert oder sonst vorwitzige Kunst treibt.“1301 Doch in der Warnung vor dem Mißbrauch des Heiligen deutet sich zugleich an, daß eine „klare Trennung […] zwischen Magie und Religion schwierig ist“.1302 So muß denn auch „der Kirchenhistoriker eine Durchsetzung des Glaubens mit halbmagischen Elementen“1303 zugeben. Symptomatisch ist das Exempel einer ostholsteinischen Pastorenfrau, die bestohlen worden war: Sie schickte zu einer Zauberschen, die ein Evangelienbuch ‚laufen lassen‘ sollte, um den Dieb zu ermitteln. Als die verbotene Praktik ans Tageslicht kam, stellten die Richter fest, daß bei der Frau Pastor „ein Unrechtsbewußtsein in bezug auf diese Dinge völlig fehlte. Für sie war das Laufenlassen des Evangelienbuches ‚ein alter gebrauch, die wahrheit zu erfahren‘, quasi ein altes und von allen angewandtes Hausmittel.“1304 Diese Ereignisse spielten sich 1672 ab; an der Denkweise der Menschen änderte sich allerdings bis ins 19. Jahrhundert wenig. Noch der Wesselburener Hauptpastor Heinrich Wolf äußerte sich in den Provinzialberichten von 1791 eher gutmütig-gleichgültig über Hausmittelchen bei Tollwut von Hunden oder das Besprechen von Butterbrot: „Bringt es keinen Nutzen, KUH, Biographie, Bd 1, S. 84. Hebbel-Museum Wesselburen, Signatur 16a026. 1301 LUTHER, Kleiner Katechismus, S. 59. 1302 SANDER, Aberglauben, S. 10. 1303 MÖLLER, Die kleinbürgerliche Familie, S. 230. 1304 SANDER, Aberglauben, S. 58. Zu dieser Praxis generell vgl. ebd., S. 57. 1299 1300

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den doch mancher gewis behauptet, nun so schadet es doch nicht und die Kosten sind ja geringe, nur vier Schillinge, falls es kein Weisbrod sein soll“.1305 Nachdem die Aufklärung auch in den holsteinischen Pfarrhäusern Fuß gefaßt hatte, stellten solche Meinungen unter den Geistlichen allerdings bald die Ausnahme dar. Von nun an wandten sich die Pastoren mit zunehmendem Eifer gegen jede Art von Aberglauben, läßt sich „doch kaum heftigerer Widerspruch zur Vernunftlehre denken“.1306 Argumentative Unterstützung erhielten sie von Büchern wie denen der Superintendenten Samuel Christoph Wagener aus Potsdam und Johann Heinrich Helmuth aus dem braunschweigischen Calvörde. Wageners Versuch, Bibel und vernünftige Naturlehre in Einklang zu bringen,1307 war gewissermaßen ein positives Pendant zu Helmuths schon 1785 erschienener Volksnaturlehre zur Dämpfung des Aberglaubens, die 1810 in der sechsten Auflage erschien und noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts aufgelegt wurde. Der Erfolg der populären Aufklärung ließ allerdings – zumindest in Schleswig-Holstein – sehr zu wünschen übrig, „so scharf die Aufklärer auch Unvernunft und Aberglauben […] den Kampf ansagen“1308 mochten. Pastor Volckmar, der bereits durch seinen ‚unzeitgemäßen‘ Lebensstil auffiel, gehörte noch zu jenen, die für eine juristische Verfolgung plädierten und Verständnis für die Richter der als Hexen verurteilten Frauen aufbrachten. Diese bezichtigte er nämlich, wie KaiDetlev Sievers referierte, des vorsätzlichen Versuchs, ihren Mitmenschen mit übernatürlichen Mitteln zu schaden. Volckmar stellte bei ihnen „ein Unrechtsbewußtsein fest und [warf] ihnen vor, sich vorsätzlich und wissentlich der Zauberei schuldig gemacht zu haben. Das aber sei nach den mosaischen Gesetzen verboten.“ Daher hielt er es „nicht für unsinnig, Zauberei zu bestrafen“. Volckmars anachronistischer Vorschlag zeigt, daß diesem Phänomen mit Predigen und „Aufklären“ offenbar nicht beizukommen war, auch wenn dies weiterhin unermüdlich geschah.1309 Noch im Jahre 1828 mußte der Ordinger Pastor Dieckmann anläßlich einer Generalkirchenvisitation in seiner Predigt eingestehen: „Auch in der neuen und gegenwärtigen Zeit ersieht man vielfach, wie die Erfahrung lehrt, die traurigen Folgen des Aberglaubens.“1310 Eindringlich beschwor er dessen Gefahren: „Wie viele unnöthige Furcht, falsche Ansichten, Mißdeutungen, Verläumdungen und Nachstellungen kommen nicht davon her, daß ihm Gehör gegeben worden und er noch immer gehört werde! – Sehr gefährlich ist der Aberglaube“. Im einzelnen beklagte er sich gerade über diejenigen, die wie gute Christen angesehen seyn und gehalten werden wollen! Und dabey haben und treiben sie allerley Tand und Thorheit, versunken bis über die Ohren in Aberglauben! Sie wollen Fieber mit ihren Albernheiten vertreiben, Geister gesehen haben, diese vorfordern lassen, ununtersuchte Dinge für Vorahnungen, die es in sichtbarer Gestalt und mit äußerlichen Zit. nach SIEVERS, Volkskultur und Aufklärung, S. 136. Ebd., S. 321. 1307 Siehe oben den Abschnitt Die ‚Heilige‘ Schrift zwischen Negierung und Naturalisierung. 1308 SIEVERS, Volkskultur und Aufklärung, S. 269. 1309 Zu seiner aufklärerischen Geisteshaltung vgl. das Nachwort in: [VOLCKMAR], Versuch einer Beschreibung von Eiderstädt. 1310 Dieses und das folgende Zitat: DIECKMANN, Dreyfaches Sedezbüchlein, S. 28. 1305 1306

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Gebehrden nicht giebt, ausgeben und was es für Narrentheidinge der Art mehr geben mag!1311

Dieckmann konnte lediglich hoffen, daß „der Anschein zum Bessern bey uns nur mehr in Wirklichkeit übergehen“1312 möge. Dabei bediente er sich auch des schriftlichen Mediums: 1829 veröffentlichte er seine Predigt zusammen mit einer Kurzgrammatik und verschiedenen kritischen Betrachtungen als Dreyfaches Sedezbüchlein, oder: das Wichtigste aus der deutschen Sprachlehre in Lectionen, eine Predigt über die Gefährlichkeit des Aberglaubens und ein Kriterium nach elf kurzen Bemerkungen verschiedenen Inhalts. Die der Predigt vorangestellte ‚Gebrauchsanweisung‘ des Hochdeutschen deutet indes buchstäblich auf die Schwierigkeiten hin, eine ‚gemeinsame‘ Sprache zwischen Volk und Volksaufklärern zu finden, die Predigt und ‚Lection‘ in einem war. Hebbel selbst berichtete von einschlägigen Reformen im Schulwesen während seiner Kinderzeit: „Das Resultat war, daß auf eine etwas abergläubische Generation eine überaus superkluge folgte, denn es ist erstaunlich, wie der Enkel sich fühlt, wenn er weiß, daß ein nächtliches [sic!] Feuer-Meteor bloß aus brennbaren Dünsten besteht, während der Großvater den Teufel darin erblickt, der in irgend einen Schornstein mit seinen leuchtenden Geldsäcken hinein will“ [W 8, 106]. Dieser Satz könnte direkt einer populären Naturlehre entnommen sein. Bei dem Calvörder Superintendenten Johann Heinrich Helmuth hieß es: „Wer wird sich vor den feurigen Drachen, die durch die Luft ziehen, […] fürchten, wenn man weiß, was diese Dinge sind? Wer wird vor dem Anblick eines Kometen erschrecken, […] wenn er überzeugt ist, daß dieser prächtige Stern gar nichts bedeute?“ 1313 Hebbels Äußerung zeigt, daß er auch im Hinblick auf den Aberglauben in einer Phase grundstürzender Umbrüche aufgewachsen ist, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts abspielten. Hebbel beschrieb sie hier freilich als glatten Epochenbruch, um sich als „Enkel“ diesseits davon zu positionieren. War er aber wirklich so „superklug“, daß er von abergläubischen Vorstellungen nicht angefochten werden konnte? Seine Schilderung des in Susannas Schule erlebten Gewitters, ebenso seine Angst vor Knochen deuten bereits an, daß er sich keineswegs allein auf meteorologische oder biologische Erklärungen verlassen konnte. Magie und Aberglaube, ‚Ahnungen‘ und Spökenkiekereien stellen einen wichtigen Aspekt traditionaler Lebenszusammenhänge auch im Dithmarschen des frühen 19. Jahrhunderts dar, „und in der Tat darf deren Bedeutung für den Persönlichkeitsaufbau nicht unterschätzt werden“.1314

Ebd., S. 32. Ebd., S. 31. 1313 HELMUTH, Volksnaturlehre zur Dämpfung des Aberglaubens, S. 4. 1314 MÖLLER, Die kleinbürgerliche Familie, S. 240. 1311 1312

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Die magische Welt des Kindes Karin Hausen stellte fest, daß es schon im 18. Jahrhundert beim Bürgertum „hinsichtlich der Rationalität zwischen Mann und Frau erhebliche, anerzogene Wesensunterschiede gab. Die auf traditionelle Weise im Hause sozialisierten Frauen hatten offenbar Verhaltensweisen konserviert, die als irrational, emotional, spontan, unbeherrscht etc. von denen der formal ausgebildeten Männer abstachen“.1315 Zutage trat dies allerdings erst „in dem Moment, wo der Rationalismus sich als allgemeines Prinzip durchzusetzen begann“. So gibt es nicht nur ‚epochale‘ Brüche im Umgang mit dem Aberglauben, sondern auch geschlechts- und generationenspezifische Sollbruchstellen: Auch der ‚formal ausgebildete‘ Mann ist als Kind dem Bereich der Mutter zugeordnet gewesen. Wie schildert Hebbel diesen Erfahrungskomplex im Rückblick? „Kein Haus ist so klein“, schreibt er, „daß es dem Kinde, welches darin geboren ward, nicht eine Welt schiene, deren Wunder und Geheimnisse es erst nach und nach entdeckt“ [W 8, 107]. Es ist die Mutter, die diese Wunderwelt verwaltet. Doch bei aller Nostalgie läßt Hebbels Schilderung noch durchblicken, daß dies auf höchst praktische Art geschah. „Schaudernd schleudert“ das Kind die rätselhaften Dinge, die es auf dem Dachboden findet „wieder von sich [...]; doch die Mutter hebt das Eine oder das Andere bedächtig wieder auf, weil sie gerade eines Riemens bedarf, der sich noch aus dem Stiefel des Großvaters heraus schneiden läßt, oder weil sie glaubt, daß sie mit der Kunkel der Urtante noch einmal Feuer anmachen kann“ [W 8, 107f.]. Beim ersten Spaziergang durch den Ort an der Hand der Mutter ist es nicht anders: Die Kirche, deren metallene Stimme ich schon so oft gehört hatte, der Gottesacker mit seinen düstern Bäumen und seinen Kreuzen und Leichensteinen, ein uraltes Haus, das ein ‚Acht und Vierziger‘ bewohnt haben und in dessen Keller ein vom Teufel bewachter Schatz verborgen sein sollte, ein großer Fischteich: all diese Einzelheiten flossen für mich, als ob sie sich, wie die Glieder eines riesenhaften Thiers, organisch auf einander bezögen, zu einem ungeheuren Totalbilde zusammen, und der Herbstmond übergoß es mit bläulichem Licht [W 8, 109f.] (Abbildung 11).

Die Sachlichkeit der mütterlichen Informationen steht wiederum im Kontrast zu den Eindrücken, die Worte und Dinge beim Kind hinterlassen. „Je weniger sich ein Anhaltspunct“ für die topographischen Bezeichnungen ergab, „um so sicherer mußten sie Mysterien verbergen!“ [W 8, 109]. Es ist kein intentionaler Akt der Mutter, sondern die unzulängliche Kommunikation mit dem kleinen Kind, die eine mystische Wirkung hervorruft. Vor die prosaischen „Sachen selbst“ [W 8, 109], stellt sich das produktive Mißverstehen des Kindes, das vom Autobiographen genußvoll wieder hervorgekramt wird. Seine Intention ist es, die Eindrücke der Vergangenheit poetisch herbeizuzitieren – die Literatur wird zum anerkannten Fluchtpunkt des Geheimnisvollen. Der Mutter kommt hier nur eine Nebenrolle zu: Sie hat eine katalysatorische Funktion; bei der eigentlichen mystisch-poetischen Reaktionskette bleibt sie außen vor. Und wo der Fokus der Aufmerksamkeit und der Stilisierung derart von ihr abrückt, ist 1315

Dieses und das folgende Zitat: HAUSEN, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“, S. 386.

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von den vermeintlich weiblichen Eigenschaften der Irrationalität und Emotionalität gerade bei ihr keine Rede, vielmehr tritt Antje Hebbels ausgeprägter Sinn fürs Praktische zutage. Olwen Hufton nennt als traditionelle Aufgabe von Müttern die „zentrale Rolle bei der Weitergabe des Volksglaubens. Sie erzählten ihren Kindern Märchen, sie warnten sie vor Hexen und Dämonen, lehrten sie, Schalen voll Milch als Schutz vor bösen Geistern auf die Fensterbank zu stellen und auf der Hut zu sein vor allem, was sie als böse ansahen.“.1316 Hebbel sagt von solchen Belehrungen durch seine Mutter allerdings nichts. Vor einseitigen Zuschreibungen sollte man sich daher auch bei diesem Aspekt traditionaler Mentalität hüten. Weder hatten die Frauen ‚als solche‘ eine spezifische Affinität zum Aberglauben, noch besaßen die Mütter im dichten vormodernen Sozialmilieu eine Monopolstellung bei seiner Vermittlung. Mit dieser Rolle bedachte der Autobiograph eine andere Person, die mit der Familie Hebbel unter einem Dach wohnte. Es war die „Frau des Tagelöhners, Meta mit Namen, eine riesige, etwas vorwärts gebeugte Figur mit einem alttestamentarisch ehernen Gesicht“ [W 8, 85]. Sie „kam gewöhnlich, ein rothes Tuch um den Kopf gewunden, in den langen Winter-Abenden zur Zeit der Dämmerung zu uns herum und blieb bis zum Licht-Anzünden“: Dann erzählte sie Hexen- und Spuk-Geschichten, die aus ihrem Munde eindringlicher, wie aus jedem anderen, klangen; wir hörten vom Blocksberg und vom höllischen Sabbath, der Besenstiel, der so verächtlich erscheinende, erhielt seine unheimliche Bedeutung und die finst’re Schornstein-Höhle, die in jedem Hause und also auch in dem uns’rigen auf eine so boshafte Weise von den Mächten der Hölle und ihren Dienerinnen gemißbraucht werden konnte, flößte uns Entsetzen ein [W 8, 85].

Auf diese Frau ließen sich die Ängste in konzentrierter Form projizieren. In Hebbels Erzählung nimmt die Erzählerin selbst die Züge einer Hexe an – als riesige, vornüber gebeugte Gestalt mit Kopftuch und starren Gesichtszügen. Sie kommt mit dem Dunkelwerden; das Licht-Anzünden vertreibt sie wieder. Pastor Volkmar berichtete, daß in Dithmarschen der Hexenglaube um 1800 noch in besonderem Maß verbreitet gewesen sei, wo man etwa „in den Mainächten […] die ausfahrenden Hexen zu belauschen und ihre Zusammenkünfte zu stören“1317 versuche. Wer Zeuge des nächtlichen Ritts auf dem Besenstiel wird, muß sich in Acht nehmen. Nicht nur kann es passieren, daß er selbst gnadenlos als Reitvehikel mißbraucht wird; er muß mit ansehen, wie die Hexen überhaupt „eine Schande“ treiben, daß es „nicht zu sagen“ ist – so in einer Hexenritt-Sage aus dem Harz.1318 In den Ängsten vor solch selbstbewußtem und freizügigem weiblichen Gebaren mochte noch etwas von der archaischen „Zauber- und Hexenkraft“ der „großen Muttergöttin“ zum Vorschein kommen, die den Mann auf der entwicklungspsychologischen „Stufe des Jünglings-Ich“ negativ fasziniert1319 und allenfalls in den Ausnahmezeiten des Karnevals noch hervortreten durfte. HUFTON, Arbeit und Familie, S. 54. SIEVERS, Volkskultur und Aufklärung, S. 134. 1318 EY, Der Hexenritt, S. 54f. 1319 NEUMANN, Die große Mutter, S. 54. 1316 1317

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Auch von Hebbel gibt es ein Hexen-Ritt betiteltes Gedicht, das 1836 in Heidelberg entstand. Hierin spiegelte sich der Abschluß des langen Prozesses der Entmächtigung. Nach den frühneuzeitlichen Hexenverfolgungen hatte die Aufklärung, so Ulrike Prokop, „den Rest“1320 besorgt: Von der „Tradition der weiblichen Geschlechtergruppe“ blieben nur „Aberglauben und Mythen, Ammenmärchen [...] als niedere Denkform“,1321 zugleich wurde die „kulturelle Distanz zwischen den Geschlechtern […] verfestigt“.1322 In Hebbels humoristischem Hexen-Ritt wird ein „feiner Mann“ [W 7, 139] gleich von drei ihm begegnenden Hexen verzaubert. Doch „murmeln Alle zugleich den Fluch, [/] Und Jede entkräftet der Schwestern Spruch“.1323 Das magische Sprechen entmächtigt sich selbst und wird zu einem unsinnigen, wirkungslosen Durcheinanderplappern. Statt in Hund, Affe oder Ziegenbock verwandelt zu werden, geschieht dem jungen Mann rein gar nichts. Ungehindert kann er den Weg zu seinem „Liebchen“ fortsetzen. Der als Affe ein Abbild der Sünde und des Teufels sein sollte, „spricht vom Himmel auf Erden nun [/] Und denkt: das kann doch kein Affe thun.“ [W 7, 140] Auch seine übrigen zivilisatorischen Qualitäten hat er behalten: Statt zu bellen, kann er immer noch sprechen, und als die Seine „ihm hold in die Arme sinkt, [/] Da weiß er’s gewiß, daß er auch nicht – .“ Zum guten Schluß verschlägt es dem Dichter selbst die Sprache: Das Wort „stinkt“ mag der junge Hebbel dem biedermeierlichen Publikum offenbar nicht zumuten. Mit der Magie wird zugleich die derbe Sinnlichkeit weitgehend aus dem Gedicht eskamotiert – genehmigt ist allenfalls noch ein dünnes Lächeln über die anrüchige Pointe. Sowohl die alte Meta als auch die widerwärtigen Hexen des Gedichts erforderten eine entschiedene Distanzierung, und gerade darin deutet sich an, daß Hebbel in diesem Punkt weit weniger modern empfand als die – ältere – romantische Generation. Als Heinrich Heine im Gespräch mit ihm den Hexen-Ritt rezitierte, „unterbrach [ich] ihn mit der Bemerkung, daß die Kritiker gerade dies phantastisch-bizarre Gewächs zum Tode verurtheilt hätten“1324 – was beide nicht hinderte, darüber in „die Mysterien der Kunst“ einzudringen und „das Tiefste“ zu besprechen. Auch die krause Meta erscheint vollkommen anders als die sibyllinischen Figuren romantisch inspirierter Literatur, wie etwa die Großmutter in Stifters Das Haidedorf, die „wundersam spielend in Blödsinn und Dichtung, in Unverstand und Geistesfülle“ das „ReinInspirierte der Propheten und Seher des alten Testaments“1325 besitzt. Doch rechtfertigt dies schon den Schluß, Hebbel reagiere „recht gesund und erfrischend auf Überspanntheiten und Aporien, die in Texten früherer Jahrzehnte“1326 zu finden seien, wie Werner Schwan nach seiner Interpretation des Gedichts Liebeszauber folgerte? Oder basiert diese erfrischende Reaktion nur auf noch merkwürdigeren Aporien? PROKOP, Die Illusion vom großen Paar, S. 391. Ebd., S. 393. 1322 Ebd., S. 391. 1323 W 7, 140. Noch die gegenseitige Entkräftung des Zaubersprüche entspricht kurioserweise aber auch dem abergläubischen Wissen. Vgl. dazu auch die Aussage der „Hexe“ in T 6179: „Wir sind unser Drei; Jede weiß ein Wort, Keine darf das der Andern wissen oder der Zauber ist aus.“ 1324 Dieses und die folgenden Zitate: WAB 1, 488. 1325 SCHMIDT, Die Geschichte des Genie-Gedankens, Bd 2, S. 102. 1326 SCHWAN, Blitze, Hexenspuk und Liebesgeständnisse, S. 172. 1320 1321

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Standen ihm schlicht die häuslichen Erinnerungen frühester Jahre eindringlich genug vor Augen, um sich romantisierender Verklärungen zu enthalten? Schwans Interpretation in dem von Günter Häntzschel edierten Aufsatzband Gefühl und Reflexion ist in diesem Zusammenhang äußerst auschlußreich. Schwan konstatiert zunächst ein „eigenartiges Phänomen“: Hebbel selbst habe dieses Werk „zu seinen besten Produktionen gezählt, aber weder die Hebbel- noch die Balladenforschung hat es bisher auf angemessene Weise gewürdigt“.1327 Während Hebbel glaubte, das Stück würde „die Fülle der Welt und des Lebens“ aussprechen“ [WAB 1, 575], hätten Anthologien das Werk regelmäßig übergangen, habe der Literaturwissenschaftler Hartmut Reinhardt darin eine wenig gelungene ironische Behandlung des Hexenzaubers in Heinescher Manier gesehen.1328 Demgegenüber bestreitet Schwan, daß „dieser Maßstab der adäquate“ sei und bewertet Hebbels Ton als „durchweg unironisch, ja emphatisch“. Für Schwan wird deutlich: Die beiden Liebenden sind Gestalten aus einer gesellschaftlich beschränkten, durch enge Normen, feste Sitten, aber auch Aberglauben bestimmten Welt. Aber falscher Bann und ängstliche Befangenheit erweisen sich als auflösbar, der Überschwang des Glücks bekundet sich zunächst als Fassungslosigkeit.1329

Mit dem Brechen des falschen Zauberglaubens, das zugleich „dem echten Zauber der Liebe zum Durchbruch“ verhilft, wird der Protagonist „ein anderer, als er bis dahin war“, so Schwan. Der zunächst zage Jüngling ist für ihn ein „Überwinder der Angstneurosen und dämonischen Schrecknisse der Seele“,1330 durch die er „gut vorstellbar“ sei „als Bewohner der Dithmarscher Landschaft, als Verwandter aus dem Geblüt des Wesselburener Dichters“. Dieser Lebensbezug beglaubige den ernsthaften Charakter des Gedichts. Eine mutige Interpretation! Daß Schwan den individualpsychologischen Befund allerdings in einen Kontext aus „Landschaft“ und „Geblüt“ stellt, offenbart eine Hilflosigkeit bei der Einordnung, die unfreiwillig an die völkischen Kategorien von „Boden“ und „Blut“ erinnert. Nein: Durch die Psyche eines ‚Individuums‘ verläuft auch hier wieder die Bruchlinie zweier mentalitätshistorischer Epochen: Es erweist sich durchaus als ‚dividierbar‘. Daß dieses Ergebnis nicht gerade „gesund und erfrischend“ wirkt, daß es „Überspanntheiten und Aporien“ eigener Art mit sich bringt und jedem eindimensionalen, ‚ernsten‘ Sprechen die Grundlage entzieht, bemerkt Schwan jedoch nicht. Die „Auflösung der Unheimlichkeits- und Angstsuggestionen“ erscheint ihm als „nicht literarisiert, ästhetisch unterlegt und transzendiert, hier geht es auf elementare Weise um den eigenen Lebensvollzug“.1331 Doch indem sich das Leben ‚im Vollzug‘ keineswegs als ‚elementar‘, sondern als heterogen und zweideutig erweist, indem sich Gewißheiten als Fiktionen erweisen (wovor auch der „echte Zauber der Liebe“ nicht geschützt ist), verschwistert sich mit ihm notwendig ein irreales, doppelbödiges Moment, das die Ebd., S.161. Vgl. ebd., S. 163. Dort auch die folgenden Zitate. 1329 Dieses und die folgenden Zitate: Ebd., S. 167. 1330 Dieses und die folgenden Zitate: Ebd., S. 169. 1331 Ebd., S. 172. Hervorhebung C. S. 1327 1328

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Wirklichkeit schon immer der Literatur anähnelt. So bedeutsam Schwans Erkenntnis ist, daß gerade auch der Aberglauben in Hebbels Werk einen existentiellen Bezug zu seinem Leben hat, so wenig eignet sie sich zum Erheben eines Ausschließlichkeitsanspruchs: Auch dem „eigenen Lebensvollzug“ begegnet Hebbel durchaus mit Ironisierungen und Literarisierungen. Beide Modi der Wirklichkeitsauffassung haben nebeneinander Bestand und Gültigkeit; und im Verhältnis zum Aberglauben ist dies in besonderem Maße erwartbar. Antje Hebbel hatte immer geglaubt, daß in ihrem ersten Sohn etwas besonderes stecke. So dankbar der Sohn sich dessen erinnerte – so viel sympathetische Nähe, daß sie schon das spätere Genie in ihm geahnt hätte, mochte er ihr nicht zugestehen. Um so bezeichnender ist es, daß Hebbel einen ähnlichen Fall, nur unter komischen Vorzeichen, literarisch ausgestaltete. In dem Novellenfragment Die beiden Vagabonden ließ er den „dumme[n] Jacob“ [W 8, 136] erzählen: „Damals war hier im Dorfe eine weise Frau, der erzählte meine Mutter ihren Traum, damit sie ihn auslege. Die sagte ihr, sie werde ein Kind mit sonderbaren Gaben gebären, ein Wunderkind. Diese nämliche Frau sagte ihren eigenen Tod voraus, und er traf richtig ein. Als ich nun zur Welt kam, da war ich gleich so dick und fett, daß meine Mutter die Prophezeiung der weisen Frau gar nicht mehr in Zweifel zog“ [W 8, 136]. In der traditionalen Mangelgesellschaft „dick und fett“ auf die Welt zu kommen, mochte tatsächlich wie ein Wunder scheinen. Doch die willfährige Prophetie der „weisen“ Frau, die Verquickung von Aberglauben und Pragmatismus bei der Mutter taugen bei Hebbel nur noch zur Komik. Nicht auszudenken, daß eine solche Mutter doch recht behielte und am Ende gar einen Dichter hervorbrächte! Doch trotz solcher – geradezu bemüht wirkenden – ironischen Distanzierungen nahm Hebbel dem Aberglauben gegenüber eine durchaus ambivalente und offenere Haltung ein, als seine späteren Biographen. „Zweimal ist das Leben schön gewesen“, schrieb er im Januar 1837 an Elise Lensing und meinte damit nicht die eigene Vita, sondern weit zurückliegende Epochen der Geschichte: „Einmal, als Griechenland blühte; doch jener Zustand ist meinem Innersten fremd, ich kann nicht glauben, daß so viel Helles, Frisches, Fertiges, mich glücklich gemacht hätte“ [WAB 1, 151]. Die zweite Epoche, obwohl gleichfalls weit entfernt, lag ihm offenbar näher – das ‚finstere‘ Mittelalter: „Da gab’s viel, an das man sich klammern konnte. Freilich lauter Irrthum […]. Aber, der Irrthum hat Colorit u Gestalt u schlingt sich heiter u lustig durch den Reigen des Lebens; die Wahrheit ist unsichtbar, wie ein Gott, u unheimlich, wie ein Gespenst. Wär’ man doch damals geboren!“ [WAB 1, 151f.] Mit diesem Ausruf kam Hebbel doch auf sich und seine Zeit zu sprechen: „Schon das ist ein großes Unglück, daß man nicht mehr an den Teufel, u noch weniger an seine Sippschaft glauben kann; der Sturm, der eben jetzt (es ist 11 Uhr) draußen sein Wesen treibt, sagt mir Nichts, als daß er von den Bergen kommt, u die Luft reinigt; hielt’ ich’s für den wilden Jäger, so würd’ ich nicht mit dieser niederträchtigen Ruhe fort schreiben“ [WAB 1, 152]. Man mag diese melancholischen Retrospektiven – gemeinsam mit dem poetischen Frühwerk – als „verblasene Phantastik“1332 abtun. Doch der Glaube an den Teufel und seine Sippschaft war so fernliegend nicht. Die 1332

WERNER, Friedrich Hebbel. Ein Lebensbild, S. 51.

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Furcht vor dem wilden Jäger, der in den Tagen zwischen Weihnachten und Epiphanias auf einem dreibeinigen Roß mit einer Meute Hunde unterwegs war, Tiere zum Sprechen brachte, Wasser in Wein verwandelte oder aber alle Vorräte aufzehrte, der also die Welt in der Zeit ‚zwischen den Jahren‘ auf den Kopf stellte – diese Furcht war in Dithmarschen auch noch zur Zeit Hebbels, und, wie Emil Kuh andeutete, selbst „in Hebbels Vaterhause“1333 lebendig. Was Hebbel historisch ins Mittelalter zurückdatiert und dieserart weit von sich weist, ist tatsächlich die subjektiv erlebte Wirklichkeit seiner eigenen Kindheit. So gesteht er an anderer Stelle im selben Brief an die Freundin: „Schlafen kann ich auch seit lange nicht mehr u vor Gespenstern (ach, wie glücklich ist man in der Kindheit, wo man in der Nacht so viel sieht, hört, wenigstens fürchtet!) zitt’re ich nicht, also langweil’ ich mich. Gute Nacht!“ [WAB I, 150] Doch der zur Ruhe gebrachte „böse Geist“ [DjH II, 64] des wilden Jägers lebt im Werk unversehens wieder auf: In dem Märchen Die einsamen Kinder, einer Produktion des Zwanzigjährigen, kommt „dem hagern Jäger“, der „einige wohlgenährte Hunde“ [DjH II, 75] mit sich führt und „vor den Fenstern ein wildes Gelächter“ [DjH II, 60] anstimmt, sogar eine tragende Rolle zu. Paul Bornstein fand diese Figur „an sich hoffmannisch“ [DjH II, 235] und bemerkte an ihr allenfalls „Züge von Goethes Mephisto“ [DjH II, 235]. Weil er lediglich von literarischen Vorbildern ausging, entging ihm die lebensgeschichtliche Verbindung mit dem „Wilden Jäger“ des Dithmarscher Volksglaubens, der hier grausliche Urständ feierte. Bei Hebbel ist ein schillerndes, fast ‚experimentell‘ zu nennendes Verhältnis zum Aberglauben zu beobachten. Er äußerte sich nicht nur widersprüchlich über dessen Bedeutung in der eigenen wie kollektiven Geschichte, sondern räumte ihm unversehens auch wieder einen Platz in Gegenwart und Zukunft ein – solange es als Pendant den Glauben gebe. Denn: „Der Aberglaube ist für diese Welt, was (nach christl. Begriffen) der Glaube für jene. Die Menschheit mag wollen, oder nicht, sie muß sich noch einmal wieder ein goldenes Kalb machen, vor dem sie sich beugt“ [WAB 1 152]. Dieser ‚prophetische‘ Satz – noch immer im Brief an Elise Lensing vom Januar 1837 – schien im Moment des Aussprechens schon an der eigenen Person in Erfüllung gegangen zu sein, wenn auch in lächerlicher Verkehrtheit: „Ich glaube, ich bin heut Abend besessen und Adelung, Gellert oder gar Gottsched feiern ihre Auferstehung auf meine Kosten“ [WAB 1, 153]. Hebbel nicht als goldener Götze, wohl aber als reinkarnierter Wiedergänger aus dem ‚Club der toten Dichter‘! Ist die wie beiläufig eingestreute Bemerkung nur blanke Ironie, literarisches Spiel mit dem Aberglauben? – Hebbel mußte wissen, welche Ängste Elise um ihn, der merkwürdigerweise „seit lange nicht mehr“ schlafen konnte, ausstand, wenn er ihr – noch immer im selben Brief – aus der ‚verkehrten‘ Perspektive eines Untoten Sätze wie diesen schrieb: „Ich kann mich wirklich in manchen Stunden fragen, ob ich denn nicht schon gestorben sey“ [WAB 1, 149]. Der Aberglaube, den Hebbel zunächst auf eine ferne – eigene wie historische – Vergangenheit zurückdatierte, ist in allen Zeiten und Formen lebendig: Er wird Mittelalter, Kindheit und Zukunft zugeordnet, um schließlich in der Gegenwart in Hebbels Briefpost und Bewußtsein sein Vexierspiel zu

1333

KUH, Biographie, Bd 1, S. 38.

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treiben – auch wenn ein explizites, unironisches Bekenntnis zu Aberglauben und Magie ihm kaum zu entlocken ist. Seiner Sprache selbst sind mitunter quasi-magische Funktionen inhärent – des ‚Bannens‘, des beschwörenden Festhaltens oder der rhetorischen Überschreitung an sich unverrückbarer Grenzen der Lebens- und Zeitalter. Schreibend ‚vergegenwärtigt‘ er sich die „magische Welt des Kindes“ (Peirce), ebenso wie die des dunklen Mittelalters. In der „versteinerte[n] Erd-Schichte“ [T 3012] vergangener Zeiten regt sich ein zweites Leben. Schon diese ersten ‚Probegrabungen‘ decken eine erhebliche Komplexität und Kohärenz magischer Inhalte auf: Das Motiv des Wilden Jägers etwa taucht in ganz unterschiedlichen Kontexten auf: Als überlieferte Sagengestalt „in Hebbels Vaterhause“, als abgehalftertes Schreckgespenst im Brief an Elise Lensing, als undurchsichtige literarische Figur in Hebbels frühem Märchen. Betrachtet man wiederum den Brieftext vom Januar/Februar 1837 insgesamt, stellt man fest, daß hier verschiedene Motive – außer dem „Jäger“ noch Gott und Teufel, „goldenes Kalb“, „Auferstehung“, und „Aberglaube“ allgemein – in einem Gesamtzusammenhang stehen, der seine beunruhigende Wirkung bei der Adressatin sicherlich nicht verfehlte. So deutet sich an, daß Phänomene des Aberglaubens bei Hebbel autobiograhisch wie literarisch produktive Momente darstellen.

Belebte Dinge Die Zeit „der Kindheit, wo man in der Nacht so viel sieht, hört, wenigstens fürchtet“ [WAB 1, 150], hat Hebbel in der Tat für das ganze Leben geprägt. Noch in den Notizen zur Biographie hielt er fest: „Die Figuren am Balken, Abends bei’m Einschlafen. Die Figuren im Fieber“ [W 15, 7]. Was damit gemeint war, hatte er früher in den Aufzeichnungen aus meinem Leben ausgeführt: Schon in der frühsten Zeit war die Phantasie außerordentlich stark in mir. Wenn ich des Abends zu Bett gebracht wurde, so fingen die Balken über mir zu kriechen an, aus allen Ecken und Winkeln des Zimmers glotzten Fratzen-Gesichter hervor, und das Vertrauteste, ein Stock, auf dem ich selbst zu reiten pflegte, der Tischfuß, ja die eigene Bettdecke mit ihren Blumen und Figuren, wurden mir fremd und jagten mir Schrecken ein. Ich glaube, es ist hier zwischen der unbestimmten, allgemeinen Furcht, die allen Kindern ohne Ausnahme eigen ist, und einer gesteigerten, die ihre Angstgebilde in schneidend scharfen Formen verkörpert und der Seele wahrhaft objectiv macht, wohl zu unterscheiden; jene theilte mein Bruder […]; diese quälte mich allein, und sie hielt den Schlaf nicht bloß von mir fern, sondern scheuchte ihn auch, wenn er schon gekommen war, oft noch wieder fort und ließ mich mitten in der Nacht um Hülfe rufen. Wie tief sich sie Ausgeburten derselben mir eingeprägt haben, geht daraus hervor, daß sie mit voller Gewalt in jeder ernsten Krankheit wieder kehren; so wie das fieberisch siedende Blut mir über’s Gehirn läuft und das Bewußtsein ertränkt, stellen die ältesten Teufel, alle später geborenen vertreibend und entwaffnend, sich wieder ein, um mich zu martern [W 8, 100].

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Seine Gesichte an Balken und anderen Gegenständen stellte Hebbel als Ausgeburten seiner individuellen Phantasie hin, die schon der Bruder nicht mit ihm teilte. Doch die animistischen „Vorstellungen, die sich an B[alken] knüpfen, haben z. T. eine sehr alte Grundlage“, berichtete Hanns Bächtold-Stäubli. „Auch im neueren Volksglauben erscheinen Haus- und Waldgeister in Gestalt eines B[alkens]. […] Es sind die Lieblingsplätze der Geister, sowohl guter Hausgeister, als auch schadenbringender Mächte. […] Der Kobold wohnt besonders gerne im Gebälk des Hauses […] Außerdem werden mitunter lästige Dämonen, wie Nißpuck [Müllenhoff], Hexe, Gespenst, sogar die Pest in B[alken] gebannt“.1334 Den Eindruck des Lebendigen konnte Holz schon durch seine Maserung vermitteln – wie schnell wird ein Astloch zum verstohlen blickenden Auge! Darüber hinaus war das einfach zu bearbeitende Material das Universalobjekt der Volkskunst schlechthin. Auf die Verbreitung und mentalitätsgeschichtliche Bedeutung der volkstümlichen Holzschnitzerei in Dithmarschen wies schon Klaus Groth Emil Kuh für dessen Hebbel-Biographie hin: Vor allen Dingen aber entwickelte sich die Holzschneidekunst recht eigentlich aus dem Volke heraus und, wie es scheint, fast nur an der Westküste Schleswig-Holsteins still für sich und ungekannt bis zur höchsten Blüte einer freien Kunst. […] Man schmückte Stuhllehnen mit Blumen und Arabesken; Bettpfosten, Türgerichte, Balken und Fensterwangen mit Köpfen oder Gestalten. Ja, bald gab es kaum einen Gegenstand, Gefäß oder Gerät mehr, aus kernigem Eichenholz herzustellen, das man nicht auf eine sinnvolle, oft echt künstlerische Weise mit Schnitzwerk schmückte. Nicht bloß Tischbeine und Stuhllehnen: Feuerkiken, Mangelbretter, Stiefelknechte mußten geschnitzt sein […]. Namentlich gaben die eichnen Laden (Truhen) und Schränke […] den anlockenden Raum her für geschmackvoll architektonische Verteilung und ausführliche Darstellungen.1335

Es wirkt auffällig, wie weitschweifig Groth den jungen Emil Kuh über dieses scheinbar nebensächliche Detail der Lebenswirklichkeit unterrichtete. Schon er selbst fühlte sich denn auch zu einer Rechtfertigung genötigt: „Wie sehr die Holzschneidekunst das ganze Volk, sein ganzes Leben durchdrang [!], es schmückte und erhob, davon macht man sich jetzt schwer eine gerechte Vorstellung“.1336 Gerade das Verschwinden der Schnitzkunst aus dem Alltag erschien Groth signifikant für einen kaum mehr verstehbaren Bruch, der die Mentalität der jüngeren Generation von der der älteren schied. Das eindrucksvollste Beispiel dafür, „welche Kraft“ Bilder und Schnitzwerke „auf das Denken der Menschen […] ausübten und wie sie in die eigene Vorstellungswelt einbezogen wurden“1337 bietet für Dithmarschen der sogenannte „Swinsche Pesel“ aus dem späten 16. Jahrhundert: Tür, Kassettendecke, Wände, Kamin, Truhe, Himmelbetten und die „Schenkschiewe“, ein gewaltiger Schrank – der gesamte Raum samt Inventar wirkt mit Schnitzereien biblischen und repräsentativen Inhalts wie überzogen. Groths Mitteilung ist zu bedenken, wenn man Hebbels Jugendeindrücken nachspüren will. Die Kunst erweckte im vermeintlich toten Holz ein heimliches Leben: In der WesselBÄCHTOLD-STÄUBLI, Handwörterbuch, Bd I, Sp. 856–858. GROTH, Land und Leute in Dithmarschen, S. 103f. Vgl. KUH, Biographie, Bd 1, S. 69. 1336 GROTH, Land und Leute in Dithmarschen, S. 105. 1337 LÜHNING, Haus und Pesel des Markus Swin, S. 133. 1334 1335

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burener Kirche waren es der filigran beschnitzte „blaue Stuhl“, die ursprünglich herzoglich-gottorfische Loge,1338 die Kanzelfiguren, vor allem aber die „schweb. Engel“ [W 15, 8] über der Orgel, die einen eigenartig lebendigen Eindruck auf Friedrich gemacht hatten; so „verwunderte es mich ordentlich, daß sie ihre Flügel nicht bewegten“ [T 2867]. An dem geschenkten Nußknacker waren es hingegen gerade dessen Bewegungen, die ihm einen panischen Schrecken einjagten: Zunächst bemerkt das Kind, „daß er den Rachen öffnet und mir zum Dank für die Liebkosung seine grimmigen weißen Zähne zeigt“ [W 8, 102]. Als es schreiend losrennt, und der Nußknacker „natürlich nach Maaßgabe meiner eigenen Bewegungen während des Laufens sein Maul bald schloß, bald wieder aufriß, so konnte ich nicht umhin, ihn für lebendig zu halten, und kam halb todt zu Hause an“ [W 8, 102]. Im autobiographischen Rückblick stellte Hebbel selbst die Verbindung zu den „Vettern des Nußknackers“ her, die sich auf Balken und Bohlen abgezeichnet und ihm als Kind „des Abends vor’m Eindämmern vom Boden und von den Wänden herab schon Gesichter geschnitten haben“ [W 8, 102]. Ähnliche Wahrnehmungen kommen auch später in Literatur und Leben Hebbels vor: In dem Märchen Die einsamen Kinder wächst aus dem Buschwerk plötzlich ein Männchen hervor: „Das Männchen stellte sich, als ob es weine; es schnitt mir aber, so wie der Hagere einmal wegsah, die abscheulichsten Gesichter zu“ [DjH II, 69], erzählt Theodor darin dem Bruder. Das scheinbare Verwachsensein von Mensch und Stuhl beeindruckte Hebbel in Paris auf einem Porträt von Jules Janin: „[D]er Mann sitzt zurückgelehnt im Großvaterstuhl und hat ein Gesicht, als wäre es aus diesem Stuhl selbst hervor gewachsen“ [T 1272]. Als am Ende von Demetrius Fürst Schuiskoi vor einer „Marien-Säule“ [W 6, 136] betet, entscheidet die Wahrnehmung des Otrepiep, die „heil’ge Jungfrau habe [/] Den Kopf geschüttelt“ darüber, daß Schuiskoi vom Volk als neuer Zar anerkannt wird, denn „das beweis’t: [/] Sie kennt in Rußland keinen bessern Mann“ [W 6, 137]. Ähnliche visuelle Erfahrungen benutzte der Dichter sogar zur Beschreibung seiner ästhetischen Absichten, indem er metaphorisch ‚Holzschnitt‘ und Text aufeinander bezog. So schrieb er seinem Freund Felix Bamberg 1850: „Ihre Auffassung der Mariamne hat mir sehr wohl gethan. Besonders Ihre Bezeichnung der heiligen drei Könige als sprechender Wachs-Figuren trifft ganz meine Intention, die hier auf den Holzschnittstyl ging“ [WAB 2, 188]. Es ist denkbar, daß Holzschnitte oder -schnitzereien tatsächlich die ersten tiefen Eindrücke von bestimmten Motiven vermittelten, so etwa auch für die Judith – Szenen aus der biblischen Geschichte von Judith und Holofernes waren ein verbreitetes Schnitzmotiv an alten Bauernmöbeln. Die Vorstellung vom belebten Holz hat noch eine weitere Dimension: Im volkstümlichen Aberglauben ist es der Baum, der „als Geistersitz, als beseeltes Wesen“ gilt, „dessen Wurzeln in die Tiefe, den Sitz der Unterirdischen, reichen“.1339 Auf diese Anschauung „gehen vielfach abergläubische Bräuche zurück“;1340 „tief eingewurzelt ist W 15, 9. Vgl.: „Der blaue Stuhl war der Honoratiorenstuhl; jetzt ist er rot übermalt (Krumm)“ [DjH I, 255]. 1339 BÄCHTOLD-STÄUBLI, Handwörterbuch, Bd I, Sp. 957. 1340 Ebd., Sp. 955. 1338

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der Glaube an eine Wesensgleichheit von Mensch und B[aum]“,1341 schreibt Hanns Bächtold-Stäubli. Der Wald gilt als „Aufenthaltsort der Abgestorbenen“;1342 der Baum, der „aus der Erde hervorsprießt, und besonders der aus den Gräbern Verstorbener hervorgewachsene B[aum] soll die Seele beherbergen. In der Sage wird der Geist in den B[aum] gebannt“. Emil Kuh hatte sich erzählen lassen: „Die alten Holsteiner pflegten am Weihnachtsabend in den Wald zu gehen und an die Bäume zu klopfen mit den Worten: Frowet ju, ji Böme, de hillige Karst is kamen! – (der heilige Christ ist gekommen). Man glaubte, daß dann die Bäume das nächste Jahr desto reichlicher Eichen- und Buchenmast tragen würden.“1343 Die Vertrautheit mit solchen Anschauungen spiegelt sich unmittelbar in ihrer metaphorischen Verwendung bei Hebbel. Die „Bäume schüttelten sich, als könnten sie den entsetzlichen Anblick nicht ertragen“ [DjH II, 42], heißt es in der schauerlichen Kurzgeschichte Der Brudermord des Achtzehnjährigen. Dort findet sogar eine direkte Zwiesprache mit den Bäumen statt: „Tröstet euch mit mir, ihr traurigen Bäume, rief er aus, nicht euch allein ist der Frühling dahin geschwunden, auch mir ist er entflohn; aber ihr habt doch trinken dürfen seinen himmlischen Anhauch, mir indeß ist er ungenossen vorüber gezogen mit all seiner Wonne und hat mir den greulichsten Winter gebracht, ein Hochzeiter, der einer Leiche voraufging“.1344 In dieser Rede äußert sich nicht nur der Gedanke der Seelenverwandschaft, sondern auch der über den Wald als Totenreich, der explizit wird, als Eduard denkt, „alle die Bäume […] stehen jetzt so starr, so trübe, als wären sie schon als Särge in die kalte Erde hinabgesenkt und eine ekle Behausung der Würmer geworden.“ Das hier etwas unplausible Bild erscheint klarer und dem Volksglauben genau entsprechend in dem Gedicht Der Kirchhof, das zwei Jahre später entstand: „Die kahlen Bäume stierten mich seltsam an, [/] Wie aufgestand’ne Todte, die nur den Sarg, [/] Nicht Ruh, erhielten; in den Zweigen [/] Hüpfte der grausige Vogel des Todes“ [W 7, 100]. Der schauerromantische Ton sollte sich bald verlieren; das Bild vergaß Hebbel nicht. Als Waldbilder stellte er in der Gedichtausgabe von 1857 vier Gedichte zusammen, deren eines, 1843 entstanden, Böser Ort betitelt war. Noch 1861 berichtete er aus Gmunden von „verheerenden Orkanen, welche die dicksten Bäume, wie dürres Schilf, abknickten, so daß sie, wie grüne Leichen, herum lagen“ [T 5932]. Vom dämonischen Gesichtchen im Balken bis zum toten Baumriesen – es ist erstaunlich, wie viele magisch belebte Gegenstände allein aus diesem Holz geschnitzt sind. Hebbels ‚animistische‘ Phantasie bemächtigte sich nicht nur anthropomorpher Gegenstände. Als Münchner Student ging er, „mit Rousseau mich lebhaft unterhaltend, im englischen Garten spatzieren und fuhr plötzlich zurück, weil ich eine sich gegen mich aufbäumende Schlange zu erblicken glaubte. Es war der Schatten meines Stocks, der, wenn ich den Stock erhob, schlangenmäßig in die Höhe zu steigen

Ebd., Sp. 956. Dieses und das folgende Zitat: Ebd., Sp. 955. 1343 KUH, Biographie, Bd 1, S. 39. 1344 Dieses und das folgende Zitat: DjH II, 41. Auch in Matteo spricht die Titelfigur mit einem Baum, um ihn zugleich mit einem Dolchstoß stellvertretend zu ‚ermorden‘. Vgl. W 8, 207. 1341 1342

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schien“.1345 In Genoveva ist es ein Richtschwert, an dem Golo den Moment fürchtet, „Wenn’s wie belebt, in Deiner Hand sich dreht, [/] Wenn’s auf dem Weg zu Deinem Herzen sich [/] Verirrt, und sich den Weg zu ihrem bahnt?“ [W 1, 237]; in Demetrius die Zarenkrone, die gleich einer „goldnen Schlange“ [W 6, 39] sich krümmt und „das Haupt des Menschen, der sie trägt“ [W 6, 39], zusammendrückt. Doch auch in idyllischen Augenblicken, wie in den Versen Auf eine Violine „denk’ ich wohl zuweilen: [/] Ach, wär’ sie doch belebt!“ [W 7, 121] In dem Gedicht Das alte Haus „ist es mir, du altes Haus, [/] Als hörte ich dich sprechen“ [W 6, 266]. Die belebten Dinge bei Hebbel sind von anderer Herkunft als die „zu Puppen, Automaten, Marionetten erstarrten Leiber und die zu Larven und Masken erstarrten Gesichter“1346 der Schauerromantik, die dem unheimlichen Effekt oft genug mechanisch nachhalf. Ob als Wahrnehmungseffekt oder Wunschgebilde, als bloßes Bild oder tiefgründiges Symbol – durch die verschiedenen Formen literarischer Anverwandlung schimmert immer wieder die alte abergläubische Vorstellung von der geheimnisvollen Belebtheit der den Menschen umgebenden Dingwelt. Durch sie kann der Mensch mit seiner Umwelt in Verbindung treten, wie Hanns Bächtold-Stäubli beschreibt: „Die verschiedensten Mittel sind dazu gut. Segnung, Besprechen, Berühren erzeugen schon die symbiotische Einheit. Am häufigsten wird Speise dazu verwendet.“1347 Ferner besteht die Anschauung, „einen Menschen mit Hilfe von Dingen, die ihm gehören, verzaubern zu können. Zu diesen Dingen zählen neben tatsächlichen Besitztümern auch Haare, abgeschnittene Nägel, Exkremente u. ä.“1348 Der Zauber äußert sich dann darin, daß, „was dem in Verbindung stehenden Ding geschieht, sich an der beeinflußten Person wiederholt.“1349 Zauberische Praktiken beruhen auf der magischen Verbindung zwischen zwei Dingen; ihr wiederum liegt „der Analogie- oder Sympathiegedanke, d. h. die Vorstellung, daß ‚Ähnliches durch Ähnliches‘ bewirkt wird“,1350 zugrunde. Die lateinische Bezeichnung similia similibus klingt selbst wie ein Zauberspruch – und illustriert das Prinzip durch die variierende Repetition in der Stilfigur des Polyptotons. Wie bei anderen brauchtümlichen Praktiken erweist sich die Nachahmung auch auf dem Gebiet des Aberglaubens als grundlegende volkskulturelle Handlungsform, wenn sie auch hier oft als Umkehrung geschieht. Wie der Aberglaube den verkehrten Glauben bedeutet, so die Magie eine Art Kontrafaktur der Alltagsrealität. Hebbels Märchen Die einsamen Kinder lebt nicht zuletzt von diesem durchgehenden Muster. Das Geschehen steht auf einmal unter umgekehrten Vorzeichen: Dem älteren Bruder Wilhelm ist, „als habe er bisher nur noch immer geträumt, als sey eben das Leben mit all seinen Schätzen an ihm mit leichtem Gruß vorübergegangen, als sey er aber sogleich in den alten dunklen Traum von einer Hütte im Walde, von einem Bruder, dem er Wurzeln graben müsse, zurückT 864. Vgl. das textliche Umfeld dieser Vorstellung, nämlich Seil und Balancierstange beim Seiltänzer Rudolf Knie und einem seiner Knaben [T 863, T 865] und den Traum von einer „Boaschlange“ am Tag zuvor [T 860]. Vgl. auch den Reitstock in W 8, 100. 1346 KAYSER, Das Groteske, S. 136. 1347 BÄCHTOLD-STÄUBLI, Handwörterbuch, Bd VIII, Sp. 625. 1348 SANDER, Aberglauben, S. 37. 1349 BÄCHTOLD-STÄUBLI, Handwörterbuch, Bd VIII, Sp. 628. 1350 SANDER, Aberglauben, S. 36. 1345

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gesunken“ [DjH II, 68]. In dem Moment, wo er aus der Flasche des Fremden trinkt, ergießt sich „ein seltsames Feuer […] durch alle seine Glieder und die Welt um ihn her schien verwandelt“ [DjH II, 67]. ‚Umgekehrt‘ erweisen sich Wilhelms Birnen und appetitliche Kuchen im Munde des kleinen Bruders Theodor als „faules Holz“ [DjH II, 63]. Das Normale wird entfremdet; was Angst machte, erscheint verheißungsvoll. Dazu passen die ethnologischen Beobachtungen Peter Duerrs: „Immer wieder begegnet uns die Sitte, in der ‚Zeit zwischen den Zeiten‘ die Verhältnisse umzukehren, und es hat den Anschein, daß diese Verkehrung des Gewöhnlichen […] eine Weise der Darstellung des ‚Draußen‘, des ‚Ganz Anderen‘ ist“.1351 Hier geht es nicht allein um Wiederholung und Abbildlichkeit; die Analogiebeziehung verknüpft Bereiche, die normalerweise geschieden sind. Durch dieses metaphysische Repräsentationsverhältnis rückt die sympathetische Handlung strukturell in die Nähe literarischen Sprechens bzw. der Kunst. Das meint jedenfalls Stanley Diamond, der in seiner Kritik der Zivilisation gegenüber dem modernen Denken für eine Wiederentdeckung des Primitiven plädiert: Das Objekt ist konnotativ. Durch die Struktur von Analogie und Metapher, die den Diskurs bei primitiven Völkern definiert, enthüllt es eine vielfältige und spontane Realität. Keine endgültige denotative (beschreibende) Erklärung kann über den Gegenstand abgegeben werden, mit einer mathematischen oder metaphysischen Erklärung kann er nicht definiert werden. Diese gesteigerte Wahrnehmung ist natürlich ein Aspekt der Definition der Kunst und bewirkt eine solche Konzentration auf die Einzigartigkeit des Objekts, daß alles gleichzeitig wunderbar, fremd, vertraut und unerwartet scheint.1352

Den ‚Geist‘ der Dinge zu beschwören – mit dieser Aufgabe stellt sich die literarische Metaphorik und Bildlichkeit in eine Traditionslinie mit dem Aberglauben.

Untote, Nachzehrer und Gespenster Die Grenze zwischen Leben und Tod, zwischen diesseitiger und jenseitiger Welt, und ihre magische Transzendierbarkeit zog die Aufmerksamkeit des jungen Hebbel in besonderem Maße auf sich, so sehr sie ihn schaudern machte. In der Hebbel-Literatur wurde diese Faszination als abgeschmackt und dem Niveau seiner Dichtung abträglich empfunden – moderne Berührungsängste gegenüber einem zunehmend aus dem Bewußtsein verdrängten Gegenstand? Wie blaß war der Erklärungsversuch Detlef Cöllns, der unter der vage gehaltenen Überschrift Friedrich Hebbel und das Religiöse Hebbels Vorstellungen von Transzendenz in eine stringente Ordnung zu bringen suchte: „Der Tod kann nicht das Ende sein. Ein Auferstehen muß folgen. Aber zwischen Tod und Auferstehen denkt der jugendliche Hebbel eine Zwischenstufe. Der Geist der auf der Uebergangsstufe Stehenden wirkt auf den Geist der Lebenden.

1351 1352

DUERR, Traumzeit, S. 118. DIAMOND, Kritik der Zivilisation, S. 150.

Untote, Nachzehrer und Gespenster

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Durch sie tritt die Seele der Lebenden mit dem Jenseits in Verbindung.“1353 Diese ‚Philosophie‘ mag einem ‚Klassiker‘ entsprechen – tatsächlich bedeutet sie eine motivische Verengung und unzulässige ‚Vergeistigung‘ von Hebbels Vorstellungswelt. Der „verwesende Leichnam“ ist, mit Julia Kristeva gesprochen, als „Abjekt“ der „Inbegriff“ dessen, „was uns den Magen umdreht, das Innerste nach außen kehrt“.1354 Erst recht die vorgestellte verkehrte Welt der lebenden Toten ist mit einem Tabu belegt, das von Gefühlen des Abscheus und des Ekels begleitet wird. Doch der traditionalen Mentalität ist auch die Verlockung dieser Grenzüberschreitung noch vertraut – in dem Wissen, daß die Kehrseite der anziehenden Frau Welt stets von Würmern zerfressen ist. „Der Begriff der Grenze hat seine eigene Faszination in der Volkssage“, meinte der Erzählforscher Max Lüthi; hinter jeder Grenze aber stehe „unausgesprochen die Vorstellung jener […] zwischen Leben und Tod.“1355 Die Volkserzählung, in der Emil Kuh „das volkstümliche Vorgesicht der Phantasie Hebbels“1356 erblickte, kreist daher mit Vorliebe gerade um diesen Themenbereich. „Die Lebenden und die Toten: Ihr Verhältnis bildet den Kernbereich im Raum der heute noch lebendigen Volkssage. Diese Beziehung ist […] von Geheimnis umwittert und von Grauen,“1357 schrieb Lüthi. Der Volkskundler Leander Petzoldt führte zu den Totensagen aus: Hier finden sich archaische Elemente neben christlichen Formen, die präanimistische Vorstellung des ‚Lebenden Leichnams‘ neben der im Fegefeuer schmachtenden Seele. Insgesamt könnte man dieses Kapitel der Volkssage unter den Titel stellen: Zur Frühgeschichte der Angst, denn wie der archaische Totenkult aus der Angst vor den Toten erwachsen ist, spiegeln die Sagen die ganze Ambivalenz des Verhältnisses des Menschen zu seinen Toten als verehrungswürdige Ahnen und bösartige Dämonen wider.1358

Petzoldt wies insbesondere auf den ‚weltimmanenten‘ Charakter solcher Grenzüberschreitungen hin: „Erlebnisse mit Toten, Fahrten ins Jenseits werden nach dem Muster der Diesseitswirklichkeit gebildet, und die Toten selbst treten in der Gestalt auf, in der sie gelebt haben“. Dabei geht es nicht um ein bis zum Jüngsten Tag aufgeschobenes, sondern um ein jetziges Weiterleben der Toten. Es ist Teil der „Diesseitserfahrungen, man träumt ja von ihnen, und daß der Traum etwa ein ‚Subjektives‘ wäre, ist unvollziehbar, er ist Wahrnehmung“. Daß „Traumgeschehen und Wirklichkeit […] die gleiche subjektive Realität“ besitzen, ist auch die titelgebende Pointe in einer der frühesten Erzählungen Hebbels: In Des Greises Traum „ward es auf Erden dunkel und immer dunkler; nächtliche Finsterniß, wie sie in Gräbern thront, breitete ihr Panier aus“ [DjH II, 36] – der Tod ein Traum des sterbenden Greises. Dagegen brauchte Raphael in der Novelle Der Maler nur eine Hintertür zu öffnen, und: „Ein kalter Luftzug, wie aus Grabesnacht, wehte ihm entgegen“ [W 8, 12]. Das CÖLLN, Friedrich Hebbel und das Religiöse, S. 48. SUCHSLAND, Julia Kristeva zur Einführung, S. 123. 1355 LÜTHI, Europäische Volksliteratur, S. 70–72. 1356 KUH, Biographie, Bd 1, S. 72. 1357 LÜTHI, Europäische Volksliteratur, S. 71f. 1358 Dieses und die folgenden Zitate: PETZOLDT, Dämonenfurcht und Gottvertrauen, S. 164. 1353 1354

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Haus seines Herrn und Meisters war ohnehin „beständig verschlossen, wie eine Beinkammer“; dieser „schien ein ruheloses Gespenst zu sein, welches auf Augenblicke daraus hervor wandelte“ [W 8, 9]. Ist die hier wie anderswo beim Leser geweckte Erwartung, auf lebende Leichen und Gespenster zu treffen, lediglich auf den trivialen Gruseleffekt berechnet, ein literarischer Fehltritt des jungen Hebbel? Oder sollte diese Motivik doch auf persönlicher ‚Erfahrung‘ beruhen? Er selbst gestand 1836 einem seiner Förderer, dem Tönninger Bürgermeister Müller, im Rückblick von Hamburg auf die Wesselburener Zeit ohne Umschweife: „[D]ie Welt war mir ein Kirchhof, weil sie mir noch kein Frucht-Acker seyn konnte“ [WAB 1, 67]. Diese metaphorische Selbstauskunft entsprach kurioserweise weitreichenden biographischen Tatsachen. Der die Kirche umgebende alte Friedhof auf der mächtigen Ortswurt war Wesselburens topographisches Zentrum; auf ihn liefen alle wichtigen Straßen strahlenförmig zu. Die Wohnungen der Familie Hebbel in der Norder- und später in der Österstraße, lagen jeweils nur wenige Schritte entfernt. Von der Klippschule der Jungfer Susanna, der Elementarschule des Herrn Dethlefsen, die Hebbel besuchte, von den Wohnungen der Jugendfreunde Johann Barbeck, Jakob Franz, Doris und Emilie Voß aus mußte man bloß aus dem Fenster schauen – und blickte direkt auf den Friedhof. Man lebte mit dem Tod und hatte ihn täglich vor Augen. Der Friedhof war der Ort der Andacht, des kollektiven Gedächtnisses, Versammlungs-, Markt- und nicht zuletzt Tummelplatz für die Kinder – nicht nur in, auch vor der Kirche mischten sich heiliges und profanes Leben. Mit dem Kirchhof sind prägende Kindheitserfahrungen Hebbels verbunden. „Neben einem alten Grabkeller auf dem Kirchhofe hat er seine Spiele ausgeführt, und die Särge berühren, hat ihm eine schauerliche Lust gewährt“,1359 wußte Emil Kuh. Hier machte er die Knochenfunde1360, die tiefsitzende und andauernde Ängste an die Oberfläche des Bewußtseins brachten; am Rand des Platzes stand dräuend das unheimliche Beinhaus, das die Skelettreste aufnahm, die ihren angestammten Platz für neue Leichen räumen mußten. Es ist eine Erscheinung der Neuzeit, daß der Tod allmählich an den Rand des Bewußtseins – und der Städte gedrängt worden ist. Auch dieser Umbruch spielte sich in Hebbels Zeit ab: Bereits 1784 war am nördlichen Abhang der Klingbergwurt ein neuer Beerdigungsplatz angelegt worden, dessen Bodenverhältnisse sich allerdings als ungünstig erwiesen. Darum erhielt der Friedhof 1832 nochmals einen anderen Platz, weitab vom Ortskern, wo er sich noch heute befindet. Die erste Verlegung hatte allerdings dazu geführt, daß Hebbels Elternhaus in der damaligen Norderstraße genau zwischen der Kirche und dem neuen Friedhof lag. Mit den Beerdigungen waren regelmäßig Umzüge verbunden, die Friedhof und Ort ‚kultisch‘ miteinander verbanden und direkt an der Hebbelschen Haustür vorüberführten. Die „unbegränzte Ehrfurcht“ des Kindes vor dem Pfarrer hatte sich ausdrücklich auf „sein Herwandeln

1359 1360

KUH, Biographie, Bd 1, S. 129. Vgl. „das Berühren der Särge“ [W 15, 7]. „Das Knochensammeln“ [W 15, 6], das Hebbel einmal erwähnt, erklärt Bartels damit, daß „arme Jungen […] Knochen, die überall herumlagen, […] mit altem Gelump an die Lumpen- und Knochenhändler, die auch bei uns […] herumzogen“ verkauft hätten [BARTELS, Kinderland, 428].

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hinter Leichen“ [W 8, 81] bezogen – als Chorknabe ging auch Friedrich in späteren Jahren in den Leichenzügen mit, die auf dem Friedhof endeten. Das „Singen auf’m Kirchhof“ [W 15,7] erwähnte Hebbel in den Notizen zur Biographie nur stichwortartig; Emil Kuh erfuhr Genaueres: In Holstein werden die Leichen am Tage des Begräbnisses aus einem in der Nähe des Friedhofes liegenden Gasthause ausgesungen. Träger und Leidtragende wechseln Vers um Vers mit zwölf bis vierundzwanzig Schulknaben im Gesange ab, währenddessen der Sarg um die Kirche getragen und dann darin niedergesetzt wird. Nach dem Trauergottesdienste macht die Leiche noch einmal eine Runde um den Friedhof, bevor sie zu Grabe kommt. Friedrich half jedesmal beim Aussingen der Toten tapfer mit, trotz seiner mehr als zweifelhaften Stimmbegabung, und wie seine Sonntagsmühe, so fand auch dieser Totendienst einen irdischen Lohn. Dabei gewährte ihm das Betasten der Särge ein schauerliches Vergnügen. Aber so viel auch Zerstreuendes und heiter Aufregendes in dieser traurigen Sängertätigkeit für das Kind enthalten sein mochte: sie verschlang gleichwohl nicht die ernste Empfindung, die der unheimliche Vorgang in ihm erweckte, und die Worte: „Begrabt den Leib in seine Gruft!“ stöhnten und dröhnten in dem Knaben fort, lange nachdem er sie gesungen und vernommen hatte.1361

Daß die Chorknabentätigkeit in Wesselburen durchaus begehrt war1362 und daß das Leichenaussingen als etwas „heiter Aufregendes“, ja „Zerstreuendes“ empfunden wurde, war für Kuh nicht mehr recht vorstellbar. Aus seiner Sicht hatte man dabei „tapfer“, „ernst“ und „traurig“ zu sein, wie ihm überhaupt die ganze altertümliche Prozession suspekt erschien, wenn er an anderer Stelle zu dem Urteil ausholte: „Der Totentanz des Grauenhaften hing gleichfalls in seine Jugend hinein.“1363 Kuhs modernes Unbehagen mag nachfühlbar sein, das katholisch anmutende Kolorit in einer protestantischen Kirche irritieren. Dennoch wird darin nur der mentalitätshistorische Abstand deutlich, der das spätere 19. Jahrhundert von früheren Epochen trennt. Sollten aber die nicht mehr gewohnten Riten darum gleich etwas mit Aberglauben zu tun haben? Aufschlußreich ist Hanns Bächtold-Stäublis Verweis auf die Geschichte solcher prozessionsartigen Umgänge: Umwandlungen der Kirche seien „ebenso alt wie weit verbreitet und vielgestaltig“,1364 wobei es sich „bald um mehr oder weniger verblaßte kultische Riten, bald um magische Absichten“ handele. Er erinnerte daran, daß Kollektivumwandlungen, darunter auch „Bittprozessionen und -umritte“, erst im Laufe der Zeit „mehr oder weniger offiziell in die kirchlichen Bräuche aufgenommen“1365 worden seien. Als „Thorheiten“1366 kritisierte der Ordinger Pastor Dieckmann in seiner Predigt gegen den Aberglauben die „vielen Processionen“ der Katholiken – in seinem näheren Umkreis drückte er offenbar die Augen zu. Der KUH, Biographie, Bd 1, S. 46. Vgl. W 15, 22. Vgl. auch: „Die Sänger erhalten zum Lohn Schnaps, Bier oder Geld.“ [BÄCHTOLD-STÄUBLI, Handwörterbuch, Bd V, Sp. 1094]. 1363 KUH, Biographie, Bd 1, S. 129. 1364 Dieses und das folgende Zitat: BÄCHTOLD-STÄUBLI, Handwörterbuch, Bd IV, Sp. 1405. 1365 Ebd., Sp. 1406. 1366 Dieses und das folgende Zitat: DIECKMANN, Dreyfaches Sedezbüchlein, S. 30. 1361 1362

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Umgang als solcher erinnerte jedoch allenfalls atmosphärisch an ‚primitive‘ Praktiken. Viel direkter widersprach der kirchlichen Lehre, daß beim Dithmarscher Leichenaussingen der Tote wie ein Lebender behandelt wurde. Man ‚wandelte‘ mit ihm gemeinsam durch die Straßen des Ortes und kommunizierte mit ihm durch Gesang. Gerade aus Dithmarschen wußte Bächtold-Stäubli von der Eigentümlichkeit zu berichten, daß „der Tote als mitsingend“1367 dargestellt wurde: Dabei „mußte am Grab ein Sänger den Verstorbenen repräsentieren und die erste Hälfte einer Strophe singen; in St. Annen mußte ein Knabe ins Grab steigen und auf dem Sarg stehend singen.“ Entfernt gemahnt der Leichenzug bei klingendem Spiel auch an das nächtliche Pendant der Geistertänze, wie Hebbel sie in Holion, Die einsamen Kinder und Die Todten aufführen ließ. Doch diese waren mehr an literarische Vorbilder angelehnt. Geistertänze, so schon Paul Bornstein, fand Hebbel „vielfach in seiner Lektüre vor: bei Matthisson, dessen „Geistertanz“ wohl direkten Einfluß übte, bei Bürger, Goethe, Heine usw.“ [DjH II, 249]. Das unreflektierte Verhalten, einen Toten zu behandeln, als lebe er noch, fand seine Fortsetzung auch im profanen Bereich. So notierte Hebbel im Tagebuch: „Der lange Glaser, der seine Frau im Sarge schlägt: ‚der alte Teufel hatte nie genug!’“ [T 1619]. Eine ähnliche Szene verlegte Hebbel in das Dithmarschen des Jahres 1500 – wo sie nach aufgeklärtem Empfinden wohl eher hingehörte. In dem Dramenfragment Die Dithmarschen erzählt Hans Mann von „Jan van der Heide, Küster und Todtengräber in Waslingburen“: Ein grauslicher Gesell! […] [Er] führte mich in seinem Besitz herum. Er öffnete Kasten nach Kasten; erst zeigte er mir seinen Vorrath von feinem Leinen, dann sein Silbergeschirr, zuletzt sein baar Geld; dann fragte er mich, ob’s genug sei für einen armen Mann. Und als ich ihm erstaunt zunickte, riß er grimmig die Thür zum Piesel auf, wo seine Frau bei Kerzenlicht im Todtenhemde lag, gab dem blauen, stillen Leichnam einen schallenden Backenstreich, und sprach: die war doch nie zufrieden!“ [W 5, 74]

Diese Praxis ist aus Sicht des perplexen Zeugen unsinnig, Zeichen einer ‚verkehrten Welt‘. Doch liegt dieser Verkehrung ein magischer (und zugleich tiefenpsychologischer) Inhalt zugrunde, der mit rationalen Maßstäben eben nicht erfaßbar ist. Wenn für Hebbel die Welt „ein Kirchhof“ war, so war doch dieser Kirchhof auch eine „Welt“ – von eigenartiger Vitalität. Auf vielfache Weise war der Tod im Leben präsent, zu dem er gehörte. Wie sollte er nicht auch in Hebbels Literatur präsent sein? Besonders in den frühen Werken häufen sich die Belege für eine tendenziell abergläubische Behandlung des Themas, bei der es immer wieder um die Überschreitung der Trennlinie zwischen Leben und Tod geht. Die erstaunliche Präsenz dieser Motivik, die lange im ‚toten Winkel‘ der Forschung lag, zeigt sich erst in der zusammenfassenden Überschau.

1367

Dieses und das folgende Zitat: BÄCHTOLD-STÄUBLI, Handwörterbuch, Bd V, Sp. 1094f. Vgl. CARSTENS, Totengebräuche aus Dithmarschen, S. 33. Vielleicht erinnert sich Hebbel an ein ähnliches Ritual in T 6342, wo man „ein Kind […] des schönen Todten-Anzugs und der Kränze wegen beredet, die Todte zu spielen“.

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In der kindlichen Auffassung des kleinen Theodor in Die einsamen Kinder erscheint der Tod als Schlaf, aus dem ein zeitweiliges Erwachen möglich ist: „Sollten unsre Eltern wirklich noch leben; sollten sie in einem tieferen Schlafe liegen und nur selten erwachen dürfen?“ [DjH II, 60] Selber im ‚Schlafe‘ liegend erlebte Hebbel in der Nacht seines 22. Geburtstages genau dieses in dem Geburtsnacht-Traum, den er in ein Gedicht faßte: „Ich habe meine Väter all’ [/] Um mich vereint gesehen. […] Nun frag’ ich mich mit Beben: [/] Ob sich das Leben und der Tod [/] Im Grabe noch verweben?“ [W 6, 255 u. 257] Das Gedicht endete in der bangen Frage, „ob ich selbst dereinst mein Kind, [/] Statt ruhig auszuschlafen, [/] Durch Nacht und Sturm begleiten muß [/] Bis an den letzten Hafen?“ [W 6, 258] Ortho- und heterodoxe Alternative werden hart miteinander konfrontiert: das Ausschlafen bis zum Tag der Auferstehung und das ewige Wandeln als ruheloser Geist. Der hier in lyrischer Form ausgesprochene Gedanke gewann bedrängende Unmittelbarkeit, als der von Ängsten und Gewissenbissen gequälte Hebbel nach dem Tod seines Sohnes Maximilian fast flehend ins Tagebuch schrieb: „O mein Max, umschwebe mich nicht, auch keine Minute, bleibe bei Deiner Mutter, tröste sie, lindere ihren Schmerz durch Deine geisterhafte Nähe, wenn Du es vermagst, nur nicht meinen, nicht meinen!“ [T 2805] Die abergläubische Vorstellung einer „Sympathie“ zwischen engen Verwandten kam hier in Gestalt einer Angstvision zum Vorschein. An anderen Stellen stilisierte Hebbel sie hingegen wieder zu einer Art dichterischen Sehertums: „Schau‘ ich in die tiefste Ferne, [/] Meiner Kinderzeit hinab, [/] Steigt mit Vater und mit Mutter, [/] Auch ein Hund aus seinem Grab“ [W 6, 408]. Als Das alte Haus stille schweigt, „ist’s“ dem lyrischen Ich, „als schritten [/] Die todten Väter all’ heraus, [/] Um für ihr Haus zu bitten“ [W 6, 268]. Einen ‚klassischen‘ Un-Toten hat Hebbel mit dem wilden Jäger in dem Märchen Die einsamen Kinder gestaltet. Der Erzähler lenkt den Blick auf den Galgen, „an den sie den Wilddieb gehängt haben“ und von dem die Rede geht, „daß er nicht verwes’t, und daß, so oft sie ihn auch abnehmen und verscharren, er in der nächsten Nacht immer wieder aus dem Grabe hervorsteigt und seinen alten Platz einnimmt“ [DjH II, 78]. Ihm sind die Kinder bereits leibhaftig begegnet, um aus seinem Mund zu vernehmen: „Es giebt keinen Tod, […] es giebt nur Leben. Was sich todt stellt, das kehrt die alte Spielerei um, schläft bei Tage und verläßt bei Nacht sein Grab“ [DjH II, 61f.]. Damit korrespondiert ein Tagebuchnotat Hebbels aus dem Jahr 1847: „Der Tod ist nur eine Maske, die das Leben vornimmt“ [T 4214]. Von diesem gedanklichen Vexierspiel wird auch der ältere Bruder Wilhelm ergriffen: „Ihm war, als wären Himmel und Erde vergangen […]. Und wie er sich in diesen Gedanken mehr und mehr vertiefte, verwechselten sich in ihm die Begriffe von Tod und Leben wunderbar; er glaubte, in einem dumpfen Traume vor der Geburt zu liegen“ [DjH II, 78]. Auch der schwer träumende Holion befindet sich in einem unbequemen Zwischenzustand: „[S]ein Blut fand sich nicht mehr zum Herzen; sein Auge konnte nicht mehr weinen: er glich einem Todten und war doch nicht gestorben“ [W 8, 4]. Dies bestätigt ihm auch der ihn marternde böse Geist: „Nun will ich dich recht quälen, du blödes Menschenherz […], du bist wohl vergangen, aber nur halb“ [W 8, 5]. „[N]ichts aus dem Gebiete der Lebendigen war ihm geblieben“ [W 8, 6], heißt es von dem Schlafenden. Bei dem sich in den Tod hinüberträumenden Greis hingegen war das Blut

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„erstarrt, die Hände des Edlen fühlten sich kälter; aber sein frommes Auge war nicht gebrochen, es stralte vor belohnter Gottergebung“ [DjH II, 40]. Die zur Statue erstarrte Gestalt des Greises leitet zu einer spezifisch künstlerischen Form der Transzendenz über. Ohne mythologische Verbrämung kam Hebbel 1833 Bei Betrachtung einer schönen Statue aus: „Welch ein Göttergebild! Und doch geformtes Gestein nur! [/] Flammen erregt es in mir – selber ist es so kalt!“ [DjH II, 194] Keineswegs tot oder steinern ist das „alte Mädchen“, auf das Hebbel 1835 wohl noch in Wesselburen ein Gedicht verfertigte. Dennoch: „Dein Auge glüht nicht mehr, wie einst, [/] Und Deine Wang’ ist nicht mehr roth […] Nichts bist du, als ein Monument, […] Doch, wie hervor die Todten geh’n [/] Aus ihrer Gruft in mancher Nacht, [/] Darfst Du zuweilen aufersteh’n“ [W 6, 207f.]. In ihrer Person vereinigen sich verschiedene Aspekte; die Ärmste ist lebender Leichnam, kaltes Standbild und umherirrendes Gespenst zugleich. Die Figur des Wiedergängers kehrt noch öfters in vielerlei Gestalt wieder, stilisiert zum subjektiven Gefühl, zum Vergleich, zum literarischen Bild. Der Doktor der ‚Schwarzen Kunst‘ aus Die beiden Vagabonden sieht „mit seinem unveränderlichen leichenblassen Gesicht“ aus wie ein „vor der Zeit aus dem Grabe zurück gekehrter Todter“ [W 8, 121]. In Genoveva erscheint das Motiv zunächst gleichfalls zum Vergleich abgeschwächt, als Siegfried beim Anblick Golos ausruft: „Ihr, Golo? In der Nacht noch? Und so bleich [/] Und abgehärmt, als kämt Ihr aus der Gruft?“ [W 1, 201] Wenig später glaubt er aber doch: „Du bist noch da? Dann bist Du ein Gespenst, [/] Das mir die Hölle schickt“ [W 1, 203]. Und schließlich spricht Genoveva selbst: „O, seht mich an! Ist’s nicht ein Todtenkopf, [/] Der zu Euch redet? Ein Gerippe nicht, [/] Das fleischlos-magre Arme grausend hebt?“ [W 1, 240] Auch die Klara in Maria Magdalena fühlt sich nach ihrem Gespräch mit dem Sekretär Friedrich, „als ob ich schon jenseits des Grabes wandelte, wo Niemand mehr roth wird“ [W 2, 50]. Die Brunhild der Nibelungen schließlich lebt nach vollzogener Rache „weiter wie eine Tote, stiert in die Runen und haust im Grab des Ermordeten, dem sie nachtrauert.“1368 So gestaltet Hebbel vielerlei subjektiv erlebbare Übergänge zwischen Leben und Tod, die nicht zuletzt auf seine eigenen ‚nachtseitigen‘ Visionen, Träume und abergläubische Vorstellungen zurückgehen. Nicht nur zwischen Menschen und Dingen, sondern vor allem zwischen Menschen untereinander, zwischen „Mutter und Kind oder Vater und Sohn“ besteht nach volkstümlicher Vorstellung eine „natürliche“ Sympathie;1369 sie kann Vorahnungen und gleiche Gedanken bewirken und „reicht über das Grab hinaus.“ Entwicklungsbzw. tiefenpsychologisch läßt sich der Sympathiegedanke mit dem Stadium des Uroboros in Verbindung bringen, das Erich Neumann als ein „Sein in der participation mystique“1370 kennzeichnete, in dem der Mensch „noch gleichzeitig dies und jenes, […] seine Verwandlungsfähigkeit universal“, jedes Außen zugleich Innen sei, in dem „alles, sich verwandelnd, alles sein und auf alles wirken kann.“1371 Diesen Zustand würde der

MATTHIESEN, Friedrich Hebbel, S. 127. Dieses und das folgende Zitat: BÄCHTOLD-STÄUBLI, Handwörterbuch, Bd VIII, Sp. 628. 1370 Dieses und das folgende Zitat: NEUMANN, Die große Mutter, S. 93. 1371 Ebd., S. 226. 1368 1369

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moderne Mensch „nur noch als Grenzerfahrung kennen“;1372 doch partizipierten auch wir „mit den Teilen unserer Psyche, die nicht Ichbewußtsein sind, noch an diesem archetypischen Stadium“. Durch eine enge sympathetische oder ‚symbiotische‘ Beziehung zu einem Lebenden kann der Tote zum „Nachzehrer“ werden, der den nahen Menschen mit ins Grab zieht. Dies widerfährt buchstäblich dem ungetreuen Liebhaber der Rosa: Komm’, Herrmann, komm mit herunter, In deiner Rosa Gemach, […] Er hört es mit Zittern und Bangen – Da öffnet sich schaurig ein Grab: Sie hauchte ihn an auf die Wangen – – Und Beide sanken hinab. [W 7, 30 – 32]

Wie selbstverständlich geht auch Genoveva von dem Phänomen des Nachziehens aus, obschon es hier psychologisch motiviert wird. Beim Abschied Siegfrieds erklärt sie nach ihrem Liebesgeständnis: „Nun habe ich im Tod Nichts mehr für Dich […], daß Dich in die Nacht [/] Mir nachzieh’n wird, wenn mich ihr Schatten deckt“ [W 1, 96]. Die tendenziell modernen Momente, daß die ‚romantische‘ Liebe ewig währt und Eheleute intime Gefühle füreinander nicht nur besitzen, sondern auch noch direkt mitteilen, stürzt den braven Kreuzritter Siegfried sofort in Verwirrung. Zwischen „Angst“ und „Wollust“ schwankend stellt er sich die Gattin als liebende Leiche vor: „O Böse! Daß Du noch im Tod mich liebst, [/] Du willst mir’s doch nicht zeigen durch den Tod?“ [W 1, 96] Vor dieser ‚entgrenzten‘ Form der Zuneigung schreckt er zurück und wünscht zugleich den vorigen Zustand der Unwissenheit wieder herbei: „Viel lieber will ich, zweifelnd für und für, [/] Noch um Dich werben, wie ich lange warb“ [W 1, 96]. Eine rationale Erklärung für das Nachsterben eines Geliebten gibt die Romanze Das Wiedersehen: Der Jüngling Amarillo findet sein Mädchen im Elternhause tot und aufgebahrt; er küßt sie und stirbt. Als die bestellten Totenträger das Gemach betreten, „Sehen sie ein Nachtgespenst, [/] Oder täuscht der Kerzenflimmer? [/] Lipp’ in Lippe festgewurzelt […] Haben sie statt eines Todten [/] Deren zwei im Sarg gefunden!“ [W 7, 112] Der Erzähler verrät den Grund: „Jüngling, deines Mädchens Leiche [/] War mit Grab und Tod im Bunde, [/] Was sie selbst zerstört, das Gift, [/] Sogst du ein von ihrem Munde!“ [W 7, 113] Bis auf die Katastrophe machen die Schilderungen „durchaus den Eindruck des Erlebten“ [DjH II, 259], wie Paul Bornstein kommentierte. Bis in „bestimmte Begebenheiten und Örtlichkeiten hinein“ [DjH II, 259] war Hebbel der Stoff durch den Tod seiner Freundin Wilhelmine Haack eingegeben worden. In nüchtern-theoretischer Manier berührte er das Thema später einmal im Tagebuch: „Wenn ich sterbe und Einer stirbt mir nach aus Gram um mich: hab’ ich seinen Tod zu vertreten?“ [T 4233] – „Übrigens ein echt Hebbelscher Einfall“,1373 meinte Arno Scheunert dazu, nicht ahnend, daß Hebbel hier lediglich den Nachzehrer des Volksglaubens, der das Nachsterben bewirkt, säkularisierte. 1372 1373

Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 214. SCHEUNERT, Der Pantragismus, S. 107.

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Gerade bei der populären Gespensterthematik sind Anleihen aus der Literatur allerdings erwartbar. Nicht nur in der Novelle Der Maler von 1832, die in den Raum „zwischen Himmel und Erde“ [W 8, 10] ausgreift, sah Paul Bornstein den „Einfluß Hoffmanns bis ins Einzelne“ [DjH II, 232] wirksam. Der schon 1829 entstandene Holion sei ein „erster unreifer Prosaversuch“, bei dem „verkrampfte Phantastik und unempfundener Pessimismus“ auf den „Einfluß von Hoffmanns Vision auf dem Schlachtfelde zu Dresden“ [DjH II, 229] zurückgingen. Über Die einsamen Kinder äußerte Richard Maria Werner: „Hier mischen sich Realistik und Phantastik wie bei E.T.A. Hoffmann, Motive von W. Hauff und Contessa, wohl auch von Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre begegnen“.1374 Auch in seiner Lyrik ließ der junge Hebbel recht konventionelle, literarisch längst etablierte Geister auftreten, sei es das „Meerfräulein“ [W 7, 42], das „oft bei Mondenscheine noch an’s Gestad hervor“ [W 7, 43] steigt und den ersten Einfluß Uhlands erkennen läßt,1375 sei es die „lange dunkle Fei“ am „Felsenufer“ [W 7, 67], in der Heines Lorelei wiederauflebt.1376 An Vorbilder bei Schiller, Hölty und Bürger1377 erinnert die Kinds- und Selbstmörderin Rosa. Als der Verführer ihrem Grab naht, „wird die arme Rosa wach [/] Und steiget aus dem Schlafgemach“.1378 Als bleicher „Schatten“ [W 7, 29] tritt sie „Hervor im weißen Gewand, […] schwebt mit sylphischem Tritte [/] Und winkt mit bebender Hand“ [W 7, 29]. Gespenster ganz in weiß – hier war die Motivik endgültig beim Klischee angelangt. Allerdings fand Hebbel noch als Student: „man schauert vor einer weißen Gestalt“, denn „Gespenster denkt man sich weiß“ [T 1361]. Was dem Leser bei Rosa allzu direkt vor Augen schwebt, erscheint im Nachruf. An Wilhelminens Grabe in verinnerlichter und theologisch verträglicher Form: „Du spielst, ein sanftes Abendroth, [/] In meine Brust hinein, [/] Und bist Du allenthalben todt – [/] Dort wirst Du’s nimmer seyn! […] Wo alles Hohe, Schöne wohnt [/] In wandelloser Ruh; [/] Wo Gott, der ew’ge Vater, thront, [/] Da wohnest jetzt auch Du!“ [DjH II, 207] Doch auch hier gab es neben Schauerromantik und pastoraler Rhetorik noch eine weitere Dimension des Sprechens von Transzendenz. In einem zweiten, persönlicheren Nachruf Hebbels auf die Jugendfreundin Wilhelmine Haack hatte auch der Geisterglaube wieder seinen Platz: „[W]enn Du nun in nächtlich-heilger Stille [/] Hernieder schwebst, ein Lüftchen deine Hülle, [/] Was wird mir deine Gegenwart verkünden? [//] Ach, […] Daß Funken sich von neuer Wonne regen, [/] Denn deine Nähe nur kann sie entzünden!“ [W 6, 203]. Wahrscheinlich gingen diese Verse auf authentisches Empfinden zurück. Ein nach seinem Entstehungsanlaß Abendgang betiteltes Gedicht sprach in ähnlicher Weise von der Freundin: „Da ist es mir, als ob

WERNER, Friedrich Hebbel. Ein Lebensbild, S. 53. Vgl. Bornstein, Anmerkung in DjH II, 246. Vgl. aber Kuh, der immerhin „Sagen von trauernden Weibern“ auch in Dithmarschen „viel verbreitet“ sah [KUH, Biographie, Bd 1, S. 72]. 1376 Vgl. Bornsteins Kommentar zu Erinnerung in DjH II, 250. 1377 Vgl. Bornsteins Kommentar in DjH II, 243. 1378 W 7, 32. Ähnlich glaubt Golo, daß Genoveva „Todte stören könnt’ im Schlaf, [/] Wenn sie vorüber wallt an ihrer Gruft“ [W 1, 110]. 1374 1375

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das Band [/] Noch immer heiter fortbestehe.“1379 Dieses Gefühl beschwor Hebbel einige Jahre später noch einmal im Münchener Tagebuch: „Ich bin überzeugt, wenn ich jetzt jenen unheimlichen Geisterschauder, wie ihn nicht Bücher, nicht gespenstische Oerter, nicht die Mitternachtsstunde in meiner Brust hervor rufen, empfinde, so ist mir ein Geist nah“ [T 691]. Mit seinem besten Freund Emil Rousseau war er auch in dieser Hinsicht seelenverwandt: „Rousseau glaubt zuweilen zu empfinden, er müsse Herr über irgend einen Geist seyn“ [T 693]. Und in Gedanken an dessen Bruder, der „blödsinnig“ [T 694] war, fragte sich Hebbel im April 1837, „wie wohl solche Menschen gegen die Geisterwelt stehen, ob sie nicht vielleicht Manches empfinden, fühlen und sehen, was ihr angehört und uns verschlossen ist“ [T 694]. Knapp anderthalb Jahre später schrieb er Elise Lensing: „Der Wahnsinnige […] steht jener Welt vielleicht näher, wie wir Alle“ [WAB 1, 248]. Später verstand es Hebbel mit zunehmender Virtuosität, historische, literarische und lebensweltliche Dimension in einem Motiv übereinander zu blenden. In Demetrius kündigt Fürst Schuiskoi, der sich nicht wie ein „Todte[r], schieben lassen“ will, mit metaphorischem Hintersinn an: „Noch zur Nacht [/] Zeig ich, daß ich lebendig bin“; die gläubig-orthodoxe Zarin Marfa rechnet um 1605 hingegen ganz selbstverständlich mit dem Wirken dämonischer und englischer Wesen: „Die Krone macht die Teufel, die den Menschen [/] Zu allem Bösen reizen, doppelt stark [/] Und doppelt schwach die Engel, die ihn warnen!“ [W 6, 43] Auch gehört etwa der Geisterglaube in Genoveva einerseits zum erwartbaren mittelalterlichen Kolorit; daß Golo und Katharina fraglos an Gespenster glauben [W 1, 187], darf nicht verwundern. Andererseits ähneln die Seh-Erfahrungen der alten Katharina auffallend denen des kleinen Friedrich vorm Einschlafen: „Wohin ich schau’, [/] Da stiert es mich, als wär’s mit Augen, an! [/] Was sitzt dort in der Ecke? In der Thür, [/] Was ist’s, das mir den Ausgang wehrt?“ [W 1, 249]. In solchen Wahrnehmungen objektiviert sich zugleich eine bestimmte seelische Disposition. Schon an Die einsamen Kinder bemerkte Richard Maria Werner trotz der literarischen Abhängigkeiten eine „tiefsinnige Symbolik“ und eine „keineswegs alltägliche psychologische Analyse.“1380 In der vielgestaltigen Geisterwelt des jungen Hebbel hat neben der Motivik des Untot-Seins auch der mehr oder minder konventionelle Auferstehungsglaube noch seinen Platz. „Pastorenlyrik in Reinkultur“ [DjH II, 244] nannte Paul Bornstein die Elegie [/] am Grabe eines Jünglings von 1830: Dort gab der Herr „Dem gedrückten Jüngling Cherubsflügel – [/] Und er schwebte himmelan“ und war fortan „ein guter, […] ein schöner Engel“ [W 7, 23]. Die ihrem Geliebten nachsterbende Laura „führten, freundlich lächelnd“, Engel „zu dem Treuen hin. […] Sie lebt im Paradies“ [W 7, 21]. Auch Rosa wird zugesagt: „Sei selig du im Paradies“ [W 7, 33]. In Der erste und der letzte Kuß (1829) glaubt das lyrische Ich, „wer bis zum Grabe nur Trübsal erfuhr, [/] Der wandelt im Jenseits auf blumiger Flur – […] Drum fest den Blick zu Sternenhöhen!“ [W 7, 242] Das Versprechen „Wir seh’n uns einst wieder!“ [W 7, 242] basiert hier aber W 6, 203. Abendgang erschien zuerst in Cottas Morgenblatt vom 7. Dezember 1835. In der Ausgabe der Gedichte von 1842 wurde der Titel in Süße Täuschung geändert. Vgl. Bornsteins Kommentar in DjH II, 260. 1380 WERNER, Friedrich Hebbel. Ein Lebensbild, S. 53. 1379

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schon nicht auf der geglaubten Zusage Gottes sondern auf einem emotionalisierten Naturglauben: „[S]o ruft die Natur, [/] So tönt es im eigenen Herzen“ [W 7, 242]. Halb Gedanke, halb Gebet ist auch das erste der Fragmente von 1830: „Unsterblichkeit! O Lichtgedanke [/] Du hebst das Herz [/] Zum Himmel, daß es nimmer wanke“, heißt es zu Beginn, um dann in die Apotheose des Künstlers zu münden: „Und trägst zu immer heitern Höhen [/] Den freien Geist, [/] Und neue Schöpfungen entstehen, [/] Wenn du sie’s heißt“ [W 7, 38]. Der dreißigjährige Hebbel hätte dies wohl schwerlich noch unterschrieben; 1843 unterzog er dieses metaphysische Gedankengut stattdessen einer scharfen psychologischen Analyse: Daraus, daß wir ein höheres Leben hoffen, daß wir ein Bedürfniß fühlen, das uns die Unsterblichkeit wünschenswerth macht, folgt die Letztere gewiß nicht, denn dies Bedürfniß deutet ja auf nichts Fremdes, noch Unbekanntes und Niebesessenes, das sich instinctartig ankündigte, sondern nur darauf, daß wir dem Gegenwärtigen ewige Dauer und höchste Steigerung verleihen mögten [T 2869].

Kurze Zeit zuvor hatte Hebbel ein ‚empirisches‘ Argument auch gegen die Existenz von Geistern vorgebracht: „Es ist doch immer in Bezug auf die persönliche FortDauer ein bedenkliches Zeichen, daß sich nie ein abgeschiedener Geist dem überlebenden befreundeten angezeigt hat“ [T 2596]. Damit folgte Hebbel zögernd der „Frohbotschaft der Aufklärung: ‚Es gibt keine Gespenster!’“1381 Diese hatte bereits zu Hebbels Zeit die bürgerliche Welt entmythologisiert und „Gebirge und Wald entvölkert von jenen Spukgestalten, die einst Angst machten.“ Darauf zielte auch die moderne Pädagogik ab; die „Angst vor Gespenstern soll es bei Kindern der neuen Zeit nicht mehr geben“. Jean Paul, fünfzig Jahre vor Hebbel geboren, konnte über seine Kinderängste nur noch den Kopf schütteln: „Wenn einer sichs schildert, wer lacht nicht?“1382 Auch Hebbel mochte zuweilen lachen – doch schwang darin zugleich eine altertümliche Bangigkeit mit. Noch als Erwachsener wurde er zuweilen von abergläubischen Ängsten und Träumen heimgesucht, die er immer wieder verarbeitete – und zwar nicht in einer „Literatur aus Literatur“, auch wenn literarische Vorlagen das Einschmelzen von abergläubischem Gut in die eigenen Werke erleichterten. Auf diese Weise gelang die ‚säkularisierende‘ Verwandlung einer magischen Zwielichtigkeit in poetischen Doppelsinn. Das Lied der Geister mag an Hoffmann und Schiller erinnern,1383 die Geister selbst mögen sich dem Menschen „in mancher Gestalt“ nähern; doch letzlich sind sie „wie Räder und Federn in die Uhr […] verwoben in seine Natur“ [W 7, 64] – sind also Teil seines Wesens. Damit einher geht ihre Verinnerlichung zu einem sanften „Durchwall[en]“ des Herzens, „Leidenschaft“, „allmächtige[r] Sehnsucht“ und „Sorge“ – die derart ‚naturalisierten‘ und psychologisierten Geister werden zu reinem ‚Geist‘. Man mag die Häufung von Untoten und Gespenstern in Hebbels Werk als unzeitgemäß oder ästhetisch verfehlt kritisieren. Gerade deswegen sollte man sie als einen Befund ernstnehmen, der erneut die starken tradi-

Dieses und das folgende Zitat: RICHTER, Das fremde Kind, S. 230f. Zit. nach RICHTER, Das fremde Kind, S. 314. 1383 Vgl. dazu Bornsteins Kommentar zu Lied der Geister in DjH II, 248f. 1381 1382

Besprechen, Sehen, Ahnen – Kontakte zum Jenseits

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tionalen Anteile seiner Mentalität bezeugt, die in einem langwierigen Prozeß modernisierend und psychologisierend überformt, aber nicht spurlos eliminiert werden.

Besprechen, Sehen, Ahnen – Kontakte zum Jenseits Mit Teufel, Geistern und belebten Dingen ließ sich Kontakt nur in besonderen Formen aufnehmen. Menschen, die in dieser Weise begabt waren, gerieten dabei selbst ins Zwielicht. Unheimlich war eine Person, von der es hieß, „was sie einem wünsche und bitte, das wurde gern wahr“.1384 Die Kommunikation mit der ‚anderen‘ Welt ließ sich traditionell auf verschiedenen Wegen herstellen. Einen Schadenszauber etwa konnte man „durch Vergraben, Fluchen oder den bösen Blick“1385 ausführen, wie Kerstin Sander über den Aberglauben im Spiegel schleswig-holsteinischer Quellen zu berichten wußte. Während es beim Vergraben um die sympathetische Mensch-Ding-Beziehung ging, stand beim Verwünschen, Fluchen und „Berufen“ die Sprachmagie im Vordergrund. Der Fluch ist eine Redeformel, mit der man Unheil, sei es in Gestalt von Donner und Blitz, sei es als Krankheit oder Tod auf eine Person oder auch auf ein Tier herabwünscht. „Für die Wirksamkeit der Verwünschung werden der Wille des Fluchenden sowie die Intensität, mit der er den Fluch ausstößt, als entscheidend angesehen. Werden dabei Gott oder der Teufel angerufen, gilt der Fluch als umso kräftiger.“1386 Beschworen werden dämonische Kräfte. So gilt etwa eine Krankheit als ein „Dämon, ein Wesen, das durch den Zauber gezwungen wird, den Körper der Kranken zu verlassen. Es löst sich dabei jedoch nicht in Luft auf, sondern muß andere Opfer heimsuchen können, die dann erkranken.“1387 Entsprechend gibt es apotropäische Verhaltensmaßregeln, die dazu dienen, die Aufmerksamkeit von Teufel, Dämonen oder bösen Menschen erst gar nicht auf sich zu ziehen. „Einzelne Umstände beim Anziehen sind vorbedeutend oder verhängnisvoll“,1388 heißt es in Bächtold-Stäublis Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Wenn Friedrich „nie ein reines Hemd anziehen durfte, ohne dabei: das walte Gott! zu sagen“ [W 8, 92], dann verbarg sich hinter der Formel weniger ein ‚frommer Wunsch‘, wie Hebbel dem Leser suggerieren will, sondern eher die abergläubische Furcht, daß andere „durch böse Worte […] aber auch durch gute Worte […] und unvorsichtiges Bewundern“1389 dem Besitzer schaden könnten, „dem noch die magische Verbindung mit dem K[leide] fehlt“.1390 Hierin liegt wohl auch ein Grund dafür, daß „mein Vater sich neue Kleider schmutzig machte.“ [W 15, 12], wie Hebbel berichtete. „Einer, der buchstabirend beichtet“ [T 2395], wie ein knappes Tagebuchnotat lautet, mag von einer ähnlichen Sorge inspiriert sein: Es ist besser, die Greuel nicht noch einmal ausSANDER, Aberglauben, S. 44. Ebd., S. 45. 1386 Ebd., S. 42. 1387 Ebd., S. 50. 1388 BÄCHTOLD-STÄUBLI, Handwörterbuch, Bd IV, Sp. 1473. 1389 Ebd., Bd I, Sp. 1097. 1390 Ebd., Bd IV, Sp. 1470. 1384 1385

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zusprechen, um so nicht wiederum den Teufel anzulocken. Dieser Beleg steht nicht allein. Eine ähnliche Funktion, die des „erschrockenen und entsetzten Innehaltens vor einem Auszusprechenden, das eine gefürchtete Folge bedeutet“,1391 erkannte Joachim Müller an den häufigen Aposiopesen in Maria Magdalena: Oft ist das jähe Abbrechen der Rede die Scheu, ein in der Luft liegendes Unheil ins Wort zu fassen – der alte Volksglauben wirkt, von Hebbel vielleicht gar nicht immer bewußt einkalkuliert, sondern den Figuren als ihnen immanente Tradition beigegeben, mit, daß man einen Namen, eine Sache, einen Vorgang erst dadurch in die Realität beschwört, daß man sie benennt, beruft.1392

Dem Künstler ist neben dem eifersüchtigen Dämon auch ein freundlicheres Pendant vertraut – der Genius, der jedoch gleichfalls pfleglich behandelt sein will, wie Hebbel in Der Dämon und der Genius zum Ausdruck brachte: Glücklich willst du nicht heißen, noch weniger jubeln und jauchzen, Daß du den Dämon nicht weckst, der nur die Stillen verschont; Aber zitterst du nicht, den Genius selbst zu verletzen, Welcher dich segnet und schirmt, wenn du den Dank ihm entziehst? [W 6, 338]

Dies war durchaus nicht nur symbolisch gemeint; Hebbel selbst verhielt sich konsequent entsprechend dieser Maxime,1393 wie schon Paul Bornsteins Zusammenstellung entsprechender Brief- und Tagebuchstellen gezeigt hat. So äußerte sich Hebbel vor der Münchner Agnes Bernauer-Aufführung 1852 in einem Brief an seine Frau Christine nur deshalb optimistisch über den zu erwartenden Erfolg des Stückes, „da es zu einem guten Zweck geschieht, so darf ich es wagen, ohne fürchten zu müssen, die bösen Dämonen zu reizen“ [WAB 2, 451]. Doch auch dem, der „Böses fürchtet, dem trifft Böses ein. Die Dämonen züchtigen ihn für seinen Verdacht“ [T 4033]. Bornstein meinte, daß solche Vorstellungen, die Hebbel auch in Platons Gastmahl fand [T 2448], „als Aberglaube zu bezeichnen wir uns hüten müssen“ [HP II, 431]. Allerdings sagte Hebbel selbst, daß er „in Bezug auf das Reden von Dingen, die erst im Werden begriffen sind, den Aberglauben unserer Altvordern in höherem Grade theile, als ich selbst gestehen mag“ [WAB 2, 405]. So konzedierte Bornstein wiederum: „Hier läuft zweifellos die Grenze zum Aberglauben, an dem H., heimatlich und besonders durch Elisen beeinflußt, reichlich und höchst bewußt teilhat“ [HP II, 431]. Die Zahl der Beispiele läßt sich leicht vermehren. War Hebbel schon 1837 beherrscht von einer „abergläubischen Furcht, die Schatzgräber schweigen heißt“ [WAB 1, 200], so war es fast 20 Jahre später nicht anders: 1856 beschied er Emil Kuh, der sich nach dem entstehenden Werk (Mutter und Kind) erkundigt hatte: „Ich werde, aus Aberglaube, wenn Sie wollen, den Schleier auch nicht eher lüften, als bis ich entweder fertig seyn oder die

MÜLLER, Zur motivischen und dramaturgischen Struktur von Hebbels Maria Magdalena, S. 60. Dort auch Beispiele, S. 61. 1392 Ebd., S. 60. 1393 Vgl. WAB 1, 433. 1391

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Überzeugung gewonnen haben werde, daß das Werk ein Torso bleibt.“1394 Diese Haltung bezog sich keineswegs nur auf dichterische Werke: „Was mit Wien, mit Deutschland überhaupt, jetzt weiter werden wird – Niemand kann es sagen, wenigstens Niemand, der den alten Aberglauben theilt, daß man das Schlimme durch Vorher-Aussprechen desselben verwirklichen helfe“ [WAB 1, 1074], schrieb Hebbel 1848 an Gustav Kühne. Den Namen des verstorbenen Sohnes Maximilian wollte er seinem zweiten Kind aus dem Grund nicht geben, weil er ihn als ein schlechtes Omen fürchtete: „Auch ich stimme für Max, aber dem Aberglauben muß sein Recht werden“ [WAB 1, 639], schrieb er 1844 an Elise Lensing. Umgekehrt vermied es Hebbel während eines Besuchs bei Franz Dingelstedt im Jahr 1852 peinlich, seine guten Wünsche für diesen auszusprechen: „Nicht ohne die tiefste Rührung verließ ich die letzte Nacht Dein Haus, und nicht, ohne Euch aus vollster Seele gewünscht zu haben, was ich mir selbst wünsche, überschritt ich die Schwelle“ [WAB 2, 476f.]. Auch der Brief präsentiert nur eine tautologische Leerformel anstelle des Inhalts. Insofern mochte es auch einen abergläubischen Hintergrund haben, wenn schon die Kinder in Susannas Klippschule – mit Ausnahme der aus wohlhabenden Häusern – ihre Wünsche nicht „laut aussprechen“ [W 8, 89] durften. Heinrich Wicht meinte sogar, Hebbel neige der Auffassung zu, daß „schon das Streben nach einem Glück, die Erfüllung eines Begehrens Unglück bringt“, und entnahm dies Hebbels Balladen: „Der Spieler mit dem reichen Gewinne sinkt tot in den Sessel; der Schiffer geht im Angesichte seines eben erbauten Wohnhauses am Strande mit seinem Schiffe unter; der erschöpfte Knabe trinkt von der köstlich blinkenden Flut, bis er in ihr versinkt.“1395 Hier spielt allerdings etwas anderes hinein, das auf die realen Grundlagen der abergläubischen Furcht verweist: auf die Unberechenbarbarkeit der archaischen Welt, in der alles Planen eitel scheint. Wenn einerseits der Mensch durch eigenes Verhalten die „bösen Geister“ [WAB 1, 433] oder den „Genius nicht reizen“ [WAB 1, 405] durfte, gaben diese ihm andererseits bestimmte Winke. Der Gardinger, später Wesselburener Pastor Volkmar wußte gerade aus Dithmarschen zu berichten, daß „man sich selbst in guter Gesellschaft Visionen und Anzeigen erzähle.“1396 So glaubte auch Hebbel, wie schon Bornsteins Belegsammlung eindrucksvoll untermalte, „an glück- und unglückbedeutende Vorzeichen“ [HP II, 432]. Als er gleich bei seiner Ankunft in München Gelegenheit hatte, „ein Paar Stiefeln zu erhandeln, die ich nothwendig brauchte“, nahm er „dies für ein günstiges Zeichen und habe mich nicht getäuscht“ [T 1528]. Über „ein Zeichen“ vor dem Tod Emil Rousseaus schrieb er an Elise Lensing: „Ich öffne die Augen und – stelle Dir mein Grauen vor! – eine in tiefste Trauer gekleidete Dame fällt mir in’s Gesicht.“1397 Ein andermal „dachte ich: die erste Person, die dir, wenn du ausgehst, begegnet, soll dir Glück oder Unglück bedeuten“. Hebbel traf auf die Königin und einen Prinzen: „Also – Glück! Denn diese Personen, die so glücklich sind, können doch unmöglich Unglück verkündigen“ [T 1528]. Nach der Geburt des Sohnes Max WAB 3, 311. WICHT, Das Unheimliche in der Lebensauffassung Storms und Hebbels, S. 3. 1396 SIEVERS, Volkskultur und Aufklärung, S. 133. 1397 WAB 1, 252; vgl. B 4, 349. Angiolina im Trauerspiel in Sicilien will „die Augen schließen [/] Und wieder öffnen, und der Gegenstand, [/] Den ich zuerst erblicke, ob er schwarz, [/] Ob bunt ist, soll auf meine Zukunft geh’n!“ [W 2, 90]. 1394 1395

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notierte er am 7. November 1840 im Tagebuch: „Als ich Donnerstag ausging, begegneten mir Schaafe. Gutes Zeichen“ [T 2185]. Daß Max auf den Tag genau vier Jahre nach Rousseau starb, war für ihn kein Zufall [T 2805]. Aus Kopenhagen orakelte Hebbel 1843: „Gott gebe, daß das alte Weib, das mir beim Austritt aus der Tür begegnete, nichts Böses bedeutet habe“ [WAB 1, 466]. Als ihm dort allerdings ein junges Mädchen einen Kranz anbot, schrieb er der Freundin freudig: „Du liebst die guten Zeichen bei entscheidenden Schrit[ten, das] ist doch gewiß ein’s.“1398 Beide Reaktionen entsprachen einem offenbar weit verbreiteten Glauben: „Begegnet man morgens zuerst einem alten Weibe […] so hat man an dem Tage Unglück und muß, um es abzuwenden, noch einmal wieder umkehren. Umgekehrt gilt es für glücksverheißend, wenn einem zuerst ein junges Mädchen begegnet“.1399 Vergleichbare Zeugnisse gibt es auch noch für die späte Zeit: Wenige Monate vor seinem Tod nahm Hebbel eine unversehens ihm entgegen flatternde Schwalbe „für ein günstiges Omen“.1400 „[A]us einem gewissen Aberglauben“ [T 5948] hatte er dagegen 1861 neben seinem geliebten Eichhörnchen zunächst kein zweites als Haustier haben wollen. Als dieses starb, glaubte Hebbel, es habe sich für die Ablehnung an ihm „gerächt“ [T 5948]. Materielle Zeichen, die sympathetisch mit bestimmten Personen in Verbindung stehen, lassen sich durchaus beeinflussen: Der Kranz des Kopenhagener Mädchens wollte gekauft sein; Elise Lensings Bildnis hingegen entfernt, als Hebbel nach dem Tod des gemeinsamen Sohnes auch um ihr Leben bangte. Erst als diese Angst vorüber war, meinte Hebbel: „Nun will ich ihr Bild wieder über meiner Commode aufhängen. Ich hatte es abgenommen, weil ich fürchtete, die Menschen, die in meiner Abwesenheit das Zimmer reinigen, könnten es zerbrechen“ [T 2807] – und damit reales Unheil heraufbeschwören. Freilich sind die Vorzeichen nicht immer eindeutig, nicht einmal, wenn sie christlich inspiriert zu sein scheinen: So deutet Genoveva Golos für unmöglich geglaubtes Erklimmen des Burgturms, mit dem dieser Gott versuchen wollte, gerade als Zeichen des Herrn: „Wenn Gott den Frevelmuth des Jünglings schützt, [/] So ist’s ein Zeichen, daß er schon den Tag [/] Im Auge hat, wo er des Manns bedarf“ [W 1, 119]. Ambrosio im Trauerspiel in Sicilien „macht sich selbst das Orakel: Wenn er blindlings ein paar Schritte vortritt und einen Käfer dabei nicht tottritt, dann wird er zum Korporal befördert“.1401 Das Zertreten des Käfers ist darüber hinaus ein ‚literarisches‘ Vorzeichen, denn es ist, so Gerhard Kaiser, „der Vorweis auf die zertretene Angiolina“. Nach landläufigem Aberglauben können manche Menschen auch ohne äußere Vorzeichen die normalen Grenzen der Wahrnehmung überschreiten. Mit dem „zweiten Gesicht“ begabt ist der „Spökenkieker“, jemand, der „in wachem oder halbwachem Zustande Ereignisse als gegenwärtig sieht, welche entweder zur selben Zeit, aber in der Ferne, geschehen, oder erst in der Zukunft geschehen werden.“1402 Im Wessel-

WAB 1, 417. Vgl. auch T 2626. DANIEL, Vom Volksaberglauben in Ostfriesland, S. 20. 1400 WAB 4, 679. Vgl. T 6161. 1401 Dieses und das folgende Zitat: KAISER, Hebbels Trauerspiel in Sicilien als Tragikomödie, S. 187. Vgl. W 2, 79. 1402 BÄCHTOLD-STÄUBLI, Handwörterbuch, Bd VIII, Sp. 307. 1398 1399

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buren Friedrich Hebbels war dies: „Der Geisterseher St[ruve]“.1403 Ermahnungen, wie der des Pastors Dieckmann in seinem Sedezbüchlein, man solle sich „von Wahrsagern und Zeichendeutern entfernt halten und solche nicht unter sich dulden“,1404 wurde offenbar kaum Gehör geschenkt. Die Erinnerung an Struve, dessen Spezialität es war, Todesfälle, bzw. die „Illuminationen“ der feierlichen Leichengottesdienste vorauszusehen, war auch um 1900 im Ort noch nicht erloschen.1405 Detlef Cölln konnte in einem Beitrag im Hebbel-Jahrbuch 1949 der Versuchung kaum widerstehen, die Spökenkiekerei als dithmarsisch und Hebbel als Spökenkieker zu vereinnahmen: Ob die Gabe des Vorempfindens, die Hebbel sich selbst zuschreibt, dithmarsisches Erbe ist, bleibe dahingestellt. Dithmarschen ist wiederholt in Hebbelaufsätzen das Land der „Spökenkiker“ genannt worden. Ob es hier mit Recht vor der schleswigschen Westküste und vor dem holsteinischen Mittelrücken genannt werden darf, erscheint freilich fraglich. Immerhin: Hebbel hat zu Ludwig Foglar gesagt: „Ich erlebe fast die Schicksale so mancher Menschen früher, als sie selbst nur eine Ahnung davon haben. Es macht mich unglücklich, wenn ich jetzt den oder jenen so blind und vermessen in sein Elend rennen sehe“. Daß er Träumen so große Bedeutung beilegte, hängt mit dieser Gabe zusammen.1406

Hebbel als spezifisch dithmarsische Ausprägung des poeta vates, bei dem abergläubisches und dicherisches Sehertum zusammenfallen – das ist dann doch zu vordergründig gedacht. Bei Hebbel selbst ist nicht von „Spökenkiekerei“, wohl aber von „Ahnungen“ verschiedentlich die Rede. Der Glaube daran war weit verbreitet. Für „Ahnungen“ brauchte man nicht Hellseher von Profession zu sein, sie entstanden durch Wirkungen von ‚Sympathie‘ in unterschiedlicher Form. Ein Beispiel ganz handfester Ahnungen überlieferte Hebbel aus seinem Elternhaus – wie so oft leider in allzu knapper Form: „Das Lotterie-Setzen meiner Eltern, einmal im Winter, darauf die Erzähl. von der Doris in Wilster, sichere Erwartung, zu gewinnen. Nichts“ [W 15, 15]. Denkbar, daß die Erzählung von der offenbar glücklichen Doris als Präjudiz für das eigene ‚Los‘ genommen wurde. Wenn der Gewinn dann doch ausblieb, so hielt der Aberglaube auch dafür die Erklärung bereit – man hätte seine „sichere Erwartung“ eben nicht so deutlich aussprechen sollen. Hebbel selbst besaß der „Ahnung“ gegenüber ein durchaus zwiespältiges Verhältnis. Als er bei der Erstaufführung der Judith im Juni 1840 über den möglichen Ausgang rätselte, nahm er die Anwesenheit Karl Gutzkows wohl „für ein böses Zeichen“ [WAB 1, 354] – nach innen horchte er jedoch vergeblich: „Jetzt fühl’ ich Nichts, keine Ahnung des Schlimmen oder des Guten. […] Die innere Stimme sagt mir Nichts“ [WAB 1 354]. Wenige Tage später meinte er hingegen: „Jetzt habe ich die Ahnung, ja die Ueberzeugung von einem sehr schlechten Ausfall. Das Loos, das ich eben befragte, sagt dasselbe“ [WAB 1, 356]. Doch die Ahnung hatte ihn getäuscht. Anderntags wußte er: „Es ist gut gegangen“ [WAB 1, 356]. Auch später machte er die – mitunter bestürzende – Erfahrung, „nicht W 15, 10. Werner liest „Stoner“. DIECKMANN, Dreyfaches Sedezbüchlein, S. 27. 1405 Vgl. Hermann Krumm in: HEBBEL, Sämtliche Werke. Vollständige Ausgabe, Bd 11, S. 432, BARTELS, Kinderland, S. 433, und DjH I, 255. 1406 CÖLLN, Friedrich Hebbel und seine Heimat, S. 92. 1403 1404

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die geringste Ahnung“ [T 2805] zu haben, wie beim Tod von Max: „Erst […] nachdem er längst zur Erde bestattet war, erfuhr ich’s. […] O Gott, fröhlich war ich in der Zeit nicht, aber ich arbeitete doch, ich dichtete an meinem Trauerspiel, ich that mir vielleicht in demselben Augenblick auf eine gelungene Scene etwas zu Gute und freute mich, als das Kind mit dem Tode kämpfte. Schrecklich!“ [T 2805] Allerdings kam ihm rückblickend zu Bewußtsein: „Nur Sonnabend-Abend zwischen 8 und 9 Uhr überkam mich auf einmal eine tiefe Angst, meine Kniee fingen an, zu schlottern, es überlief mich kalt. War das die Wirkung Deines Briefes, der sich Paris näherte? Oder war es – ich denke mir das Entsetzlichste, ich mag es nicht schreiben! Wenn Gott einen Funken Erbarmen für mich hat, so muß ich mich täuschen“ [WAB 1, 500]. Während des Schreibens beschleicht ihn schon wieder eine neue Ahnung; aus Angst, eine sich selbst erfüllende Prophezeiung auszusprechen, bricht er mitten im Satz ab und richtet seine Hoffnung – auf das Erbarmen Gottes! Zwei Tage später beschwört er noch einmal die sympathetische Nähe zu Elise, in der Hoffnung, ihr auf diesem Wege Trost zu spenden, doch glaubt er selbst nicht mehr daran: „Der Tag, an dem ich wieder einen Brief von Dir erhalte, wird mir der heiligste meines Lebens seyn! Daß Du dies jetzt fühltest, daß Du mir schriebest, ohne erst meine Antwort abzuwarten! Doch es giebt keine Ahnung. Wir wissen es nun! Und in diesem Augenblick ist es ein Trost für mich!“ [WAB 1, 502] Als die innere Distanz zwischen beiden in den folgenden Jahren wuchs, wurde auch Hebbels Haltung gegenüber Elises Ahnungen schroffer. Im März 1845 schrieb er ihr unmißverständlich: „Ich bitte Dich noch einmal: nie wieder etwas von Gott, von Vorgefühlen usw. Meine Hand fährt unwillkürlich nach Briefen, die so etwas enthalten, um sie zu zerknittern“ [WAB 1, 700]. Wie verständnisvoll hatte es dagegen noch 1838 aus München geklungen: Diesmal, liebe Elise, hat Dich Deine Ahnung betrogen, ich habe mich körperlich niemals gesunder gefühlt, als in dem Augenblick, da ich Deinen Brief empfing und las. Es thut mir sehr leid, daß meine kurzen Aeußerungen über mein Befinden, die meine letzten Briefe enthielten, Dich so ängstigen konnten […]. Es ist mir fatal, Dich um doppeltes Porto zu bringen; dennoch wage ich nicht, meine Antwort aufzuschieben, da ich weiß, daß (etwa mich selbst ausgenommen) Niemand so viel mit Gespenstern verkehrt, als Du. [WAB 1, 244f]

Paul Bornstein wies auf die Uneinheitlichkeit von Hebbels Haltung in dieser Frage hin. Demnach habe er sich „der Ahnung gegenüber, ohne Ihre Möglichkeit zu bestreiten, für seine Person überwiegend skeptisch“, verhalten, „ihr aber volle Berechtigung als dichterischem Motiv“ [HP II, 432] zugestanden. Erklärbar ist dies durch die Überlagerung der verschiedenen mentalitätsgeschichtlichen Bruchlinien: In der ‚aufgeklärten‘ Gesellschaft wurden Religiösität und Irrationalität, Emotion und Intuition zunehmend dem Bereich des Weiblichen zugeordnet oder aber in kommunikative Nischen zurückgedrängt. Während die „innere Stimme“ Hebbel oft „Nichts“ sagte, waren Ahnungen für Elise Lensing eine selbstverständliche Form der Wirklichkeitswahrnehmung. Mit seiner späteren Gattin stand es nicht viel anders. Christine Hebbel wurde von prophetischen Träumen heimgesucht – immerhin trat hier der seherische Zustand nur zu nachtschlafender Zeit auf. Gesellschaftliche Akzeptanz wurde nur noch Spezialistinnen zuteil – die „Clairvoiante“ und die „Somnabüle“ wurden nicht

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nur zu professionellen ‚Medien‘, sondern auch zu Medien-Ereignissen. Hebbel rationalisierte das Träumen und nachtwandlerische Zustände in der Weise, daß er sie mit dichterischen Prozessen in Verbindung brachte und so eine Teilhabe an dieser Art transzendentaler Schau für sich reklamieren konnte. In einer sich theoretisch gebenden Einlassung bemühte sich Hebbel um eine Definition, die von der Adaption zur Abgrenzung und vom Nur-Individuellen zum Vernünftig-Allgemeinen schritt: Gewiß ist der somnambüle Zustand mit der Begeisterung des echten Dichters verwandt, nur daß dem Dichter mehr das Allgemeine, die gesammte Menschheit Betreffende aufgeht, der Somnambüle dagegen das Vereinzelte, wovon das Wohl oder Wehe eines Individuums abhängt. Der Dichter aber spricht nie etwas aus, was nicht die Vernunft sofort bejaht, wenn auch der Verstand nicht immer sogleich im Stande ist, für dieses Ja Gründe aufzutreiben. [T 1174]

Hebbel interpretierte die Fähigleit der Ahnung neu und offensiv, indem er sie zum Mittel intuitiven Erkennens aufwertete. „Gegen jede sog. neue Wahrheit bin ich mißtrauisch, die nicht in mir ein Gefühl erregt, als hätte ich ihre Existenz schon lange zuvor geahnt“ [T 1092], notierte er 1838, und führte wenig später aus: „Es ist die Frage, ob wir jemals eine ganz neue Wahrheit erfahren werden, eine solche, von der wir nicht von Anfang an schon eine Ahnung gehabt hätten, ja, es ist fast unzweifelhaft, daß dies nicht geschehen wird, eben weil es nicht geschehen kann, da ohne den vollständigsten Kreis aller Wahrheiten die menschliche Existenz, die durchaus eine solche Atmosphäre verlangt, gar nicht denkbar ist“ [T 1227]. Suchte Hebbel hier das ‚Ahnen‘, eigentlich Phänomen des Aberglaubens, an den zeitgenössischen psychologischen Diskurs anzuschließen, so läßt sich an anderer Stelle beobachten, wie er es direkt in ‚Poetologie‘ überführte. Im März 1838 trug er ins Tagebuch ein: Wir Menschen sind des Grauens und der Ahnung nun einmal fähig; es ist dem Dichter daher gewiß erlaubt, sich auch solcher Motive zu bedienen, die er nur diesen trüben Regionen abgewinnen kann. Aber, Zweierlei muß er beobachten. Er darf hier, erstlich, weniger, wie jemals, in’s rein Willkürliche verfallen, denn dann wird er abgeschmackt. Dies vermeidet er dadurch, daß er auf die Stimmen des Volks und der Sage horcht und nur aus denjenigen Elementen bildet, welche sie, die der Natur alles wirklich Schauerliche längst ablauschten, geheiligt haben. Er muß sich zweitens hüten, solche Phantasie-Gebilde zu erschaffen, die nur einen einzelnen Menschen, etwa den, welchen er, um sie nur überall in Thätigkeit zu setzen, in seinem Gedicht damit in Verbindung bringt, etwas angehen. Nur die Gestalt flößt Grauen ein, die mich selbst irgendwo verfolgen kann; nur den gespenstischen Kreis fürchte ich, vor dessen Wirbel ich nicht gesichert bin [T 1055].

Sechs Jahr später, als er Elises Vorahnungen bereits schroff zurückwies, vereinnahmte er das Phänomen ganz für den Dichter, indem er dekretierte: Ahnung und Alles, was damit zusammen hängt, existiert nur in der Poesie, deren eigentliche Aufgabe darin besteht, das verknöcherte All wieder flüssig zu machen, und die vereinzelten Wesen, die in sich selbst erfrieren, durch geheime Fäden wieder zusammen zu knüpfen, um so die Wärme von dem einen zum andern hinüber zu leiten. Der Mensch ist unendlich beschränkt; ich bin überzeugt, er kann sanft und ruhig schlafen, während dicht neben ihm im

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anstoßenden Zimmer sein liebster Freund ermordet wird. Dieß ist auf der einen Seite schlimm, auf der anderen aber auch wieder gut.1407

Gut sei dies, weil die Natur „von zwei Gegensätzen immer nur einen verleihen“ könne und daher die Fähigkeit zur Identifikation mit der ‚anderen‘ Existenz zur Auflösung des Einzelnen führte: Es „würde also kein Leben mehr, nur noch ein stetes Um- und Wieder-Gebären vorhanden seyn, eine andere Art von Chaos“ [T 3140]. Das seelische „In ein-Ander-Gewachsenseyn“ [W 15, 14] markiert die extreme und furchtbare Konsequenz einer universellen Fähigkeit des „zweiten Gesichts“. Darum muß sie jemandem übertragen sein, der sie ertragen und bewältigen kann. Zum Theil hat eine solche Stellung zum Welt-All der Künstler, daher die ewige Unruhe in einem Dichter, alle Möglichkeiten treten so nah an ihn heran, daß sie ihm alle Wirklichkeit verleiden würden, wenn die Kraft, die sie heran beschwört, ihn nicht auch wieder von ihnen befreite, indem er ihnen dadurch, daß er ihnen Gestalt und Form giebt, selbst auf gewisse Weise zur Wirklichkeit verhilft und so ihren Zauber bricht; es gehört aber ungeheuer viel, und mehr, als irgend ein Mensch, der es nicht in sich selbst erlebt, ahnen kann, dazu, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und Naturen, denen das wahre Form-Talent abgeht, müssen durchaus in sich gebrochen werden, woraus denn auch so viel Schmerz und Verrücktheit entspringt.1408

So sehr diese Äußerung aufs Kunsttheoretische zielt, haften ihr noch die Spuren traditionaler Mentalität an. Wiederum ist vom „Ahnen“ die Rede, allerdings nur noch beiläufig und in alltagssprachlichem Verständnis; der „Zauber“ muß vom Künstler gebrochen werden, und wenn dies nicht gelingt, so zerbricht er selbst daran. Was dann bleibt, ist nicht seherische Fähigkeit sondern der psychopathologische Befund: „Verrücktheit“. Daß der Mensch fähig ist, neben der ‚profanen‘ Wirklichkeit eine davon unabhängig scheinende zweite zu erleben, wird am sinnfälligsten im Traum deutlich, dem Hebbel Zeit seines Lebens große Bedeutung beimaß. Schon Arno Scheunert konnte seine Verwunderung darüber nicht verbergen: Hebbel notiere „so viel verworrenes und fratzenhaftes Zeug, das er geträumt hat, daß man gar nicht begreift, wie er in seinen Traumbildern Offenbarungen des Ideals erblicken konnte“;1409 doch erinnerte er zugleich an einen Ausspruch Hebbels, nach dem er phantastische Träume „bei weitem nicht so bedeutend“ fand wie „diejenigen, welche die ganze Gegenwart bis auf die leiseste Regung der Erinnerung tödten und den Menschen in das Gefängnis eines längst vergangenen Zustandes zurückschleppen“ [T 1265]. Der Traum führt nicht nur in begrenztere Zustände zurück, sondern kann auch „übersinnliche Offenbarungen“1410 erfassen, die dem Wachenden unzugänglich sind. Diese Fähigkeit schreibt jedenfalls in dem Gedicht Einziges Geschiedensein das lyrische Ich der Geliebten zu: T 3140, auch WAB 1, 607. Hervorhebungen C.S. T 3140, auch WAB 1, 608. 1409 SCHEUNERT, Der Pantragismus, S. 60. 1410 Ebd., S. 70. 1407 1408

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Gänzlich, wie nie noch, geschieden Fühlt sich von Deinem mein Herz. Was, wie ein göttlicher Hauch, Jetzt Dich durchzittert, das Leben [!], Eh’ Du erwachst, wird’s entschweben, Nimmer erfreut es mich auch [W 6, 212].

Nichts Geringeres als „das Leben“ findet hier in der reicheren Parallelwelt des Traums statt, der dafür sogar Liebende voneinander trennt: „So sehr beide auch sonst ein Herz und eine Seele sind, so werden sie doch durch das Verweilen des Mädchens in einer anderen Welt außer Kommunikation gesetzt, sind ‚geschieden’“.1411 Dagegen wird der Träumende in dem Gedicht Offenbarung von der verstorbenen Geliebten „wunderbar geweckt“ [W 6, 205], um sich zu erinnern, „Daß du, ein himmlisches Gesicht, [/] Mir nahe warst im Traum“ [W 6, 206]. Die Erinnerung an den Traumzustand ermöglicht ein Stück Transzendenz auch in diesem Leben. Die Parallelen zu dem Phänomen der Ahnungen sind evident, denn „auch der Glaube an die Vorbedeutung des Traums fehlt nicht“,1412 wie Paul Bornstein bemerkte. Vermutlich stand Hebbel dabei unter Elise Lensings Einfluß. Über einen eigenen Traum in der Nacht vom 20. auf den 21. März 1841 schrieb er: „Elise fand den Traum gleich günstig, als ich ihn ihr erzählte. Es hat sich bestätigt“ [T 2308]. In der Spätphase ihrer Beziehung lehnte Hebbel auch Elises abergläubische Traumdeutungen ab – während er ihnen poetische Qualitäten durchaus zubilligte. In einem Brief vom Februar 1844 heißt es: Deine Träume, so weit sie poetisch waren, haben mich erfreut; es hat für mich, wie Du weißt, einen großen Reiz gehabt, in die dunkle nächtliche Welt, wo auch das getrennt ist, was sich liebt, hinein zu schauen. Aber den Traum von den zwei ausgefallenen Zähnen mußt Du nicht abergläubisch deuten. Ich dächte, wir wüßten jetzt, wie es mit den Ahnungen des Menschen und allen solchen Dingen steht. Auch hast Du den Beweis ja in Händen. Bei Max Tode hast Du im Traum keinen Zahn verloren [WAB 1, 561].

Keine vier Wochen nach dieser Zurechtweisung Elises dichtete Hebbel die Ballade Der Heideknabe. Darin geht noch in derselben Nacht in Erfüllung, was der Knabe im Schlaf erlebt: Der Knabe träumt, man schicke ihn fort Mit dreizig Thalern zum Haide-Ort, Er ward drum erschlagen am Wege Und war doch nicht langsam und träge. [W 6, 166]

Wahrscheinlich hatte Hebbel als Knabe selber ähnliche abergläubische Angstträume auszustehen, denn auch er wurde manchmals des Nachts noch als Bote zum „HaideOrt“, will sagen: in die benachbarte Stadt Heide geschickt. „Noch liegt er in Angstschweiß“, da weckt ihn schon sein Meister und legt ihm „das [!] Geld auf die Decke 1411 1412

Ebd., S. 62. HP II, 432. Hervorhebung C. S.

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[/] Und fragt ihn, warum er erschrecke“ [W 6, 166] – anzunehmen ist, daß die Summe mit der geträumten übereinstimmt. Bis hierhin legt das Gedicht also durchaus die ‚zeichen-hafte‘ Qualität des Traums nahe, will man nicht von schnödem Zufall ausgehen. Sein weiteres Schicksal aber fordert der Knabe selbst heraus, indem er auf dem Weg einem Fremden die geträumte Tat erzählt – dieser hat nichts Eiligeres zu tun, als sie auszuführen. Die Ballade aber gerät zum Lehrgedicht über die Gefahren selbsterfüllender Prophezeiungen. In dem späten Gedicht Herr und Knecht von 1857 geht es gleichfalls um die Vorbedeutung eines Traums. Darin wird der junge Herr von seinem treuen, aber schnöde behandelten Förster in einem Aufflammen jäher Wut getötet. Die Tat des gutmütigen Alten ist kaum vorhersehbar gewesen, er selbst zieht das Messer, noch „eh’ er’s denkt“ [W 6, 390]. Doch der Sterbende erinnert sich überrascht: „So habe ich [/] Ihn schon im Traum gesehen!“ [W 6, 390] Für den traditionalen Menschen des Gedichts stehen Traum und Tat in einem nur übersinnlich erklärbaren Zusammenhang; der moderne Interpret kann psychologische Modelle heranziehen, durch die man ein „im Werden begriffen[es]“ Phänomen „als das Resultat mehrerer bereits mit einander in Wechselwirkung getretener Kräfte im Voraus erfassen mag“ [T 1174]. Hebbels Gedicht entscheidet den Sachverhalt jedoch nicht, verneint nicht einfach die abergläubische Deutung, sondern ‚hebt sie auf‘ in einer Schilderung der Umstände, die eine psychologische Interpretation anbietet, aber nicht erzwingt. Auch an autobiographischen Zeugnissen ist beim älteren Hebbel wieder eine Offenheit gegenüber dem Glauben an die Vorbedeutung der Träume zu beobachten. Dabei zeugte die Art seiner Auseinandersetzung mit ihnen eher von befangenem Schwanken als von Souveränität. In seinem letzten Lebensjahr, am 7. März 1863 notierte er: Seltsamer Traum meiner Frau. Sie tritt in mein Zimmer, ich sitze auf dem Sopha und zu meinem Füßen auf dem Teppich kauert ein altes Weib, das mir Karten legt und dem ich gespannt zuschaue. Meine Frau. Aber was ist das? Alles schwarz! Das bedeutet Tod. Ich. Ist denn die Lang (die Schloßhauptmännin war gemeint) noch nicht gestorben? Meine Frau. Ich glaube nicht. Professor Glaser (die Thür aufreißend) Ich komme von Lang’s; es ist aus. Meine Frau. Nun, die übrigen Karten sind gut [T 6101].

Zunächst hatte ihn in diesem Tagebucheintrag eine „stark grassirende Grippe“ [T 6101] beschäftigt, wodurch die „Gesellschaft bei uns“ am Vortag „etwas zerrissen“ war. Seinen wenige Tage später anstehenden 50. Geburtstag wollte Hebbel nicht feiern, so daß die Abendgesellschaft „die letzte in diesem Jahr“ [T 6101] war. Mochte Hebbel eine weitergehende Befürchtung – aus abergäubischer Rücksicht – nicht aussprechen? Denn er sollte an diesem Abend zum letzten Mal Gastgeber gewesen sein. So notierte er den Traum seiner Frau vielleicht als ‚Surrogat‘ eigener Todesahnungen. Selbst im Traum wird die Ahnung nicht direkt ausgesprochen, sondern einer Kartenlegerin überantwortet. Und als „Alles schwarz“ erscheint, wird das Blatt auf eine andere Person hin gedeutet. Doch letztlich bleibt die traumimmanente Deutung fragwürdig und in der Schwebe: Darf man die zukunftsdeutenden Karten auf ein Ereignis beziehen (den Tod der Frau Lang), das schon stattgefunden hat und von dem man nur

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noch nichts weiß? Auch daß nun plötzlich „die übrigen Karten […] gut“ sein sollen, ist sonderbar. Der ahnungsvolle Traum wird selbst zum Rätsel, in sich verschachtelt und ambivalent. Während das Geheimnis um den nahenden Tod verschleiert bleibt, lassen sich kleinere Übel recht präzis erahnen. Zwei Tage später, am 9. März 1863 berichtete Hebbel: „Nachmittags bei’m Kaffee sagte mir meine Frau, sie habe fest geschlafen und sogar geträumt, aber von häßlichen Dingen, die bei ihr immer Aerger oder Krankheit bedeuteten, nämlich von Wasser und Wäsche“ [T 6104]. Fast mit Genugtuung konnte er fortfahren: „Wir haben jetzt schon alles Beides. Eine halbe Stunde später kam aus dem Theater-Bureau eine Repertoire-Veränderung; die Nibelungen können am Donnerstag nicht seyn, weil König Gunther hustet. Und am Abend hat der Gripp-Zustand meiner Frau sich so verschlimmert, daß sie sich gleichfalls unpäßlich melden muß“ [T 6104]. Die ‚Sympathie‘-Beziehung zu seiner Frau weckte beim alternden Hebbel offenbar eine neue – oder alte – Offenheit auch gegenüber sympathetischen Korrespondenzen.

Hebbel, „gespenstermäßig“ „[I]n der Welt“ sei er erst „seit meinem Weggang aus Dithmarschen, […] also erst seit 7 Jahren“ [T 2509], notierte Hebbel kurz nach seinem 29. Geburtstag im Tagebuch. Wo hatte er sich dann aber während der ersten 22 Lebensjahre befunden? In seiner kurzen, weitere sieben Jahre später verfaßten Selbstbiographie für den Literarhistoriker Karl Goedeke kam er erneut auf seine Dithmarscher Herkunft zu sprechen. Und hier stilisierte sich der in Wien arrivierte Dramatiker zu einem geisterhaften Wiedergänger, der einer vergangenen Welt – eben der des alten Dithmarschens – angehöre. Aus dieser „nationalen Quelle“ stamme die „gestaltende Kraft, welche diesen Dichter in unserer Zeit der Basreliefs- und Schattenfiguren fast gespenstermäßig erscheinen läßt“ [W 15, 25]. Der Sinn dieser Auskunft ist dunkel: Wer sind die „Schattenfiguren“ in „unserer Zeit“? Waren damit andere, blassere Autoren gemeint, unter denen der Dithmarscher als ein lebendig-toter Schreckensmann umhergehen wollte? Oder waren Schattenfiguren die literarischen Geschöpfe der Vielschreiber, von denen die Dramenfiguren Hebbels durch eine unheimliche Lebendigkeit abstachen? Ließen die von seinem Herzblut lebenden Geschöpfe auch ihren Dichter „gespenstermäßig erscheinen“? ‚Gespenstisch‘ wäre dann zugleich die magische Sympathie zwischen dem demiurgischen Schöpfer und den Figuren, die er ins Leben rief. Das Bild führt unversehens hinein in Grundprobleme der Literatur: Sollte Literarizität selbst am Ende eine rationalisierte Form archaischer Magie sein – und der Dichter daher nicht von ‚dieser Welt‘? Immer wieder hat Hebbel diese Metaphorik auf sich bezogen. Wenn dem Jüngling „die Welt […] ein Kirchhof“ [WAB 1, 67] gewesen war, wie er dem Tönninger Bürgermeister Müller 1836 in seinem Dankesbrief schrieb, dann hatte er selbst gleichfalls dieser schattenhaften Welt angehört. An Sigmund Engländer schrieb Hebbel noch 1860 rückblickend über seine Jugendjahre: „Ich kam nur durch Resignation zum Frieden, ich lernte meinen Sarg nach und nach als Bett betrachten, begnügte mich aber

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allerdings, darin zu schlafen und brachte mich nicht um, obgleich man mir Gift und Dolch mit hinein gegeben hatte“ [WAB 4, 1]. Ein seltsames Doppelleben, das er sich hier zuschrieb – als ‚Untoter‘ auf einem Kirchhof und in einem Sarg zu existieren und obendrein sich ermorden zu sollen! Die ‚weltflüchtige‘ Friedhofs-Existenz dessen, der „die irdischen Dinge nicht selten viel zu gering schätzt“ [WAB 1, 344], steht für ein verkehrtes Leben ebenso wie für die als Fluch erlebte Verbindung mit einer jenseitigen Welt. In der Abrechnung mit seiner Hamburger Gönnerin Amalie Schoppe im Mai 1840 erklärte Hebbel: „Am unglücklichsten ist der Mensch, wenn er durch seine geistigen Kräfte und Anlagen mit dem Höchsten zusammen hängt u durch seine Lebensstellung mit dem Niedrigsten verknüpft wird“ [WAB 1, 344]. Dies war nicht allein auf die sozialen Demütigungen zu beziehen – seine existentiellen Widersprüche berührten an ihren Extremen das Über- wie das ‚Unterirdische‘. Wenn Hebbel sich abergläubische Vorstellungen in immer neuer Weise ‚zu eigen‘ machte und auf sich projizierte, war dann nicht Kuhs Rede vom „metaphysischen Krankheitsstoff“1413 gerechtfertigt? Hebbel selbst sprach in einem Brief an Elise Lensing im April 1837 in diesem Zusammenhang von der „Todeskrankheit“ schlechthin, an der er leide, aber, fuhr er pathetisch fort, es ist die, deretwegen Göthes Faust sich dem Teufel verschrieb, die Göthen befähigte u begeisterte, seinen Faust zu schreiben; es ist die, die den Humor erzeugt u die Menschheit (d.h. die wenigen Menschen, in denen etwas Weniges vom Menschen ausschlägt u in die Blüte tritt) erwürgt; es ist die, die das Blut zugleich erhitzt u erstarrt; es ist das Gefühl des vollkommenen Widerspruchs in allen Dingen […]. Es ist das Zusammenfließen alles höchsten Elends in einer einzigen Brust; es ist die Empfindung, daß die Menschen so viel von Schmerzen u doch so wenig vom Schmerz wissen; es ist Erlösungs-Drang ohne Hoffnung u darum Qual ohne Ende.“ [WAB 1, 169]

Der „Erlösungs-Drang“ bei ewiger Qual, das erstarrte Blut, die teuflischen Kräfte – auch hier deuten die Symptome auf einen „Untoten“. Doch eigenartigerweise verweist die „Krankheit“ zugleich auf eine erfülltere Form des Daseins: „[W]as Du meine Krankheit nennst, ist zugleich die Quelle meines, wie jedes, höheren Lebens“ [WAB 1, 175], schrieb Hebbel der Freundin wenige Wochen später und fügte hinzu: „Für das, was den Menschen Glück heißt, hab’ ich niemals viel Sinn gehabt und verliere ihn mehr und mehr; dafür giebt es einzelne Stunden, die mich mit einem überschwenglichen Reichthum innerer Fülle überschütten; […] ich erkenne, daß meine größten Schmerzen nur die Geburtswehen meiner höchsten Genüsse sind“ [WAB 1, 175]. Der Welt sei dies „gleichgültig“, wie „alle Poesieen aller möglichen guten und schlechten Poeten“. Darum sei der in ihr unglücklich, der „nur dann [!] lebe“, wenn er dichterisch „thätig“ [WAB 1, 374] sei und schon „zu tief in das Nichts alles irdischen Wesens u Treibens geblickt habe, um noch für irgend ein Ziel zu Nest tragen zu können“ [WAB 1, 137]. Wie schon der Wesselburener Schreiber und der Hamburger Johanneumsschüler, so führte auch der Heidelberger Student ein regelrechtes Doppel-Leben, dessen Existenzformen unvereinbar schienen: Neben dem „Leben der Menschen (Biertrinken und Kegelschieben), was unter Blütenbäumen und im Frühling auch 1413

KUH, Biographie, Bd 1, S. 298.

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etwas Unbegreifliches hat und mir zuweilen wie eine Verzauberung vorkommen kann“, wußte er um ein „mystisch geheimnisvolles der überquellenden Natur“. Während „Jahre langes, sclavisches Versenken in das rein Positive, wie die Jurisprudenz es verlangt, ihn tödten“ [T 748] müßte, studierte er mit Eifer einen anderen, „heiligen Grundtext, den Jeder lästert und lästern muß, der ihn nicht versteht“ [T 748]. Ähnlich zwiespältig, aber mit umgekehrter Akzentsetzung schrieb er 1841 an Charlotte Rousseau: Ich bin im Leben [!] gar nicht ein so mißgestimmtes Instrument und gebe oft genug einen lustigen oder muthwilligen Ton. Aber dem Papier gegenüber werde ich selbst in den besten Stunden sogleich ein Anderer und meine Gedanken nehmen die Farbe meiner Dinte an. Dies kommt daher, weil ich, statt mich in die Welt zu verbreiten, immer in mein Inneres hinab steige. [WAB 1, 374]

Welches „Leben“ das eigentliche ist, bleibt unentscheidbar; wie die praktisch-„positive“ bleibt auch die geistige Existenz defizitär. In der Metaphorik der „Todeskrankheit“ oder des Lebens im Sarg kommt auch ein Wissen um das ‚Gespenstermäßige‘ dieser Lebensform zum Ausdruck. Das höchste Erleben und der „letzte, d. h. tiefste Abgrund, in den man stürzen kann“ [T 1359], innere Lebensfülle und Tod, Genie und Wahnsinn liegen eng beieinander; ja es scheint, als entstünde die „metaphysische Krankheit“ im geistigen Prozeß des Diagnostizierens selbst: „Dies stete Bespiegeln und Auskundschaften uns’rer selbst: wohin führt es? Nicht einmal zum Irrthum, höchstens zu einer verzweiflungsvollen Ahnung uns’rer eignen schauerlichen Unendlichkeit, zu einem Punct, wo uns das eigne Ich als das furchtbarste Gespenst gegenüber tritt“ [T 1359]. Die analytische, das Leben ‚zersetzende‘ Kraft ist das mephistophelische Prinzip, das sich nur von Ausnahmemenschen beherrschen läßt: „Die Natur sollte keine Dichter erwecken, die keine Göthes sind, darin steckt der Teufel“ [WAB 1, 183], schrieb Hebbel 1837, in dem Bewußtsein, daß der Weimarer Dichterfürst die gerufenen Geister mit und in seinen Werken zu bannen wußte. Er selbst war sich keineswegs sicher, ob er ein Goethe – oder nur ein vom Teufel getriebener Faust sei. Als Gegengift für solche Qualen bot sich – wie bei Faust – eine sehr irdische Form an, die eigene, ungenügende Existenz zu überschreiten: die Liebe! Doch wie kann einer lieben, der schon dem Jenseits verfallen ist? Der 22jährige Hebbel, der eben Wesselburen hinter sich gelassen hatte, schrieb aus Hamburg seinem besten Freund nach Hause: „Eine Scene habe ich in der letzten Nacht niedergeschrieben: sie ist furchtbar, so furchtbar, daß ich selbst gezittert habe vor den Gebilden, nicht sowohl meiner Phantasie, als meines Verstandes. Der Roman wird sich betiteln Der Seelenmord und der Teufel wird darin als – Liebhaber auftreten“ [WAB 1, 42f.]. Die Liebe als Mißbrauch, zum Zwecke frevelhafter Überschreitung der Barriere zwischen Diesseits und Jenseits – das war eine heikle Geschichte. Der Roman blieb ungeschrieben – vorsichtshalber? Drei Tage später zog Hebbel „zu zwei jungen Fräulein“ und schrieb dem Freund noch im selben Brief: „Du zitterst (ich kann es mir denken) für meine Tugend; tröste und beruhige Dich, mein Aufenthalt bei diesen Damen dauert nur einen Monat, und so schwach sind zwei weibliche Herzen doch wohl nicht besetzt, daß sie in 4

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Wochen erobert werden können“ [WAB 1, 43]. Nach wenigen Monaten meldete er allerdings: „Eine Liebesgeschichte, die ich hier mit einem Fräulein v L. […] angesponnen, nimmt auch schon einen verdammt ernsthaften Character an; verflucht, daß man so leicht zu fangen ist!“ [WAB 1, 56]. Unversehens sah sich der faustische Verführer selbst verstrickt. Mit Elise Lensing sollte er über ein Jahrzehnt zusammen bleiben und zwei Kinder haben, ohne daß er sie wirklich liebte. Etwa zur gleichen Zeit behandelte Hebbel in einem Beitrag für den „Wissenschaftlichen Verein“ von Johanneums-Schülern den teuflisch inspirierten Faust mit spitzen Fingern. Hebbel verwarf ihn und fiel dabei fast in den pastoralen Ton früherer Tage zurück. Faust, so meint er, „kann durch seine Liebhaber-Situation nicht nur nicht gerettet worden sein, sondern er zeigt gerade in diesem Verhältniß, wenn durch Etwas, seine ganze Verdammlichkeit“ [W 9, 20f.]. Ist die Liebe „der Auferstehungsengel, der alles erstorbene Edle und Schöne in jeder Brust wieder erweckt, so müßte Faust, dem auch dieser Engel vergebens vorüber geht, und der Frieden und Unschuld eines ihm gänzlich vertrauenden Mädchens ermordet und hinterher höchstens einmal moralisches Bauchgrimmen bekommt, verflucht werden, wenn er es nicht schon wäre“ [W 9, 21]. Als guten Engel sah Hebbel auch Elise; er selbst war dagegen auch in dieser Beziehung zur uneigentlichen, verkehrten Existenz eines Liebhabers ohne Liebe verdammt. Im folgenden Jahr 1836 ging Hebbel als Student nach Heidelberg. Wie Faust verzweifelte er am Studieren, vor allem an der Juristerei, seinem Brotfach – im Unterschied zum Gelehrten Faust tat er dies allerdings schon nach dem ersten Semester. Dafür las er viel, vor allem Goethe, zu dem er nun eine größere Nähe verspürte. Als er im September Heidelberg verließ, um sein Studium in München fortzusetzen, nahm er einen Umweg, der ihn nach Straßburg und auf das Straßburger Münster führte. Dort wandelte er buchstäblich auf Goethes Spuren: Auf dem Münster dacht’ ich nur an Göthe. Ich stand vor der kleinen Tafel, worauf sein Name eingehauen ist. Ich sah ihn, wie er mit seinem Adler-Auge hinein schaute in das reiche, herrliche Elsaß und wie Götz von Berlichingen vor seiner Seele auftauchte und ihn um Erlösung anflehte aus langem Tod zu ewigem Leben. Ich sah ihn unten im Dom, wo die Idee der reinsten, himmel-süßesten Weiblichkeit, des Gretchens vor ihm aufging. Mir war, als ergösse sich der Strom seines Lebens durch meine Brust – es war ein herrlicher, unvergänglicher Tag! [T 571]

An diesem „unvergänglichen“ Tag erhob er sich über das diabolische Liebesleben eines Faust, indem er sich schlicht mit dem Dichter der „reinsten, himmel-süßesten Weiblichkeit“ identifizierte. Die moralischen Skrupel, die Hebbel noch kurz zuvor beschlichen hatten, waren nach diesem ‚Kirchturm-Erlebnis‘ vergessen. Kurz danach schuf Hebbel in der Kurzerzählung Ein Abend in Straßburg eine Liebesszene, die ihrerseits recht faustisch wirkte. Das Prosastück trägt den Untertitel Aus einer Reisebeschreibung und deutet so auch auf die identifikatorische Qualität, die das Nacherleben Goethes bzw. Fausts für Hebbel besaß. Wenngleich der Herausgeber Richard Maria Werner aus literaturkritischer Sicht dem Text eine „nicht gerade erfreuliche[…] Verei-

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nigung von Weltschmerz und Frivolität“1414 bescheinigte, so gestand er ihm andererseits autobiographische Authentizität zu – „die Stimmung seiner Skizze war erlebt“. „‘Du bist blaß, was fehlt Dir?‘ fragte der Freund. Hastig trank ich den rothen Wein, schob das Glas zurück, und eilte stumm hinaus“ [W 8, 66] – so schroff und abweisend beginnt der in der Ich-Perspektive geschriebene Text. Doch der stumme und blasse Erzähler, der noch lustlos und hastig ein verdächtig rotes (wenn auch ‚geistiges‘) Getränk zu sich nimmt, um dann das „Leben der Menschen“ im Wirtshaus fluchtartig hinter sich zu lassen, ist vom Leser bereits erkannt. Der wie ein unerlöster Bewohner des Kirchhofs wirkt, spricht wie Hebbel über „Stunden von entsetzlicher Tiefe, Stunden, vor denen wir zurückschaudern, und denen wir doch nicht entfliehen können“ und über „jene abscheulichen Kräfte, die in öder Finsterniß auf Kirchhöfen in vermodertem Fleisch und Bein längst verglühtes Leben in ekelhafter Wiederholung travestiren […]. Da zittern wir, es könne sich urplötzlich ein schauderhaftes Organ für die Wahrnehmung all des wüsten, schadenfrohen Spuks, durch seine furchtbare Nähe aus dem Traumschlummer hervorgerufen, in den Tiefen Leibes oder der Seele erschließen“ [W 8, 67]. Der Leser darf irritiert sein: Geht es um Spuk, Traum oder Realität, spricht hier ein Mensch oder schon ein Jenseitiger? Dem Ich-Erzähler, „in gespenstischen Kreisen befangen“ [W 8, 68], geht es nicht anders; mehr und mehr verwirrten sich in mir Empfindungen und Gedanken, und zuletzt war es mir, als wäre ich selbst längst gestorben, und ich hätte mich nur vor der Zeit, frech und lüstern, in das schöne, reiche Leben zurückgedrängt. Ich glaubte, mich eines kalten, finstern Grabes, worin ich […] gelegen, recht gut zu erinnern; ich hörte Glockengeläut und Chorgesang, dumpf und mannigfach gebrochen; wie ich’s damals gehört, als man mich im schwankenden Sarg hernieder senkte in den Erdenschooß; ich fühlte unverschämtes Gewürm nagen an meinem Fleisch. […] Mir schlotterten die Knie, ich […] stürzte athemlos fort.1415

In dieser finsteren seelischen Verfassung im Schatten des Straßburger Münsters kommt dem Ich unversehens der Dichter zu Hilfe, der ein fremdes Mädchen furchtlos stehen bleiben läßt, bereit zu einem erotischen Abenteuer. Was Hebbel am Tage auf dem Straßburger Turm im Geiste aufging, die „Idee“ des Gretchens, nimmt nächtens im Schatten des Münsters Gestalt an: Mädchen, was wußtest du von dem Schmerz des unbekannten, bleichen Mannes, daß du ihm freundlich einen guten Abend botest, mit deiner warmen seine kalte Hand faßtest, und mit den großen, flammenden Augen, voll von Gluth und Gefühl, beschwichtigend zu ihm hinaufblicktest? Diese Augen schienen mir die Wunder-Quellen alles Lebens, mit Entzücken taucht’ ich mich hinein in die süßen, ewigen Quellen, grollend wichen die Nachtgespenster zurück, und durch alle Adern schoß mir wieder die Empfindung einer selbständigen Existenz, glühend und wirbelnd, als ob jeder Blutstropfen sich bestrebte, die fröhliche Botschaft zuerst bis an die letzten Gränzen des ermatteten Körpers zu tragen. Und doch war es mir, als sei alles Andere kein bloßer Traum gewesen, sondern als hättest du mich aus unend1414 1415

Dieses und das folgende Zitat: W 8, XXXV. Vgl. auch Hebbels Stimmungbericht über „[j]ene Hypochondrie“ und ihr Verschwinden auf der Reise in WAB 1, 116. W 8, 68. In diese Phantasie spielt auch die Angst Hebbels mit hinein, scheintot begraben zu werden. Vgl. dazu KUH, Biographie, Bd 2, S. 523.

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lichem Erbarmen herauf beschworen aus dem Bauch eines Kirchhofs, weil dein Ohr, als du über mein Grab hinwandeltest, meine bangen Traumseufzer vernahm […]. [I]ch konnte – das fühlt’ ich – nicht wieder sterben! […] Aber du drücktest einen heißen Kuß auf meine Lippen, und flüstertest mir zu: „ich küsse dich noch einmal!“ und schrittest verschwindend in den dunklen Schatten hinein, den der Münster warf. [W 8, 68f.]

Die „fröhliche Botschaft“ ändert freilich nichts daran, daß ihr Wirklichkeitsstatus wie der Ausgang der Geschichte in der Schwebe bleiben. Zwar will der Ich-Erzähler nach der Begegnung mit dem Mädchen sein voriges Leben im Grabe für einen Traum halten, doch deutet die Äußerung, er könne „nicht wieder sterben“ darauf hin, daß er erst durch den Kuß zu neuem Leben erweckt worden ist. Wenn er selbst dabei „gespenstermäßig“ bleibt, so scheint auch das grußlos „verschwindend“ in den Schatten wandelnde Mädchen eher immaterieller Natur zu sein. Und nur in einer ‚anderen‘ Welt könnte sie ihr Versprechen – „ich küsse dich noch einmal“ – tatsächlich halten; denn im wirklichen Leben dürfte sie dem durchreisenden Fremden kaum je wiederbegegnen. – „Küsse mich noch einmal!“ [W 8, 69], wiederholt der Ich-Erzähler unvermittelt, wie im Erwachen, und damit schließt die Erzählung: Sein Verlangen bleibt unbeantwortet; was der junge Mann als volles Leben genoß, war in Wirklichkeit nur eine traumhafte Phantasie. Nur? Indem Friedrich Hebbel die „Idee der reinsten, himmel-süßesten Weiblichkeit“ als Erzählung gestaltete, stellte er sie in einen neuen Rahmen: Die Literatur stellt sich selbst als eine reichere Welt hinter der diesseitigen dar. Der Kuß ist gleichzeitig der eines Straßburger Mädchens, eines zweiten Gretchens, einer zu scheinbarem Leben erwachten ‚Traumfrau‘ und schließlich der einer Muse. Im Nachfolgen Goethes macht der junge Dichter die Erfahrung, daß er die verschiedenen existentiellen Modi von Phantasie, Traum und realem Erleben in der Literatur vereinigen und zu einer Wirklichkeit zweiter Ordnung erheben kann. In solchem dichterischen Hochgefühl entstand noch auf dem Straßburger Münster ein Gedicht, das Hebbel wiederum als Traum überschrieb: Von einem Wunderbecher Hab’ ich mit Angst geträumt, Woraus dem durst’gen Zecher Die höchste Fülle schäumt. Draus durft’ er Alles trinken, Was Erd’ u Himmel bot, Doch mußt’ er dann versinken In einen ew’gen Tod. [WAB 1, 115]

Angesichts des möglichen Wahrwerdens sämtlicher Verheißungen, welche die Welt bieten kann, mittels Magie, und zugleich der furchtbaren Sanktionierung wird dem lyrischen Ich schon vom bloßen Schauen – „Tief in den Grund hinein“ – seltsam zumute:

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Und gänzlich drin versunken, Ward mir zuletzt der Sinn, Als hätt’ ich schon getrunken Und wäre längst dahin.1416

Auch hier ging es, wie Werner beschrieb, um „das Ineinanderfluten von Tod und Leben, die rätselhafte Vermischung von Wonne und Grausen“,1417 vor allem aber darum, daß das lyrische Ich seine Souveränität gegenüber den Abgründen der Vorstellung nicht aufrechterhalten kann, sondern immer in der Gefahr steht, zu „versinken“ und den „ew’gen Tod“ traumhaft zu leben. Auch in der Realität mußte Hebbel von der hohen Warte des Straßburger ‚TurmErlebnisses‘ nur allzubald herabsteigen. Die Rolle eines Goethe, der Diesseits und Jenseits, Wirklichkeit und Traum, Leben und Dichten im Zeichen der Liebe vereinigt, war nicht durchzuhalten, und Hebbel fiel auf die Fausts zurück – mit entsprechend diabolischen Anwandlungen: Karl Strecker meinte, wenn er im Dom Goethe vor sich sah, wie ihm die Idee des Gretchens aufging, habe er eher „eine Vorahnung […] seiner Münchener Erlebnisse“1418 gehabt. Schließlich, so Strecker, habe es dort „Gespräche nicht unähnlich denen in Marta Schwertleins Garten zwischen ihm und Josefa Schwarz gegeben“. Tatsächlich verstrickte sich der Münchner Student erneut in Liebeshändel, bei denen er die Gretchenfrage von vornherein negativ beantworten konnte: Während die treusorgende Freundin Elise Lensing in Hamburg auf die Rückkehr ihres Doktors in spe wartete, empfand dieser es als „reizend an einem Mädchen, wenn sie katholisch ist und dennoch der Gottesverlorene Ketzer von ihren Lippen speis’t“.1419 Doch bot dies keine dauerhafte Genugtuung; die Qual des unwirklichen ‚Lebens auf dem Kirchhof‘ stellte sich prompt wieder bei Hebbel ein. Seinem Freund Friedrich Gravenhorst schrieb er schon im November 1836: Wer, wie ich, mit seinem ganzen Seyn, dem Tod anheim gefallen ist, sollte nicht mit verpesteten Armen ein junges blühendes Leben umschlingen. Es ist humoristisch, daß ein Leichnam auf all die süßen Kleinigkeiten und Tändeleien einer Mädchenseele eingeht und sie wohl gar in der Erwiederung überbietet, aber eben, weil der Humor gräulich ist, ist er unwiderstehlich. [WAB 1, 132]

Der Bewohner des Kirchhofs – er ist selber ein lebender „Leichnam“. In München wurde diese dämonische Weltsicht bei Hebbel noch durch eine Choleraepidemie verstärkt; „in unheimlicher Hast rollten die beladenen Totenwagen […]. Ich wußte nicht, wie ich dem Tode ausweichen sollte“. Als im September 1838 Hebbels Mutter und im Oktober sein bester Freund Emil Rousseau starben, als zugleich absehbar war, daß er die sinnenfrohe „Beppi“ Schwarz bald in München zurücklassen mußte, da zog nicht WAB 1, 115. Werner liest: „zu Sinn“ [B 1, 101]. Später erhielt das gering veränderte Gedicht den Titel Der Becher [W 7, 144f.]. Vgl. KUH, Biographie, Bd 1, S. 170 und S. 292. 1417 W 8, XXXVI. 1418 Dieses und das folgende Zitat: STRECKER, Friedrich Hebbel, S. 159. 1419 W 9, 415. Diesen frivolen Reiz genoß nicht anders Holofernes bei Judith: „[I]n ihrem Herzen wohnt Niemand, als ihr Gott, und den will ich jetzt vertreiben!“ [W 1, 59]. 1416

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mehr die Liebe den blassen Jüngling in die Welt zurück, sondern er trauerte dem Verlorenen nach. Im November 1838 schrieb er an die Schwester Rousseaus: „Der Tod eines heißgeliebten Menschen ist die eigentliche Weihe für eine höhere Welt, […]. Man muß auf Erden etwas verlieren, damit man in jenen Sphären etwas zu suchen habe!“ [WAB 1, 265] Das Gedenken an den toten Freund erneuerte die Sehnsucht nach dem Jenseits, in dem dieser sich befand. Der als verkehrt erfahrenen Welt versuchte Hebbel im Geist zu entfliehen. Wo die Liebe nicht half, konnte wieder nur eines helfen: die Literatur, jetzt mehr denn je in Form des Grotesken: Das „Groteske ist die entfremdete Welt“, schrieb Wolfgang Kayser – und genau diese spiegelte Hebbel mit seinem gräulichen Humor. Die Gestaltung des Grotesken ist nach Kayser „der Versuch, das Dämonische in der Welt zu bannen und zu beschwören“.1420 Gerade in seiner zugespitzten Münchner Situation bedurfte Hebbel, wie er später schrieb, „eines Gegengewichts und griff zur Komik, zur Verspottung des Seyns durch die Gestaltung des Nichts“ [W 15, 51]. Seine Novellen stellten nun zwar nicht mehr, wie etwa noch die Lyrik der Wesselburener Zeit, ein „Reich des schönen Scheins“1421 dar – doch die Literatur bildete weiterhin ein „Gegengewicht“, ja eine Gegenwelt zu einer entfremdeten Realität. „Jene Sphären“ der „höhere[n] Welt“ – das waren für Hebbel Chiffren auch für die Kunst. Nun war es der Künstler selbst, der als eine Art ‚Nachzehrer‘ zunächst sich selbst verzehrt und dann die irdische Wirklichkeit in die jenseitige Sphäre seiner Kunst hinüberzieht. Tatsächlich schrieb Hebbel 1843 an Eduard Duller in drastischer Bildlichkeit: „[W]er wird sie [die „innere Flamme“] nicht lodern und an sich zehren lassen, wenn er den Beweis erhält, daß der wilde Läuterungs- u Vernichtungsbrand doch von Zeit zu Zeit eine theilnehmende Seele herbei zieht“. Sodann malte er die magisch-sympathetische Gemeinschaft mit dem Bewunderer in düsterer Kirchhofsatmosphäre grell aus: Wir müssen viel Verwandtes mit einander haben, das zeigt schon die gleiche Richtung unserer Poesie, denn Sie sind, wie ich, in die geheimsten Geburtsstätten des Lebens, wo gemeine Augen nur den Gräul der Verwesung, u nicht die neuen Keime des Werdens wahrnehmen, aus innerster Nöthigung hinab gezogen [!] worden [WAB 1, 473].

Eine solche mystische Vereinigung unter abergläubischen Vorzeichen ist etwas anderes als das sinnliche Herabgezogenwerden in die Niederungen des LebendigOrganischen. Dieses ist schon einem Künstler wie Dietrich aus der Novelle Der Maler ein Greuel. Er warnt vor der Strafe, die „den Frevler trifft, der in das heitre Reich der Kunst sich eindrängen und zugleich die Freuden des Staubes genießen will. Er schwebt ewig, wie der Paradiesvogel, zwischen Himmel und Erde, kein Tropfe kühlt seine brennende Seele und die Verzweiflung wird ihn zermalmen“ [W 8, 10f.]. Hier wurde einem ätherischen Leben allein von der Kunst und für die Kunst das Wort geredet. Diesen Gedanken konnte Hebbel bei einem Künstlerkollegen finden: Daß „der Künstler auf den irdischen Besitz seines Ideals verzichten müsse, um es in seiner Kunst gestaltend verwirklichen zu können“ [DjH II, 233], erkannte Paul Bornstein als 1420 1421

KAYSER, Das Groteske, S. 139. WITTKOWSKI, Der junge Hebbel, S. 63.

Das „Wunder der weltlichen Transsubstantiation“

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„spezifisch hoffmannisch“ [DjH II, 233]. Altes, abergläubisches Substrat, bittere Lebenserfahrungen und Anstöße aus der Literatur wirkten bei der allmählichen Formung von Hebbels Selbstporträt als Künstler zusammen. In der profanen Welt waren es die poetischen Gegenentwürfe, die andere Perspektiven aufzuzeigen vermochten – sei es in geistlich-idealisierter oder geisterhaft-entstellter Form, sei es als utopischer oder grotesker Gegenentwurf. Auch in anderen Zeiten – im ‚Vergangenen‘ als ‚Vergänglichem‘ – war die ‚andere Welt‘ aufzufinden. Auf dem Weg von Straßburg nach München besuchte Hebbel in Stuttgart Gustav Schwab. Dieser „sprach Manches mit mir über Dithmarschen u forderte mich auf, Dithmarsische Geschichte zu bearbeiten“ [WAB 1, 113], was ohnehin zu Hebbels „liebsten Plänen für die Zukunft“ [WAB 1, 113] gehörte. Die Zukunft im Vergangenen suchen – dieses Vorhaben faßte Hebbel erneut in die drastische Kirchhof-Bildlichkeit, jedoch mit geradezu begeistertem Schwung und Optimismus: „Mein Thun soll sich erstrecken; So weit es darf u kann; Ich will die Todten wecken; Die klopfen weiter an; Ich steig’ in die alten Grüfte; Und poch’ an jeden Sarg, ob [sic!] ich den Deckel lüfte, Der großes Leben barg“.1422 Diese Verse aus dem Einleitungsgedicht zu dem geplanten Dithmarscher Liederzyklus schrieb Hebbel gleichfalls noch auf der Reise – im Geiste war er damit bei einer Lieblingstätigkeit aus seiner Knabenzeit angelangt, als er sich in den alten Grabkellern des Wesselburener Friedhofs herumtrieb. Die oberflächliche diesseitige Wirklichkeit schien dem jungen Dithmarscher allzu profan, und auch der Autobiograph rückte von dieser Position im Grundsatz nicht ab: kein Wunder also, wenn der literarische Wiedergänger glaubte, er müsse seinen Zeitgenossen „gespenstermäßig erscheinen“. Wenn seine „gestaltende Kraft“ solches bewirkte, bedeutete das für sein Werk: Die Schattenfiguren der Dichtung wirken wirklicher als die Wirklichkeit. Hebbel hält der physischen Welt nicht den Spiegel vor, sondern er gestaltet einen anderen, einen metaphysischen, literarischen Kosmos. Die Welt des Aberglaubens hat dabei Pate gestanden.

Das „Wunder der weltlichen Transsubstantiation“ In seiner Untersuchung über Das Paradoxe als Grundstruktur Hebbelschen Denkens leitete Peter Michelsen aus Hebbels eigenartig transzendentaler Weltsicht eine philosophische Konstruktion ab: Da für Hebbel „das Was der Erkenntnis keinem Inhalt des Gegenstandes, so wie er selbst ist, korrespondiert“, sei alles „Außen […] nur Erscheinung, oder gar Schein, und der Erkenntnisakt vollzieht sich im Raume des Subjekts selber. […] Während die Objekte sich in ein Jenseits flüchten, aus dem man sie vergebens wieder in die Erkenntnis hineinzuziehen versucht, muß das Subjekt zu einem Monstrum anwachsen, das das Ganze der Welt umfaßt.“1423 Doch dieser

WAB 1, 113f. Kuh zitiert: „Ob sich der Deckel lüfte“ [KUH, Biographie, Bd 1, S. 173]. Vgl. auch: „er [Kleist] weckte die Todten auf, um die Lebendigen zu erwecken“ [W 9, 59]. 1423 MICHELSEN, Das Paradoxe als Grundstruktur Hebbelschen Denkens, S. 12f. 1422

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Aberglaube – mehr als nur der ‚falsche Glaube‘

nihilistische Solipsismus sei keine Lösung der existentiellen Fragen, sondern selber problematisch: Da der Mensch aber in der von ihm in ihrer Wirklichkeit bezweifelten Welt zu leben hat, entsteht die paradoxe Situation, daß er sich zwar einerseits in ihr als einer empirischen Realität, die aber nur Schein ist, befindet, andererseits jedoch, ein – auf ein postuliertes Unbedingtes zu – Drängender, sich nicht in ihr befindet.1424

Hebbels Irrationalismen resultieren für Michelsen lediglich aus einem intellektuellen Dilemma: „Ein Denken, das sich selbst mißtraut, das die Ergebnisse seiner unmittelbaren Außenweltbegegnung nicht akzeptiert, also ‚reflexiv‘ ist, kann zum absoluten Sein, das es sucht, gar nicht gelangen“.1425 Daher „flüchtet [es] vor sich selber, um auf intuitive, gefühlsmäßige oder andere Weise einen Bezug zum Unbedingten herzustellen. Doch kein Bezug kann, da er eine Bedingtheit darstellt, das Unbedingte herbeizaubern“. Das „Unbedingte herbeizaubern“ – was Michelsen im Nachsatz leichthin verwirft, stellte für Hebbel eben doch eine interessante Gegenstrategie dar. Wenn Michelsen formuliert: „Die Relation des Ichs zur Außenwelt ist unheilbar gestört und die Wirklichkeit wird als ‚gleißender Schein-Realismus‘ abgewertet, ‚der gar nicht existiert‘ [T 6086], so daß im Grunde eine erkenntniswertige Aussage gar nicht mehr möglich ist“1426 – dann stellt sich die Frage, ob diese „alle Stadien der Hebbelschen Tagebuchführung“ durchziehende „grundlegende[…] Erkenntnisskepsis“ ein rein ‚theoretisches‘, epistemologisches Problem bleibt, oder ob Hebbel als Dichter „im Grunde eine erkenntniswertige Aussage“ gar nicht treffen will. Gerade um diese Differenz ging es Hebbel in seiner Aussage: Als „gleißenden Schein-Realismus“ bezeichnete er die wahrnehmungspsychologischen Gegebenheiten von Raum und Zeit; solche vordergründigen „Anschauungs-Formen“ [T 6086] würden hingegen aufgehoben und außer Kraft gesetzt in Märchen und „Zauber-Dichtung“ [T 6086] – also solchen Texten, die Aberglauben in Literatur überführten. Die auf mystische Art erfahrene und in Texten beschworene jenseitige Welt war mehr als ein eskapistischer Reflex auf gescheiterte Denkanstrengungen. Sie war auch nicht nur eine Erinnerung an Kindertage, die der Erwachsene einfach hinter sich gelassen hätte. Sie bot ihm vielmehr einen ‚poetischen‘ Aufenthaltsort, der sich der prosaischen Welt diesseitiger Zwecke entgegensetzen ließ. Nicht zu Unrecht sprach Heinz Stolte einmal vom „magische[n] Kreis dichterischen Schöpfertums“, der den Dichter freilich nicht immer „zur Geborgenheit in sich selber“ umschloß.1427 Hebbel wußte schließlich selbst: „[E]s ist zugleich unheimlich u gefährlich, wenn ein Mensch zum Fundament seines Wesens hinunter steigt, […] denn drunten lauern die Finsterniß u der Wahnsinn“ [WAB 1, 135]. Ob Wahnsinn oder Traum, ob faustisches oder hoffmanneskes Sonderlingsdasein1428 – das ‚Ganz Andere‘, das Aberglauben, Tod,

Ebd., S. 16. Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 15. 1426 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 11. 1427 STOLTE, Friedrich Hebbel. Leben und Werk, S. 40. 1428 Vgl. dazu MEYER, Der Sonderling, S. 101 und S. 134f., sowie: KAYSER, Das Groteske, S. 58. 1424 1425

Das „Wunder der weltlichen Transsubstantiation“

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Liebe und Literatur sinnlich und zeichenhaft in der diesseitigen Welt objektivierten, war für Hebbels werdendes Selbstverständnis von existentieller Bedeutung. Hebbels ‚Höllenfahrten‘ in die Welt der Gespenster und Untoten führten freilich nur zum ‚negativen‘ Pol des Transzendenten; genauso fanden sich – worauf die Hebbelforschung ungleich stärker insistierte – geistliche Reminiszenzen. Beim gereiften Dichter schienen die Gegensätze zu einem, wenn auch labilen, Ausgleich gekommen. 1854 notierte er ins Tagebuch: „Wenn der Genius geboren werden soll, so müssen sich Gott und Teufel einmal einig werden und sich von oben und unten die Hand reichen“ [T 5341]. Der Einfluß der christlichen Hochreligion bringt, so HansGeorg Soeffner, einen ganz bestimmten Typus von Individualität hervor. Hier steht „ein einziger Gott als zwar umfassendes, aber dennoch einzelnes Subjekt der ‚irdischen‘ Welt gegenüber, die er aus seinem eigenen, von ihr abgetrennten Reich heraus regiert, in das hineinzugelangen das Ziel menschlicher Anstrengungen sein soll“.1429 Mit dieser „symbolischen Zwei-Welten-Theorie“ entstehe die „Alternative zwischen Weltzuwendung und Weltabwendung, wobei die von dieser Religion nahegelegte Weltabwendung zwangsläufig zu der Erfahrung der sozialen Vereinzelung führt – zumal dann, wenn die Vereinzelung als eine besondere Voraussetzung für das Erleben der ‚Offenbarung‘ Gottes angesehen wird.“ Diese symbolische Aufteilung der Welt erzeuge einen Typus von Individualität, der sich wegen seiner partiellen „Ablösung aus der alltäglichen Sozialität schon als signifikante Aussonderung und damit als Subjektivierung und Idealisierung zeigt“. Auf die einzelgängerischen Züge des jungen Hebbel ist immer wieder hingewiesen worden, ja sie wurden zu Standardmotiven der Biographen. Die ‚Einsamkeit‘ schien nachgerade eine Grundvoraussetzung für die dichterische Entwicklung des ‚Großen Einzelnen‘ zu sein. Doch lieferte diese ‚Abwesenheit‘ nur eine unbefriedigende Antwort auf die von Michelsen formulierte Frage nach der Anwesenheit des Unbedingten im Bedingten. Dem steht jedoch eine Praxis gegenüber, die das ‚Ganz Andere‘ in die diesseitige Welt einbezieht. Soeffner schreibt: „Für die inhaltliche Ausgestaltung der Erfahrungsakte ist es dabei u. a. entscheidend, ob in der religiösen Ausdeutung und symbolischen Darstellung des sozialen Kosmos die Götter als in der Welt seiend, als in ihr und durch sie erfahrbar oder aber als der Welt gegenüber, in diese hineinwirkend vorgestellt und erlebt werden.“1430 Hebbels Äußerung, der Aberglaube sei „für diese Welt, was (nach christl. Begriffen) der Glaube für jene“ [WAB 1, 152], ist in diesem Zusammenhang höchst signifikant. Die offizielle Religion richtete ihre Hoffnungen aus dem irdischen Jammertal bevorzugt auf das Jenseits – respice finem. Das einfache Volk hatte hingegen wenig Neigung, Anweisungen aus Bibel und Katechismus zu folgen wie dieser: „Habt nicht lieb die Welt noch was in der Welt ist“.1431 Stattdessen versprachen Magie und Aberglaube die direkte Beeinflußbarkeit jenseitiger Mächte schon im diesseitigen, alltäglichen Leben. Dieses Denken entsprach der volkstümlichen ‚materia-

Dieses und die folgenden Zitate: SOEFFNER, Typus und Individualität“ oder „Typen der Individualität“?, S. 33f. 1430 Ebd., S. 33. 1431 LUTHER, Kleiner Katechismus, S. 136 (1. Johannes 2, 15). 1429

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Aberglaube – mehr als nur der ‚falsche Glaube‘

listischen‘ Weltsicht weit mehr. Der christlichen Weltabgewandtheit setzte der Aberglaube eine Art weltimmanenter Transzendenz entgegen. Natürlich bot auch die Kirche sinnliche Erfahrungsmöglichkeiten des Transzendenten an – der im Katechismus-Unterricht eingeprägte Grundsatz, daß „wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare,“1432 ließ sich rein nicht durchhalten. Gerade dadurch gerieten auch kirchliche Handlungen in die Nähe magischer Praktiken. Beispielhaft ist dafür das Sakrament des Abendmahls, mit dem das Christentum, so Inge Suchsland, an „heidnische Opferrituale“1433 anknüpfe, an die „Totemmahlzeit, wie auch Freud sie beschreibt, an kannibalistische Bräuche.“ Auch wenn es auf diese Weise gelinge, „eine besonders enge Verbundenheit zwischen Gott und Mensch, Geist und Materie zu versinnbildlichen“, bleibt der Gegensatz von Heiligstem und Profanem ungeheuerlich: „Wie kann dieser uns sein Fleisch zu essen geben?“,1434 fragten irritiert schon jene biblischen Zeitgenossen, denen sich Jesus als das „Brot des Lebens“1435 empfahl. An dieser Frage schieden sich noch lange – im Prinzip bis heute – die Geister. Der feinsinnige Humanist Ulrich Zwingli wurde regelrecht grob, als er gegen die Katholiken gerichtet feststellte: „Das Fleisch Christi nützt in jeder Weise sehr viel, ja unermeßlich viel, aber, wie gesagt, das getötete, nicht das aufgefressene“.1436 Und wenn er sich mit den Anhängern Luthers auch einig wußte, daß „besagte Meinung nicht nur als bäurisch, sondern auch als unfromm und frivol an[zu]sehen“ sei, so verdienten seiner Meinung nach auch die Lutheraner selbst „kein Gehör“, weil sie „das wahre und körperliche Fleisch Christi, aber geistigerweise“ äßen. Über dieses Problem kam es schließlich zum Bruch zwischen den Reformatoren. Die lutherische Theologie versuchte fortan, Leib und Geist in einer Kompomißformel beisammen zu halten: „Wie kann leiblich Essen und Trinken solch große Dinge tun?“,1437 fragte noch der neuzeitliche Katechet seine Gemeinde und mußte dabei in Kauf nehmen, daß dieses Wunder zugleich Anlaß zum Staunen, wie zum Lachen geben konnte. Bei Hebbel ist Das Abendmahl des Herrn, ein Gedicht von 1835, durchaus von heiligem Ernst durchdrungen. Die „ganze gläubige Gemeine“ [W 7, 122] ißt und trinkt hier in schöner Eintracht „mit heil’gem Muth“ – doch bei allem Ebd., S. 145 (2. Korinther 4, 17–18). Dieses und die folgenden Zitate: SUCHSLAND, Julia Kristeva zur Einführung, S. 144. 1434 Johannes 6, 52. Das Thema Kannibalismus hat Hebbel immer wieder berührt; vgl. dazu SCHOLZ, „Weil mich’s schauderte vor der unmenschlichen Speise“: Kannibalismus und Vampirismus im Werk Friedrich Hebbels. 1435 Johannes 5, 48. 1436 Dieses und die folgenden Zitate: ZWINGLI, Das Mahl des Herrn, S. 355. 1437 LUTHER, Kleiner Katechismus, S. 35. Generell hielt sich die Theologie vornehm – oder schamhaft – zurück, das Abendmahl „vom Vorgang des Essens her“ zu erschließen: „Die Aufmerksamkeit der Theologie war ungebührlich lang ausschließlich auf die Substanzverwandlung bei der Eucharistie fixiert“ [BACHL, Eucharistie, Umschlagtext]. Doch, so der katholische Dogmatiker Gottfried Bachl, „durch kein anderes Symbol wird der Mensch so stark an seine schwierige Lage erinnert, ein Esser und Trinker sein zu müssen, für alles, was ihm begegnet“ [BACHL, Eucharistie, S. 7], was für ihn die Fragen aufwirft: „Sakraler Kannibalismus im GottEssen? Warum ist hier möglich, was sonst abscheulich, sündhaft und grobes menschliches Unrecht ist? […] Was bleibt, wenn alles mein Lebensmittel werden muß, Gott, Christus, die Gnade, alles, was gut und nahrhaft ist?“ [Ebd., S. 10f.]. 1432 1433

Das „Wunder der weltlichen Transsubstantiation“

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„brünstige[n] Verlangen“, auch des lyrischen Ichs, endet das Gedicht mit der Einsicht, daß der „Sünder“ [W 7, 123] „dies Mahl […] nicht fassen kann“. In der Realität konnte diese ‚Fassungslosigkeit‘ nur allzu leicht in Spott umschlagen: Unterschieden sich häusliche Mahlzeit und die Einverleibung Christi am Tisch des Herrn am Ende nur durch das „Hoc est Corpus“ der Einsetzungsworte, das in abergläubischer Verbalhornung zum „Hokuspokus“ wurde? – „Zum Abendmahl: Lachen. Vorher bei Tisch das Lachen“ [W 15, 9], lautet eine autobiographische Notiz Hebbels, die in diesem Zusammenhang verstehbar wird. Auch wenn der genaue Hintergrund undeutlich bleibt, ist der ‚komische‘ Gegensatz zwischen den zweierlei ‚Mahlzeiten‘ offenkundig. Lachen – das war die subversive Reaktion des schlichten Menschenverstandes auf die Zumutungen der Hochkultur. Mit Hebbels Selbstverständnis als Dichter hat dies einiges zu tun. Denn nicht allein auf ein ungreifbares Jenseits, sondern auch auf die Wirklichkeit ist der Dichter verwiesen. Obschon er nur Worte erschafft, haben diese immer ‚Etwas‘ zu bedeuten. Was ihn daher stärker faszinieren muß als ein nebulöser „Himmel“, ist „das Wunder der weltlichen Transsubstantiation“,1438 bei dem „alle Welten […] durch einander [fließen]“. In diesem „Element der Poesie“ „schwamm“ Friedrich während einer der Wesselburener Kirchenmusiken. Auch wenn sich dieses „Wunder“ in der Kirche ereignete, war es kein religiöses Erlebnis im eigentlichen Sinne, sondern eher ein magisches, bei dem „die Dinge nicht sind, was sie scheinen, und nicht scheinen, was sie sind“. Die Dinge werden zu ‚Medien‘. So wie das abergläubische Denken den Gegenständen eine ihnen innewohnende Magie zuschreibt, so besitzt auch die in der Dichtung geschilderte Welt einen geheimnisvollen Hintersinn. In der innerweltlichen Form der Transzendenz erkannte Hebbel ein Grundbedürfnis der menschlichen Weltbetrachtung, wenn er in sein Tagebuch schrieb: „Ich glaube, eine Weltordnung, die der Mensch begriffe, würde ihm unerträglicher seyn, als diese, die er nicht begreift. Das Geheimniß ist seine eigentliche Lebensquelle, mit seinen Augen will er etwas sehen, aber nicht Alles“ [T 1339]. Dies galt ihm für Kunst und Leben gleichermaßen: „Das Geheimniß, letztes aller Poesie. Geheim ist auch Alles im Leben, wenigstens in den Folgen“ [T 1565]. An seinen engen Studienfreund Emil Rousseau hatte er ein Jahr vorher geschrieben: [D]ie höchste Wirkung der Kunst tritt nur dann ein, wenn sie nicht fertig wird; ein Geheimniß muß immer übrig bleiben und läge das Geheimniß auch nur in der dunklen Kraft des entziffernden Worts. Im Lyrischen ist das offenbar; was ist eine Romanze, ein Gedicht, wenn es nicht unermeßlich ist, wenn nicht aus jeder Auflösung des Räthsels ein neues Räthsel hervor geht? [WAB 1, 224]

Doch geht es Hebbel nicht um das Rätsel um seiner selbst willen; immer braucht der Dichter „etwas Mystisches, dem er sein Geheimniß ablauschen soll“ [WAB 1, 145]. Zwischen dem kruden volkstümlichen Aberglauben und dem geglückten ‚Aufheben‘ des Magischen im Geheimnis der Dichtung liegt ein allmählicher Prozeß der Verselbständigung, doch nicht der Entwertung: Die innerweltliche Transzendierung bleibt als 1438

Dieses und die folgenden Zitate: T 2867. Hervorhebung C. S.

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Aberglaube – mehr als nur der ‚falsche Glaube‘

strukturelles und funktionales Textmerkmal erhalten, wenngleich die Inhalte zurücktreten bzw. metaphorische Qualität bekommen. Aber auch in späterer Zeit bleiben in Hebbels Werken Elemente des Aberglaubens vorhanden. Gegenüber Karl von Holtei erklärte er 1851, daß er bei einer Bearbeitung der Genoveva fürs Theater die Hexe „Margarethe, als nothwendigen Gegensatz der Genoveva“, habe „stehen lassen“ müssen, „nur daß ich ihr die gräulichsten Reden; und die durchaus unausführbaren Dinge, als da sind das Tanzen, das rothe Leuchten, das Erblicken einer Teufels-Fratze u. s. w. genommen habe“ [WAB 2, 226]. Nicht das Zusammenstreichen der Hexenrolle ist in diesem Zusammenhang belangvoll, sondern ihr notwendiger Verbleib auf der Bühne. Auch nach seiner „Entmächtigung“ bleibt vom Aberglauben mehr übrig, als ein Konglomerat bloßer Motive. Er bleibt, weil die ‚erste‘ Wirklichkeit nie das Ganze der Welt abbilden kann, als hintergründige Parallelstruktur von Bedeutung. Diese zweite Ebene, die mit dem Geheimnisvollen auch das Religiöse einschließt, entspricht dem „mythischen Fundament“ [T 5933], das Hebbel auch bei seinem letzten Drama, den Nibelungen für „vom Gegenstand unzertrennlich[…]“ [T 5933] hielt. Auf diesem Untergrund basiert noch die „rein menschliche, in allen ihren Motiven natürliche Tragödie“ [T 5933]. Nach der gleichen Struktur war schon die Figur des Golo gebildet, über die Hebbel 1839 geschrieben hatte: „Der dramatische Dichter kann den Golo des alten Volksbuchs nicht brauchen, nur, wenn es ihm gelingt, diesen flammenden, hastigen Character aus menschlichen Beweggründen teuflisch handeln zu lassen, erzeugt er eine Tragödie.“1439 Das ‚Menschliche‘ und das ‚Mythische‘, Abergläubisch-Teuflische werden einander anverwandelt, doch die untergründige Heteronomie wird im Gang der Handlung zu einer Quelle der Tragik oder des Grotesken. So bestand Hebbel gegenüber Auguste Stich-Crelinger darauf, daß Judith ungeachtet der persönlichen Motive „ungeheure Thaten“ vollbringe, „die sie aus eigenem Antrieb nicht ausführen“ würde – trotzdem „wird sie durch ihre Magd, durch die einfach menschlichen Betrachtungen, die diese anstellt, von ihrer Höhe herab gestürzt“ [WAB 1, 326f.]. Gut zwanzig Jahre später, als das Zeitalter des „Realismus“ längst angebrochen war, sah Hebbel sich zu einer grundsätzlichen Rechtfertigung dieser dualistischen Konstruktion seines Dramas genötigt. Die Kritiker verwies er auf die Rätselhaftigkeit der Natur und des Lebens selbst zurück: Wen das mythische Fundament dennoch stört, der erwäge, daß er es, genau besehen, doch auch im Menschen selbst mit einem solchen zu thun hat […]. Oder lassen sich seine GrundEigenschaften, man nehme die physischen oder die geistigen, erklären, d. h. aus einem anderen als dem mit ihm selbst ein für alle Mal gesetzten […] Kanon ableiten? Stehen sie nicht zum Theil, wie z. B. die meisten Leidenschaften, im Widerspruch mit Vernunft und Gewissen, d. h. mit denjenigen Vermögen des Menschen, die man am sichersten als diejenigen bezeichnen darf, die ihn unmittelbar, als ganz allgemeine und interesselose, mit dem Welt-Ganzen zusammen knüpfen, und ist dieser Widerspruch jemals aufgehoben worden? Warum denn in der Kunst einen Act negiren, auf dem doch sogar die Betrachtung der Natur beruht? [T 5933]

1439

T 1475. Hervorhebungen C. S.

Das „Wunder der weltlichen Transsubstantiation“

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Die körperlichen wie geistigen „Grund-Eigenschaften“ des Menschen stehen demnach in einem unaufhebbaren Widerspruch zum „Welt-Ganzen“, das nur abstrakt erahnbar ist. Dieses ungreifbare Ganze wird in Mythus und „Mysticismus“ [T 5933] visualisiert und konkretisiert. Auch dort, wo das Diesseitige, Menschliche der Gegenstand ist, bleibt der Bezug zum ‚Ganz Anderen‘ bestehen. 1847, zu Beginn seiner ‚klassischen‘ Wiener Zeit stellte Hebbel sich die Frage: „Wie weit gehört das Wunderbare, Mystische, in die moderne Dichtkunst hinein?“ Seine Antwort lautete: Nur so weit es elementarisch bleibt. D. h. die dumpfen, ahnungsvollen Gefühle und Phantasieen, auf denen es beruht, und die vor etwas Verstecktem, Heimlichen in der Natur zittern, vor einem ihr innewohnenden Vermögen, von sich selbst abzuweichen, dürfen angeregt, sie dürfen aber nicht zu concreten Gestalten, etwa Gespenster- und Geister-Erscheinungen verarbeitet werden, denn dem Glauben an diese ist das Welt-Bewußtseyn entwachsen, während jene Gefühle selbst ewiger Art sind.1440

Der Aberglaube wird in seinen „konkreten“ Manifestationen abgelehnt, weil zumindest das „Welt-Bewußtseyn“ diesem „entwachsen“ sei; doch an seine Stelle tritt nun erst recht die dumpfe Ahnung von „etwas Verstecktem, Heimlichen“, das zunehmend ungreifbar wird. Die Hoffnungen auf eindeutige Erkenntnis, die sich mit der ‚Entmächtigung‘ des Abergläubischen, aber auch mit der Säkularisierung des Religiösen eine Zeit lang verbinden konnten, erweisen sich letztlich als trügerisch. Durch Hebbels schon Ende 1831 entstandenes „dramatisches Nachtgemälde“ [DjH II, 26] Der Vatermord fühlte sich Richard Maria Werner an „Schicksalstragödien erinnert, ohne daß deren Spukapparat vorkäme“,1441 und stellte mit Genugtuung fest: „So wird alles, selbst das Wunderbare und Mystische, auf das Einfach-Menschliche zurückgeführt, so bleibt Hebbel bei dem stehen, was er zu beobachten imstande war und für die Poesie nur steigern mußte.“1442 Doch die von Werner bevorzugte Art eines beobachtenden ‚poetischen Realismus‘ war Hebbels Sache eben nicht. Zwar wandte er sich durchaus polemisch gegen die christlich-abergläubischen Baum- und Kreuzeswunder eines Calderon und verlangte, „die Poesie, wenn sie sich mit dem Mysterium zu schaffen macht, soll dieß zu begründen, d. h. zu vermenschlichen suchen“ [T 3297]. Doch war damit das eindimensional „Einfach-Menschliche“ Werners gerade nicht gemeint. In anderen Äußerungen bezweifelte Hebbel, ob es überhaupt möglich sei, „das Mythische, Groteske des Stoffs auf das Reinmenschliche zurück zu führen“ [WAB 2, 612f.]: Die Bibelstoffe sind vom großen Goliath und dem kleinen David an, bis zu der Mutter der Maccabäer herab, an sich nun einmal ungeheuerlich, und haben etwas vom Mammuth und vom Leviathan, die sich durchaus nicht aus dem Ocean in einen Goldfischteich übersiedeln lassen; wer sie vermenschlichen will, lös’t sie auf. Darum muß Holofernes radotiren, wie er thut; der gebildete Zuschauer weiß sehr gut, daß nicht der Dichter […] durch ihn spricht,

T 4101. Hervorhebung C. S. WERNER, Friedrich Hebbel. Ein Lebensbild, S. 49. 1442 Ebd., S. 50. 1440 1441

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Aberglaube – mehr als nur der ‚falsche Glaube‘

und läßt sich ihn gefallen, wie im Pariser Pflanzengarten die Ueberreste eines urweltlichen Thiers; träte er manierlicher auf, so wär’s nicht mehr zum Ertragen!“ [WAB 2, 613]

Eigenartig, daß Hebbel noch in diesem Brief des Jahres 1853 die Figur des Holofernes mit seinen Eindrücken aus dem Pariser Naturhistorischen Museum zusammenbrachte: Dort hatten zehn Jahre zuvor „unter Anderem Ochsen-Knochen“ [T 3012] abergläubische Kinderängste in ihm geweckt. Mit Holofernes hatte Hebbel gewissermaßen ein ‚Urtier‘ zurück ins Leben gerufen, daß unheimlicherweise – und seinem menschlichen Aussehen zum Trotz – nicht zu „vermenschlichen“ war. Nur wenige Tage nach dieser Äußerung gegenüber Karl Theodor Winkler kam Hebbel in einem Brief an Franz Dingelstedt noch einmal in ganz anderer Weise auf die magische Kraft alter Knochen zu sprechen; auch hier ging es ihm um die Unmöglichkeit einer ‚Vermenschlichung‘ des Mythos: Es kann darüber gestritten werden, ob die alten jüdischen Mythen, ungeheuerlich, wie sie sind, überhaupt dramatisch brauchbar sind. Aber darüber kann nicht gestritten werden, daß das Bestreben, sie zu vermenschlichen, nicht gelingen kann. Zum Simson gehört der EselsKinnbacken und wer wollte die mit diesem erfochtene Victorie auf ein einfaches Naturgesetz reduciren? Das ist eitel Thorheit!1443

Auch wenn die alten Bilder und Vorstellungen im fortgeschrittenen 19. Jahrhundert an Überzeugungskraft verloren hatten, so besaßen sie doch für Hebbel strukturprägende Kraft. Dualismus und Verkehrbarkeit von diesseitiger Welt und jenseitiger ‚Anderswelt‘ bilden eine Grundkonstante traditionaler Mentalität, die in mancher Hinsicht tiefer, realistischer, aber auch poetischer erscheinen muß, als ‚monistische‘ Welterklärungen des ‚wissenschaftlichen Jahrhunderts‘. Peter Duerr kritisierte die allgemeine kulturhistorische Entwicklung als einen Prozeß der Vereinseitigung: „Die stetig komplexer werdende Zivilisation verliert das Wissen um diese Dinge. Sie begegnet dem Jenseitigen von nun an, indem sie dessen Erfahrung zunehmend unterbindet, verdrängt, oder später ‚spiritualisiert‘ und ‚subjektiviert‘.“1444 Hebbel sperrte sich zumindest partiell gegen ein Denken, das Religion wie Aberglaube zunehmend in Psychologie und „Naturgesetz“ aufzulösen versuchte. So wurde der ältere Hebbel zum Kritiker der neuen Zeit, indem er ihre Errungenschaften ausgerechnet mit überwunden geglaubten Anachronismen in Verbindung brachte: „Die höchste Bildung erzeugt ein Product, was dem crassesten Aberglauben entgegen gesetzt ist und ihm in der Wirkung doch zuweilen gleich ist. Wie dieser nämlich an jede Absurdität glaubt, weil er nie nach Gründen fragt, so jene an keine, weil sie immer nach Gründen fragt, und doch ist das Eine, den Menschen und die Welt betrachtet, wie sie sind und ewig seyn werden, vielleicht noch thörigter, als das Andre“ [T 5700]. Hinter den gesamtgesellschaftlichen Epochenumbruch konnte niemand zurück; und doch deutet Hebbel zumindest an, welche Zeit ihm innerlich näher stand: „Was man auch über das Verhältniß der neuen Zeit zur alten denken, wie man es auch beurtheilen möge, so viel steht fest, daß die neue Zeit bis jetzt von bloßen Gedanken lebt, während die alte 1443 1444

WAB 2, 615f. Hervorhebung C. S. DUERR, Traumzeit, S. 79.

Das „Wunder der weltlichen Transsubstantiation“

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einen unermeßlichen, freilich mystischen, Ideen-Hintergrund hatte“ [T 4938]. Bemerkenswert ist, daß keine Entwicklungslinie ‚organisch‘ vom Alten zum Neuen führte. Dies lag nicht zuletzt an der Geschlossenheit des einmal erworbenen Symbolsystems: „Was zusätzlich gelesen wurde, konnte kaum ebenso leicht eindringen und kaum ebenso fest behalten werden.“ 1445 Das moderne Wissen paßte „nicht leicht in die gesetzten Maßstäbe“, die sich ihrerseits nicht anpassen („vermenschlichen“) ließen, und etablierte sich gewissermaßem parallel zu den alten Weltbildern. Man muß diese kulturgeschichtlichen Verwerfungen sehen, um Hebbels existentielle Spannungen ermessen zu können, die Emil Kuhs vermittelnde Bewertung kaum zu überspielen vermag: „Über seine ganze Poesie aber ist ein mystischer Hauch gebreitet, ein ahnungsvolles Helldunkel, das sich mit der Unerschrockenheit seines Denkens auf das beste verträgt.“1446 Wohlgemerkt: Nicht der mystische Hauch macht die literarische Qualität von Hebbels Werk aus, nicht die Funktion des Erhöhens und Steigerns ‚der‘ Wirklichkeit – sondern die ‚unerschrockene‘ Kraft, mit der Hebbel existenzielle Widersprüche aushielt und gestaltete. Auch wenn die Inhalte von Aberglaube und Mythos ‚überholt‘ waren – der Dualismus von diesseitiger Welt und einer geheimnisvollen ‚Anderswelt‘ blieb als strukturierendes Moment von großer Bedeutung für sein Werk. Die Bemühungen um ‚Vermenschlichung‘ und Psychologisierung schlossen nicht, sondern markierten den Zwiespalt, der Hebbels Literatur durchzieht – und der ihn zugleich trennte von jüngeren zeitgenössischen Tendenzen zum ‚Realismus‘. Daß diese auch Verluste mit sich brachten: den Untergang der traditionalen Form zu denken, zu empfinden und zu leben – das empfand Hebbel selbst nur allzu gut.

1445 1446

Dieses und das folgende Zitat: ENGELSING, Die Perioden der Lesergeschichte, S. 124. KUH, Biographie, Bd 1, S. 129.

5. DIE SCHULE FRANZ CHRISTIAN DETHLEFSENS

Schulverhältnisse im Übergang – Reform oder Bruch? Religion und Aberglaube begleiteten Kinder- und Jugendzeit, ohne daß sie festen Lebensabschnitten zuzuordnen wären. Dagegen bedeutete die Einschulung Friedrichs in die Wesselburener Elementarschule im Jahr 18201447 nicht nur chronologisch, sondern auch mentalitätsgeschichtlich eine Zäsur. Mehrere Umstände waren dabei wirksam: die Umstellung von der knorrigen alten „Jungfer Susanna“ auf einen frisch bestallten Elementarlehrer, der Wechsel von einer privaten Winkel- auf die reguläre Fleckensschule, und dort schließlich die Umsetzung lange überfälliger Schulreformen. Im Kontrast dazu stand für Hebbel die negative Veränderung des familiären Umfelds durch den Verlust des elterlichen Hauses einige Monate später. Dies alles deutet auf eine Konfrontation unterschiedlicher Mentalitäts-‚Standards‘ und eine mögliche erste Infragestellung der traditionalen durch modernere Orientierungen. „Die Entwicklungspsychologie behauptet, daß der Lehrer nach der Mutter und dem Vater die dritte wichtige Identifikationsperson im Leben eines Kindes darstellt“,1448 referiert Helmut Fend in seinem einführenden Werk über Sozialisierung und Erziehung. Hebbels Biographen haben dem leider kaum Rechnung getragen. Seine Volksschulzeit, die von 1820 bis 1829 durchgehend von einer einzigen Lehrerpersönlichkeit geprägt wurde, handeln sie – ausgenommen Emil Kuh – meist in einem Absatz und mit wenigen dürren Worten ab. Dabei hat Hebbel selbst in seinen Aufzeichnungen aus meinem Leben emphatisch auf die Bedeutung jenes Lehrers hingewiesen, „dessen Namen ich nicht ohne ein Gefühl der tiefsten Dankbarkeit niederschreiben kann, weil er trotz seiner bescheidenen Stellung einen unermeßlichen Einfluß auf meine Entwicklung ausgeübt hat; er hieß Franz Christian Dethlefsen“ [W 8, 107]. In einem Brief an einen Wesselburener Jugendfreund von 1836 pries er ihn gar dafür, daß er „zum gegenwärtigen berühmten Schriftsteller den Grundstein gelegt“ [WAB 1, 121] habe. Freilich äußerte sich Hebbel auch in ganz anderem Tenor; etwa wenn er Karl Goedeke die bereits zitierte Auskunft gab, er hätte bei „einer höchst dürftigen Lectüre […] fast meine ganze Bildung aus der Bibel“1449 bezogen. Vor allem aber kam der Brief des Neunzehnjährigen an Ludwig Uhland einer Abrechnung mit der Schulzeit gleich: [I]ch hatte nie Gelegenheit, eine andere, als die hiesige Bürgerschule, zu besuchen, worin über 100 Kinder, die auf den verschiedenartigsten Stufen, des Alters sowohl, als der Fähigkeiten, stehen, in den Anfangsgründen der unentbehrlichsten Wissenschaften – im Lesen,

Das Schuljahr begann wahrscheinlich zu Ostern; der Ostersonntag fiel 1820 auf den 2. April. FEND, Sozialisierung und Erziehung, S. 175. 1449 WAB 1, 456. Vgl. auch W 15, 23. 1447 1448

Schulverhältnisse im Übergang

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Rechnen und Schreiben – so wie in der Religion, Unterricht erhalten, und wo ich mir um deswillen auch nur die allerdürftigsten Kenntnisse erwerben konnte [WAB 1, 15].

Diese Darstellung steht in auffälligem Kontrast zu den fast enthusiastischen Äußerungen über Dethlefsen und ist natürlich vom Appellcharakter des Briefes insgesamt geprägt – schließlich sollte Uhland dem jungen Mann aus Wesselburen forthelfen. Doch die geschilderten Umstände sprechen für sich. Einige Biographen schlossen sich entschieden dieser Bewertung an; so urteilte Kurt Küchler: „Der Knabe durchmißt eine Volksschule niederster Art. Nur im Notdürftigsten gibt die Schule dem jugendlichen Geiste Form und Gestalt.“1450 Adolf Stern anerkannte zwar ein redliches Bemühen seitens des Lehrers, doch konnte dieser seinem Schüler „nicht geben, was er selbst nicht hatte, und so umschwirrten nur einzelne abgerissene, verlorene Fäden geistigen Weltlebens das Haupt des nach mehr verlangenden Knaben.“1451 Angesichts des zwiespältigen Echos bei Hebbel selbst wie in der Biographik ist auch bei der Frage nach der prägenden Rolle der Schulzeit eine differenzierte Betrachtung und Interpretation notwendig. In den Aufzeichnungen aus meinem Leben gab Hebbel selbst eine längere zusammenhängende Schilderung des Übergangs von der Klipp- auf die Elementarschule. Dabei begann er mit den Äußerlichkeiten, die das Kind vom ersten Moment an nachhaltig beeindruckten: Ungefähr um dieselbe Zeit, wo ich Susannas dumpfen Saal mit der neu erbauten, hellen und freundlichen Elementar-Schule vertauschte, mußte auch mein Vater sein kleines Haus verlassen und eine Miethwohnung beziehen. Das war nun für mich ein wunderlicher Contrast. Die Schule hatte sich erweitert: ich schaute aus blanken Fenstern mit breiten FöhrenRahmen, statt das neugierige Auge an grünen Bouteillen-Scheiben mit schmutziger Blei-Einfassung zu versuchen, und der Tag, der bei Susanna immer später anfing und früher aufhörte, als er sollte, kam zu seinem vollen Recht; ich saß an einem bequemen Tisch mit Pult und Dintenfaß, der frische Holz- und Farben-Geruch, der noch jetzt einigen Reiz für mich hat, versetzte mich in eine Art von fröhlichem Taumel.1452

Hebbel liefert angesichts des modernen Schulgebäudes keineswegs ein romantisches Gegen- und Genrebild der vorangegangenen ‚guten, alten Zeit‘. Der Gegensatz zur Mietwohnung wie auch zum „dumpfen Saal“ Susannas mit schmutzig-grünen Butzenscheiben könnte kaum deutlicher sein. Mit der „hellen“ Atmosphäre, den „blanken Fenstern“ und dem „vollen Recht“ des Tages spielt Hebbel auf die Licht-Metaphorik der Aufklärung an, die dem „neugierige[n] Auge“ zudem am „bequemen Tisch mit Pult und Dintenfaß“ zuteil werden soll. Das „Dintenfaß“ ist dabei mehr als ein zufällig erinnertes Accessoire: Denn bei Susanna war Friedrich zwar im Lesen unterrichtet worden, erst an der Elementarschule aber lernte er Schreiben. Vor Einführung der

KÜCHLER, Friedrich Hebbel, S. 11. STERN, Friedrich Hebbel, S. XI. 1452 W 8, 110; vgl. auch: „Elementarschule; Gefühl der neuen Bänke, der Farbe“ [W 15, 12]. Allerdings berichtete ein Schulkamerad: „In der Elementarklasse waren keine Bänke, und die Kinder saßen knieend vor den Tischen. Erst später wurde eine Sitzgelegenheit hergerichtet.“ [HP I, 3]. 1450 1451

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Die Schule Franz Christian Dethlefsens

kombinierten Schreiblesemethode war das Schreibenkönnen so noch erfahrbar als bewußte Emanzipation vom bloß passiven Rezipieren – und das Tintenfaß war das Zeichen dieser neuen Schlüsselqualifikation, die unter den Erwachsenen erst wenige beherrschten. Bis dahin kam der Schreibunterricht ohnehin „meist über kalligraphische Übungen nicht hinaus, die fürs Leben bedeutungslos waren“;1453 so bei einem Onkel Hebbels, der ein „gewaltiger Kalligraph“1454 war und „seine Neujahrswünsche mit Tusche und Schnörkeln heraus[putzte], wie Fust und Schöffer ihre Incunabeln“. Bächtold-Stäubli sah in diesem alten Brauch der Glückwunschbriefe sogar noch „erstarrte Reste“ eines „Schriftzaubers mit euergetischer Wirkung“1455 am Werk. Die Szene in Maria Magdalena, in der Klaras Mutter sich angetan über den Schreiber Leonhard äußert, illustriert, wie wohlgelitten solch ein seltener Schreibkünstler noch bei der älteren Generation war: Da „setzte er dem Sohn einen Neujahrswunsch für den Vater auf, und erhielt allein für den vergoldeten Anfangsbuchstaben so viel, daß man einem Kinde eine Docke dafür hätte kaufen können. […] Da waren die Schreiber oben auf und machten das Bier theuer. Jetzt ist’s anders, jetzt müssen wir Alten, die wir uns nicht auf’s Lesen und Schreiben verstehen, uns von neunjährigen Buben ausspotten lassen!“ [W 2, 15]. Hebbel selbst äußerte seine Aversion sogar gegen das reinliche Schreiben noch als 21jähriger in einem Brief an den Freund Jakob Franz: In Briefen an eine Reihe Wesselburener, die „nicht eben sehr gelehrt“ [WAB 1, 41] seien, habe er „viele Aufmerksamkeit auf die Buchstaben richten müssen und das nehmen die Gedanken gleich übel, d. h. sie kommen gar nicht“ [WAB 1, 41]. Schreiben könne er darum nur jemandem, „der meine unleserliche Hand entziffern kann“ [WAB 1, 41]. Die flüchtige, aber flüssige Kurrentschrift, die den Denkprozess getreulich aufzeichnet, ist das Gegenteil zur prunkvollen aber geistlosen Buchstabenmalerei unaufgeklärter Schriftlichkeit. Der mit dem Schulwechsel insgesamt verbundene ideelle ‚Fortschritt‘ wurde von Friedrich gleichfalls auf der Stelle sinnlich erlebt. Denn „als ich auf mein Lesen hin vom inspicirenden Prediger angewiesen wurde, die dritte Bank, die ich bescheiden gewählt hatte, mit der ersten zu vertauschen und sogar auf dieser noch einen der obersten Plätze einzunehmen, fehlte mir nicht viel mehr zur Seligkeit“ [W 8, 110]. Es waren diese unverhofften Veränderungen, die zugleich eine neue Sicht auf das Elternhaus hervorriefen: Das Haus dagegen war zusammen geschrumpft und hatte sich verfinstert; jetzt gab es keinen Garten mehr, in dem ich mich mit meinen Kameraden bei gutem Wetter herum tummeln konnte, [...] ich war auf die enge Stube beschränkt, in der ich mich kaum selbst rühren, in die

ERICHSEN, Schulgeschichte der Landschaft Norderdithmarschen, S. 96. Vgl. JEISMANN/ LUNDGREEN, S. 137. 1454 Dieses und das folgende Zitat: W 8, 106. Dieser Onkel war Christian Conrad Schubart (1790 – 1811), dessen ‚Erbe‘ die Familie Hebbel angetreten hatte. Eine schöngeistige Zukunft war ihm offenbar schon an der Wiege gesungen worden, standen ihm doch bemerkenswerterweise „Conrad Hinrich Wolf, Studiosus der Theologie“ und der „Musiker Ferdinand Andreas Blädel“ [BARTELS, Kinderland, S. 422] Pate. „Onkel Christian und sein Bilderbuch“ [W 15, 8] nannte noch der Neffe in einem Atemzug. 1455 BÄCHTOLD-STÄUBLI, Handwörterbuch, Bd IX, Nachträge, Sp. 344. 1453

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ich aber keinen Spielgefährten mit bringen durfte, und auf den Platz vor der Thür, auf dem es, da die Straße unmittelbar daran vorüberlief, nur selten Einer bei mir aushielt [W 8, 110f.].

Die räumliche Einschränkung in der ‚neuen‘ Wohnung gegenüber dem früheren Vaterhaus ist nicht zu bestreiten; dennoch wurde etwas anderes entscheidend für Friedrichs verändertes Verhältnis zum Elternhaus: Es war der „Reflex der Schule aufs Haus“,1456 wie Hebbel in seinen Notizen zur Biographie einmal unvermittelt bekannte, der dieses „verfinstert“ hatte und dem Knaben das Gefühl gab, sein Platz sei von nun an in der ersten Reihe im neuen Klassenzimmer – und nicht im Elternhaus, und dort gar draußen „vor der Thür“.1457 Nicht so sehr die Schrumpfung dieses primären ‚Lebensraums‘, sondern die dynamische Wandlung des umgebenden öffentlichen Raumes Schule induzierte eine neue ‚Verortung‘ der eigenen Identität. Die von Friedrich so sinnlich erlebten – und in der Erinnerung symbolisch überhöhten – Veränderungen waren Folgen einer durchgreifenden Schulreform, die in den Herzogtümern Schleswig und Holstein durch die Allgemeine Schulordnung vom 24. August 1814 eingeleitet worden war, deren Umsetzung sich in Norderdithmarschen aber um Jahre verzögert hatte. Ernst Erichsen beobachtete ein „unbegreifliches, vierjähriges Verschleppen der Angelegenheit“1458 durch die Ortsschulbehörden. Insbesondere der Sachstandsbericht über das Kirchspiel Wesselburen „erfuhr eine längere Verzögerung infolge eines Rangstreites zwischen Prediger und Kirchspielvogt; beide beanspruchten, ihn zuerst zu unterzeichnen; aber sie wurden sich nicht einig, und so ging der Bericht ohne die Unterschrift des Geistlichen nach Heide.“ Über seinen unmittelbaren Gegenstand hinaus war dieser Streit auch ein Symptom der Erstarrung der ständisch verfaßten Ordnung, die zur Lösung gesellschaftlicher Probleme allmählich unfähig wurde. ‚Unbegreiflich‘ erscheinen die Versäumnisse aus heutiger Sicht um so mehr, als gerade in Wesselburen die Schulverhältnisse besonders mißlich waren, wo die beiden Klippschulen mehr Zulauf hatten als die eigentliche Elementarschule. Doch den Schulmeister ließ man weiterhin gewähren, auch er wurde in seinem ‚Stand‘ nicht angetastet. Letztlich waren es diese anachronistischen und von der kirchlichen Schulaufsicht geduldeten Zustände, die zu Hebbels mehrjährigem Verbleib an der Klippschule führten. Auch an der örtlichen Rektorschule, die eigentlich auf die mittleren Klassen einer höheren Schule vorbereiten sollte und die älteren Schüler bis zu Konfirmation begleitete, lagen die Verhältnisse sehr im argen, wenn man Hebbels Darstellung glauben darf: Dort wurden „nur die nothdürftigsten Realien tractirt, und ein wegen seiner Gaben allgemein angestaunter Bruder meiner Mutter [= Christian Conrad], den der keineswegs überbescheidene Rector mit der feierlichen Erklärung entließ, daß er ihm [sic!] Nichts weiter lehren könne, weil er so viel wisse, als er W 15, 13. Hervorhebung C. S. Hebbel brachte beide Ereignisse in seinen Aufzeichnungen aus meinem Leben auch zeitlich in einen unmittelbaren Zusammenhang, wonach sie „[u]ngefähr um dieselbe Zeit“ [W 8, 110] stattgefunden haben sollen. Da die Einschulung aber auf das Frühjahr 1820 anzusetzen ist, der Auszug aber vertraglich auf den 1. Mai 1821 festgelegt war, lag dazwischen ein Zeitraum von über einem Jahr – für einen Sieben- bis Achtjährigen eine lange Zeit! 1458 Dieses und das folgende Zitat: ERICHSEN, Schulgeschichte der Landschaft Norderdithmarschen, S. 138. 1456 1457

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selbst“, vermochte „nicht einen einzigen grammaticalischen Satz zu Stande zu bringen“ [W 8, 106]. Daß dies nicht nur an mangelnden Fähigkeiten, sondern auch an der Arbeitsauffassung der Lehrer lag, zeigt eine Einlassung Pastor Meyns von 1813: „In dieser Schule arbeiten 2 Lehrer […], aber so das beyde nicht mehr leisten als ein Einziger […]. Wenn der eine die Schulstube, worin alle Kinder zugleich versammelt sind verläßt, kommt der andere wieder und unterrichtet dann alle wieder allein.“1459 Dieser Zustand war zu Hebbels Schulzeit immerhin abgeschafft und die Schüler in eine Jungen- und eine Mädchenklasse aufgeteilt worden. Generell aber blieb es dabei: „Im Gegensatz zur Rektorschule in Heide waren alle andern, die diese Bezeichnung noch führten, selbst die in […] Wesselburen […], nur Elementarschulen.“1460 Erichsen hat den Fächerkanon an Dithmarscher Elementarschulen vor der Reform beschrieben: Hauptfach war unangefochten der Religionsunterricht, in dem die Schüler zunächst „den nicht verstandenen Katechismus“1461 auswendiglernten, und ihn bis zu ihrer Konfirmation „im Jahr zehnmal – und öfter“ wiederholten. Bei der Katechese stellten die Schulmeister Fragen, die „nur äußerlich angelernt waren und die sie entweder von ihren früheren Präceptoren übernommen hatten oder einem Hilfsbuch zu entlehnen pflegten. […] Ebenso waren die Schüler geübt, auf diese Fragen feststehende Antworten zu erteilen.“1462 Dieses Verfahren war „weder formal noch in religiöser Hinsicht von Gewinn“. Daneben galt es, „eine lange Reihe Gebete und ungefähr 50 Gesänge mit vielen unverständlichen, altertümlichen und selbst anstößigen Ausdrücken auswendig zu lernen“.1463 Außer Religion waren „nur Lesen und Schreiben obligatorische Unterrichtsfächer, während Rechnen fast ausschließlich von den Knaben und auch nicht einmal von allen betrieben wurde.“ Die Realien wurden „so gut wie ganz vernachlässigt“.1464 Am 5. Oktober 1818 wurde schließlich das Regulatif für sämmtliche Schulen in der Landschaft Norderdithmarschen1465 erlassen; allerdings dauerte es noch weitere zwei Jahre, bis in Wesselburen ein Schulhaus errichtet und mit Franz Christian Dethlefsen ein neuer Elementarschullehrer gewählt und eingeführt war. Nun erst konnten die Prinzipien der Aufklärung Eingang in das lokale Schulwesen finden – fast ein halbes Jahrhundert nach dem ersten Auftreten der Pädagogen Basedow, Rochow oder Salzmann. Laut der Allgemeinen Schulordnung sollte der Jugend „außer der moralisch-religiösen Bildung, welche in allen Schulen ein Hauptgegenstand der Sorgfalt der Lehrer seyn muß, diejenige intellektuelle Bildung gegeben werden, welche sie ihrem künftigen Beruf gemäß bedarf, um in der Stadt oder auf dem Lande der bürgerlichen Gesellschaft nützlich zu werden“.1466 Entsprechend rückten „von nun an die Realien an Stelle der religiösen MEYN, Pflichtmäßiger Bericht über die Verfassung des Kirchen-Schul- und Armen-Wesens im Kirchspiele Wesselburen. LA S-H, Abt. 19, Nr. 75. 1460 ERICHSEN, Schulgeschichte der Landschaft Norderdithmarschen, S. 126. 1461 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 94. 1462 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 95. 1463 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 94. 1464 Ebd., S. 97. 1465 Ebd., S. 140. 1466 Zit. nach ERICHSEN, Schulgeschichte der Landschaft Norderdithmarschen, S. 137. Dort auch die folgenden Zitate. 1459

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Unterrichtsgegenstände“, weil sie „als beste Unterrichtsmittel für die formale Schulung“ galten. Religionslehre war nur noch eines von mehreren Fächern, zu denen auch „Verstandes- und Gedächtnisübungen, […] Gesangunterricht und Handarbeitsunterricht“ zählten. Für jede Schule war eine eigene Schulbücherei geplant;1467 der Unterricht sollte sich auf das ganze Jahr erstrecken, und zwar „auf die Stunden von 8 – 11 und 1 – 4 fest – Sonnabendnachmittag ausgenommen.“1468 Bereits 1781 und 1786 waren die Lehrerseminare in Tondern und Kiel gegründet worden; die Allgemeine Schulordnung von 1814 verlieh den Seminaristen endlich „eine Vorzugsstellung bei der Besetzung vakanter Schulstellen“.1469 Durch eine bessere Besoldung sollte der Lehrer nun „so dastehen, daß er seine ganze Kraft der Schule widmen und auf Nebenverdienst verzichten konnte.“1470 In der Realität waren diese grundstürzenden Reformen nicht mit einem Federstrich durchzusetzen und mit Leben zu erfüllen. Mancherorts geschah so gut wie gar nichts. Der Wesselburener Pastor Marxen hatte wohl „den Vorschriften gemäß“ seinen Lehrern eine „Lectionstabelle“ gegeben, doch es dabei bewenden lassen. 1821 mußte er eingestehen, daß es „hie und da, schwer fält [sic!], einzelne Lehrer daran zu gewöhnen sich nach dieser Tabelle zu richten, indem sie zu ihrer Bequemlichkeit die Kinder lieber rechnen und schreiben lassen“.1471 Doch auch mit übereifrigem Aktionismus war nicht unbedingt etwas gewonnen. Hebbel selbst bemerkte dazu in den Aufzeichnungen aus meinem Leben mit spöttischem Unterton, den „unläugbar höchst mangelhaften und der Verbesserung bedürftigen Zuständen sollte nun ein für alle Mal ein Ende gemacht, das Volk sollte von der Wiege an erzogen, und der Aberglaube bis auf die letzte Wurzel ausgerottet werden“ [W 8, 106]. Selbst die Ausweitung des Wissensstoffes über die Elementarfächer hinaus beurteilte Hebbel später erstaunlich kritisch: Ob man gründlich erwog, was vornämlich zu erwägen gewesen wäre, bleibe dahin gestellt, denn der Begriff der Bildung ist äußerst relativ, und wie der ekelhafteste Rausch durch’s Nippen aus allen Flaschen entsteht, so erzeugt das flache encyclopädische Wissen, das sich allenfalls in die Breite mittheilen läßt, gerade jenen widerwärtigen Hochmuth, der sich keiner Autorität mehr beugt, und doch zu der Tiefe, in der sich die geil aufschießenden dialectischen Widersprüche und Gegensätze von selbst lösen, nie hinab dringt [W 8, 106].

Die Prinzipien der Aufklärung sah Hebbel in den Neuerungen offensichtlich nicht verwirklicht: Stattdessen sei ein „Abklärigt“ in den Lehrerseminaren „ausgekocht und als Rationalismus in die leeren Schulmeisterköpfe hinein getrichtert“ worden, der sich durch die neu eingerichteten Elementarschulen „gleich über das ganze Land ergießen konnte. Das Resultat war, daß auf eine etwas abergläubische Generation eine überaus superkluge folgte“ [W 8, 106]. Damit schloß er an eine Polemik an, die von konservativer Seite schon bald nach der Einführung der Reformen geäußert worden war – so Vgl. ebd., S. 136. Ebd., S. 139. 1469 Ebd., S. 152. 1470 Ebd., S. 176. 1471 MARXEN, Bericht über Veränderungen in Kirchen- und Schul-Angelegenheiten. 10.8.1821. LA S-H, Abt. 19, Nr. 75. 1467 1468

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etwa von dem Prediger A. H. Kochen in den schleswig-holsteinischen Provinzialberichten von 1818: „Die Jugend und das Volk sind dadurch in eine Verschiedenheit von Ansichten über und wider die Religion verwickelt worden, daß sie zuletzt den Grund unter den Füßen verloren haben und, während der eine Theil in den fast an Unglauben grenzenden, mit Unrecht so genannten, Rationalismus unserer Tage übergegangen, der andere zu dem fast mit allen Zeichen des Aberglaubens befleckten Mysticismus früherer Zeiten zurückgekehrt ist, sind im Allgemeinen der Verstand und das Herz der Menschen in einen, dem religiösen und sittlichen Leben gleich gefährlichen Zwiespalt gerathen.“1472 Der hier so deutlich markierte Zwiespalt illustriert einmal mehr, wie wenig linear oder ‚evolutionär‘ sich Mentalitätsgeschichte vollzog. Stattdessen wird eine Bruchkante zwischen traditionaler und moderner Mentalität sichtbar, die nicht nur die Gesellschaft insgesamt, sondern oft auch das einzelne Individuum prägt.

Dethlefsen als Pädagoge In diese bildungsgeschichtliche Umbruchphase fielen Ausbildung und Wirksamkeit Franz Christian Dethlefsens. Auch sein Lebensweg, den Johann Grönhoff anhand von Schul-Visitationsakten in Grundzügen nachgezeichnet hat, verlief nicht ohne Brüche. Für Hebbel wurde er vielleicht gerade dadurch ein erstes Vorbild, daß er vorgelebt hatte, wie man es durch geistiges Tun aus einfachsten Verhältnissen heraus zu etwas bringen konnte – wenn auch auf bescheidenem Niveau. Geboren wurde er am 29. Dezember 1791 als Sohn eines Insten und Korbmachers in Schaalby, einem Dorf bei Schleswig. Was Dethlefsen selbst für Hebbel werden sollte, war für ihn der Pastor Hans Börm gewesen – ein wohlmeinender Förderer. Börm war 1806, kurz vor Dethlefsens Konfirmation in das Kirchdorf Kahleby gekommen, „nahm sich des jungen begabten Menschen nach der Schulentlassung an und unterrichtete ihn.“1473 Über seine weitere Ausbildung zum Lehrer schrieb Dethlefsen selbst: Leider habe ich nicht das Glück haben können, an dem, auf dem Schullehrer-Seminar ertheilten Unterricht persönlich Teil zu nehmen. Jeder weiß gewiß selbst, wie trübe die Aussicht unter solchen Umständen ist und wie schwer es fält, ins Amt und an eine bestallte Schule zu kommen. Liebe und Neigung zum Schulfache ließen mich aber alle diese Schwierigkeiten verachten und spornten mich nur desto mehr an, sorgfältiger jede sich mir darbietende Gelegenheit, Kenntnisse und Fertigkeiten zu erwerben, treu und gewissenhaft zu benutzen, und, so weit es mein jedesmaliger Wirkungskreis erlaubte, nach meiner besten Einsicht anzuwenden, um mich stets besser für meinen Beruf zu bilden. […] Durch den Unterricht des […] Pastors Börm […]; durch das Lesen zweckmäßiger, in das pädagogische und didactische Fach einschlagender Schriften; und durch die Benutzung der Hefte einiger Freunde, denen günstigere Umstände es erlaubten das Seminar zu Kiel oder Tondern zu besuchen; habe ich gleichsam den auf beiden Seminaren erteilten Unterricht mitgenossen, 1472 1473

Zit. nach SIEVERS, Volkskultur und Aufklärung, S. 69. GRÖNHOFF, Friedrich Hebbels Lehrer, S. 242.

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und so meine Kenntnisse immer mehr zu erweitern, zu berichtigen und zu vervollkommnen gestrebt und auf diese Weise es endlich dahin gebracht, daß ich laut der Zeugnisse von dem Herrn Generalsuperintendenten Adler und dem Oberconsistorialrath Boissen zu Borsfleth, damals Propst zu Gottorf den besten Seminaristen gleichgestellt worden bin und so eine eigene Schulstelle erhalten.1474

Im Herbst 1811 wurde der Neunzehnjährige für ein halbes Jahr „Gehülfe an der Schule zu Seeth in Stapelholm“; ab Ostern 1812 verwaltete er für vier Jahre die Elementarklasse an der Kantorschule zu Schleswig, und anschließend amtierte er ebensolange als Küster und Elementarschullehrer in Witzwort auf Eiderstedt. Er konnte also bereits auf längere praktische Erfahrungen zurückblicken, als er 1820 mit 29 Jahren nach Wesselburen kam. Am 1. März wählte ihn das Dekanskollegium nach Verlesung der eingereichten Zeugnisse sowie der „von den Wahlsubjekten abzulegenden Proben im Singen und Catechisiren“1475 gegen zwei Konkurrenten mit 13 von 18 Stimmen zum Elementarlehrer. Dabei hatte er das Glück des Tüchtigen – denn einen Seminarabschluß als reguläre Voraussetzung für den Schuldienst besaß er nicht. In den ersten Jahren, meinte Johann Grönhoff, werden Dethlefsens Leistungen „befriedigt haben“;1476 im August 1821 fand der Generalsuperintendent Jacob Georg Christian Adler bei seiner Visitation, er unterrichte „recht gut“.1477 Auch waren die Wesselburener durch die vorherigen Verhältnisse in ihren Ansprüchen nicht gerade verwöhnt. So wählte man ihn 1823 „zum Lehrer (Rector) der Oberknabenklasse“,1478 womit er den Zenith seiner Karriere erreicht hatte. Doch war er diesem Amt, das ursprünglich meist jüngeren Theologen vorbehalten war, auch objektiv gewachsen? Im Unterschied zu den ‚sich selbst genügenden‘ Volksschulen sollten Rektoratschulen auf die mittleren Klassen einer höheren Lehranstalt vorbereiten. Immerhin urteilte Adler bei der Generalkirchenvisitation am 7. September 1824: „In der Schule des neuen Rectors Detlefsen und in der Elementarschule bestanden die Kinder am besten“.1479 Auch in seinem neuen Amt bildete Dethlefsen sich zunächst weiter. Wohl 1825 besuchte er für vierzehn Tage „die Normalschule der wechselseitigen Schuleinrichtung zu Eccernförde“.1480 Diese ‚Versuchsschule‘ war 1820 gegründet worden und erprobte Dieses und das folgende Zitat: DETHLEFSEN, [Bericht an Generalsuperintendent Herzbruch] am 26.7.1837. LA S-H, Abt. 19, Nr. 111/1. Vgl. dazu ERICHSEN, Schulgeschichte der Landschaft Norderdithmarschen, S. 153f. GRÖNHOFF, Friedrich Hebbels Lehrer, S. 242, zitiert an einigen Stellen fehlerhaft. 1475 LA S-H, Abt. 101 Ksp Wesselburen, Nr. 3809. Die Hebbel-Sekundärliteratur datiert fälschlich: „1819 Volksschule“ [STOLTE, Friedrich Hebbel, S. 75; MATTHIESEN, Friedrich Hebbel, 142; vgl. auch ebd., S. 16]. 1476 GRÖNHOFF, Friedrich Hebbels Lehrer, S. 243. 1477 Generalkirchenvisitation des Generalsuperintendenten Adler, LA S-H, Abt. 19, Nr. 75. 1478 GRÖNHOFF, Friedrich Hebbels Lehrer, S. 243. 1479 Zit. nach GRÖNHOFF, Friedrich Hebbels Lehrer, S. 243. 1480 Vgl. DETHLEFSEN, [Bericht an Generalsuperintendent Herzbruch] v. 26.7.1837. LA S-H, Abt. 19, Nr. 111/1. Dethlefsen datierte dies irrtümlich auf 1824, was Grönhoff, S. 243 übernahm. In einem Aktenfaszikel im Landesarchiv Schleswig-Holstein Die wechselseitige Schuleinrichtung betreffend findet sich jedoch die Auskunft des Pastors Meyn vom 26.12.1824, daß „das Subjekt, welches 1474

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eine modifizierte Form der sogenannten Bell-Lancaster-Methode. Während Lernkontrolle und Einübung in der herkömmlichen Schule „einzelnes Abhören durch den Lehrer bei völliger Unthätigkeit der übrigen“ 1481 bedeutete, sollten die Übungen hier in stark disziplinierter Form von älteren Schülern, sogenannten „Monitoren“1482 durchgeführt werden. Diese „Trennung der Uebungen von dem eigentlichen Unterrichte“,1483 sollte dem Pädagogen ermöglichen, „seine Kraft ungetheilt“ der Fachlehre zuzuwenden. Für die genau reglementierten Übungen mußten Stoff und Schüler strikt in Abteilungen und Stufen eingeteilt und spezielle Hilfsmittel (Sandtische, geographische Tabellen etc.) angeschafft werden. Damit aber erforderte die „Eckernförder Schuleinrichtung“ einen umfangreichen organisatorischen, bürokratischen und materiellen Aufwand, der häufig nicht ohne weiteres zu leisten war, wie aus den 1831 in Altona publizierten Patriotisch-pädagogische[n] Bemerkungen, Wünsche[n] und Vorschläge[n] zur Beseitigung der, der wechselseitigen Schuleinrichtung entgegenstehenden Hindernisse eines anonymen „Jugendlehrers“ hervorging. Die örtlichen Pastoren zeigten auch zu diesen Neuerungen wenig Neigung. In einem gedruckten Rundschreiben des Oberkonsistoriums in Glückstadt vom 8. Juni 1824 wurde sämtlichen holsteinischen Schulpatronen „anbefohlen, den ihnen untergebenen Schullehrern die Anweisung zu ertheilen, sich wenn sie sich von dem Nutzen der zweckmäßigen Verbindung der wechselseitigen Lehrmethode mit der bisher üblichen zu überzeugen wünschen, desfalls an die allerhöchst angeordnete Commission in Eckernförde […] zu wenden“.1484 Dies hatte Detlefsen umgehend getan und auch einen Platz zum 1. November 1824 erhalten. Die Wesselburener Pastoren vereitelten aber kurzfristig seine Teilnahme an dem Lehrgang, da „uns Predigern diese Zeit nicht passend zu seyn scheint, indem die Schule um diese Zeit am aller besuchtesten zu seyn pflegt; die Jahreszeit ebenfalls zur Reise nicht besonders günstig ist, und auch die Kirche gegenwärtig kein Geld hat, um die erforderlichen Kosten zu bestreiten“.1485 So mußte Marxen in seinem Sachstandsbericht am Jahresende eingestehen, daß der wechselseitige Unterricht „bisher in keiner der meiner Inspection unterworfenen Schulen” stattgefunden habe, wobei er nicht versäumte, weitere Hinderungsgründe zu anzuführen: So schien ihm „das Local fast in allen Schulen dieser Einrichtung nicht zu entsprechen […], anderer Hindernisse und Schwierigkeiten nicht zu gedenken“. Auch drei Jahre später genossen erst „2 von den 8 Schulen über welche ich [Pastor Marxen] die Aufsicht führe die wechselseitige Unterrichtsmethode […],

dazu ausersehen war, sich in der Normalschule zu Eckernförde, gründlich mit solcher Methode bekannt zu machen – (der hiesige Rector Detlefsen) […] die Reise dahin, noch nicht hat antreten können“ [J. J. M. MEYN [an die Kirchenpropstei von Norderdithmarschen], am 26.12.1824. LA S-H, Abt. 101 IV C II, Nr. 50]. 1481 RIECKE, Wechselseitige Schuleinrichtung, S. 287. 1482 Ebd., S. 278. 1483 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 279. 1484 Königliches Holsteinisches Oberconsistorium, [Anordnung]. 1485 Dieses und die folgenden Zitate: M. C. MARXEN an die Kirchenpropstei von Norderdithmarschen. 13.10.1824. LA S-H, Abt. 101 IV C II, Nr. 50.

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nämlich die Schule zu Norddeich und die hiesige Elementarschule“.1486 Gemessen an dem Anspruch, daß „es den allerhöchsten Absichten entspricht, daß die Lehrmethode des wechselseitigen Unterrichts in den Schulen der Herzogthümer angewandt“,1487 und von den Schulbehörden erwartet wurde, „daß sie das Ihrige dazu beytragen“, drängt sich auch hier der Eindruck einer bewußten Verschleppung auf.1488 Dethlefsen selbst nahm zwar doch noch an dem Kursus in Eckernförde teil und erhielt nach eigener Auskunft bei der Prüfung „das 1ste Attestat“1489 – gerade an seiner Schule wurde die wechselseitige Schuleinrichtung allerdings nie eingeführt.1490 Dethlefsens pädagogischer Eifer war offenbar von keiner Seite richtig gewollt. Er traf auf überkommene Einstellungen und Verhältnisse, die durch den Erlaß des Schulregulativs und von oben verordnete Schulversuche noch lange nicht aus der Welt geschafft waren. Merkwürdig lange hatten die Pastoren Meyn und Marxen sowie der Kirchspielvogt Bruhn nach dem Erlaß von 1814 den kuriosen Wesselburener Schulverhältnissen tatenlos zugesehen, um sie dadurch noch einige Jahre zu konservieren. Auffallend wenig taten sie dann für die Einführung der Eckernförder Schuleinrichtung. Den Kommunen ging es vor allem darum, die Kosten so gering wie möglich zu halten, und an der Haltung der Eltern zur Schule hatte sich gegenüber früher nichts geändert. Die Wahlzeremonie von 1820 nutzte der Schulinspektor Marxen eigens zu einer „zur Erhöhung der Bürgerlichkeit mir paßenden Rede an die Wählenden“.1491 Rektor Dethlefsen rechtfertigte noch in den dreißiger Jahren die schwachen Lernerfolge seiner Zöglinge – trotz inzwischen ganzjähriger gesetzlicher Unterrichtsverpflichtung – mit mangelndem Schulbesuch: „Der größte Theil von ihnen muß im sommerhalben Jahre sucsessiv: pflugtreiben, Maulwurfshügel pp ausschlagen, Kartoffeln pflanzen, hacken und häufen, Flieder, Camillen und Brodtkümmel pflücken, für die Gewinnung der Feuerung, bei der Rabsaaterndte pp sorgen, Aehrenlesen und in den letzten 3 bis 4 Wochen nach Michaelis die reifen Kartoffeln wieder aufnehmen. Ein anderer Theil der Kinder muß die Wartung des Hauses und ihrer kleinen Geschwister übernehmen, während die Eltern auf Taglohn gehen, oder auch das Vieh hüten“.1492 Hebbel selbst erinnerte sich noch 1861 ‚schmerzlich‘ an das M. C. MARXEN an den Kirchenpropst G. Jürgens am 4.1.1828. LA S-H, Abt. 101 IV C II, Nr. 50. 1487 Dieses und das folgende Zitat: Königliches Holsteinisches Oberconsistorium, [Anordnung]. 1488 In der im Hebbel-Museum befindlichen Büchersammlung, die als „Pastor Meyns Bibliothek“ rubriziert ist (Signatur 16b) findet sich ein einziges Buch zum Thema: Versuch einer Volksbelehrung über den Nutzen der wechselseitigen Schuleinrichtung von Johann Staack und Hans Kühl (16b005). Das Buch erschien 1831; die Pastoren hatten die Methode schon 1824 einführen sollen. 1489 DETHLEFSEN, [Bericht an Generalsuperintendent Herzbruch] v. 26.7.1837. LA S-H, Abt. 19, Nr. 111/1. Bis 1839 hatten 853 Lehrer teilgenommen, davon „210 mit der ersten, 57 mit der zweiten, 65 mit der dritten Note” [RIECKE, Wechselseitige Schuleinrichtung, S. 278]. 1490 Vgl. ebd., sowie M. C. MARXEN an den Kirchenpropst G. Jürgens am 4.1.1828. LA S-H, Abt. 101 IV C II, Nr. 50. 1491 [M. C. MARXEN und Chr. P. BRUHN für das Dekanscollegium Wesselburen, Protokoll der Wahl Franz Christian Dethlefsens zum Lehrer der Elementarschule], vom 1.3.1820. LA S-H, Abt. 101 Ksp Wesselburen, Nr. 3809. 1492 DETHLEFSEN, [Bericht an Generalsuperintendent Herzbruch] v. 26.7.1837. LA S-H, Abt. 19, Nr. 111/1. Vgl. GRÖNHOFF, Friedrich Hebbels Lehrer, S. 243, der teilweise sehr frei zitiert. 1486

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„Prickeln in den Fingerspitzen“ [WAB 4, 248], das er als Kind bei der frühmorgendlichen Kartoffelernte im Herbst empfand, und glaubte es nur seiner Mutter zu verdanken, daß er „nicht, wovon mein Vater jeden Winter, wie von einem Lieblingsplan sprach, den Bauernjungen spielen mußte“ [T 1295]. Auch die finanzielle Ausstattung von Schule und Lehrer ließ weiterhin zu wünschen übrig. Von der gesetzlich geforderten Einrichtung einer Schulbibliothek erfahren wir bei Hebbel nichts; stattdessen lieh er sich Bücher aus dem persönlichen Besitz Dethlefsens. Das Schulregulativ von 1814 hatte verfügt, die Strafgelder für Schulversäumnisse zum Aufbau von Büchereien zu verwenden. Noch 23 Jahre später klagte der Wesselburener Rektor, die Schulbibliothek habe trotz der immensen Fehlzeiten „noch keine Einnahmen davon gehabt“.1493 Seine eigene kleine Büchersammlung war schwer genug erkauft: „Lesestoffe waren rar und teuer; zahlreiche Leserbiographien geben Zeugnis vom bitteren Kampf um ein bißchen Lesestoff. Der mußte erst einmal vorliegen, und er wollte bezahlt sein.“1494 Ein solcher „Kampf“ erscheint heute kaum vorstellbar. Dethlefsen entging ihm keineswegs; er mußte Schulden für seinen Lesestoff machen, die er nicht bedienen konnte. So stieß Gerhard Ranft bei seinen Recherchen im Vorforderungsprotokollbuch der Wesselburener Kirchspielvogtei auf eine Niederschrift vom 29. August 1836: „Der Herr Jürgen Friedrich Mendt [recte: Mundt, C. S. ] fordert namens des Herrn K. Koch in Schleswig den Herrn Rektor Dethlefsen zur Güte vor und verlangt, daß er die seinem Mandanten für erhaltene Bücher laut spezifizierter und produzierter Rechnung schuldig gewordenen“ Summen bezahle und darüber hinaus „die Kosten der Verhandlung erstatte. Herr Citat erklärt, daß er die Richtigkeit der eingeklagten Schuld anerkenne, zur Zeit aber außerstande sey, selbige zu bezahlen.“ Lapidar schließt daher das Protokoll: „Partes waren nicht zu vergleichen.“1495 Noch dreimal wurde Dethlefsen „wegen Kaufpreisschulden“1496 vorgefordert, wobei ungenannt bleibt, wofür er Schulden machte. Ein Grund für die wiederholte Säumigkeit mochte sein, daß ein Lehrer „damals nicht monatlich, sondern in größeren Zeitabständen, vermutlich viertel- oder halbjährlich, sein ‚Salär‘ ausgezahlt bekam“. Doch andere Belastungen kamen hinzu: Der Vater von vierzehn Kindern war zu dieser Zeit schon seit mehreren Jahren „aus Mißmuth u. s. w. dem Trunk ergeben“ [T 5100], wie Hebbel später berichtete. Aufgrund frühzeitigen Ausscheidens aus dem Dienst hatte er keineswegs ‚ausgesorgt‘. Die Schulden wuchsen so an, daß er 1853 seinen berühmten Schüler brieflich um Hilfe anging. Als Hebbel ihm zehn Taler schickte, wußte Dethlefsen „seiner Erkenntlichkeit für die kleine Summe gar keine Gränze zu finden, versicherte, nun könne er seine Schulden (!) bezahlen u. s. w.“1497 Die lokalen Rahmenbedingungen, unter denen Franz Christian Dethlefsen sich und seine pädagogischen Vorstellungen zu etablieren versuchte, hatten sich gegenüber früher nicht wesentlich geändert. Wie aber muß man sich seine persönliche EntDETHLEFSEN, [Bericht an Generalsuperintendent Herzbruch] v. 26.7.1837. LA S-H, Abt. 19, Nr. 111/1. 1494 SCHENDA, Vorlesen, S. 7. 1495 Zit. nach RANFT, Aus Friedrich Hebbels Wesselburener Schreiberjahren, S. 281f. 1496 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 282. 1497 T 5100. Vgl. auch die Briefe Dethlefsens an Hebbel vom 22.3.1853 [WAB 2, 637f.] und vom 8.4.1853 [WAB 2, 643f.]. 1493

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wicklung vorstellen, die zur frühzeitigen Pensionierung des einst so idealistischen Rektors führen sollte? Die Aussagen über ihn sind widersprüchlich. Klaus Groth beschrieb Dethlefsen aus eigener Anschauung als einen Mann, „wie er mir vorkam, nicht ohne Geist, mit glänzenden braunen Augen und lebhafter Stimme“;1498 Johann Grönhoff gewann von ihm „das Bild eines begabten und vorwärtsstrebenden Mannes“.1499 Wenn Hebbel ihn ausdrücklich aus seiner Kritik an der Halbheit der Schulreformen ausnahm – denn „für mich knüpfte sich an die Reform ein großes Glück“ [W 8, 107] – dann verwies jenes ‚Glück im Winkel‘ auf Probleme, die zunächst außerhalb der Schulunterrichts lagen. Dethlefsen selbst hielt sich für ein Opfer der „Schurkerei“, „Chicane“ und der „heimlichen lügenhaften Berichte“ [WAB 2, 637] des Pastors Meyn; Emil Kuh übernahm diese Argumentation fast wörtlich. Die Visitationsberichte brachten es, so Kuh „allmählich dahin, daß Dethlefsen, nachdem er eine stattliche Jahresreihe hindurch wohltätig in Wesselburen gewirkt hatte, seine Stelle als Rektor quittieren und bis an sein Ende ein kümmerliches Dasein fristen mußte.“1500 Dabei habe „gerade der gemütswarme Zug“ seiner Persönlichkeit es der „Nichtswürdigkeit“ leicht gemacht, „dem wackern Manne Schaden zufügen zu können; das ehrliche Gemüt sieht gewöhnlich nicht die Bosheiten und Ränke, wenn sie nahen, und entbehrt zugleich der Fähigkeit kluger Abwehr, wenn sie einmal greifbar geworden sind.“ Die „Nichtswürdigkeit“ war demzufolge jene des nur dem Stande nach ‚hochwürdigen‘ Pastors Meyn, „eines Schleichers mit evangelischen Gebärden“, wie Kuh ihn apostrophierte. Die polarisierende Emotionalität dieser Sichtweise ist nicht zu übersehen. Zunächst ist ihr entgegenzuhalten, daß Meyn mit seinem Urteil keineswegs allein stand. Schon 1827 hatte sich der Generalsuperintendent Adler bei seiner Visitation von Dethlefsen enttäuscht gezeigt: „In allen 3 Schulen ward diesmal nichts Vorzügliches geleistet.“1501 1831 reichte der Wesselburener Gastwirt Tiedemann bei Pastor Meyn eine Beschwerdeschrift gegen den Rektor ein, dem er vorwarf, daß er Unterrichtsstunden ausfallen ließe, und die Kinder bei ihm auch sonst „nichts lernten“ – Dethlefsen verwahrte sich mit heftigen Worten dagegen.1502 Der Diakon Nehlsen, seit 1830 der Nachfolger Marxens als Schulinspektor der Rektorschule, beschwerte sich im April 1832 bei der Kirchenpropstei: Als „Vorsänger in der Kirche“ habe Dethlefsen „schon öfter und namentlich an den beyden Ostertagen, durch zu frühes Einfallen in die vor dem Altar abzusingende Collecte, den Kirchengesang auf eine ärgerliche Weise“ gestört, auch sonst nehme er sich „sehr oft sehr viele Freyheit“ heraus, indem er „mit dem Singechor den Gesang schon anfängt, wenn der Organist kaum das Vorspiel begonnen hat wodurch natürlich der Gesang öfter in einer ärgerliche Disharmonie geräth“.1503 Dethlefsens selbstbewußtes Rechtfertigungsschreiben brachte Nehlsen GROTH, Friedrich Hebbels Jugendjahre, S. 123. GRÖNHOFF, Friedrich Hebbels Lehrer, S. 244. 1500 KUH, Biographie, Bd 1, S. 48. 1501 Generalkirchenvisitation des Generalsuperintendenten Adler am 15.[?]8.1827. LA S-H, Abt. 19, Nr. 75. 1502 Fr. Chr. DETHLEFSEN an H. A. Nehlsen am 27.4.1832. LA S-H, Abt. 101 IV C II, Nr. 162. 1503 Dieses und das folgende Zitat: H. A. NEHLSEN an die Norderdithmarscher Kirchenpropstei am 30.4.1832. LA S-H, Abt. 101 IV C II, Nr. 162. 1498 1499

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erst recht auf, hatte sich doch „derselbe herausgenommen, nicht allein meine Erinnerungen nicht zu respectiren, sondern sogar in einer mir zugeschickten Schrift in höchst gravirenden Ausdrücken seine Aufsätzigkeit gegen mich offen darzulegen“. Dies trug Dethlefsen eine ernste Rüge durch den Norderdithmarscher Kirchenpropst Jürgens ein, der für den Fall weiterer „Beleidigungen“1504 mit Konsequenzen drohte. Im Visitationsbericht von 1837 aber holte Meyn zum entscheidenden Schlag aus, indem er ein vernichtendes Urteil abgab: Rektor Dethlefsen schreit mehr, als daß er sänge; scheint überhaupt keinen religiösen Sinn zu haben, da er oft in der Kirche fehlt, und nur eilt, so bald als möglich wieder aus derselben weg nach den Wirthshäusern zu kommen, wo er bey gefüllten Gläsern lieber seyn mag als in der Kirche und der Schule; daher er auch bey den Kindern wenig leistet, und viele Eltern dieselben zu Privatstunden beym Elementarlehrer Claussen senden, ja sie sogar aus des Ersteren Classe ganz wegnehmen.1505

Meyn war sich bewußt, daß dieses Urteil „nicht zu meiner Competenz gehört“, da „der oben charakterisirte Rektor Detlefsen nicht unter meiner Aufsicht [steht]“. Schweigen habe er allerdings nicht können, da inzwischen „die Unzufriedenheit groß und die Klage allgemein ist, daß die Jugend in des Rektors Classe nichts lerne“. Zwar drückte sich der offiziell zuständige Kollege Nehlsen in seinem gleichzeitigen Bericht zurückhaltender aus, doch konnte auch er nicht in Abrede stellen, daß Dethlefsen in der Verwaltung seines Amtes keineswegs der ihm gewordenen Tüchtigkeit entspricht, wovon die Leistungen seiner Schüler […] ein sehr lautes Zeugnis ablegen. Sein Lebenswandel ist nicht zur Zufriedenheit des Publicums, indem man ihm zur Last legt, daß er gar häufig in den Wirthshäusern sich aufhalte […]. Bei von mir gemachten Vorstellungen hierüber entschuldigte der Rector sich damit, daß gerade alle seine nächsten Nachbarn Wirthshäuser halten, was ich dann freylich auch als wahr bezeugen muß.1506

In der Prüfung durch den Generalsuperintendenten Herzbruch im August 1837 wurden dann die eklatanten Mängel aktenkundig: „Gebete wußten nur einige Schüler“,1507 stellte Herzbruch fest. Doch damit nicht genug: „Bey den Proben in der Religion, Bibelkunde, bibl: Geschichte, Naturlehre, Geographie (von Holstein) deutsche Sprache, Rechnen sagte der Lehrer den Schülern, die nichts wußten, die Antworten vor“ – verzweifelt versuchte Dethlefsen zu retten, was nicht mehr zu retten war. Denn, so gab Herzbruch zu Protokoll: „Als ich selbst prüfte, zeigte sich dieselbe Unwissenheit der Schüler in allem. Fertig lesen konnten nur einige Schüler, die vor kurzem erst in die Classe versetzt waren“. Dethlefsens Hinweis auf den schlechten Schulbesuch verfing bei dem Generalsuperintendenten nicht: „Lehrer G. JÜRGENS an Fr. Chr. Dethlefsen am 30.7.1832. LA S-H, Abt. 101 IV C II, Nr. 162. Dieses und die folgenden Zitate: MEYN, Bericht zur Generalkirchenvisitation an Generalsuperintendent Herzbruch v. 15.8.1837. LA S-H, Abt. 19, 111/1. 1506 H. A. NEHLSEN, Visitationsbericht aus dem Diakonat zu Wesselburen v. 15.8.1837. LA S-H, Abt. 19, Nr. 111/1. 1507 Dieses und die folgenden Zitate: HERZBRUCH, Übersicht über die Volksschulen der Propstei Norderdithmarschen. 1837. LA S-H, Abt. 19, Nr. 488. 1504 1505

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wünscht deshalb einen durchgreifenderen Zwang: – trägt aber selbst die Hauptschuld“. Ungünstiger hätte das Urteil kaum ausfallen können. Auch Herzbruch kam zu dem Ergebnis, der Rektor sei „dem Trunke in hohem Grade ergeben und vernachläßiget ganz seine Schule“. Er gab Dethlefsen eine letzte Chance: „Deßhalb ernstlich von mir admoniret, gelobte er Besserung, daher ich dem Schulinspector aufgab, mir später darüber zu berichten“. Doch Ermahnungen und Besserungsversprechen konnten bei dem suchtkranken Lehrer nichts mehr ausrichten: Zwei Jahre später quittierte er im Alter von 47 Jahren seinen Dienst.1508 Der einstmals den besten Seminaristen gleichgestellte Pädagoge beendete seine Laufbahn als zermürbter, alkoholabhängiger und verarmter Fühpensionär. An seinem Schicksal wird zunächst eines deutlich: Die im Regulatif für sämmtliche Schulen in der Landschaft Norderdithmarschen verordnete Reform vollzog sich in Wesselburen keineswegs so bruch- und reibungslos, wie man Hebbels sehr persönlichen, von dankbarer Pietät geprägten Erinnerungen an Franz Christian Dethlefsen entnehmen könnte. Verfehlt wäre es jedoch, Dethlefsens Scheitern auf die ungünstigen äußeren Umstände oder aber auf eine medizinisch-psychiatrische Diagnose zu reduzieren. Als Rektor stand Dethlefsen im öffentlichen Rampenlicht und damit im Kreuzfeuer der unterschiedlichen Ansichten über Fragen der Kindererziehung, Bildung, Lebenseinstellung etc. Die Auseinandersetzungen um seine Amts- und Lebensführung spiegeln im Grunde die Konfrontation von traditionaler und moderner Mentalität wider. Die Urteile sind darum nicht zuletzt von der jeweiligen Perspektive mitbestimmt. Auffallend ist in diesem Zusammenhang ihr breites Spektrum zwischen höchstem Lob und vernichtender Kritik. Selbst der Generalsuperintendent Herzbruch gestand Dethlefsen noch bei seiner Visitation 1837 zu, er sei im Prinzip „tüchtig zum Lehramt“. Auch dessen eigene Äußerungen reichen von selbstbewußter, ja selbstherrlicher Verteidigung bis hin zu zerknirschten Entschuldigungen und Erklärungsversuchen. Manche seiner Einlassungen schillern geradezu zwischen den Extremen: Sollte die mangelnde Abstimmung beim Wechselgesang mit dem Pastor an ihm liegen, müsse er sich „wahrlich, in bester Form Rechtens als ein Kandidat, der zum Irrenhause qualificirt wäre, betrachten“,1509 antwortete er 1832 dem Diakon Nehlsen. Im gleichen Brief bot er an: „Wenn Sie in allen den Ihrer Inspection untergebenen Schulen bei gleichem Schulbesuch und gleichen Anlagen Schüler finden welche […] die meinigen übertreffen quitire ich meine Stelle freiwillig“. Vielleicht ahnte Dethlefsen, daß er an seinen Grundsätzen noch einmal ‚irre‘ werden und sein Aufstieg vom Korbflechterssohn zum Bürgerschulrektor als Ikarusflug enden könnte. In der Tat deutet alles darauf hin, daß er immer tiefer zwischen die Fronten von aufgeklärter Schulpolitik und eigenem Anspruch einerseits, sowie orthodoxer Geistlichkeit und ignoranter Bevölkerung andererseits geriet. Für ihn persönlich mußte dies eine besonders schwierige Situation bedeuten, weil er als Aufsteiger und Autodidakt weder den tradiVgl. Lorenz Peter CLAUSSEN, Bericht zur Generalkirchenvisitation am 2.9.1840. LA S-H, Abt. 19, Nr. 111/2: „[…] wurde ich, nach Rector Dethlefsens Abgange, Michaelis 1839 als Lehrer dieser Schule eingestellt“. 1509 Dieses und das folgende Zitat: Fr. Chr. DETHLEFSEN an H. A. Nehlsen am 27.4.1832. LA SH, Abt. 101 IV C II, Nr. 162. 1508

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tionalen noch den modernen Maßstäben ganz genügen konnte. Diese Rollenkonflikte ließen sich nicht lösen, sondern allenfalls zeitweilig betäuben – mit Alkohol. Während die konservativen Wesselburener Geistlichen auf die staatlich verordneten Schulreformen zu Lasten des kirchlichen Einflusses mit einer Art passiven Widerstands reagierten, verdankte Dethlefsen dem ‚pädagogischen Zeitalter‘ seinen persönlichen Aufstieg. Auch inhaltlich hing er der aufklärerischen Programmatik an, die an den Seminaren vermittelt wurde und nun auch in die Schulen Eingang finden sollte. Mit einer solchen Biographie ‚verkörperte‘ er geradezu den Gegensatz zu den orthodoxen Pastoren, namentlich zum rigiden Hauptpastor Meyn. Bereits aus dessen rüder Kritik an Dethlefsens Sangeskunst, die er als ‚Schreien‘ abqualifizierte, sprach mehr als nur eine ästhetische Indignation. Gerade der Gesang galt den Geistlichen als wichtige (Schul-)Disziplin; schlechtes Singen bedeutete ein Verunstalten des Gotteslobs. Meyns Hauptvorwurf der religiösen Indifferenz läßt in Dethlefsen einen Anhänger des Rationalismus erahnen – diese Strömung war für die Orthodoxie ein rotes Tuch. Ein später Brief Dethlefsens an Hebbel stützt die Vermutung. Der alte Lehrer schließt seinen Dank für empfangene zehn Taler mit der Hoffnung, „daß die Vorsehung Sie dafür mit seinem [sic!] schönsten Segen krönen möge“ [WAB 2, 644] – die Operation der Ersetzung des persönlichen „Gottes“ durch die abstrakte „Vorsehung“ ist dem Satz noch grammatisch im falschen Genus des Possessivpronomens eingeschrieben. Wichtiger ist dem alten Pädagogen jedoch, daß schon im Diesseits „Ihr edles freisinniges menschenfreundliches Wirken von der Mit- und Nachwelt in seinem vollen Lichte wie in seinem vollen Umfange möge anerkannt werden“ [WAB 2, 644]. Das „Licht“ der „menschenfreundlichen“ Tugenden soll bereits in dieser Welt sichtbar werden; der pädagogisch-aufkärerische Impetus – anstelle religiöser Vertröstungen – ist beim pensionierten Rektor ungebrochen. Sein pädagogisches Programm hatte Dethlefsen in seinem Rechtfertigungsschreiben an Pastor Nehlsen im Jahr 1832 explizit dargelegt: „Ich strebe vor allem dahin, daß jeder Schüler, welcher die Schule besucht, soviel möglich sich selbstthätig und selbstständig beschäftige, u dies ist der große Grundsatz aller Pädagogen und Didacten“.1510 Dabei konnte er sich einen Seitenhieb auf die Praxis des kirchlichen Mündigkeitsritus nicht verkneifen. Süffisant erinnerte er Nehlsen daran, daß es, „um confirmirt zu werden, wie wir diesen Oculi gesehen haben einerlei ist, ob sie [die Konfirmanden] die Schule besuchen oder nicht”. Derartige Spitzen konnten ihre Wirkung nicht verfehlen. Die orthodoxen Geistlichen, die noch ganz in ständischem Denken befangen waren, witterten ohnehin in geistiger Eigenständigkeit nichts anderers als Eigenmächtigkeit. Zugegeben: wenn Dethlefsen meinte, den Pastor Nehlsen erst „über die acustischen Principien, rücksichtlich des Baues unserer Kirche“ aufklären zu müssen, um damit zu sagen, daß er ihn von der Empore aus nicht verstünde, dann war dies hauptsächlich eine provozierende bildungssprachliche Koketterie. Wenn er aber meinte, „als Director der Kirchenmusiken im Stande zu seyn, ohne Anmaßung richtiger darüber zu urtheilen, als jeder unbefugte Laie“, dann stellte er die offizielle Hierarchie von Pastor und 1510

Dieses und die folgenden Zitate: Fr. Chr. DETHLEFSEN an H. A. Nehlsen am 27.4.1832. LA S-H, Abt. 101 IV C II, Nr. 162.

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Kantor zugunsten einer ‚bloß‘ fachlichen Qualifikation ernsthaft in Frage. Und wenn er obendrein die Frage stellte: „Wem gebürt also wohl die Schuld und Veranlassung dieser Rüge?“, dann bedeutete dies ein Umstürzen der überkommenen disziplinarischen Ordnung. Daß Dethlefsen tatsächlich glaubte, bereits in einer neuen Zeit zu leben, geht aus seinem Schlußsatz an Nehlsen hervor: „Auch kann ich nicht unterlassen zu bemerken, daß Ihre Zuschrift Ihrer Form nach an die Zeit der politischen Dekretation erinnert“.1511 Damit aber war aus Sicht der Obrigkeit aus Pastor und Propst der Tatbestand revolutionärer „Aufsätzigkeit“ vollends erfüllt. In einem weiteren Brief an Hebbel hielt Dethlefsen noch einmal Rückschau auf die eigene Vergangenheit, „indem es wahrlich sehr hart und kränkend ist, sich von Menschen zurückgesetzt und andere sich vorgezogen zu sehen, die sowohl rücksichtlich des Wissens und Könnens als in intellectueller und moralischer Hinsicht nicht werth sind einem die Schuhriemen zu lösen“ [WAB 2, 690]. Auch mit diesem Satz rührte Dethlefsen mit fast nachtwandlerischer Sicherheit an einen Punkt, bei dem ein orthodoxer Gottesmann unfehlbar empfindlich zusammengezuckt wäre: Indem er den auf das Kommen Jesu gemünzten Satz Johannes des Täufers aus dem MarkusEvangelium1512 umstandslos auf sich bezog, machte er sich strenggenommen bereits der Blasphemie schuldig. Doch keineswegs als Christ verglich er sich mit dem Vorbild Christi: Sein Wert als aufgeklärter Mensch zeigte sich „in intellectueller und moralischer Hinsicht“ – solche ‚Selbst-Gerechtigkeit‘ anstelle christlicher Demut konnte einem geistlichen Schulaufseher kaum gefallen, zumal an einem nur autodidaktisch gebildeten homo novus, der jede akademische Qualifikation vermissen lies. Wo grundlegende Anschauungsunterschiede bis in kaum reflektierte atmosphärische Einzelheiten von Stil und Wortwahl drangen, wie hätte da eine ruhige Verständigung möglich sein können? Dethlefsen führte seine Fehde gegen kirchliche Bevormundung auch dann noch weiter, als er schon lange aus dem Schuldienst entlassen war, und seine geistige Position selbst bereits historisch geworden war. Noch 1853 lieferte er für die Norddeutsche Jugendzeitung eine Novelle über das Thema Was Gott thut das ist wohlgethan [WAB 2, 690]. Treuherzig erläuterte er seinem einstigen Schüler Hebbel: „Als Einleitung und statt des Mottos habe ich die Anecdote benutzt […] daß in Gesellschaft von einer Menge Prediger zufälliger Weise die Frage aufgeworfen wurde, auf welches Wort der Accent in dem Satze: Was Gott thut, das ist wohlgethan, am richtigsten zu legen sei“ [WAB 2 690]. Daraufhin werden der Reihe nach die diversen bedeutungstragenden Worte angeführt, bis ein alter Organist sich herausnimmt, den Streit zu entscheiden, indem er ausgerechnet das Hilfsverbum „ist“ nennt, das im Choral mit dem höchsten Ton zusammenfalle. Er resümiert: „‘Was Gott thut, das ist wohlgethan‘, es mag sein, wie es will, es möge uns gefallen oder nicht“. Es ‚ist‘ nun einmal so: Die schiere Faktizität von Gottes Handeln ist über alles gelehrte Deuten und Deuteln erhaben. Hinter der bescheidenen Attitüde verbirgt sich freilich eine nicht minder sophistische Rechthaberei als hinter den Einlassungen der Prediger. Darauf will die Anekdote natürlich Ebd. Ironisch spricht er an einer anderen Stelle davon, daß Schulausfall, ausgerechnet zugunsten der „Devotion der Frau Pastorin Marxen […] wohl kein Majestäts-Verbrechen“ sei. 1512 Markus 1, 7. 1511

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nicht hinaus. Vielmehr dient das Beispiel des Organisten als pädagogisches Vorbild, sich auch gegenüber geistlichen Autoritäten seines eigenen Verstandes – oder Witzes – zu bedienen. Der intendierte Sinn der Geschichte erklärt damit auch die Schreibmotivation ihres Autors Dethlefsen: „Dieses Thema habe ich nach meiner Idee bearbeitet eingesandt“.1513 Als junger Rektor zu Wesselburen wird er nicht weniger selbstgewiß gewesen sein. Unausweichlich mußten solche Emanzipationsversuche zu Kollisionen mit der Geistlichkeit führen, deren Schulaufsicht er unterstand. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb Rektor Dethlefsen vor dem autoritären Predigtdiskurs aus der Kirche floh und ins gesellige Wirtshaus entwich, aber auch, weshalb er „eine emsige Leseratte“1514 war, wie Gerhard Ranft ihn allzu idyllisierend charakterisierte. Denn er war nicht einfach ein naiv-selbstvergessener Vertreter „jene[r] sympathischen Büchernarren, die sich rings mit Lesestoff umgeben und immer neue Bücher kaufen, ohne zu bedenken, ob sie diese auch bezahlen können.“ Weil er sich am Ort kommunikativ isoliert fühlte, suchte er sein geistiges Zuhause im aufgeklärten Schrifttum. Doch Ranft hat mit seiner Qualifizierung Dethlefsens als eines ‚Narren‘ nicht ganz unrecht, insofern dessen Position von Anfang an paradox war: Der Lehrer, der idealistisch ausgezogen war, die Aufklärung unter die Menschen zu bringen, stand, ehe er sich versah, unverstanden und allein da, gesellschaftlich gescheitert am eigenen Anspruch einer mit Verstand zu erneuernden Gesellschaft. Tragikomisch wirkt in diesem Zusammenhang auch dessen treuherziger Hinweis, er trinke so viel, weil in seiner Nähe lauter Gastwirte wohnten: Damit berief sich ausgerechnet der zugezogene ‚Intellektuelle‘ auf das traditionale Kollektiv der „Nachbarschaft“, nicht erkennend daß es hier längst pervertiert war: Während der Rektor sich unter solchen Nachbarn erst bei steigendem Alkoholpegel wohler fühlte, stieg auch ihr Wohlwollen mit der Höhe seiner Zeche. Groteskerweise war es dann ausgerechnet ein – von Dethlefsen ‚vernachlässigter‘? – Gastwirt, der ihn beim Hauptpastor denunzierte und damit erste heikle Ermittlungen gegen ihn auslöste. Wie aus Hebbels Diamant entsprungen wirken solche Szenen: Die Wesselburener Wirklichkeit konnte es durchaus mit der verkehrten Welt seiner sarkastischen „Komödie“ aufnehmen. Offenbar schon früh begab sich Dethlefsen zunehmend in eine Nischenexistenz, was auch zu Vernachlässigungen in seinem Lehramt führte. So erinnerte sich Hebbel einmal anläßlich einer Aufführung von Zschokkes Abällino: „An einem heißen Sommer-Nachmittag las mein Lehrer Dethlefsen das Werk, in der Schule, während der Schulstunden; er konnte sich nicht davon trennen, schnitt uns kaum die Federn, wenn wir sie ihm brachten, und ließ uns machen, was wir wollten“ [T 6178]. Dies ging so lange, bis „er fertig und die Schule aus war“ [T 6178]. Johann Grönhoff merkte dazu an: „Die Pflichtwidrigkeit, die darin lag, daß der Lehrer während der Unterrichtsstunden Privatlektüre trieb, sah Hebbel nicht.“1515 Nach dem Lehrer „kam ich über

WAB 2, 690. Hervorhebung C. S. Dieses und das folgende Zitat: RANFT, Aus Friedrich Hebbels Wesselburener Schreiberjahren, S. 281. 1515 GRÖNHOFF, Friedrich Hebbels Lehrer, S. 244. 1513 1514

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das Buch“1516 – das war in Hebbels Erinnerung das Wesentliche an dieser Anekdote. Genauso ‚pflichtvergessen‘ war wohl, daß Dethlefsen seinerseits meinte, er könne seinen besten Schüler „in den Schulstunden anderweitig beschäftigen, namentlich zum Wiegen seiner vielen Kinder“,1517 und, um „den lernbegierigen Knaben zu ködern“, ihn mit Lesestoff zu entschädigen. Die seit dem 18. Jahrhundert oftmals geäußerte Kritik an „Lesewut“ und „Lesesucht“ – war sie nicht auch hier angebracht? Oder war das extensive Lesen Ausdruck eines Programms, dem die schriftliche Medialität mehr galt als die mündliche Vermittlung im Unterricht? Denn das aufklärerische Ideal der vernunftbestimmten Kommunikation von Mensch zu Mensch mußte angesichts des schulischen Alltags in weiten Teilen hinfällig werden. Jürgen Schlumbohm hat auf den „ziemlich offen propagierten – ‚heimlichen Lehrplan‘ der dressierenden Disziplinierung des Verhaltens“1518 hingewiesen. Danach war die soziale Institution Schule „nicht minder autoritär strukturiert denn die Familie. Der Lehrer herrschte buchstäblich mit Rute und Stock.“ Wenn nach Kuh „der gemütswarme Zug“1519 Dethlefsens ihm im Umgang mit den Ortsnotabilitäten schadete, so durfte er ihm im Umgang mit den Zöglingen wohl noch viel weniger nachgeben. Möglicherweise geriet er mit seiner Präferenz für „freisinniges menschenfreundliches Wirken“ [WAB 2, 644] in einen deutlichen Gegensatz auch zum „alten Conrector“ Johann Hinrich Dreessen, der, sobald „das Wort Freiheit einmal in seiner Anwesenheit genannt wurde, jedes Mal den alten greisen Kopf mit dem Sammetkäppchen schüttelnd, ausrief: Nur die wilden Thiere sind frei! und wenn man ihn dann fragte: folgt daraus, daß die Freiheit wilde Thiere aus den Menschen macht? seltsam nickend, und ohne einen Augenblick zu stocken, antwortete: ja wohl!“ [W 11, 320] Emil Kuh1520 ordnete diese Aussage fälschlicherweise Dethlefsen zu – Hebbel hätte den in seinen dreißiger Jahren stehenden Rektor jedoch kaum als ‚greise‘ bezeichnet.1521 Friedrich selbst hatte bereits an der Klippschule die Erfahrung gemacht, daß er dastand „wie Adam und Eva auf dem Bilde unter den wilden Thieren“ [W 8, 93], und mußte lernen, sich buchstäblich mit Zähnen und Klauen, „durch Beißen und Kratzen“ [W 8, 115] zur Wehr zu setzen. „Einst biß mich mein Gegner“, so erinnerte sich Hebbel, „als ich auf ihm lag und ihn gemächlich durchwalkte, bis auf den Knochen in den Finger, so daß ich die Hand wochenlang nicht mehr zum Schreiben brauchen T 6178. Diese Episode muß in Hebbels letzte Schulzeit fallen. Abällino der große Bandit war zuerst 1794 als Roman und 1795 als Trauerspiel erschienen (1796 verändert neu aufgelegt. 1828 gab Zschokke die Neubearbeitung Abellino. Schauspiel in fünf Akten heraus, die Dethlefsen sofort erworben und ‚verschlungen‘ haben wird. Vgl. WILPERT/GÜHRING, Erstausgaben deutscher Dichtung, („Zschokke“, Nr. 9, 13, 17 und 86), S. 1448 und 1451. 1517 KUH, Biographie, Bd 1, S. 47. 1518 Dieses und das folgende Zitat: SCHLUMBOHM, ‚Traditionale‘ Kollektivität und ‚moderne‘ Individualität, S. 272. 1519 KUH, Biographie, Bd 1, S. 48. 1520 KUH, Biographie, Bd 1, S. 47f. 1521 Auch Bornstein unterliegt implizit diesem Irrtum, vgl. DjH I, 59. Vgl. auch T 3219. – 1837 betont ein Visitationsbericht: „Der Conrektor Dreessen ist ein alter 80jähriger Mann“ [MEYN, Bericht zur Generalkirchenvisitation an Generalsuperintendent Herzbruch v. 15.8.1837. LA SH, Abt. 19, 111/1]. 1516

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konnte“ [W 8, 116]. Auch wenn die „Kriegserklärungen“ [W 8, 115] der Knaben hinter dem Rücken des Lehrers zu geschehen hatten, wird dieser sehr bald Abstriche von seinem humanen Erziehungsideal gemacht haben. Das Experiment einer liberalen Pädagogik beschränkte sich in seinem Unterricht denn auch nur auf einen einzigen Schüler – Friedrich Hebbel. Angepaßt an die rüden Umgangsformen und zugleich herausgehoben durch den Lehrer, führte dieser eine Art Doppelleben. So berichtete später ein Schulkamerad Hebbels, der Wesselburener Schuhmacher Sohn: Während die übrigen Schüler stramm auf dem Posten sein mußten, durfte „Krischan Hebbel“, denn so wurde der Knabe überall in Wesselburen genannt, in mancher Unterrichtsstunde Theaterstücke schreiben und Gedichte verfassen. Nur wenn durchaus keine Antwort aus den übrigen Burschen herauswollte, wurde der Primus, der mit einem Ohre stets nach dem Lehrer hörte, gefragt und „Krischan wuß dat glieks!“ [HP I, 4]

Wußte er es nicht, konnte es freilich auch ihm „eine empfindliche Züchtigung“ [WAB 3, 836] eintragen, wie Hebbel sich noch 1859 in einem Brief an Marie Fürstin von Hohenlohe entsann. Wenn Klassenkameraden sich gern mit empfangenen Prügeln brüsteten „wie alte Soldaten, die den verwunderten Recruten ihre Heldenthaten erzählen“ [W 8, 95], so hob die ‚Empfindlichkeit‘ für die Erwartungen des Lehrers Friedrich aus der peer group der Mitschüler heraus. An dessen Lob oder Tadel orientierte sich das neue, „dem Regelsystem der Schule angepaßte Verhalten“,1522 dessen wesentliches Motivationsmittel der „Aufstieg durch ‚Leistung‘ innerhalb der Sitzordnung der Klasse sowie von einer Klasse in die nächsthöhere“ war. Konkurrenz und Differenzierung unterminierten so strukturell die verschworene Gemeinschaft der Klassenkameraden. Die Ausnahmesituation, in der sich Friedrich gegenüber seinen Mitschülern befand, wurde von Dethlefsen in seinem eigenen Verhältnis zum Umfeld präfiguriert. So wie der Lehrer sogar im Unterricht die Zeit mit selbstvergessener Lektüre zubringen konnte, so durfte es auch sein Lieblingsschüler. Dethlefsen beschäftigte ihn auch außerhalb der Schulstunden, indem er ihm seine Kinder zum Wiegen und seine Bücher zum Lesen überließ; später, indem er ihm Privatunterricht erteilte. Bald hatte der Knabe ganz andere Interessen als seine Kameraden, wie sich sein Banknachbar und Jugendfreund Friedrich Christian Sohn erinnerte: „Snacken däh Krischan meist garni, un kann ick mi ok nie besinn, datt he mit uns Jungs späln däh. Krischan leg ümmer alleen vör sick herum un gung väl na denn ohlen Karkhoff, wo he vör sick alleen weer. He kümmer sick mit een Wort nie väl um sien Schoolkameraden“ [HP I, 7]. Ganz ähnlich erzählte die mit Hebbel gleichaltrige Näherin Maria Gammrath, er sei „in seinen Schuljahren vielfach in Feld und Flur, anscheinend zweck- und ziellos, einsam in den nahe belegenen Feldmarken umhergelaufen, um nicht mit Schulkameraden zusammenzukommen“ [HP I, 7]. Wenn Johann Grönhoff zusammenfassend über das besondere Verhältnis zwischen Dethlefsen und Hebbel meinte, „Hebbel war sein

1522

Dieses und das folgende Zitat: SCHLUMBOHM, Kinderstuben, S. 310.

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Schüler, als Detlefsen noch auf der Höhe seines Schaffens stand, ehe der tragische Abstieg begann“,1523 dann ließ er den entscheidenden Gesichtspunkt außer Acht: Die ‚Tragik‘ Dethlefsens lag in der Isolation, die durch die herausgehobene Zweierbeziehung zu seinem Lieblingsschüler nur um so greller hervortritt. Von der örtlichen Geistlichkeit zunehmend kritisch betrachtet, beim Gros der Schüler und wohl auch der Eltern ohne positive Resonanz, konzentrierte Dethlefsen seine pädagogischen Bemühungen auf Friedrich Hebbel.1524 Dies bewirkte bei dem Knaben einen – wenn nicht tragischen, so doch belastenden – Zwiespalt zwischen der traditionalen Umgebung und den moderneren Werten des Lehrers, die eher medial vermittelt als unmittelbar vorgelebt wurden.

Aufklärung durch Bücher Die pädagogischen Inhalte, die Franz Christian Dethlefsen weiterzugeben hatte, lassen sich mangels direkter Aussagen am deutlichsten an den Büchern festmachen, die er Friedrich zu lesen gab. Traditionell führte der Unterricht von der Fibel zur Bibel bzw. zu deren Surrogaten. 1821 äußerte der Wesselburener Pastor Marxen, es werde ihm „hoffentlich gelingen, nach und nach Hübners biblische Erzählungen abzuschaffen und dafür die in eben der Manier bearbeitete bessere von Kohlrausch einzuführen“.1525 Selbst in den höheren Klassen änderte sich in Dithmarschen an Medien und Inhalten nur wenig: „Die Schüler der Oberstufe lasen in erster Linie im Gesangbuch, seit ungefähr 1840 an einigen Orten in biblischen Geschichtsbüchern; nur selten war für die Bibellektüre ausreichend vorgesorgt. Lesebücher waren nicht allgemein angeordnet und in manchen Schulen gänzlich unbekannt.“1526 Solche Zustände hatte schon im 18. Jahrhundert der den philanthropischen Bestrebungen Basedows nahestehende märkische Gutsherr Eberhard von Rochow als gravierenden Mangel empfunden: „Außer dem Katechismus und der Heilsordnung fand ich kein Schulbuch für den Landmann und außer dem wörtlichen Inhalt dieser höchstens bloß auswendig gelernten, aber nicht verstandenen Bücher keine Wissenschaft, die man dessen Kinder lehrte“.1527 An den preußischen Minister von Zedlitz gewandt klagte er: So lange die vortreffliche Lehre Christi mit orientalischen Begriffen und in griechisch- oder hebräisch-deutscher Kunstsprache auf den Dörfern […] gelehrt wird […][,] undenkbare

GRÖNHOFF, Friedrich Hebbels Lehrer, S. 244. Vgl. das Urteil des Generalsuperintendanten Adler bei der Schulvisitation 1827: „die Schüler schrieben alle, bis auf einen, schlecht“ [Generalkirchenvisitation des Generalsuperintendenten Adler am 15.[?]8.1827. LA S-H, Abt. 19, Nr. 75]. Schon Grönhoff vermutet in diesem Schüler Hebbel [GRÖNHOFF, Friedrich Hebbels Lehrer, S. 244]. 1525 MARXEN, Bericht über Veränderungen in Kirchen- und Schul-Angelegenheiten. 10.8.1821. LA S-H, Abt. 19, Nr. 75. 1526 ERICHSEN, Schulgeschichte der Landschaft Norderdithmarschen, S. 199. 1527 Zit. nach SCHMACK, Der Gestaltwandel der Fibel, S. 59. 1523 1524

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Sätze höchst wichtig bleiben, alles Nützliche aber als Nebensache betrachtet wird: so lange, scheint es mir, werde der menschliche Verstand auch niedergedrückt bleiben.1528

Für Rochow war diese Angelegenheit alles andere als nebensächlich; im Gegenteil, er hielt ein Lesebuch für Kinder „für das wichtigste Buch des Staates, es bilde dessen zukünftige Bürger, indem es den jungen Seelen die bleibende Richtung gebe und ihre Sittlichkeit in Grundsätzen bestimme.“1529 So führte er 1776 ein von ihm selbst verfaßtes Kinderbuch ein, dessen Stoffe dem kindlichen Verständnis angemessener waren als Bibel und Katechismus. Der Kinderfreund wurde zum Prototyp des Lesebuchs, das im 19. Jahrhundert in vielen Nachahmungen und Varianten seinen Siegeszug in den Schulen antrat. Rochow hatte sein Buch für Landschulen verfaßt; der Berliner Prediger Friedrich Philipp Wilmsen stellte diesem Vorbild als Pendant für Stadtschulen seinen Brandenburgischen Kinderfreund an die Seite, der zuerst im Jahr 1800 erschien; 1879 erreichte er die 224. Auflage.1530 Dieses Lesebuch war gedacht, „alle Bedürfnisse einer eigentlichen Volksschule [zu] befriedigen“1531 und die Kinder während ihrer gesamten Volksschulzeit zu begleiten. Daher sollte es „äußerst langsam, und jedes Stück wiederholt gelesen“ werden, wie Wilmsen in der Vorrede schrieb. Emil Kuh meinte zwar, das Buch habe zu Hebbels Zeit „die meisten Klipp- und Elementarschulen Norddeutschlands mit Kindergenüssen“1532 versorgt, doch war es in Dithmarschen noch keineswegs durchgehend verbreitet. Ernst Erichsen hielt in seiner Schulgeschichte der Landschaft Norderdithmarschen fest: „Die ersten Lesebücher, so Wilmsens Kinderfreund, kamen in der Landschaft der Mittelstufe zugute. Der Wert dieser Neuerung wurde dadurch herabgemindert, daß diese Lesebücher sich nur in den Händen der Kinder wohlhabender Eltern befanden.“1533 Der Wesselburener Pastor Marxen wertete es 1821 schon als Erfolg, daß „hie und da einzelne Kinder sich Wilmsens Kinderfreund und die Rechenbücher von Bendixen u Kroimann angeschafft haben“.1534 Zugleich bedauerte er, daß in seinem Kirchspiel „bei keiner Schule weder Hülfsmittel für die Lehrer noch auch Bücher für die Kinder vorhanden sind“. So war es durchaus etwas Besonderes, daß Dethlefsen seinem besten Schüler den Kinderfreund zu lesen gab – für den Empfänger aber war es eine frühe Offenbarung, die in Wesselburen als Anekdote überliefert worden ist: Eine Jugendfreundin Hebbels erzählte dem Dichter Klaus Groth, … sie habe den kleinen Christian Friedrich Hebbel beim Rektor [Dethlefsen] Kinder wiegen und lesen sehen; Wilmsens Kinderfreund, behauptet die Frau. „Sieh da!“ habe der Rektor gerufen, „da ist er schon wieder mit der Wiege zur Tür hinaus!“ so vertieft sei der Knabe gewesen [HP I, 8].

Zit. nach FRANK, Geschichte des Deutschunterrichts, S. 127. SCHMACK, Der Gestaltwandel der Fibel, S. 62. 1530 RUDLOFF, Einleitung, S. XVII. 1531 Dieses und das folgende Zitat: WILMSEN, Der Brandenburgische Kinderfreund, S. IV. 1532 KUH, Biographie, Bd 1, S. 47. 1533 ERICHSEN, Schulgeschichte der Landschaft Norderdithmarschen, S. 199. 1534 Dieses und das folgende Zitat: MARXEN, Bericht über Veränderungen in Kirchen- und SchulAngelegenheiten. 10.8.1821. LA S-H, Abt. 19, Nr. 75. 1528 1529

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Das Lesebuch, das Hebbel fesselte, unterschied sich erheblich von den überkommenen geistlichen Lesestoffen. So mußte vor allem die ‚Welthaltigkeit‘ dieses Reallesebuches hervorstechen. Es handelte unter anderem von der Gestalt und Beschaffenheit der Erde, von Tieren und Pflanzen, vom menschlichen Körper, es enthielt eine Gesundheitslehre, dazu Lieder und eine große Anzahl von Erzählungen aus dem alltäglichen Umfeld. Gewiß: Es war „literarisch fast vollkommen wertlos“1535 und gab inhaltlich zu der gleichen Kritik Anlaß, wie sie Hebbel am reformierten Unterrichtskonzept insgesamt geübt hatte. So bemängelte Ernst Erichsen, dieses Reallesebuch böte „der Verflachung Vorschub und erfüllte in keiner Hinsicht seinen Zweck“ als einer „Art Encyklopädie alles Wissenswerten für die Schuljugend“. Dies mochte in der immer komplexer werdenden Gesellschaft des späteren 19. Jahrhunderts zunehmend fühlbar werden. Zunächst aber dürfte das Buch das Weltbild eines Jungen, der es noch nie weiter als bis nach Meldorf geschafft hatte, enorm erweitert haben. Dazu leisteten auch ein Erdkundebuch, das Friedrich sogar sein eigen nennen durfte1536 (Abbildung 12), sowie Johann Pappes Lesefrüchte vom Felde der neuesten Literatur,1537 ein seit 1816 erscheinendes Periodikum, ihren Beitrag. Schon die Einführung der Realien überhaupt – als Lesebuchstoffe wie als separate Unterrichtsfächer – war zur damaligen Zeit durchaus umstritten. Die Geistlichkeit fürchtete „eine Beschränkung des Religionsunterrichts und sogar eine Abwendung von der Kirche“.1538 1827 lamentierte ein Dithmarscher Prediger über die Vermehrung der Fächer in der Volksschule: „Wir sind froh, wenn unsere Jugend mit ihrem Katechismus, Bibel und Gesangbuch bekannt, und in der biblischen Geschichte nicht unerfahren ist“.1539 Andere warnten öffentlich vor den Realien, weil sie geeignet seien, „die Seele zu verderben und die Harmonie mit Gott zu stören“.1540 Sichtlich ging es dabei auch um die Sicherung des kirchlichen Einflusses, so daß bald ein „erbitterter Kampf“1541 geführt wurde. Nicht nur Lehrer Dethlefsen in Wesselburen stand letztlich auf verlorenem Posten; in der gesamten Landschaft Norderdithmarschen und darüber hinaus wurden die Uhren wieder zurückgedreht. Ernst Erichsen stellte nüchtern fest: „Das Unterrichtsziel der allgemeinen Schulordnung ließ sich nicht verwirklichen. Nachdem hierfür die äußeren Voraussetzungen geschaffen waren, setzte sich die Strömung gegen den Rationalismus durch, deren Führer in Dithmarschen Klaus Harms war.“ Die Lesebücher behandelten nicht nur die ‚Realia‘, sondern, wichtiger noch, auch die ‚Moralia‘. Die orthodox gesinnte Kirche hatte ernsthafte Konkurrenz in ihren Kernaufgaben erhalten, als Rochow, Wilmsen – und in Wesselburen: Franz Christian Dethlefsen – begannen, „ihrem erstarrten Zugriff die Schulerziehung zu entwinden Dieses und die folgenden Zitate: ERICHSEN, Schulgeschichte der Landschaft Norderdithmarschen, S. 199f. 1536 Vgl. WELLHAUSEN, Friedrich Hebbel, S. 13. Das Buch trägt Hebbels Besitzvermerk vom „9. März 1826“ [ebd.]. 1537 Vgl. KUH, Biographie, Bd 1, S. 47. 1538 ERICHSEN, Schulgeschichte der Landschaft Norderdithmarschen, S. 98. 1539 Zit. nach ERICHSEN, Schulgeschichte der Landschaft Norderdithmarschen, S. 197. 1540 ERICHSEN, Schulgeschichte der Landschaft Norderdithmarschen, S. 98. 1541 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 196. 1535

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und durch einen natürlichen Moralunterricht auf allgemein christlicher Grundlage zu verjüngen“.1542 So wie die Erzieherfunktion des Geistlichen zunehmend vom Pädagogen übernommen wurde, so trat als sein wichtigstes Hilfsmittel das Lesebuch „im allgemeinbildenden Unterricht an die Stelle der Bibel“ – und zwar mit dem „gleichen Verbindlichkeitsanspruch, den bisher die biblischen Texte behauptet hatten.“ Obwohl sich die Inhalte keineswegs gegen die Kirche richteten, konnte dieser nicht daran gelegen sein, daß mit der Aufklärung des Volkes ein „praktisch-moralisches Interesse […] an die Stelle einer theologischen Ethik“1543 trat und sich ein „verweltlichtes Tugendsystem“ etablierte. So bedauerte der Kopenhagener Prediger Kochen, „daß in den Bürger- und Landschulen der Herzogtümer [Schleswig und Holstein] an die Stelle des lutherischen Katechismus mehr systematisch geordnete, sich den Ansichten der Zeitphilosophie anpassende, oft rein moralische Lehrbücher treten“ und „bei manchen Lehrern Bibel und Katechismus gänzlich“1544 fehlen würden. Hatte nicht auch Hauptpastor Meyn geargwöhnt, der Wesselburener Rektor habe „überhaupt keinen religiösen Sinn“?1545 Trotz dieser Angriffe auf die eben eingeführte Moralpädagogik kam Hebbel in den vollen Genuß der moralischen Aufklärung durch den Kinderfreund in Gestalt von 84 Erzählungen zur Beförderung guter Gesinnungen. Und was Friedrich hier an Exempeln vorgesetzt bekam, widersprach teilweise eklatant den traditionalen Maßstäben und Verhaltensweisen, mit denen er bis dahin aufgewachsen war. Hier war nachzulesen, daß die Fenster in einer „ordentlichen und reinlichen“1546 Wohnstube „hell und klar“1547 zu sein hatten (so wie im Schulgebäude und nicht wie in der elterlichen Behausung), daß man nicht „schelten, stoßen, schlagen“,1548 oder auch nur zanken1549 sollte (wie es unter den Kindern gang und gäbe war). Beim „frohen Jugendspiel“1550 sollten „Lärm und Muthwill‘ fern“ bleiben, „Unmäßigkeit“ war nun eine „große Sünde“,1551 und „Jähzorn“ wurde zu einem Fall für die „Besserung des Herzens“.1552 Auch Gott zürnte nun angeblich nicht mehr durch Blitz und Donner, sondern schickte ein im Gegenteil „wohlthätiges Gewitter“.1553 Das Wunder des bestirnten Himmels wurde wissenschaftlich erklärt,1554 der Aberglaube immer wieder kritisiert,1555 vor der „Wahrsagerinn“1556 ebenso gewarnt wie vor dem Lotteriespiel.1557 Dieses und die folgenden Zitate: FRANK, Geschichte des Deutschunterrichts, S. 143. Dieses und das folgende Zitat: RUDLOFF, Einleitung, S. XXVI. 1544 SIEVERS, Volkskultur und Aufklärung, S. 69. 1545 MEYN, Bericht zur Generalkirchenvisitation an Generalsuperintendent Herzbruch. 15.8.1837. LA S-H, Abt. 19, Nr. 111/1. GRÖNHOFF, Friedrich Hebbels Lehrer, S. 243 zitiert fehlerhaft. 1546 WILMSEN, Der Brandenburgische Kinderfreund, S. 174. 1547 Ebd., S. 175. Vgl. auch ebd., S. 189. 1548 Ebd., S. 167. 1549 Ebd., S. 29. 1550 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 246. 1551 Ebd., S. 51. 1552 Ebd., S. 57. 1553 Ebd., S. 32. 1554 Eine kurze Nachricht von der Welt, ebd., S. 59–61. 1555 Vgl. ebd., S. 39f., S. 54, S. 194f., S. 203 und S. 207. 1556 Ebd., S. 37. 1542 1543

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Diese Lerninhalte waren nicht nur neu, sie widersprachen weit verbreiteten Anschauungen bzw. Praktiken. Insofern war der Lernerfolg auch davon abhängig, ob das moralisch disziplinierende Lesebuch überhaupt von den Schülern als Autorität akzeptiert wurde. Hebbels Notiz „Das vergiftete Kind“ [W 15, 11] deutet auf den Titel einer typischen Warngeschichte, wiewohl sie im Kinderfreund selbst nicht zu finden ist. Daß die so apostrophierte Begebenheit in ähnlicher Form „Conrectors Lina“ [W 15, 11] widerfahren sein muß, hat zur Pointe, daß ausgerechnet ‚Lehrers Kind‘ nicht aus dem Buch, sondern erst aus Schaden klug geworden war. Auch für die Schule selbst wurde in Wilmsens Lesebuch mit Nachdruck geworben: „Alle Kinder müssen lernen, denn sie sind unwissend“.1558 Bei’m Schluß der viertel- oder halbjährigen Lektion war ein Lied zu singen, in dem man gelobte, „Der Wissenschaft [/] Und unsrer Pflicht zu leben“.1559 Die Schule zu schwänzen war für den Kinderfreund kein Kavaliersdelikt mehr, sondern konnte angeblich, wie beim liederlichen Leopold, zu einem schlimmen Ende führen.1560 In dem Lesestück über die Frage Wie soll man sprechen? war zu erfahren, daß „platt und unrichtig“1561 zu reden, ein und dasselbe sei; der Analphabet wurde durch üblen Betrug zu der Einsicht gebracht: „ach hätte ich doch schreiben und lesen gelernt!“1562 Wer „weder fertig lesen, noch leserlich schreiben“1563 konnte, galt auf dem Lehrstellenmarkt nun auf einmal als schwer vermittelbar, denn „keiner konnte etwas mit ihm ausrichten“.1564 Die eindringlichen Warnungen zeigten, daß noch längst nicht jeder die Notwendigkeit des Erwerbs der elementaren Kulturtechniken einsehen wollte. Ein weiteres wichtiges Aufklärungs-Buch, mit dem Friedrich aus Dethlefsens Privatbesitz versorgt wurde,1565 war das Noth und Hülfs-Büchlein für Bauersleute von Rudolf Zacharias Becker, das zuerst 1788 erschienen war. Vorausgegangen war die größte Buchsubskription des 18. Jahrhunderts, bei der rund 28000 Bestellungen eingingen.1566 Es sollte nicht nur der erste „Bestseller im modernen Sinn“,1567 sondern auch das mit Abstand wirksamste Buch der Volksaufklärung überhaupt werden. Reinhart Siegert bezeichnete es als eines der „Bücher, die die Welt bewegten“. Die das gesamte Werk durchziehende Idee des Perfektibilismus stellte der Verfasser Becker in das „Zentrum aufklärerischer Haltung“.1568 Denn der Perfektibilist ist der AntiKonservative aus Prinzip. Becker erkannte, daß mit der Verwirklichung seines Ziels, „dem Landmanne ein System von Kenntnissen und Gesinnungen, welches ihn als Mensch, als Landmann und als Staatsbürger glücklich machen müßte, beyzubrinEbd., S. 25 und S. 38. Ebd., S. 25. 1559 Ebd., S. 252. 1560 Das unordentliche Schulkind, ebd., S. 26f. 1561 Ebd., S. 86. 1562 Ebd., S. 52, vgl. auch ebd., S. 40f. und S. 69f. 1563 Ebd., S. 90. 1564 Ebd., S. 91, vgl. ebd., S. 108. 1565 Vgl. W 15, 8. 1566 Vgl. BECKER, Noth- und Hülfsbüchlein, S. 469. 1567 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 478. 1568 Ebd., S. 462. 1557 1558

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gen“,1569 eine komplette Neuorientierung der gesamten Lebenswirklichkeit verbunden sein würde. Wenn er bewußt von einem „System, d. i. eine in sich selbst und mit ihren Gründen innigst verbundene Art zu empfinden, zu denken und zu handeln“, sprach, dann umriß er damit recht gut das, was heute unter „Mentalität“ verstanden wird und was sich gerade aufgrund dieses System-Charakters nur schwer verändern läßt. Ein Aufsteiger und Außenseiter wie Franz Christian Dethlefsen hatte dagegen die permanente Veränderung in Form des Perfektibilismus-Gedankens bereits verinnerlicht, indem er nach eigener Auskunft „jede sich nur denkbare Gelegenheit“ benutzte, „um mich stets besser für meinen Beruf zu bilden“.1570 Selbst diese Wortwahl erinnert an Wendungen Beckers, nach der „dieses beständige besser werden und besser machen […] das vornehmste Geschäft unseres ganzen Lebens“1571 zu sein habe. Schon nach wenigen Jahrzehnten jedoch war die Konjunktur des Noth- und Hülfsbüchleins nicht nur in ökonomischer Hinsicht vorüber. Der mit den Napoleonischen Kriegen gesamtgesellschaftlich einsetzende mentalitätshistorische roll back hemmte nicht nur Beckers Aktivitäten „entscheidend“1572 (bis hin zu einer siebzehnmonatigen Festungshaft!), sondern spätestens die Karlsbader Beschlüsse des Jahres 1819 zeigten, daß „die guten Zeiten […] für Beckers Zielrichtung vorbei“ und „im 19. Jahrhundert aufklärerischem Engagement sehr enge Grenzen gezogen“ waren. Wenn Hebbel, selber in einem prägsamen Alter, das Buch also noch in den 1820er Jahren konsultierte, dann kommt darin in doppelter und paradoxer Weise die zeitliche Verschiebung zum Ausdruck, mit der die ‚Neuerungen‘ den Wesselburener Maurersohn erreichten. Es ist eine Ironie der Geschichte, daß er das fortschrittliche Buch gerade in dem Moment in die Hände bekam, als die soziokulturelle Großwetterlage bereits ins Restaurative umgeschlagen war. Auch im Noth- und Hülfsbüchlein wurde das traditionale „System“ von Lebensanschauungen – je nach Perspektive – auf den Kopf bzw. auf die Füße gestellt. Die Rahmenerzählung nimmt den Leser gleich zu Beginn mit einem veritablen Horrorszenario gefangen. Als der alte Gutsherr von Mildheim stirbt und Küster und Totengräber vor der Beerdigung das Erbbegräbnis öffnen, glauben sie, Gespenster zu sehen: „Die verstorbene gnädige Frau saß nähmlich leibhaftig in ihrem weißseidenen Todtenkleide auf einem Sarge. Mit dem Rücken lehnte sie an der Mauer des Gewölbes, und auf ihrem Schoose lag etwas, wie ein Gerippe von einem kleinen Kinde. Das lange weisse Todtenkleid war mit Blut befleckt, und das Gesicht war grausam entstellt“.1573 Doch die Aufklärung folgt auf dem Fuße: Die hochschwangere Frau war während einer Ohnmacht lebendig begraben worden, konnte sich aus dem Sarg befreien, brachte „vermuthlich vor Schrecken und Furcht“1574 zur Unzeit das Kind zur Welt, um dann jämmerlich zugrunde zu gehen. Die Leute im Dorf verlangen daraufhin aus dem Noth- und Hülfsbüchlein zu erfahren, „was man thun soll, daß bey Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 470. DETHLEFSEN, [Bericht an Generalsuperintendent Herzbruch] am 26.7.1837. L S-H, Abt. 19, Nr. 111/1. 1571 BECKER, Noth- und Hülfsbüchlein, S. 43. 1572 Dieses und die folgenden Zitate: Ebd., S. 465. 1573 Ebd., S. 6. 1574 Ebd., S. 7. 1569 1570

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Sterbefällen die Leute nicht eher begraben werden, bis sie todt sind.“1575 Die Angst, lebendig unter die Erde zu kommen, trieb auch Hebbel zeitlebens um. Noch in seinem Testament galt der zweite Satz der „Sorge, mich gegen die Gefahren sicherzustellen, die sich an den Scheintod knüpfen.“1576 Die Bevölkerung Mildheims geht nach diesem überzeugend-drastischen Auftakt das Buch Kapitel für Kapitel durch, um zu lernen, daß es keine Gespenster1577 und keine Hexen,1578 keine Nachzehrer,1579 keinen Wilden Jäger und auch keinen, einem Hahnenei entkrochenen Basilisken1580 gebe, daß überhaupt Magie und Zauberei1581 nur etwas für Narren und „Windbeutel“1582 seien. Auch hier wurde erklärt, daß Gewitter „eine Wohlthat von Gott“1583 seien, zumal seitdem der „Blitzableiter an unserm Kirchthurme“1584 wenigstens dessen eigenes Haus beschützte. Wen dennoch der Blitzschlag treffe, der solle den schnellen Tod „eher für eine besondere Gnade Gottes, als für ein Strafgericht“1585 halten. All die plötzlich als überholt geltenden Anschauungen waren – wie in den vorangegangenen Kapiteln gezeigt – zu Hebbels Zeit in Wesselburen noch virulent. Wurden einerseits die abergläubischen Ausgeburten der Phantasie bekämpft, so wurde andererseits das System abstrakter, zu verinnerlichender Werte gestärkt: Einzelne Kapitel unterrichteten Von der Ehre1586 sowie Von der Gemütsruhe und dem Gewissen,1587 die an die Stelle traditionalen Statusdenkens und platter Selbstgewißheit treten sollten. Friedfertigkeit sollte die Rechthaberei ersetzen.1588 Dabei prägte angeblich die letztere die Dithmarscher Mentalität in besonderem Maße. So betonte Detlev Cölln die „Zähigkeit des Rechtsuchens und Rechthabenwollens im Dithmarscher Stammestum […]. ‚Nichts auf sich sitzen lassen‘ ist auch heute noch Dithmarscher Grundsatz, und nicht selten geht das Rechthabenwollen über diesen Grundsatz hinaus.“1589 Das sei auch „Hebbels Eigenart“, die sich noch in den „weithin polemisch orientierten Deutungen, die er seinen Dramen gab“, widerspiegele. Auf jeden Fall deuten Hebbels „Jähzorn, mein Aufbrausen“ ebenso wie „die Fähigkeit, schnell und ohne Weiteres Alles, es sey groß oder klein, wieder zu vergeben und zu vergessen“ [T 1295], auf eine vor-zivilisierte emotionale Disposition, bei der starke Gefühlsaufwallungen unvermittelt neben völliger Teilnahmslosigkeit auftreten konnten. Das Noth- und Hülfsbüchlein redete dagegen maßvollen Gefühlsäußerungen das Wort: Denn Ebd., S. 13. Zit. nach KUH, Biographie, Bd 2, S. 523. 1577 Vgl. BECKER, Noth- und Hülfsbüchlein, S. 236 und S. 344f. 1578 Vgl. ebd., S. 256f. und S. 361ff. 1579 Dieses und das folgende Zitat: Vgl. ebd., S. 271. 1580 Vgl. ebd., S. 343. 1581 Vgl. ebd., S. 237 und S. 268f. 1582 Ebd., S. 268. 1583 Ebd., S. 378. 1584 Ebd., S. 53. 1585 Ebd., S. 378. 1586 Ebd., S. 226. 1587 Ebd., S. 232. 1588 Vgl. ebd., S. 402 und S. 404. 1589 Dieses und die folgenden Zitate: CÖLLN, Friedrich Hebbel und seine Heimat, S. 91. 1575 1576

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„Gott will nicht, daß seine Kinder harte gefühllose Herzen haben“.1590 Voreheliche Sexualität wurde dagegen nur noch in den Kategorien von Verführung und Hurerei beschrieben;1591 Trinkfestigkeit galt nicht mehr als Stärke, sondern als „schändliche[s] Laster“,1592 und wer dachte, „der wäre kein rechter Bursch, der nicht tüchtig schlingen könnte“,1593 wurde gleichfalls eines anderen belehrt. Der „Fresserey und Völlerey“,1594 die doch nur die selten genug hervortretende Kehrseite des Mangels darstellte, sollte nun ein „vernünftiges Maaß“ gesetzt werden. Den traditionellen (Tisch-)Sitten war in Wesselburen so einfach jedoch nicht beizukommen. Noch um 1870 durften beispielsweise am Osterabend die Knechte „so viele Eier essen, wie sie vermochten“.1595 Zu Hebbels Zeit hatte der Pastor Volckmar in diesem Wettbewerb dauerhaften Ruhm erworben. Noch Jahrzehnte später erzählte man, der Gottesmann habe es bei einer solchen Ostermahlzeit auf 44 verzehrte Eier gebracht.1596 Zu den wenigen Büchern, an denen Hebbel „sich bei Dethlefsen gütlich“1597 tat, gehören auch Magnus Gottfried Lichtwers zuerst 1748 erschienene Vier Bücher Äsopischer Fabeln. Dieses Werk beeindruckte Hebbel nachhaltig. „Gerne las der Mann noch in den Fabeln Lichtwers“,1598 wußte Emil Kuh und betonte in diesem Zusammenhang: „Nichts von dem, was er in seiner Jugend besonders lieb gehabt […] hat, nimmt später ein anderes Gesicht für ihn an“.1599 Hebbel kannte seinen Lichtwer sogar auswendig. Kuh erinnerte sich: „Manche Lichtwersche Fabel habe ich wiederholt aus seinem Munde vernommen. Er entzückte sich stets von neuem an den herbfrischen Naturbildern Lichtwers, und er gab nach seinem Ausdrucke für den ‚Tau, der die bestäubten Fluren wusch‘ und für ‚das schleirichte Gesicht der Eule‘ eine ganze lyrische Bibliothek hin.1600 Auch Fabeln von Gellert hatte Hebbel wohl schon zu Schulzeiten gekannt.1601 Er schätzte „des vieltheuren Mannes Verdienste um Deutsche Cultur und Deutsche Bildung“ [WAB 2, 718] so sehr, daß er noch 1853 mit „Vergnügen“ einen Beitrag für ein Gellertbuch zur Verfügung stellte, in der es um kindliche Naschhaftigkeit und ihre exemplarische Bestrafung ging: Das Geheimnis der Rebe offenbart sich dem Missetäter dergestalt, daß „nebst der Traube […] auch die Gerte in ihr steckt“ [W 7, 223]. Bei der Textgattung Fabel lag die ‚Moral‘ in der Natur der Sache. Der Aufklärer Lichtwer nutzte sie u. a. auch zur Bekämpfung des Aberglaubens: Zu nächtlicher Geisterstunde begegnen sich Die zwei alten Weiber: „die Toren sahen sich für zwei BECKER, Noth- und Hülfsbüchlein, S. 438. Ebd., S. 190 und S. 199–210. 1592 Ebd., S. 149. 1593 Ebd., S. 167. 1594 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 170. 1595 BARTELS, Kinderland, S. 170. 1596 Vgl. ebd., S. 170f. 1597 KUH, Biographie, Bd 1, S. 47. 1598 Ebd., S. 131. 1599 Ebd., S. 130f. 1600 KUH, Biographie, Bd 2, S. 482. Beide Stellen aus: Der junge Kater. Hebbels Exemplar von Lichtwers Lehrgedicht Das Recht der Vernunft ist heute noch im Wesselburener Hebbel-Museum (Signatur: 12e067) vorhanden. 1601 Vgl. DJH I, 121 und 268 (Anm.). 1590 1591

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Gespenster an [/] und standen starre da, als ob sie Säulen wären“ – bis zum anderen Morgen, „da jede brummend Abschied nahm.“1602 Auch Die Zauberin „ward der Kinder Zeitvertreib, ein Spott des Volks, ein schwaches Weib“;1603 freilich erst, nachdem man „mit dem Zauberbuche [/] Sofort selbst allerlei Versuche“ angestellt hatte und „fand, daß es teils Gaukelei, [/] teils Wirkung der Naturkunst sei.“ In Phöbus und sein Sohn1604 wird der mythologisch-abergläubischen Anschauung der Sonnenfinsternis die naturwissenschaftliche Sicht engegengesetzt, und in Der Mond und der Komete weiß der letztere gar nichts davon, daß er als ein „Unglücksbote, […] ein Pest- und Kriegsprophete“1605 angesehen werde. „Hier wurde der Komet entrüstet: Oh, wenn ihr meinen Ursprung wüßtet, […] verleumdrisches Geschlecht!“, schleudert er empört den Menschen entgegen. Deren Händel untereinander sollen in zivilisierteren Formen ausgetragen werden; so wendet sich das Stück über Die zween Hähne gegen törichte ‚Hahnenkämpfe‘: „[W]er Zweikampf sucht, der ist ein Tor, [/] und wer sich schlägt, der ist der größte.“1606 Emotionen sollen sublimiert, andererseits aber nichts weniger als unterdrückt, sondern in harmonischen Einklang gebracht werden, wie der um eine Maikäfer-Dame werbende Roßkäfer erfahren muß: Verschiedner Sinn, ungleiche Triebe, Lust, Unlust gatten sich nicht fein; Wenn du verabscheust, was ich liebe, so wollen wir geschieden sein.1607

Dies alles entsprach den neuen moralischen Lehren, wie sie auch bei Wilmsen und Becker vorgetragen wurden. Welche mentalitätsgeschichtlichen Umwälzungen sich damit anbahnten, läßt sich heute kaum noch nachvollziehen; Belehrungen und Maximen dieser Art wurden schon im 19. Jahrhundert banal. Doch aus den Texten selbst spricht die Spannung der Autoren zu denen, an die sich die Texte wandten. Wie revolutionär die Umgestaltung des traditionalen Systems war, wurde im Noth- und Hülfsbüchlein durch selbstreflexive, die eigene Rezeption betreffende Passagen thematisiert: Volle fünf Jahre brauchen die Mildheimer, um das Buch durchzuarbeiten; teilweise entzweien sie sich über die Umsetzung, so daß viele sagen, „es sey wohl mit Recht ein Noth-Buch zu nennen, das den Leuten erst Noth machte, wenn sie noch keine hätten“.1608 Andere wollen von vornherein nichts davon wissen: „Wir sind so alt worden, sagten sie, und es ist unser Lebelang nicht anders gewesen: es mag auch so bleiben!“1609 Diese Mentalität war bislang auch von der Schule eingepflanzt worden, wie der wassersüchtige Fresser Gottfried Klaus – für seine eigene Rettung zu spät – erkennt: „Zu meiner Zeit lernte man in der Schule nichts, als die Gebote und den LICHTWER, Blinder Eifer schadet nur, S. 39. Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 65. 1604 Ebd., S. 25. 1605 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 94f. 1606 Ebd., S. 92. 1607 Ebd., S. 18. 1608 BECKER, Noth- und Hülfsbüchlein, S. 413. 1609 Ebd., S. 412. 1602 1603

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Himmelsweg. Da hörte man kein Wort von allem, was dem Menschen im irdischen Leben nütze und gut ist. Da thaten denn die Kleinen so ohne Ueberlegung nach, was sie von den Großen sahen, es mochte gut oder böß seyn“.1610 Über die einzelnen Vorschriften und Belehrungen hinaus liegt hierin der eigentlich revolutionäre Keim des Beckerschen „Systems“: Es führt vom traditionalen Nachahmen hin zum kritischen Denken und Überprüfen aller vermeintlichen Gewißheiten. Damit ist klar, warum diese ersten weltlichen Bücher Hebbel nachhaltig faszinieren mußten. Mit ihnen gab Franz Christian Dethlefsen seinem aufgeweckten Schüler ein Werkzeug von kaum zu unterschätzender Wirkung in die Hand; durch sie ließ sich die traditionale Sozial- und Wertordnung, die in Wesselburen noch kaum erschüttert schien, zumindest ‚theoretisch‘ vollkommen aushebeln. Zugleich bot sich dem Rezipienten die Möglichkeit zunehmender geistiger Distanzierung: War er im Kinderfreund noch der direkte Adressat der neuen Lehren, so gewann er bei Becker schon durch die Rahmenhandlung Abstand von den Dörflern, wenngleich sich auf ihn noch der aufklärerische Impetus richtete. Bei Lichtwer schließlich ergab sich die Moral aus satirisch-literarischer Distanz des aufgeklärten Bürgers zum „Pöbel“ als der ideologisch deklassierten, ‚breiten Masse‘ – deren noch traditional verwurzelte Lebenswirklichkeit erhielt in den Fabeln Züge der verkehrten Welt. In seinem zuerst 1758 erschienenen Lehrgedicht Das Recht der Vernunft bescheinigte Lichtwer der Menschheit, daß davon der größte Teil der Torheit Reich vermehrt. Hier herrscht die Unordnung und ein verkehrt Betragen; ohn Absicht spannt ein Tor die Pferde hinterm Wagen; sucht Reichtum und ist faul; streicht Gift auf seinen Schwär: Sein Tun bestätiget die Fabel von dem Bär, der seinen Freund erschlug, um Fliegen abzuwehren.1611

Die Beispiele ließen sich vermehren: Das schlechte Tuch1612 wird gern gekauft, sobald es nur von der Obrigkeit verboten ist; „wer goldne Schlösser sucht, verscherzet oft sein Haus“,1613 und wer „allzuviel begehrt, hat alles oft verloren“. Solche Wahrheiten will aber niemand hören – der „Philosoph“ spricht’s und „predigt tauben Ohren“. Die Botschaft selbst muß sich verstecken und als Fabel verkleiden, um Gehör zu finden, denn „wer kann die Wahrheit nackend sehn“?1614 Den Zivilisations-Bruch, der sich nicht nur im Verhältnis zur Vergangenheit ergibt, sondern auch die Gegenwart kennzeichnet, gestaltet Lichtwer kompromißlos als Scheideweg. Im Vorspann zum Zweiten Buch stellt er den Leser vor „die Wahl von zween verschiednen Wegen“:1615

Ebd., S. 167. LICHTWER, Blinder Eifer schadet nur, S. 142. 1612 Ebd., S. 20. 1613 Dieses und die folgenden Zitate: Ebd., S. 35. 1614 Die beraubte Fabel. Ebd., S. 6. 1615 Dieses und die folgenden Zitate: Ebd., S. 35. 1610 1611

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der eine Weg ist lang und schwer zurückzulegen, dem Pöbel ganz verhüllt und Weisen nur bekannt, dem leuchtete Vernunft, der hier den Ausgang fand. Der andre Weg ist kurz, bequem und jedem helle, Erfahrung heißt der Weg. […]

Es mutet erstaunlich an, wie rigide Lichtwer der „Erfahrung“, die doch von je her die verbreitetste Lernmethode war, die Berechtigung abspricht, um sie durch die abstrahierende „Vernunft“ zu ersetzen. Für sie muß sich entscheiden, wer kein „Narr“ sein will. Vermittelt wird sie nicht zuletzt über die Lektüre, die eine innere Stimme etabliert: Das neue Wissen wird als Gewissen verinnerlicht. Genau dieser Prozeß ist auch an einer delikaten Anekdote Hebbels abzulesen. Eine Notiz zur Biographie beginnt: „Als ich zum ersten Mal – – (21 Jahr alt)“, und wird dann sofort vom Gewissen zensiert – das eigentliche Faktum, offenbar der erstmalige voreheliche Intimkontakt des immerhin schon Volljährigen, bleibt unausgesprochen. Doch das Gewissen war erst post festum erwacht: Damals „besah ich mich den Tag darauf wohl zehn Mal im Spiegel, eingedenk des Gellertschen Verses: ‚Wie blühte jenes Jünglings Jugend’“ [W 15, 19]. Was zu dem Sünder spricht, ist Gellerts moralisierende Warnung vor der Wollust,1616 die ihm nicht aus dem Kopf geht, nachdem es zu spät ist. Auch Gellerts Jüngling „vergaß den Weg der Tugend, [/] Und seine Kräfte sind verzehrt. [/] Verwesung schändet sein Gesichte, [/] Und predigt schrecklich die Geschichte [/] Der Lüste, die den Leib verheert“.1617 Die drastische Bildlichkeit, die Wendung ins Äußerliche, verlieh der Warnung Wirkung: Noch war das Gewissen nicht völlig verinnerlicht, bedurfte der fremden Stimme, die beim kontrollierenden Blick in den Spiegel laut wurde. Die Dialektik von innen und außen äußerte sich auch in der Frage Hebbels an den Freund Jakob Franz, „ob er Nichts bemerke“.1618 Wenngleich das Spiegelbild verrät, daß das ‚aufgeklärte‘ Ich bereits ‚ein anderes‘ geworden ist, so befindet sich doch der 21jährige Hebbel noch immer auf dem Weg, „lang und schwer zurückzulegen“, der dem Prozeß der Zivilisierung entspricht. Die Eltern, die ihre eigenen Erfahrungen mit außerehelicher Sexualität gemacht hatten, waren von solchen Skrupeln schon mangels Belesenheit nicht geplagt worden.

Vgl. HP I, 465. GELLERT, Moralische Gedichte, S. 139. 1618 W 15, 19. Vgl. dazu auch die erst 1841 beendete Novelle Matteo [W 8, 201–215], in der die von Blattern verursachte äußerliche Verunstaltung beim Blick in den Spiegel radikal auf die seelische Verfassung zurückschlägt: „Wer so aussieht, der muß sich selbst verachten“ [W 8, 205]. 1616 1617

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Kulturisation zwischen semioraler Kommunikation und isolierter Lektüre Die Lektüre der Lesebuchtexte wurde in der Schule von didaktischen Bemühungen begleitet, die dem alten Katechismusunterricht abgeschaut waren. „Hier wie dort sollte der gelesene Text in einem eindeutigen Sinne verstanden werden, wobei sich dieser Sinn einprägsam als Sentenz formulieren ließ. Und endlich sollte hier wie dort die memorierte Sentenz als Ergebnis des Unterrichts eine erzieherische Wirkung auf das Kind ausüben.“1619 Dabei verfolgte die aufkärerische Pädagogik allerdings ein moderneres Konzept. Rochow wandte sich energisch gegen die herkömmliche Lehrmethode des bloßen Memorierens, die deswegen fruchtlos bleiben mußte, weil sie „auf das Verständnis der Kinder gar keine Rücksicht nahm, sondern nur blinden Glauben und Gedächtnisleistungen verlangte.“1620 Nicht eine wie auch immer zu unterdrückende Erbsünde stand am Ausgangspunkt seines pädagogischen Ansatzes, sondern im Gegenteil die in jedem Menschen angelegten und zu entwickelnden „moralischen Empfindungen“, die bewirken sollten, daß „jedes Kind die vorgetragenen Lehren in ihrer Richtigkeit voll und ganz begriff.“ Im Brandenburgischen Kinderfreund dienten unvollendete Sätze und eingestreute Fragen, deren Beantwortung die Lehrer den Kindern nicht „erlassen“1621 sollten, „zur Rückerinnerung an das Gelesene“ und als „Verstandesübung“. Im Idealfall sollte sich das katechisierende Abfragen dabei in ein sokratisierendes Unterrichtsgespräch verwandeln, das vom gelesenen oder erzählten Exempel zur moralischen Maxime führte. In der Realität ließ sich dies freilich nicht durchhalten. Wilmsen selbst wußte, daß die Übungen „leider nur zu häufig […] in einen gedankenlosen Mechanismus ausarten“. Hebbel hatte von dieser Form des Selbst-Denkens ein für allemal genug. Heftig und empfindlich protestierte er in seiner Abrechnung mit Amalie Schoppe von 1840 gegen eine Umgangsweise mit der „Individualität“, die „ihren verschlossenen innersten Kern auf eine CatechismusFormel reduciren will“ [WAB 1, 341]. Die aufklärerischen Jugendschriften verfolgten neben den individualpädagogischen auch „familienerzieherische[…] Intentionen“,1622 indem sie Eltern und Kinder „zu gemeinsamer Lektüre heranzubilden“ trachteten und die Erwachsenen „als Mit-Leser und Vermittler der Lektüre für die Kinder“ in Anspruch nahmen. Nach Ansicht von Bettina Hurrelmann leistete die Jugendliteratur damit einen „nicht unwesentlichen Beitrag […] zur Entwicklung einer neuen Familienstruktur im gehobenen Bürgertum. Gemeinsame Familienlektüre ist ein Zeichen dieser neuen persönlichen und emotionalen Beziehung der Familienmitglieder zueinander“. Die aufklärerische Jugendliteratur sei damit ein „erziehungsgeschichtliches Zeugnis für die Entstehung der modernen Kleinfamilie im Bürgertum des späten 18. Jahrhunderts“. Von der Lesekultur, die sich in gutbürgerlichen Familien damals bereits etabliert hatte, war im Hause Hebbel – mehr als ein Vierteljahrhundert später – so gut wie gar nichts zu spüren. Kein einziges profanes Buch war vorhanden; die Eltern hätten angesichts ihrer FRANK, Geschichte des Deutschunterrichts, S. 142. Dieses und die folgenden Zitate: Ebd., S. 144. 1621 Dieses und die folgenden Zitate: WILMSEN, Der Brandenburgische Kinderfreund, S. V. 1622 Dieses und die folgenden Zitate: HURRELMANN, Jugendkultur und Bürgerlichkeit, S. 257f. 1619 1620

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beschränkten Lesefähigkeit wenig damit anfangen können. Ein gemeinsames Durcharbeiten der Lesebücher war undenkbar. Immerhin wußte Emil Kuh zu berichten, daß „die Mutter ihren Mann bewogen habe, für Herrn Dethlefsen wöchentlich einmal des Nachts Schleichwache zu gehen, da der Rektor dem Knaben Privatunterricht erteilte und Geld zur Anschaffung von Licht hergab“.1623 Nützliche Lektüre war also erlaubt; doch wozu erfundene, literarische Werke nützen sollten, ging Vater Hebbel nicht ein. So sah Friedrich sich zum „Lügen bei’m Romanlesen“ [W 15, 8] gezwungen. Insbesondere die exzessive Lektüre zu nachtschlafender Zeit wollte der Vater nicht tolerieren. Kuh erzählte: Die beiden Knaben schliefen außerhalb der Wohnstube in einer Kammer; so konnte denn Friedrich, öfters noch nach neun Uhr, wenn der strenge Vater zu Bette gegangen, bei seiner Kerze an dem Buche sitzen. Zuweilen jedoch kam der Alte, ob von ungefähr oder aus Absicht, vor die widerrechtlich erleuchtete Kammer, gewahrte den Lichtschein und erzürnte sich, da Licht und Feuerung kostspielig seien.1624

Das Kostenargument des Vaters leuchtete schon Emil Kuh nicht mehr ein, der es in den Konjunktiv rückte. Tatsächlich aber waren Kienspan, Kerze und Tranlampe „verhältnismäßig hoch im Preis“,1625 weswegen meist „die abendliche Dämmerstunde als Erholungsphase“ genutzt wurde. Friedrichs ‚Lesesucht‘, die „an den langen Winterabenden mehr Ausgaben für Kerzen nötig machte, als mit der Beihilfe des Lehrers bestritten werden konnte“,1626 machte den Knaben auf eine Weise „erfinderisch“, die dem sich redlich abarbeitenden Maurer nur noch suspekter erscheinen mußte: Sein Sohn richtete „ein Lotto für Nadeln und Knöpfe ein; dazu malte er Bilderchen mit gelber und mit roter Kreide, und um den Erlös der Sächelchen kaufte er sich ein dünnes Talglicht.“ Kuhs durch lauter Diminutive verniedlichte Anekdote taugte im wahren Leben durchaus als neuer Gegenstand der Peinlichkeit.1627 Der Sohn machte mit Glücksspiel Gewinne, um sie buchstäblich wie Wachs zerrinnen zu lassen. War es ein Ziel der Aufklärer gewesen, die Menschen durch gemeinsame Lektüre der für Alle relevanten Inhalte in neuer Form zu ‚vergesellschaften‘ und „zu nützlicher Wirksamkeit in der Gesellschaft“1628 zu erziehen, so erzielte der Eintritt der Buchkultur in die Familie Hebbel das genaue Gegenteil. Die besondere Lesefähigkeit des Sohnes vertiefte in der Familie den kulturellen Bruch. Daß die Romane direkt zum „Lügen“ verführten, und daß aus dem Maurersohn ein Lottoveranstalter wurde, kann im Nachhinein amüsieren – beim Vater aber mochten ernste Zweifel an der Arbeitswilligkeit des Knaben aufkommen.

KUH, Biographie, Bd 1, S. 49. Ebd. 1625 Dieses und das folgende Zitat: HARTIG, Von der Kunst volkstümlichen Erzählens, S. 15. 1626 Dieses und die folgenden Zitate: KUH, Biographie, Bd 1, S. 49. 1627 In Hebbels Lustspiel-Fragment Der Thurmbau zu Babel klärt etwa der Krämer mit dem Wesselburener Namen „Knölk“ einen lottospielenden Wanderburschen auf: „Mein junger Mann: die Arbeit führt zu Geld!“ [W 5, 279]. 1628 HURRELMANN, Jugendkultur und Bürgerlichkeit, S. 258. 1623 1624

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Umgekehrt gab es auch für Friedrich genug Gründe, vom Vater enttäuscht zu sein. Gewiß, der Alte konnte schlecht lesen – dafür aber gut erzählen. Doch noch in seinen Aufzeichnungen klagte Hebbel: „[M]an rühmte an ihm die Gabe Märchen zu erzählen, es vergingen aber viele Jahre, ehe wir [Kinder] sie mit eigenen Ohren kennen lernten“ [W 8, 82]. Entblößt vom sozialhistorischen Kontext, macht das Verhalten des Vaters auf den ersten Blick einmal mehr den Eindruck böser Absicht, zumal Hebbel von der Nachbarin und von zwei unstet durch die Lande streifenden Nenn-„Onkeln“ regelmäßig allerhand Geschichten zu hören bekam. Doch hier hatte das Erzählen seinen speziellen Anlaß in einer besonderen geselligen Situation, vor allem dann, wenn „Onkel Hans oder Johann kamen“ [W 8, 87]. Dieter Richter schreibt in diesem Zusammenhang: „Erzählt wurde bei Gelegenheiten, die eine Gruppe von Menschen für eine bestimmte Zeit zusammenführte, bei der Arbeit, in den Herbergen, auf der Wanderschaft [...]. Kinder waren, wenn überhaupt, neben anderen anwesend, am ehesten noch – auch hier zusammen mit Erwachsenen –, wenn am Abend im Haus oder an Festtagen erzählt wurde oder wenn ein Handwerker oder sonst des Erzählens Kundiger ins Haus kam“.1629 Wenn Friedrich von seinem Vater lange Jahre keine Märchen zu hören bekommen hatte, dann hat dies seinen einfachen Grund in moralischen und situativen Verhaltensregeln, die der Vater befolgte. Auf der anderen Seite sind typisch für die vorbürgerliche Familie die unkontrollierten Freiräume der Kinder: Sie brauchten bloß zu den Nachbarn zu gehen. Daß diese wesentlich laxer – und in den Augen Claus Friedrich Hebbels verantwortungslos – mit den Kindern umgingen, zeigt sich auch in der regelmäßigen Branntwein-„Sonntagsfeier“ beim alten Ohl,1630 die vom Vater schließlich verboten wurde. Wenn für das gesellige Erzählen der Satz aus dem Prediger Salomo zutraf: „Alles hat seine Zeit und seinen Ort“,1631 dann war der ‚anlaßlose‘ Geschichtenkonsum zu jeder beliebigen Tages- und Nachtzeit unmäßig, ja sündhaft. In den Büchern, die Friedrich vom Lehrer Dethlefsen bekam, erlebte er freilich ganz andere Ersatz-Väter – solche, die sich ihren Kindern als Erzähler mit Eifer zuwandten. Beispielhaft dafür war Joachim Heinrich Campes zuerst 1781/1782 erschienene Entdeckung von Amerika. Ein nützliches Lesebuch für Kinder und junge Leute.1632 Der Verfasser hatte dem Werk die „Bestimmung, ein Schulbuch zu sein“1633 zugedacht, und zwar „nicht für kleine Kinder, sondern für solche […], die sich dem Jünglingsalter nähern, oder es schon erreicht haben.“1634 Das sokratisierende didaktische Gespräch, das sich an die Lesebuchlektüre anschließen sollte, war hier virtuell verwirklicht, weil in das Buch selbst verlegt worden. Denn die von den aufklärerischen Pädagogen geforderte Form „mündlich erzählender Geschichtsvergegenwärtigung“ blieb allgemein „im Unterricht weit hinter den Idealforderungen“1635 zurück. Campe selbst versicherte demgegenüber in seiner Vorrede, von „der mündlichen Erzählung, in dem RICHTER, Das fremde Kind, S. 178. Vgl. W 8, 87. 1631 Prediger Salomo 3, 1–5. 1632 Vgl. W 15, 8. Hier zitiert nach der 13. Auflage von 1831. 1633 CAMPE, Die Entdeckung von Amerika, S. X. 1634 Ebd., S. VII. 1635 STEINLEIN, Joachim Heinrich Campes Die Entdeckung von Amerika, S. 59. 1629 1630

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Kreise meiner Pflegekinder“, sei „diese geschriebene […] eine getreue Nachbildung“.1636 Schon die erste Szene des Buches war geeignet, dem einsam lesenden Friedrich den Unterschied zur eigenen familiären Kultur überdeutlich vor Augen zu führen: Nikolas (rufend). Gottlieb! Kristel! Konrad! John! Geschwind! geschwind! Kristel. Was giebt’s? Nikolas. O geschwind! Vater will uns wieder etwas erzählen. […] Kristel (zu Nikolas). Was will denn Vater uns nun wieder erzählen? Nikolas. Ja, das weiß noch kein Mensch!1637

Claus und Friedrich Hebbel hatten einander dagegen wenig zu sagen – schon gar nichts, was der andere nicht ohnehin wissen konnte. Als der Vater im Sterben lag, las der Sohn lautlos an seinem Bett. Lebhaft erinnerte sich Hebbel später noch an die „Nacht, wo ich bei’m kranken Vater wachte und den zweiten Theil des Don Quixotte las“.1638 Wahrscheinlich war dies die Jugendbearbeitung des Romans durch Christian Karl André, die 1787 und 1789 in zwei Teilen erschienen war. Wieder wird es Dethlefsen gewesen sein, der dem Vierzehnjährigen mit Bedacht gerade dieses Buch in die Hand drückte: Generell waren mit ihr Kinder angesprochen, die bereits „groeßer geworden“ sind, und die „treflichen Kinderschriften von Weisse, Campe, Salzmann u. a.“1639 kennen. Die Rahmenhandlung präfigurierte direkt die Situation am Krankenbett, in der Hebbel das Buch las; in der Form variiert, daß hier „ein kranker Junge und seine Freunde […] nach einem angenehmen Zeitvertreib“1640 suchen. In dieser Situation sollte das Buch „ein Mittel zur Aufheitung de[s] Gemüths und zum Lachen“ sein, eine „belustigende Abendlektüre“ 1641, die „lebhaft unterhalten“ wollte. Zu diesem Zweck wurde gegenüber der Bertuchschen Vorlage von 1775 „die hintergründige Komik falschen Bewußtseins zugunsten einer bloßen Handlungskomik“1642 zurückgedrängt. Die Hauptfigur erschien daher erstmals „ausschließlich als Narr, als Inkorporation von Torheiten, die in ihrer Überzeichnung satirisch bloßgestellt werden“.1643 Hier standen „allein die ‚Tollheiten‘ des Ritters, das ‚Unvernünftige‘ und ‚Widersinnige‘ seines Verhaltens im Zentrum der Aufmerksamkeit“, wodurch sich Hebbels Äußerung erklärt, daß der Don Quijote bei dieser ersten Lektüre „den Eindruck eines Wahnsinnigen auf mich machte“ [W 15, 13]. War diese Art der Zerstreuung eine geeignete Lektüre – und überhaupt das isolierte Lesen die adäquate Form der ‚Kommunikation‘ am letzten Lager des Vaters?

CAMPE, Die Entdeckung von Amerika, S.Vf. Ebd., Teil I, S. 3. 1638 W 15, 13; vgl. auch W 15, 9. 1639 Zit. nach BRÜGGEMANN, Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur, Sp. 338. 1640 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., Sp. 339. 1641 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., Sp. 338. 1642 Ebd., Sp. 342. 1643 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., Sp. 346. 1636 1637

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Während André den närrischen Ritter als warnendes Exempel gegen „die Lesesucht und die Romanseuche“1644 auf den Schild hob, setzte der Text gleichzeitig eine Versiertheit der jungen Leser voraus, die es erlaubte, die dialogische Form gegenüber Campes Entdeckung von Amerika noch weiter zurückzunehmen. Sie findet sich im Don Quijote denn auch „nur im ersten Kapitel: Hier wird die Erzählung durch Fragen der zuhörenden Kinder und sachlich belehrende Antworten des erzählenden Vaters unterbrochen. Doch schon gegen Ende des ersten Abschnitts tritt die Gesprächsform zurück zugunsten erklärender Anmerkungen“1645 – und damit zugunsten des monologisierenden Endlostextes, der von jeder kommunikativen Situationsanbindung frei ist. In diesem Text konnte man vollkommen versinken – selbst am Sterbebett Claus Hebbels. Man muß sich auch hier den Gegensatz zwischen den gleichzeitig-ungleichzeitigen Mentalitäten vor Augen führen: Während Dethlefsen gerade die Ablenkung von der traurigen Gegenwart ermöglichen wollte, hätte ein Pastor Gebet, Gesang oder die Lesung geistlicher Texte mit und für Vater Hebbel anempfohlen; niemals aber einen zum Lachen anreizenden Roman. Auch das hätte zum Skandalon getaugt – wenn der Rezipient durch die einsame Stilllektüre der sozialen Kontrolle nicht zugleich entzogen gewesen wäre. Der Don Quijote blieb Hebbel sein Leben lang „ein teueres Buch“;1646 noch in seinen späteren Jahren las er es „jedes Jahr wieder“,1647 wie Emil Kuh sich erinnerte. Mochte der Wiederholungslektüre der ersten Jugendbücher auch ein altertümliches Moment anhaften, wie Rolf Engelsing andeutete,1648 so führten doch Dethlefsens Bücher schon den Knaben zu einer versierten Lesepraxis, welche die dialogischen Kommunikationsformen traditionaler bzw. unterrichtstechnischer Semioralität weit hinter sich ließ. Daß mit der Verlagerung des Lebens ins Buch ein Verlust an Unmittelbarkeit im Verhältnis zur Umgebung einherging, empfand der empfindliche Knabe nicht unbedingt als Verlust. In der Einsamkeit des Lesens nabelte sich Hebbel von kollektiv geteilten Sinnzusammenhängen der traditionalen Gesellschaft, wie auch von aufklärerischen Wunschbildern der familiären Lesegemeinschaft ab und begab sich stattdessen mit Kolumbus und Don Quijote auf eigene Faust auf Abenteuer- und Entdeckungsfahrten zu unbekannten Ufern.

Einsame Spitze? Bücherwissen, Medienkompetenz und elitäres Bewußtsein Die Kirche hatte mit den traditionalen Anschauungen und Gewohnheiten der Menschen zwar ihre liebe Not gehabt, sich aber doch mit ihnen arrangiert – dem mentalitäts- und wissensmäßigen Niveauunterschied entsprach immerhin das hierarchische Gefälle zwischen der Geistlichkeit (im Verein mit Beamten und Akademikern) einerseits und dem breiten Volk andererseits. Daß mit den aufklärerischen Schulreformen Zit. ebd., Sp. 346. Ebd., Sp. 343. 1646 KUH, Biographie, Bd 1, S. 131. 1647 KUH, Biographie, Bd 2, S. 483. 1648 Vgl. ENGELSING, Die Perioden der Lesergeschichte, S. 130f. 1644 1645

1 Erste Adresse: Die Hebbelstraße, vormals Norderstraße, in Wesselburen. Das zweite Haus rechts mit der Gedenktafel ist der Nachfolgebau von Hebbels Geburtshaus.

2 Modell Elternhaus: Das ‚Ganze Haus‘ teilte die Familie Hebbel noch mit zwei weiteren Parteien.

3 Österstraße 3: Hier wohnte die Familie Hebbel ab dem 1. Mai 1821 zur Miete, wenige Schritte entfernt von der Kirchspielvogtei.

4 Erbstück: Das Eckschränkchen aus dem Elternhaus war später noch lange im Besitz von Hebbels Bruder Johann.

5 Beschaulich: das „nachgebaute Geburtszimmer“ im Hebbel-Museum.

6 Neue Liebe zum Kind: Frontispiz aus Taschenbuch für gute Eltern, welche in und mit ihren Kindern sich wahrhaft glücklich sehen möchten, erschienen in Stuttgart 1811.

7 Verführung durch die Schwarze Kunst: Der Hahn legt ein Ei… (Hahnenfibel, ohne Ort und Jahr)

8 … und ein Basilisk schlüpft aus – für ­Hebbel das Emblem geisttötenden ­Studierens (aus: Johann Christoph ­Sartorius, Neues Thier-Buch oder ­Merckwürdige Beschreibung der Thieren und Vögeln. Prag 1718)

9 Die St. Bartholomäus-Kirche auf der hohen Ortswurt ist der Mittelpunkt Wessel­ burens.

10 Sitzordnung als Abbild der Ständeordnung. Der „blaue Stuhl“, die Empore links im Hintergrund, war ursprünglich Loge für den Herzog von Gottorf, später Platz der Honoratioren.

11 „Dort steht das Eichennest“: Im Keller des Hauses „Ekenesch“ (Bildmitte) sollte „ein vom Teufel bewachter Schatz verborgen sein“.

12 Eigenes Buch: Erdkundebuch mit dem frühesten erhaltenen Namenszug Hebbels.

13 Malerischer „Menschenmarkt“: Landarbeiter auf einem Gemälde von Willy Graba aus den 1920er Jahren.

14 Die Kirchspielvogtei in der Österstraße.

15 „Halb bürgerliche, halb aristokratische ­Hoheit“: Der Kirchspielvogt Johann Jakob Mohr (1798–1872) in späteren Jahren.

16 Falsche Spur: Mehrere Biographen hielten den „klavierkistenartigen Verschlag“ unter dieser Treppe für Hebbels Schlafplatz.

17 Rekonstruierte Treppe mit Alkoven. Das Bett teilte sich Hebbel mit dem Kutscher Christoph Sievers.

18 Käfig oder Freiraum? Hebbels Schreibstube.

19 „… nicht sehr mit Geschäften überhäuft“: das von Hebbel geführte Vorforderungsprotokollbuch.

20 „… von jedem Genuß ausgeschlossen“: die festlich illuminierte Alster während des Hamburger Musikfests 1841 (Lithographie von Otto Speckter in: Friedrich Christian Benedikt Avé-Lallemant, Rückblicke auf das Dritte Norddeutsche Musikfest zu Hamburg. Lübeck 1841).

21 Landvogt Anton Christian Friedrich Griebel (1782–1855/1856?), Ritter vom Dannebrog und Dannebrogsmann in Heide. Ihn bat der Heidelberger Student Hebbel um ein Armutszeugnis.

22 „Prachtvolles Logis“ – vorn rechts das Haus, in dem Hebbel in Heidelberg wohnte (heute: Untere Straße 16).

23 Die Visitenkarte eines „Chevalier“.

24 Frühe Anregungen: Bänkelsänger (Fragment eines Bilderbogens, im Münchner Stadt­ museum/Sammlung Böhmer).

25 Bühne für Hebbels Liebhabertheater: der Wagenschauer des Gasthofs „Stadt Hamburg“ in Wessel­buren.

26 Nachricht statt Dichtung: Ein Seitenstück zu Hebbels Kurzgeschichte Die Kuh (aus: Münchener Neueste Nachrichten, 1913, Nr. 443).

27 Dichtung statt Nachricht? Hebbels erste Prosaveröffentlichung erschien anonym in einem Lokalblatt.

28 Magische Anziehung: Hebbels Gattin Christine Enghaus (1815–1910).

29 Ansicht von Wesselburen 1834 (Lithographie nach einer Bleistiftzeichnung von Hans Georg Wacker). Abbildungsnachweise: Carsten Scholz: 26; Hamburger Antiquariat Keip GmbH: 6–8, 20; Hebbel-Museum Wesselburen: 1–5, 9–19, 22, 23, 25, 27–29; Münchner Stadtmuseum/Sammlung Böhmer: 24; Stadtarchiv Heide: 21

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auch der ständische status quo berührt wurde, macht eine Äußerung Rochows aus dem Jahr 1772 deutlich: „Ich denke doch nicht, daß man die Seele eines Bauernkindes für ein Ding von anderer Gattung hält als die Seele der Kinder höherer Stände.“1649 Tatsächlich wurde die Einführung der Realien von der Geistlichkeit auch aus gesellschaftlichen Gründen skeptisch beurteilt. So äußerte man die Befürchtung, daß der Unterricht in Geographie oder Weltgeschichte „eine Abwendung und Entfremdung des Landmanns von seinen eigentlichen Aufgaben“1650 zur Folge haben könnte. Aber auch unbefangene Beobachter bezweifelten die Relevanz der Realien für die Dithmarscher Realität. In seinem Beitrag über Friedrich Hebbels Jugendjahre schrieb Klaus Groth: Man muß bedenken, was Ditmarschen, was kleine Flecken darin wie Heide, Wesselburen in den dreißiger Jahren waren, abgeschieden von der Welt, soweit entfernt von allen Stätten geistiger Bewegung, von Kunst und Wissenschaften, von Kiel, Hamburg, Berlin, wie jetzt kaum von New-York oder Jerusalem. Über Dichter hörte man in den Bürgerschulen sprechen wie von den Pyramiden Ägyptens oder der vergangenen Herrlichkeit Griechenlands, das dachte man sich alles in Raum und Zeiten gleich fern.1651

So schien fraglich, wozu solches Weltwissen einmal nützen könnte. Hebbel selbst war von der unverhofften Aktualisierung einstigen Schulstoffs reichlich überrascht, als er 1858 seiner Frau Christine von seiner Reise nach Galizien schreiben konnte: „Morgen geht’s nun nach Wielitzka, damit ich das berühmte Salzbergwerk, das ich schon in meinem siebenten Jahre in der Wesselburner Elementarschule beschrieb, doch in meinem fünf und vierzigsten endlich auch kennen lerne“ [WAB 3, 687]. Das Kloster Corvey war für ihn hingegen auf ganz andere Art „aus meinen Jugendtagen unvergeßlich; es hat mir einmal eine empfindliche Züchtigung eingetragen, weil ich mir das Stiftungs-Jahr nicht gemerkt hatte“ [WAB 3, 836]. Diese Art des ‚Einprägens‘ verhalf dem Gegenstand punktuell zu einer recht eindrucksvollen physischen Präsenz. Doch der Geschichte insgesamt, die „entweder im Rahmen der Kirchengeschichte oder […] in Verbindung mit der Geographie erwähnt“ 1652 wurde und dennoch „mit den griechischen Mythen“ begann, „fehlte das rechte Ziel.“ Auch der Erdkundeunterricht verlief eher eintönig. Er bestand nach dem Urteil Erichsens über die zeitgenössischen Verhältnisse in Norderdithmarschen „vorwiegend im Auswendiglernen von Namen, wohl in Versen zusammengestellt; für die Aufreihung der Namen waren Rhythmus und Klang maßgebend […]. Nicht eigentlich topographische Kenntnisse wurden auf diese Weise vermittelt, dazu traten Anwendung und Anschauung vor dem Auswendiglernen zu sehr zurück“. Nicht anders verlief der Unterricht in der Naturlehre.1653 Wie Franz Christian Dethlefsen den Unterrichtsstoff im einzelnen bewältigte, ist nicht Lesebuch für Kinder, zit. nach BÜRGER, Die Dichotomie von „höherer“ und „volkstümlicher“ Bildung, S. 81. 1650 ERICHSEN, Schulgeschichte der Landschaft Norderdithmarschen, S. 98. 1651 GROTH, Friedrich Hebbels Jugendjahre, S. 112. 1652 Dieses und die folgenden Zitate: ERICHSEN, Schulgeschichte der Landschaft Norderdithmarschen, S. 203. 1653 Vgl. ebd. 1649

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mehr zu ermitteln. Jedenfalls wagte er sich, so Johannes Grönhoff, „auf Gebiete, die ihm bei seiner autodidaktischen Bildung nicht völlig vertraut“1654 waren. Die anekdotisch überlieferte, respektvolle Feststellung des Schülers Hebbel, „Herr Dethlefsen weiß Alles“ [W 15, 11], gründete sich ausgerechnet auf die falsche, naiv-volksetymologische Erklärung des Wortes „Mandarin“ als „Man[n] darin“. Dies war kein Einzelfall; bei der Generalkirchenvisitation von 1827 lautete das vernichtende Urteil des Generalsuperintendanten Adler: „Der Rector Dethlefsen sprach alle [!] Namen der Geschichte falsch aus […], weshalb eine Weisung gegeben ward.“1655 Auch die historischen, technologischen und geographischen Fakten in Büchern wie Campes Entdeckung von Amerika waren allenfalls für „Hamburger Kaufmannssöhne“1656 und deren berufliche Zukunft „funktional und von Belang“. Mit einer gewissen Berechtigung sah daher die Geistlichkeit in der Einführung der Realien „eine Abwendung von dem ‚eigentlichen Zweck‘ der Schule“.1657 Die praktische Relevanz des damals neu vermittelten Sachwissens wird auch von der modernen Forschung in Frage gestellt. Jürgen Schlumbohm resümierte: „Die Leistung, die gefordert wurde, war eine abstrakte; d. h., es ging nicht um die Lösung bestimmter Probleme, die sich den Schülern selbst von ihrer Lebenssituation her stellten, sondern um die Aneignung von Wissen, das den Zöglingen weithin als Selbstzweck erscheinen mußte und dessen konkrete Nützlichkeit […] für den Schüler allenfalls darin bestand, daß es Symbol für eine gehobene soziale Stellung war.“1658 Daß für die unteren Schichten „gesellschaftliche Produktivität gerade in Widerspruch zu Glück und persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten gerät, bleibt außerhalb der ideologischen Lehre von einer grundsätzlich wohlgeordneten Gesellschaft und außerhalb moralischer Reflexionen“,1659 kritisierte Bettina Hurrelmann. Ob man die aufklärerischen Bildungsbemühungen vom orthodox-kirchlichen Standpunkt oder aus moderner soziologischer Sicht betrachtet: Das Mißverhältnis zwischen Wollen und Sollen stach auch am jungen Hebbel ins Auge – so etwa einem Wesselburener Mitbürger, der sich erinnerte, ihn „im griesleinenen Kittel als ‚Zupfleger‘ gesehen zu haben, auf den Schultern die Mulde voll Lehm oder Steinen, aber ein Buch in der Tasche“ [HP I, 9]. Eine autobiographische Notiz Hebbels lautet: „Friedrich Schiller! wenn ich Torf trug“ [W 15, 8]. Während der Knabe sich durch das Lesen augenscheinlich von Familienmitgliedern, der sozialen Umgebung und praktischer Tätigkeit abschottete, nährte er insgeheim elitäre Vorstellungen von seiner eigenen Bedeutung: So traf ihn eines Sommertags ein Landmann aus dem Hedewigenkoog mutterseelenallein zwischen Wesselburen und Hellschen auf dem Fußsteig sitzen, während die Beine mit den GRÖNHOFF, Friedrich Hebbels Lehrer, S. 244. Generalkirchenvisitation des Generalsuperintendenten Adler am 15.[?]8.1827. LA S-H, Abt. 19, Nr. 75. 1656 Dieses und das folgende Zitat: STEINLEIN, Joachim Heinrich Campes Die Entdeckung von Amerika, S. 48. 1657 ERICHSEN, Schulgeschichte der Landschaft Norderdithmarschen, S. 197. 1658 SCHLUMBOHM, Kinderstuben, S. 310. 1659 HURRELMANN, Jugendkultur und Bürgerlichkeit, S. 259. 1654 1655

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schweren Holzpantoffeln im Graben baumelten. Er las. Anfangs erkannte Hansen, so hieß der Landmann, den jungen Menschen, der wie gebannt ins Buch schaute, nicht. Dann aber schlug er ihn auf die Schulter und sagte im Scherz: „Na, Krischan, du wullt ja wohl Kaspelvagt warn?“ „Johann, wenn ick nichts anners warn kann, denn mug ick garnich geborn sien!“ war die Antwort. „De snappt bald öwer“, dachte der Landmann und ging weiter.1660

Das isolationistische Lebensgefühl wird in der Antwort in paradoxer Form bestätigt und gesteigert. Nicht der Aufstieg zum höchsten politischen, bürokratischen und juristischen Repräsentanten der Gemeinde, zum Kirchspielvogt, ist das Ziel des Jungen, sondern etwas ganz „anners“, was dem Gesichtskreis des biederen Johann Hansen verborgen bleibt. Ausgerechnet die neue Ausdifferenzierung der Mentalitäten gab Hebbel – Rochow zum Trotz – Anlaß, die eigene Seele „für ein Ding von anderer Gattung“1661 als die des Landmanns zu halten. Die ständische Gesellschaft „hatte Erziehung und Bildung als eine abgeleitete Funktion des Standes“1662 angesehen. Was der Bauer nicht verstehen kann, ist der neue Anspruch, nach dem sich jedermann „mittels seiner Bildung seinen eigenen gesellschaftlichen Stand“ schaffen kann. Kein Wunder, daß Hansen den einsamen Leser für ‚übergeschnappt‘ erklärt. Gerade „im ländlichen Bereich blieb die alte Ordnung des Besitzes stärker als die neue der Bildung“.1663 Der Aufstieg in die Gruppe der Gebildeten, die „in Staatsdienst, Wissenschaft, Literatur, Publizistik ihre Positionen mit dem Anspruch ausfüllten, der ‚allgemeine Stand‘ zu sein, […] die Nation der Bürger gleichen Rechts vorwegzunehmen“,1664 war dagegen äußerst unwahrscheinlich. Um so mehr Grund hatte Klaus Groth, es „unerklärlich“ zu finden, daß „ein Mann wie Hebbel in Wesselburen ein dramatischer Dichter geworden“1665 sei. Wenn schon absehbar war, daß Hebbels Voraussetzungen tatsächlich kaum für eine akademische Karriere taugen würden, so scheint an der Anekdote erst recht „unerklärlich“, woher er sein völlig unspezifisches, elitäres Selbstgefühl bezog, das erst durch seine – unplanbare – ‚Dichterkarriere‘ wieder eingeholt werden konnte. Woher bezog Hebbel zuerst solche Größenphantasien, die jeder traditionalen gesellschaftlichen Bindung spotteten? Der Blick über die Schulter des Lesenden kann auch über diesen Punkt Aufschlüsse bringen. So wie schon die Lesebuchgeschichten als Exempel im täglichen Leben beherzigt sein wollten, so schilderte Campe in der Entdeckung von Amerika die Titelfiguren der drei Teile, Kolumbus, Cortez und Pizarro, „in erster Linie wegen ihres exemplarischen moralischen Gehaltes und ihrer darin gründenden Nutzbarkeit“.1666 Nicht als historische Gestalten waren sie von Belang, sondern „hinsichtlich ihrer Tauglichkeit als jugendliterarische Helden“ wie Rüdiger Steinlein hervorhob. HP I, 4f. Etwas lakonischer überliefert BARTELS, Kinderland, S. 419f., die Anekdote. Lesebuch für Kinder, zit. nach BÜRGER, Die Dichotomie von „höherer“ und „volkstümlicher“ Bildung, S. 81. 1662 Dieses und das folgende Zitat: JEISMANN/LUNDGREEN, Handbuch der Bildungsgeschichte, S. 2. 1663 Ebd., S. 3. 1664 Ebd., S. 2. 1665 GROTH, Friedrich Hebbels Jugendjahre, S. 112. 1666 Dieses und das folgende Zitat: STEINLEIN, Joachim Heinrich Campes Die Entdeckung von Amerika, S. 34f. 1660 1661

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Dabei forderten die beiden Konquistadoren durchaus zu kritischer Distanz auf – der Entdecker Kolumbus aber zur vorbehaltlosen Identifikation. Für ihn nimmt Campe eine vorbildliche Mentalität nach aufgeklärtem Muster in Anspruch. Demnach war er „ein Feind von Müßiggehen und von allen den läppischen Possen, die auf nichts Nützliches abzielen, und seine liebste Beschäftigung war, etwas zu lernen, wodurch er seinen Nebenmenschen künftig einmahl nützlich werden könnte.“1667 Bewußt werden die lauschenden bzw. lesenden Kinder – „Gottlieb! Kristel! Konrad! John!“1668 und Friedrich – vom Erzähler in ihrer Lebenssituation ‚abgeholt‘, bevor sich der Blick auf das weitere Ergehen des Kolumbus richtet: Man sagte ihm: wenn er die Wissenschaften erlernen wolle, so müsse er sich zuerst mit der lateinischen Sprache bekannt machen, weil in derselben viele nützliche Bücher geschrieben seien; und wer war nun hurtiger darüber aus, als er? In kurzer Zeit hatte er so viel davon gefaßt, daß er nun zu den Wissenschaften selbst geführt werden konnte. Und da hättet ihr sehen sollen, wie gierig er jedes Wort verschlang, das aus dem Munde seiner Lehrer ging! In kurzer Zeit hatte er in der Erdbeschreibung, Meßkunst, Sternkunde und im Zeichnen so erstaunliche Fortschritte gemacht, daß er schon im 14ten Jahre, mit allen, einem guten Schiffsanführer nöthigen Kenntnissen versehen, zur See gehen konnte.1669

Der Rückschluß auf die Zuhörer folgt in direktem Anschluß: Seht Kinder, so haben alle, die einst große und treffliche Männer werden wollten, sich gemeiniglich schon in ihrer frühen Jugend ausgezeichnet, und es ist daher wol ein wahres Sprichwort: was ein guter Haken ist, das krümmt sich bei Zeiten. Freut euch also, wenn ihr euch bewußt seid, daß auch ihr euch jetzt eben so eifrig, wie einst der Kolumbus, zu einer ehrenvollen Laufbahn vorbereitet; denn in diesem Falle werdet auch ihr einst, mit Gottes Hülfe, gewiß zu einem herrlichen Ziele gelangen.

Um zu illustrieren, wie ehrenvoll und herrlich Weg und Ziel sein konnten, brauchte Campe nur „wieder auf unsern Kolumbus zu kommen“, der „seine ersten Seedienste auf dem mittelländischen Meere [that], weil die Schiffahrt seiner Landsleute damahls noch nicht weiter ging.“1670 Und nun stellt der Erzähler etwas in Aussicht, was in der ständisch organisierten, weitgehend statischen Gesellschaft von unerhörter Sprengkraft ist: „Aber das war ein viel zu kleiner Kreis für einen Geist, der von Begierde brannte, etwas zu leisten, das noch kein anderer vor ihm geleistet hatte.“ Hebbels frühe Größenphantasien, die bei Zeitgenossen und Forschern ratloses Erstaunen hervorriefen, konnten hier ihre Nahrung finden. Etwas Unerhörtes, Nie-Dagewesenes zu leisten – diesen Willen seinen Lesern einzupflanzen, war Campes erklärte Absicht. Dabei ging es ihm keineswegs um ein wohliges Nacherleben nach dem Muster rührseliger Trivialromane, im Gegenteil, mit seinem Kolumbus schuf Campe einen „ersichtlich antiempfindsamen Helden“1671 der immer wieder auf schier unüberwindlich CAMPE, Die Entdeckung von Amerika, Teil I, S. 5f. Ebd., S. 3. 1669 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 6. 1670 Dieses und das folgende Zitat: CAMPE, Die Entdeckung von Amerika, Teil I, S. 7. 1671 STEINLEIN, Joachim Heinrich Campes Die Entdeckung von Amerika, S. 37. 1667 1668

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scheinende Hindernisse stößt. „Das ist doch entsetzlich, daß der arme Mann mit seinem herrlichen Plane überall so verkannt wird“,1672 entfährt es einmal einem der kleinen Zuhörer im Buch, was den „Vater“ nur zu der Auskunft veranlaßt: Edle und erhabene Seelen – merkt euch dies, ihr Kinder! – lassen sich von dem Wege, der zu irgend einem preiswürdigen Ziele führt, durch keine, auch noch so große Schwierigkeiten, so lange sie nur nicht ganz unüberwindlich sind, abschrecken. Selbst der Kaltsinn, ja sogar der Undank ihrer Mitmenschen – kann sie zwar wol kränken – aber doch nicht muthlos, nicht unthätig machen.

Franz Christian Dethlefsen hatte den Undank seiner Mitmenschen bereits zu Genüge erfahren und sich allmählich davon muthlos machen lassen; sein Schüler Friedrich war gewarnt und zugleich bereit, höher zu zielen – auf irgend ein „herrliches“ Ziel, das jenseits von Wesselburen, in einer ‚neuen Welt‘ liegen mußte, die er in den gedruckten Büchern entdeckte. Die Ziehkinder des Erzählers und Erziehers Campe waren bereits buchstäblich in diese Welt eingegangen. Der kleine Gottlieb weiß, daß „Vater auch diese Geschichte drucken lassen“1673 wird – samt den Namen seiner kindlichen Zuhörer. Aber warum? Der Erzähler antwortet: Das will ich dir sagen: ich thue es, um euch noch einen Beweggrund mehr zu geben, euch künftig, wenn ihr dieses Haus verlassen, und in die große Welt treten werdet, an allen Orten so aufzuführen, daß Gott und Menschen Freude an euch haben mögen. Gottlieb: Aber was können unsre Namen dazu thun? Vater. Dieses: siehe, Gottlieb, Alles, was ich hier erzählt und mit euch gesprochen haben, wird, sobald es gedruckt worden ist, von einigen tausend Menschen gelesen. Da weiß man denn überall, […] was wir hier im Hause Alles mit euch vornehmen, um gute, geschickte und glückliche Menschen aus euch zu machen. Nun denkt Jeder, der das gelesen hat in seinem Herzen! Das müssen einmahl rechte Männer werden, der Johannes, der Nikolas, der Matthias, der Gottlieb, und wie sie alle heißen! […] Wenn wir doch einmahl Einen davon zu sehen kriegten! Es muß eine rechte Freude sein, so wohlerzogene Menschen zu sehen! Wenn ihr nun künftig einmahl nach Bremen, oder nach Stade, oder nach Ritzebüttel kommen werdet, gleich wird man sich auf allen Straßen, wo ihr euch nur blicken laßt, ins Ohr zischeln: Seht, seht, das ist einer von Campe’s Pflegesöhnen! […] Dann werden alle Menschen mit Liebe und Freundschaft euch zuvorkommen!

Auf diese Weise sind die Kinder auf der Ebene des gedruckten Textes schon untrennbar mit dem Namen des Kolumbus verbunden. Die darin öffentlich bezeugte Kenntnis des Vorbilds verpflichtet sie, diesem auch wirklich nachzueifern. Der abergläubische Namenszauber, der den Namen magisch mit der Person verbindet, wird hier gleichsam durch eine modernere, säkularisierte Form von Schriftgläubigkeit ersetzt. Die ins Buch versetzte Person, kann an „einigen tausend“ Orten wieder daraus hervortreten – in Bremen, Stade oder auch in Ritzebüttel, wo sie in ganz anderer Weise betrachtet und geachtet werden wird, als im privaten Umfeld. Der gedruckt gesehene Name wird zum ‚Vor-Zeichen‘ späterer Größe. Auch Hebbel hatte sich 1672 1673

Dieses und das folgende Zitat: CAMPE, Die Entdeckung von Amerika, Teil I, S. 19f. Dieses und das folgende Zitat: Ebd., Teil III, S. 198f.

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dieses Bewußtsein schon früh zu eigen gemacht und bastelte in zarter Jugend an solchem Ruhm: Auf seinem Räuberhauptmann Evolia prangte der eigene „Name gedruckt durch heraus geschnittene und wieder zusammen geleimte Buchstaben.“1674 Die Namen der Freunde Barbeck und Gehlsen verewigte er hingegen unter dem Personal eines Trauerspiels Hedwig (das nach Richard Maria Werners Annahme mit dem Evolia identisch war).1675 Die wirklichkeitssetzende Kraft der literarischen Entscheidung erlebte er ganz unmittelbar; denn die Akteure begannen prompt, aufgrund ihrer Rollenzuschreibungen miteinander zu hadern. Unter der Überschrift Eine Abendscene hielt Hebbel lange später im Tagebuch folgende Erinnerung fest: Barbeck (kommt mit finstrem Gesicht, setzt sich stillschweigend nieder und bläs’t die Dampfwolken. Ich. Was fehlt dir? B. Ich bewundre deine Phantasie. Ich. Wie so? B. Gehlsen, die kleine Kröte, ein Räuberhauptmann! Ein schöner Räuberhauptmann! Ich. Er bat darum. B. Wenn Einer von uns die Ehre haben soll, so sehe ich nicht ab, warum der Räuberhauptmann nicht Barbeck heißen soll. Ich. Ich hab’s ihm schon versprochen. B. So laß wenigstens irgend einen wälschen Räuber Barbeck heißen. Ich. Meinetwegen. Geh’ selbst zu Gehlsen und zeichne Dich in’s Manuscript. Er zeichnete sich ein: Johann Nicolaus Barbeck. (in ein damaliges Trauerspiel nämlich) [T 214].

Wenn Gehlsen und Barbeck „sich prügelten, weil der Eine in Hedwig Räuberhauptmann war, der Andre nicht“ [W 15, 19], dann spielte der uneigentliche Charakter der literarischen Rede für sie keine Rolle – was ihnen als leibhaftigen Bühnenakteuren auch nicht zu verdenken war. Doch während Barbeck mit finsterer Miene nur „Dampfwolken“ aus seiner Pfeife blies1676, konnte Hebbel daran insgeheim die Autorität der Autorschaft, die ‚schöpferische‘ Macht der Literatur fühlen.1677 Deswegen fixierte er die an sich unbedeutende Episode 1836 im Tagebuch und erwähnte sie später nochmals in den Notizen zur Biographie. Für diese Haltung finden sich weitere Belege: Nach dem Tod der Mutter versprach er: „Ich will ihr Andenken bekleiden mit dem höchsten Schmuck der Poesie“ [WAB 1, 241]. Seinen Bettnachbarn im Hause des Kirchspielvogts Mohr, den Kutscher Christoph, porträtierte er noch in Mutter und Kind in der Gestalt des gleichnamigen Bedienten.1678

W 15, 10. Nochmals: W 15, 14. Vgl. die Anmerkung Werners in W 15, 19. 1676 Zum Rauch bzw. „Dampf“ als volkstümlicher Metapher für geistige Tätigkeit vgl. oben die Abschnitte über die rauchende „Jungfer Susanna“ und die Interpretation des Theetopf. 1677 Im übrigen verewigte Hebbel durchaus Figuren aus seinem Umkreis in seinen Werken. So sollte in dem (nicht realisierten) Roman Der deutsche Philister das ganze „liebe Dithmarschen […] seinen Denkstein erhalten und Herr Mohr desgleichen“ [WAB 1, 56]. Vgl. auch WAB 1, 58. 1678 Vgl. dazu WAB 3, 60. 1674 1675

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Schon aus der schriftlichen Form ergab sich eine Eigen-Existenz des Textes, die über bloße Symbolik hinausging, indem er die Wirklichkeit zu konterkarieren, zu überhöhen oder zu überholen vermochte. Diese Meta-Ebene wurde in Lichtwers Vier Büchern Äsopischer Fabeln nicht nur bildhaft inszeniert, sondern stellenweise zur Selbstreflexion der Literatur ausgestaltet – dadurch hob sich dieses frühe Lieblingsbuch Hebbels deutlich von den rein moralpädagogischen Lese- und Jugendbüchern ab. Dies entsprach durchaus dem literarischen Rang der Fabel im 18. Jahrhundert, die seit Gottsched für sich in Anspruch nehmen konnte, „das Hauptwerk“, „der Ursprung und die Seele der ganzen Dichtkunst“1679 zu sein. Über die allegorisch-darstellende Funktion hinaus gewährte der Anspruch der Fabel, „anders zu sprechen, als man spricht“ die Möglichkeit zur einer „Verselbständigung“,1680 die Helmut Arntzen als „ästhetische[n] Vorgang“ ansprach. In seinem Aufsatz Lehrt die Fabel? führte Arntzen aus, die Fabel könne „als einer der Ursprünge der Literatur verstanden werden […], insofern sie Rede, dialogische Rede, Tierrede darstellt. Alle Literatur ‚handelt‘ ja vom Sprechen, und zwar davon, daß alles spricht.“1681 Dieserart begegnen sich alle Wesen in der ‚trans-skribierten‘ Sprache wie in einem Spiegel. Auf das Sprechen beziehen sich bei Lichtwer vor allem die Vorreden zu den einzelnen „Büchern“. Der Text beginnt: „O Muse! die du weißt, was Tier und Bäume sagen, […] ich bitte, sage mir, wie reden Löw und Maus? […] was denkt der volle Mond? […] Wie redet die Natur?“1682

Die in Poesie übersetzte Sprache der Natur, die Rede der Tiere wurde in der Fabel zum Ausgangspunkt doppelbödiger Weltdeutung und literarischer BewußtseinsErweiterung einer ganzen Epoche. Wieviel dieses Modell noch dem herangewachsenen Hebbel bedeutete, zeigt seine merkwürdige Kritik zu dem Aufsatz: „über die Geisteskräfte der Thiere“ von Schwabe, die er 1835 als Schüler des Hamburger Johanneums und Mitglied des „Wissenschaftlichen Vereins von 1817“ verfertigte. Was er dort vortrug, liest sich wie eine ‚Rettung‘ von Lichtwers Poetologie der Tierfabel nicht nur vor dem Vorwitz des Mitschülers, sondern auch vor dem aufkeimenden naturwissenschaftlichen Weltbild des 19. Jahrhunderts. Danach dürfe man „einzig und allein aus dem Mangel der Sprache“ nicht schließen, daß die Tiere keine „[h]öhere[n] Geisteskräfte“ besäßen. Schließlich „könnte das Thier ein solches Medium […] besitzen und die Wahrnehmung desselben nur außerhalb unseres Kreises liegen“ [W 9, 29]. Hebbel hält es sogar für möglich, daß dem Tier von Natur aus eine „höhere“ [W 9, 29] Stufe als dem Menschen zugewiesen sei. Die Sprache der Tiere gilt also als unmittelbarer Ausdruck der Natur; wogegen die instrumentalisierte menschliche Alltagskommunikation diese Qualität eingebüßt habe. Denn „unsere Sprache deutet eher auf einen Mangel unseres Ichs, als auf einen Vorzug desselben hin“ [W 9, 28], schreibt Hebbel. Sein aus kritischem Denken gewonnenes Fazit findet umstandslos Anschluß an die Poetik

Zit. nach ARNTZEN, Lehrt die Fabel?, S. 75. Dort auch das folgende Zitat. Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 77. 1681 ARNTZEN, Lehrt die Fabel?, S. 80. 1682 LICHTWER, Blinder Eifer schadet nur, S. 5. 1679 1680

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Lichtwers. „Jedes Wesen gibt uns Lehr und Unterricht“,1683 indem es den poetisch vermittelten Freiraum einer „Welt“ für sich eröffnet – „hier gilt, was Menschen Witz von einer andern Welt [/] nur jemals im Gehirn sich möglich vorgestellt.“ In Lichtwers Fabel Der Satirenschreiber verteidigt sich in der Protagonist: „Der Trieb, den Gott in jedem schuf, [/] ist ein natürlicher Beruf.“1684 Der berufene Schriftsteller ist befähigt, die Natur-Lehre zu empfangen und weiterzugeben: Auch durch ihn redet die Natur, obwohl oder weil er sich der avancierten Kulturtechnik der Schriftlichkeit bedient. Diese Bindung verleiht der Dichtkunst zugleich eine geistige Autorität, wenn sie auch in dieser – verkehrten – Welt wenig geachtet wird. Daß die poetische Welt anderen Prinzipien folgt, als die reale, zeigt sich bei Lichtwer zuallererst am Dichter selbst: Der Vorsicht Weisheit zeiget sich vom kleinsten Wesen bis zum größten, sie nährt die Dichter kümmerlich, warum? Da singen sie am besten.1685

Ob tatsächlich „des Körpers schlechtes Kleid [/] erhabner Geister Trefflichkeit“1686 mehre, wie es in Die Nachtigall und der Gimpel heißt, kann dahingestellt bleiben. Doch läßt gerade dieser dialektische Gegensatz die rhetorische Deutungsmacht der Poesie gegenüber der prosaischen Realität um so deutlicher hervortreten. Darum kann es den Satirenschreiber auch wenig anfechten, wenn er von der Menge angepöbelt wird: „Ein jeder Tor will jetzt philosophieren“.1687 Er setzt dem kühn ein anderes Bild entgegen: „Der Priester predigt euch in ungebundner Rede, [/] und meine Predigt ist gereimt“. Ein ungelehrter Satirenschreiber, der einem geistlichen Würdenträger den Rang streitig macht – dies war schon Franz Christian Dethlefsen aus der Seele geschrieben. Zugleich liest sich die Sentenz wie die Rollenvorgabe für Hebbels Fehde mit dem Ordinger Pastor Dieckmann im Ditmarser und Eiderstedter Boten, die in der satirischen Tierfabel Zwei Lästerern zur letzten Antwort1688 ihren zweifelhaften Höhepunkt fand. Die poetologische Reflexion in Lichtwers Fabeln bot also ein Modell an, die Größenphantasien, für die in der vorgefundenen Realität kein Platz war, explizit auf die ‚andere‘ Wirklichkeit der Poesie zu projizeren. ‚Gedichtet‘ hatte Friedrich schon lange: „Seit meiner frühesten Jugend hat mich eine unsichtbare Macht getrieben, dasjenige, was ich jemals gedacht, gefühlt und geträumt, in Reimen und Versen zu verkörpern“ [WAB 1, 16], schrieb er neunzehnjährig mit dem hochtrabend-geheimnisvollen Verweis auf eine transzendentale Berufung an Ludwig Uhland. Dennoch habe er bis „in mein 14tes Jahr […], obwohl ich Verse machte, keine Ahnung gehabt, daß ich für die Poesie bestimmt seyn könne“ [T 134]. Stand er bis dato „in einem Verhältniß zur Poesie, wie zu meinem Gott, von dem ich wußte, daß ich ihn in mich aufnehmen, aber ihn nicht erreichen könne“ [T 134], so Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 93. Hervorhebung C. S. Ebd., S. 59. Hervorhebung C. S. 1685 Ebd., S. 10. 1686 Ebd., S. 106. 1687 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 59. 1688 Königlich privilegirter Dithmarser und Eiderstedter Bote. 21.6.1832. Auch in: DjH II, 99. 1683 1684

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waren die etwa in diesem Alter rezipierten Fabeln Lichtwers geeignet, ihm Aufklärung auch über die Bedeutung von Autorschaft zu geben. Weniger der überwältigende Eindruck religiöser Texte, wohl aber die selbstreflexiven Passagen lehrhafter Gebrauchsliteratur machten es theoretisch denkbar, „mit einem Dichter zu wetteifern“ [T 134]. Von der Konkurrenz der Dichter handelte explizit Lichtwers Stück Der Autor und der Mandarin. Darin wurde einem zitierwütigen Pedanten nur ironisch Lob für seine Bücher gespendet – denn aus ihnen wisse man nun, wie viele unwichtige Bücher es doch gebe. Die satirische Wendung samt gestelzter Rhetorik war nicht leicht nachzuvollziehen. „Man zweifelt, ob der Schluß dem Autor bündig schien“,1689 heißt es dann auch noch bei Lichtwer selbst. Der Streit, ob imitatio oder inventio den guten Autor ausmachen, war offenbar noch nicht ausgestanden. Aber nicht erst der Schluß, sondern schon die Überschrift des Gedichts war für den Schüler Hebbel, wie auch für Herrn Dethlefsen ein Rätsel. Kuh berichtet: „Einst fragte er den teuern Lehrer um die Bedeutung des Wortes Mandarin […]. Die Antwort lautete: ‚Ein Mandarin, das ist ein Mann darin!‘ und der Knabe sagte sich, vollkommen befriedigt, im stillen: ‚Herr Dethlefsen weiß alles.’“1690 Mit der Frage nach der Bündigkeit des Schlusses braucht sich nicht aufzuhalten, wen schon die kreative Entschlüsselung der Überschrift „befriedigt“: ‚Der Autor und der Mann darin‘ – Autorschaft und ‚Mannsein‘ gehören zusammen; das unter Handarbeitern verpönte Schreiben wird endlich als ‚männliches‘ Tun anerkannt. Ungeachtet ihrer verqueren Entstehung traf diese Interpretation den Zeitgeist. In diesem Zusammenhang sollte das Lesen zunehmend als ‚weiblich‘, als ‚empfangend‘ apostrophiert werden. Friedrich Kittler meinte über das sich im 19. Jahrhundert etablierende „Aufschreibesystem“: „Die Geschlechterdifferenz fällt also mathematisch genau zusammen mit der Dichotomie von Schrift und Autorschaft einerseits, Stimme und Mütterlichkeit andererseits.“1691 Bisher hatte Hebbel sich über das häusliche Lektoramt profiliert, das er letztlich in Abhängigkeit von Mutters Gnaden ausübte. Irgendwann aber erfolgte die direkte Ablösung des Vorlesens durch das Selber-Schreiben, wie Hebbel in den Notizen zur Biographie festhielt: „Der Trieb, Gedichte vorzulesen, dauerte bei mir nur so lange, bis ich etwas Gutes gemacht. Da hörte er auf“ [W 15, 16]. Der werdende Mann im Kinde darf hoffen, daß auch er der Autorschaft entgegenwachsen wird. Der von Dethlefsen derart gewaltsam ausgelegte Fabeltext stammte freilich noch aus einer anderen Epoche: Vorzeiten hatten die Vier Bücher Äsopischer Fabeln Lichtwers eigenen Dichterruhm begründet – noch Goethe rechnete ihn unter die „besten Köpfe“1692 des 18. Jahrhunderts, einer Zeit, in der ein gestandener „Mann“ auch als Fabelleser noch in Frage kam. Doch kaum daß sich die Gattung „zu literarisch-ästhetischer Selbständigkeit emanzipiert“1693 hatte, sanken die Fabelsammlungen immer mehr zur reinen Kinderlektüre ab. Dieser Prozeß fand seinen abschließenden Ausdruck in Wilhelm Heys 1833 erschienenen Funfzig Fabeln für

LICHTWER, Blinder Eifer schadet nur, S. 76. KUH, Biographie, Bd 1, S. 47. Vgl.: „’Ein Mandarin – Ein Man darin.‘ Herr Dethlefsen weiß Alles.“ [W 15, 11]. 1691 KITTLER, Aufschreibesysteme, S. 86. 1692 Zit. nach WEBER, Lichtwer, S. 270. 1693 ARNTZEN, Lehrt die Fabel?, S. 78. 1689 1690

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Kinder mit kindgerechten Bildern von Otto Speckter.1694 Von dem sozialen Geltungsverlust erholte sich die Gattung nicht mehr. Fast zur gleichen Zeit hatte Hebbel in Lichtwers Buch noch den ‚Autor‘ und den ‚Mann darin‘ studiert. Wenn die Poetik – als die Selbstdarstellung der Poesie, geleitet von der Vernunft als der „Kunst, sich selbst beschaun zu lernen“1695 – Hebbel zuerst aus diesem Buch entgegentrat, dann war dies einmal mehr anachronistisch. Die Art und Weise, wie der brave Dethlefsen durch die Auswahl der Lektüre bei Hebbel „zum gegenwärtigen berühmten Schriftsteller den Grundstein gelegt hat“ [WAB 1, 121], besaß auch ihre skurrilen Seiten.

Hebbels Schulbildung im schulgeschichtlichen Kontext Will man Dethlefsens Beitrag im Rahmen des Wesselburener bzw. Dithmarscher Umfelds gerecht beurteilen, so muß man bedenken, daß während der gesamten Volksschulzeit zumeist das Lesebuch als einziges und universelles Lehrbuch benutzt wurde, wie Ferdinand Bünger 1898 rückblickend in seiner Entwicklungsgeschichte des Volksschullesebuches feststellte: Noch vor 30 – 40 Jahren hatte die Jugend wohl in den meisten Schulen nur ein Buch zum Lesen. Fleißige und begabte Schüler konnten es am Schlusse der Schulzeit fast auswendig; sie fanden sich darin zurecht, wie im Katechismus und Gesangbuch, und weil sie darin heimisch waren und es lieb gewonnen hatten, wurde es […] sorgfältig aufbewahrt, wie ein heiliger Schatz.1696

Generell trat das Lesebuch an die Stelle von Katechismus und Gesangbuch, um mit gleicher Intensität wieder und wieder gelesen zu werden. Der Wesselburener Rektor Dethlefsen bemühte sich demgegenüber redlich, den Horizont seines besten Schülers durch Lektüre in den Nebenstunden nach Kräften zu erweitern – teils gegen den Willen von Claus Hebbel. Waren in Wilmsens Brandenburgischem Kinderfreund Realia und Moralia miteinander vermischt, so entfaltete sich die Weltkenntnis weiter in Pappes periodischen Lesefrüchten und Campes Entdeckung von Amerika, während die moralische Aufklärung in Beckers Noth- und Hülfsbüchlein und Lichtwers Fabeln ihre Fortsetzung fand. Ging es bei Becker darum, den Leser erst zu einem Perfektibilismus-Denken und -Streben anzuhalten, so war Campes Werk bereits geeignet, identitätsstiftende Phantasien eigener Größe zu wecken und zu fördern, die bei Lichtwer erstmals auf die literarische Produktivität selbst gelenkt wurden. Dabei ging es weniger um die Vermittlung eines originär an bestimmte Texte gebundenen geistesgeschichtlichen oder poetologischen Gedankenguts an Hebbel, wohl aber um die Modellierung grundlegender Einstellungen und Verhaltensweisen, um den unsichtbaren „Grundstein“ zum Schriftsteller, um das Bewußtsein, „für die Poesie bestimmt“ zu sein. Die Lektüre

Vgl. ARNTZEN, Lehrt die Fabel?, S. 78. 1978 erschien ein Reprint des Buches. LICHTWER, Blinder Eifer schadet nur, S. 127. 1696 Zit. nach BÜRGER, Die Dichotomie von „höherer“ und „volkstümlicher“ Bildung, S. 84. 1694 1695

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ermöglichte Hebbel den Anschluß an ein modernes Bewußtsein – gegen das dominierende traditionale Milieu, das durch Nichtverstehen und negative Sanktionen den mentalitätshistorischen Bruch zur seelischen Gebrochenheit vertiefen sollte. Zum offenen Konflikt mit dem Vater kam es, als sich Christian Friedrichs Elementarschulzeit dem Ende zuneigte. Etwa um 1825 begann Claus Hebbel, seinen Sohn auf ein späteres Berufsleben vorzubereiten, indem er den Zwölfjährigen als Handlanger mit auf die Baustellen nahm, um ihn in das Maurerhandwerk einzuführen.1697 Dies währte „einige Zeit, ohne daß der Vater trotz Scheltens und ärgerer Zurechtweisungen auch nur das kleinste Merkmal einer Maurerbegabung aus Friedrich hervornötigen konnte“,1698 wie Emil Kuh ausführte. Etwa zur selben Zeit stand ein anderer Wechsel zur Debatte: der Übergang von der Elementar- auf die ‚weiterführende‘ Rektorschule, die Dethlefsen kurze Zeit vorher übernommen hatte. Es bedurfte konspirativer Anstrengungen von Mutter und Lehrer, um die Erlaubnis des Vaters zum weiteren Schulbesuch zu erwirken, wie eine Enkelin Dethlefsens Paul Bornstein berichtete: Aus liebem, nun schon lang verstummtem Mund hörte ich gern aus jenen Tagen erzählen, unter anderem auch, wie einst Frau Antje Margaretha Hebbel mit ihrem Sohne zur Frau Rektor kam und klagte, daß ihr Mann „den dummen Kram“ mit dem Lehrer nicht mehr haben wollte und sie doch so gern möchte, daß aus dem Jungen „etwas würde“. Da zog Frau Christine den jungen Friedrich zu sich heran, tröstete ihn und sprach: „Nicht mehr weinen, es kommt alles schon zurecht!“ [HP I, 10]

In welcher Weise dies „zurecht“ kam, läßt sich aus den dürren biographischen Daten der frühen Jugendzeit Hebbels nicht genauer klären. Doch die ablehnende Haltung des Vaters war nach menschlichem Ermessen berechtigt. Denn worauf sollte die Rektorschule vorbereiten? Einen anschließenden Besuch der Meldorfer Gelehrtenschule konnten die Eltern unmöglich finanzieren. Und zweifelhaft war obendrein, ob Dethlefsens Unterricht überhaupt dafür ausreichen würde. Generell hatten die begonnenen Bildungsreformen zu einer Verunsicherung über den Status von „Rektoratsschulen“, „Mittelschulen“, „Stadtschulen“ und „Bürgerschulen“ geführt. So beklagte Wilhelm Harnisch 1830 „die Unklarheit bei diesen Schulen“,1699 deren Curriculum irgendwo zwischen elementarer und gymnasialer Bildung angesiedelt war. Dieser Unsicherheit verdankte nicht zuletzt der Autodidakt Dethlefsen sein Aufrücken in das Rektorenamt, das früher eine akademische Qualifikation vorausgesetzt hatte. Sah man genauer hin, dann war klar, daß sein Unterricht trotz der für Wesselburen revolutionären Züge mit dem Niveau anderer Schulen, in denen „die Anfänge einer ‚realgymnasialen‘ Bildung“1700 zu erkennen waren, nicht mithalten konnte. So wurden etwa an der Hauptknabenschule in Husum die folgenden Fächer unterrichtet: „Lesen, Deklamation, Geschichte, Geographie, Anthropologie, Naturlehre, Naturgeschichte, Technologie, aus den mechanischen, optischen und astronomischen Kenntnissen das Gemeinnützigste, Gesang, zusammenhängender praktischer Unterricht in der Vgl. KUH, Biographie, Bd 1, S. 46. Ebd., S. 53. 1699 HARNISCH, Die deutsche Bürgerschule, S. 32. 1700 ELKAR, Junges Deutschland, S. 143. 1697 1698

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Religion, von den lebenden Sprachen die dänische und, wenn es sein kann, auch die französische“.1701 In Nebenstunden wurden noch „Englisch, Französisch und die ‚Anfangsgründe der lateinischen Sprache’“1702 angeboten. Der Übergang von der Bürgerschule auf die Universität stand, so Rainer S. Elkar, „durchaus offen, wenn der Schüler über die sprachlichen Grundanforderungen im Lateinischen und Griechischen verfügte, was durch Zeugnisse eines Lehrers oder Pastors nachzuweisen war.“ An diese fachliche Breite bzw. Tiefe war in Wesselburen gar nicht zu denken; der MusterStundenplan, den Dethlefsen 1837 dem Generalsuperintendenten Herzbruch aushändigte, umfaßte im Sommerhalbjahr nur Lesen, Schreiben, Rechnen und Religion, dazu lediglich im Winterhalbjahr wöchentlich zwei Stunden Geschichte, sowie je eine Stunde Physik, Naturgeschichte, Anthropologie, Geographie, Physik und Technologie.1703 So dürftig die Stundendotation an sich war, so fraglich blieb ihre Ausfüllung. Über das Fehlen weiterer Fächer halfen weder der gelegentliche Zeichenunterricht Hebbels beim Maler Harding noch der zeitweilige Lateinunterricht von 1832 bis 1833 bei Heinrich Schacht, einem Wesselburener Jugendfreund, hinweg.1704 Gerade die Unkenntnis der alten Sprachen vereitelte später Hebbels Versuch, mit 23 Jahren noch einen gymnasialen Schulabschluß nachzuholen. Insofern führte nach dem Abbruch der Maurerlehre trotz des weiteren Schulbesuchs bis 1829 kein Weg um eine konkrete berufliche Entscheidung herum – doch die Situation mündete in eine Phase beruflicher Desorientierung. „Bald hieß es, Friedrich solle Kaufmann werden, bald Postschreiber, aber nichts von dem wollte ihm gefallen. Durch kleine Botendienste, die er versah, brachte er einige Groschen wöchentlich in die Wirtschaft: er trug Briefe und Wochenblätter für einen Postbeamten aus.“1705 Wie schon am Beginn der Elementarschulzeit standen der Verfinsterung der häuslichen Lebensumstände die ‚lichteren‘ Aussichten gegenüber, die Hebbel mit der Schule und insbesondere mit der Lektüre verband. Statt praktischer Arbeit widmete er sich immer mehr dem extensiven, zunehmend selbständigen Lesen: „Die meiste Zeit freilich saß er hinter seinen Büchern und letzte sich an der ärmlichen Geisteskost aus Dethlefsens Küche“, berichtete Emil Kuh. In dieser Phase spitzten sich die Konflikte mit dem Vater zu; selbst als dieser „am Sonnabend, Abends um 6 Uhr […] im Sterben lag“ [T 483], hatte der Sohn ihn „am Freitag zuvor noch geärgert“. Wenn der schulische Fächerkanon insgesamt zu schmal war, so erfuhr Hebbels Lektürekanon gegen Ende seiner Schulzeit eine gewaltige Erweiterung. Durch Dethlefsen gewann er immerhin noch den Anschluß an die Lyrik der Empfindsamkeit, wie aus den Notizen zur Biographie hervorgeht: „Salis. Matthisson. Bei Dethlefsen. Die vergilbten Ex.“ [W 15, 11]. Als „Schüler bei Dethlefsen“ las Hebbel unter anderem auch „die Steine [recte: Sterne] aus L. Brachmann“ [W 15, 7], ein „nicht üble[s] Gedicht […] mit etwa Hölty-Matthissonschem Empfinden“ [DjH I, 254], wie Zit. ebd., S. 142. Vgl. auch den Fächerkanon für die höhere Bürgerschule bei SCHWARZ, Die Schulen., S. 89. 1702 Dieses und das folgende Zitat: ELKAR, Junges Deutschland, S. 143. 1703 Vgl. DETHLEFSEN, Lectionstabelle. LA S-H, Abt. 19, 111/1. 1704 Vgl. WAB 1, 14. 1705 Dieses und das folgende Zitat: KUH, Biographie, Bd 1, S. 54. 1701

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Paul Bornstein meinte. Die Gedichte Schillers1706 nahm Hebbel bekanntlich mit auf die Baustelle – dessen prägender Einfluß bedarf hier keiner Erläuterung. Zschokkes Abällino, an den Hebbel geriet, nachdem Dethlefsen das Buch ausgelesen hatte, begründete eine Schwäche für die Räuberromantik, die auch in den Produktionen Mirandola und Die Räuberbraut von 1830 bzw. 1832 mitschwang.1707 Außer dem Don Quijote las er am Sterbebett des Vaters Novellen des Romantikers Carl Wilhelm SaliceContessa: „Todes-Engel; Gastmahl; schwarzer See u. s. w.“, bei denen „das Gespenstische, Beklommene, einen starken Eindruck auf mich machte“.1708 Diese Literatur hatte sich von den bürgerlich-aufklärerischen Texten weit entfernt; sie war zweckfrei und autonom geworden. Als Hebbel zu Ostern 1829 – der Ostersonntag fiel auf den 6. April – mit sechzehn Jahren aus der Schule Franz Christian Dethlefsens entlassen wurde, kannte er sich mit Banditen, Räubern und schönen Seelen vortrefflich aus – seine ‚realen‘ Kenntnisse hingegen kamen mit denen eines Schülers der Meldorfer Gelehrtenschule oder eines Abgängers von der Husumer Bürgerschule bei weitem nicht mit. Die Bedeutung, wie die Begrenztheit von Dethlefsens Unterricht wird aber gerade auch an dem Fach faßbar, das zur damaligen Zeit eine zentrale Rolle erlangte: dem muttersprachlichen, insbesondere dem grammatischen Unterricht, dem in den Schulreformen des 19. Jahrhunderts die Aufgabe zukam, „Denklehre“1709 an sich zu sein. Dem lag die Annahme zugrunde, daß „zwischen Sprache und Logik ein ursprünglicher Zusammenhang besteht, dergestalt, daß beide den nämlichen Gesetzen gehorchen.“1710 Die Grammatik sollte die Schüler „zu begrifflicher Ordnung und zur Klarheit logischen Denkens“ erziehen;1711 Hegel galt sie als „elementarste Philosophie“.1712 Auch Franz Christian Dethlefsen hatte auf die Grammatik sein besonderes Augenmerk gerichtet, wie aus wiederholten Äußerungen Hebbels gegenüber Emil Kuh hervorgeht: „‘Niemand als der alte Dethlefsen‘, sagte der Dichter häufig, ‚hat mir die grammatikalische Gewissenhaftigkeit eingepflanzt, die Sorgfalt im Gebrauche des Worts als unzerstörbares Fundament in mir gelegt!’“1713 Paul Bornstein würdigte am jungen Hebbel, daß […] hier ein deutscher Dichter, in durchaus platt sprechender Umgebung aufgewachsen, sich des Hochdeutschen in Sprache und Schrift erst bemächtigen mußte. […] Daß er mit Kraft und einer von Klaus Groth zu Recht bestaunten Schnelligkeit sich vollzog, daß Hebbel von Anbeginn die Sprache und in ihr das Werkzeug seiner Kunst mit geziemender Gewissenhaftigkeit und Sicherheit bis in ihre syntaktischen Feinheiten gebrauchen und beherrschen lernte, das dankte er dem alten Konrektor Dethlefsen [DjH I, IX].

Vgl. FRICKE, Hebbel und Schiller, S. 6. Vgl. DjH I, 269. 1708 T 2476, vgl. auch W 15, 9. 1709 FRANK, Geschichte des Deutschunterrichts, S. 156. 1710 Ebd., S. 155. 1711 Ebd., S. 156. 1712 Zit. nach JEISMANN/LUNDGREEN, Handbuch der Bildungsgeschichte, S. 194. 1713 KUH, Biographie, Bd 1, S. 46f. Vgl. etwa: „Dethlefsen: ob und binnen“ [W 15, 12]. 1706 1707

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Dessen Unterricht ging damit wiederum weit über das hinaus, was in den einfachen Volksschulen gelehrt wurde. Lesebücher wie der Brandenburgische Kinderfreund verfügten beispielsweise nicht über einen „eigenen Gegenstandsbereich ‚Sprache’“.1714 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts traten jedoch bereits ABC-Bücher auf, die den Leseunterricht „von der sprachlich-grammatischen Seite her“ 1715 angriffen und einem „Formalismus“ folgten, dem „jede Rücksicht auf die kindliche Mentalität“ fehlte. Der Pädagoge Karl Eduard Philipp Wackernagel warnte in seinem Buch Der Unterricht in der Muttersprache (1843) vor diesem zweifelhaften Fortschritt und wandte ein, daß man ein „gründliches grammatisches Studium der deutschen Muttersprache […] unmöglich vor dem vierzehnten, funfzehnten Jahre beginnen“1716 könne. Für Hebbel kamen solche Überlegungen zu spät, hatte er sich solche Normen doch denkbar früh durch eine denkbar ungeeignete Lektüre angeeignet. Er selbst schrieb darüber im Tagebuch: Wie schlimm auf den Menschen Regeln, die ihm zu einer Zeit, wo er von der Sache noch Nichts versteht, über die Sache gegeben werden, wirken können, erfahr’ ich an mir mit Bezug auf die Sprache. In irgend einer pedantischen deutschen Grammatik las ich in meinen frühsten Knabenjahren, es sey äußerst fehlerhaft und verwerflich, ein hat, sey, ist pp. am Schluß eines Satzes, dem solch ein Schwänzchen zukomme, auszulassen. Ich prägte mir das um so bereitwilliger ein, als ich eben so weit war, daß ich das Hülfsverbum so, wie etwa ein Unterofficier ein Bataillon, commandiren konnte. Längst hab’ ich mich davon überzeugt, daß nicht allein der numerus des Styls das Kappen dieser abscheulichen Schlepptaue gar oft verlangt, sondern daß die deutsche Sprache überhaupt, je weiter sie sich selbst in ihrer Grazie verstehen lernt, manche Zeiten ihrer Hülfsverba ganz und gar, und manche in unendlich vielen Fällen in den Ruhstand versetzen wird. Dennoch laß’ ich noch immer kein hat, ist pp. ohne ein inneres Mißbehagen aus. [T 653]

In Norderdithmarschen fand die Sprachlehre generell erst „auf der Oberstufe“1717 Berücksichtigung; aber auch dort „zu äußerlich und zu wenig planmäßig“,1718 wie Ernst Erichsen monierte: „Ihr Gegenstand war besonders das Ding-, Tätigkeits-, Verhältnis- und Eigenschaftswort, die Satzlehre und die Zeichensetzung. Als Glanzleistung pflegten die Lehrer bei Schulprüfungen einen Gesangvers zu zergliedern und 9 Wortarten bestimmen zu lassen“,1719 doch „über Aneignung zusammenhangloser und mechanischer Fertigkeiten gelangten die Schüler kaum irgendwo hinaus.“1720 Schon Wackernagel kritisierte das Vorgehen nach der „alten Methode, welche die Regeln in keinen logischen Verband schließt, sondern als Aggregat von Imperativen an die Schüler bringt“.1721 Die „Verstiegenheit der rationalistischen Pädagogik“1722 war leider auch an Franz Christian Dethlefsen zu beobachten. In der Schulvisitation von 1833 RUDLOFF, Einleitung, S. XII. Dieses und die folgenden Zitate: WILLKE, ABC-Bücher, S. 144. 1716 WACKERNAGEL, Der Unterricht in der Muttersprache, S. 27. 1717 ERICHSEN, Schulgeschichte der Landschaft Norderdithmarschen, S. 200. 1718 Ebd., S. 238. 1719 Ebd., S. 200. 1720 Ebd., S. 238. 1721 WACKERNAGEL, Der Unterricht in der Muttersprache, S. 35. 1722 Ebd., S. 31. 1714 1715

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wurde bemängelt, er „plag[e] seine Schüler in dem Unterricht in der deutschen Sprache mit allen lateinischen Kunstwörtern“.1723 Die beherrschte sein Schüler Hebbel auch als Erwachsener noch nicht sicher. In dem Apercu: „Der Deutsche ist der geborene Infinitiv. Er läßt sich decliniren.“ [T 1043], wird die Pointe gleich durch zwei Fehler beeinträchtigt: Nicht „Infinitiv“, sondern „Verbum“ müßte es heißen, um die zu beugende Wortart zu bezeichnen, die sich nicht „declinieren“, sondern „konjugieren“ läßt. Die „grammatikalische Gewissenhaftigkeit“ hatte Hebbel jedoch tief verinnerlicht. Als der Lateinschüler 1835 die Deklination von „ille, illa, illud nicht behalten konnte“ [T 97], stieg in ihm auf der Hamburger Lombardsbrücke sogar „der Selbstmordgedanke“ [W 15, 15] auf. Und der Reisestipendiat fluchte 1844 in Paris: „Hätte ich mich so gleich im October vor[igen] Jahres über einen interessanten Roman her gemacht, statt mich mit der Grammatik abzuquälen, ich würde fertig Französisch gelernt haben!“ [T 3172] Später bekam Emil Kuh als Kopist von Texten Hebbels diese Eigenschaft seines Meisters in Gestalt von „Zurechtweisungen oder Scheltworten“1724 zu spüren: „auf jede falsche Interpunktion stieß er herab, murrte und schalt weidlich“. Doch damit nicht genug: Auf ähnliche Art ging er mit meinen eigenen Aufsätzen ins Gericht, deren ich ihm viele, ehe sie gedruckt wurden, vorlegte, und zwar meistens auf seinen ausdrücklichen Wunsch. Einige meiner Beiträge für das unter seiner Leitung stehende Feuilleton der Reichszeitung (1850), hatte er sogar von der ersten bis zur letzten Zeile umgeschrieben. […] Bei schlechter Satzbildung, grammatikalischen Schnitzern setzte es „liederliche Österreicher“ und „zuchtlose Wiener“ zur Genüge. Kein Handwerksmann in Dithmarschen, meinte er einmal, werfe so, wie ich, die Zeilen [recte: Zeiten] durcheinander! Schon bei seinem alten Lehrer Dethlefsen habe er den Konjunktiv richtig zu gebrauchen verstanden. „Warum mit einem Male im Präsens erzählen?!“ herrschte er mich einst an, „deucht Ihnen dieser Passus so wichtig? Unsereiner würde episch weiterberichtet haben, Sie jedoch, als vornehmer Herr, inkommodieren mir nichts dir nichts die dramatische Redeform!“1725

An den stilistischen Änderungen des erfahrenen Dramatikers war sicherlich nicht zu rütteln – wobei der Hinweis auf den Lehrer Dethlefsen wohl eher der Pietät geschuldet war. Auffällig ist jedoch, daß Hebbel sich gebärdete wie der Typ des philologischen Pedanten aus dem 18. Jahrhundert, von dem es spöttisch hieß: „Über jeden Schnitzer wider die Grammatik konnte er sich so ärgern, daß er das Podagra bekam“.1726 Bei Schülern waren oft „die ersten Verse eine direkte Folge des gelehrten Sprachunterrichts“,1727 nach dessen Kriterien sie beurteilt wurden. Stil- und Deklamierübungen dienten der Nachahmung gültiger Vorbilder. Inwieweit Hebbel in ihren Genuß kam, ist nicht überliefert. Eduard Philipp Wackernagel warnte allerdings davor, Generalkirchenvisitation des Generalsuperintendenten Adler am 7.8.1833. LA S-H, Abt. 19, Nr. 75. 1724 Dieses und das folgende Zitat: KUH, Biographie, Bd 2, S. 455. 1725 Ebd., S. 456. 1726 MARTENS, Von Thomasius bis Lichtenberg: Zur Gelehrtensatire der Aufklärung, S. 14. 1727 STÜSSEL, Poetische Ausbildung und dichterisches Handeln, S. 267. 1723

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Knaben vor „dem funfzehnten, sechzehnten Jahre“1728 zu geistiger Produktion anzuleiten: „Freie geistige Productionen vor dieser Zeit zu erzwingen“, meinte er, wäre „gerade so sündhaft, als […] durch unnatürlichen Reiz den leiblichen Geschlechtstrieb erregen […]. Man verrückt alle Verhältnisse.“ Solche Bedenken hatte Lehrer Dethlefsen offenbar nicht: Er trug seinem besten Schüler auf, dem Herrn Kirchspielvogt Mohr – wohl zum 27.12.1827 – ein Geburtstagsgedicht nicht nur eigenhändig zu überbringen, sondern auch erst zu verfassen. „Der bedankte sich und lobte die saubere Schrift“, berichtete Paul Bornstein: „Dann las er das Angebinde und konnte die Frage nicht unterdrücken, von welchem Dichter er die Verse abgeschrieben hätte. Natürlich schenkte Mohr den Worten des Jungen keinen Glauben, und erst eine Vorfrage bei Rektor Dethlefsen brachte ihm Gewißheit“ [HP I, 4]. Auch wenn Bornstein es als „Frucht dieser Verse“ [HP I, 4] ansah, daß Hebbel bei Mohr als Botengänger und später als Schreiberlehrling Beschäftigung fand, so ist doch schon diese erste Begegnung von einer tiefen Irritation geprägt: Aus dem vermeintlichen Abschreiber hatte Dethlefsen bereits einen Selbst-Schreiber gemacht und wider alle Erwartbarkeit die ‚Verhältnisse verrückt‘. Aufgrund der offenkundigen Unausgewogenheit von Hebbels schulischer Bildung wird die zwiespältige Bewertung Dethlefsens verständlich. Der Eindruck drängt sich auf, als habe der Lehrer Friedrich für eine spätere akademisch-bürgerliche Karriere in der Tat kaum die „allerdürftigsten Kenntnisse“ [WAB 1, 15] mitgeben können. Doch damit kontrastiert die erstaunliche ‚Bewußtseins-Bildung‘ durch Sprachlehre und Literatur, die jeder konkreten Berufsperspektive weit enteilt war und tatsächlich den „Grundstein“ zum späteren Schriftsteller legte. Die angesichts des Wesselburener Milieus wiederum erstaunlichen Modernisierungsprozesse in Mentalität, Selbstbewußtsein und Medienkompetenz ließen sich aus der nur vermeintlich „höchst dürftigen Lectüre“ [WAB 1, 456] sehr genau rekonstruieren. Zu Recht bezeichnet Adrian Hummel Hebbels Leseverhalten „als integrale[n] Bestandteil emanzipatorischer Identitätsbildung“.1729 Doch ist hier zu differenzieren: Wenn Hummel es zugleich „als Mittel des sozialen Aufstiegs und intellektueller Selbstfindung dekodiert“, dann ist zunächst einmal der Begriff der ‚intellektuellen‘ Selbstfindung zu eng gewählt. Der tiefgreifende Wandel, den Hebbel in seiner Schulzeit durchläuft, bezieht sich auf die elementaren Kulturtechniken ebenso wie auf seine gesamte Mentalität, und keineswegs nur auf den geistig-gedanklichen Bereich. Diese, von Hebbel selbst durchaus auch ‚erlittene‘ Entwicklung darf darüber hinaus nicht mit zweckhaftem bürgerlichen Streben verwechselt werden. Sozialer Aufstiegswille durfte sich auf extensive Lektüre von Romanen und Gedichten gerade nicht berufen – nicht umsonst überließen sogar die gymnasialen Lehrpläne „die Werke der deutschen Dichtung vielerorts zunächst einer kontrollierten Privatlektüre“.1730 Hebbel löste sich von traditionalen Denkweisen, Moralvorstellungen und Gefühlswelten, wie sich etwa auch an der Emanzipation des Predigtlesers von der zuhörenden Mutter zeigen ließ. Wozu dies führte, war aber in WACKERNAGEL, Der Unterricht in der Muttersprache, S. 26. Dieses und das folgende Zitat: HUMMEL, „Mein Buch ist wie eine Feuerkohle in der Tasche“, S. 40. 1730 FRANK, Geschichte des Deutschunterrichts, S. 260. 1728 1729

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keiner Weise abzusehen: Auch wenn er seit seinem vierzehnten Lebensjahr zu ahnen begann, „daß ich für die Poesie bestimmt seyn könne“ [T 134], so ließ die damit verbundene soziale Randständigkeit wenig hoffen. Für Lichtwer war dies sogar eine Einrichtung der Vorsehung – sie „nährt die Dichter kümmerlich“.1731 Vorerst führte Hebbels Weg nur in eine splendid isolation, die sich allenfalls pseudo-religiös oder quasimagisch überhöhen ließ. Hieraus bereits resultierte Hebbels schiefes Verhältnis zu seiner Umwelt, der tiefe Zwiespalt zwischen Wollen und Können, den die Biographik gemeinhin in der späteren Schreiberzeit verortete und wofür sie als Hauptschuldigen Hebbels Dienstherrn, den Kirchspielvogt Mohr, verantwortlich machen zu können glaubte. Auch wenn Hebbels Aufzeichnungen aus meiner Kindheit mit dem siebten Lebensjahr abbrechen, hat sich gezeigt, daß die Quellenlage über die Schulzeit zwischen 1820 und 1829 keineswegs so unergiebig ist, wie man aus der weitgehenden Vernachlässigung dieses Zeitraums durch die Forschung annehmen könnte. Die ‚dichte‘ Interpretation – und teilweise auch Interpolation – biographischer, kultur- und schulgeschichtlicher Quellen hat im Gegenteil ein konsistentes Bild ergeben. Die große ‚seelische Kränkung‘ Hebbels ist ursächlich weder im finanziellen Bankrott des Vaters zu suchen noch auf das Verhalten des Kirchspielvogts Mohr zu verschieben. Sehr viel spricht dafür, daß der durch die schulische Kulturisation und Sozialisation bewirkte Modernisierungsschub den Bruch mit der weitgehend in traditionalen Strukturen verharrenden Umgebung brachte, ohne daß dies schon ein ‚Durchbruch‘ in eine neue Existenzform sein konnte – wie dies auch am tristen Schicksal des Lehrers Franz Christian Dethlefsen abzulesen war. Hierin mag ein Grund dafür liegen, daß Hebbel seine Autobiographie mit dem Ende der Klippschulzeit abbrach und über die Jahre der Knabenzeit ein auffallendes Schweigen breitete. Erst mit der Aufnahme in das Haus des Kirchspielvogts Mohr beginnen die Quellen wieder zu fließen – in Gestalt von Briefen und ersten Veröffentlichungen, später in Erinnerungen, Abrechnungen und Reflexionen.

1731

LICHTWER, Blinder Eifer schadet nur, S. 10.

6. BEIM KIRCHSPIELVOGT MOHR

Das verkaufte Kind Als am 10. November 1827 Claus Hebbel starb, befand sich seine Familie mehr denn je in einer existentiellen Notlage. Die Witwe konnte nicht für sich und die beiden Söhne gleichzeitig sorgen. Zwar war Friedrich „schon seit langem in dem Hause des Kirchspielvogts Mohr zu manchen kleinen Verrichtungen verwendet“1732 worden, doch war „mit den Botengängen nicht genug zu verdienen“.1733 Der mit dem Tod des Vaters verbundene familiäre und soziale Einschnitt war weit radikaler als der frühere Verlust des eigenen Hauses, der zum Umzug in eine Mietwohnung genötigt hatte. Jetzt wurden der Familie sogar die unmittelbaren Lebensgrundlagen genommen: Der Sarg mußte „durch den Wintervorrat an Kartoffeln“1734 bezahlt werden; „zur Deckung der Leichenkosten verkaufte man Hausrat“. Richard Maria Werner resümiert lapidar: „Das bisherige Leben fortzusetzen, war ausgeschlossen“. Nun löste sich die Familie auch als Wohngemeinschaft auf – einer der Söhne mußte aus dem Haus: Hebbels ‚Familienroman‘ endet abrupt genau dort, wo sonst Märchen wie das von Hänsel und Gretel beginnen. Doch hatte man sich von familiärem Ballast ja auch schon früher rigoros getrennt – so war der kleine Halbbruder Hans Friedrich ins Armenhaus gesteckt worden; sonstige überflüssige ‚Fresser‘, wie der Haushund Caro wurden schlicht fortgejagt.1735 Nun verfuhr Mutter Hebbel mit dem älteren ihrer beiden Söhne im Prinzip ähnlich: Es traf sich gut, daß wenige Wochen nach dem Tod ihres Gatten der Kirchspielvogt Johann Jakob Mohr, der erst seit gut anderthalb Jahren im Amt war, am 27. Dezember 1827 seinen 29. Geburtstag beging. Geschickt nutzte Antje dessen Ehrentag, indem sie ihren Friedrich, wohl vermittelt durch Lehrer Dethlefsen, eine selbstgereimte Geburtstagsadresse an den Kirchspielsgewaltigen vorbringen ließ. Hinter der schönen Geste verbarg sich ein handfestes Überlassungsangebot: Wenn Mohr wollte, konnte er den Jungen gegen Unterhalt auf unbefristete Zeit behalten. Die durchsichtige Rechnung ging auf: Die Witwe Hebbel wurde nun zu Mohr beschieden und bald war man handelseinig. Der Junge war vertan, wie der Bruder Johann naiv erzählt, für Essen und Trinken und Kleidung ohne Wäsche; Strümpfe, Hemden und manches andere mußte die Mutter herbeischaffen. [...] Fortan wohnte er in der Kirchspielvogtei und wurde mit dem Dienstpersonal beköstigt; ein im damaligen Dithmarschen nicht eben ungewöhnlicher Brauch.1736

KUH, Biographie, Bd 1, S. 78. WERNER, Friedrich Hebbel. Ein Lebensbild, S. 32. 1734 Dieses und die folgenden Zitate: Ebd., S. 31f. 1735 Vgl. W 15, 13. 1736 KUH, Biographie, Bd 1, S. 78. 1732 1733

Das verkaufte Kind

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„Naiv“ nennt Emil Kuh die Erzählweise des Bruders Johann – doch dieser gibt den Vorgang gerade so wieder, wie er vor sich gegangen war: als ‚Menschenhandel‘, der in seiner nüchternen Schlichtheit für den jüngeren Biographen, und erst recht für den heutigen Betrachter schwer vorstellbar ist. Ungewöhnlich war so etwas nicht: Zu jener Zeit „um 1830“,1737 so der Ortschronist Frank Wagner, „gab es in Wesselburen bereits den Menschenmarkt, auf dem sich aus einer Ansammlung von Gelegenheitsarbeitern die Bauern der Umgebung die geeigneten Kräfte aussuchten“. Von diesen, spöttisch so genannten ‚Monarchen‘ lebten immerhin „um die 50 Gastwirtschaften“. Das Feilbieten und Taxieren von Menschen, das die Phantasie des aufgeklärten Menschen gern an exotische Sklavenmärkte verlegt, war für die Zentralorte der Marschen typisch und geradezu ortsbildprägend: Der Maler Willy Graba wählte den Menschenmarkt an der Einmündung der Süderstraße auf den Kirchplatz noch in den 1920er Jahren als beschauliches Motiv in einer Reihe von Wesselburener Ansichten (Abbildung 13). Dieses Prinzip der ‚Berechenbarkeit‘ eines Menschenlebens besaß universelle Gültigkeit. Bei nur eingeschränkt Arbeitsfähigen konnte sich auch ein Negativ-Saldo ergeben; in solchen Fällen erhielt der Abnehmer noch Geld dazu. Aus dem von ihm untersuchten Dorf Kiebingen berichtet Utz Jeggle von Fällen, die dem Schicksal des halbwüchsigen Hebbel recht nahe kamen. So hatte dort beispielsweise ein spurlos verschwundener Maurer zwei schulpflichtige Kinder zurückgelassen, die von der Armenbehörde „zum günstigsten ‚Gebot‘ in Kost gegeben“1738 wurden. Eine Lumpensammlerin, die „35 Pfennig tägliches Kostgeld und die jugendliche Arbeitskraft gut brauchen konnte, ersteigerte sich das Mädchen“. Bei dieser Methode bekam das niedrigste Gebot den Zuschlag; „der Aufwand des Pflegers wurde praktisch gekauft, wobei die Form der Versteigerung und die Möglichkeit des Unterbietens diesen Aufwand notwendig auf ein Minimum reduzierte“.1739 In der Novelle Trollmannsch der Eiderstedter Schriftstellerin Thusnelda Kühl erzählt die Hauptfigur, sie hätte sich mit 16 Jahren „von meinen bösen Pflegeeltern, die mich nach Vaters Tode auf der Bohle für das niedrigste Gebot bekommen hatten, bei Nacht und Nebel weggeschlichen“1740 und wäre „hinausgelaufen in die Welt“. Wenn Friedrich Hebbel auch in gesicherte Verhältnisse kam, so fand er sich im Prinzip mit dieser Gruppe auf einer Stufe wieder. Der ‚vertane‘ Sohn hatte sich zusammen mit anderem Gesinde einer fremden „Herrschaft“ zu beugen. Konnte dies nicht eine tiefe Irritation für ihn, der sich doch schon als bester Schüler Dethlefsens zu Höherem berufen fühlte, bedeuten? Mußte er sich nicht ‚verraten und verkauft‘ fühlen? Gerade im Verhältnis zur Mutter, die ihn an den Kirchspielvogt auslieferte, hätten die alten Ängste und emotionalen Ressentiments neu aufbrechen können. Noch einmal zeigte sich die elterliche Verfügungsgewalt, und sei es in ihrer Übertragung auf einen Fremden; noch einmal wurde der Wert des Kindes an seinem materiellen Beitrag zur Produktionsgemeinschaft gemessen. Doch war dies durchaus kein Ausnahmeschicksal, sondern Normalität. Olwen Hufton schreibt: „Die meisten Eltern im Dieses und die folgenden Zitate: WAGNER, Wesselburen, S. 55f. Hervorhebung C. S. Dieses und das folgende Zitat: JEGGLE, Kiebingen, S. 121. 1739 Ebd., S. 122. 1740 Dieses und das folgende Zitat: KÜHL, Das Haus im Grunde, S. 133. 1737 1738

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Beim Kirchspielvogt Mohr

frühneuzeitlichen Europa trennten sich von ihren Kindern, kaum daß diese herangewachsen waren. [...] Je tiefer die Familie in der sozialen Hierarchie stand, um so endgültiger war der Bruch“.1741 Wenn man mit Isidor Sadger nach einem konkreten biographischen Anlaß für die merkwürdige Stelle in Hebbels Märchen Die einsamen Kinder sucht, an der – im Gegensatz zur ‚normalen‘ Hebbelschen Familienkonstellation – der jüngere Bruder „von der Mutter begünstigt“1742 wird, so wäre er hier zu finden. Als feststand, daß der Ältere den Haushalt verlassen mußte, begann durchaus „eine Zeit, wo Friedrich sich […] zurückgesetzt wähnte […] von der Mutter“.1743 Auch im Verhältnis zum Bruder wurde hier ein struktureller Konflikt sichtbar, der „von Geburt an zwischen den Kindern gesät“1744 war. Utz Jeggle beobachtete sehr häufig „Versuche, die Eltern geneigt zu machen, Schätzle zu werden, um so die Nebenbuhler abschütteln zu können und ins Hintertreffen zu bringen. Jeder Bruder engte die eigene Zukunft ein und seine Existenz war eine Bedrohung“.1745 Nach Friedrichs Fortgang richtete sich Johann Hebbel zu Hause um so gemütlicher ein; seine Trägheit war Friedrich immer wieder ein Dorn im Auge. Direkt auf ihn gemünzt war die Erzählung Pauls merkwürdigste Nacht, die ursprünglich Johann hieß.1746 Der Titelheld wird „hinter dem Ofen“ [W 8, 237] sitzend eingeführt, eher aus Verlegenheit in die Lektüre einer Räubergeschichte vertieft, „in deren Besitz er kürzlich auf einer Auction gekommen war, weil er sie auf eine Nachtmütze mit in den Kauf hatte nehmen müssen“ [W 8, 237]. Gerade als er zu Bett gehen will, klopft es ans Fenster. Es ist der Bruder, seines Zeichens ein Schreiber, der Einlaß begehrt, um ihn gegen „einen guten Botenlohn“ [W 8, 238] mit der Besorgung eines Briefes zu beauftragen. Hartnäckig und „mit großer Ruhe“ [W 8, 239] weigert sich Paul, bis schließlich auch die Mutter zornig wird: „Deinen Vater verdroß keine Mühe, und auch ich, so alt ich bin, rühre mich, wie ich kann. Du aber kommst vor Faulheit um!“ [W 8, 239] Die sichtlich biographisch gefärbte Episode spiegelt die asymmetrische Dreiecksbeziehung, die nun die reduzierte Familie prägte. Direkte Reflexe auf den Abtretungsakt, durch den Friedrich sein elterliches Zuhause verlor, finden sich jedoch nicht. Das erscheint merkwürdig, denkt man an Hebbels fabulierfreudige Schilderungen früherer familärer Lebensstationen zurück. Doch thematisiert er in seinen Werken verschiedentlich ein Motiv, das sich am ehesten unter dem Motto ‚Das verkaufte Kind‘ rubrizieren ließe. In einem Tagebucheintrag vom November 1843 spielte Hebbel noch mit dem Gedanken, „daß ein großer Dichter seinem Nebenbuhler sein Werk verkauft, um nur Frau und Kind nicht verhungern lassen zu dürfen“ [T 2837]. Später modifizierte er die Idee dahingehend, daß er das dichterische Werk selbst als zu verkaufendes Kind auffaßte: Im Dichter-Fragment läßt er den ‚armen Poeten‘ ausrufen: „Es ist ja so als ob ich mein armes, der trostlosesten

HUFTON, Arbeit und Familie, S. 54. SADGER, Friedrich Hebbel. Ein psychoanalytischer Versuch, S. 32. 1743 Ebd., S. 31. 1744 JEGGLE, Kiebingen, S. 159. 1745 Ebd., S. 158f. 1746 Vgl. W 8, XXI und W 15, 60. 1741 1742

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Zukunft entgegen gehendes Kind einem reichen Mann abträte“.1747 Erst spät wagte es Hebbel, das Motiv explizit zu behandeln und zugleich zum Mittelpunkt eines längeren Werkes zu machen. Ausgerechnet das epische Idyll von Mutter und Kind kreist um den zentralen Gedanken des Kindskaufs. Ludger Lütkehaus wollte dies als „die Darstellung der ‚modernen Geldmacht‘, ihres Herrschaftsbereichs, ihrer Voraussetzungen und Konsequenzen“1748 verstanden wissen. Er führte aus: Indem Hebbel Arm und Reich als Verkäufer und Käufer (miteinander) handeln läßt, wird zweierlei gezeigt: Einmal wird die ökonomische Basis der Familien- und ‚Natur‘-Idylle deutlich. Hinter der Familiarisierung der Gesellschaft [...] zeigt sich die kommerzielle Vergesellschaftung der Familie: Sie nähert sich einem „Vertragsverhältnis“ (Sengle im Anschluß an Immermann) an.

Doch Lütkehaus übersieht eines: Gerade die moderne „Familiarisierung der Gesellschaft“ schließt solche kommerziellen Akte aus; das vormals praktizierte Weggeben des Kindes durch eine neuerdings ‚liebende‘ Mutter – ‚moderne Geldmacht‘ hin oder her – wird zum Tabu. Gerade darum ist aber auch Hebbels „Idyll“ eigentlich ein ‚Ding der Unmöglichkeit‘, indem es gegensätzliche Mentalitäten auf engstem Raum künstlerisch zusammenzwingt und verschränkt. Der „Kaufvertrag“ ist dabei weniger Metapher für moderne Kommerzialisierung, er hat vielmehr seine direkte Entsprechung in den traditionalen Verhältnissen, die in der Tat – und so weit ist Lütkehaus zuzustimmen – zur Zeit des Erscheinens von Mutter und Kind im Jahr 1859 weitestgehend durch die „Familiarisierung der Gesellschaft“ überholt worden sind. Zur modernen Mentalität, die Magdalena als ‚lieben-lernende‘ Mutter im Hebbelschen Epos erwirbt und die bei ihrem Partner Christian noch kaum ausgeprägt ist, will der archaische Handel eben nicht passen. In seiner künstlerischen Versuchsanordnung postierte Hebbel seine Figuren an der mentalitätshistorischen Epochenschwelle, die ihn selbst ähnlich widersprüchlich geprägt hatte. Nicht umsonst gab er dem männlichen Protagonisten seinen eigenen, eigentlichen Rufnamen Christian. Wie schon der Vorname der jungen Mutter auf die biblische Maria Magdalena verweist, so wird auch das Handeln der Käuferin mit einer altertümlich-religiösen Dimension unterlegt, auf die Günter Häntzschel hingewiesen hat: Der Kreislauf des Handlungsgeschehens von einem Weihnachtsfest bis zum nächsten und die Sakralisierung der Personen Christian und Magdalena zum „heiligen Paar“ (2060) stehen dem Plan des Kindskaufes gegenüber und lassen diesen als einen teuflischen Plan erscheinen. Tatsächlich steckt ja in dem bekannten Märchenmotiv, für eine große Hilfeleistung das erste Kind zu fordern, ein teuflisches Prinzip.1749

Aufgrund entsprechender Textbelege kommt Häntzschel zu dem Schluß, „daß Hebbel ganz bewußt Archaisches und Modernes konfrontiert hat und das Ursprüngliche der W 5, 115. Vgl. dazu auch LÜTKEHAUS, Antikommunistisches Manifest oder karitative Utopie?, S. 139–141. 1748 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 135. 1749 Dieses und das folgende Zitat: HÄNTZSCHEL, Friedrich Hebbels Mutter und Kind, S. 101. 1747

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Idylle mit den Anschauungen der eigenen Gegenwart zu verbinden suchte.“ Der mentalitätsgeschichtliche Bruch ist für Mutter und Kind offenbar strukturprägend. Im Trauerspiel in Sicilien liegen die Verhältnisse ökonomisch anders: „Anselmo verschachert seine Tochter aus rein finanziellen Gründen gegen ihren ausdrücklichen Willen ins sichere Unglück“,1750 schrieb Lütkehaus. Doch führt das pekuniäre Handlungsmotiv auch in dieser Variation nur umso greller die archaische elterliche Verfügungsgewalt in einer noch patriarchalisch verfaßten Familie und Gesellschaft vor Augen. In dieser Verzerrung spiegeln die literarischen Reflexe natürlich nicht Hebbels Kindheit im Verhältnis eins zu eins wider. Bezeichnenderweise sagen überhaupt die autobiographischen Quellen in diesem Zusammenhang nirgendwo Kritisches über die Mutter. Denn ‚in Wirklichkeit‘ mußte mit anderem Maß gemessen werden. Nichts deutet darauf hin, daß das Geschehen von einem der Beteiligten in der Situation selbst als irgendwie ungewöhnlich wahrgenommen wurde. So erweist sich in historischer Perspektive das frühe Verlassen des Familienverbandes und die Annahme eines Dienstes als eine in ganz Europa durchgängig zu beobachtende Praxis, wie John R. Gillis in seiner Geschichte der Jugend deutlich macht: „Die meisten dieser Beschäftigten waren Jungen und Mädchen zwischen dreizehn und neunzehn Jahren, die aus den ärmeren Haushalten kamen und bei den Reichen aufgenommen wurden, ein Brauch, der auch die Funktion hatte, jenen Familien Erleichterung zu verschaffen, die durch zu viele Kinder überlastet waren“.1751 Der Unterschied des neuen Zuhauses zum Elternhaus war dabei nicht so groß, wie er aus moderner Perspektive erscheinen mag. Zum einen war die traditionale Familie der Funktion nach ja keineswegs emotionale Heimstatt; zum anderen gehörten auch die Dienstboten mit zur Gemeinschaft des ganzen Hauses, über das ein „Hausvater“ – kein moderner „Familienvater“ – gebot. Prinzipiell machte es keinen großen Unterschied, ob Kinder bei ihren Eltern, oder Dienstboten im Haus ihrer Herrschaft lebten: „Die jungen Fremdlinge und die eigenen Kinder wurden weitgehend gleich behandelt, beide waren der Autorität des Hausvaters in gleicher Weise unterworfen“,1752 die „Bezahlung bestand aus Kost und Logis“.1753 Der Kleine Katechismus erklärte: „Wer wird unter dem Namen Vater und Mutter verstanden? Vor allen die leiblichen Eltern; aber auch diejenigen, welche im Hause und in der Gemeinde, im kirchlichen und im bürgerlichen Leben von Gott Macht [!] haben, zu gebieten und zu verbieten.“1754 Es war üblich und keineswegs ehrenrührig, im Burschenalter einen Dienst anzunehmen, zumal wenn man, wie die beiden Söhne Claus Hebbels, nicht willens oder in der Lage war, beruflich in die Fußstapfen des Vaters zu treten. Christian Friedrich hatte sich für handwerkliche Tätigkeiten als vollkommen untauglich erwiesen, der geschicktere Johann Hinrich war für eine regelmäßige Arbeit nicht zu gewinnen. Als ein ‚freier‘ Unternehmer hatte sich der um das tägliche Brot ringende Maurer ohnehin nie verstehen können. Auch vom Alter her war bei Friedrich, der nach der ElementarLÜTKEHAUS, Antikommunistisches Manifest oder karitative Utopie?, S. 137. GILLIS, Geschichte der Jugend, S. 30. 1752 Ebd., S. 24. 1753 Ebd., S. 30. 1754 LUTHER, Kleiner Katechismus, S. 63. 1750 1751

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schule noch die in den Augen des Vaters überflüssige Rektorklasse bei Dethlefsen besucht hatte, der Schritt hinaus ins berufliche Leben überfällig. Zu Zeiten vor Einführung der allgemeinen Schulplicht wurden Kinder zu Zwecken der Erziehung und Ausbildung noch früher aus dem Haus gegeben: „In der alteuropäischen Gesellschaft [erfolgte diese] grundsätzlich im Rahmen einer Hausgemeinschaft – der Dienst in einem fremden Haus war die Ausbildungsform schlechthin – und unter der Autorität des Hausvaters“.1755 Dieser positive Aspekt ist – allen abschätzigen Äußerungen Hebbels zum Trotz – gerade auch für seine Jahre in der Kirchspielvogtei kaum zu unterschätzen. Gewiß machte sich auch im Schleswig-Holstein der „Schwellenzeit“ um 1800 bei den lokalen Eliten bereits ein Mentalitätswandel bemerkbar, doch vollzog sich dieser allmählich und keineswegs ‚dramatisch‘: Wir beobachten in unserem Zeitraum beispielsweise eine Auflösung der an den Beginn anzusetzenden „großen Haushaltsfamilie“ bis hin zum relativ schroffen Gegensatz zwischen Herrschaft und Gesinde: Aus den zum „Hausvolk“ gehörigen Knechten und Mägden wird im Laufe der Zeit die „dienende Klasse“, über deren ungebärdiges Verhalten die Dienstherren zu klagen haben.“1756

Hebbel selbst war es dann, der als Familienvater diesen Wandel von der offenen Haus- zur exklusiven Familiengemeinschaft mitvollzog. Im Jahre 1853 klagte er pikiert: „Mein Mädchen [die Tochter Christine] ist jetzt fünf Jahre und hat vor ein Paar Tagen eine Gouvernante erhalten, weil es absolut nicht anders mehr ging; schreckliche Nothwendigkeit, eine fremde Person in’s Haus und an den Tisch zu nehmen!“ [WAB 2, 688] Weil die familiäre Gemeinschaft sich nicht mehr als bloßes Kollektiv definiert, sondern die emotionalen Beziehungen zwischen Individuen zu ihrer Grundlage macht, sucht sie ‚Fremde‘ auszugrenzen. Stellt sich die moderne Familie dieserart als eine Pflegestätte von Individualität dar, so verhielt es sich in der traditionalen Gesellschaft genau umgekehrt: „Innerhalb der Verwandtschaft war ein Ich mit einer eigenen Entwicklung und einer eigenen Perspektive nicht vorgesehen. Man war zum einen in das kooperierende Kollektiv, zum andern in das ver- und beerbende Familienschicksal eingebunden“.1757 Diesem ‚Schicksal‘ war Hebbels Familie durch seinen Eintritt in das Haus eines fremden Brotgebers entgangen. Wenn Jeggle schrieb: „Das Individuum betrat als Negation des Verwandtschaftsprinzips die Bühne der Kiebinger“,1758 dann lag auch bei Hebbel in der Verlusterfahrung wenigstens ex negativo die Chance für eine Neuorientierung. Vordergründig allerdings reagierte der Autobiograph seinerseits mit zwiefältiger Negation: Die Situation von Mutter und Herkunftsfamilie blendete er schlicht aus; Mohr und sein Haus erscheinen dagegen in reichlich negativem Licht. Den sich aus der Veränderung ergebenden positiven Möglichkeiten der Individuierung und mentalitätshistorischen Modernisierung schenkte Hebbel im Blick zurück merkwürdig wenig Aufmerksamkeit.

RÜNZLER, Vater-Sein, S. 23. KRAMER, Volksleben in Holstein, S. 300. 1757 JEGGLE, Kiebingen, S. 201. 1758 Ebd., S. 269. 1755 1756

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In seinem letzten, unvollendet gebliebenen Drama thematisiert Hebbel noch einmal das ‚verkaufte Kind‘, indem er es zur Hauptfigur macht: Dem von seiner Mutter Barbara weggegebenen Demetrius gelingt nicht nur der wundersame Aufstieg vom Pferdeknecht in Sendomir zum Zaren aller Reußen, sondern es kommt auch zu einer erneuten Begegnung zwischen Mutter und Sohn. In dieser Szene erschließt sich dem Demetrius erst nach und nach die ganze Wahrheit über sich. Als er die „Mutter, die [/] Ihr Kind verkaufte“ [W 6, 119f.], empfängt, weiß er noch nicht, daß er selbst dieses Kind ist. Aufgrund dieser Dramaturgie kann er freimütig seine Meinung über eine solche Mutter äußern: Sie ist ihm „widerlich“ [W 6, 116]; sie „bleibt für mich ein Gräuel, [/] Und ob ich selbst die Welt durch sie gewann“ [W 6, 120]. Nicht Demetrius, doch Hebbel setzt diese Worte im Wissen um die ganze Wahrheit – die moderne bürgerliche Familienideologie läßt eine andere Bewertung der Preisgabe des eigenen Kindes nicht zu. Doch auch Barbara kommt zu Wort, und ihrem ‚praktischen‘ mütterlichen Ehrgeiz läßt sich ebenso wenig widersprechen: Da dacht’ ich denn: Dein Sohn ist auch ein Prinz, Wenn auch ein halber nur, und – fragt nicht mehr, Genug, ich gönnte ihm ein beßres Loos, als ihn erwartete, und gab ihn lieber An diesen Mönch, als in das Findelhaus. [W 6, 124]

Eine Idylle von „Mutter und Kind“ kann es hier nicht geben; es bleibt – wie für Antje Hebbel – nur die Wahl zwischen dem Pflegehaus und dem fremden Mann, in der Hoffnung auf ein „beßres Loos“. Das Drama entscheidet nicht, wer ‚Recht‘ hat; es verleiht dem Aufeinandertreffen der divergierenden Mentalitäten eine tragische Tiefe.

Der schwarze Mann Der Mutter nahm es Hebbel nicht übel, daß er den Platz an ihrem Tisch verlassen mußte. Keine Ruhe ließ ihm allerdings derjenige, der ihn als „den armen, hülflosen, schnöde gemißhandelten Jüngling“ [WAB 1, 174] zusammen „mit Stallknecht und Tagelöhnern an den Milch- und Brei-Tisch gesetzt“ [WAB 1, 173] hatte: „Ich denke hauptsächlich an jenen Mohr, der als ekelhafte Blattlaus über meine frische Jugend hinkroch u sich als jämmerliches just milieu zwischen mich u die sogenannte blanke Noth, deren Anhauch mich mehr gekräftigt hätte, als das Hocken unter seinem kümmerlichen Regenschirm, hinstellte“ [WAB 1, 134]. Auf der „schnödesten Galeere unter dem Commando eines vornehmelnden Philisters“ [WAB 1, 217] habe er seine Jugend vergeudet, klagte Hebbel. Wohl bald nach Beginn des Jahres 1828 wird der noch Vierzehnjährige in die Kirchspielvogtei umgezogen sein1759 (Abbildung 14). Mehr als sieben Jahre verbrachte er 1759

Vgl. „Er kam in seinem fünfzehnten Jahre zu mir“ [HP I, 26], also vor dem 18. März 1828. Irreführend dagegen: „So stand das Gebot des Vaters nicht mehr im Wege, als Friedrich durch Vermittlung seines Lehrers Dethlefsen Ostern 1828 als Schreiber [!] in den Dienst des Wesselburner Kirchspielvogts Mohr trat.“ [KÜCHLER, Friedrich Hebbel, S. 38].

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dort, ehe er am 14. Februar 18351760 seinem Dienstherrn und seinem Heimatort den Rücken kehrte – sieben Jahre in „Kerkermauern“ [WAB 1, 331], „[u]nbekannt mit der Welt, nur mit meinem Schmerz vertraut, Nichts besitzend, als meine Hoffnungen, oft verzweifelnd an meinem innersten Selbst, von Niemandem verstanden, im Hause des Principals unter erniedrigender Behandlung erliegend […], wie ein Sterbender“ [WAB 1, 330], wie er später glauben machen wollte. Bereits im Jahr seines Weggangs arbeitete Hebbel an einem – nie realisierten – Buch, in dem der Kirchspielvogt als „Maurus“ [WAB 1, 58], als ‚schwarzer Mann‘ gewissermaßen, „seinen Denkstein“ [WAB 1, 56] erhalten sollte. Beim Verfassen eines Briefes malte er sich genau aus, „an welcher Stelle der Kirchspielvogt Mohr es aus der Hand legt, um es nie wieder anzufassen. Der Kerl ist doch gar zu gemein gegen mich gewesen, als daß ich es ihm ganz ungestraft hingehen lassen könnte; hat er mich einmal an’s Kreuz geschlagen, so darf ich’s wieder thun“ [WAB 1, 58]. Angesichts solch lebhafter Kreuzigungsphantasien läßt sich auch die biographische Deutung des Gedichts Diocletian nicht einfach als „müßige Spielerei“1761 abtun. Darin finden sich die Zeilen: Siehst Du den Jüngling, der die Säcke trägt? Und auch den krausen Mohren, der ihn schlägt? Wer mag’s wohl sein, den hier die Peitsche traf? Ich bin es selbst! mein Vater war ein Sclav.1762

Die nachfolgende Strophe zeigt den Jüngling wieder, „Aber auf der Flucht“, denn „Er tödtete den Vogt in raschem Zorn“.1763 Die finsteren Wunschvorstellungen von einer ‚Erledigung‘ Mohrs wurden in diesem Gedicht symbolisch endlich erfüllt; seinen Weggang aus der Heimat hatte Hebbel selbst als eine „Hedschra“ [DjH I, VIII] bezeichnet. So ist gut denkbar, daß er den Text, der am 3. Juni 1863, wenige Monate vor seinem Tod, entstand und im Nachlaß gefunden wurde, sich selbst als „Epitaph“ [W 6, 431] setzte, so wie es eingangs heißt: „Da steht auch das! Mein Grabmal!“ [W 6, 429] Eigenartig ist nur, daß seine bitteren Klagen über die im Hause des Kirchspielvogts verbrachten Jahre so spät laut wurden.1764 Dieser selbst ahnte offenbar nichts von Hebbels Ressentiments, wie sein Sohn Otto Mohr bezeugte: „Aus zahlreichen gelegentlichen Äußerungen meines Vaters über die damaligen Zustände ist nichts zu entnehmen, was auf eine Trübung des Verhältnisses schließen lassen könnte“;1765 ja er glaubte gar „an die Existenz eines Dankgefühles bei Hebbel“ [HP I, 32]. Insgesamt, so Otto Mohr, müsse das „Verhältnis zwischen beiden bis zum Fortgange Hebbels […] B I, 32. Bornstein nennt fälschlich den 24. Februar [DjH I, VIII]. Der von Hebbel benutzte „Wochenwagen“, der Heide mit Wesselburen und Brunsbüttel verband, verkehrte allerdings sonnabends [KUH, Biographie, Bd 1, S. 131], was für den 14. zutrifft. Matthiesen schreibt nur: „Im März 1835“ [MATTHIESEN, Friedrich Hebbel, S. 25]. 1761 Werner in W 14, 270. 1762 W 6, 429. Hervorhebung C. S. Vgl. auch BIEBAU, Der Kirchspielvogt Mohr, S. 168, der diese Verse seinem Aufsatz als Motto voranstellt, sowie vor allem STOLTE, Hebbels Balladen, S. 37f. 1763 W 6, 429. Hervorhebung C. S. 1764 Vgl. HP I, IX. 1765 HP I, 31. Zur Person Otto Mohrs und den Umständen seiner Stellungnahme vgl. HP I, 466f. 1760

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als ein durchaus freundliches erkannt werden“ [HP I, 31]. Tatsächlich schrieb Hebbel im August 1835 an seinen Wesselburener Vertrauten Jakob Franz mit Blick auf Mohr, Wesselburen und Dithmarschen: „Du wirst Dich wundern, wenn Du liest, wie ungeheuer meine Ansichten sich verändert haben“.1766 Die Großstadt Hamburg hatte ihm erst die Augen für andere, moderne Verhältnisse und Möglichkeiten geöffnet. In einem Brief des Jahres 1837 wurde noch einmal deutlich, daß sich seine Wut auf Mohr erst im nachhinein entwickelte und Hebbel ihm „je älter ich werde, um so weniger vergeben“1767 konnte: „Das Blut tritt mir in die Wangen, wenn ich daran denke“. Allerdings liegen auch anderslautende Äußerungen über sein Ergehen bei Mohr vor: „[M]ein Herr behandelt mich so gut, wie ich nur immer wünschen kann: ich könnte daher mit meiner Lage wohl zufrieden seyn“ [WAB 1, 15], schrieb Hebbel 1832 an Ludwig Uhland. Wenn es hier der Anstand gebot, diplomatisch zu sein, so war dies in seinem Brief an Heinrich Schacht im September 1835 nicht mehr vonnöten. Darum überrascht darin nicht der abschätzige Tonfall im Rückblick des soeben nach Hamburg Entronnenen, dafür aber umso mehr der Inhalt: „[I]ch war zwar nie im Begriffe, zu verzweifeln, doch sehr oft, mit dem Leben abzuschließen und das mir vom Schicksal aufgedrungene Copisten-Diplom zu contrasigniren“ [WAB 1, 61]. Vor der unerwarteten Hamburger Wende war Hebbel offenbar durchaus bereit gewesen, sich in den gegebenen Wesselburener Verhältnissen auf Dauer einzurichten. In seinem Memorial an Amalie Schoppe vom Mai 1840 heißt es gar – mit positiver Akzentuierung: „Sie haben das Zeugniß meines Principals in Händen gehabt, und wissen, daß der gewissenhafte Mann mir nicht die gewöhnliche, sondern ausgezeichnetste Pflichterfüllung bestätigte. Meine Stellung war bürgerlich gesichert, […] und bei dem allgemeinen Vertrauen, das man mir in öffentlichen Geschäften bewies, […] durfte ich auch für die Zukunft auf eine ehrenvolle Existenz rechnen“ [WAB 1, 330]. Aus dem Abstand fast zweier Jahrzehnte schrieb der gereifte Dichter dann 1852: „Ich konnte mich erst in meinem 22sten Jahre den Studien widmen, befand mich im übrigen aber in ganz erträglichen Verhältnissen; ich ging nämlich einem Beamten, dem Kirchspielvogt meines Geburtsorts, in seinem ausgebreiteten Geschäftskreise an die Hand, wurde dann sein Secretair und hatte so früh Gelegenheit, in die Mannigfaltigkeit des menschlichen Thuns und Treibens belehrende Blicke zu werfen“ [WAB 1, 548]. Hebbel selbst legte – wie schon gegenüber seinem Vater – zweierlei Maß an und vertrat beide Gegenpositionen im Laufe der Zeit mit zunehmender Pointierung. Im Hebbel-Jahrbuch wurde 1965 unter der halbamtlich klingenden Rubrik „Mitteilungen“ ein Text von Gustav Biebau mit dem Titel Der Kirchspielvogt Mohr. Notwendige Bemerkungen zur Beurteilung seiner Persönlichkeit veröffentlicht. Biebau vertrat die Ansicht, daß Hebbel „alles ihm mögliche getan hat, das Andenken Mohrs im Bewußtsein der Nachwelt zu schwärzen“.1768 Dies traf – wie gerade gezeigt – in dieser Ausschließlichkeit keineswegs zu.1769 Unzweifelhaft ist freilich, daß Emil Kuh, der bei seinen biograWAB 1, 56. Hervorhebung C. S. Dieses und das folgende Zitat: WAB 1, 173. Hervorhebung C. S. 1768 BIEBAU, Der Kirchspielvogt Mohr, S. 168. 1769 Vgl. schon Reuschel: „Es ist Pflicht der Gerechtigkeit, einmal hervorzuheben, daß Hebbel zu Zeiten und zwar zu ganz verschiedenen, seinen Brotherrn […] minder hart beurteilte.“ [REUSCHEL, Kirchspielvogt Mohr, S. 109]. 1766 1767

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phischen Recherchen selbst mit Mohr aneinandergeraten war, der Rezeption eine einseitige Tendenz gegeben hatte. Biebau schreibt: Emil Kuh hat als Hebbels Biograph das Seinige dazu getan, diesen Mann als finsteren und verständnislosen Ausbeuter in die Literaturgeschichte eingehen zu lassen. Aber Emil Kuh war auch nie in Wesselburen, er hätte sonst vielleicht davon Kenntnis genommen, daß der verketzerte Mann am Ort seiner amtlichen Tätigkeit in einem anderen Ansehen stand, als Hebbel es ihm dargestellt haben mochte.1770

In der Sekundärliteratur gibt es in der Tat eine Rezeptionslinie, die Mohr in schwärzesten Farben malt. Hermann Krumm wetterte: „Eine Zeit schmachvollster Knechtschaft begann für den Ahnungslosen [Hebbel], der sich zunächst der Wandlung freute, und doch war dies die erste Station auf dem Marterwege“.1771 Mohr sei „ein in hochmütigen Vorurteilen erstarrter, selbstherrlicher Mann“ gewesen; die „erniedrigende Stellung, die er dem jungen Hebbel in seinem Haushalt anwies“, um ihn „rücksichtslos auszunutzen“, bedeute eine „schwere Versündigung“. Ähnlich, aber aus einer mehr gesellschaftskritischen Perspektive sprach Etta Federn vom „Ausbeutertum“1772 Mohrs, der – „anmaßend und voller Dünkel“1773 – den Knaben „den Druck des Proletariats, die Last der Knechtschaft“ habe fühlen lassen. Alfred Kleinberg wurde persönlicher: Mohr „demütigte ihn […] auf alle erdenkliche Weise“.1774 Unter dem Fanal „Mohr hieß die Kanaille!“1775 bließ der Schriftsteller Herbert Eulenberg zum Jagen auf den „sauberen Patron, der schwarz wie sein Name war“: „In dem Machtkreis eines solchen Lumpen […] hat der Dichter volle acht Jugendjahre als Schreibknecht verschmachten müssen. […] Er ist die Folgen dieses fürchterlichen Pariadaseins nie mehr, selbst nicht in seinen letzten glücklichsten, sorgenfreiesten, unabhängigen Wiener Jahren ganz losgeworden.“1776 Mit dem Wiederabdruck des zuerst Zu Hebbels hundertstem Geburtstag erschienenen Textes im Hebbel-Jahrbuch 1979 meinte Heinz Stolte ein „klassische[s] Dokument[…] vergangener Zeiten aus unverdienter Vergessenheit“1777 emporzuheben. Demgegenüber hatte Karl Reuschel schon 1913 gemeint, „so unbarmherzig wie Eulenberg“ habe „noch niemand den Kirchspielvogt Mohr behandelt – selbst Hebbel nicht“1778 und völlig zu Recht moniert: „Es fehlt Eulenberg in solchem Falle völlig an geschichtlicher Perspektive“.1779 Reuschel wies auch auf die bedenkliche Quellenlage hin: „Fast alles, was wir über Mohr wissen, beruht auf Zeugnissen Hebbels. Die Biographen haben sich in den wesentlichsten Punkten auf diese Zeugnisse gestützt und nur gelegentlich durchBIEBAU, Der Kirchspielvogt Mohr, S. 168. Dieses und die folgenden Zitate: KRUMM, Friedrich Hebbels Leben, S. 23. 1772 FEDERN, Friedrich Hebbel, S. 33. 1773 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 26. 1774 KLEINBERG, Die deutsche Dichtung, S. 319. 1775 Dieses und das folgende Zitat: EULENBERG, Hebbels Jugend und Dichtung, S. 163. 1776 Ebd., S. 164. 1777 STOLTE, Vorwort, S. 6. 1778 REUSCHEL, Kirchspielvogt Mohr, S. 104. 1779 Ebd., S. 107. 1770 1771

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blicken lassen, daß sie geneigt seien, die schweren Anklagen ein wenig zu mildern“.1780 Doch anders als bei der Charakterisierung der Eltern regte sich unter den Biographen durchaus breiterer Widerspruch gegen die von Hebbel und Kuh vorgezeichnete tendenziöse Beurteilung des Kirchspielvogts. Henry Flebbe resümierte in einem Beitrag über Hebbel und Hamburg: „Als Hebbel aus Wesselburen kam, hatte er im Hause des Kirchspielvogts keineswegs so drückende Jahre hinter sich, wie der Dichter es später schilderte. Sein Posten ließ ihm viel Freiheit, und er konnte seinen eigenen Neigungen leben“.1781 Karl Zeiß stellte gar die Frage, „was wohl aus ihm geworden wäre, hätte er nicht in der Kirchspielvogtei ein Unterkommen gefunden“1782 und betonte, „daß die Anklagen, die Hebbel später erhob, weit über das Ziel hinausgingen, […] in der Schärfe, mit der sie vorgebracht wurden, als nicht gerechtfertigt erscheinen, daß vor allem Hebbels Meinung, Mohr habe ihn erkannt und doch unterdrückt […], kaum zu halten ist.“ Gustav Biebau schließlich suchte den Kirchspielvogt mit einer, wenn auch reichlich blassen Gesamtwürdigung zu rehabilitieren: „Auch Mohr ist ein wichtiges Glied in der Kette von Persönlichkeiten, die zum Werden Hebbels in einem positiven Sinne beigetragen haben.“1783 Wenn es ihm jedoch „dringend an der Zeit“ schien, „das einseitige Bild zu korrigieren und so etwas wie eine ‚Mohrenwäsche‘ zu versuchen“,1784 setzte Biebau die lange Tradition der Schwarz-Weiß-Malerei unter anderem Vorzeichen fort. Wenn ein innerer Zwiespalt Hebbel durchzog, so teilten sich die Biographen mehrheitlich entlang dieser Frontlinie in unversöhnliche Gegner bzw. beschwichtigende Verteidiger Mohrs. An der vermeintlichen Pflicht zur Parteinahme krankt die gesamte Diskussion: Die Biographen fühlen sich zu Stellungnahmen genötigt, die eine Personalisierung der Argumention bewirken, wo strukturelle Ursachen, seien sie sozial- oder mentalitätsgeschichtlicher Art, weit bedeutsamer sind. Diesen wurde nur in Einzelfragen Rechnung getragen, etwa wenn Karl Reuschel schon 1913 anläßlich des Streits um des Vogtes Kleider, die Hebbel aufgetragen hatte, anmerkte: „Wunderlich berührt es uns, daß der Dichter zwanzig Jahre, nachdem er die engen Zustände der Heimat verlassen hat, die historisch bedingte soziale Schichtung seiner Jugendzeit so ganz außer acht läßt“.1785 Und mit Blick auf die Macht der Mentalitäten gab Etta Federn zu bedenken: „Mohr ist keine Individualität, Mohr ist Typus in dieser Beziehung“.1786 Doch schon gegenüber Hebbel ließ sie derlei überindividuelle Faktoren völlig außer acht und erkannte in umgekehrter Einseitigkeit bei ihm ausschließlich individualpsychologisch bedingte Haltungen: „Hebbel, der nur unbewußter Proletarier war, konnte darin [in Mohrs Verhalten] nichts Typisches erkennen. Er sah es als persönliche Tragik an, bedingt durch die Ungunst des Geschickes, die ihn einem Mohr zugeführt hatte“. Auf dieser Linie wurde auch in jüngster Zeit argumentiert. Hargen Thomsen meint, daß „sich in der Person Mohrs die psychischen Traumata des jungen Hebbel förmlich Ebd., S. 103. FLEBBE, Hebbel und Hamburg, S. 105. 1782 Dieses und das folgende Zitat: ZEISS, Hebbels Leben und Werke, S. 19. 1783 BIEBAU, Der Kirchspielvogt Mohr, S. 176. 1784 Ebd., S. 168. 1785 REUSCHEL, Kirchspielvogt Mohr, S. 106. 1786 Dieses und das folgende Zitat: FEDERN, Friedrich Hebbel, S. 33. 1780 1781

Ein Kirchspielvogt und ein Dienstbote

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zusammenballen: enttäuschte Sohnesliebe, soziale Deklassierung und die Demütigung des intellektuellen Aristokraten“.1787 Und Young-Mok Kim sekundiert: „Hebbels bittere Klage über seinen ehemaligen Herrn beruht vor allem auf der tiefen Empfindung der Erniedrigung und Verdinglichung, der er unterworfen war“.1788 Das mochte Hebbel, je später, um so stärker, subjektiv selbst so sehen – doch sind dies nicht möglicherweise Zuschreibungen und Konstrukte, die im Rückblick entstanden? Und war dies auch für ihn selbst schon die ganze Wahrheit? Denn Hebbel war mit den zeitund mentalitätsbedingten Möglichkeiten und Grenzen des Individuums besser vertraut, als die späteren Betrachter ahnten, auch wenn er diesbezüglich eher wortkarg blieb. Die andere Wahrheit sprach nüchtern Otto Mohr aus: „Wenn Hebbel eine Verbesserung seiner Existenz von meinem Vater nicht forderte, so geschah es unzweifelhaft, weil er selbst die Unmöglichkeit der Erfüllung einsehen mußte“ [HP I, 30]. Hebbels Jahre in der Kirchspielvogtei und sein Verhältnis zu Mohr lassen sich daher nicht über einen Leisten schlagen. Statt autobiographische bzw. literarische Stilisierungen wie die vom ‚verkauften Kind‘ oder vom ‚schwarzen Mann‘ fortzuschreiben, ist es notwendig, die realen mentalitätsgeschichtlichen Bruchkanten freizulegen – auch auf die Gefahr hin, daß Hebbels Jugendgeschichte sich nicht mehr als ‚Tragödie‘ goutieren läßt, sondern sich in neuer Unübersichtlichkeit zeigt: zwischen Prinzipal, peer group und Poesie.

Ein Kirchspielvogt und ein Dienstbote Die Landschaft Dithmarschen wies im frühen 19. Jahrhundert nicht nur in Kultur und Mentalität, sondern auch in politischer und bürokratischer Hinsicht stark altertümliche Züge auf. Dies prägte – trotz einer gewissen ‚Weltoffenheit‘ – auch ihre höchsten Repräsentanten, wie sich exemplarisch an Amt und Person des Kirchspielvogts Johann Jakob Mohr zeigen läßt. Die Hebbelforschung hat diesen historischen Hintergrund bislang allzu eklektisch rezipiert. Eine ganze Reihe von politischen und verwaltungstechnischen Rechten und Strukturen hatten Norder- und Süderdithmarschen noch aus den Tagen der Bauernrepublik bewahrt bzw. in späterer Zeit wieder erkauft. Dies begann mit der zentralen Stellung der Kirchspiele, die „schon im Mittelalter die entscheidende Instanz in der Gliederung des Landes“1789 darstellten und die „eigentliche Gemeindeverwaltung […] über zentrale Orte und Streusiedlung“ ausübten. An ihrer Spitze stand der Kirchspielvogt, der seinerseits eine besondere Vormachtstellung genoß – „in keiner anderen Gegend hatte dieses Amt solche Bedeutung“. Aus heutiger Sicht vereinigte er mehrere ‚Ämter‘ auf seine Person: Er war „akademisch ausgebildeter Richter, Verwaltungsbeamter und Inhaber der Polizeigewalt in einer Person. Denn eine ‚Trennung der Gewalten‘, wie sie in einem modernen Rechtsstaat üblich ist, gab es damals noch nicht“.1790 So konnte er THOMSEN, Grenzen des Individuums, S. 158. KIM, Die Verdinglichung, S. 91. 1789 Dieses und die folgenden Zitate: KRAMER, Volksleben in Holstein, S. 82. 1790 RANFT, Aus Friedrich Hebbels Wesselburener Schreiberjahren, S. 268. 1787 1788

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in vielerlei Hinsicht in das Alltagsleben der Menschen eingreifen. Auch über die Vermögensverhältnisse der Kirchspielseingesessenen war der Kirchspielvogt bestens unterrichtet – zunächst noch in der Rolle „des ‚Kirchspieleinnehmers‘, dem die Eintreibung der Steuern oblag“.1791 Johann Jakob Mohr ließ sich zwar unter Hinweis auf den Umfang seiner Dienstgeschäfte gut ein Jahr nach seinem Amtsantritt von diesen fiskalischen Amtspflichten entbinden, mit denen dann der Advokat Eduard Michael Knölck betraut wurde.1792 Doch wurden Geldgeschäfte, Schuldsachen, Konkurse etc. weiterhin in der Kirchspielvogtei zu Protokoll genommen. Juristisch war der Vogt für die niedere Gerichtsbarkeit zuständig: Er war sozusagen der Friedensrichter, dem es oblag, den strittigen Sachverhalt zu klären und möglichst durch einen Vergleich aus der Welt zu schaffen. Wenn ihm das nicht gelang, dann mußte er die Akten an das zuständige Gericht zur weiteren Verhandlung und Entscheidung abgeben. Er konnte aber in diesen Bagatellsachen auch selbst urteilsmäßige Entscheidungen treffen, wenn der Sachverhalt einfach und die Beweislage eindeutig war.1793

In der jüngst erschienenen Geschichte Dithmarschens spezifizierten Reimer Witt und Eckardt Opitz die weiteren Rechte und Pflichten der Dithmarscher Kirchspielvögte: Als Inhaber der polizeilichen Gewalt waren sie es, die „für Sicherheit, Ruhe und Ordnung im Kirchspiel sorgten. Als stimmberechtigte Mitglieder im Kirchenkollegium hatten sie Anteil an der Regelung der Kirchen- und Schulangelegenheiten vor Ort. Die Anliegen ihrer Kirchspielseingesessenen nahmen sie insbesondere in Steuerfragen und Umlagen in dem Landesvorsteherkollegium wahr und entwickelten und vertraten dort auch die Landespolitik.“1794 Auf der anderen Seite war das Kirchspiel „Organ der Selbstverwaltung“;1795 in dieser Eigenschaft „war und blieb [es] der Raum, in dem sich die politische Artikulation der Bewohner in überschaubarem Rahmen vollziehen konnte“.1796 So kam dem Kirchspielvogt als höchstem lokalen Repräsentanten des Staates und der Bevölkerung eine wichtige Vermittlerrolle zu. Er „nahm die Aufträge des Landesherrn/der Regierung entgegen und hatte sie umzusetzen; er war aber auch Verteter des Kirchspiels, das ihn dem Landesherrn vorgeschlagen hatte.“1797 Wie die Entscheidungsbildung in der Praxis ablief, berichtete der Wesselburener Pastor Volckmar 1813 anschaulich dem Generalsuperintendenten Adler: Die Kirchspielsvorsteher, derer mit Einschluß der Vollmachten nach der Größe der Kirchspiele 6 bis 12 sind, verhalten sich wieder gegen die Kirchspielvoigte wie diese gegen den Landvoigt. Nach den Rechten darf der K: Voigt auch nicht in der kleinsten Angelegenheit die das ganze Kirchspiel betrifft, ohne ihren Consens verfahren. Nach der Observanz ist ihr Vgl. BIEBAU, Der Kirchspielvogt Mohr, S. 171. Vgl. auch Klaus Groth in HP I, 39. Angesichts der krisenhaften und komplizierten Finanzlage von Kommunen und Privatpersonen in den Jahrzehnten nach 1813 kam diese Ämtertrennung bald generell in Dithmarschen zur Ausführung. Vgl. MARTEN/MÄCKELMANN, Dithmarschen, S. 306. 1793 RANFT, Aus Friedrich Hebbels Wesselburener Schreiberjahren, S. 268. 1794 WITT, Dithmarschen unter der Fürstenherrschaft, S. 200. 1795 OPITZ, Dithmarschen 1773 – 1867, S. 222. 1796 Ebd., S. 221. 1797 Ebd., S. 222. 1791 1792

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Consens dem K. Voigte so sicher daß dieser sie auch nicht einmal immer darum befragt, sondern nur zu seinem Schutze sie versammelt um ihnen die Verantwortlichkeit für seine Thaten aufzubürden. Aber ein Hollsteinischer Kirchspielvoigt ist weit davon entfernt sich das Ansehen zu geben als ob er eigenmächtig verfahre. Er beredet sie unaufhörlich daß er nur der Vollstrekker ihres Willens sey und ganz durch sie geleitet werde; welches auch allerdings sehr oft der Fall ist sobald sein persönliches Interesse sich ihren Wünschen nicht widersetzt.1798

Oftmals waren die Kirchspielvorsteher nicht einmal in der Lage, die vom Kirchspielvogt vorgetragenen Sachverhalte richtig einzuschätzen, wie überhaupt „wohl nicht leicht in irgend einem Kollegium die sämtlichen Mitglieder immer im Stande [sind,] den Vortrag ihres Chefs auf der Stelle hinlänglich zu fassen und nöthigenfalls zu widerlegen, zumal wenn der Chef Gewandheit im Ausdruck besitzt, und für jede Frage eine Antwort, für jeden Gegengrund eine Widerlegung in Bereitschaft hat.“ Nach ihrer Unterwerfung im Jahr 1559 hatten die Dithmarscher durchsetzen können, daß die öffentlichen Ämter nur von Landeseinwohnern besetzt werden durften. Das Indigenat erschien ihnen als „Garant für die Autonomie […] bis in die unteren Verwaltungsebenen hinein“.1799 Erst 1778 war diese Regelung abgeschafft worden, um „juristisch vorgebildete Personen berücksichtigen zu können“.1800 Seitens des Staates verband sich damit die politische Intention, „die Bürokratie als ein von den Ständen unabhängiges Gebilde, als Waffe gegen die Stände“1801 zu etablieren, indem die von außen kommenden Beamten als Berufsstand rechtlich und räumlich „außerhalb der geburtsständisch geordneten Gesellschaft“ angesiedelt waren. Dadurch, so resümierte Hans H. Gerth in seiner Studie über die Bürgerliche Intelligenz um 1800, „waren die Fremdbeamten ungleich abhängiger von der persönlichen Gunst des Fürsten, da sie keinen politischen und sozialen Rückhalt im Lande hatten. Sie waren die gefügigsten Fürstendiener, die zuverlässigsten und von sich aus ungehemmtesten Männer im Kampf gegen die ständischen Gewalten“. Was jedoch für das preußische Beamtentum im allgemeinen zutreffen mag, läßt sich auf die Dithmarscher Verhältnisse nach der Abschaffung des Indigenats kaum übertragen, wo das Studium von Bauernsöhnen eine lange Tradition besaß.1802 Johann Jakob Mohr hatte nach dem Besuch des Johanneums in Hamburg Jura an der Universität Göttingen studiert und dort das Examen mit Auszeichnung bestanden; erfüllte somit also die fachlichen Voraussetzungen. Zugleich blieb das Amt des Vogts mit seiner Berufung in der Hand eines Eingesessenen: Mohrs früh verstorbener Vater war Bauer im Wesselburener Nachbarort Tiebensee gewesen; seine Mutter heiratete in zweiter Ehe den Kirchspielvogt von Neuenkirchen, Hans Buhmann; Johann Jakob selbst ehelichte die Tochter seines Dieses und das folgende Zitat: VOLCKMAR, [Bericht] Zum GK. Visit. Protocoll von Norderdithmarschen 1813. Anlage Eb). LSH, Abt. 19, Nr. 75. 1799 OPITZ, Dithmarschen 1773 – 1867, S. 221. 1800 Ebd., S. 222. 1801 Dieses und die folgenden Zitate: GERTH, Bürgerliche Intelligenz, S. 73. 1802 Deert Hansen etwa schreibt mit Blick auf Eiderstedt im späten 18. Jahrhundert: „Reich begüterte junge Leute der Landschaft absolvierten damals öfter das Universiätsstudium ohne Absicht, jemals ein entsprechendes öffentliches Amt übernehmen zu wollen“ [HANSEN, Die Stiftung Hochdorf, S. 167]. 1798

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Wesselburener Amtsvorgängers Christian Peter Bruhn.1803 Auch eine kluge ‚Heiratspolitik‘ spielte also nach wie vor eine Rolle. Familie verflechtet – und verpflichtet. So vertrat der Vogt gleichermaßen qua Amt und Herkunft vor allem die Interessen der großbäuerlichen Führungsschicht seines Kirchspiels. Die Landwirte duldeten ihrerseits „seine Vormachtstellung in der Verwaltung, weil er ihnen in ihrem eigenen Bereich kaum etwas hineinredete“.1804 Sowohl innerhalb des Bauernstandes, als auch der dünnen, zentralörtlichen akademischen Elite war er nicht bloß primus inter pares; sondern zugleich herausgehoben durch eine altertümliche Machtfülle, die letztlich auf Dithmarscher Sonderrechte aus dem 16. Jahrhundert zurück ging. Selbst die Pastoren verharrten demgegenüber offenbar in einer subalternen Position, wie zumindest die Klagen der Wesselburener Geistlichen nahelegen. So nannte Friedrich Carl Volckmar die Stellung von „Prediger und Schullehrer in Dithmarschen unendlich schwach“;1805 es laufe geradezu „gegen die Verfassung unserer Republick dem Prediger nur die mindeste Auctorität einzuräumen“. Sein Kollege Meyn beschwerte sich 1818 über Eingriffe des Kirchspielvogts in die Schulangelegenheiten, sowie darüber, daß er ihm das Mitspracherecht im Armenwesen streitig mache: „Als eine Gnade will man es angesehen haben, daß ich mitreden darf“.1806 Richard Maria Werner lag demnach mit seiner Einschätzung durchaus richtig: „Der Kirchspielvogt, der nur mit zwei Familien in Wesselburen überhaupt verkehrte, muß als eine Art Aristokrat des Ortes angesehen werden“.1807 Hermann Krumm meinte demgegenüber, es sei „eine merkwürdige Anomalie, daß gerade in dem freien Dithmarschen die Juristen, namentlich die im Besitz der höchsten Verwaltungsstellen befindlichen, ausschließlich den vornehmsten Familien des Ländchens entstammend, sich kastenmäßig von dem Volke abgeschlossen hatten.“1808 Krumms Unverständnis beruht auf einer irrigen Auffassung von der ‚Freiheit‘ der sogenannten „Bauernrepublik“. Schon diese war im Prinzip oligarchisch organisiert, indem die Macht in den Händen einiger, vorwiegend in der Marsch begüterter Geschlechterverbände bzw. ihrer Oberhäupter lag. Karl S. Kramer umriß ansatzweise die überkommene Mentalität der Großbauern: Ihre wirtschaftlichen Interessen waren […] über die Landesgrenzen hinaus gerichtet; ihre kulturellen Leitbilder empfingen sie – ganz anders als die ärmeren Bewohner der Geest – aus den Städten, vornehmlich aus Hamburg. Für engere (fürsorgliche) Beziehungen zu den Nachbarn und kleinen Leuten ringsum bestand keine Veranlassung. Untereinander aber war man reserviert und im aufflackernden Konkurrenzkampf kriegerisch und gewalttätig.1809

Biographische Angaben nach BIEBAU, Der Kirchspielvogt Mohr. KRAMER, Volksleben in Holstein, S. 82. 1805 Dieses und das folgende Zitat: VOLCKMAR, [Bericht] Zum GK. Visit. Protocoll von Norderdithmarschen 1813. Anlage Eb). LSH, Abt. 19, Nr. 75. 1806 MEYN, Pflichtmäßiger Bericht. (Anlage E. Zum GK. Visit. Protocoll von Norderdithmarschen 1818. LSH, Abt. 19, Nr. 75. 1807 WERNER, Friedrich Hebbel. Ein Lebensbild, S. 33. Hervorhebung C. S. 1808 KRUMM, Friedrich Hebbels Leben, S. 23. 1809 KRAMER, Volksleben in Holstein, S. 82. 1803 1804

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Einflüsse der Aufklärung gaben der Mentalität selbst der „latinschen Buern“ – derjenigen, die etwa auf der Meldorfer Gelehrtenschule die höhere Bildung empfangen hatten – nur einen dünnen zivilisatorischen, eher elitären Anstrich. Und auch die bürgerliche Bildungselite Schleswig-Holsteins sonderte sich in gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht deutlich vom einfachen Volk ab. Der Volkskundler Kai Detlev Sievers schreibt: Nichts kennzeichnet die Epoche der Aufklärung mehr, als die noch immer scharfe soziale Differenzierung des Volksganzen, die erst allmählich im Laufe des 19. Jahrhunderts nachläßt. Bei allen Bemühungen um wirtschaftlichen Fortschritt und Förderung des allgemeinen Erziehungswesens achtet die gebildete Klasse doch sehr darauf, daß ihre geistige und gesellschaftliche Sonderstellung gewahrt bleibt. Das sogenannte bürgerliche Zeitalter, das in Literatur und Kunst durch die Führung der nichtadligen Kräfte geprägt ist, wünscht kein Verwischen der Grenzen nach unten hin.1810

Vor diesem Hintergrund von marschbäuerlicher Herkunft, akademischer Bildung und verliehenem Amtsstatus muß Johann Jakob Mohr beurteilt werden. Interessant ist, daß bei aller Parteilichkeit auch Emil Kuh zu einer weniger polemischen Bewertung durchaus in der Lage war, wenn er zugab: „Das Porträt, das uns vom Kirchspielvogt überliefert worden, sticht nicht auffallend gegen die bekannten Schilderungen halb bürgerlicher, halb aristokratischer Hoheit ab, welche sich in solchen Würdenträgern eines kleinen Gemeinwesens verkörpert […] mit seinem Stolze auf das Angeeignete und Erlernbare, mit seiner Sicherheit und seinem Familiendünkel, die sich in der erstorbenen Bauernrepublik um so zäher behaupteten“1811 (Abbildung 15). Doch als zählebiger Dünkel einer eigentlich abgehalfterten Kaste läßt sich diese Mentalität gleichfalls nicht charakterisieren, zeigte doch der verwaltungsgeschichtliche Überblick, daß zwar die „Bauernrepublik“ als solche, nicht aber die überkommenen Herrschaftsstrukturen in Dithmarschen ‚erstorben‘ waren. Dies muß man sich vor Augen halten, um ermessen zu können, welch „gewaltige Respektsperson“1812 sich des vaterlosen Maurersohns „Krischan“ Hebbel annahm. Der zweitälteste Sohn des Vogts, Otto Mohr (1835 – 1918) wußte von seinem Vater, daß Hebbels „Aufnahme nach dringenden Bitten der Angehörigen und des bisherigen Lehrers erfolgte“ [HP I, 29], und Emil Kuh schrieb über Friedrichs anfängliche Empfindungen: „In der ersten Zeit betrachtete er den Kirchspielvogt als ein höheres Wesen und jedes von ihm empfangene freundliche Wort als eine Art Gnade. Sein zur Dankbarkeit geneigtes Gemüt sah in der Hand, welche ihn aus der Niedrigkeit zuerst heraufgezogen, eine Segenshand.“1813 Daß bei Mohr Hilfsbereitschaft, vielleicht gar aus nachbarschaftlichem Verantwortungsgefühl, die Entscheidung mitbestimmte, geht aus der Tatsache hervor, daß der neue Laufbursche eigentlich „für den kleinen Haushalt nicht erforderlich“1814 war – zumal der noch Unverheiratete bereits SIEVERS, Volkskultur und Aufklärung, S. 143. KUH, Biographie, Bd 1, S. 80. Vgl. dagegen den polemischen Ton, ebd., S. 119. 1812 RANFT, Aus Friedrich Hebbels Wesselburener Schreiberjahren, S. 268. 1813 KUH, Biographie, Bd 1, S. 79. 1814 Otto Mohr, zit. nach HP I, 28. 1810 1811

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einen Schreiber, einen Kutscher und eine Haushälterin unterhielt. Aushilfsweise beschäftigte er in der Folgezeit sogar zusätzlich Friedrichs Bruder Johann. Daß Mohr seine abgelegten Kleider von Hebbel auftragen ließ, daß er ihn „mit Kutscher und Stallmagd an Einen und denselben Tisch zwang“ [T 2442], ihn mit ersterem ein Bett teilen ließ und daß dieses Bett unter der Bodentreppe „in einer Art von Verschlag, in irgendeinem Durchgang des Hauses angebracht [war], wo von einem Zimmer oder einer Kammer nicht die Rede sein konnte“1815 – dies alles hat bei einigen Biographen Befremden, ja Empörung ausgelöst. Dabei hatte schon Otto Mohr 1877 überzeugend versichert, daß die vermeintlichen Demütigungen voll und ganz „den damaligen Sitten“ [HP I, 29] entsprachen und daß Hebbel tatsächlich nicht anders behandelt wurde als später die Söhne des Kirchspielvogts: „Ich selbst habe noch als erwachsener Jüngling mit meinem Bruder das Bett teilen“ [HP I, 29] sowie „Kleider aus den abgetragenen Röcken“ [HP I, 33] des Vaters anziehen müssen, berichtete Otto Mohr, der später als technischer Ingenieur und Professsor an der Technischen Hoschschule Dresden reüssierte. Insbesondere Hebbels ‚Bettgeschichte‘ mit dem Kutscher Christoph Sievers war mit Otto Mohrs Einlassungen allerdings noch keineswegs erledigt. Als spätere Hebbelforscher, allen voran Paul Bornstein, den Weg nach Wesselburen und in die Kirchspielvogtei fanden, wurde ihnen als historischer Schlafplatz ein unter der Dielentreppe gelegener, „klavierkistenartiger Verschlag“1816 mit einer ebenerdigen Klappe vorgeführt, die so klein war, „daß ein erwachsener Mensch in der Tat Mühe gehabt hätte, sich hindurchzuzwängen“.1817 Etta Federn und Karl Strecker dokumentierten den baulichen Zustand in ihren Biographien mit ganzseitigen Abbildungen1818 (Abbildung 16). Was sie nicht wußten: Die Treppe auf der Vorderdiele war erst nach Hebbels Zeit eingebaut worden; hier hatte er nie geschlafen. Möglicherweise auch deshalb faßte der Leiter des Hebbel-Museums, Ludwig Koopmann, im Jahr 1952 „den mutigen Entschluß, an der alten Stelle eine Treppe rekonstruieren zu lassen, die genau die gleichen Ausmaße hat wie die abgebrochene“1819 (Abbildung 17). Trotz fehlender Originalbefunde war dies insofern problemlos, als es sich bei der wandfesten Kombination von Aufgang und Alkoven eben um eine verbreitete ‚Standard‘-Einrichtung handelte. Mit erheblichem materiellen Aufwand wurde so eine räumliche (und soziale) Situation wiederhergestellt, die letztlich nichts ‚Besonderes‘ war. In seiner späten Abrechnung mit Mohr, nahm Hebbel denn auch nicht an Bettstatt und Bettgemeinschaft mit dem Kutscher als solcher Anstoß; dafür spitzte er den Vorwurf nun aber auf besondere Weise zu: Schließlich noch einen Gruß an den alten treuen Christoph, dessen Sie auf eine Art gedenken, als ob Sie glaubten, daß ich mich seiner schäme. Das ist durchaus nicht der Fall, wenn ich auch vor zwanzig Jahren seine Reconvalescenz nach dem Fleckfieber nicht auf Ihren Leopold Alberti, zit. nach HP I, 17. WERNER, Friedrich Hebbel. Ein Lebensbild, S. 32. 1817 BIEBAU, Der Kirchspielvogt Mohr, S. 174. Vgl. auch STRECKER, Friedrich Hebbel, S. 51. 1818 STRECKER, Friedrich Hebbel, nach S. 50; FEDERN, Friedrich Hebbel, nach S. 32. 1819 BIEBAU, Der Kirchspielvogt Mohr, S. 174. Vgl. auch KOOPMANN, Das Hebbelmuseum, S. 126. 1815 1816

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Befehl mit ihm in Einem und demselben Bett durchmachen wollte, um Ihnen mit Gefahr meines Lebens eine kleine Ausgabe zu ersparen [WAB 3, 60].

Daß Mohr aus Geiz das Leben seines Schreibers aufs Spiel gesetzt habe, war natürlich ein ungeheurer Vorwurf. Doch auch dieser ließ sich so nicht halten. Schon Paul Bornstein wies darauf hin, daß der Begriff „Reconvalescenz“ durchaus dehnbar sei, und vor allem darauf, daß ein zur damaligen Zeit von Hebbel verfaßter Brief an Heinrich Schacht sehr wohl die Krankheit Christophs erwähnte, nicht aber ein Fehlverhalten Mohrs monierte.1820 Hätte Hebbel selber tatsächlich Angst vor Ansteckung und „Gefahr meines Lebens“ gehabt, so hätte er sicherlich auch kurzfristig in die Wohnung seiner Mutter ausweichen können. Die Möglichkeit des direkten Vergleichs der Aussagen von 1833 und 1854 ergibt, daß sein Vorwurf nicht allein objektiv kaum begründet erscheint, sondern daß sich auch das subjektive Gefühl der Demütigung erst im nachhinein einstellte. „Im 19. Jahrhundert versucht jedermann, wenn irgend möglich alleine zu schlafen“,1821 hat Martin Beutelspacher beobachtet. Dieser modernen Gefühlslage stellt er die „relativ entspannte und den Kontakt eher suchende Haltung aus dem 18. Jahrhundert“ gegenüber. Diese traditionale, unverkrampfte Haltung darf man den Schlafgenossen „Krischan“ und „Stoffer“ durchaus unterstellen, standen doch beide „in einem herzlichen Freundschaftsverhältnisse“.1822 Hebbel betonte ja sogar Mohr gegenüber, daß er sich keineswegs „seiner schäme“. Erst nach der Wesselburener Zeit machte er sich die „aufklärerischen Licht-Luft-Hygiene-Forderungen“1823 zu eigen, die sich in der Gesellschaft allmählich verbreiteten: „Die Angst vor ‚allerley bösen Krankheiten‘ nimmt ständig zu, wobei die Argumentation zwischen Hygiene und Moral angesiedelt bleibt“. Geschickt nutzte Hebbel den Einstellungswandel aus, indem er die neuen Maßstäbe von „Hygiene“ und „Moral“ auf den einstigen Rekonvaleszenzfall applizierte. Nach reiflicher Abwägung kam bereits der kundige Paul Bornstein zu dem Urteil: „Ich habe durchaus den Eindruck, daß H[ebbel], wie so oft aus rückschauender Erinnerung, die Dinge nachträglich steigert und zuspitzt“.1824 Gustav Biebau resümiert: „Die vorhandenen Wohnverhältnisse und die Hausordnung im Hause des Kirchspielvogts haben den jungen Hebbel ganz offenbar, solange er hier Brot und Unterkunft hatte, sehr viel weniger gestört, als seine Biographen das später dargestellt haben“.1825 Wenn sich dennoch im nachhinein „in der Person Mohrs die psychischen Traumata des jungen Hebbel förmlich zusammenballen“,1826 wie Hargen Thomsen formuliert, dann beruht dies ursächlich weniger auf dessen realem Verhalten, als auf nachträglichen Verschiebungen Hebbels, die sich auf die gesamte Wesselburener Sozialisation Vgl. WAB 1, 30; DjH I, 259; sowie HP I, 469; REUSCHEL, Kirchspielvogt Mohr, S. 105. Dieses und das folgende Zitat: BEUTELSPACHER, Kultivierung bei lebendigem Leib, S. 28. Hervorhebung C. S. Das von Hebbel in seiner Knabenzeit rezipierte Noth- und Hülfsbüchlein Rudolph Zacharias Beckers etwa „berührt das Thema noch nicht“ [ebd., S. 27]. 1822 Otto Mohr, zit. nach HP I, 29. 1823 Dieses und das folgende Zitat: BEUTELSPACHER, Kultivierung bei lebendigem Leib, S. 28. 1824 HP I, 469. Vgl. auch den gesamten Kommentar in HP I, 467–469. 1825 BIEBAU, Der Kirchspielvogt Mohr, S. 173. 1826 THOMSEN, Grenzen des Individuums, S. 158. 1820 1821

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beziehen. Schon Bornstein hat darauf hingewiesen, daß auch an seiner „verlegene[n] Unfreiheit im Verkehr mit andern […] nicht Mohr, wenigstens nicht nur er, sondern ebenso Hebbels Herkunft und Kinderstube schuld“ [HP I, 596] gewesen seien. In der Tat sprach Hebbel im Jahr seines Weggangs gegenüber Heinrich Schacht generell von den „Verhältnissen“ [WAB 1, 61] und „dem jämmerlichen Wesselburen“ [WAB 1, 61], in dem er jahrelang habe „hinschmachten“ [WAB 1, 61] müssen; entsprechend fällte der knapp 30jährige in einem Brief an Frederik Dankwart gleich über seine gesamte Lebensgeschichte ein vernichtendes Urteil: „Mein Vater war arm u starb früh; einer gedrückten Jugend folgte bei mir nach einem Intermezzo von sieben verlorenen Jahren, die ich als Schreiber bei einem Beamten verlebte, eine schwere Studien- u Universitätszeit“ [WAB 1, 392]. Eine Kindheit, die diesen Namen nicht verdiente, eine gedrückte Jugend bis zur Konfirmation, dann die verlorenen Schreiberjahre und schließlich eine schwere Studienzeit – wenn unterschiedslos jede Epoche nur aus Demütigungen und Bedrückungen bestanden haben soll, dann erscheint die Beurteilung Mohrs im Verein mit der Verdüsterung der Vorgeschichte insgesamt als das Resultat weniger dieser – selbst sehr heterogenen – Geschichte, als vielmehr der unverarbeiteten biographischen ‚Beschleunigung‘ seit 1835 und nochmals seit 1839, aus deren Perspektive das Vergangene notwendig ‚verzerrt‘ erscheint. Wenngleich der Streit um die Frage, ob Hebbels Lebensumstände bei Mohr als demütigend gelten können, weitgehend entschieden ist – als sozial- und mentalitätsgeschichtliches Lehrstück ist er weiterhin interessant. Denn er warnt, mag man dem Dichter selbst auch das Recht auf ‚produktiven Irrtum‘ zugestehen, den Betrachter nachdrücklich vor Projektionen späterer Standards auf eine nicht mehr verstandene Vergangenheit. Andererseits läßt sich ein bereits zu Hebbels Wesselburener Zeit eintretender Wandel der herrschenden Sitten nicht in Abrede stellen – zumal selbst eine traditional ausgerichtete Gesellschaft nie völlig statisch ist. Karl S. Kramer beobachtet, daß das Essen „aus dem gemeinsamen Topf […] wohl bis an die Schwelle des 19. Jahrhunderts auch gemeinsam eingenommen“1827 wurde. Im 19. Jahrhundert, so Kramer „wird dann von Beobachtern registriert, daß das gemeinsame Essen weitgehend aufgehört habe“. Kramer interpretiert dies aber nicht als um sich greifende individuelle Vorliebe, sondern erkennt hierin ein Kriterium, ob das Gesindewesen „‘patriarchalisch‘ oder rechtlich“1828 organisiert war. Mit der Verrechtlichung verbanden sich Tendenzen der sozialen Differenzierung, der familiären Abschließung innerhalb des ‚ganzen Hauses‘ und letztlich auch der Säkularisierung: Rolf Engelsing hat darauf hingewiesen, daß die „traditionale Hausgemeinschaft als christliche Gemeinschaft auch eine Bildungsgemeinschaft gewesen war. Anläßlich der gemeinsamen Mahlzeiten hielt man gemeinsame Andachten“.1829 Nach einer Lesung „sang und betete die Tischgemeinschaft zusammen“. Die ernsthafte Teilnahme an einer naiv-frommen Hausandacht wäre aber schon für den Verfasser des Holion von 18291830 nur noch als Camouflage denkbar gewesen. Nicht etwa mit der differenzierten Sitzordnung an sich Dieses und das folgende Zitat: KRAMER, Volksleben in Holstein, S. 115. Ebd., S. 17. 1829 Dieses und das folgende Zitat: ENGELSING, Dienstbotenlektüre, S. 189. 1830 Vgl. DjH II, 229. 1827 1828

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war Hebbel unzufrieden, sondern mit seiner Plazierung am Gesindetisch. So weit war die Desintegration des ‚ganzen Hauses‘ jedoch noch nicht fortgeschritten. Dem halbwüchsigen Bediensteten hätte es schlecht zu Gesicht gestanden, wenn er seine innere Distanz als sozialen Anspruch vor sich her getragen hätte. Mochte er auch das Gefühl haben, zwischen zwei Stühlen zu sitzen – so wie jeder Lehrling „der Hauszucht des Meisters unterworfen“1831 war, blieb auch er an seinen Platz „innerhalb eines hierarchischen Gefüges“ gebunden. Friedrich war als Laufbursche eingestellt worden und mußte anfangs „verschiedene häusliche Obliegenheiten versehen […]. Er hatte Einkäufe in die Küche zu besorgen, Bestellungen auszurichten u. dgl. m.“,1832 berichtete Emil Kuh. Hinter der Abkürzung „u. dgl. m.“ verbarg der Biograph diskret Tätigkeiten, die ihm sein Informant Klaus Groth sehr wohl mitgeteilt hatte: „Stiefelputzen, Ofenheizen“.1833 Daß Hebbel durchaus mit den niedrigsten Diensten angefangen hatte, paßte Kuh jedoch nicht ins Konzept seiner Dichterbiographie. Bereits im kleinsten deutet sich an: Nicht Hebbels große Zukunft, sondern der von ihr geblendete Biograph stellt die Wesselburener Wirklichkeit rückblickend in den Schatten; ‚wichtig‘ ist, was auf spätere Größe vorausdeutet, ‚Unwichtiges‘ wird unsichtbar. Stand Friedrich nun einerseits unter dem Regiment der Haushälterin Wiebke Hinrichs,1834 so ging er andererseits dem Schreiber Johann Friedrich Martens (1792 – 1845) zur Hand, für den er anfangs „nur amtliche Botengänge erledigen und gelegentlich Abschriften machen“1835 mußte. Darüber hinaus wurde er nach einiger Zeit bereits mit eigenständigen bürokratischen Aufgaben betraut. Generell wurde der Lebenslauf strukturiert von einer „sehr weit in die Vergangenheit zürückreichenden Einteilung des Lebens in Stufen“,1836 basierend auf einer „Zeiterfahrung, die nicht eine kontinuierliche ‚Entwicklung‘ kannte, sondern nur eine Dauer und den Sprung“.1837 In seiner Studie über Traditionelle Jugendkultur weist Andreas Gestrich darauf hin, daß die Konfirmation im Leben der Jugendlichen einen tiefen biographischen Einschnitt darstellte. Als eine Art rite de passage stellt sie nicht den „Höhepunkt eines Reifungsprozesses“ dar, sondern eher das „abrupte Ende eines Zustandes des Nichtreifseins, die jähe Verwandlung eines bisher unverändert ‚unschuldigen Kindes‘.“ Mit diesem Tag traten die Halbwüchsigen „in vorindustrieller Zeit und im ländlichen Raum bis in dieses [20.] Jahrhundert hinein […] in einen neuen ‚Stand’“.1838 So markierte die Konfirmation „den Beginn des von familialer Kontrolle Dieses und das folgende Zitat: SCHLUMBOHM, ‚Traditionale‘ Kollektivität und ‚moderne‘ Individualität, S. 273. 1832 KUH, Biographie, Bd 1, S. 78. Die folgenden drei Absätze nach SCHOLZ, Der mündige Schreiber, S. 110–112. 1833 GROTH, Friedrich Hebbels Jugendjahre, S. 124. 1834 Die plattdeutsche Namensform „Wietjen Hinners“ ist bei Kuh und Werner zu „Himers“ verballhornt. – Wiebke war möglicherweise die ältere Schwester der späteren Magd Antje Hinrichs. 1835 BIEBAU, Der Kirchspielvogt Mohr, S. 172. 1836 IMHOF, Die verlorenen Welten, S. 144. 1837 Dieses und das folgende Zitat: MATT, Verkommene Söhne, S. 278. 1838 GESTRICH, Traditionelle Jugendkultur, S. 76. 1831

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weitgehend freien Jugendlebens in den Kameradschaften.“1839 Doch zugleich verbanden sich damit auch neue Pflichten. Von nun an waren die jungen Leute „in vielen Bereichen selbst für ihr Tun verantwortlich, ihnen wurde ein Halberwachsenenstatus zuerkannt, der die Beherrschung der wichtigsten sozialen ‚Spielregeln‘ und die Internalisierung der grundlegenden Normen voraussetzte“.1840 Mit der formellen kirchlichen und moralischen Mündigkeit begann außerdem „die Pflicht, von nun an seine ganze Arbeitskraft für die eigene Ernährung bzw. die der Familie einzusetzen“.1841 Die Knaben kamen meist „nur wenige Tage darauf in eine Lehre“.1842 Hatte Hebbels ‚Schreiberlehre‘ informell schon vorher begonnen,1843 so muß doch auch bei ihm die Konfirmation als ein herausragendes biographisches Ereignis gelten. Nicht nur in der protestantischen Theologie galt die „Auffassung, daß voll rechtsfähig nur ist, wer kommunionsfähig ist. So wird die […] K[onfirmation] zum Akt der Aufnahme in die bürgerliche Gemeinde“.1844 Da sie auch im aufklärerischen Verständnis einen „bürgerlichen Mündigkeitsritus“1845 darstellte, änderte sich mit dem kirchlichen der weltliche Status des bisherigen Laufburschen, der nun offiziell geschäftsfähig wurde: „Nach der Konfirmation entfielen für Hebbel die häuslichen Arbeiten, sein Arbeitsplatz war nur noch die Schreibstube (Abbildung 18). Der Schreiber Martens wurde entlassen und Hebbel an seine Stelle gesetzt.“1846 Norbert Müller faßte Hebbels vielfältige Amtspflichten, die im kleinen die Breite von Mohrs Zuständigkeiten spiegeln, zusammen: „Er nahm polizeiliche Aufgaben wahr und erledigte weitgehend selbständig Geschäfte der Justiz und Verwaltung wie etwa das Visieren von Pässen und Wanderbüchern, die Aufnahme und Protokollierung von Verhören, die Durchführung von Versteigerungen und die Vollstreckung von Geldstrafen.“1847 Wenn Richard Maria Werner pauschal meinte: „Die ersten zwei Jahre in der Kirchspielvogtei sind dunkel“,1848 dann ist dem entgegenzuhalten, daß mit der Konfirmation ein – auch von den übrigen Biographen fast völlig übersehenes – Datum zur Verfügung steht, das diese Periode in höchst bedeutsamer Weise strukturiert: Nach Hebbels Eintritt in die Kirchspielvogtei zu Beginn des Jahres 1828 war die anschließende, gut einjährige Periode die eigentliche Anlernzeit; ab dem Zeitpunkt Ebd., S. 77. Ebd., S. 75. 1841 Ebd., S. 77. Hervorhebung C. S. 1842 Ebd., S. 76. 1843 Vgl. dazu Ranft: „Möglicherweise hat diese seine Schreibertätigkeit aber schon früher [vor dem Frühjahr 1829] begonnen. Denn in dem Zeugnis, das Mohr ihm ausgestellt hat am 13. Oktober 1834, ist die Rede davon, daß Hebbel ihm seit reichlich 6 Jahren eine hilfreiche Hand in seinen amtlichen Geschäften geleistet habe“ [RANFT, Aus Friedrich Hebbels Wesselburener Schreiberjahren, S. 270]. Diese Nachricht (das Zeugnis ist abgedruckt in HP I, 26f.) widerlegt im übrigen die Behauptung Theobald Bieders, daß sich im Vorforderungsprotokollbuch „Eintragungen Hebbels vom 2. April 1827“ [BIEDER, Führer durch das Hebbel-Museum, S. 6] an befänden. 1844 Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Sp. 1765. 1845 Ebd., Sp. 1762. 1846 BIEBAU, Der Kirchspielvogt Mohr, S. 175. 1847 MÜLLER, Der Rechtsdenker Friedrich Hebbel, S. 18. 1848 WERNER, Friedrich Hebbel. Ein Lebensbild, S. 37. 1839 1840

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seiner Konfirmation am 29. März 18291849 wurden dem mündig gewordenen jungen Mann amtliche und öffentliche Befugnisse offiziell übertragen. Und hatte er vor diesem Datum im Dithmarser und Eiderstedter Boten bereits einige Texte anonym veröffentlicht (zuletzt das Prosastück Der Traum am 12. Februar), so erschienen am 18. Juni mit Sehnsucht. An L. und am 2. Juli mit Kain’s Klage und Erinnerung die ersten von „C. F. Hebbel“ namentlich gezeichneten Werke – auch in der literaturinteressierten Öffentlichkeit trat der Schreiber nun als mündig auf.1850 Die weitreichende soziale Bedeutung, welche die Konfirmation in einem dithmarscher Marktort der damaligen Zeit noch besaß, hat schon Emil Kuh nicht mehr erkannt. Er sah lediglich eine ‚organische‘ Entwicklung in Hebbels Dienstverhältnis: „Als er eine tüchtige Geschäftsroutine sich erworben, rückte er zur Aufnahme von Verhören vor“.1851 Den informellen ‚Aufstieg‘ Friedrichs vor seiner Konfirmation markierte Kuh durch die Angabe des Lebensalters: „Er war noch nicht sechzehn Jahre alt, als er auch polizeiliche Geschäfte führte […], worauf der junge Mensch sich nicht wenig einbildete. Der Sohn des Häuerlings, den Mohr leider niemals vergessen hat, fühlte eine Art stolzer Genugtuung, in der Kirchspielvogtei amtieren zu können“.1852 Hier vermengte Kuh mehrere Aspekte miteinander, die sorgfältig auseinander gehalten werden müssen. Erstens: Weniger das Alter war entscheidend, denn „den Stempel allgemeiner Altersgruppeneinteilungen, wie ihn die Schule unserer Gesellschaft aufdrückt, gab es im vorindustriellen Europa nicht“.1853 Viel bedeutsamer war der Umstand, daß Hebbel noch nicht konfirmiert war, also eben noch nicht als geschäftsfähig galt, als ihm – inoffiziell und unter Aufsicht von Martens – bereits die ersten Amtsgeschäfte übertragen wurden. Daß er sich darauf einiges „einbildete“, bestätigt die prinzipielle Bedeutung dieses Datums. Zweitens: Wenn der Stolz des Knaben einen Grund hatte, dann nicht, weil er frühzeitig eine Stufe auf einer ‚Karriereleiter‘ erklommen hätte. Es zeugt vielmehr von einem weiteren modernen Mißverständnis, will man auf diesen Vorgang eine Sozialdynamik projizieren, die den „Sohn des Häuerlings“ hätte vergessen machen können. Denn gerade in sozialer Hinsicht fehlte ihm das entscheidende Merkmal des Erwachsenseins: die ökonomische Selbständigkeit. Mit dem Übergang „von der informellen Lehrzeit zu einem eher vertraglich geregelten Verhältnis im Handwerk oder in anderen Berufen“ tat man nur „einen weiteren Schritt aus der Abhängigkeit der Kindheit heraus“,1854 wie John R. Gillis in seiner Geschichte der Jugend einschränkte: „Bis zur Heirat blieb die Rolle von Jungen und Mädchen weiterhin durch die Halbabhängigkeit charakterisiert, eine Zeit, die man fern von zu Hause und von der Familie verbrachte, durchweg in Gemeinschaft mit Fremden.“ Auch hier markierte die Konfirmation die entscheidende Zäsur, mit der man „weniger in ein neues Lebensalter, als vielmehr in einen neuen ‚Stand‘: den der unver-

Zur Verwirrung um das genaue Datum in der Hebbel-Literatur und den damit verbundenen biobibliographischen Konsequenzen vgl. SCHOLZ, Der mündige Schreiber, S. 115ff. 1850 Vgl. ebd., S. 119. 1851 KUH, Biographie, Bd 1, S. 81. 1852 Ebd., S. 78f. 1853 GILLIS, Geschichte der Jugend, S. 20. 1854 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 24. 1849

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heirateten jungen Männer und Frauen“1855 eintrat. Damit waren aber auch die Grenzen der Emanzipation des Schreibers Hebbel von seinem Dienstherrn abgesteckt. Mit dem neuen Status verband sich ein Rollenwechsel im Rahmen der Adoleszenzphase, bei dem man eine „Abfolge von Positionen […] durchläuft und dabei jeweils auf bestimmte Verhaltenserwartungen trifft“.1856 Dies war mit größerer Verantwortung und Freiheiten verbunden – weniger aber mit einer sozialen Standeserhöhung. Darauf hatte schon Otto Mohr mit lapidaren Worten hingewiesen: „Später, nachdem Hebbel mit oder ohne Zutun meines Vaters die nötigen Fähigkeiten sich erworben, avancierte er zum Schreiber. Sowohl in der ersten, wie in der zweiten Stellung wurde er, wie es damals landesüblich war, zum Gesinde gezählt“ [HP I, 29]. Solche soziale Statik war in späteren Epochen, in denen Fortschrittsglauben und Karrieredenken zunehmend mentalitätsprägend wurden, kaum mehr vermittelbar, wie sich auch in der Hebbel-Biographik spiegelt. Waren sich die Autoren einig, daß der Eintritt in die Kirchspielvogtei eine „Wendung zum Besseren“,1857 ein „höchst wichtiger Schritt nach oben“,1858 ja ein „gewaltige[r] Fortschritt und geradezu die Rettung für den armen Maurerssohn“1859 war, dann ist dies angesichts der damaligen Notlage der Familie Hebbel zunächst nur eine naheliegende Einsicht. Doch wenn in diesem Schritt der gleichsam natürliche Beginn einer kontinuierlichen Aufstiegsdynamik gesehen wird, die Hebbels Prinzipal mutwillig oder auch nur fahrlässig behindert habe, dann liegen mentalitätshistorische Mißverständnisse nicht fern. Mit unverblümt klassenkämpferischen Tönen kritisierte Etta Federn den Dienstherrn, der ihn „deklassierte, indem er ihn festhielt in der Klasse, der Hebbel entstammte“.1860 Und wenn Hayo Matthiesen bemängelte, daß Mohr ihn zu seinem „Hauptschreiber [ernannte], ohne ihn jedoch entsprechend zu entlohnen“,1861 dann setzt er implizit eine Art Angestelltenverhältnis als normal voraus – ohne die von Hebbel darüber hinaus empfangenen materiellen und immateriellen Leistungen einzuberechnen. Weder ist ‚Klassenkampf‘ der richtige begriffliche Kontext, noch läßt sich die ‚Lohnfrage‘ isoliert beantworten. Freilich ist die Frage durchaus legitim, ob Hebbels ‚standes‘-gemäße Behandlung durch Mohr um 1830 wirklich völlig alternativlos war. Dies soll kurz geprüft werden. In der Tat war Hebbels direkter Vorgänger im Schreiberamt bei Mohr zu anderen Konditionen angestellt. Johann Friedrich Martens, gut 20 Jahre älter als Hebbel und sogar einige Jahre älter als Mohr, gehörte nicht zum Hausgesinde, bezog vielmehr ein Gehalt, von dem er eine eigene Wohnung finanzieren und alle anderen Kosten bestreiten mußte. Vor dem Amtsantritt Mohrs am 10. März 1826 hatte Martens kurzzeitig, „als das Amt des Kirchspielvogts vakant war, die Geschäfte stellvertretend geführt“.1862 Als er in die Funktion eines Privatsekretärs zurücktreten mußte, war er GESTRICH, Traditionelle Jugendkultur, S. 76. FEND, Sozialisierung und Erziehung, S. 170. 1857 CÖLLN, Friedrich Hebbel (Dithmarscher Dichterbuch 2), S. 31. 1858 WERNER, Friedrich Hebbel. Ein Lebensbild, S. 33. 1859 FASSBINDER, Friedrich Hebbel, S. 20. 1860 FEDERN, Friedrich Hebbel, S. 39. 1861 MATTHIESEN, Friedrich Hebbel, S. 17. 1862 BIEBAU, Der Kirchspielvogt Mohr, S. 172. 1855 1856

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vermutlich ebenso unterfordert wie überbezahlt. Seine baldige Entlassung zeigt, daß dieses arbeitsrechtliche Modell nicht auf Dauer angelegt sein konnte. Martens löste sich nun von jedweden dienstrechtlichen Abhängigkeiten, indem er einer „selbständigen Tätigkeit als Rechtsbeistand“1863 nachging. In eines der herkömmlichen Dithmarscher Verwaltungsämter rückte er nie mehr ein. Doch muß er mit Geschick und zugleich mit Offenheit für Neues agiert haben: Im Jahr 1838 übernahm der erfahrene Mann als erster das Ehrenamt eines Kassierers und Administrators der neugegründeten Spar- und Leihcasse des Kirchspiels Wesselburen.1864 Daß die Etablierung dieses Instituts glücken würde, war durchaus nicht vorhersehbar, sondern hing ganz von der Akzeptanz bei der Bevölkerung ab. Das ‚Spekulative‘ an Martens’ Karriere in der ‚freien‘ Wirtschaft zeigt sich geradezu sinnbildlich in einer späteren Funktion. Als er im Februar 1845 in zweiter Ehe Hebbels Jugendfreundin Emilie Voß – die Tochter des Kirchspielschreibers und zweithöchsten Beamten in Wesselburen – heimführte, verdiente er sein Geld auch als „Lotterie-Kollekteur“ [DjH I, 264]. Als Martens schon wenige Monate später starb, hatte er immerhin, wie sein Schwiegervater in einem Brief an Hebbel betonte, „gut für meine Tochter gesorgt, sie bewohnt die Stelle und kann ohne Sorgen leben“.1865 Wenn Martens sich beruflich außerhalb der traditionell vorgezeichneten Bahnen behaupten konnte, so war dies nur auf der Basis langjähriger Erfahrung und einer entsprechenden Vertrauensposition in der Bevölkerung möglich. Für den gerade erst halbwüchsigen Hebbel konnte er daher nicht als Muster dienen. Mit der Tätigkeit als Sekretär verband sich denn auch im Regelfall ein anderes, durchaus gediegenes und bewährtes berufliches Modell. Klaus Groth, der als Heranwachsender in Heide eine vergleichbare Position innehatte, wies darauf hin, daß „diese Schreiberstellen bei den Vögten, dem Pfennigmeister“1866 eher als eine Lehrzeit und eine Art ‚Wartestand‘ in der Phase der Adoleszenz betrachtet wurden, denn sie „waren für die Söhne aus wohlsituierten Bürgerfamilien gesucht“ und „führten durchschnittlich zu angesehenen Beamtenstellen im Zoll- und Postwesen, Einnehmern der Kirchspielsteuern usw.; denn in Dithmarschen hatten wir noch Zollfreiheit sowie Kommunalverwaltung aus der alten republikanischen Zeit gerettet.“ Gerettet hatte die Landschaft damit zugleich ein funktionierendes paternalistisches System der Protegierung und Ämterverteilung. Daß dies bei Martens nicht griff bzw. zu greifen brauchte, war offensichtlich ein Ausnahmefall. Norder-Dithmarscher Marsch-Sparkasse, Norder-Dithmarscher Marsch-Sparkasse. Jubiläumsund Geschäftsbericht, unpag. 1864 Vgl. ebd. sowie WAGNER, Wesselburen, S. 95. Zur großen Bedeutung des Kassierer-Amts vgl. die Statuten für die Spar- und Leih-Kasse in Heide, S. 8, § 15: „Der jedesmalige Kassirer ist auch zugleich und ohne weiteres, in allen Rechtssachen der rechtliche Vertreter der Spar- und Leihcasse. Er ist ohne Vollmacht activ und passiv zu allen und jeden und namentlich auch zu solchen Geschäften legitimirt und befugt, welche den Gesetzen nach ein besonderes Mandat erfordern. Insbesodere kann er in Proceßsachen Eide de- und referiren, Vergleiche […] abschließen […] so wie er überhaupt nach bester Ueberzeugung, und wie er es zu verantworten vermag, in Rechtsstreitigkeiten verfahren darf“. 1865 WAB 1, 785. Genaue Lebensdaten bei VOSS/HÖHNK, Geschichte der Familie Claus Starck Voß, Stammtafel. 1866 Dieses und die folgenden Zitate: Klaus Groth, zit. nach HP I, 39. 1863

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Wessen Dienste bereits in Geld abgegolten waren, wie dies bei Martens der Fall war, dem war man zu ‚unbaren‘ Leistungen nicht verpflichtet. Auch nach innen geriet das patriarchalische System, das ‚ganze Haus‘ an diesem Punkt in Auflösung – eine Erscheinung, die schon Adolph Freiherr von Knigge in seinem Buch Über den Umgang mit Menschen beklagt hatte: „Die Gesinde werden nicht wie Theile der Familie angesehen, sondern wie Miethlinge betrachtet.“1867 Diese Entwicklung nahm in Dithmarschen ihren Ausgang gerade bei den unterprivilegierten saisonalen Landarbeitern. Die Marschbauern „dingen daher die fremden Arbeiter für ihr Geld, zahlen ihnen den Gehalt richtig aus, aber lassen es dabei auch bewenden und kümmern sich nachher nicht weiter um ihre Knechte und Hausgenossen“,1868 berichtete Johann Georg Kohl 1846 und resümierte: „Der neuere Geldgeist herrscht in der Marsch, und obgleich er auch seine Sonnenseite hat, so entfremdet er doch die Menschen von einander und hat ein Element unerschütterlicher Härte und Gleichgültigkeit in sich“.1869 Sein Verhältnis zu Hebbel verstand Johann Jakob Mohr aber gerade nicht in dieser Weise; vielmehr sah er sich selbst als denjenigen, „in dessen Hause er aufgewachsen ist“ [DjH I, 80]. In seiner Abrechnung von 1854 bestritt der Dichter zielsicher genau dies, wobei er Mohrs Formulierung postwendend zurückwies und stattdessen den Vergleich mit Martens bemühte: Ich bin nun nicht in Ihrem Hause aufgewachsen, ich […] leistete Ihnen vom ersten Tage an Dienste, die Anfang’s zwar gering waren, die Sie aber sehr bald in den Stand setzten, Ihren Schreiber zu entlassen, und mich an seiner Statt zu verwenden. Dadurch ersparten Sie den nicht unbeträchtlichen Gehalt, den Sie ihm zahlen mußten und ich erhielt als Aequivalent Ihre abgelegten Kleider und die Beköstigung am Gesindetisch; für meine Bildung aber thaten Sie gar Nichts, wenn Sie es Sich nicht etwa als Verdienst anrechnen, daß Sie mir Ihre Paar Bücher nicht geradezu aus der Hand rissen [WAB 3, 59].

Der polemische Charakter von Hebbels Argumentation liegt auf der Hand: Position und Gehalt des Schreibers Martens taugten kaum als Vergleich; die altertümliche Bezahlung in Naturalia ließ sich umso mehr der Lächerlichkeit preisgeben, je mehr sie inzwischen außer Kurs gekommen war. Was Hebbel hier zudem unterschlug: Er hatte durchaus einen gewissen Barverdienst erhalten, den er, wie Mohr in seinem Zeugnis von 1834 anerkennend bestätigte, „zum größten Teil seiner Mutter hat zufließen lassen, um die Tage ihres Alters gegen Mangel sicherzustellen“ [HP I, 27]. Für den jugendlichen Hebbel war die All-inclusive-Versorgung, die sich mit dem Gesindestatus verband, fraglos ohne Alternative. Dazu gehörte auch die Versorgung mit geistiger Nahrung: Mohrs Bibliothek umfaßte keineswegs nur ein „paar Bücher“, sondern bestand nach Angaben Otto Mohrs aus „etwa 1000 – 1200 Bänden“ [HP I, 29] juristischer, allgemeinbildender, landeskundlicher und belletristischer Literatur. Und Zit. nach ENGELSING, Dienstbotenlektüre, S. 191. KOHL, Die Marschen und Inseln, S. 75f. – Generell bedeutete die „steigende Produktion von Nahrungsmitteln für eine Marktwirtschaft […] zunehmend den Einsatz von Lohnarbeit und das Zurückgehen alter patriarchalischer Strukturen, einschließlich der Bezahlung in Form von Kost und Logis“ [GILLIS, Geschichte der Jugend, S. 53]. 1869 KOHL, Die Marschen und Inseln, S. 77. 1867 1868

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Hebbel besaß reichlich Gelegenheit und Muße, sich um seine weitere Bildung zu kümmern – ein wichtiger Aspekt gerade des patriarchalischen Verhältnisses, das solche Spielräume ermöglichte. Otto Mohr schrieb: Die in der Kirchspielvogtei auszuführenden Schreiberarbeiten waren äußerst geringfügiger Art und beanspruchten die Tätigkeit eines gewandten und fleißigen Schreibers durchschnittlich vielleicht ein bis zwei Stunden des Tages; mehr als zwei Stunden sicher nicht. Die meisten Dithmarscher Kirchspielvögte hielten sich daher keine eigentlichen Schreiber; bei einigen war Kutscher, Gärtner und Schreiber eine und dieselbe Person. [HP I, 28]

Diese Aussagen konnte Gerhard Ranft aufgrund seiner Nachforschungen in den Vorforderungsprotokollbüchern (Abbildung 19) bestätigen: „Aus all dem ist zu ersehen, daß jeweils innerhalb eines Monats nur an wenigen Tagen streitende Parteien (Citant und Citat) zwecks Aufnahme eines Vorforderungsprotokolles erschienen sind. Diese Protokolle waren meist wenig umfangreich, sie füllten oft nur ¼ bis ½ Seite des Protokollbuches.“1870 Klaus Groth berichtete aus eigener Anschauung, es habe nur „wenige nötige Arbeit“ [HP I, 40] gegeben, und Hebbel selbst schrieb 1831 seinem Schreiberkollegen Theodor Hedde (1813 – 1888) einmal beiläufig, er sei „nicht sehr mit Geschäften überhäuft gewesen“ [WAB 1, 6]. Wenn Mohr Hebbels literarische Bestrebungen eher durch ein Gewährenlassen unterstützte, so kümmerte er sich aktiv dort um die Bildung seines Sekretärs, wo es ihm nicht nur ‚müßig‘ erschien, sondern einen praktischen Nutzen besaß. Norbert Müller faßte diese Art training on the job bündig zusammen: Abgesehen davon, daß Mohr Hebbel zu äußerer Ordnung zwang […], förderte der geschulte Jurist mit seiner spezifisch juristischen Denkweise die geistige Entwicklung Hebbels dadurch, daß er den phantasiebegabten Jüngling anhielt, die eigenen Gedanken zu ordnen, logisch aufzubauen und klar dazustellen. Dies war für Hebbel um so wertvoller, als eine Erziehung zu gedanklicher Disziplin durch Schule und Elternhaus weitgehend fehlte. […] Dieser Einfluß Mohrs wird nicht nur in der sicheren und gewandten Haltung Hebbels beim Abschluß von Verträgen und in geschäftlichen Briefen erkennbar […], sondern ganz allgemein in Art, Aufbau und Durchführung sonstiger Gedankengänge. Sicher besaß Hebbel von Natur aus „schon damals eine hohe Gabe der analytischen Kritik“ [Chr. M. Ed in: HP I, 44], ob er aber ohne die Erziehung durch Mohr jemals der scharfe Denker geworden wäre, dürfte zweifelhaft sein.1871

Neben einer solchen grundlegenden, an der Praxis orientierte Schulung waren es vor allem „Geschichte und Geographie, worauf ich seine Tätigkeitsliebe hinzuleiten gesucht habe“ [HP I, 26], wie Mohr in Hebbels Zeugnis festhielt. Und darüber hinaus „mag sich ab und zu“ – wie selbst Kuh widerwillig einräumte – „ein ästhetisches Gespräch geknüpft haben, wie denn z. B. der junge Hebbel bald Schiller, bald einen anderen Autor dem Kirchspielvogte vorlas, wenn dieser behaglich auf dem Sofa sich ausgestreckt hatte.“1872 Vor diesem gesamten Hintergrund erübrigt sich also die Frage, RANFT, Aus Friedrich Hebbels Wesselburener Schreiberjahren, S. 275. MÜLLER, Der Rechtsdenker Friedrich Hebbel, S. 21f. 1872 KUH, Biographie, Bd 1, S. 88. 1870 1871

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warum Hebbel sein Dienstverhältnis nicht von sich aus auflöste. Etwas ungnädig kommentierte Christoph Marquard Ed, ein damaliger Zeitgenosse: „Hebbel blieb acht Jahre in dieser Stellung; bei seiner ganz unbändigen Ehrsucht hätte er es nicht acht Monate ausgehalten, wenn er mißhandelt worden wäre“ [HP I, 35].

Ein Prinzipal in verjüngtem Maßstab? Wenn schon Tisch und Bett, materieller Standard und sozialer Standort Hebbels in der Kirchspielvogtei Anlaß genug für zahlreiche Mißverständnisse und Fehlschlüsse gaben, so gilt dies in besonderem Maße für die sozialpsychologischen Verhältnisse, die noch weniger ‚greifbar‘ scheinen und die Biographen gerade darum zu unreflektierter Einfühlung reizen mußten. Mit Präsuppositionen wie der einer unbewußten „Sehnsucht nach Vaterliebe“1873 Hebbels oder der „Hoffnung, seinem ‚inneren Kaisertum‘ ein Ziel zu setzen“, sollte man jedoch äußerst zurückhaltend sein. Es ist ein ahistorischer Rückschluß, doch keine entwicklungspsychologische Beobachtung, wenn etwa Wolfgang Wittkowski über den jugendlichen Hebbel schreibt: „Er aber fühlte sich im Keime schon als das, als was sich dann der reife Dichter wirklich fühlen sollte: als König. Und er ruhte nicht, bis die Könige ihm wie einem König Ehrerbietung zollten; bis Selbsteinschätzung und gesellschaftliches Ansehen einander entsprachen“.1874 Entspricht das evolutionäre Modell vom Keim, der seiner einen vorausbestimmten ‚Imago‘ entgegenzureifen hat, den Tatsachen? Spielten gesellschaftliche Faktoren nur eine Rolle, insofern sie dabei fördernd oder hemmend wirkten? Gerade so wurden sie in der Hebbel-Biographik immer wieder aufgefaßt. Dieses individualistische Modell ist aber gerade auf traditionale gesellschaftliche Kontexte nicht einfach übertragbar, wo Identitäten primär gesellschaftlich gestiftet und in einer Weise strukturiert sind, die sich dem modernen Verständnis nicht ohne weiteres eröffnet. In seinem Grundlagenwerk über Sozialisierung und Erziehung faßt Helmut Fend gängige Forschungsmeinungen zur Tradierung von Normen und Werten zusammen, die „in Anlehnung an Freuds Theorie des Überich“1875 argumentieren. Häufig werde davon ausgegangen, daß „die Normen einer Gesellschaft erst wirksam werden, wenn sie von Individuen internalisiert worden sind, so daß normkonformes Verhalten nicht nur eine Notwendigkeit sozialen Lebens, sondern auch ein Bedürfnis des Individuums ist.“ Kennzeichen solcher Internalisierung ist, daß die Norm „kognitiv und affektiv im Individuum repräsentiert ist“. Die Vermittlungsbemühungen sind ganz auf den Einzelnen ausgerichtet. Doch diese „innerliche kulturelle Motivation“ stellt nur einen Typus normativer Orientierung dar. Solchen „innengeleitete[n] Menschen“1876 lassen sich „außengeleitete“ gegenüberstellen: Diese verhalten sich normkonform, „weil sie

Dieses und das folgende Zitat: THOMSEN, Grenzen des Individuums, S. 158. WITTKOWSKI, Der junge Hebbel, S. 43. 1875 Dieses und die folgenden Zitate: FEND, Sozialisierung und Erziehung, S. 154f. 1876 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 153. 1873 1874

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Belohnung erwarten oder Strafe fürchten“.1877 Bei ihnen muß die Gesellschaft als zentrale Instanz konkret repräsentiert sein, um bei Abweichungen sofortige Sanktionen verhängen bzw. durch die Herstellung von Öffentlichkeit Schamgefühle erzeugen zu können: „Scham ist die Erfahrung der öffentlichen Erniedrigung in den Augen der Gruppenmitglieder. Es ist eine ‚Schande‘, bestimmte Regeln übertreten zu haben“,1878 was nicht ausschließt, daß diese gleichzeitig affektiv abgelehnt werden können. Die Übertretung internalisierter Normen ist dagegen an eine Empfänglichkeit gegenüber inneren Sanktionen, insbesondere Schuldgefühlen gekoppelt. Innenleitung weist darum auf „jene Form der Selbstkontrolle hin, durch die eine Person relativ unabhängig von den Meinungen und Sanktionen anderer wird.“1879 Das Ziel der sozialen Kontrolle kann auf beiden Wegen effektiv erreicht werden; nur werden dabei jeweils völlig andere Persönlichkeitsstrukturen erzeugt. Fend differenziert in diesem Zusammenhang zwischen einer „person-orientierten“1880 und einer „positions-orientierten“ Erziehung. In positions-orientierten Familien dominieren klar definierte Rollenvorschriften entsprechend Alter und Geschlecht, die von den Eltern autoritär durchgesetzt werden. Es wird auf strikten Gehorsam der Kinder geachtet; eine selbständige Normbildung ist kaum möglich. Mit zunehmendem Alter nimmt die Bedeutung der Eltern als dominierender Instanz ab, die der eigenen Altersgruppe dagegen zu. Alle Gruppen sind eingebunden in eine starke lokale Kultur, die sie wirksam tradieren. In person-orientierten Familien ist die Bindung an ‚Sitten und Gebräuche‘ demgegenüber weit geringer: „Die persönliche Überzeugung spielt daher als Grundlage für die Normen eine größere Rolle als die Zugehörigkeit zu einer lokalen Gemeinschaft. […] Die Positionen der Familienmitglieder nach Alter und Geschlecht sind durch die Berücksichtigung der persönlichen Qualitäten geschwächt.“ Unschwer läßt sich die dualistische Typologie – bei durchaus möglicher ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘ – auch historisch zuordnen: So sind personale Orientierung und ‚Entdeckung der Innerlichkeit‘ tendenziell moderne Phänomene, während ‚Position‘ und ‚Äußerlichkeit‘ vorrangige Geltung in traditional ausgerichteten Gesellschaften beanspruchen. In ihnen gilt, überspitzt formuliert, das Kind nicht als zu entdeckendes ‚Potential‘, das Individuum nicht als ‚einmalig‘ und inkommensurabel; im Gegenteil: Mit den positional gebundenen Normen verbinden sich feste, auch brauchtümliche gestützte „Verhaltensstandards […], die zu Rollenerwartungen gruppiert sind“.1881 Dieser ‚archaische‘ Identitätstypus mag aus geschichtlichem oder sozialem Abstand heraus befremden – doch bedeutet er an sich schon eine ‚entfremdete‘ Existenz? Helmut Fend schreibt: Die Tatsache, daß Rollen und Ziele vorgeschrieben sind, verhindert nicht, daß sie Bedürfnisse befriedigen können. Dadurch, daß Ziele sozial und kulturell vorgegeben sind, werden Triebe und Bedürfnisse nicht frustriert, sondern nur die ‚Wege‘ beschränkt, durch die sie befriedigt werden können. Es findet also im Individuum ein Prozeß statt, durch den allgeEbd., S. 154. Ebd., S. 209. 1879 Ebd., S. 189. 1880 Dieses und die folgenden Zitate: Ebd., S. 207. 1881 Ebd., S. 169. 1877 1878

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meine Triebe und Bedürfnisse mit sozial und kulturell vorgegebenen Zielen verbunden werden. Besonders durch die Techniken der Kindererziehung werden […] kulturell geforderte Ziele in persönlich motivierte umgewandelt, so daß kulturelle Imperative zu persönlichen Wünschen werden.1882

Will man Hebbels Jugendzeit unter sozialpsychologischem Aspekt adäquat betrachten, so ist demnach zu fragen, welche Rollenangebote überhaupt zur Wahl standen. Es wäre naiv, davon auszugehen, Hebbel habe von Kindesbeinen an den ‚Traumberuf‘ eines Dichters verfolgt, unbekümmert um die jeweiligen gesellschaftlichen Realitäten. – Nicht minder wichtig ist die Frage, wie kulturelle Imperative und persönliche Wünsche miteinander zu vermitteln waren. Helmut Fend weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß die Erfüllung der gesellschaftlichen Rollenerwartung „weder durch äußeren Zwang noch durch verinnerlichte Normen motiviert“1883 sei. Aber nur diese beiden Formen haben Hebbel und seine Biographen in rückblickender Analyse in Erwägung gezogen: Hebbel selbst rekurrierte allzu gern auf die angeblichen absoluten Zwänge, auf das „vom Schicksal aufgedrungene Copisten-Diplom“ [WAB 1, 61] des Jünglings, auf seine „Dithmarsischen Schmach- und Pein-Verhältnisse[…]“ [T 552], seine „Sclaverei“ [WAB 1, 275] oder den „Mohren, der ihn schlägt“ [W 6, 429]. Hebbel-Forscher bedienten sich umgekehrt des Modells der Internalisierung, um sein anfängliches Verhältnis zu Mohr zu charakterisieren. Hans R. Franz meint: Sein Vorgesetzter, der Kirchspielvogt Mohr, scheint in den phantasiegeladenen Gedankengängen des jungen Hebbel einen besonderen Platz eingenommen zu haben. Das führte sogar dahin, daß der Schreiber sich innerlich mit seinem Herrn so beschäftigte, daß er verschiedene Äußerlichkeiten von ihm nachahmte, ja, ihn vielleicht als ein erstrebenswertes Vorbild unbewußt zu kopieren versuchte.1884

Obwohl es schlicht um „Äußerlichkeiten“ geht, motiviert Franz deren Nachahmung in Kategorien, die eine Internalisierung fraglos voraussetzen: Phantasie, Innerlichkeit, Unbewußtes. In die gleiche Richtung weisen Versuche, das Verhältnis zwischen Herr und Dienstbote nach dem Vorbild einer modernen, bildungsbürgerlichen Vater-SohnBeziehung zu modellieren. Bereits Klaus Groth wollte beim jungen Friedrich „Liebe und Verehrung […] finden für einen Mann, der ihm zuerst die Hand gereicht und […] das Tor geöffnet für Bildung und für Anschauung einer höheren Geisteskultur“.1885 Hargen Thomsen mutmaßte: „Unbewußt mag er gehofft haben, an Sohnes Statt aufgenommen zu werden“;1886 als seine Erwartungen jedoch enttäuscht wurden, sei Mohr zur „Zielscheibe ungezügelten Hasses“ geworden. Doch es ist wenig sinnvoll, hier das moderne Modell einer person-orientierten Familie mit ihren emotionalen Ansprüchen zugrunde zu legen, nur um es im selben Atemzug für gescheitert zu erklären. Hebbels Ebd., S. 156. Ebd., S. 157. 1884 FRANZ, Selbsterkenntnis, Selbsterziehung und Selbstbildung bei Friedrich Hebbel, S. 17. Hervorhebung C. S. 1885 GROTH, Friedrich Hebbels Jugendjahre, S. 125. 1886 Dieses und das folgende Zitat: THOMSEN, Grenzen des Individuums, S. 158. 1882 1883

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Dienst in Mohrs Junggesellenhaushalt kann adäquat wohl nur als positions-orientiertes Verhältnis gesehen werden. Daraus folgt, daß der Sozialisierungsprozeß des Heranwachsenden in anderen Kategorien zu beschreiben ist, als dies bisher geschah. Dies betrifft nicht nur Rolleninhalte, sondern bereits die Art und Weise der Rollenvermittlung. Diejenigen unter den Hebbel-Biographen, die Johann Jakob Mohr nicht in die Ecke des ‚schwarzen Mannes‘ stellen, sondern seine eminente Bedeutung für Hebbel betonen, gehen meist von einer stark identifikatorischen Wirkung auf den Jugendlichen aus. Benutzt man diesen Begriff in seinem sozialpsychologischen Sinn, ist allerdings Vorsicht geboten: „Identifikation und Internalisierung werden in der Literatur nicht selten als die Mechanismen angesehen, durch die Heranwachsende die Normen und Werte der Erwachsenen ‚übernehmen’“,1887 referiert Helmut Fend. Stattdessen sollte man allgemeiner von Imitation sprechen. Dieser Begriff, so Fend, „nimmt in der Geschichte der Sozialpsychologie einen wichtigen Platz ein, weil er den Übergang von der Betonung der Instinkte zur Betonung des Lernens als Ursache bestimmter Verhaltensweisen kennzeichnet“.1888 Lernen durch Nachahmen steht im Vordergrund der „älteren, traditionsgelenkten Sozialisation“:1889 Kultur wird zum einen durch das Weitergeben „praktische[r] Handlungsweisen tradiert, durch das Vor-Machen der Älteren und das Ab-Gucken der Jüngeren“,1890 und zum anderen durch das „Weiterreichen der Subjektivationen: der Meinungen, der Einstellungen, der Wertsetzungen […] und Regeln des gesellschaftlichen Verhaltens“. Dabei erlernt das Kind „sein jeweiliges Verhalten aus dem unmittelbaren sozialen Kontext, aus persönlichem Gehorsam und Anpassung an Verhaltensweisen der Erwachsenen […]. Was diesem Kind fehlt“, fügt Dieter Richter hinzu, „ist eine funktionierende Innenlenkung“.1891 Wohlgemerkt: nicht an effektiver Lenkung als solcher fehlt es, nur geschieht diese ‚äußerlich‘: „Die Sozialformen und die Verhältnisse üben prägende Kraft aus, sie bilden und sozialisieren, während die intentionale Erziehung in den Hintergrund tritt.“1892 Anschaulich wird dies beispielsweise in einer Rede, die der Plöner Hofprediger Adde Johann Lehmann 1764 anläßlich der Hochzeit einer Prinzessin hielt. Darin heißt es: Der Unterthan sieht das Beyspiel seines Regenten; und er sieht es kaum so entschliesst er sich auch schon zur Nachahmung. Vielleicht möchte manchem die Wahrheit dieser Vorstellung deswegen zweifelhaft scheinen, weil eine solche Nachhahmung so unvernünftig [!] als unnatürlich zu seyn scheinet. Sie ist es allerdings: allein die Erfahrung bestätigt die Richtigkeit unsers Ausspruches. Wer die Geschichte durchgegangen ist, der wird sich erinnern, daß selbst die Natur-Fehler der Grossen von der Nachahmung der Geringern nicht ausgeschlossen sind. Man […] hat künstlich gehinket; man hat die gerade Stellung seines Körpers in eine Pucklichte verwandelt, um nur die Ehre der Aehnlichkeit mit dem Regenten davon zu tragen. […] Denn die meisten schliessen von der äusseren Hoheit auf das innere.

FEND, Sozialisierung und Erziehung, S. 182. Ebd., S. 180. 1889 RICHTER, Das fremde Kind, S. 58. 1890 Dieses und das folgende Zitat: SCHENDA, Alphabetisierung und Literarisierungsprozesse, S. 3. 1891 RICHTER, Das fremde Kind, S. 58. 1892 JEISMANN/LUNDGREEN, Handbuch der Bildungsgeschichte, S. 56. 1887 1888

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Und nunmehro sind alle Bewegungs-Gründe zur Nachfolge für die Menschen bey einander.1893

Seinen hochadligen Zuhörern schmeichelt er: „Große Herren […] kennen die Hindernisse nicht, durch welche wir Niedrigen abgehalten werden, unsere Seele aufzuklären und unsern Geschmack zu reinigen“,1894 doch schon wenige Sätze weiter schränkt der bürgerliche Aufklärer listig ein, daß „diese Vorzüge nicht allemal, ja ich darf wol sagen sehr selten bey den Hohen dieser Erden angetroffen werden“,1895 mithin der unreflektierten Nachahmung ein ebenso gedankenloses, schlechtes Vormachen entspricht. Vor solchem Hintergrund dürfen Identifikationsreaktionen lediglich „als eine besondere Klasse von Imitationsreaktionen verstanden werden und zwar als jene, die sich auf zentrale Aspekte des Verhaltens eines Modells, z. B. auf moralische Standards, beziehen und die auf Grund einer emotionalen Beziehung zustande kommen.“1896 Wie Johann Jakob Mohr gegenüber seinem Bedienten auftrat, hat dieser in einer bezeichnenden Anekdote festgehalten. Ich fanfaronierte eines Tages gegen Freunde in meiner Stube, wie das ganze Amt auf mir laste u.s.w. Da kommt Herr Mohr und verlangt ein Aktenstück von mir. Ich suche, finde es nicht; er steht ruhig dabei. Ich suche weiter. Mir steigt das Blut zu Kopf. Ich finde das Aktenstück nicht. Da nimmt Herr Mohr mir die Papiere gelassen aus der Hand: „Lasse mich suchen!“ sagt er. Er schied meine Privat-Schreibereien aus, legte alles Uebrige nach Datum und Nummer. „Sieh“, sagte er, „so muß man das machen. Deine Privatsachen tue wo anders hin!“ Darauf ging er. Hätte er getobt, mir wäre besser gewesen. Aber seine Ruhe war wie ein Glüheisen auf meine Stirne gedrückt. Ich schämte mich vor meinen Freunden. Von dem Tage an war ich der pedantischeste Mensch auf der Erde und bin es noch heute [DjH I, 79f.].

Mohr läßt seinen Schreiberlehrling zunächst ruhig gewähren. Erst nachdem dieser seine Sache ‚falsch‘ gemacht hat, macht er die ‚richtige‘ Vorgehensweise vor – in direkter Entgegensetzung und zum Zweck der korrekten Nachahmung. Er setzt nicht auf „Innenlenkung“ mittels moralisierender Argumente oder Appelle gegen die Unordnung, sondern drückt dem errötenden Hebbel gleichsam als äußerlich sichtbares Merkzeichen „ein Glüheisen auf meine Stirne“. Denn die Lektion findet öffentlich, in Gegenwart von Hebbels zusehenden und zuhörenden Freunden statt und verfehlt ihre Wirkung darum um so weniger: Die Scham, die ihm die Röte ins Gesicht und auf die Denkerstirne treibt, macht aus ihm im Nu einen anderen Menschen, der sein Vorbild in penibelster Nacheiferung noch übertrifft. Anstelle des Kirchspielvogts ist Hebbel selbst „von dem Tage an […] der pedantischeste Mensch auf der Erde“. Sogar das Schreiben gerät zum förmlichen ‚Nachmachen‘ der Handbewegung, die ein Auseinanderhalten der verschiedenen ‚Hände‘ im Vorforderungsprotokollbuch unmöglich macht, wie Gerhard Ranft festgestellt hat: „Denn Hebbels Handschrift ähnelt sehr LEHMANN, Trauungsrede, S. 9–11. Ebd., S. 10. 1895 Ebd., S. 11. 1896 FEND, Sozialisierung und Erziehung, S. 187. 1893 1894

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derjenigen seines Vorgängers und seines Nachfolgers“.1897 In einem Punkt weicht Mohrs Verhalten allerdings vom gewöhnlichen Muster ab: Er kontrolliert seine Affekte.1898 Darauf ist der Knabe nicht vorbereitet: „Hätte er getobt, mir wäre besser gewesen“. Doch auch solcher Anstand ist rein äußerlich. Daß es dem Prinzipal bei seiner Didaktik im Zweifelsfall mehr auf die ‚rechte‘ Wirkung als auf moralisches ‚Recht‘ ankam, bezeugt jene „Scene mit Mohr, als ich mit dem mir gehörigen Brief die mir nicht gehörige Vollmacht weg gelegt haben sollte, die ihm, während des Streits aus der Brusttasche kukte“ [W 15, 21]. Wenn Jürgen Schlumbohm für die moderne erzieherische Praxis einen „spezifischen Erwachsenen-Status mit erhöhten Verhaltensanforderungen“, geprägt „von Konsequenz und innerer Stimmigkeit“, postuliert, dann folgt Mohrs Verhalten hier dem älteren positionsorientierten Muster: Wer die Macht hat, hat auch recht. In der alten Gesellschaft galt als ‚richtig‘, was zuvörderst die soziale Ordnung stabilisierte. Michail Bachtin schrieb: „Die schulmäßige Wahrheit ist das Recht auf die Ausschließlichkeit des Wissens, außerhalb dessen kein Heil ist, weshalb man es gegen alles abschirmen soll, was seine Reinheit bedroht usw. Jede allgemeinmenschliche Wahrheit, die nicht an einen bestimmten Stand oder festgelegten Beruf, das heißt, an ein gewisses Recht gebunden war, wurde ausgeschlossen“1899 – selbst dann, wenn sie einem Mohr „während des Streits aus der Brusttasche kukte“ [W 15, 21]. Wohl ist davon auszugehen, daß Johann Jakob Mohr das überragende sozialisatorische Vorbild des jugendlichen Hebbel gewesen sein muß – nur sollte man dabei nicht von vornherein von hoch emotionalisierten identifikatorischen Prozessen ausgehen. Mit „seinem Stolze auf das Angeeignete und Erlernbare“1900 erscheint er geradezu als das Musterbild des ‚Philisters‘, wie Hebbel es später einmal an Lichtenberg exemplifizierte: „Der Philister weiß Nichts von der Autonomie des menschlichen Geistes, denn er erinnert sich ja gar zu genau, wie er seinen eigenen Bettel, mit dem er prunkt, zusammen gebracht hat; er hat Alles gelernt, und er hält streng über das Dogma, das man Alles lernen könne“ [T 2948]. Nach solcher Auffassung ist auch Kunst nur die „gelehrte, imitative Berücksichtigung der Tradition in ihren Mustern“.1901 Werte und moralische Einstellungen bilden nichts anderes als ein „System von Regeln zur Unterscheidung ‚richtigen‘ und ‚falschen‘ Verhaltens“.1902 Einem so sozialisierten und kulturisierten Menschen fehlt aus moderner Sicht, mit Dieter Richter gesprochen, „eine funktionierende Innenlenkung, die es ihm erst ermöglichte, sich unter den neuen RANFT, Aus Friedrich Hebbels Wesselburener Schreiberjahren, S. 270. Weil Theobald Bieder dies nicht erkannte, verlegte er den Beginn von Hebbels Schreibertätigkeit auf den April 1827 vor. Vgl. BIEDER, Führer durch das Hebbel-Museum, S. 6. 1898 Vgl. dazu Borchmeyer: „Der Zug stoischer impassibilitas, Affektlosigkeit, […] steht in einer langen Tradition der Formen des Auftretens in der ‚guten Gesellschaft‘.“ Schon bei Balthasar Gracian sei „die impassibilitas als Element des Anstandes ein durch Prestigeinteressen geforderter Bestandteil der Selbstinszenierung des Welt- und Hofmannes“ [BORCHMEYER, Höfische Gesellschaft, S. 46]. 1899 BACHTIN, Literatur und Karneval, S. 37f. 1900 KUH, Biographie, Bd 1, S. 80. 1901 STÜSSEL, Poetische Ausbildung und dichterisches Handeln, S. 55. 1902 FEND, Sozialisierung und Erziehung, S. 169. 1897

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Bedingungen des bürgerlichen Lebens ‚richtig‘ zu verhalten.“1903 In dem Maße, wie Hebbel sich von den erlernten sozialisatorischen Vorgaben von Heimat und Herkunft emanzipierte, mußte ihm dieser erlernte „Bettel“ philiströs erscheinen. Unter diesen Umständen erscheinen die Ressentiments und Aversionen, die er nach seinem Weggang aus Wesselburen auf die Person des Kirchspielvogts projizierte, in verändertem Licht: Dieser Umschwung läßt sich am überzeugendsten nicht als Reaktion auf zurückgewiesene Zuneigung, sondern aus dem raschen Abstreifen erlernter, in veränderten Umfeldern untauglicher, nicht mehr ‚richtiger‘ Verhaltensweisen begreifen. Als werdender Dichter mußte Hebbel sich neu erfinden.1904 Demgegenüber war sein Verhalten in Wesselburen über weite Strecken geradezu musterhaft von dem Bemühen geprägt, eigene Bedürfnisse mit vorgegebenen Rollenerwartungen zu vereinen. Dies soll in den folgenden Abschnitten demonstriert werden. Gleich mit dem Eintritt in die Kirchspielvogtei verbanden sich Rollenzuweisungen, wie sie ‚äußerlicher‘ kaum denkbar sind – auf den heutigen Betrachter wirken sie bisweilen grotesk. In diesem Zusammenhang verdient Hebbels Auftragen der abgelegten Kleider des Kirchspielvogts, worüber er sich noch in seiner Abrechnung von 1854 echauffierte, eine genauere Betrachtung. Daß Kleider Leute machen, hatte Friedrich oft leibhaftig erfahren: an der Ausstaffierung seiner Eltern als „Hungerleider“ [W 8, 114] und am Nichtbesitz eines Hemdes [W 15, 10], an den typischen Kitteln der Armenhausjungen, an der eigenen Maurerkluft und selbst am familiären Erbstreit um „die blaue Schürze“ [W 15, 14]. Die Kleidung markierte den sozialen Rang ebenso wie Alters- und gesellschaftliche Rollen. Normalerweise war mit der Konfirmation ein Kleiderwechsel verbunden, den Andreas Gestrich für das „wichtigste Symbol dieses jugendlichen change of life“1905 hält: „Auf die neuen Kleider hatte man geradezu ein Recht, denn über sie vollzog sich, zumindest zu Zeiten, als man noch Trachten trug, die Identifizierung mit der Gruppe. […] Man war stolz auf seine neuen Kleider, […] denn sie zeigten allen, daß man langsam erwachsen wurde.“ Friedrich erhielt seinen neuen Aufzug bereits vorher: Seit seinem Dienstantritt beim Kirchspielvogt hatte er „in etwas besserer Kleidung als zuvor und nicht ohne etwas Würde gegen seine Schulkameraden, ein kleiner Mann im Amte, Schule und Prediger zum Konfirmationsunterricht besucht: wenn diese Kleidung auch aus seines Prinzipals alten Hosen und Röcken zugestutzt“1906 waren. Klaus Groth berief sich bei dieser Darstellung auf Hebbels Jugendfreund Jürgen Friedrich Mundt, der sich daran erinnerte, wie man den RICHTER, Das fremde Kind, S. 58. Dies erforderte ein völlig anderes entwicklungspsychologisches Modell, nämlich die „Transformation der ‚Kindschaft‘ zur ‚Jüngerschaft‘, vom leiblich-dynastischen Prinzip zu dem des geistigen Zeugnisses als neuer Form der Identitätsfindung“ [FRÜHSORGE, Die Begründung der „väterlichen Gesellschaft“, S. 121], die „nicht mehr kraft Lebenspraxis, sondern nur noch kraft Schreibens“ [ebd., S. 123] resp. Lesens funktionierte. Nach ersten Anstößen durch die von Dethlefsen vermittelte Lektüre entstanden aus Hebbels Rezeption von Schiller und dann Uhland tatsächlich Verhältnisse geistiger Jüngerschaft, die von der Hebbel-Philologie intensiv untersucht wurden – leider unter weitgehendem Ausschluß der weiterhin dominierenden „Lebenspraxis“, um die es hier geht. 1905 Dieses und das folgende Zitat: GESTRICH, Traditionelle Jugendkultur, S. 76. 1906 Dieses und das folgende Zitat: GROTH, Friedrich Hebbels Jugendjahre, S. 124. 1903 1904

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jungen Hebbel „in seinem neuen Kostüm […] täglich mit stolzen Schritten mehrmals den Ort nach allen Richtungen durchwandern“ sehen konnte. Darin drückte sich mehr als bloß Genugtuung über die neue Gewandung und die Zugehörigkeit zum Mohrschen Hauswesen aus. Die Kleidung war das äußerliche Abzeichen eines neuen Standes, den Hebbel nicht nur früher als seine Altersgenossen erreichte, sondern der obendrein äußerst vielversprechend erschien. Von einer Demütigung, wie sie etwa in Hebbels Abrechnung mit Mohr von 1854 durchklingt, konnte dabei überhaupt keine Rede sein, weit eher von einer Anleihe auf eine würdige Zukunft. Friedrich trug nicht nur den Rock des Kirchspielvogtes auf dem Leibe, er bewegte sich auch genau wie dieser. Groth zitiert seinen Gewährsmann: Hebbel mußte an der äußeren Erscheinung seines Kirchspielvogts, der sein ihm eben verliehenes Amt fortwährend zur Schau trug, viel Wohlgefallen finden, denn er war eine Zeitlang sichtlich bemüht, diesem in seinem ganzen Wesen und Auftreten zu gleichen, so daß er sogar, wenn er sein feststehendes tägliches Geschäft, das Einholen der für den Hausstand nötigen Milch, besorgte, mit den langen gemessenen Schritten seines Prinzipals und mit denselben Stockschwenkungen, die dieser sich angeeignet hatte, seinen Milchtopf über den Marktplatz trug.1907

Das Vorbild Mohrs, eines „großen schönen Mannes, der aber nicht ohne einiges Bewußtsein seiner Stellung und körperlichen Beschaffenheit war“,1908 stach in seiner Geziertheit „gegenüber den Manieren in Hebbels bisheriger Umgebung“ so „gewaltig“ 1909 ab, daß er seinem Adepten auch damit ein eindrückliches Beispiel gab. Selbst gewisse individuelle Marotten sah Hebbel sich dem Vor-Bild ab, so „das Hinaufschieben der Achsel und sonderbare Armbewegungen, die ihm sein Leben lang treu geblieben sind“.1910 Klaus Groth, der den jungen Hebbel einmal in Heide gesehen hatte, glaubte sich gar an den „Eindruck einer körperlichen Ähnlichkeit Hebbels mit dem Kirchspielvogt Mohr, den ich persönlich ganz wohl gekannt“,1911 zu erinnern. An die äußeren Attribute knüpfte sich traditionellem Herkommen nach das umfassende Rollenselbstverständnis einer Person. Was spätere Generationen an der Geschichte eines Hauptmanns von Köpenick als Kuriosum empfanden, war für Hebbel eine existentielle Erfahrung: „In einem andern Rock bin ich gleich ein andrer Mann“ [WAB 1, 196], prophezeite er Elise Lensing, als er sie im Oktober 1837 um einen solchen anging. Und wirklich geriet er nach Empfang über „meinen neuen Menschen, den ich angezogen habe“ [WAB 1, 202] regelrecht ins Schwärmen: „[E]in guter Rock […] vergoldet den Menschen in allen Verhältnissen“ [WAB 1, 199]. Bei der bloß sichtbaren Mimikry an den Kirchspielvogt blieb es nicht; von verschiedenen Seiten war Groth erzählt worden, daß Hebbel auch Mohrs „Stimme und

Ebd., S. 124f. Vgl. auch die Notiz: „Mein Krummgehen“ [W 15, 9] und die Deutung Werners: „wohl die Nachahmung von Mohrs geziertem Gang“ [ebd.]. 1908 GROTH, Friedrich Hebbels Jugendjahre, S. 124. 1909 WERNER, Friedrich Hebbel. Ein Lebensbild, S. 33. 1910 KUH, Biographie, Bd 1, S. 79. 1911 GROTH, Friedrich Hebbels Jugendjahre, S. 124. 1907

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Sprechweise“1912 nachgeahmt habe. In seiner amtlichen Kontrollfunktion „ließ [er] sich gern den wandernden Handwerksburschen gegenüber in dem gebieterischen Tone seines Prinzipals hören“.1913 Zu solchem Verhalten trug sicherlich bei, daß den Klienten, die ‚von Amts wegen‘ in die Kirchspielvogtei kamen, der Unterschied zwischen Amtsinhaber und Erfüllungsgehilfe, Herrn und Diener, nicht bewußt war, wenn sie den letzteren hofierten. Aus Hebbels Notiz: „Mein Ekel bei dem ersten Handkuß (jenes Arbeitsmannes mit dem Paß.)“ [W 15, 15], spricht neben der Überraschung das Bewußtsein eines geradezu physisch empfundenen Abstandes zur Unterschicht. Daß der Schreiber selbst der Versuchung erlag, sich insgeheim als ‚Machthaber‘ zu fühlen, bekannte er im Abstand von Jahrzehnten in einer Notiz zur Biographie mit der Überschrift Nachtzettel: „Als die Nachtz. eingeführt wurden und ich Auftrag erhielt, sie auszustellen. C. F. Hebbel. Schon um 4 auf’m Bureau, fidem! Schinderhannes würde einen erhalten haben, um durch die Unterschrift zum Gefühl meiner Wichtigkeit zu kommen“ [W 15, 14]. So ist der Einschätzung Norbert Müllers beizupflichten, daß den Schreiber „in diesem Verhalten – neben einer bis zur Eitelkeit gesteigerten Selbstüberzeugung – das Bewußtsein kennzeichnete, als Amtsträger an der Macht der Ordnungen Recht und Staat teilzuhaben“1914 und in dieser Stellung „weit über seine Mitmenschen erhaben“ zu sein. Daß Friedrich wie ausgewechselt war, bekam auch der einstige Kamerad Hans Grimm zu spüren, „wie er als Dieb vor mir, dem Secr. stand und mich uns’res gemeinschaftlichen Aepfel-Diebst. erinnerte“ [W 15, 12]. Die ‚verschworene‘ Gemeinschaft von ehedem gilt nicht mehr angesichts neuer Loyalitäten. Noch andere Sekundärtugenden eines Beamten übernahm der hoffnungsvolle Anwärter. Von seinen Hamburger Mitschülern bekam er „wegen seines stets abgemessenen Benehmens […] den Übernamen Uhr-Hebbel“;1915 mit Karl Strecker läßt sich hinzufügen, „auch wegen seiner strengen Pünktlichkeit. Hebbel selber berichtet später, er habe seit seinen Jugendjahren ‚den ersten Verweis wegen Zuspätkommens‘ vom Logenschließer des Theaters in Graz erhalten, weil er ‚erst zehn Minuten vor Anfang der Aufführung erschien’“.1916 An Louis Gurlitt schrieb Hebbel aus Neapel, er habe „[b]ei der Abreise von Rom […] eine wichtige Sache vergessen: den letzten Kaffee zu bezahlen“ [WAB 1, 721], was ihn besonders ärgerte, „weil ich immer stolz darauf gewesen bin, nie etwas zu vergessen“ [WAB 1, 721]. Hans R. Franz schrieb in einer Dissertation über Selbsterkenntnis, Selbsterziehung und Selbstbildung bei Friedrich Hebbel: „In vielen Dingen fühlte sich Hebbel bald dem Dienstherrn ebenbürtig und dachte wohl im geheimen daran, es diesem einmal ganz und gar gleichtun zu wollen. Der Zug des Vorwärtsstrebens ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Ein Sich-Bescheiden auf einem Posten, der ihn doch schon über das elterliche Milieu hinausgehoben hatte, kannte er nicht“.1917 Das bereits 1828 für seinen Neuenkirchener Schreiberkollegen

Ebd. Ebd., S. 125. 1914 Dieses und das folgende Zitat: MÜLLER, Der Rechtsdenker Friedrich Hebbel, S. 19. 1915 KUH, Biographie, Bd 1, S. 148. 1916 STRECKER, Friedrich Hebbel, S. 127. 1917 FRANZ, Selbsterkenntnis, Selbsterziehung und Selbstbildung bei Friedrich Hebbel, S. 18. 1912 1913

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Theodor Hedde verfaßte Gelegenheitsgedicht [Für ein Ringreiterfest.]1918 ziert ein Verfasserpseudonym, das Hebbel auch als Übernamen bei seinen Altersgenossen führte: „Eugen“ [W 14, 297] – der ‚Wohlgeborene‘. Zusammenfassend bleibt festzuhalten: Alle angeführten Verhaltensweisen verweisen auf Tradierungsmuster, die mit Imitation und positionaler Orientierung an Mohr verbunden waren. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob sich der Kirchspielvogt nicht auch in beruflicher Hinsicht als Vorbild geradezu aufdrängte. Wenn Hebbel vor seinem Weggang nach Hamburg noch bereit gewesen war, das „Copisten-Diplom zu contrasigniren“, dann hatte dies sicherlich nicht ein bloßes Sich-Einrichten in der gegebenen Lage bedeutet, die ohnehin über eine bloße Abschreiber-Tätigkeit weit hinausging. Als ‚Copist‘ Mohrs war Hebbel vielmehr dessen eifriger Nachahmer, solange dies der ratsamste Weg schien. Im Rückblick sucht Hebbel sich davon zu distanzieren, indem seine Formulierung polemisch auf den Gegensatz unvereinbarer Lebensanschauungen anspielt. Denn „das Kopieren und das kümmerliche Los des bloßen Kopisten ist im 19. Jahrhundert eine beliebte Chiffre epigonal-unfruchtbaren Daseins“.1919 Egal zu welchem Amt Hebbel es gebracht hätte, er wäre aus dieser Sichtweise allemal gezwungen gewesen, „mit dem Leben abzuschließen“. Mohr hatte ihm ja auch das eindringlich und symbolhaft vorgemacht, indem er anordnete: „Deine Privatsachen tue wo anders hin!“ und „meine Privat-Schreibereien aus[schied]“. Gerade diese standen aber für das „Leben“, das sich nicht im Amt, sondern allein im Dichter-Sein verwirklichen ließ. Ex post steigerte Hebbel dies zu absoluter Unverträglichkeit: Aus Hamburg erklärte er im Juli 1835 seinem Freund Franz, „daß der Mensch in einer großen Stadt erst zu leben anfängt“ und lud ihn ein, „Künstlers Apotheose mit mir feiern!“ [WAB 1, 53] 1840 behauptete Hebbel dann apodiktisch: „Der einzige Wunsch meiner Jugend, derjenige, in dem ich nur lebte, war, daß ich ein Dichter werden mögte“ [T 2143]. Das Original-Genie als ein „Copist“ – unvorstellbar! Dieser Re-Konstruktion des Lebenswegs folgten die Biographen nur allzu bereitwillig, übersahen die nächstliegenden, zu prosaisch scheinenden Perspektiven und vermochten im poetisierenden Jüngling nichts anderes zu erblicken als den späteren Dichter. Doch die scheinbar ausschließliche Berufung zur Dichterexistenz wird der historischen Situation nicht gerecht. Sieht man von der nachgetragenen Polemik ab, bleibt stattdessen die Bereitschaft Hebbels zu Wesselburener Zeiten festzuhalten, sehr wohl Vereinbarungen über eine andere Laufbahn – ganz bürokratisch – „zu contrasignieren“. Dabei war das Berufsziel ‚höherer Verwaltungsdienst‘ reichlich hoch gesteckt, gar nicht einmal aus ständischen oder sozialen Gründen. Denn für dieses Amt reichte eine ‚Lehrzeit‘ als Schreiber nicht aus; seit einigen Jahrzehnten war ein Jurastudium dazu erforderlich. Vieles deutet darauf hin, daß Hebbel über lange Zeit, wenn auch mit W 7, 4–9. Zur Datierung vgl. SCHOLZ, Der mündige Schreiber, S. 117f. Der dort angegebene Entstehungszeitraum „Sommer 1828“ läßt sich noch präzisieren: Nach Kramer war Pfingsten der Termin für das Ringreiten [vgl. KRAMER, Feste, S. 137]; 1828 fiel der Pfingstsonntag auf den 25. Mai. Dies wäre auch der Terminus ante quem für den begleitenden Brief Hebbels an Hedde, der zugleich der früheste erhaltene Brief Hebbels ist. Die historisch-kritische Briefausgabe, datiert den Brief jedoch irrtümlich auf „[1829]“ [WAB 1, 1], was insofern besonders mißlich ist, als diese falsche Zeitangabe dann auch im Gesamttitel Briefwechsel 1829 – 1863 steht. 1919 SCHMIDT, Die Geschichte des Genie-Gedankens, Bd 2, S. 53f. 1918

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dilettantischer Sprunghaftigkeit, genau darauf zustrebte. Da seine Schulbildung bei Dethlefsen für ein Studium nicht genügte, nahm er schon seit dem 20. Mai 1832 bei dem Apothekergehilfen Heinrich Schacht Unterricht in Latein.1920 Die Notwendigkeit, sich mit den alten Sprachen vertraut zu machen, wurde dem Schreiber täglich vor Augen geführt: „So wimmelt es denn auch in den Vorforderungsprotokollen des Kirchspiels Wesselburen von lateinischen oder latinisierten Ausdrücken“.1921 Hier wollte er es also nicht beim unverstandenen ‚Copieren‘ belassen: Weil solche termini technici den gesamten Rechtsverkehr begleiteten, war die „akademische Vorbildung eines Kirchspielvogts“ nach Ranft „damals um so notwendiger“. Er „habe große Lust zur Sache“ [WAB 1, 14], schrieb Hebbel seinem Freund Hedde, sei „entschlossen, Alles aufzubieten, um noch zu studiren“ und plane, „wenigstens 1 Jahr […] gar nicht zu poetisiren“ [WAB 1, 14]. Bereits im Oktober meldete er jedoch: „Fünf bis sechs größere und große, zum Theil schon in Hamburg abgedruckte Gedichte […] sind verfertigt“ [WAB 1, 23], hauptsächlich aber „beschäftigt mich jetzt die nordische Mythologie“ [WAB 1, 24]; und nicht zuletzt bemühte er sich um die Wiedereinrichtung seines Liebhabertheaters. Beim Lateinischen scheute er jedoch die Mühen der Ebene. Der Privatunterricht, der nach Schachts Auskunft ohnehin mehr dem Zweck diente, „die lateinischen Schriftsteller lesen zu können“,1922 endete ohne nachhaltigen Erfolg, als der Freund 1833 zum Medizinstudium nach Kopenhagen ging. Und während Schacht sich insgesamt „fast ein Jahr lang“1923 redlich um ihn mühte, lamentierte Hebbel bereits im August gegenüber Ludwig Uhland, „allein, es fehlt mir hier fast an jeder Gelegenheit, mir einige Bildung zu erwerben, welche ich mir doch so außerordentlich gern erwerben mögte“ [WAB 1, 15]. Zwei Jahrzehnte später erinnerte er sich: „[I]ch fühlte mich im höchsten Grade unglücklich, weil ich nach höherer wissenschaftlicher Ausbildung dürstete, machte auch die abentheuerlichsten Versuche, mich aus der mich drückenden Lage zu befreien, sah aber alle mißlingen“.1924 Ausbildung und Abenteuerlust wollten freilich nicht zusammengehen: In den August 1831 fiel mit einem Vorstellungstermin am Hamburger Stadttheater ein erster Versuch, von Wesselburen fortzukommen, der kühne Brief an Uhland 1832 markierte den zweiten vergeblichen Anlauf. Im Herbst 1833 trug Hebbel sich mit Auswanderungsgedanken in den sonnigen Süden,1925 Anfang 1834 bemühte er sich, über seinen Freund Schacht Das Datum läßt sich aus Hebbels Angabe „seit Sonntag“ im Brief an Theodor Hedde vom 22. Mai [WAB 1, 14] errechnen. 1921 Dieses und das folgende Zitat: RANFT, Aus Friedrich Hebbels Wesselburener Schreiberjahren, S. 269. 1922 Zit. nach SCHACHT, 76 Jahre, S. 71. 1923 Ebd. Vgl. demgegenüber die vagen Angaben bei WERNER, Friedrich Hebbel. Ein Lebensbild, S. 54, und in DjH I, 262. 1924 WAB 2, 548. Hervorhebung C. S. 1925 Der mit Leopold Alberti gefaßte und am 19. Oktober 1833 Johann Gehlsen mitgeteilte Plan, nach Griechenland zu gehen [vgl. WAB 1, 31f.], war durchaus nicht so abseitig, wie er heute scheinen mag. So sah sich etwa das Stargarder Wochenblatt (aus Stargard in Pommern) 1836 zu einem warnenden Artikel Ueber Auswanderungen nach der Türkei und nach Griechenland genötigt, in dem es hieß: „Je häufiger in der neuesten Zeit die Auswanderungen aus Deutschland nach der Türkei geworden sind und je greller deren traurige Folgen sich zeigen, um so zweckmäßiger dürfte es sein eine gedrängte Schilderung der hier obwaltenden Verhältnisse zu geben, um vor 1920

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Kontakt zu dem berühmten Adam Öhlenschläger in Kopenhagen zu bekommen. Diese ganz unterschiedlichen ‚Befreiungsversuche‘ stellen ein kontinuierliches, „wissenschaftliches“ Bemühen eher in Frage. Dabei klafften Anspruch und Wirklichkeit zwar in Hebbels Verhalten, nicht aber in seinem Bewußtsein auseinander. Daß er seit 1831 ruhelos „Plan auf Plan“ [WAB 1, 61] faßte, um von Wesselburen wegzukommen, deutet noch nicht auf ein „Abbrechen ständisch vorbestimmter, konventionell geregelter Lebensführung“1926 und eine „radikale Gegenposition zu jeder Form von ‚Bildung’“1927 hin, wie sie zuvor die Genies der Sturm und Drang-Zeit vertreten hatten. Seine vielerlei Projekte lassen eher vermuten, daß der Maurersohn von seiner Mentalität her auf die erwartbaren Frustrationen einer „langgestreckten Jugendphase im bürgerlichen Lebenskreis“1928 kaum vorbereitet war. Auch seine geringe Ausdauer beim Lateinlernen ist wohl nicht nur auf mangelndes „linguistisches Ingenium“1929 zurückzuführen, sondern ebenso auf das sichere Gespür, daß es sich beim Erwerb dieser toten Sprache um ein artifizielles Mittel „zur Verlängerung der Jugendzeit“1930 handelte, um „die Jungen von der Welt zu isolieren“. Denn das „Studium dieser komplizierten und zunehmend fremden Sprache hatte ja im ökonomischen Sinne keine Funktion, wohl aber diejenige, daß es als eine Art der verlängerten Initiation diente, die die Jungen auf dem Weg zur Elite durchlaufen mußten“.1931 Heinrich Schacht schilderte seinen ‚Schüler‘ als unausgeglichenen und sprunghaften Typus, sowohl von seinen Fähigkeiten, als auch von seinen Zielen her: „Ein armer Teufel, ehrgeizig und voll seltsamer, geschraubter Redensarten. Aber klug, sehr klug. […] Er war einer von den Menschen, die glauben, daß man die ganze Welt in die Faust nehmen kann. Das geht aber nicht. Schau dir unsere Familie an – wir haben zwei Generationen gebraucht, damit aus mir ein simpler Physikus wurde. So ist das nun einmal in der Welt. Aber Hebbel wollte es mit einemmal bis zur Spitze hinauf schaffen“.1932 Schacht, den Hebbels Dichterruhm auch im nachhinein erstaunlich wenig beeindruckte, war freilich eine gutbürgerliche Laufbahn als Arzt bereits vorgezeichnet: „Ich machte damals mein praktisches Jahr in Pharmakologie […] in Wesselburen und ritt mitunter sonntags nach Hause“. Doch der mit einer akademische Karriere einhergehende Lebensaufschub und die damit verbundenen Probleme betrafen – zumal im ländlichen Wesselburen – kaum je einen Jugendlichen. Jeismann und Lundgreen schreiben:

Unternehmungen dieser Art zu warnen. Diese Verhältnisse können für Ausländer nicht ungünstiger sein, wenn gleich das Gegentheil von Vielen geglaubt werden mag […]. Während es so in der Türkei aussieht, sind die Aussichten in Griechenland, daß in neueren Zeiten von deutschen Auswanderern überfluthet worden ist, kaum günstiger zu nennen. […] Eine Menge von Handwerkern, Gewerbetreibenden, Wirthen u. s. w. sind hingezogen; die Mehrzahl hat es bereut“ [[Anonym]: Ueber Auswanderungen]. 1926 GERTH, Bürgerliche Intelligenz, S. 45. 1927 VOSSKAMP, Individualiät – Biographie – Roman, S. 260f. 1928 JEISMANN/LUNDGREEN, Handbuch der Bildungsgeschichte, S. 63. 1929 Leopold Alberti, in HP I, 16. 1930 Dieses und das folgende Zitat: GILLIS, Geschichte der Jugend, S. 38. 1931 Ebd., S. 37. 1932 Dieses und das folgende Zitat: Zit. nach SCHACHT, 76 Jahre, S. 71.

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Den jungen Menschen, die mit 12 oder 14 Jahren in eine praktische Berufsausbildung eintraten […][,] waren solche Konflikte fremd; denn eine „Jugend“ im Sinne dieses „psychosozialen Moratoriums“ kannten sie gar nicht. Sie mußten hingegen ganz andere Konflikte durchstehen: mit ihren Eltern über das Abliefern des Lohnes (als Beitrag zum Familienbudget) und die Höhe des Taschengeldes, mit ihren Dienstherren über Arbeitsbedingungen und Lohnverhältnisse. […] Weder waren sie „gesellschaftlich offen“ noch hatten sie eine Chance, ihre „Lebensmelodie“ zu suchen: sie hatten zu arbeiten und sich einzufügen – die äußeren Lebensbedingungen waren klar und hart.1933

Die Chance Hebbels während der sieben Jahre in der Kirchspielvogtei, trotz des offiziellen Dienstverhältnisses seine „Lebensmelodie“ zu suchen, besaß ihre Kehrseite in der zunehmenden Angst, auf unbestimmte Zeit ein ‚unvollendetes‘ und anachronistisches Dasein führen zu müssen – nicht zuletzt dies spricht aus den negativen Äußerungen über die Wesselburener Jahre. Seine Rolle bei Mohr war an die Phase der Adoleszenz gebunden: Ging der Eintritt des 14jährigen ‚Lehrlings‘ in die Kirchspielvogtei mit den Vorstellungen vom ‚richtigen‘ Lebensalter völlig konform, so war er sieben Jahre später dem Jünglingsalter fast entwachsen, ohne daß sich seine Situation entscheidend verändert hatte: „ich bin 21 Jahr alt und für die Aufgabe meines Lebens ist nichts geschehen“ [WAB 1, 33] schrieb der – noch 20jährige – Hebbel im Januar 1834 an Heinrich Schacht. Während er mitansah, wie die ersten Altersgenossen einen Beruf ergriffen und heirateten, bzw. die ambitioniertesten unter ihnen, etwa Schacht, zum Studium abreisten, mußte er selbst „[n]och Jahre lang […] in dem jämmerlichen Wesselburen hinschmachten“ [WAB 1, 61]. Ob er es je zum Kirchspiel- oder gar Landvogt bringen würde, stand in den Sternen – nicht wegen eines ständischen Makels, sondern aufgrund viel profanerer Schwierigkeiten, die mit der eigenen Einstellung zusammenhingen. Dies könnte auch erklären, warum „keine der Standespersonen Wesselburens […] sich um Hebbels Entwicklung irgendwie verdient gemacht“,1934 wie Kuh und nach ihm weitere Biographen monierten. Den Pastoren, so Kuh, war er nach seiner Konfirmation „ein Gemeindeglied, wie jedes andere“. Weil sie zugleich die Schulaufseher waren, fand Karl Strecker es „um so unbegreiflicher, daß keiner der Wesselburener Pastoren […] sein ungewöhnliches Talent erkannt und gefördert hat“.1935 Detlef Cölln wiederum mochte „einen Vorwurf […] Mohr nicht ersparen: Er hätte dafür sorgen können, daß sein begabter Schreiber bei einem der Pastoren des Orts Unterricht in Latein und Griechisch erhielt“.1936 Mit gleichem Recht könnte man freilich auch fragen, warum nicht Dethlefsen seinen Primus den Pastoren anempfahl. Daß er ihnen tatsächlich einzelne seiner Schüler zum weiteren Unterricht vermittelte, läßt sich aus einem Brief von ihm an den Diakon Nehlsen erschließen: „Sie selbst haben gegen mich erklärt, daß Johann Madtin [sic!] Barbeck einer ihrer besten Schüler war, andere die bei dem Herrn Pastor Meyn gingen waren nicht schlechter. […] wie wäre dieses aber möglich wenn er nicht [in meiner Schule] gehörig formal und material vorgebildet JEISMANN/LUNDGREEN, Handbuch der Bildungsgeschichte, S. 63f. Dieses und das folgende Zitat: KUH, Biographie, Bd 1, S. 97. 1935 STRECKER, Friedrich Hebbel, S. 41. 1936 CÖLLN, Friedrich Hebbel (Dithmarscher Dichterbuch 2), S. 36. 1933 1934

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wäre!“1937 Doch Hebbel hatte nach dem Tod des Vaters ökonomische Verantwortung für sich und seine Familie zu übernehmen, so daß zunächst die Schreiberlaufbahn nahe lag – nicht aber eine altsprachliche Vorbereitung auf Gymnasium und Studium. Später hatte Hebbel die Anknüpfung eines Lehrer-Schüler-Verhältnisses mit den Geistlichen nicht zuletzt durch seine satirischen Ausfälle im Ditmarser und Eiderstedter Boten unmöglich gemacht und sich darum tunlichst an Schacht gewandt. Als bei Hebbel sich der Gedanke verfestigte, er könne es seinem Dienstherrn einmal gleichtun, nämlich Jura zu studieren und in ein vergleichbares Amt einzurücken, vermutete bereits dieser ein allzu kurzlebiges Interesse und gab kopfschüttelnd zu bedenken, zu einem Studium gehöre „viel, sehr viel“ [WAB 1, 331]. Gerade weil Mohr mit seiner skeptischen Haltung den Finger in die Wunde legte, sorgte er bei seinem Schreiber für tiefen Unmut. Denn er stellte nichts anderes in Frage als Friedrichs Fähigkeit zu einem ernsthaften und konsequenten Universitätstudium iuris utriusque. Und in der Tat bezeichnete Hebbel die Gerichtsakten schon 1831 abschätzig und lustlos als seine „Erzfeinde“, als „Dreck“, den er am liebsten „bei Seite“ würfe. Sich selbst bemitleidete er als einen Bergmann, der „in dem finstern Schacht unwürdiger, drückender Geschäfte fortwühlen muß“ [WAB 1, 7]. Auch hier ließ Hebbel eine Internalisierung der Pflichten vermissen. Trotzdem wollte er in Mohrs Vorbehalten eine demonstrative Zurücksetzung sehen – und mit ihm die Biographen: Selbst der um Gerechtigkeit gegenüber Mohr bemühte Karl Reuschel konnte angesichts von dessen anerkennendem Zeugnis für Hebbel nicht begreifen, „daß er die Aufforderung von Hamburg aus, sich an den Sammlungen für Hebbel zu beteiligen […], abgelehnt hat“.1938 Und ein Kenner der Materie wie Paul Bornstein fand es „verwunderlich, daß Mohr für seinen Schreiber nichts tat“ und „im kleinen Kreise der Gönner“ [HP I, 466] fehlte. Doch der Zweck eines Stipendiums war ja nicht, aus Hebbel einen Dichter zu machen, sondern einen juristisch geschulten Beamten! Der Jurist Mohr konnte seinen Schreiber in dieser Hinsicht weit besser einschätzen als die von Amalie Schoppe zusammengebrachten auswärtigen Gönner, die alsbald ihr Geld schlecht angelegt sahen. Mohr sollte Recht behalten – in Hamburg verließ Hebbel die Schule ohne Abitur, dadurch konnte er sich in Heidelberg nicht regulär immatrikulieren,1939 nach kaum einem Semester gab er das Jurastudium ohnehin auf. In einer Zeit des Auf- und Umbruchs auch im Bildungswesen war sein Fall kein einzelner, sondern geradezu vorherzusehen: In einem Ratgeber an Studirende und deren Väter oder Aufseher (Untertitel) räsonnierte ein Dr. Heinze 1831 über die Frage Was gehört in unserer Zeit dazu, wenn Studirende mit glücklichem Erfolg eine Universität beziehen wolllen? Seit einem vollen Jahrzehnte ist ein ziemlich allgemeines Drängen nach dem Stande der Studirenden nicht zu verkennen. Alle hohe Schulen werden stark besucht, obgleich […] in Fr. Chr. DETHLEFSEN an H. A. Nehlsen am 27.4.1832. LA S-H, Abt. 101 IV C II, Nr. 162. REUSCHEL, Kirchspielvogt Mohr, S. 110. 1939 Vgl. dazu Hebbel: „Wie ich mich bei dem Universitätsamt zur Immatriculation meldete, sagte mir der Amtmann: der deutsche Bund habe ein positives Gesetz erlassen, wornach auf deutschen Universitäten Niemand immatriculirt werden dürfe, der nicht darüber, daß er die nöthigen wissenschaftlichen Vorkenntnisse besitze, gehörige – d. h. Schul- – Zeugnisse beibringen könne“ [WAB 1, 83]. 1937 1938

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mehreren Ländern Deutschlands der Stand der Juristen, Mediciner und Theologen übersetzt erscheint. […] Mag auch der starke Besuch der hohen Schulen aus dem allgemeinen Streben des Volkes nach wissenschaftlicher Bildung gerechtfertigt werden; die Erscheinung der übersetzten Stände ist gewiß zum Theil aus falschen Lebensansichten hervorgegangen. Das Ansehen, das Einkommen, das scheinbar bequeme und sichere Leben der Staatsdiener […] so wie ein oder das andere Vorrecht der Studirenden, z. B. Freiheit vom Militairdienste, Alles dieß und manches Andere […] hat manchen Jüngling […] bestochen. Es ist aber gewiß ein trauriges Loos für einen jungen Mann, […] daß er von der Universität zurückgekommen, im beßten Falle seine Kenntnisse nicht anwenden, andere aber nicht sogleich erwerben, seine Bedürfnisse nicht befriedigen, aber auch nicht sogleich abschneiden, seinen Stand nicht behaupten, aber auch nicht sogleich in einen andern übergehen kann. Aus diesen […] Gründen haben sich die Regierungen bewogen gefunden, jenem Zudrängen Schranken zu setzen. Unter diesen sind […] die beßten, gesteigerte Forderungen an die Abiturienten und Candidaten, eine strenge Prüfung derselben und eine Jahre lange strenge Beobachtung der Schüler.1940

Trotz dieser einschneidenden bildungspolitischen Veränderungen fand Heinze noch den „Wahn ziemlich allgemein im Volke verbreitet, als könne man in dem Stande der Studirenden sich mit dem geringsten Kraftaufwande die genußreichste, wenigstens die sicherste Lebens-Existenz verschaffen“, und diagnostizierte mit dem Epochenbruch zugleich den cultural lag einer retardierten Wahrnehmung: „Diese in alter Zeit neue Vorstellung ist in der neuen Zeit alt geworden, aber nicht gewichen“. Daß Hebbel als Wesselburener Jüngling Mohrs erfahrungsgesättigte Bedenken ungerechtfertigterweise in den Wind geschlagen hatte, sah er später selbst ein: „Ich hörte nicht auf diese Äußerung, sah wohl gar etwas ganz Anderes darin, als darin lag“ [WAB 1, 331]. Die Forschung hat auch dieses Eingeständnis nicht zur Kenntnis genommen. Sehr wohl erkannte Mohr dagegen Hebbels Stärken im ‚geisteswissenschaftlichen‘ Bereich, wie sein Zeugnis beweist: „Abgesehen von Geschichte und Geographie […] sind seine Bestrebungen vorzüglich auf schöne Wissenschaften gerichtet gewesen, worin er Leistungen dem Publico vorgelegt hat, die Beifall gefunden“ [HP I, 27]. Doch konnte er in letzterem allenfalls eine Liebhaberei in Nebenstunden sehen, für die „Beifall“ der einzige Lohn – und eigentliche Maßstab! – blieb. Zugespitzt ließe sich formulieren: Mohr stand Hebbel nicht dabei im Wege, freier Autor, sondern beamteter Kirchspielvogt werden zu wollen – dies aber mit guten Gründen. Nach außen hin hatte es den Anschein, als wolle Hebbel genau dies, wenn nicht noch höher hinaus auf der Beamtenlaufbahn: „Man will zusammentreten und für Sie thun, was Sie glücklich machen wird: Sie sollen studiren!“,1941 schrieb ihm Amalie Schoppe im Juli 1834. Ein erster leiser Zweifel muß auch in ihr schon bald aufgestiegen sein, als sie ihn – eigentlich überflüssigerweise – daran erinnerte, „mit sich abzumachen, was Sie stu[di]ren wollen, denn eine Brodwissenschaft muß ergriffen werden, und die Poesie muß nach wie vor die Würze eines arbeitsamen Lebens sein“. 1942 Doch Hebbel selbst kehrte dieses Argument gegen die gute Frau, als er später mit Dieses und die folgenden Zitate: HEINZE, Was gehört in unserer Zeit dazu, wenn Studirende mit glücklichem Erfolg eine Universität beziehen wollen?, S. 17f. 1941 WAB 1, 36. Hervorhebung C. S. 1942 WAB 1, 37. Dort: „stuieren“. 1940

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ihr abrechnete. Die „ausgezeichnetste Pflichterfüllung“ [WAB 1, 330] habe ihm schon Mohr bestätigt: Meine Stellung war bürgerlich gesichert, ich konnte, um mich Ihres verletzenden Ausdrucks zu bedienen, ohne Sie bestehen, und bei dem allgemeinen Vertrauen, das man mir in öffentlichen Geschäften bewies, bei der Aufmerksamkeit, die ich noch ganz in letzter Zeit durch einen publicistischen Aufsatz erregte, durfte ich auch für die Zukunft auf eine ehrenvolle Existenz rechnen [WAB 1, 330].

Der von Hebbel angeführte Aufsatz verdient in diesem Zusammenhang in der Tat Aufmerksamkeit. Darin hatte er sich – wenige Wochen bevor er seine Heimat verließ – gegen die in einer Kieler Zeitung veröffentlichte Meinung gewandt, daß in Dithmarschen „allgemeine Creditlosigkeit vorhanden sey“ [DjH II, 101]. Demgegenüber profilierte er sich selbst als genauen Kenner der volkswirtschaftlichen Realitäten in seinem Vaterländchen und versah seine Replik mit einer Überschrift, die nicht nur den Gegner persönlich diskreditierte, sondern zugleich die eigene lokalpatriotische Loyalität hervorhob: Er ist kein Norderdithmarscher. Sollte aber jener, dem Anschein zum Trotz, ein Autochthoner sein, dann müsse man „annehmen, daß es ihm an der gedachten, doch so natürlichen Liebe zu seinem Vaterlande ganz und gar fehle und daß ihn dagegen ein schwer zu erklärender Haß gegen dasjenige, was selbst der Wilde liebt, erfülle“ [DjH II, 100]. So sprach ein braver Norderdithmarscher, der trotz seines bevorstehenden Fortgangs zu Studienzwecken die Absicht hatte, seiner Heimat treu zu bleiben – wenn er auch eine deutliche zivilisatorische Distanz gegenüber den eingeborenen ‚Wilden‘ hörbar werden ließ.1943 Diesen Aufsatz später gegen seine Gönnerin Amalie Schoppe ins Feld zu führen, war allerdings nicht ganz redlich. Denn wenn er von dem Bewußtsein getragen war, irgendwann einmal eine „ehrenvolle Existenz“ oberhalb des einfachen Verwaltungsdienstes zu erreichen, so verdankte sich dieses Bewußtsein ja allein der von Schoppe vermittelten Anschubfinanzierung für das kommende Jurastudium. Der Artikel, der am 10. Januar 1835 in der Dithmarscher Zeitung erschien, hatte auch noch einen privaten Zweck, diente er doch der Beglaubigung der eigenen Kreditwürdigkeit: Exakt am Tag zuvor hatte Hebbel seinen Wesselburener Intimus Jakob Franz schriftlich gebeten, „mir mit einem Darlehn zu helfen“ [WAB 1, 39], das er als Hypothek auf seine berufliche Zukunft aufnehmen wollte. Er stellte eine Rückzahlung „nicht vor meiner wirklichen Anstellung im Staatsdienst“ [WAB 1, 39] in Aussicht. Die offene Auskunft zeigt, daß er zum einen die Verschuldung keineswegs auf die leichte Schulter nahm, zum andern aber mit einem späteren Amt bereits ‚rechnete‘. Als er einige Wochen darauf den Freund in dessen beruflichen Angelegenheiten beriet, schloß er mit zeremoniöser Förmlichkeit: „Es gilt Dein ganzes Lebensglück, darum darf ich annehmen, daß Du mit größter Umsicht und Behutsamkeit verfahren seyn und von Deinen Gerechtsamen nicht das Geringste vergeben haben wirst. Dies 1943

Bei der in den Notizen zur Biographie erwähnten „Scene mit Mohr […] über den Aufsatz in der Dithm. Zeitung“ [W 15, 21] handelt es sich evtl. um einen Disput über diese polemisierenden Passagen, die mit den Tugenden amtlicher Sachlichkeit und Zurückhaltung kaum vereinbar waren.

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beruhigt mich einigermaßen, zögere aber nicht, mir des fordersamsten (hier spreche ich, als wäre ich schon Landvogt von Dithmarschen) genauen Bericht abzustatten“ [WAB 1, 41]. Hier spricht nicht allein der zukünftige Kirchspiel- oder gar Landvogt, sondern ein junger Mann, der ahnt, daß sein „ganzes Lebensglück“ ebenfalls von der Einforderung von „Gerechtsamen“ abhängt und nicht von poetischen Hochgefühlen; der ahnt, daß man eher „genauen Bericht“ zu liefern hat als Produkte der Einbildungskraft, um seinen persönlichen ‚Kredit‘, die Glaubwürdigkeit gegenüber der Gesellschaft nicht zu verlieren. Öffentliche ‚Glaub-Würdigkeit‘ reklamierte Hebbel für sich sogar in theologischer Hinsicht. Als selbsternannter Schutzherr seines Freundes Leopold Alberti sorgte er sich im Juni 1835 nicht nur um dessen Seelenheil, nachdem ein katholischer Pfarrer in Friedrichstadt ihn zum Konfessionswechsel bewegen wollte, sondern er spekulierte für sich selbst auf eine weitreichende kirchenpolitische Wirksamkeit. Jakob Franz vertraute er an: „An den Friedrichstädter Proselytenmacher habe ich geschrieben u ich denke, mein Brief wird ihm die Zunge hinlänglich binden; ich habe ihm nämlich mit einer Anzeige an die dänische Regierung gedroht […]. Eine solche Anzeige könnte für die fernerweitige Tolerirung der kath. Secte in Dänemark von den wichtigsten Folgen seyn, halte also über diesen Punct um Gotteswillen reinen Mund“ [WAB 1, 51]. Der heimliche Freidenker Hebbel wirft sich nach außen zum Verteidiger der Amtskirche auf – in kühnem Vorgriff auf das eigene Amtswalten im Rahmen der Allianz von ‚Thron und Altar‘. Vielerlei Anhaltspunkte deuten also darauf hin, daß sich das Vorbild Johann Jakob Mohrs auch in beruflicher Hinsicht ganz konkret als roter Faden durch die Wesselburener Schreiberjahre zieht, und noch ein Stück darüber hinaus weiterwirkt. Dies bestätigt sich eindrucksvoll an Hebbels Verhalten gegenüber den eigenen dichterischen Anwandlungen. Tatsächlich war er in der Wesselburener Zeit auch sich selbst als ein alter ego des strengen Kirchspielvogts gegenübergetreten. Er hatte sich – wie eben alle „jungen Leute[…] seiner Art“ [WAB 1, 145] – in dem „fatalen Fall“ befunden, nicht zu wissen, was aus seinen poetischen Ambitionen werden sollte. Ein Berufsbild ‚Dichter‘ gab es praktisch nicht, hatten doch selbst die Weimarer Klassiker und speziell der von Hebbel verehrte Uhland staatliche bzw. kirchliche Ämter innegehabt. Wie lange noch der ‚Dichter‘ mit dem ‚Richter‘ rang, zeigt das Autodafé im Februar oder März 1838, von dem Hebbel später schrieb: „Ich hielt es in jener Stunde für die allerlächerlichste Selbstüberschätzung, mehr als einen angehenden Candidaten der Rechte vorstellen zu wollen und warf meine Spielpuppen in’s Feuer, um mich von meiner Thorheit gründlich zu heilen, indem ich dachte, daß die mich allein verhinderten, auf dem rechten Wege zu bleiben“.1944 Signifikant für Hebbels Nachahmung des Kirchspielvogts ist ferner, daß er auch das Verhältnis zu Freunden und Bekannten gerade so gestaltete, wie er sich von Mohr

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WAB 2, 126. Laut diesem Brief an Kühne fand das Autodafé, statt, als sich Rousseau „im Gebirg“ befand. Dieser war am 23. Februar nach Ansbach abgereist. Auf den Gedanken brachte ihn möglicherweise eine kurz zuvor erhaltene „abschlägige Antwort“ [WAB 1, 215] des CottaVerlags, die mit der Nachricht von einem „Brand-Unglück“ [WAB 1, 215] in der Buchdruckerei verbunden war.

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behandelt fühlte, was – zumal unter Gleichaltrigen – kaum angebracht war. Als Klaus Groth ihn einmal im Kreis von „mehreren jungen Freunden, Schreibern bei Beamten, wie er selber“1945 reden hörte, klangen ihm dessen Äußerungen über juristische Werke „etwas selbstbewußt“, wobei die Umstehenden „mit Respekt […], gemischt vielleicht mit etwas Mißtrauen“ zu ihm hinaufgeblickt hätten. Ein anderer Jugendfreund hielt ihn für „eitel“1946 und „eingebildet auf seine Vorzüge“, wobei er die „Sprödigkeit und Steifheit seines Benehmens“ herausstellte; und in den Augen Christoph Marquard Eds war er „schon als Knabe von sechzehn Jahren so voll Dünkel, daß er sich überall zurückgesetzt glaubte, wo man ihn nicht als Hauptperson behandelte“ [HP I, 37f.]. Die Näherin Maria Gammrath berichtete, „man hätte den Jungen gar oft für ‚übergeschnappt‘ gehalten“ [HP I, 6]. In diesem Zusammenhang ist Bornsteins Bewertung infragezustellen: Nicht daß Hebbel „nach seiner Konfirmation Schreiberlehrling wurde, war dem gewöhnlichen Manne nur ein Beweis dafür, daß der Maurerssohn zu ‚hoch hinaus‘ wolle“ [HP I, 6f.], sondern dessen verändertes, arrogant erscheinendes Verhalten, das zum „Krischan“ so gar nicht mehr passen wollte. Im direkten persönlichen Umgang prägte sich dieses Muster deutlich aus: Nach Schachts Weggang eröffnete Hebbel die Korrespondenz im September 1833 mit einem Rangstreit darüber, wer „die Correspondenz hätte eröffnen“ [WAB 1, 28] müssen. Nach erfolgter Belehrung wechselt Hebbel plötzlich den Zungenschlag: „Dieses mußte ich Dir sagen; nun aber wollen wir in Gnaden vom Catheder heruntersteigen und einen wohlgewalkten Burschenrock anziehen“ [WAB 1, 28]. Über den knapp ein Jahr jüngeren Johann Nikolaus Barbeck habe Hebbel „nach Belieben […] disponiert, ihn gerne gefoppt und seine Freude daran gehabt, ihn mit dessen geringem Wissen in Verlegenheit zu bringen und zu zeigen, daß er ihn überrage.“1947 Der so Erniedrigte war, glaubt man Kuh, „mit seinem Schicksale zufrieden, man kann sagen, er fühlte sich als Zielscheibe Hebbels beinahe geehrt und war ernstlich bemüht, die Eigenheiten unseres Freundes nachzuahmen. Es gab also hier, wenn wir uns der Wirkung Mohrs auf den Schreiber erinnern, Kopien in absteigender Linie“! Schon früh bediente sich Hebbel seinerseits eines ‚Schreibers‘ (möglicherweise Barbecks), wie aus einem der frühesten erhaltenen Briefe aus dem Jahr 1831 hervorgeht: „Vorstehend, lieber Hedde, erhältst Du eine meiner versprochenen Romanzen, die ich durch die Güte eines meiner Bekannten abgeschrieben erhalten habe“ [WAB 1, 4]. Im Gegensatz zum gutmütigen Barbeck hatte Leopold Alberti, der seit Ende Mai 1835 bei Hebbel in Hamburg wohnte, bis die Freundschaft zerbrach, „in seinem Dünkel geglaubt, mich zu überragen […]; er habe in mir das Bestreben, ihn einstweilen niederzuhalten, zu erblicken gewähnt“.1948 Dabei kam Hebbel sich in seiner Rolle als Quartiergeber durchaus großzügig vor – wiederum im direkten Vergleich mit seinem ehemaligen Brotherrn: „Indessen – es geht und er [Alberti] kann noch immer einen besseren Tisch führen, als mir bei dem Kirchspielvogt Mohr zu Theil wurde“ [WAB 1, 53]. Sollte Alberti argwöhnen, daß der wohltätige Freund ihn gleichfalls nach Dieses und die folgenden Zitate: GROTH, Friedrich Hebbels Jugendjahre, S. 113. Dieses und die folgenden Zitate: HP I, 12. 1947 Dieses und das folgende Zitat: KUH, Biographie, Bd 1, S. 86f. 1948 T 1856. Zu den gegenseitigen Animositäten vgl. auch T 54! 1945 1946

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der Art eines Mohr vom vermeintlichen Schriftsteller zum Schreiber degradieren wollte, so war selbst das nicht ohne Berechtigung. Während Hebbel im Mai 1835 noch beabsichtigte, einen Mährchenalmanach „in Verbindung mit Alberti“ [WAB 1, 49] erscheinen zu lassen, versuchte er beim gemeinsamen Aufenthalt in Wesselburen im Februar 1836, ihn im „Comtoir“ [WAB 1, 69] des Kirchspielschreibers Voß unterzubringen. Im Brief an Elise Lensing, in dem er davon berichtete, dekretierte Hebbel zugleich rigoros, was gut für Alberti sei: Es ist für ihn äußerliche und innere Nothwendigkeit, sich für einige Jahre ganz ins Practische zu werfen; ich zittere, wenn ich an den geistigen Zwiespalt denke, in dem er sich gegenwärtig wegen des Mißverhältnisses, was zwischen dem, was er kann, und dem, was er will und theilweise muß, besteht, befindet. Dieser Zwiespalt würde, wie ich fürchte, durch die fortgesetzte Beschäftigung mit poetischen Arbeiten vergrößert werden und ihn am Ende zerrütten; kann ihn noch etwas retten, so ist es das, was seinen bisherigen Bestrebungen völlig heterogen ist, wenigstens werde ich an den Fortschritten, die er als bloßer Schreiber machen wird, diejenigen mit Bestimmtheit und Sicherheit abmessen, die er als Dichter und Schriftsteller in einer späteren Periode machen kann. [WAB 1, 69]

Nicht ohne Grund ordnete er an: „Alberti soll nichts von diesem Brief wissen“ [WAB 1, 69]. Nach außen herrschte noch eitel Sonnenschein zwischen beiden; Hebbel behauptete, Alberti habe sich in Wesselburen „übrigens köstlich wohl befunden“ [WAB 1, 69] – das gleiche hatte Mohr von seinem Schreiber gedacht. Bei seinem „für Subordination unfügsamen“1949 Temperament empfand Alberti Hebbels Verhalten jedoch als „Despotie“: „In dem Maße, als ich Hebbels Druck fühlte, wurde ich auch zur leidenschaftlichen Auflehnung dagegen gereizt“, erinnerte er sich Jahrzehnte später. Die Gefühle der Demütigung und Eifersucht verleiteten den jungen Alberti zu unbedachten und unverzeihlichen Handlungen. Der Bruch zwischen den Freunden ließ nicht lange auf sich warten. Im Prinzip nicht anders verfuhr Hebbel wenige Monate später mit seinem jüngeren und leichter formbaren Studienfreund Emil Rousseau, der sich schwärmerisch der Dichtung verschrieben hatte. Ihm wünschte Hebbel, falls sein „poetische[s] Streben[…] kein erwünschtes Ziel finden sollte, sich zusammen zu fassen u das Leben an einer ihm zugänglicheren Seite zu packen“ [WAB 1, 128]. Sich wiederum zu einer Art Vormund aufwerfend, fuhr er fort: „Das ist’s, was ich vom Jüngling verlange, was ich von mir selbst in dem bedenklichen Zeitpunct der inneren Entwickelung mit Strenge verlangt habe“ [WAB 1, 128]. Hebbel selbst hatte die Haltung des Kirchspielvogts ihm gegenüber erfolgreich adaptiert und brachte sie nun regelmäßig zur Anwendung! Da verwundert es nicht, wenn er auch Rousseau als Schreiber nutzte: „Ich habe im November meine besten Gedichte (113 an der Zahl) zusammen gestellt. Rousseau hatte die große Güte, sie mir sauber abzuschreiben“ [WAB 1, 206]. Doch auch archaischere Autoritätsmuster brachten sich zur Geltung: „Man befindet sich mit jungen Leuten seiner Art in einem fatalen Fall; man kann ihnen nur durch Ausprügeln wahrhaft dienen“ [WAB 1, 145] – ein drastischer Kontrast zu dem pädagogischen Programm, das sich an Rousseaus rousseauistischen Vornamen ‚Emil‘ knüpfte: Émile 1949

Dieses und die folgenden Zitate: Zit. nach BARTELS, Hebbels Herkunft, S. 109f.

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sollte ja gerade nicht durch Anpassung an die Gesellschaft verdorben werden, sondern sich frei und natürlich entwickeln. Bittsteller, die später an den berühmten Schriftsteller mit Hilfsersuchen herantraten, wie sein „werther unbekannter Vetter“ [WAB 2, 351] Christian Hebbel, verwies er zwecks Nachahmung auf die eigene Laufbahn: „[H]arren Sie einstweilen in Ihrem engen Kreise aus […]; das mußte ich auch sieben lange Jahre, und es hat mir eher genützt, als geschadet“ [WAB 2, 352]. In direktem Widerspruch zu den heftigen Anklagen gegen Mohr fand Hebbel es durchaus richtig, daß der Prinzipal den Poeten im Dienstboten darniederhielt, solange sich keine ernstzunehmende Alternative ergab. Selbst Hebbels aggressive Haltung gegenüber seinem ehemaligen Herrn läßt sich als erwartbares Resultat des ständischen Hierarchie- und Rekrutierungssystems auffassen. Hellsichtig schrieb schon 1813 der Wesselburener Pastor Volckmar über die psychischen Spuren, welche die „Oligokratie sowohl in der Landschaft als in ihren einzelnen Kirchspielen“1950 bei deren Protagonisten regelmäßig hinterließ: Indes der Edelmann schon als Jüngling und Knabe sich über alle Bürgerliche gleich erhoben fühlte, setzt der bürgerliche Beamte der in seiner Jugend vielleicht Furcht vor dem Prediger, viel Respect oder Liebe für den Kirchspielvoigt hatte leicht seinen Mannessinn darin daß er, diese jugendlichen Eindrücke auszulöschen bemüht, nun denen furchtbar ist die einst ihm es waren.

Charakteristisch ist zum einen die Ambivalenz der traditionalen Autorität, bei der „Furcht” und „Liebe” zusammenfallen, zum anderen der Rollentausch bei der Ablösung der Generationen: So wird der Jüngere dem „furchtbar“, der es „einst ihm war“. Als Gegenbild stand Volckmar noch kein modernes Muster – sei es aus Familie oder der Arbeitswelt – vor Augen, sondern das schon damals überholte Modell des ‚souveränen‘ Adligen, der außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Hierarchien stand. Nicht allein in beruflicher Hinsicht liebäugelte der junge Hebbel mit dem örtlichen Beamtenstand. Auch privat, mit Blick auf eine spätere standesgemäße Familiengründung, stellte er schon in Wesselburen die Weichen. Auf der Klippschule war er vom ersten Tag an der älteren Tochter des Kirchspielschreibers Voß zugetan gewesen – nicht zuletzt, weil „sie vornehm war“.1951 Diese Neigung dauerte, wie Hebbel bekannte, „bis in mein achtzehntes Jahr“.1952 Als aber Emilie ihre Gunst einem Schneider zuwandte, „übertrug Hebbel seine Zuneigung auf ihre Schwester“1953 Dorothea, genannt Doris. Hermann Krumm schrieb: „Diese letztere Neigung dürfte am längsten vorgehalten, ihn überhaupt dauernd gefesselt haben. War doch die Kirchspielschreiberei [= das Voßsche Haus] der eigentliche Mittelpunkt des lustig-ausgeDieses und das folgende Zitat: VOLCKMAR, [Bericht v. 27.6.1813] zum GK. Visit. Protocoll von Norderdithmarschen 1813. Anlage Eb). LA S-H, Abt. 19, Nr. 75. 1951 W 15, 8. In den Notizen zur Biographie folgt umittelbar darauf die bezeichnende Assoziation: „Abscheu vor physischer Arbeit“. 1952 W 8, 99. Laut T 2520 nur „bis in mein 17tes Jahr“. Vgl. auch T 2867. Sengle hielt das Mädchen irrtümlich für eine Tochter Mohrs. Vgl. SENGLE, Biedermeierzeit, S. 338. 1953 BIEDER, Der Dithmarscher Friedrich Hebbel, S. 167. 1950

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lassenen und sentimental-schwärmenden Lebens der männlichen und weiblichen Wesselburener Jugend!“1954 Hinter dem ‚geselligen‘ Moment stand das ‚gesellschaftliche‘: „Der Verkehr im Hause des Kirchspielschreibers mochte dem jungen Hebbel und seinen Feunden ebenfalls als eine ‚Standeserhöhung‘ erscheinen“,1955 meinte Theobald Bieder. Über die Beziehung zwischen Doris Voß und Friedrich Hebbel teilte Klaus Groth Emil Kuh mit: „Es heißt, daß Hebbel mit ihr verlobt gewesen ist“.1956 Ohne die Partnerin zu nennen, berührte Hebbel dieses Thema in einem Brief an Jakob Franz knapp, aber direkt: „versprochen hab‘ ich mich nur einmal!“ [WAB 1, 56]. Kuh griff diese Hinweise bezeichnenderweise nicht auf. Denn dies bedeutete ja, daß der zum Dichter und Wiener Weltbürger Berufene damals ernsthafte Absichten gehabt hatte, sich in Dithmarschen zu etablieren, in eine Beamtenfamilie einzuheiraten und auch agnatisch ‚Angehöriger‘ des Beamtenstandes zu werden. So blieb es Paul Bornstein vorbehalten, aus den brieflichen Nachrichten Hebbels über Doris zu kombinieren: „Ihr hatte der junge H. sich versprochen“ [DjH I, 265]. Wann das Verlöbnis stattgefunden hat, ist nicht überliefert. Mit gebührender Vorsicht läßt sich vermuten, daß dies erst möglich wurde, nachdem im Juli 1834 mit den Stipendienzusagen aus Hamburg eine gewisse materielle Basis vorhanden war, bzw. nachdem Hebbel konkrete Aussagen über Studien- und Berufsziel machen konnte, also wohl doch erst gegen Ende des Jahres 1834. In jedem Fall erstaunt die unmittelbare zeitliche Nachbarschaft zur Hochzeit seines Dienstherrn, der sich am 7. Oktober 1834 verehelichte. Möglicherweise wollte Hebbel durch seine zeitige Verlobung auch noch als ‚Mann‘ mit Mohr mithalten. Denn gerade weil die Erwachsenengesellschaft „die Eheschließung zu ihrem Initiationsritus machte und gleichzeitig die Partnerwahl der Jugendlichen durch besitzstrategische Heiratsbeschränkungen verzögerte“,1957 mußte „dieser Bereich im Zentrum des Interesses der Jugendlichen stehen und ihre Identität wesentlich durch diesen spezifischen Statusmangel geprägt werden.“ Neben dem beruflichen und ständischen Aspekt lag in der Entscheidung, sich noch kurz vor dem Weggang ‚in die Welt‘ eine Dithmarscherin als Gefährtin fürs Leben zu erwählen, auch ein kulturkonservatives, aber darum keineswegs lebensfremdes Moment. Die von Hebbel maßgeblich geprägte Dissertation des Freundes Emil Rousseau kommentierte aus historischer Perspektive genau diese Praxis: Der Dithmarsische Bauer bezog die Universität z. B. zu Wittenberg und kehrte dann heim zu seinem Pflug. Ohne Schaden für seine Sitte konnte die geistige Entwicklung zeitgemäß fortschreiten, das nothwendige Complement seiner körperlichen Kraft werden, dieser erst Bedeutung und Nachdruck geben. In keiner Beziehung schloß sich der Dithmarscher ab, als höchstens darin, daß er nicht ausser Landes heurathete. Wo die Sitten in keiner Weise hemmend sind, da dürfen und müssen sie solcher Weise bewahrt werden.1958 KRUMM, Friedrich Hebbels Leben, S. 31f. BIEDER, Der Dithmarscher Friedrich Hebbel, S. 167. 1956 GROTH, Friedrich Hebbels Jugendjahre, S. 148. 1957 Dieses und das folgende Zitat: GESTRICH, Traditionelle Jugendkultur, S. 111. 1958 ROUSSEAU, Schlachten bei Thermopylä und Hemmingstedt, S. 53f. In Gyges sollte jedoch bezeichnenderweise die Heirat Rhodopes „ausser Landes“ und in einen ‚fortschrittlicheren‘ 1954 1955

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Vor solchem Hintergrund war es geradezu konsequent, daß Hebbel sich vor seinem Weggang aus Wesselburen eine standesgemäße Partie für die Zeit seiner Rückkehr sichern wollte. Daß die Dithmarscher Sitten inzwischen sehr wohl „hemmend“ wirken konnten, erfuhr er erst, nachdem er selber „ausser Landes“ ging. Dann aber stellte er sehr rasch fest, daß diese Bindung übereilt gewesen war. Trotz des Heiratsversprechens an Doris, so Paul Bornstein, „vergaß er sie anscheinend in Hamburg bald. Die brieflichen Äußerungen an Jakob Franz zeigen klärlich, daß H. bei der Verschiedenheit des geistigen Niveaus die innere Unmöglichkeit dieses Bundes als eines dauernden schnell genug einsah“.1959 Auch in Liebesdingen vollzog sich also in Hamburg ein radikaler Bruch, der sich in Wesselburen zuletzt angebahnt haben mochte, aber nicht zum Austrag gekommen war. Der unausweichlichen Lösung des Verlöbnisses durch Hebbel kam der frühe Tod Dorotheas am 3. Juni 1835 zuvor. Sechs Tage später schrieb Hebbel über seine Gefühle an Jakob Franz: [D]as Herz blutet hauptsächlich deswegen, weil es jeden Verband verschmäht. Daß diese Empfindungen nicht sehr lange dauern konnten, ist Dir, der Du um das ganze Verhältniß, über sein Entstehen und Vergehen, genau gewußt hast, begreiflich. Bewahre über Alles, was Dir über meine spätere, von mir selbst sowohl, als von Dir, vorausgesehene Sinnesänderung bekannt ist, wie ein heiliges Geheimniß, in Deiner Brust, es würde die Mutter nur noch härter verwunden [WAB 1, 50f.].

Von dem Sinneswandel des Verlobten wußte man in Wesselburen demnach nichts; am wenigsten die Schwiegereltern in spe. Von Johann Barbeck erhielt Hebbel denn auch „einen ganz spitzen Brief“, den er Jakob Franz gegenüber geradezu zynisch kommentierte: „Es ist lustig, daß ich dem guten Jungen nicht traurig genug bin. Freilich – Du bist der Einzige, der näher um mein Herz Bescheid weiß, u sollst es auch bleiben“ [WAB 1, 56]. Sein Herz blieb kühl – wie später beim Tod der Mutter.1960 Von ‚Innerlichkeit‘ ist in der Beziehung zu Doris wenig zu spüren. Stattdessen ließ er Franz am 2. August wissen, daß er bereits neu liiert war: „Eine Liebesgeschichte, die ich hier mit einem Fräulein v L. […] angesponnen, nimmt auch schon einen verdammt ernsthaften Charakter an; verflucht, daß man so leicht zu fangen ist!“1961

1959

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Kulturkreis zum Ausgangspunkt einer Tragödie werden. Ob darin auch das mögliche Schicksal einer Doris Voß angedeutet wurde? DjH I, 265. Hebbels etwas kryptischer Satz: „D. wird sich auch schwerlich in den nächsten 10 Jahren den Doctorhut erringen“, [WAB 1, 41] bezog sich möglicherweise mit abgründigem Sarkasmus auch auf Doris’ illusionäre Hoffnung, dereinst vom promovierten Juristen Hebbel als ‚Frau Doktor‘ heimgeführt zu werden. Vgl. oben im Kapitel Das Elternhaus den Abschnitt Kommunikation zwischen Mißverstehen und Identifikation. WAB 1, 56. Gemeint ist Elise Lensing, die ihm – wie zuvor die Wesselburener Kirchspielschreiberstöchter – durchaus vornehm erschien. Es folgt der gravierende Satz, mit dem Hebbel sich vom traditionellen Muster der Familiengründung verabschiedete: „Doch – versprochen hab ich mich nur einmal!“ Vgl. in diesem Zusammenhang auch Hebbels zweischneidigen Rat an Elise, sie solle ihrer Nebenbuhlerin Molly Gießelmann die Information zuspielen, „ich hätt’ in Dithmarschen eine Braut, das wird sie kuriren“ [WAB 1, 86]. Zu diesem Zeitpunkt war Doris

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Beim Kirchspielvogt Mohr

Alle diese Daten aus der Wendezeit 1834/1835 sind im Grunde bekannt. Um so erstaunlicher ist, daß die Forschung sie fast durchweg nicht beachtet, geschweige denn in einen Zusammenhang gebracht hat. Indem die Biographen Hebbels Jurastudium als bloße Übergangs- und Verlegenheitslösung auf dem Weg zum Dichtertum bewerten, betätigen sie sich als rückwärtsgewandte ‚Propheten‘: Im nachhinein scheint sich die Vergangenheit als ‚Geschichte‘, als lineares, auf einen finalen Sinn bezogenes Geschehen zu erweisen. Doch es verfälscht schlicht die wirklichen Gegebenheiten, wenn etwa Hayo Matthiesen behauptet, schon in der Wesselburener Zeit habe Hebbel „einzig auf sein dichterisches Talent“1962 vertraut, und an anderer Stelle mit einem Stich ins Pathetische unterstellt: „Friedrich Hebbel war ja nicht aus Wesselburen geflohen, um einen Brotberuf zu lernen. […] Im Vertrauen auf seine dichterische Anlage war er aufgebrochen, um sich selber zu suchen.“1963 Auch Dirk Dethlefsens These über Hebbels Weg zu sozialer Anerkennung, seine „Lebensnot wurzelte in der Verflechtung von Armut und ausschließlich künstlerisch-gesellschaftlichem Ehrgeiz“,1964 ist eben in dieser Ausschließlichkeit unhaltbar. Die historische Gerechtigkeit verlangt demgegenüber eine Interpretation aus der konkreten Situation heraus: Bis zum Ende der Wesselburener Zeit und darüber hinaus war Hebbels Zukunft nicht nur völlig offen, sondern eine poetische ‚Karriere‘ eher unwahrscheinlich. Als Hebbel sich im März 1836 gegenüber seinem Stipendienverwalter Schmalz darauf berief, „daß man in gewissen Dingen den Menschen gewähren lassen und der Zukunft das Urtheil über ihn anheim stellen muß“ [WAB 1, 79], bürgte er damit keineswegs für seine literarischen, sondern für seine akademischen Ambitionen! Die biographischen Daten der späten Wesselburener Zeit ergeben ein deutliches Muster: Jenseits aller äußerlichen Nachahmung verfestigte sich das Vorbild des Kirchspielvogts bei Hebbel zu einem ernsthaft angestrebten beruflichen und gesellschaftlichen Rollenmodell. Darauf arbeitete er äußerlich mit erstaunlich anmutender Konsequenz hin: akademisch durch die geplante Aufnahme des Jurastudiums, publizistisch durch Veröffentlichung entsprechender Aufsätze,1965 wirtschaftlich durch die ‚Zukunftshypothek‘ bei Jakob Franz und privat durch die Verlobung mit der Tochter des Kirchspielschreibers. Ebenso deutlich ist aber auch das rasche Zerbröckeln dieser Konstruktion in der Hamburger Zeit zu beobachten – nicht allein an der Lösung von Doris. Im April 1835 schrieb der Johanneumsschüler seinem Freund Schacht zwar aufatmend, ihm sei es „endlich nach so vielen vergeblichen Versuchen gelungen, daß ich mich ausschließlich den Wissenschaften widmen“ könne; er lebe „jetzt, freilich beschränkt genug, aber ruhig und sorgenfrei und treibe die alten Sprachen“ [WAB 1, 44], doch war er bereits nach wenigen Wochen äußerst ungeduldig: „Das Studium ist trocken und geisttödtend, aber Gott wird helfen. In zwei Jahren hoffe ich, zur Universität abzugehen; dann werde ich – Jura studiren“ [WAB 1, 44]. Die Geduld reichte seit fast einem Jahr tot. – Diese Haltungen rücken Hebbel eher in die Nähe eines Leonhard als in die des Christian aus Maria Magdalena. 1962 MATTHIESEN, Friedrich Hebbel, S. 23. Hervorhebung C. S. 1963 Ebd., S. 34f. 1964 DETHLEFSEN, Versehrungen, S. 69. 1965 Von Ende 1835 stammt ein von Bornstein erschlossenes Sendschreiben an die Norderdithmarscher von einem Norderdithmarscher in Betreff der Zoll-Angelegenheit. Vgl. DjH II, 239.

Ein Prinzipal in verjüngtem Maßstab?

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auch dafür nicht. Kaum ein Jahr später verließ er die Schule nicht nur ohne ausreichende Sprachkenntnisse, sondern auch ohne Abitur, was dazu führte, daß ihm in Heidelberg eine reguläre Immatrikulation verweigert wurde. Nach wenigen Wochen an der Universität lösten sich die Pläne, es dem Kirchspielvogt gleichzutun, endgültig auf: Ich bin nun schon seit Wochen bis über die Ohren in Juristerei versenkt, höre Rechtsgeschichte u Institutionen und weiß desungeachtet noch nicht, ob ich dabei bleibe, weil ich nicht weiß, inwieweit ich bei einer begreiflicherweise äußerst mangelhaften Kenntniß des Lateins werde zum Ziel gelangen können. […] [A]uf ein Staatsamt würde ich jedenfalls aus Gründen, die sich einem Brief nicht anvertrauen lassen, keinen Anspruch machen.1966

Das Vorhaben, sich für den höheren Staatsdienst zu qualifizieren, hätte ein weiteres langjähriges Moratorium bedeutet. Nicht umsonst läßt Hebbel den Sekretär Christian in Maria Magdalena seufzen: „Freilich, was vergißt man nicht über Justinian und Gajus!“ [W 2, 47]. Nur die besten Studenten kämen „in drei bis vier Jahren wieder an’s Tagslicht“ [W 2, 47]; von einem Kommilitonen weiß Christian zu berichten, daß er „nun schon drei Jahre im Schatten der Lex Julia sein Bier trinkt“ [W 2, 48] und sich den Platz frivolerweise „des Namens wegen“ [W 2, 48] ausgesucht habe. Doch nicht nur für diesen ist das Verlassen des Junggesellenstandes bis zum Sankt-NimmerleinsTag aufgeschoben. Auch der tüchtige Sekretär muß bei seiner Rückkehr feststellen, daß seine Klara bereits vergeben ist. Solche Probleme konnte sich Hebbel schon in seiner Wesselburener Zeit ausrechnen; dem Münchener Studenten aber standen sie direkt vor Augen. Am 12. Mai 1837 schrieb er an Elise Lensing: „Fleißig aber bin ich ganz und gar nicht, ich kann’s nicht seyn und werd’s nie seyn“ [WAB 1, 176]. Und viel später gestand er Franz Dingelstedt: Für den Burschen, der im Jahre 1837 an schwülen Sommertagen im Englischen Garten am Chinesischen Thurm sein Bier trank, stehe ich ein, daß er, wenn er im Geist den Herrn Doctor Hebbel mit dem Maximilians-Orden erblickt hätte, ganz gewiß nicht an die Identität mit seiner eigenen werthen Person gedacht, sondern höchstens von fabelhafter Aehnlichkeit gebrummelt haben würde. [WAB 4, 100]

Hält man sich vor Augen, daß Hebbel andererseits Anfang 1838 seine literarischen Erzeugnisse verbrannte, um „auf dem rechten Wege“ eines „Candidaten der Rechte“ [WAB 2, 126] zu bleiben, dann zeigt sich das Dilemma in voller Schärfe: Seine Positions- und Ortlosigkeit drohte auf Dauer gestellt zu werden. Als Sinnbild für diese sich schon früh abzeichnende Lage drängt sich der von den Biographen vielgescholtene Schlafplatz unter der Treppe geradezu auf. In anderem Zusammenhang interpretiert Peter von Matt die Treppe des Hauses als „den Ort des mißratenen Sohnes am Familienrand“,1967 und zwar „von dem Ziel her, das draußen wartet und den Sohn über die Grenze zieht.“ Dabei beschreibt er den „Familienrand“ WAB 1, 87. Zweifel am „Zutritt zu einem Amt“ [WAB 1, 77f.] äußerte Hebbel schon im Brief an Claus Voß vom 19. März 1836. 1967 Dieses und die folgenden Zitate: MATT, Verkommene Söhne, S. 302. 1966

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in zweierlei Hinsicht als „das räumliche Nichtdraußen und Nichtdrinnen und das lebensgeschichtliche Nichtmehrkindsein und Nochnichtverheiratetsein. Daß es dabei kein Drittes gibt, daß dies ein fürchterliches Entweder-Oder darstellt, ist die Grundregel des Lebenslabors“. Diese Problematik des ‚Nicht-mehr‘ und ‚Noch-nicht‘ verschärfte sich für Hebbel, je länger eine Entscheidung über sein zukünftiges Leben auf sich warten ließ. Mit Matt möchte man fortfahren: „Da wird das Wohnen auf [bzw.: unter, C. S.] der Treppe, auf der erweiterten, vervielfachten Schwelle (was ist eine Treppe anderes?), endlos“;1968 die Treppe selbst wird zur „Metapher für den Aufenthalt im Nunc stans der Initiationssekunde.“ Endlos aber durfte man weder Junggesell noch der ‚Copist‘ eines anderen bleiben; die Initiation konnte nicht ewig dauern. Erst allmählich reifte die Option, Schriftsteller zu werden, heran. Wenn Hebbel einige Jahre später äußerte, „ich [habe] erst in meinem 24sten Jahre angefangen, an meine poetische Befähigung zu glauben“ [WAB 1, 312], so stimmt dies mit dem Bekenntnis des 23jährigen gegenüber der Freundin Elise vom September 1836 überein: „Was meine Aussichten für die Zukunft betrifft, so sind sie [ausschließlich] auf die Schriftstellerei gegründet“.1969 Entschlossen hob Hebbel in redundanter Formulierung auf die „Aussichten für die Zukunft“ ab – in der Vergangenheit hatte er sich andere Aussichten offengehalten. Um so entschiedener mußte von nun an das einstige Vorbild Mohr verschwiegen, abgelehnt und stellvertretend ‚erledigt‘ werden.

1968 1969

Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 299. WAB 1, 114. Wortergänzung aufgrund einer Fehlstelle im Original.

7. DIE GEGENKULTUR DER JUNGEN BURSCHEN

Die peer group der Junggesellen Rolf Engelsing sah eine „Besonderheit der Dienstboten“ darin, daß sie „ihrer Niedrigkeit ungeachtet ein Bindeglied zwischen den ständisch weit voneinander geschiedenen höheren und niederen sozialen Schichten abgaben“. Auf „zwei verschiedenen Ebenen zugleich“ angesiedelt, „lernten sie Sitten und Maßstäbe kennen, zu denen die übrigen Angehörigen der unteren sozialen Schichten aufschauten, ohne sie kennen zu lernen. Die Dienstboten konnten Vorstellungen auf sich wirken und Gewohnheiten auf sich abfärben lassen, die sonst für beinahe alle gemeinen Leute eine unbegriffene äußere Größe blieben und darum auch ihren eigentümlichen herrschaftlichen Charakter behielten.“1970 Die weitreichende Vorbildfunktion Mohrs bestätigt dies eindrucksvoll im Fall Hebbels. Dies berechtigt jedoch nicht zum Umkehrschluß, der Dienstbotenstatus sei für ihn nur negativ, als unwillkommenes soziales Stigma bestimmt gewesen, als lästige, aber letztlich bloß äußerlich anhaftende Kategorisierung. Die Frage ist vielmehr, ob sich daran nicht auch ein ständisches Selbstbewußtsein knüpfte, das der jugendliche Schreiber mit jungen Leuten in vergleichbarer Lage teilte, und ob damit verbundene „kollektive Verhaltensweisen nicht auch positiv in den Menschen verankert waren.“1971 Edward Shorter etwa deutet an: „Städtische Lehrlinge wohnten im allgemeinen bei ihren Lehrherren, mußten aber […] der ‚Lehrlingssubkultur‘ Gefolgschaft leisten.“1972 In der Biographik wird Hebbel oftmals zum Einzelgänger und Eigenbrödler stilisiert. Karl Strecker schreibt über den Schulknaben: „So suchte Friedrich immer mehr die Einsamkeit auf. Er spielte fast gar nicht mehr und ging seine eigenen Wege. Oft sah man ihn auf dem Kirchhof oder draußen auf Feld und Flur, anscheinend zweckund ziellos umhergehen. Gern las er in abgelegenen Ecken und Winkeln oder auch draußen auf einem Grabenrand sitzend.“1973 Im Hause Mohr wiederum war er mitunter aus seinem „Arbeitszimmer, das die Aussicht in den Hof- und Stallraum hatte, nicht ohne Mühe herauszubringen“.1974 Wolfgang Wittkowski macht für die Rückzüge des jugendlichen Schreibers dessen soziale Lage verantwortlich: „Hebbels Stellung zur gesellschaftlichen Wirklichkeit hat sich offenbar in nichts geändert. Verständlich also, daß er weiter vor ihr flieht in eine bessere Welt.“1975 Der Blick auf Hebbels Lyrik dieser Zeit dient ihm zum Beweis – „weltflüchtiger Idyllik also frönt der 16/17jährige

ENGELSING, Dienstbotenlektüre, S. 183. SCHLUMBOHM, ‚Traditionale‘ Kollektivität und ‚moderne‘ Individualität, S. 266. 1972 SHORTER, Die Geburt der modernen Familie, S. 238. 1973 STRECKER, Friedrich Hebbel, S. 34. 1974 KUH, Biographie, Bd 1, S. 84. 1975 WITTKOWSKI, Der junge Hebbel, S. 68. 1970 1971

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Die Gegenkultur der jungen Burschen

Hebbel“.1976 Doch läßt sich weder die unselbständige Lyrik der Frühzeit in dieser Weise autobiographisch vereinnahmen, noch ist Hebbels Verhältnis zur „Wirklichkeit“ derart eindimensional. Gerade die frühen Gedichte wiesen ja oft einen Bezug zur unmittelbaren Umgebung auf – seien es Gelegenheits- und Auftragswerke, seien es die schwärmerischen Poeme, in denen Friedrich Wesselburener Freundinnen anhimmelte, oder die Polemiken, mit denen er im Dithmarser und Eiderstedter Boten die lokale Elite piesackte – von seinen Inszenierungen auf der Liebhaberbühne ganz zu schweigen. So erkennt Hans R. Franz um Hebbel einen „literatur-begeisterte[n] Kreis junger Männer in Wesselburen“,1977 die sich einer kollektiven „sittlich-ästhetischen Selbstbildung“1978 widmeten. Allerdings schränkt auch er ein: Über das „gemeinsame pädagogische Tun Hebbels in einem Kreis Gleichgesinnter hinaus, können wir von keiner […] Beobachtung mehr sprechen, die auf kollektive Selbstbildung oder kollektive Selbsterziehung schließen ließe.“ Die traditionale, brauchtümliche Jugendkultur findet auch hier keine Beachtung. Einmal mehr wird daran deutlich, das ganze Komplexe traditionaler Wirklichkeit im toten Winkel einer ‚modernen‘ Hebbel-Biographik liegen, die über frühere Epochen kaum Wissen besitzt. Doch ist dies auch rudimentärer Überlieferung geschuldet: Biographische Ereignisse, die nicht ‚richtig‘ einzuordnen sind, schrumpfen zu Anekdoten, die – wo überhaupt – zusammenhanglos überliefert werden. Nicht zuletzt erschwert der Übergangscharakter der Zeit die Interpretation zusätzlich. Zu korrigieren ist zunächst der verbreitete Eindruck, Hebbel habe in der Kirchspielvogtei in einsamer Zurückgezogenheit gelebt. Daß dies nicht der Fall war, ergibt sich bereits aus der Zusammenstellung seines ausgedehnten Wesselburener Freundeskreises bei Richard Maria Werner: Am nächsten stand ihm ein Genosse seiner Kindheit, Johann Nikolaus Barbeck, Schreiber beim Advokaten Knölck, etwas plump, aber seelensgut und bald eine geduldige Zielscheibe von Hebbels Launen. C. F. Mundt, G. Wacker, Th. Hedde, Johann Blank Gehlsen und die beiden Apothekergehilfen Heinrich Schacht und Jakob Franz treten aus der Menge hervor, während die anderen, Stoffer, Timm, Struve, Otto, Dr. Lindemann, Schäfer, Thorheyde, Reiff, nicht viel mehr als bedeutungslose Namen sind, aber für die Größe des Kreises zeugen. So weit wir wissen, muß Hebbel während seiner Jünglingsjahre vielfach der Anführer und Tonangeber gewesen sein.1979

Die Aufzählung nimmt gleichzeitig eine Hierarchisierung vor: Um Hebbel als „Anführer“ und seinen Adlatus Barbeck tritt ein engerer Kreis „aus der Menge hervor“, die insgesamt aus „bedeutungslose[n] Namen“ bestehe. Die individualisierende Gewichtung ergibt sich scheinbar zwanglos aus der speziellen Perspektive des HebbelBiographen. Aus sozialisationshistorischer Sicht tritt aber etwas anderes in den Vordergrund: nämlich gerade die „Größe des Kreises“, bei dem Namen ‚bedeutungslos‘ sind, weil die ‚Stärke‘ der Gruppe zählt. So hat Werner nicht einmal alle namentlich Ebd., S. 57. FRANZ, Selbsterkenntnis, Selbsterziehung und Selbstbildung bei Friedrich Hebbel, S. 109. 1978 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 110. Vgl. dazu auch ebd., S. 23–25. 1979 WERNER, Friedrich Hebbel. Ein Lebensbild, S. 38. 1976 1977

Die peer group der Junggesellen

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bekannten Jugendbekannten Hebbels aufgeführt. Zu nennen sind etwa Fritz Harding, Elias Dahlström, Christian Friedrich Sohn, Franz Jacob Böhn, Reimer Sören, Peter Andreas Claussen und Gottschau, ferner die Schreiberkollegen Johannsen und Peters, wohl auch die Apothekergehilfen Uterweck und Abraham, sowie Leopold Alberti als gelegentlicher Gast aus Friedrichstadt.1980 Darüber hinaus wird es ‚Mitläufer‘ gegeben haben, deren Namen – wie der von Hans Grimm1981 – nur ausnahmsweise überliefert wurden, schon weil der Kreis tendenziell auf die gesamte männliche Wesselburener Jugend hin geöffnet war. Dabei war das „Gefühl der bloßen Zugehörigkeit wichtiger als reale Nähe“.1982 Integrierend wirkte weniger ein autokratischer „Anführer“, als vielmehr eine gemeinsam getragene ‚Kultur‘. Die Grundlagen dazu wurden schon früh gelegt: Schon bei den kleinen Kindern wurde die Erziehung oftmals „zum größten Teil der Straße überlassen“,1983 wo sich die „Möglichkeit und Notwendigkeit zu einer sozusagen autonomen Regulierung des Verhaltens der Kinder und Jugendlichen untereinander bot“1984. Schon hier, meinte Jürgen Schlumbohm, „dürfte das Agieren in einer Gruppe von wesentlich Gleichen eingeübt worden sein.“1985 Auch in der Adoleszenzphase stellten, so Norbert Schindler, die „gemeinsam ausgeheckten und durchgeführten Unternehmungen und Streiche einen gemeinschaftsbildenden, quer zu den etablierten sozialen Hierarchien stehenden Erlebnis- und Erfahrungshorizont dar, dessen sozialintegrative Wirkung mit dem Übergang zum Erwachsenendasein und der Übernahme besitz- und statusdifferenzierender Rollen nur ganz allmählich verblaßte.“1986 Tatsächlich bildeten die ökonomisch abhängigen, männlichen Jugendlichen eines Ortes oftmals peer groups mit einer von den Standards der Erwachsenenwelt abgesetzten Parallelkultur. Das Spannungsverhältnis zwischen Elternhaus und Straße, Schule und Arbeitswelt, Amtskirche und Volksglaube fand hier eine Fortsetzung. Bereits aus dem positionalen Gegensatz zur „Herrschaft“ ergaben sich gegenläufige Interessen, die sich in der vorindustriellen Sozialordnung jedoch noch nicht als Gegensatz von ‚Klassen‘ darstellten. Da in aller Regel erst die Hochzeit wirtschaftliche Selbständigkeit brachte, war der Dienstbotenstatus meist mit dem ‚Ledigen-Stand‘ korreliert. „Bursche“ bedeutet sowohl „Junge“ als auch „Diener“.1987 In seinem Buch über Traditionelle Jugendkultur schreibt Andreas Gestrich: Da Jugendliche den Anforderungen von Eltern, Erziehern, Wirtschafts- und Herrschaftsstrukturen nicht mehr so hilflos ausgesetzt sind wie die Kinder, haben sie die Möglichkeit, Zu Harding vgl. WAB 1, 275; zu Dahlström: HP I, 2; zu Sohn: HP I, 218 und 220; zu Böhn: T 291; zu Sören: WAB 3, 587; WAB 5, 279 und W 15, 8; zu Claussen: HP I, 5; zu Gottschau: WAB 1, 7 und W 15, 8; zu Johannsen: Groth/Kuh, Der Briefwechsel, S. 24, Groth, Friedrich Hebbels Jugendjahre, S. 114, sowie Kuh, Biographie, Bd 1, S. 88 und S. 93; zu Peters: Groth, Friedrich Hebbels Jugendjahre, S. 114; zu Uterweck und Abraham: WAB 1, 41f. 1981 Vgl. W 15, 12. 1982 GILLIS, Geschichte der Jugend, S. 94. 1983 SCHLUMBOHM, ‚Traditionale‘ Kollektivität und ‚moderne‘ Individualität, S. 275. 1984 Ebd., S. 274. 1985 Ebd., S. 276f. 1986 SCHINDLER, Widerspenstige Leute, S. 228f. 1987 Ebenso das französische „garςon“, vgl. GILLIS, Geschichte der Jugend, S. 17. 1980

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Die Gegenkultur der jungen Burschen

auf bestimmte Bedingungen mit Protest und Verweigerung zu reagieren. Sie können sich eine eigene ‚Welt‘ aufbauen und sich in altershomogenen Gruppen […] zusammenschließen. […] Mit deren Hilfe artikulieren sie ihre Interessen und Bedürfnisse, bringen ihren Protest zum Ausdruck oder üben sich auch in Gebräuche und Verhaltensweisen der Erwachsenengesellschaft ein.1988

So bildete die lokale ‚Burschenschaft‘ neben anderen Korporationen wie den Schützen-, Vogel-, Brandgilden oder auch Nachbarschaften, die in Dithmarschen verbreitet waren, eine Gruppe für sich. Die Voraussetzungen der Zugehörigkeit waren klar definiert: „Von der Konfirmation bis zur Hochzeit blieben die männlichen Jugendlichen während ihrer Freizeit im Kreis der Kameraden. Erst mit der Verheiratung schied man formell […] aus der Kameradschaft aus“.1989 Als Altersgruppe läßt sie sich nur bedingt fassen. Nach innen waren die ‚Burschenschaften‘ nicht hierarchisch und patriarchalisch, sondern bruderschaftlich organisiert. In einigen unterwarfen sich die Mitglieder „einer Aufnahme, satzungsgemäßer Einrichtung und strengen Verpflichtungen“1990. Wenn „in peer groups der Akzent auf gemeinsamer Erfahrung und grundlegender Gleichheit liegt und daher hier kooperative Verhaltensweisen gelernt werden“,1991 wie Jürgen Schlumbohm erläutert, dann treten sie auch in dieser Hinsicht in einen Gegensatz zum gesellschaftlichen Umfeld. Denn die „normativ verbindliche Sozialstruktur einer Gesellschaft“1992 basiert „auf strenger Hierarchisierung, Abstufung und Differenzierung sowie auf einer Eindeutiges von Zweideutigem trennenden Abgrenzung des zu repräsentierenden Prestige- und Statuserhalts ihrer Mitglieder“, wie entsprechend bereits „in der Eltern-Kind-Beziehung Asymmetrie vorherrscht und vor allem die Fähigkeit, einer Autorität zu folgen, gelernt wird“.1993 Damit widersprach die Jugendkultur allein von ihrer Struktur her der gesellschaftlichen wie der häuslichen Ordnung. Dennoch wurde sie toleriert: „Eltern, damit beschäftigt, in einer ökonomisch feindlichen Umwelt täglich um ihr Überleben zu kämpfen, waren nur allzu bereit, den Gruppen der Altersgleichen die Aufgaben der gegenseitigen Heranbildung und Überwachung zu überlassen“,1994 schreibt John R. Gillis. Michael Kuper weist auf die zeit- und situationsabhängige „Ausnahmeerfahrung Communitas“1995 hin. Sie besaß

GESTRICH, Traditionelle Jugendkultur, S. 12. Ebd., S. 92. 1990 MEYER, Das Brauchtum, S. 3. Aus dem benachbarten Kirchort Lunden sind sogar Name und Satzung der „Rosengilde“ überliefert [ebd., S. 70]. Gustav Friedrich Meyer nahm für sich in Anspruch, die „Jungmännerbünde“ erstmals „für Schleswig-Holstein […] im Zusammenhang […] nachgewiesen und gewürdigt“ [ebd., S. 5] zu haben. Die methodischen Mängel des 1941 erschienen Buches können hier nur angedeutet werden: Der „Zusammenhang“ ergibt sich vor allem aus der fragwürdigen Hypothese vom bruchlosen „Fortbestehen“ [ebd., S. 5] wehrfähiger „Jungmannschaften“ seit germanischer Zeit sowie dem ‚völkischen‘ Bewertungsmaßstab. Die Abgrenzung eines speziellen Junggesellen-Brauchtums ist in dem materialreichen Band dagegen nicht immer deutlich. 1991 SCHLUMBOHM, ‚Traditionale‘ Kollektivität und ‚moderne‘ Individualität, S. 306, Anm. 102. 1992 Dieses und das folgende Zitat: KUPER, Zur Semiotik der Inversion, S. 36. 1993 SCHLUMBOHM, ‚Traditionale‘ Kollektivität und ‚moderne‘ Individualität, S. 306, Anm. 102. 1994 GILLIS, Geschichte der Jugend, S. 77. 1995 Dieses und das folgende Zitat: KUPER, Zur Semiotik der Inversion, S. 36. 1988 1989

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ihren Ort während der Freizeit, an Festtagen, in der Karnevalszeit und bot „eine Art Jahrmarkt der Möglichkeiten, ein Spielfeld der Phantasie“, um „im Rahmen des verkehrte Welt-Schauspiels Dinge zu tun, die den Verhaltensweisen und Normen des regulären Alltagslebens diametral entgegenstanden“.1996 Andreas Gestrich betont: „Lebens- und sozialisationsgeschichtlich kommt diesen Gleichaltrigengruppen […] entscheidende Bedeutung zu“;1997 und für Arthur Mitzman stellten sie einen „ebenso wichtigen Zufluß für das Kultur-Über-Ich der Gemeinschaft dar wie die biologischen Eltern der Jungen“.1998 Auch dadurch wies die traditionale Gesellschaft „ein Sozialisationsmodell auf, das sich von demjenigen, das der Freudschen Theorie zugrundeliegt, radikal unterschied“. Die Aktionen der unverheirateten Burschen waren vielfältiger Art. Ihren ureigenen Interessen entsprechend übten sie die „öffentliche Kontrolle über den lokalen Heiratsmarkt“1999 aus; darüber hinaus fungierten sie als „Träger zahlreicher Volksbräuche, etwa des Karneval oder der Rügesitten“; „sie organisierten Festlichkeiten und Rituale und wachten mit Hilfe der erniedrigenden und lauten Charivaris über die Einhaltung der Moral.“2000 Indem sie traditionelle Sitten verteidigten, standen sie oftmals weniger im Gegensatz zur Erwachsenen- als zur Elitekultur und deren Modernisierungsdruck, die etwa „der bäuerlichen Gesellschaft die patriarchalischen christlichen Werte des neuen Absolutismus aufzuzwingen“ versuchte. „In diesem Grobianismus, in diesen Travestien und Grotesken ist in der Tat eine Gegenkultur enthalten: Der respektlose, freie Erfahrungs- und Meinungsaustausch kollidiert mit dem obrigkeitlichen Monopolanspruch auf Öffentlichkeit und Kommunikation“,2001 urteilt dezidiert Wolfgang Kaschuba. „Vor allem aber bekamen übereifrige Landgeistliche, die die neue Sittenstrenge allzu forsch in die Tat umzusetzen und die eingespielte Machtbalance zwischen obrigkeitlicher und kommunaler Moral rigoros zu ihren Gunsten zu verändern suchten, die Renitenz der Burschen zu spüren“2002, berichtet etwa Norbert Schindler. Er versteht die „Gruppenkultur der ledigen Burschen als Vorhut zur Abwehr der Moraloffensive von oben“ bzw. „von außen“; Arthur Mitzman sieht sie „zwar nicht gegen die biologischen Väter gerichtet, aber implizit, gegen die […] in den Oberschichten verkörperte väterliche Gewalt.“2003 Diese Zwiespältigkeit, eignet nach Victor Turner dem Ritual überhaupt, indem es „’antisoziale‘ Triebe und Haltungen bändige und sie wieder zurückbinde in normative Ordnungen und in kollektive Werthorizonte“.2004 Durch Bräuche und Riten können „Konfliktthemen einerseits tabuisiert, also entschärft werden, andererseits und gleichzeitig können sie dadurch thematisiert und aktualisiert werden“; sie „signalisieren also beides: kulturellen Verregelungsbedarf wie soziale Konfliktvirulenz.“ Ebd., S. 39. GESTRICH, Traditionelle Jugendkultur, S. 93. 1998 Dieses und das folgende Zitat: MITZMAN, Die Offensive der Zivilisation, S. 44. 1999 Dieses und das folgende Zitat: SCHINDLER, Widerspenstige Leute, S. 223f. 2000 Dieses und das folgende Zitat: MITZMAN, Die Offensive der Zivilisation, S. 45. 2001 KASCHUBA, Ritual und Fest, S. 258. 2002 Dieses und die folgenden Zitate: SCHINDLER, Widerspenstige Leute, S. 225. 2003 MITZMAN, Die Offensive der Zivilisation, S. 45. 2004 Dieses und die folgenden Zitate: KASCHUBA, Ritual und Fest, S. 248f. 1996 1997

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Entsprechend lassen sie sich ganz unterschiedlichen kommunikativen Zwecken dienstbar machen, als „Mittel zur Kommentierung, Kritik, Attacke, affirmativen Rechtfertigung oder Wiederherstellung der bestehenden Ordnungsverhältnisse“.2005 So gesehen erfüllt die Burschenkultur eine Aufgabe, die für den Zusammenhalt der lokalen Gesellschaft als ganzer wichtig ist. Zwar hält Arthur Mitzman einige Brauchtumsformen für „derart barbarisch, daß man über ihr Verschwinden nur froh sein kann“,2006 doch meint Hans Peter Duerr: „Gerade weil diese Burschen außerhalb der Ordnung standen, konnten sie ursprünglich die Ordnung erkennen und damit aufrechterhalten, und weil sie gewissermaßen ‚Unbeteiligte‘ waren, durften sie rügen und damit richten.“2007 Diese Funktionen gehen in einer zunehmend komplexer und abstrakter werdenden Zivilisation an juristische Institutionen über, die dem Charakter des traditionalen Brauchtums entgegengesetzt sind: Der spontan und gemeinschaftlich gelebte Brauch sei „typisch für die primitive Gesellschaft“, formale Gesetze hingegen „typisch für die Zivilisation“, analysiert Stanley Diamond: „Das Bemühen, das Gewissen durch eine äußere politische Macht juristisch zu regeln, ist die Antithesis des Brauchtums“.2008 Dadurch gewinnt die Frage nach Hebbels Teilnahme an der Jugendkultur noch an Brisanz. Denn als Schreiber arbeitete er eben jenem zu, der die Prinzipien zivilisatorischer Verrechtlichung vertrat und verkörperte. Gerade im Vergleich mit Recht und Gesetz, die in aufgeschriebener Form möglichste Eindeutigkeit und Widerspruchsfreiheit anstreben, wird der ganz anders geartete Charakter der ‚burschenschaftlichen‘ Aktionen deutlich: Ihr Grundmuster ist das der Verkehrung in Form von „Übergangs-, Desakralisierungs- und Inversionsriten“,2009 die als „zeitlich begrenzte Inszenierung“ eine „momentane Instabilität“ heraufbeschwören. Eine solche ‚Verwechslung‘ der Maßstäbe führt oftmals gerade nicht zu eindeutigen, gültigen Aussagen, wie Michael Kuper verdeutlicht: „Der doppeldeutige Austausch der Oppositionen in der zeitlich begrenzten Karnevalsumkehrung der Ordnung enthüllt die Binarität und Ambivalenz der Dinge und vermeintlich nur eindeutigen Zusammenhänge. Das Bewußtsein von der Ambivalenz der Dinge wird von der Wahrnehmung ihrer positionalen Relativierbarkeit durchdrungen“.2010 Die ambivalente Bipolarität sprenge somit die „Eindimensionalität von Sinngebung und monokausaler Verbindlichkeit durch das Entstehen von dialogischer Mehrdeutigkeit in der Visualisierung oder sequenzartigen Inszenierung“.2011 Man ist versucht, in diesen Dramatisierungen auch eine Vorform von Literarizität zu erblicken, die – in heute irritierender Weise – Teil des Alltagslebens war. Auch an diesem Sozialisationsaspekt läßt sich zeigen, inwieweit der junge Hebbel noch traditional geprägt worden ist. Denn im Rahmen der „Modernisierung […] in

KUPER, Zur Semiotik der Inversion, S. 33. MITZMAN, Die Offensive der Zivilisation, S. 44. 2007 DUERR, Traumzeit, S. 68f. 2008 DIAMOND, Kritik der Zivilisation, S. 168. Vgl. ebd., S. 167–171, sowie FEND, Sozialisierung und Erziehung, S. 124. 2009 Dieses und die folgenden Zitate: KUPER, Zur Semiotik der Inversion, S. 30. 2010 Ebd., S. 29. 2011 Ebd., S. 33. 2005 2006

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der Epoche von 1770 bis 1870“,2012 speziell aber in der Zeit der Industriellen Revolution wurde die „relativ einheitliche Kultur der männlichen Jugend […] in eine Reihe klassen- bzw. schichtenspezifischer Kulturformen aufgelöst“,2013 Brauchtum wich vielfach der Freizeitgestaltung im Rahmen des modernen Vereinswesens. Im folgenden soll versucht werden, die konkrete Wesselburener Jugendkultur aus den fragmentarischen Quellen in möglichster Breite zu rekonstruieren und anschaulich zu machen.

„Nun muß es recht laut werden“ Einen lebendigen Einblick in diese Zusammenhänge vermittelt ein Brief Hebbels an Heinrich Schacht vom 18.–19. Januar 1834. Hebbels Bericht führt direkt in das Zentrum kameradschaftlicher Aktivitäten: Anlaß ist die Hochzeit des Wesselburener Musikers Peter Jakob Struve und damit dessen Ausscheiden aus der Gemeinschaft der Junggesellen: „Dieser gute Mensch“, erzählt Hebbel, habe es allerdings vorgezogen, „seine Verheirathung ganz im Stillen vorzunehmen; er protestirte noch am Tage der Verlobung gegen jede Gratulation“ [WAB 1, 34]. Hebbel fährt fort: Da ich aber aus sicherer Quelle […] wußte, was für Dinge kommen würden, so verdroß mich seine Falschheit und Unfreundschaftlichkeit und ich sorgte redlich dafür, daß Wesselburen von dem, was vorgehen sollte, zeitige Kunde erhielt. Wir jungen Leute brachten eine große Menge Kanonen, Gewehre, Pistolen pp zusammen und waren gegen Abend in Paul Timms Schmiede beschäftigt, sie zu laden, als der hiesige Schneidermeister u FleckensEinwohner Curt Friedrich Volkmar darüber zukam. „Das ist recht, Kinder – rief er uns entgegen – das ist recht, das hat so still vorgehen sollen, nun muß es recht laut werden – schießt nur brav, je toller, je besser!“ „Ja wohl, Curt, antwortete ich, das wollen wir auch. Aber du kommst sehr gelegen, wir wollten gern alle auf einmal losdrücken; aber hier ist eine Büchse, die noch keinen Schützen hat, die kannst Du abfeuern!“ Denke Dir den Curt, er sperrte das Maul weit auf u meinte, als er wieder zur Besinnung kam: „Dazu werde sich ja wohl auch außer ihm Jemand finden. Ich entgegnete, daß durchaus keiner vorhanden sey, außer ihm. Da erklärte er: dazu könne er sich auf keinen Fall einlassen, das werde auch seine Frau nicht zugeben! Male Dir diese lächerliche Geschichte selbst aus. [WAB 1, 34]

Hebbels Bericht ist in mehrfacher Weise aufschlußreich. Zunächst belegt er für Wesselburen den Brauch des „Hochzeitsschießens“, das sonst „meist in Verboten“2014 aktenkundig ist. Auf dem Weg des Hochzeitszuges zur Kirche wurde dabei „aus den Häusern guter Bekannter […] geschossen“; dies wiederholte sich bei der Rückkehr ins Hochzeitshaus: „Mit Musik und Schießen wird er empfangen“.2015 Für die Obrigkeit waren solche freundlichen Willkommensgrüße allerdings eine Provokation: Sie mußte durch derlei Schießereien sowohl die öffentliche Sicherheit als auch ihr GewaltGILLIS, Geschichte der Jugend, S. 50. Ebd., S. 214. 2014 KRAMER, Volksleben in Holstein, S. 239. 2015 MARTEN/MÄCKELMANN, Dithmarschen, S. 601. Zu den Hochzeitsbräuchen im Rahmen der „Übergangsbräuche“ vgl. auch MEYER, Das Brauchtum, S. 53ff. 2012 2013

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monopol bedroht sehen. Demgegenüber beweist Hebbels Bericht: „Gegen den sozialen Sinn, der in solchen öffentlichen ‚Passageriten‘ […] transportiert wurde, war in der Tat kein administratives Kraut gewachsen“.2016 Denn offenbar standen „[w]ir jungen Leute“ kollektiv hinter dem Ritual, und die ungehinderte Nutzung von Paul Timms Schmiede ist ein Hinweis, daß Erwachsene sie zumindest gewähren ließen. Norbert Schindler schreibt über diesen „Ehrenerweis“ an den Hochzeiter: „Ihm ein ‚Ständchen‘ zu bringen, wollte und durfte man sich nicht nehmen lassen, und je lauter und lautmalerischer es ausfiel, desto angesehener durfte sich der Bräutigam bei seinen Altersgenossen wähnen.“2017 Bächtold-Stäubli sieht darin „einen Rest des glückbringenden Lärmkonzertes“.2018 Doch in Hebbels Bericht nimmt das Hochzeitsschießen einen anderen Charakter an, der nicht der Deutung der Volkskundler entspricht.2019 Das Lärmkonzert für den Musiker Struve mutiert zur „Katzenmusik“, zum „Charivari“,2020 das der ganzen Gemeinde gleichsam spiegelverkehrt einen Verstoß gegen die guten Sitten zu Gehör bringt. Auch der hinzukommende Kurt Friedrich Volkmar feuert die Burschen zunächst an: „Das hat so still vorgehen sollen, nun muß es recht laut werden“. Verurteilt wird ein Verhalten, das heute kaum noch Anstoß erregen dürfte, nämlich daß die Feier privat, unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfinden sollte. Damals allerdings war „die große oder ‚lustige‘ Hochzeit […] ein Fest für das ganze Dorf. Die Vorbereitungen begannen schon Wochen vorher. Da die Zahl der geladenen Gäste bei einer solchen lustigen Hochzeit in die Hunderte ging, vielfach die Zahl von drei bis vierhundert Menschen erreichte, so mußte eifrig geschlachtet und gebacken werden, um allen Anforderungen zu genügen.“2021 Das war nicht jedem möglich, schon gar nicht in der wirtschaftlichen Krisenlage der beiden Jahrzehnte nach den Befreiungskriegen. Doch Hebbels Bericht markiert vor allem eine mentalitätsgeschichtliche Umbruchsituation: „Der Trend ging zu den sogenannten stillen Hochzeiten, bei denen nur schriftlich geladene Gäste willkommen waren“,2022 schreibt Nils Hansen: „Große Hochzeiten, deren Gästezahl nahezu unbeschränkt war, wurden allmählich seltener gefeiert“. Die Motivation des Musikers Struve geht aus Hebbels Bericht leider nicht hervor. Vielleicht reichten seine finanziellen Mittel nicht, vielleicht stand das Bedürfnis bildungsbürgerlicher Abgrenzung dahinter, vielleicht wollte er mit der Verheimlichung des Verlöbnisses dörflichem Klatsch aus dem Wege gehen – Hebbel nahm sein Verhalten jedenfalls als „Falschheit und Unfreundschaftlichkeit“ SCHINDLER, Widerspenstige Leute, S. 231f. Ebd., S. 231. 2018 BÄCHTOLD-STÄUBLI, Handwörterbuch, Bd V, Sp. 1823. 2019 Vgl. zur prinzipiellen Polyfunktionalität: „Gerade im lebenden Brauchtum fließen häufig auch divergierende Elemente zusammen; dieselbe Schar Jungen, die vor dem Haus angesehener und beliebter Leute den alten Brauch in ehrender Absicht geübt hat, kann vor dem nächsten Haus, bei Verweigerung einer Gabe, in derselben Weise ihrem Unwillen Ausdruck verleihen“ [BÄCHTOLD-STÄUBLI, Handwörterbuch, Bd IV, Sp. 1129]. 2020 Vgl. dazu Kuper: „Beim Charivari handelt es sich um einen inversionscodierten Text, der auf zeichenhafte Weise darüber informiert, daß sich jemand in einer Gemeinschaft durch Normverstöße zum Narren gemacht hat“ [KUPER, Zur Semiotik der Inversion, S. 51]. 2021 MARTEN/MÄCKELMANN, Dithmarschen, S. 600. 2022 Dieses und die folgenden Zitate: HANSEN, „In Saus und Braus leben, Zechen und tagelang saufen“, S. 17. 2016 2017

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wahr, was er „redlich“ mit einem ‚Freundschaftsdienst‘ konterkarierte. Auch diese Uminterpretation des Hochzeitsschießens geschah ganz im Rahmen des Jugendbrauchtums. So weiß man, daß „’stille Hochzeiten‘ bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts von der übrigen Dorfbevölkerung häufig öffentlich gerügt wurden“. 2023 Hebbels Anekdote nimmt noch eine weitere Wendung. Auf die Aufforderung, den Junggesellen auch konkret ‚Schützenhilfe‘ zu leisten, reagiert der Besucher Kurt Friedrich Volkmar plötzlich mit höchster Verlegenheit: Das werde „seine Frau nicht zugeben“. Das durchaus plausible Argument, als Verheirateter nicht mehr zu den „Kinder[n]“ bzw. zur ‚Junggesellschaft‘ zu gehören, verkehrt sich bei dem Erschrockenen zu dem lächerlichen Eingeständnis, daheim unter dem Pantoffel zu stehen. Daß „der hiesige Schneidermeister und Fleckenseinwohner“ von Hebbel mitsamt seinen bürgerlichen ‚Titeln‘ genannt wird, soll auf Volkmars wahres Motiv hindeuten: Der brave, ehrbare, „zur Besinnung“ gekommene Bürger scheut sich allmählich, an dem ‚kindischen‘, ‚verkehrten‘ und zudem verbotenen Brauch teilzunehmen. Hier trifft Norbert Schindlers ambivalente Einschätzung solcher „Katzenmusiken“ 2024 exakt zu, indem er einerseits einen „starken sozialmoralischen Konsens“ mit den Erwachsenen und Besitzenden annimmt, die andererseits „natürlich von nichts gewußt haben wollten und sich insgeheim ins Fäustchen lachten“. Zwischen „den Polen Tradition und Innovation“2025 erweist sich das Jugendbrauchtum Wesselburens, in das Hebbel hier punktuell Einblick gewährt, als aufmüpfig und konservativ zugleich. Interessant ist, wie Hebbel sich demgegenüber bei der Hochzeit seines Dienstherrn verhielt. Als am 7. Oktober 1834 die Eheschließung Johann Jakob Mohrs „auf das solennste sollte gefeiert werden, so waren nur wenige Wesselburener, aber desto mehr Heider nebst anderen Honoratioren der Landschaft als würdige Gäste geladen. Hebbel, der doch mit zum Hause gehörte, war als nicht hoffähig übergangen worden“,2026 berichtet Emil Kuh. Eine ‚stille‘ Hochzeit sollte hier gefeiert werden, bei der die Absonderung vom breiten Volk nur zu deutlich fühlbar wurde. Auch bei den großen Dorfhochzeiten versuchte man, die Teilnehmerzahl zu begrenzen, wenn auch unter schwierigen Bedingungen: Aufsichtspersonen werden benannt, […] die auch darauf achten müssen, daß nur geladene Gäste teilnehmen, die Nichtgeladenen aber sich trollen, vor allem das ledige Gesinde, die auch dann von fern zuschauen müssen, wenn sie ihre Herrschaft zur Hochzeit gefahren oder geleitet haben.2027

Doch bei Mohrs Hochzeit verhielt es sich anders. Da überhaupt nur die Spitzen der Dithmarscher Gesellschaft eingeladen waren, qualifizierte die Zugehörigkeit zum Ebd. Dieses und die folgenden Zitate: SCHINDLER, Widerspenstige Leute, S. 225f. 2025 KUPER, Zur Semiotik der Inversion, S. 30. 2026 KUH, Biographie, Bd 1, S. 120. 2027 KRAMER, Volksleben in Holstein, S. 228. Zu dem ‚öffentlichen‘ Charakter auch kleinerer Hochzeitsfeste vgl. Hebbels Notiz: „’Du hast wenig Leute auf Deiner Hochzeit!‘ Doch mehr, als ich gebeten habe“ [T 290]. Vgl. W 15, 20. 2023 2024

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Haushalt natürlich nicht zur Teilnahme. Christoph Marquard Ed führte aus: „Wer da weiß, daß in diesem Punkte die Etikette auf dem Lande womöglich noch peinlicher als an einem Hofe ist, der wird nicht daran denken, daß der Kirchspielvogt seinen Schreiber zu seinen bevorzugten Gästen laden konnte, ohne diese schwer zu beleidigen, der Schreiber war überdies fast noch Knabe und ohne hochzeitliches Kleid“ [HP I, 36]. Emil Kuh stellt die Situation aus seiner Einfühlung in Hebbels Sicht ganz anders dar: Danach empfand er „nur zu sehr diese gar zu auffällige Zurücksetzung und Geringschätzung, ertrug sie aber mit stoischer Gelassenheit.“2028 Aus der mentalitätshistorischen Gemengelage ergibt sich eine schwer zu durchschauende Situation. Wenn sich bei Hebbel das Gefühl einer persönlichen Geringschätzung eingestellt haben sollte, dann wäre dies ein Indiz dafür, daß er sich eben nicht als welt-fremder Philosoph, sondern insgeheim dem bürgerlichen Honoratiorenstand, namentlich der Schicht der Dithmarscher Verwaltungsbeamten, zugehörig fühlte. Dies ließ sich jedoch nicht offensiv vertreten, so daß nur zähneknirschendes Ertragen blieb. Mit „Gelassenheit“ wäre er in jedem Fall besser beraten gewesen – eines Tages würde auch er ‚dazugehören‘. Auf dem Fest spielte Hebbel freilich weder den gleichgültigen Stoiker, noch den persönlich beleidigten Standesgenossen, sondern eine ganz andere Rolle – den unbekümmerten Anführer der Wesselburener jungen Leute. Auch hier ermöglichte die Parallelkultur der Burschen eine sozial akzeptierte Form der Reaktion. Auf ein Hochzeitsschießen mit scharfen Waffen wurde aus gutem Grund verzichtet. Dafür schlug Hebbel vor, „die jungen Leute des Fleckens könnten dem Kirchspielvogte an seinem Ehrentage durch einen Fackelzug eine Krone der Ehren aufsetzen. […] Es sollten aber zugleich Lieder gesungen, gedichtet und überreicht, es sollte der Fackelzug geordnet werden“2029 Hebbel selbst steuerte zwei Lobgedichte auf das Brautpaar bei. „Das eine wurde vor dem Hochzeitshause unter Instrumentalbegleitung gesungen und dem jungen Paare überreicht, das andere bei dem Verbrennen der Fackeln lustig abgeorgelt“. Hebbels Eloge Zur Vermählung Mohrs reflektiert im Schlußvers selbst den Standort der Fackelträger als Zaungäste: Nur einen Wunsch, dann laßt uns weiter ziehen: Wie diese Fackeln in der Nacht, So möge stets Ihr Leben herrlich glühen! Und nun ein letztes Hoch gebracht.2030

Vielleicht gerade weil sich die Gratulation der ungebetenen Gäste formal so peinlich an die Etikette hielt, bewirkte sie eine überraschende Verkehrung der Situation. Der „ungemein freudig erregte Kirchspielvogt“2031 hob die ‚geschlossene Gesellschaft‘ auf, stattdessen wurden „beim Überreichen des Hochzeitskarmens die Leiter des Fackelzuges und die besonders wirksamen Mitglieder dringend und wiederholt aufgefordert […], nunmehr das Fest bis ans Ende verschönern zu helfen“. Damit ließ er sich doch KUH, Biographie, Bd 1, S. 120. Dieses und das folgende Zitat: KUH, Biographie, Bd 1, S. 120f. 2030 W 7, 118. Hervorhebung C. S. 2031 Dieses und das folgende Zitat: KUH, Biographie, Bd 1, S. 121. 2028 2029

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noch auf die Spielregeln des Brauchtums ein, die angesichts der erwiesenen Ehre „in einem Recht auf Bewirtung und in der Pflicht zur Bewirtung“2032 bestanden. Freilich geschah auch dies in selektiver Form, denn nur die „besonders wirksamen“ Burschen sollten bleiben dürfen. Doch Hebbel behielt sich eine weitere Verkehrung vor: Hartnäckig insistierte nun er selbst auf ‚peinlicher‘ Einhaltung der Statusgrenzen. In der Rolle als bevorzugter Ständchenbringer und Poet war er „zum Mitgehen in das Hochzeitshaus auf keinerlei Art zu bewegen“.2033 Daraufhin war es am Bräutigam, gekränkt zu reagieren, wie Kuh mit sichtlicher Genugtuung erzählt. Der in Hochstimmung befindliche Mohr fragte „beim Erscheinen der andern sofort nach seinem lieben Hebbel, und als dessen Kommen verneint ward, schien wenigstens ein Tropfen Bitternis in den Kelch seiner glücklichen Befriedigung zu fallen“. Diese Vorgänge haben keineswegs nur anekdotischen Charakter. Was Hebbel – immerhin am ‚schönsten Tag‘ im Leben seines Dienstherrn – inszeniert, ist ein groteskes ‚Rollen‘Spiel. Er ist nicht Kirchspielvogt, sondern nur dessen unvollkommener „Kopist“; und er weiß es selbst – darum besteht der Bursche hier gerade auf seinem Anderssein.2034 In dieser Situation ist Mohr außerstande, seinem Schreiber noch adäquat gegenüberzutreten. Der Mann, der ‚das Rechte‘ zu tun und zu sagen gewohnt ist, kann sich hier nur ‚richtig‘ und ‚falsch‘ zugleich verhalten. Wohl oder übel muß er sich auf das Verkehrte-Welt-Spiel einlassen, das der Schreiber für die bürgerliche Festveranstaltung geschickt adaptiert, indem er auf allzu laute Knalleffekte verzichtet. Dafür gab es in Wesselburen andere Anlässe, die ‚zum Schießen‘ waren. Hebbel selbst erwähnt in den Notizen zur Biographie das Schützenfest der „Scheibengilde“ [W 15, 12] sowie in fast kryptischer Knappheit einen Anlaß im Rahmen des jahreszeitlichen Brauchtums: „Das Neujahr-Schießen. Meine Freunde und die Gerichtsdiener“ [W 15, 12]. Paul Bornstein gibt eine plausible Interpretation dieser Stelle: „Das Neujahrsschießen war offenbar in Wesselburen verboten; Hebbels Freunde übertraten wohl das Verbot und kamen mit den Gerichtsdienern in Konflikt, die irgendwie verulkt wurden“ [DjH I, 267]. Das Schießen „aus alten Büchsen“2035 am Silvesterabend sollte nach Bächtold-Stäubli „die Hexen und bösen Mächte“2036 vertreiben – doch sehr reale Mächte rief man dabei regelmäßig auf den Plan. Paul Selk berichtet: „So wurde das Schießen des öfteren verboten; in der Stadt Wilster geschah das in den Jahren 1758 – 1827 mehrfach, und eine königliche Verordnung von 1776 drohte mit einer Brüche von zwei Reichstalern.“2037 Karl-S. Kramer zählte für Wilster sogar „18 Wiederholungen“ eines Verbots gegen „das so gefährliche sogenannte Anschießen des neuen Jahres“.2038 In Meldorf wurde ein entsprechendes Verdikt „mehrfach wiederKRAMER, Unterhaltungen brauchtümlichen Charakters, S. 34. Dieses und das folgende Zitat: KUH, Biographie, Bd 1, S. 121. 2034 Detlef Cölln sah den Grund von Hebbels Weigerung einfach darin, daß er „jetzt die sozialen Unterschiede zwischen seinem Herrn und sich lastend empfand“ [CÖLLN, Friedrich Hebbel (Dithmarscher Dichterbuch 2), S. 34]. Diese Interpretation wird der schillernden Mehrdimensionalität der Szene allerdings nicht gerecht. 2035 SELK, Mittwinter und Weihnachten in Schleswig-Holstein, S. 35. 2036 BÄCHTOLD-STÄUBLI, Handwörterbuch, Bd VI, Sp. 1025. 2037 SELK, Mittwinter und Weihnachten in Schleswig-Holstein, S. 35. 2038 Dieses und das folgende Zitat: KRAMER, Volksleben in Holstein, S. 226f. 2032 2033

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holt. Es stand zuerst in der Brandordnung für die Landschaft Süderdithmarschen vom 20.10.1740“. Seit rund hundert Jahren war es den Behörden also nicht gelungen, das gefährliche Treiben zu unterdrücken, und noch Adolf Bartels wußte aus den 1870er Jahren zu berichten, daß der Wesselburener Hilfspolizist „an einem Silvester Dutzende von Pistolen konfiszierte“.2039 Von Hebbels „Freunden“ müssen sich die Gerichtsdiener obendrein verspotten lassen, während er, der selber Diener des Wesselburener Gerichtsherrn ist, sich in klammheimlicher Freude abseits hält. Subtilere Gelegenheiten, einen ‚Krach‘ zu inszenieren, nutzte Hebbel dafür umso gnadenloser aus – wenn er etwa „mit seinen Freunden ungewöhnlich spät des Abends in den Ort zurückkehrte“ [HP I, 13] und an der Apotheke vorbei kam, in der sein Freund Jakob Franz angestellt war: Er ging dann wohl an die Tür der Apotheke, zog die Klingel und blieb ruhig stehen. [...] Wenn nun Franz hierauf im Schlafrocke mürrisch und blinzelnd anrückte [...], so fing der zur Kurzweil der Nachtschwärmer Herausgepochte fürchterlich zu schelten an. Hebbel jedoch erwiderte sofort mit trockener Gelassenheit: er habe unmöglich zu Bette gehen können, ohne vorher noch seinem lieben Freunde Hahn eine gute Nachtruhe gewünscht zu haben [HP I, 13f.].

Auch in dieser kurzen Szene, die Paul Bornstein einem zeitgenössischen Bericht entnahm, finden sich typisch brauchtümliche Merkmale. Das Geschehen spielt sich im öffentlichen Raum ab – auf der Straße, im Rahmen der peer group und zu einer Zeit, in der die Gesetze des Tages aufgehoben scheinen. Mit einer einzigen Handbewegung – dem Betätigen des Klingelzugs – setzt Hebbel in der Manier eines Eulenspiegel den Mechanismus einer verkehrten Welt in Gang: Während er doch nur höflich eine gute Nacht wünscht, schimpft Franz „fürchterlich“; während er „ruhig stehen“ bleibt, stört der zeternde Provisor auf der Gasse die nächtliche Ruhe; und dadurch, daß Hebbel den Freund „Hahn“ – so dessen Spitzname – weckt, hat er die Lacher erst recht auf seiner Seite. Ein volkstümlicher Spaß, exakt nach dem Muster, wie es von Norbert Schindler beschrieben wird: „Das Volk verstand es nicht nur, sich einen Jux zu machen, sondern entwickelte auch eine gewisse Fertigkeit in jenen subversiven Formen der Travestie, deren innere Ökonomie darauf gerichtet war, mit Unschuldsmiene und möglichst unscheinbaren Mitteln ein Höchstmaß an symbolischer Gegenwirkung zu erzielen“.2040 Hebbels betont leises Auftreten und Franzens lautes Geschrei gehören dabei untrennbar zusammen, nicht nur, weil dadurch ‚Norm‘ und Verkehrung in paradoxem Nebeneinander zum Vorschein kommen, sondern weil sie letztlich Teil kollektiven, gemeinsamen Handelns sind. Denn es geht nicht bloß darum, ein sinnliches „Bedürfnis“ nach Lärm auszuleben, das nach Kramers Meinung in früherer Zeit „stark entwickelt“2041 war. Norbert Schindler weist vielmehr auf die sozialpsychologische Dimension solcher Akte hin: „Hinter all dem stand das Bestreben, das eigene Terrain zu behaupten […]. Am unmißverständlichsten äußerte sich dieser Präsenzwille der Jugendkultur, diese symbolische Besetzung von Räumen BARTELS, Kinderland, S. 429. SCHINDLER, Widerspenstige Leute, S. 220. 2041 KRAMER, Volksleben in Holstein S. 227. 2039 2040

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vielleicht in der demonstrativen Lautstärke ihrer Auftritte“2042 und zwar als ein „unüberhörbares ‚körpersprachliches‘ Signal ihrer Anwesenheit.“

„Edite bibite“ Der nächtliche Aufzug vor der Apotheke wie auch der Fackelzug zu Mohrs Hochzeit erscheinen noch recht brav gegenüber anderen ‚Zügen durch die Gemeinde‘, wie sie zur damaligen Zeit in Dithmarschen bei allen möglichen großen und kleinen Anlässen vorkamen. Ein Beschwerdebrief aus dem Dorf Krumstedt bei Meldorf von 1843 diente Karl-S. Kramer zur Illustrierung für das „Umschwieren oder ‚auf den Branntwein gehen’“: Die jungen Leute hätten gewöhnlich alle vierzehn Tage einen Tanz und Saufgelage, „und dieses haben sie nicht in ein ordentliches Wirtshaus, sondern bald hier und bald da, bei arme Leute, die ihren Nutzen davon ziehen“. Das sei aber nicht alles: „Ferner wenn ein Bier, Fensterbier, Ringreiten und Hochzeiten stattfinden, so wird den andern Tag hausein und hausaus das ganze Dorf hindurch bis in die späteste Nacht hinein, von 40 bis 50 Mann Knechten und Dirnen gemischt durcheinander, immer gesoffen und geschwärmet, was sogar von viele Alte unterstützet wird, daß wenn einer auch zu Hause bleiben will, fast durch Gewalt mit muß. Wenn fremde Leute hier durchreisen, welche solches nicht kennen, glauben müssen, diese Leute haben ihren Verstand verloren.“ […] Immer wieder und auch schon in früheren Berichten hört man, daß die schwärmende Gesellschaft nicht allein erwartet, „daß man ihr Bier, Branntwein und auch wohl zu Essen vorsetze, sondern fordert es auch mit Ungestüm und erweiset sich grob und insolent, wenn nicht ihr Wille in allen Stücken erfüllet wird.“ Allerdings kommt in diesen Berichten auch zum Ausdruck, daß die Gegenseite durchaus mitmachen will, es entstünde, so heißt es, großer Aufwand bei diesen Vorfällen.2043

Nils Hansen gibt Berichte wieder, nach denen „Umzüge und Schwärmereien auf den Straßen […] oft allabendlich, besonders Sonnabends und Sonntags Abends in der Stadt wie auf dem Lande“2044 stattfanden. Inwieweit man hierin einen Nachklang kultischer Umläufe nach Art des „Wilden Heers“ sehen kann, wie es Hans Peter Duerr für jene Schweizer Burschen in Anspruch nimmt, die „des Nachts auf dem Friedhof ein ‚frömd wunderlich geschrey, als ob sy selen weren‘ erhoben und die vorbeigehenden Bürger erschreckten und mit Steinen bewarfen“,2045 muß dahin gestellt bleiben: Die eidgenössischen „Nachtbuben“ zogen „des öfteren unter Trommelklang und Hörnerschall durch die nächtlichen Gassen, führten die Nachtwächter irre und rissen die Bürger aus dem Schlaf.“ Auch wenn es in Dithmarschen weniger ‚urchig‘ herging, so „müssen wir uns wohl damit vertraut machen, daß Festefeiern auf dem Lande in vielen Fällen eine sehr derbe und rauhe Angelegenheit“2046 war. Immer wieDieses und das folgende Zitat: SCHINDLER, Widerspenstige Leute, S. 230. KRAMER, Feste und Feiern in Dithmarschen, S. 138. 2044 HANSEN, „In Saus und Braus leben, Zechen und tagelang saufen“, S. 13f. 2045 Dieses und das folgende Zitat: DUERR, Traumzeit, S. 68. 2046 KRAMER, Feste und Feiern in Dithmarschen, S. 139. 2042 2043

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der gab es Beschwerden, weil dabei „Saufgelage, Prügeleien und weniger harmlose Liebeleien vorkamen“,2047 wie etwa aus dem mittelholsteinischen Kirchspiel Hohenwestedt gemeldet wurde. Für Nils Hansen ist in den zeitgenössischen Berichten mitunter „ein gewisses Verständnis für die jungen Leute zu erkennen, wobei ihren Unternehmungen angesichts ihrer harten Lebensbedingungen offenbar eine ‚Ventilfunktion‘ zugestanden wurde. Insgesamt nahmen aber die Forderungen nach mehr Erziehung und Disziplinierung zu“.2048 So ist im Lauf des 19. Jahrhunderts zu bemerken, daß sich „die Erwachsenen bzw. die Verheirateten mehr und mehr von den Umzügen durch das Dorf zurückzogen. Das Umschwieren, so wurde beobachtet, reduzierte sich auf die jungen Leute“. Die „Bestrebungen der obrigkeitlichen Behörden gegen Luxus und ‚Ausschweifungen‘ aller Art sowie die aufklärerische Ablehnung allen ‚unmoralischen‘ und ‚kindischen‘ Benehmens spielten hier ebenso eine Rolle wie die damit zusammenhängenden Ideen vom ‚vernünftigen‘ und ‚standesgemäßen‘ Verhalten“.2049 Um die Wende des 20. Jahrhunderts zeigte sich ein „an kurzfristiger Bedürfnisbefriedigung orientierter subproletarischer ‚Hedonismus’“2050 nur noch an den sogenannten ‚Monarchen‘, saisonalen Landarbeitern, auch Landstreichern, die vor allem zur Erntezeit zahlreich in die Marsch strömten. Jürgen Scheffler erkannte darin „Verhaltensweisen und Mentalitäten, die dem System der Gelegenheitsarbeit, den kurzfristigen Erwerbs- und Verdienstchancen sowie der Unsicherheit der gesamten Lebensverhältnisse entsprachen.“ Hebbel brachte diese Mentalität, die seinerzeit noch weite Bevölkerungskreise prägte, auf die Formel: „Die mögten am Geburtstag gern so leben, [/] Als folgte gleich der Todestag darauf!“2051 Über den, der sich in solcher Lage unverdrossen leiblichem Genießen widmet, ließe sich vielleicht auch ohne Überheblichkeit sagen: „Essen und Trinken sind seine Heldenthaten“ [T 3074]. Der Umzug entfiel beim ansonsten ähnlichen „Jorten“2052 oder „Jurten“, auch „Schnirrt“ genannt, das nach Auskunft einiger Quellen „fast jeden Sonntag“ stattfand: Die jungen Leute kamen dabei in den Schenken, vor allen Dingen aber auch in Privathäusern zusammen und verbrachten ganze Nächte mit „Saufen und Schwelgen“, wobei sogar die jungen Mädchen zum Mittrinken genötigt wurden. Dabei wird dann die Diele freigeräumt und bei primitiver Musik getanzt. […] Solche Zusammenkünfte, Gelage und Entsprechendes gab es natürlich zu anderen Gelegenheiten auch, beispielsweise das Fensterbier, das Bosselbier im Anschluß an das Bosseln, das […] Looperbier, Pfingst- und Johannisbiere und andere Feste.

Über solche Feierlichkeiten ist von Hebbel fast gar nichts zu erfahren. Verständlich, daß sie dem berühmten Dichter nicht unbedingt überlieferungswürdig erschienen. Lediglich ein literarisches Resultat, das lange Gedicht [Für ein Ringreiterfest] von 1828 Zit. bei HANSEN, „In Saus und Braus leben, Zechen und tagelang saufen“, S. 12. Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 12. 2049 Ebd., S. 16. 2050 Dieses und das folgende Zitat: SCHEFFLER, Landwirtschaftliche Gelegenheitsarbeiter, S. 6. 2051 W 5, 280. Vgl. auch die dazugehörige Wirtshausszene in Der Thurmbau zu Babel [W 5, 276–278]. 2052 Dieses und die folgenden Zitate: KRAMER, Feste und Feiern in Dithmarschen, S. 139. Vgl. auch die bei KRAMER, Unterhaltungen brauchtümlichen Charakters, S. 36f. zitierten Berichte aus den Jahren 1822 und 1842. 2047 2048

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für Theodor Hedde, der beim Ringreiten in Neuenkirchen die Rolle eines „Führers“ innehatte, ist erhalten geblieben. Wo Hebbel brieflich Hinweise auf Ausschweifungen gab, waren sie so kurz gehalten, daß sie sich nur dem ‚Komplizen‘ und ‚Mitwisser‘, hier Johann Blank Gehlsen, erschloß: „Denke an Hedwig, an das Liebhabertheater, an die Saufgesellschaft, an die Bälle, an Doris pp, so wirst du auch an mich denken!“ [WAB 1, 14]. Hebbel appelliert bei dem abwesenden Freund gar nicht erst an Sympathie und Innerlichkeit, sondern erinnert schlicht an kollektiv geteilte Unternehmungen, die ein Zusammengehörigkeitsgefühl erzeugen – dann „wirst Du auch an mich denken“. Anders die Biographen: Als Mitglied einer „Saufgesellschaft“ wäre der junge Schreiber nicht präsentabel. Und doch wurden durch eine solche, „die Ehrbarkeit verbürgende Trinkgemeinschaft“2053, durch gegenseitiges Ausgeben, Zuprosten und nicht zuletzt durch entsprechende Trinkfestigkeit vor allem die Beziehungen gefestigt: Man denke nur an die Biere zu unterschiedlichsten Anlässen, für die bestimmte Gruppen wie Gilden oder Zünfte ein „spezielles Trinkgefäß“2054 bereit hielten, oder an die exzessiven Trinksitten studentischer Burschenschaften. Schon die „Konfirmanden beiderlei Geschlechts“ wurden ins Dithmarscher Jugendleben eingeführt, indem sie „von älteren jungen Leuten zu einem sogenannten gemütlichen Abend eingeladen wurden“.2055 Dabei wurden sie „so betrunken gemacht, daß sie oft nach Hause getragen werden mußten. In der Gegend von Hennstedt mußten die jungen Leute je [!] eine Flasche Branntwein ausgeben“. Hebbel berichtet immerhin von einem von ihm selbst inszenierten ‚Willkomm‘ für Hans Georg Wacker, der 1833 als Unterlehrer nach Wesselburen kam. Gegenüber dem alten Freund Schacht spricht er zunächst recht spitz von dem „Subject […], welches Wacker heißt und vor lauter Cordialität – das gewöhnliche Malheur der Schulmeister – fast philisterhaft wird“ [WAB 1, 30]. Schon mit diesem Satz steigt Hebbel in das burschenschaftliche Verkehrungsritual ein: Der neue Genosse wird zunächst als Philister verdächtigt. Dabei macht ihn ausgerechnet sein herzliches Auftreten suspekt, das ihm obendrein nicht als persönliche Eigenschaft, sondern als ‚Berufskrankheit‘ des Schulmeisters ausgelegt wird. Doch indem der Neuling sich einem Initiationsritus unterzieht, macht er seinem von Hebbel eigens herausgestellten Namen Wacker alle Ehre und wird in die peer group aufgenommen – das zu erfahren, hat auch der im fernen Kopenhagen weilende Kamerad Schacht ein Recht: „[I]ch bin bereits auf Du mit ihm, und neulich haben wir ganz gotteslästerlich mit einander geschrieen: edite bibite“ [WAB 1, 30]. Das „Du“ eint hier nicht zwei verwandte Seelen, sondern zwei Verbündete gegen die guten Sitten. Das exzessive Essen und Trinken, den bürgerlichen Mäßigkeitsappellen zum Trotz, gibt hierbei den ‚feierlichen‘ Rahmen ab; spezielles Schibboleth aber ist die mißbräuchliche Verwendung der Einsetzungsworte Christi beim letzten Abendmahl, die getrost als „Freßt und sauft!“ übersetzt werden können. Der soeben nach Wesselburen gekommene Junglehrer, der die Kinder im rechten Glauben unterrichten und erhalten soll, erweist sich durch

KRAMER, Volksleben in Holstein, S. 95. Ebd., S. 97. 2055 Dieses und das folgende Zitat: MARTEN/MÄCKELMANN, Dithmarschen, S. 597. 2053 2054

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solche Gotteslästerung zwar nicht gerade als treuer Sohn der Kirche, dafür aber als Bruder im Geiste der Wesselburener jungen Burschen. Der „’Vulgärmaterialismus‘ der Volkskultur, ihr Insistieren auf dem sinnlich Erfahrbaren und ihre desillusionierende Behandlung alles Erhabenen“2056 erbringt im Verein mit der „Verkehrung der Welt […] eine doppelte soziokulturelle Dechiffrierungsleistung“, ein „zweifaches Bloßstellen“: „Man ist nicht gewillt, sich etwas vormachen zu lassen, schon gar nicht durch große Worte“. Dadurch kann eine „nach außen getragene zweite Wirklichkeit als existent und visuell präsent erfahren und erlebt werden“.2057 Nicht nur zur Festigung der eigenen peer group, auch um die Wortführer der Elitekultur zu Fall zu bringen und dabei wiederum den Gegen-Sinn zu entfesseln, nahmen die Burschen den ‚Geist des Weines‘ in Anspruch. Triumphierend brachte Hebbel in einem Brief an Johann Blank Gehlsen vom Sommer 1833 eine entsprechende Szene in Verse: Und siehst Du, den der Weingeist überwunden, Und ihm die Füße, wie den Mund gebunden, Den langen Barbeck, auf dem Sopha ruhn? Auch Dein Herr Prinzipal ist trunken hingefallen Doch hört man den noch klug-bedachtsam lallen: „Vergew em Gott, watt is de Barbeck dun!“ [WAB 1, 31]

Während der – nun nüchterne – Autor die Standesunterschiede formal beachtet („Dein Herr Prinzipal“), waren sie im Zustand der Trunkenheit längst aufgehoben. Außer dem langen Barbeck ist vor allem der Honoratior in doppeltem Sinn ‚gefallen‘. Am komischsten ist aber, daß er sich über seinen eigenen Zustand gar nicht im klaren ist: Immer noch „klug-bedachtsam“ kommentiert er den Zustand Barbecks, der indes friedlich auf dem besseren Platz, dem Sofa, schläft. Der am Boden liegende Prinzipal ahnt gar nicht, wie lächerlich er sich macht – ein angesehener Wesselburener Kaufmann, der im Suff in burleskes Platt verfällt und obendrein den Namen seines Herrn unnützlich führt: „Vergew em Gott“! Große Worte, entlarvt durch die ‚vulgärmaterialistische‘ Gegenkultur der jungen Burschen – und für immer dokumentiert durch Hebbels ‚Gelegenheitsgedicht‘. Erneut kehrt sich die Perspektive dagegen bei dem Münchener Studenten um. In dem Bonmot vom „Fresser, der mehr Victualien im Magen, als auf den Schultern tragen kann“ [T 1313], spottet der vorgeblich Vornehme über den einfachen Mann – obschon nicht auf die feine Art. Edite, bibite? In nachdenklicheren Stunden wurde auch dieser volkstümliche Imperativ von Hebbel zum allgemeinmenschlichen Paradox gesteigert: „Wie oft thut der Mensch etwas, was er schon, indem und bevor er es thut, bereut; wie oft ruft er pfui, und spukt in’s Glas und leert es dennoch!“ [T 1335]

2056 2057

Dieses und die folgenden Zitate: SCHINDLER, Widerspenstige Leute, S. 166. KUPER, Zur Semiotik der Inversion, S. 28. Kuper bezieht sich hier eigentlich auf den Karneval.

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„Als ich zum ersten Mal – –“ Den Kreis junger Leute beiderlei Geschlechts, die sich regelmäßig in der Wohnung des Kirchspielschreibers Voß – bzw. seiner beiden Töchter Doris und Emilie – zum „Jorten“ trafen, schildern die Hebbel-Biographen dagegen in recht gemütlichem Licht. Richard Maria Werner schreibt: „Bald entwickelte sich eine geschmackvollere Geselligkeit unter diesen jungen Leuten, die sich nicht in Wirtshäusern herumtrieben, sondern bei einzelnen Familien ihre Zusammenkünfte, ‚Börsen‘ genannt, hatten, wo sie sich zu Spiel und Tanz, bald auch zu gemeinsamer Lektüre einfanden“;2058 die „Börsengeschäfte bestanden in Singen, Tanzen und Pfänderspiel“,2059 erzählt Emil Kuh. Es besteht kein Anlaß, daran zu zweifeln. Anderswo wurden beim Jorten „Geschichten erzählt, Rätsel aufgegeben, Karten gespielt“,2060 wie es sich überhaupt „um eine sehr lockere und an alle gegebenen Verhältnisse anpaßbare Form abendlicher Unterhaltung unter meist jungen Leuten“2061 handelte. Doch auch bei Tanz und Pfänderspiel in großer Runde wurden Terrains sondiert und Besitzansprüche auf dem Heiratsmarkt abgesteckt: „Das Wechseln der Gruppen und Paare, das Spielen – alles lief in der Öffentlichkeit ab, wurde von den Kameraden gesehen und registriert und sicher auch entsprechend kommentiert. Mesalliancen wurden so bereits in diesem frühen Stadium des Kennenlernens äußerst unwahrscheinlich gemacht“.2062 Dabei, so Andreas Gestrich, „gab es viel gekränkten Stolz und manche Schlägerei“.2063 Nicht nur der pfiffige Musikus Struve wollte sich dabei nicht in die Karten schauen lassen. „Ich selbst? – je nun, man hat wohl auch sein Liebchen, pflegte der Conrector zu sagen, als er noch jung war“ [WAB 1, 30], orakelte Hebbel im September 1833 gegenüber Heinrich Schacht. Waren die Junggesellen untereinander potentielle Konkurrenten um die beste Partie, so demonstrierte die Gruppe nach außen Geschlossenheit – soziologisch ausgedrückt: „Neben der Verteilung der Mädchen auf dem örtlichen Heiratsmarkt gehörte die Verteidigung des kollektiven Besitzrechtes der ledigen Burschen an den ledigen jungen Frauen zu den Hauptaufgaben der ländlichen Kameradschaften.“2064 Dies plante Hebbel in einem Lustspiel Der Thurmbau zu Babel (1851) in Szene zu setzen, in dem ein paar hergelaufene Handwerksburschen mit „Eulenspiegel-Vagabonden-Charakter […] schon eine Liebschaft“ [W 5, 281] haben: „Vorher: Eifersucht der Dorfbursche“ [W 5, 281]. Gerade auf Jahrmärkten waren Auswärtige oder auch Ältere zugegen, deren Übergriffe man regelrecht ‚zurückschlug‘. Auch hierbei tat Hebbel sich hervor, wie eine von ihm scheinbar beiläufig notierte Anekdote verrät: Weil ich sie einmal erinnere, will ich sie auch einmal niederschreiben, eine hübsche Geschichte nämlich. Jenes Mädchen, das ich schreien hörte, das ich aus den aufgedrungenen WERNER, Friedrich Hebbel. Ein Lebensbild, S. 38f. KUH, Biographie, Bd 1, S. 89. 2060 KRAMER, Unterhaltungen brauchtümlichen Charakters, S. 35. 2061 Ebd., S. 41. 2062 GESTRICH, Traditionelle Jugendkultur, S. 105. 2063 Ebd., S. 133. 2064 Ebd., S. 106. 2058 2059

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Umarmungen eines Mannes errettete, das mir nachher selbst um den Hals fiel, und mir sagte, es ist ja nicht um das bischen Arbeit, sondern um mein Kleid, welches so schmutzig wird. Ich glaubte, eine Unschuld zu retten und rettete – einen Unterrock.2065

Im Rückblick macht Hebbel aus der Jahrmarktsrangelei eine „hübsche Geschichte“ mit der Pointe, daß am Schluß er allein als ‚Unschuld vom Lande‘ dasteht – wirkungsvoll kontrastiert vom alliterierenden Unterrock. Dessen abgeklärte Besitzerin bewertet sein handfestes Eingreifen keineswegs als heroische Tat, hat er ihr doch nur ein „bischen Arbeit“ erspart. Und auch für ihn selbst war das Risiko überschaubar; die Wesselburener peer group wird im Hintergrund bereitgestanden haben. Daß sich das Mädchen ihm dennoch geschmeichelt an den Hals wirft, hat seinen Grund sicherlich in der ihr geltenden „Verteidigung des kollektiven Besitzrechts“ der Wesselburener, die sie entsprechend zu würdigen weiß. Nicht umsonst spielt sich die Szene auf dem Jahrmarkt ab. Denn die „volkstümliche Festkultur bis weit ins 19. Jahrhundert“ ist ein „wichtiges Forum sozialer Begegnungen und sozialer Dialoge“, auf dem „Ideen von sozialer ‚Gemeinschaft‘ wie von sozialer ‚Gegnerschaft‘ ihren öffentlich inszenierten, symbolischen Ausdruck“2066 finden. Da dies dem großstädtischen bzw. bürgerlichen Lesepublikum kaum verständlich zu machen ist, arbeitet der Tagebuchschreiber gegensätzliche Individualcharaktere heraus und unterlegt die Erzählung mit einem gutbürgerlichen Sinn: Die ursprüngliche „dialogische Mehrdeutigkeit“2067 des Geschehens insgesamt, das „zwischen den Polen Faktizität und Möglichkeit“ changiert, reduziert der Text auf ein widersprüchliches und zweifelhaftes Verhalten des Mädchens. Der von „Schmutz“ bedrohte Unterrock muß als metaphorisches Gegenbild herhalten, um die moralische Sauberkeit des Ich-Erzählers umso mehr leuchten zu lassen. Doch auch die hatte zu jenem Zeitpunkt bereits arg gelitten. Kuh erklärt: Hebbels Sinnlichkeit entsprach seinem heißen Naturell, der Heftigkeit aller seiner Lebensäußerungen. Und er gehorchte den wilden Impulsen, die durch den rückwirkenden Eindruck seiner leidenschaftlichen Persönlichkeit, welche die Weiber anzulocken pflegt, verstärkt wurden. Schon in Wesselburen hatte er sich in letzter Zeit mit verlorenen Geschöpfen hin und wieder abgegeben, was diejenigen, die davon erzählen, nicht mit seinen lautern, ja zaghaften Liebesneigungen reimen können. Diese Verdutzten wissen eben nicht, daß die unschuldigen und die begehrlichen Empfindungen des Jünglings nicht selten, wie auf einem Kreuzwege, die eine hierhin, die andere dorthin abschwenken.2068

Wieder einmal muß Kuh wohl oder übel den „Verdutzten“ das deviante Verhalten des Wesselbureners erläutern. Sichtlich ist der Biograph bemüht, den bürgerlichen Moraldiskurs abzublocken, indem er Hebbels Sexualverhalten ‚naturalisiert‘: Denn es war einfach seinem „Naturell“ gemäß, „die Weiber anzulocken“ – er selbst „gehorchte“ nur. Daß Sexualität sozialen und kulturellen Normen unterlag, wird von Kuh mit Bezug auf Hebbel unterschlagen; moralisch verklausuliert spricht er von dessen PartT 58. Vgl. auch T 289. KASCHUBA, Ritual und Fest, S. 256. 2067 Dieses und das folgende Zitat: KUPER, Zur Semiotik der Inversion, S. 28. 2068 KUH, Biographie, Bd 1, S. 153. 2065 2066

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nerinnen als „verlorenen Geschöpfen“. Um welche Art Geschöpfe es sich dabei handelte, wurde zu Hebbels Wesselburener Zeit von den örtlichen Pastoren noch unverhohlen ausgesprochen. Pastor Meyn klagte 1818: „Sittenlosigkeit und Wildheit, und die Zahl unehelicher Kinder nimmt immer mehr Ueberhand; da noch immer mehr liederliche Häuser angelegt werden, worin öffentliche Freudenmädge immer frecher ihr Wesen treiben“.2069 Niemand unternahm etwas dagegen, so daß „die liederlichen Dirnen […] sich hier das ganze Jahr frech und ohne Scheu herumtreiben“, statt daß sie, „so wie es an anderen Orten geschieht, hinweggewiesen würden“2070 – so die Auskunft des Pastors Marxen im Jahr 1821. Selbst den Wesselburener Kindern, den kleinen Friedrich eingeschlossen, war dieses Treiben so geläufig, daß „H – e spielen“ [W 15, 7] schon bei ihnen ein beliebter Zeitvertreib war. An diesen Zuständen änderte sich auch auch in den nächsten Jahrzehnten nichts. 1837 wiederholte Meyn seine Klage, zu der auch Hebbels Verhalten Anlaß gab: „Einen höchst nachtheiligen Einfluß auf Religion und Sittlichkeit; besonders der heranwachsenden Jugend, hat auch das Dulden von liederlichen Weibspersonen, welche sich Jahr aus, Jahr ein, hier ungestört aufhalten, und ihr schändliches Gewerbe, vor den Augen der Polizey ungehindert forttreiben“.2071 Die Stellungnahmen der Kirchenmänner zeigen deutlich, daß es in Wesselburen sehr wohl zwei gegensätzliche moralische Standards gab – jedoch noch nicht eine moderne bürgerliche Doppelmoral, die Prostitution in die Illegalität und Heimlichkeit abdrängte. Generell wurden diese Normen im späten 19. Jahrhundert bereits derart restriktiv, daß sie überhaupt voreheliche Sexualität nicht mehr regulierten, sondern tabuisierten. Auch das war im Wesselburen zur Jugendzeit Hebbels noch anders; ja, nach einem besorgten Rapport aus dem Jahr 1824 „müssen die Zustände in Norderdithmarschen ganz besonders bedenklich gewesen sein“,2072 deren unwiderleglicher Ausdruck die „zahlreichen unehelichen Geburten“ waren, die der Berichterstatter auf die „Sucht zu sinnlichen Vergnügungen“ zurückführte. So frönte auch Hebbel zum einen durchaus derben Jungggesellenfreuden, zum anderen knüpfte er umsichtig auf Dauer angelegte Bande zur zarten Doris Voß. Doch auch diese Verbindung wird ihre konkreten Seiten besessen haben. In Dithmarschen war die Sitte des „Nachtfreiens“2073 bzw. der „Probenächte“2074 unter Verlobten durchaus üblich. Von Mädchen, die „sich nicht verpflichtet [fühlen], [/] ihre Kammern zu verschließen“, wenn „die Bursche nächtlich pochen“ [W 6, 437], handelt nicht nur das Gedichtchen Wenn die Rosen ewig blühten... Vom eigenen Vater wußte Hebbel zu berichten, daß dieser „bei’m Fenstern, als die

MEYN, Pflichtmäßiger Bericht [v. 1.9.1818]. Zum GK. Visit.Protocoll von Norderdithmarschen 1818. LA S-H, Abt. 19, Nr. 75. 2070 MARXEN, Bericht über Veränderungen in Kirchen- und Schulangelegenheiten [v. 10.8.1821]. LA S-H, Abt. 1, Nr. 75. 2071 MEYN, Bericht zur Generalkirchenvisitation an Generalsuperintendent Herzbruch v. 15.8.1837. LA S-H, Abt. 19, Nr. 111/1. 2072 Dieses und die folgenden Zitate: SIEVERS, Volkskultur und Aufklärung, S. 109. 2073 Vgl. USSEL, Sexualunterdrückung, S. 125ff. 2074 Ebd., S. 128ff. 2069

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Mutter bei Söhl diente, Diebe verscheuchte“.2075 Und auch er selbst folgte dieser ‚Sitte‘, wie den späten Notizen zur Biographie zu entnehmen ist: „Als ich zum ersten Mal – – (21 Jahr alt) besah ich mich den Tag darauf wohl zehn Mal im Spiegel, eingedenk des Gellertschen Verses: Wie blühte jenes Jünglings Jugend“ [W 15, 19]. Insofern ist es nicht allzu gewagt, auch von einem vorehelichen Beischlaf mit der Verlobten im Jahr 1834 auszugehen. In Maria Magdalena würde demnach nicht nur der Sekretär und Jurastudent Christian Persönlichkeitsanteile Hebbels widerspiegeln, sondern ebenfalls dessen Gegenbild und Gegenspieler Leonhard. Während Hebbel einerseits die „Leidenschaft“2076 auslebt, stilisiert er sie andererseits in seinen frühen Werken als „das eigentlich böse Element der Welt“, wobei er, wie Scheunert betont, „insbesondere die Wollust als etwas höchst Verabscheuungswürdiges brandmarkt“. Aus den Argumenten Gomatzinas in Mirandola spricht dagegen „eine Hochschätzung der Liebesleidenschaft“,2077 die, so Wolfgang Wittkowski, „durchaus nicht künstlich, gemacht, sondern ursprünglich, einfach gegeben“ sei. So wird der mentalitätsgeschichtliche Bruch zur Tragik des Gomatzina gesteigert, indem dieser „die Alternative zwischen Treue und Leidenschaft, Sittlichkeit und Sinnlichkeit […] zugunsten der Sinnlichkeit, der Leidenschaft“ auflösen und „zugleich sich vor dem Wertanspruch der Treue, der Sittlichkeit, rechtfertigen“ will. Freizügig und burschikos wird das Thema dagegen in dem Gedicht Die Liebhaber von 1833 behandelt: Während der „Erste“ Liebhaber vom himmlischen Liebes-Ideal träumt, genießt der „Zweite“ mit der von beiden Angebeteten schon handfest die Wonnen der Liebe in der Laube. Als ersterer sie dort überrascht, „wüthet“ er „auf die herkömmliche Weise gegen sich“ [DjH II, 197]; der andere beschwichtigt das Mädchen nur lässig: „Ohne Furcht, die nur im Geiste lieben, [/] Tödten auch allein sich nur im Geist!“ [DjH II, 198] Nicht nur die Verhaltensweisen, sondern auch die Maßstäbe ihrer Beurteilung variieren sehr. Die voreheliche sexuelle Praxis widersprach zwar der durch Kirche und Literaturkonsum vermittelten bürgerlichen Moral, doch war selbst diese noch nicht so ‚internalisiert‘, als daß nicht vor dem Spiegel nach äußeren körperlichen Anzeichen des ‚ersten Mals‘ gesucht würde. In Gellerts Gedicht Warnung vor der Wollust, an das Hebbel denken mußte, heißt es in der dreizehnten Strophe: Wie blühte nicht des Jünglings Jugend! Doch er vergaß den Weg der Tugend, Und seine Kräfte sind verzehrt, Verwesung schändet sein Gesichte, Und predigt schrecklich die Geschichte Der Lüste, die den Leib verheert.2078

W 15, 7. Als förmliches Brauchtum der Jungmannschaften beschreibt Gustaf Friedrich Meyer das „Fenstern“ für Föhr [MEYER, Das Brauchtum 13–19], die Probstei und Fehmarn [ebd., S. 28– 31 und 34–37]. 2076 Dieses und die folgenden Zitte: SCHEUNERT, Der Pantragismus, S. 86. 2077 Dieses und die folgenden Zitate: WITTKOWSKI, Der junge Hebbel, S. 85. 2078 GELLERT, Moralische Gedichte, S. 136–139, hier S. 139. Vgl. HP I, 465. 2075

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Solche Ängste bzw. Warnungen hatten lange Tradition: Schon Aristoteles hatte behauptet, daß „derjenige, der zu früh Verkehr habe, auch früh sterben“2079 werde; Buffon argwöhnte, er „magere ab und werde sogar kleiner“; und Matthias Claudius warnte seinen ins Studium gehenden Sohn mit zwei Versen aus Jesus Sirach 19: „die sich an Huren hängen, werden wild und kriegen Motten und Würmer zum Lohn und verdorren, den andern zum merklichen Exempel“.2080 Vor solch öffentlichem Bloßgestelltsein fürchtete sich nicht weniger Hebbel, denn er „fragte auch Franz, ob er Nichts bemerke pp.“ [W 15, 19]. Wenn der Freund sich daraufhin mit einem „Kirchentuch“, Hebbel dagegen mit dem befleckten Tuch eines „Scherers“, also eines Barbiers, verglich, dann sprach daraus Freude an drastischen Bildern, nicht aber moralische Entrüstung. Indem man genau wußte, „wer mit wem zusammen gewesen war“,2081 war im Zweifelsfall zugleich eine „Kontrolle über die Schwangerschaft“ und die sich daraus ergebenden Verantwortlichkeiten gegeben. Auch in seiner Hamburger Zeit scherte Hebbel sich zunächst wenig um seine „Unschuld“, wenn man Emil Kuh glauben darf: „Zu der fesselnden Wirkung Hamburgs trug auch die muntere Sinnlichkeit der Weiber das ihrige bei. Seine eigenen Erlebnisse in diesem Betracht beschränkten sich jetzt auf die niedere Gesellschaftsklasse des schönen Geschlechts und auf ziemlich derbe Freuden.“2082 Ein offenes Wort des Biographen, an dem dennoch bereits eine veränderte ‚bürgerliche‘ Außenwahrnehmung auffällt: War Sexualität „noch selbstverständlicher Bestandteil einer traditionalen Lebenswelt“,2083 so werden nun ihre „derbe[n] Freuden“ mit den unteren sozialen Schichten konnotiert. Die neue bürgerliche Prüderie bringt zugleich die doppelte Sexualmoral hervor, an der sich dann auch Hebbels „hübsche Geschichte“ von dem geretteten Unterrock orientieren sollte. Johann Jakob Mohr, dem Hebbel aus einem Abstand von mehr als 20 Jahren vorwarf, er habe seine Dienstmagd geschwängert,2084 wird von seinem Sohn Otto als das genaue Gegenbild beschrieben: Mein Vater war von einer Sittenreinheit und Sittenstrenge, die ich in meinem ganzen Leben auch bei höher gebildeten Männern nur in äußerst seltenen Fällen angetroffen habe. Alles Rohe, alles moralisch Häßliche war ihm in tiefster Seele verhaßt, und der Ekel, mit dem er derartige Eindrücke von sich abwies, konnte auf Unbeteiligte sogar komisch wirken [HP I, 31].

Otto Mohrs Perspektive ist von zwei Faktoren bestimmt: Als Nachgeborener urteilt er aus größerer Distanz, als Sohn aus besonderer Nähe. Beides konvergiert in einer Verzerrung der Optik. Als ‚moderner‘ Mensch geht er wie selbstverständlich von internalisierten und emotionalisierten Normen aus, die dem Vater „in tiefster Seele“ eingeprägt sein müssen; als Sohn glaubt er, den individuellen Charakter seines Vaters genau zu kennen. Selbst wenn man schichtenspezifische Mentalitätsdifferenzen berückDieses und das folgende Zitat: USSEL, Sexualunterdrückung, S. 114. Zit. nach ROEDL, Matthias Claudius, S. 19. 2081 Dieses und das folgende Zitat: USSEL, Sexualunterdrückung, S. 127. 2082 KUH, Biographie, Bd 1, S. 152f. 2083 RICHTER, Das fremde Kind, S. 205. 2084 Vgl. WAB 3, 59. Der Sachverhalt ist bis heute ungeklärt. 2079 2080

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sichtigt, durch die sich bereits der junge Johann Jakob von Wesselburener Gassenbuben abhob, ist anzunehmen, daß auch er sein Sozialverhalten dem Rollenwechsel vom Junggesellen zum Familienvater, vom Studiosus zum Beamten anpaßte. Mit dem Betragen des eine halbe Generation jüngeren Friedrich Hebbel harmonierte dies dann nicht mehr unbedingt, wie Otto Mohr nur allzu deutlich empfand: Hebbel war roh und sinnlich. Ich will so milde urteilen wie der Biograph und sagen, es war eine geniale Roheit; Hebbels Rüpelhaftigkeit war der Ausdruck „des unbewußten Dranges nach Selbstbefreiung“, und „er gehorchte den wilden Impulsen, die durch den rückwirkenden Eindruck einer leidenschaftlichen Persönlichkeit, welche die Weiber anzulocken pflegt, verstärkt wurden“ [HP I, 31].

So entgegengesetzt ihre Positionen inhaltlich sein mögen; in einem Punkt sind sich Otto Mohr und Emil Kuh einig: Auch Hebbels „Rüpelhaftigkeit“ und „Roheit“ werden umstandslos dem „unbewußten“ Individualcharakter zugeschrieben. Losgelöst vom mentalitätsgeschichtlichen Kontext werden sie späteren Biographen – wie hier Karl Reuschel – zum Ausweis „für das kraftgenialische Wesen des jungen Hebbel, das mit landläufigen Moralbegriffen nicht zu messen war“,2085 während Mohr sich mit dem naheliegenderen Schluß begnügt, das Erzählte sei „weit mehr als genügend, um bei der pedantischen Strenge, mit welcher mein Vater auf Anstand und Sitte hielt, zu erklären, daß er zu seinem Schreiber in einen intimeren Verkehr nicht eintrat“2086 und „ein näherer Umgang […] unmöglich entstehen konnte“. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang die Anfügung Otto Mohrs, daß das Verhältnis zwischen beiden „im übrigen“ ein „durchaus freundliches“ gewesen sei. Die Differenzen wurden von den Beteiligten eben nicht auf die Ebene persönlicher Animositäten und Charakterschwächen heruntergebrochen, sondern als ‚kulturelle‘ begriffen – zeichnete sich doch das in Dithmarschen noch keinesweg überholte „Bildungsprogramm der Aufklärer durch Distanzierung von der ‚Roheit‘ der Unterschichten und dem Naturwesen Kind“2087 aus. Dafür konnte das jeweils andere Verhalten als „komisch“ verspottet werden, wie Otto Mohr es am Beispiel seines Vaters durch gänzlich „Unbeteiligte“ erlebte. Doch auch die Oberschichten hatten beim Streit um ‚Peinlichkeit‘ und ‚Roheit‘ die Lacher auf ihrer Seite: Während bei ihnen die „Peinlichkeitsschwelle gegenüber körperlichen Bedürfnissen sich erhöht und die ‚feinen Leute‘ […] in Gesellschaft anderer an sich halten“,2088 lachen sie dafür in der – vorzugsweise literarischen vermittelten – „Begegnung mit einem ‚Volk‘, das – sei es projektiv, sei es tatsächlich – sich […] unschicklich und roh, ‚unzivilisiert‘ verhält“.

REUSCHEL, Kirchspielvogt Mohr, S. 108. Dieses und die folgenden Zitate: Otto Mohr, zit. nach HP I, 31. 2087 RICHTER, Das fremde Kind, S. 231. 2088 Dieses und das folgende Zitat: RICHTER, Das fremde Kind, S. 194f. 2085 2086

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„Ein tolles Gemisch von Rausch und ekler Nüchternheit“ Bei Hebbel selbst trat dieser Mentalitätswandel als Bruch zutage, der ihm vor allem nach der Wesselburener Zeit schwer zu schaffen machte. Im Oktober 1836 protokollierte er im Tagebuch: „Es steckt eine Hölle von Reizbarkeit und Empfindlichkeit in mir (Ergebniß meines frühern Lebens, wofür, wie in so manchen Puncten, das jetzige bezahlen muß); [...] mögt’ ich sie bewältigen können!“ [T 393]. Im November 1838 wünscht er sich, „moralisch in anderer Gestalt“ [T 1311] zu sein, „aber ich fürchte, ich habe recht, wenn ich mir sage: du wirst auf Erden nicht mehr besser, als du bist. Meine Leidenschaftlichkeit ist mir über den Kopf gewachsen und sie wechselt in ihrem Begehren eigentlich nur mit den Gegenständen, sie selbst bleibt, was sie ist“ [T 1311]. Auch im November 1840 konnte Hebbel „nicht mit mir selbst zufrieden seyn. Die Elemente, aus denen ich bestehe, tosen und gähren noch immer durcheinander, als ob sie gar nicht in eine beschränkte individuelle Form eingeschlossen wären; eins kämpft mit dem andern und unterwirft es, oder wird unterworfen, bald ist auf dieser Seite der Sieg, bald auf jener, doch das Gesetz fehlt! Wenn ich mich in meiner Vergangenheit oder in meiner nächsten Gegenwart umsehe: überall derselbe Leichtsinn, dem mein Sinn widerstrebt und der meine Tage ausfüllt“ [T 2066]. Und im Dezember 1843 konstatierte er unverändert: „Oft entsetze ich mich über mich selbst, wenn ich erkenne, daß in mir die Reizbarkeit, statt abzunehmen, immer mehr zunimmt, daß jede Welle des Gefühls, und wenn sie von einem Sandkorn herrührt, das der Zufall in mein Gemüth hinein warf, mir über den [sic] Kopf zusammen schlägt“.2089 Irritiert fragte er sich: „Woher diese schreckliche Abhängigkeit von äußeren Eindrücken, deren Nichtigkeit ich ja eben so gut erkenne, wie ein Anderer?“ [T 2958] In anderen Situationen bekannte er sich zu seiner leidenschaftlichen Unmittelbarkeit: „So lieb’ ich’s; sich bei Briefen irgend eine Art von Zwang anthun, heißt in das Herz Methode bringen u Händedruck u Umarmung nach Regeln zu betreiben“ [WAB 1, 152], heißt es im Januar 1837 in einem Brief an Elise. Im Juni erweiterte er seine Argumentation auf doppelte Weise: Zum einen mutete er ihr nun nicht mehr nur „Händedruck u Umarmung“, sondern überhaupt seine „Launen“ zu, zum andern stilisierte er sein Verhalten zur „umfassenden“ Wahrheit, die mit Elises großer Seele korrespondiere: „Aber, gegen Dich bin ich wahr, so wahr, wie gegen mich selbst; man kann es seyn gegen einen umfassenden Geist, man muß es seyn gegen ein umfassendes Gemüth. Darum sind meine Briefe an Dich, wie meine Launen, herb, bitter und ausschweifend; ich lasse das Gefühl walten, wie es steigt und fällt, Du erhältst treue Abdrücke meiner Seele“ [WAB 1, 182]. Doch was beim brieflichen Kontakt mit der überhöhten Geliebten – im ohnehin distanzierenden Medium der Schrift – angehen mochte, konnte in unmittelbarer Gesellschaft nicht funktionieren. So konterkarierte Hebbel seine starke Extraversion

2089

T 2958. Zum Sandkorn als Metapher für die Verkehrung der (Größen-)Maßstäbe vgl. auch T 3581: „Diejenigen Berge, über die man im Leben am schwersten hinweg kommt, häufen sich immer aus Sandkörnchen auf“.

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mit misanthropischem Rückzug, um sich sogleich die Diagnose der Hypochondrie2090 zu stellen: Gegenüber Elise nannte er sich einen „hypochondrisch-reizbaren Murrkopf“ [WAB 1, 110]; vor Amalie Schoppe bekannte er: „Ich bin hypochondrisch in höchsten Grade, mein Leben ist ein tolles Gemengsel von Rausch und ekler Nüchternheit“ [WAB 1, 180]; und als er von Elise Lensing einen neuen Rock erhielt, nahm er sich vor: „’[I]n dem willst du nicht mehr so hypochondrisch seyn!‘ Der Mensch ist ein Narr“ [WAB 1, 199f.]. Solche Umschreibungen meinen noch keinen psychologischen Befund im modernen Verständnis, sondern eher ein widersprüchliches Rollenverhalten; nämlich das Nebeneinander jener beiden „Verhaltensweisen, gegen die der bürgerliche Rationalismus von Anfang an sich verwahrt hat: die Maßlosigkeit des Misanthropen mit der Maßlosigkeit der Lustigen Person“.2091 Daran irritierte vor allem ihre Unvermitteltheit: „Eigentlich unheimlich erschienen diese Äußerungen dadurch, daß sie in einem Menschen zusammen fanden und so unvermutet ausbrachen – es war das irrationale Wesen Mensch, das da unversehens vor Augen trat und scheinbar die Ambivalenz als das normale Maß in sich austrug.“ Umso „eindringlicher erging der Ratschlag Knigges an den Bürgerlichen […]: ‚Sei, was Du bist, immer ganz, und immer Derselbe! Nicht heute warm, morgen kalt […]’“. Dies war auch der sehnliche Wunsch Hebbels. Im Jahr 1838 gab ihm ein Theaterabend in München lebendigen Anschauungsunterricht, wie der zivilisierte Bürger noch in Ausnahmezuständen das An-sich-Halten übt: Die Extreme gab Eßlair sehr gut. Herrlich war der Moment, wo der unglückliche Vater seine böse Tochter unter erstickenden, die Stimme verschwemmenden Thränen versichert, er wolle nicht weinen; er will auch nicht, aber er ist nicht Herr über seinen Körper. Für äußerst gelungen halte ich es, daß Eßlair das: „Ich gab Euch Alles“ nicht polternd, oder vorrechnend, sondern fast leise und ruhig sagte.2092

Der Tagebucheintrag gibt diese ‚herrlichen‘ Momente aus genießerischer Distanz wieder; und auch sich selbst bescheinigte Hebbel wenige Tage darauf: „Ich weine jetzt fast nie aus Schmerz, kaum noch bei Zorn. Aber bei schöner Musik, oder wenn ich ein muntres Kind pp sehe, kommen mir so leicht Thränen in’s Auge“ [T 1328]. Für solche Empfindungen edler Rührung brauchte man sich jedoch nicht zu schämen, sprachen aus ihnen doch gutbürgerlicher Schönheits- resp. Familiensinn. Doch waren bei Hebbel auch dies nur flüchtige Momente, aus denen sich keine stabile Gefühlslage ergab. So gestand er sich im November 1840 resigniert ein: „Schwer, unendlich schwer ist es allerdings, das Leben zum Kunstwerk zu adeln, wenn man so heißes Blut hat, wie ich; es setzt die Herrschaft über den Moment voraus, die wenigstens derjenige, der an den Moment noch Ansprüche macht, so leicht nicht erlangt; doch kann man sich diesem Ziel mehr und mehr nähern, und ich bin noch nicht einmal unterwegs“ [T 2066]. Das Bekenntnis ist kaum ausgesprochen, als es von der selbstVgl. auch den Eintrag im Sachregister von WAB 5, 328. Dieses und die folgenden Zitate: PROMIES, Der Bürger und der Narr, S. 243, Hervorhebung C. S. 2092 T 1315. Den musterhaft duldenden Laokoon hatte Hebbel immerhin schon in Dithmarschen kennengelernt, wo er Lessings Text im Trödel erstand. Vgl. HP I, 18. 2090 2091

„Ein tolles Gemisch von Rausch und ekler Nüchternheit“

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kritischen Beobachtung schon wieder eingeholt wird: „Selbst eine Beichte, wie die jetzige, was ist sie? Sie kommt unwillkürlich, wie ein Seufzer, oder ein Schlag an die Brust, denn ich wollte etwas ganz Anderes niederschreiben; sie hat aber leider ganz andere Folgen, als sie haben sollte, denn sie erleichtert das Gemüth, anstatt es mehr zu drücken!“ [T 2066] Wohl übernimmt der Verstand blitzschnell die „Herrschaft über den Moment“ – doch eben einen Moment zu spät, weil beides zugleich nicht geht, weil kaltes und „heißes Blut“ sich ausschließen. So erscheint die Idee, das Leben zu „adeln“ und zum „Kunstwerk“ zu formen, als „unendlich schwer“, wenn nicht utopisch. Die adelige Komponente findet sich bei Hebbel nicht zum ersten Mal: „Ich habe nun einmal gerade zu jener harmonischen Ausbildung meiner Natur, die mir meine Geburt versagt, eine unwiderstehliche Neigung“,2093 läßt Goethe seinen Wilhelm Meister sagen. Damit aber „beansprucht er für sich als Bürger etwas, das dem Edelmann vorbehalten scheint und wofür im bürgerlichen Leben kein Platz vorgesehen ist“. Bei Wilhelm Meister „kömmt meine Neigung zur Dichtkunst und zu allem, was mit ihr in Verbindung steht“ als Standesabzeichen hinzu. Hebbel aber wollte das Leben mit seinen widerstreitenden Impulsen selbst „zum Kunstwerk“ veredeln. Schon Immanuel Kant definierte „die ästhetische Idee als Übereinstimmung zwischen Sinnlichkeit und Verstand“.2094 Doch das ästhetische, d. h. „zufällige Zusammenspiel zwischen Einbildungskraft und Verstand wird deshalb mit Wohlgefallen aufgenommen, weil hier ein Verhältnis zwischen Sinnlichkeit und Intellektualität des Menschen wahrgenommen wird, das ihrem anthropologischen Normalzustand überraschend widerspricht, in welchem sie nach Kant als unversöhnliche Gegensätze auftreten und der Mensch seine Menschlichkeit in der Regel nur wahren kann, wenn seine Intellektualität seine Sinnlichkeit unterdrückt.“ Die ästhetische Erfahrung bleibt bei Kant eine ‚weltfremde‘ – und nicht weniger bei Hebbel. Am Tag nach seinem 29. Geburtstag, am 19. März 1842 schrieb er sich selbstkritisch ins Tagebuch: Mit dem, was ich […] in der Kunst geleistet habe, darf ich zufrieden seyn, es übertrifft bei Weitem Alles, was ich jemals zu hoffen wagte, es reicht an das Maaß meiner Erkenntniß und weiter kann der Mensch nicht. Aber ich habe das Talent auf Kosten des Menschen genährt und was in meinen Dramen als aufflammende Leidenschaft Leben und Gestalt erzeugt, das ist in meinem wirklichen Leben ein böses, unheilgebärendes Feuer, das mich selbst und meine Liebsten und Theuersten verzehrt. [T 2509]

2093 2094

Zit. nach SCHMID, Zeit des Lesens – Zeit des Fühlens, S. 57. Dort auch die folgenden Zitate. Dieses und das folgende Zitat: GRAUBNER, Kant, S. 59.

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„Vergiß nicht, daß Du –ßen mußt!“ Spricht man von der „Körperkultur und ihren expressiven Operationen“,2095 so betrifft dies auch die „Ausscheidungsfunktionen, die noch lange nicht in die Sphäre der Intimität und des Tabus fallen“.2096 Ausgerechnet in der ‚Aufklärungs‘-Pädagogik zeichnete sich hierin ein Wandel ab, so daß beispielsweise Eberhard von Rochow sich „im Kinderfreund zwei Seiten lang über die Verdauung ergeht, jedoch kein Wort über die Ausscheidung verliert“.2097 Hinter der älteren Umgangsweise steht „eine Wahrnehmung des Körpers […], die von der unsrigen sehr weit entfernt ist. Der Unterleib ist nicht wirklich ekelbesetzt, und die Leute empfinden keine besonderen Hemmungen, öffentlich zu pinkeln.“2098 Auch der junge Hebbel empfand sie nicht – so daß in München die Polizei gegen ihn einschritt, wie er im Tagebuch festhielt: „Zum ersten Mal (in München und in meinem Leben) wegen Sch.ff..s vor die Polizei geführt, durch die Gensdarmerie, hatte aber die Satisfaction, gleich nachher in derselben Gasse durch denselben Gensdarmen einen Andern wegen desselben Verbrechens abfassen zu sehen“ [T 391]. Kein verinnerlichtes Schuldgefühl spricht aus der Notiz, vielmehr die Schmach des öffentlich Vorgeführten. „Satisfaction“ erhält er in der Wiederholung der Geschichte als Farce; erleichtert kann er beobachten: Mit dieser Gewohnheit steht er auch in München nicht allein. Im Jahr 1861 beschäftigt er sich aus anderer Perspektive mit dem Thema. Im Tagebuch notiert er: „Man sollte in großen Städten überall, wo man P.ssen verhindern will, Denktafeln für verdiente Männer anbringen, statt der Polizei-Verbote“ [T 5916]. Hebbel selbst ist inzwischen ein ‚verdienter Mann‘, der das Urinieren auf offener Straße nicht mehr gutheißen kann. Die komische Idee, Respektsbezeugung vor der öffentlichen Moral und großen Männern zu verbinden, läßt jedoch nicht nur ein gehöriges Maß Selbstironie durchblicken, sondern auch eine Affinität zu einem ‚pubertär‘ erscheinenden Humor. Wie sehr der Dichter sich damit noch immer von seinem kulturellen Umfeld abhob, zeigt sein ‚Sittenbild‘ von Marienbad von 1854: Ich glaube, es muß schwer seyn, sich in einem Badeort zu verlieben, da alle Damen, die Einem begegnen und bei denen man sonst an Werther und Lotte denken kann, hier nur des Purgirens wegen im Walde herum laufen; wir sind eben von unserer Morgenpromenade zurückgekommen und, während ich dem Geist des Brunnens in Folge der genossenen drei ersten Becher an einem gewissen Ort mein Opfer darbrachte, wurde mir vor meinen Fenstern von der Musik-Kapelle ein Ständchen gemacht. […] [W]ie der Kirchhof ihm unaufhörlich zuruft: bedenke, daß Du sterben mußt, so mahnt Marienbad ihn unermüdlich: vergiß nicht, daß Du –ßen mußt! Wohin man auch komme, überall kleine Häuschen in Pyramidal-Form, deren Bestimmung sich keine Minute verkennen läßt, mögen sie nun über einem silbern dahin rieselnden Bach oder unter blühendem Holunder und flüsternden Birken angebracht seyn, und wie oft stößt man auf bebänderte Herren oder nach Ambra duftende

SCHINDLER, Widerspenstige Leute, S. 172. MUCHEMBLED, Die Erfindung des modernen Menschen, S. 110. 2097 BEUTELSPACHER, Kultivierung bei lebendigem Leib, S. 51. 2098 MUCHEMBLED, Die Erfindung des modernen Menschen, S. 203. 2095 2096

„Vergiß nicht, daß Du –ßen mußt!“

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Damen, die mit verlegenen Gesichtern auf sie zueilen oder mit beschämten heraus schlüpfen. [T 5267]

Freilich kommt die Schilderung nicht ohne Kompromisse aus: Das grobe Wort für die Ausscheidungsfunktion wird zwar intoniert, aber halbwegs diskret abgekürzt, ansonsten wimmelt es von allerlei Euphemismen; geblieben ist eine feinsinnig wirkende, aber darum nicht weniger abgründige Ironie. Eher mit sachlichem Interesse als mit Verwunderung oder gar Ekel nimmt der späte Hebbel kulturgeschichtliche Tatsachen zur Kenntnis, in denen ‚öffentliches‘ Urinieren als akzeptierter Bestandteil von geradezu sakralen Kontexten auftritt. 1857 notiert er: „Abraham opfert den Isaack; er legt nämlich eine Flinte auf ihn an und im Augenblick des Abdrückens erscheint der rettende Engel und pißt auf’s Zündloch! Ein wirklich vorhandenes, seit Jahrhunderten in einer Mährischen Kirche zur Verehrung der Gläubigen aufgehängtes Bild!“ [T 5635] Die darin zum Ausdruck kommende Denkweise beschreibt Robert Muchembled: „Die Mentalität der breiten Masse […] ist einer trennscharfen Unterscheidung zwischen Frömmigkeit und Alltagsleben nicht immer förderlich“.2099 1860 hält Hebbel eine Lesefrucht fest, die einem noch ‚primitiveren‘ Kulturkreis entstammt: „Die HochzeitsCeremonie besteht bei den Hottentotten darin, daß der Priester die Brautleute bepißt“ [T 5837]. In der europäischen Neuzeit beschränkt sich der ungezwungene Umgang mit den Ausscheidungsfunktionen zunehmend auf die Volkskultur. Dabei ist er nicht allein Ausdruck eines unverkrampften Verhältnisses zur Körperlichkeit, sondern kann im Modus der Verkehrung auch kulturelle Funktionen übernehmen – als Sakrileg, als demonstrative Grenz- oder Ehrverletzung: „Exkremente, Urin und scheußliche Mixturen dienen oft tatsächlich dazu, mehr oder weniger scherzhaft Gäste im Wirtshaus anzugreifen, wodurch diese gezwungen sind, öffentlich ihr Gesicht zu wahren“,2100 berichtet Robert Muchembled. Fäkalische Streiche, so ergänzt Arthur Mitzman, setzten Akzente gegen das „Bemühen, die unteren Körperregionen zu disziplinieren und zu unterdrücken“,2101 oder einfach „gegen die Moralisierungskampagne des Stillin-der-Kirche-Sitzens“. Dabei, so Michael Kuper, „ging die Erniedrigung des Hohen und Immateriellen auf eine körperbezogene oder gegenständlich funktionale Referenzebene mit der Profanierung des Sakralen und dem öffentlichen Verlachen des Geheimen einher.“2102 Der junge Hebbel beherrschte auch diesen Code der „Desakralisierungsriten“.2103 Als Jakob Franz sich bei ihm beschwerte: „Du p....st auf der Stelle, wo Emilie mir das Du zuerst antrug“ [T 5134], mochte es noch angehen, daß Hebbel den romantischen Ort bloß unwissentlich entweiht hatte. Doch galt das nicht mehr für eine andere „Szene mit Franz aufm Kirchhof, als ich an einer gewissen Stelle nicht p.ss.n sollte und es doch that“ [W 15, 17]. Bewußt beging Hebbel hier einen Tabubruch, wenn er auch nicht wußte, was sich mit diesem Ort Besonderes verband – einmal davon abgesehen, daß er auf dem alten Wesselburener Friedhof im Schatten MUCHEMBLED, Die Erfindung des modernen Menschen, S. 240. Ebd., S. 202. 2101 Dieses und das folgende Zitat: MITZMAN, Die Offensive der Zivilisation, S. 44. 2102 KUPER, Zur Semiotik der Inversion, S. 39f. 2103 Ebd., S. 39. 2099 2100

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des Gotteshauses seine Notdurft verrichtete. Die Wirkung auf Franz war nachhaltig. 20 Jahre lang schwieg er darüber, dann aber erfolgte „die Aufklärung: dort hatte Emilie L. ihm den ersten Kuß gegeben“ [W 15, 17]. Der Unterschied zum Hottentottenpriester war nur ein gradueller. So paradox es scheint, wirkte gerade die Verletzung der Anstandsregeln gemeinschaftsstiftend. So wollte der junge Hebbel auch von Johann Gehlsen lieber als „Schweinigel“ erinnert, als „vergessen“ [WAB 1, 14] werden. Ist die ‚Körpersprache‘ selbst von unschlagbarer Unmittelbarkeit, so kann die kakophonische Rede sie virtuoser ersetzen. Im Lalebuch aus dem späten 16. Jahrhundert etwa „beantwortet Markolf die hochgestochenen Autoritätssentenzen Salomons mit groben Bauernsprichworten und skatologischen Grobianismen, um die ihrer Identität zu entkleiden und auf der Ebene grotesk entfesselter Körperlichkeit zu erniedrigen beziehungsweise herabzuwürdigen.“2104 Noch für den erwachsenen Hebbel hatten entsprechende Verletzungen des guten Geschmacks ihren Reiz, so daß er sie im Tagebuch festhielt. Einen „Kraft-Ausdruck“ [T 2341] formulierte er 1841: „Stecke Deine Zunge in Deinen eignen Arsch, wenn Du nichts Besseres zu sagen weißt“ [T 2341]; 1842 notierte er: „Ein Pferd braucht nur zu sch–, so hat ein Spatz seine Mahlzeit“ [T 2642]. Ob er sich dieser Bonmots auch in der Konversation bediente, ist nicht überliefert. Im März 1848 registriert das Tagebuch „Metternichs F..z in Anwesenheit eines gebildeten Mannes“ [T 4376]; 1851 läßt der Dichter Hebbel jedoch verlauten: „Den Autor eines –ckhaufens will ich niemals wissen“ [T 4846]. Vormals hatte er allerdings manch einem gerade bei solcher Autorschaft gewaltig nachgeholfen, wie dem Großbauern vom Klingberghof in nächster Nachbarschaft zu Hebbels Elternhaus, Julius Paulsen. Zwei Sätze in den Notizen zur Biographie genügen, um die Geschichte hinreichend anzudeuten: „Julius Paulsen und meine Empfehlung. J. Paulsen und die Flasche mit dem Laxiermittel“ [W 15, 15]. Wohl nicht mehr zu rekonstruieren ist hingegen die Tat, die Hans Georg Wacker dem Dichter im Jahr 1853 vor Augen stellte, um ihm den „muthwilligen Hebbel“ [WAB 2, 647] der Wesselburener Zeit ins Gedächtnis zu bringen: „ich erinnere an Peter Peters Düvelsdreck“ [WAB 2, 647]. Ein ‚teuflisches Exkrement‘ stand bei dem Streich offenbar im Mittelpunkt. Die zivilisierende Wirkung speziell Elise Lensings illustriert demgegenüber ein Brief Hebbels an sie aus dem Jahr 1837: Gewöhnlich tragen meine Briefe einen langen Trauerflor, und hinten (wenn’s gut geht) einen Bocksschwanz. Damit es einmal anders wird, schreib’ ich diesen, der Dir im Anfang (trotz eines starken Schnupfens bin ich auferstehungs-heiter) ein lächelndes Engel-Gesicht zukehren soll; wie der Hintere (Du erlaubst mir doch, von dem Hintern eines Briefs zu sprechen?) ausfällt, kann ich freilich noch nicht wissen [WAB 1, 167].

Wohl erlaubte sich Hebbel – der ‚auferstehungs-heitere‘ Brief entstand immerhin am „2ten Ostertag“ – einen Anflug von Blasphemie, doch die Anspielungen erotischen bzw. skatologischen Charakters blieben reichlich abstrakt. Vom „Hintern eines Briefs“ zu sprechen verbietet sich am ehesten wegen der gesuchten Metapher, kaum wegen 2104

Ebd., S. 185.

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moralischer Bedenken. Wenn auch Hebbel beim Schreiben „noch nicht wissen“ konnte, wie dieser am Ende aussehen würde; allzu anstößig durfte es nicht werden. Immerhin werden hier die „Orientierungspunkte auf der ebenfalls vertikalen und kulturell konnotierten Körperachse ausgetauscht: Haupt und Hintern“,2105 und sogar – in Gestalt des vorn montierten ‚Bocksschwanzes‘ – „Nase und Phallus“. Entsprechend wird die zu fürchtende Beschreibung der Ausscheidungsfunktion ins Gegen-Teil, nämlich ins lächelnde „Engel-Gesicht“ des Anfangs verlegt. Die laufende Nase ist allerdings noch zu vertragen und kann nicht einmal die österliche Stimmung stören. Im Normalfall aber schließen entzündete Nasenschleimhaut und entzündete Gefühle bei Hebbel einander bald aus: „Ob wohl je der feurigste Liebhaber sich den Kuß noch nehmen würde, wenn die Geliebte: Wart! sagte und sich die Nase schneuzte? Dennoch widerfährt dieß dem Künstler bei seinen Mittheilungen Tag für Tag“ [T 5481]. Das Gekünstelte des Vergleichs ist indes auch bei diesem späten Tagebucheintrag von 1856 nicht zu überhören – besonders wenn man eine keine drei Monate später niedergeschriebene Erinnerung daneben hält, die eine vergleichbare körperliche Aktion des jungen Hebbel festhielt: „Man kann auf wunderliche Weise fortleben. So lebt Joh. Fr. Martens aus Wesselburen durch sein Niesen, das ich mir angeeignet habe, weil ich es Anfangs aus Spott nachahmte, in mir fort, obgleich er längst begraben ist“ [T 5551]. Dabei handelte es sich um die Angewohnheit, „längere Zeit ohne Unterbrechung hintereinander zu niesen“.2106 Mit seiner Notiz wollte Hebbel zwar auf eine kuriose Form des ‚Weiterlebens‘ nach dem Tode hinweisen. Doch in der karikierenden Nachahmung Martens’ durch seinen halbwüchsigen Nachfolger war es um etwas ganz anderes gegangen: nämlich um eine vorerst provisorische und provokative ‚Platzbesetzung‘, die darauf abzielte, das Schreiberamt „auf der Ebene grotesk entfesselter Körperlichkeit zu erniedrigen beziehungsweise herabzuwürdigen“2107 – und zugleich zu vereinnahmen. Während der feinsinnig gewordene Autor beim sich schneuzenden Leser mangelnde Ehrfurcht beargwöhnte, hatte der junge Schreiber die ‚rotzige‘ Nachahmung als Mittel despektierlicher Verkehrung mit Behagen eingesetzt. Andererseits ging der Dichter mitunter nur allzugern eine Allianz mit dem „Volk“ ein. Wenn Hebbel behauptete: „Das Volk wird im Fluchen und Schimpfen poetisch“ [T 1899], und gleichzeitig die Frage bejahte, daß „[s]og. Derbheiten […] in der Poesie erlaubt“ [T 1897] seien, dann bezog er beides auf ein und denselben Ursprung: „Weil die Unschuld alle Dinge geradezu bezeichnet, und weil die dichterische Begeisterung die höchste Unschuld ist“ [T 1897].

Dieses und das folgende Zitat: KUPER, Zur Semiotik der Inversion, S. 27. BIEBAU, Der Kirchspielvogt Mohr, S. 172. 2107 KUPER, Zur Semiotik der Inversion, S. 185. 2105 2106

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„Ich schlag’ Euch ja todt“ Noch in anderen Verhaltensweisen äußert sich das ungebrochene Verhältnis der traditionalen Gesellschaft zur Körperlichkeit. In Shakespeares Hamlet verbucht Polonius neben „trinken“2108 und „huren“ auch „raufen, fluchen, zanken“ schlicht als „wilde, ausgelaßne Streiche“, die „hergebrachtermaßen die Gefährten [d]er Jugend und der Freiheit sind.“ Ein kurzer Tagebucheintrag Hebbels führt drei Formen unmittelbarer körperlicher Aktion in ‚organischem‘ Zusammenhang vor: „Ein Mensch hat Krämpfe; ein Anderer giebt ihm eine Ohrfeige, weil er glaubt, jener schneide ihm Grimassen“ [T 1601]. Die Tugenden bürgerlicher Mäßigkeit sucht man hier vergebens: Der Kranke verzerrt vor Schmerz sein Gesicht, anstatt in stiller Größe zu leiden; der Zweite interpretiert das Grimassieren schlankweg als Beleidigung, und statt sich nach dem Befinden zu erkundigen, schlägt er spontan erst einmal zu – die wohlgesetzte Backpfeife ist allemal ein gelungener Streich. In unübertrefflicher Kürze vermittelt die Szene einen umfassenden Eindruck von den „expressiven Operationen“2109 der Körperkultur. Die Anwendung körperlicher Gewalt war in der traditionalen Gesellschaft ein akzeptiertes Mittel nicht nur in der Erziehung,2110 sondern generell der Auseinandersetzung, wie etwa Hebbels Rettung des ‚Unterrocks‘ auf dem Wesselburener Markt illustriert. Auch auf diesem Gebiet überlagern sich epochen- und lebensgeschichtliche Dimension: „Je primitiver die Stufe“, schreibt Erich Neumann, um so mehr sei sie „mit dem Körpergeschehen identisch und von ihm beeinflußt“.2111 Mit zunehmender Zivilisierung der Sitten konzentriert sich die Körperkultur auf die „lautstarken Halbwüchsigen mit ihrem Imponiergehabe und ihren Raufhändeln“.2112 Doch die „ausgeprägte Neigung der Jugendlichen zur gewalthaften Regelung interner Rivalitäten und Konflikte“2113 war ihrerseits Ausdruck „einer Gruppenkultur, in der körperliche Kraft, Geschicklichkeit und Mut eine zentrale Rolle spielten und die soziale Anerkennung der Männerwelt buchstäblich erst errungen werden mußte“. Dazu gehörte auch das „Spiel mit den symbolischen Mannbarkeitsriten […] in seiner rituellen Dynamik von Herausforderung und Erwiderung in seinen Zwängen des Standhalten-Könnens und Sich-bewähren-Müssens“, das „allerdings leicht in Ernst umschlagen konnte“. In diesen sozialpsychologischen Kontext ist das von Bornstein überlieferte allgemeine Urteil zu stellen, wonach Hebbel „sich energisch auszudrücken verstanden [habe], daß Geistesgegenwart, persönlicher Mut ihn ausgezeichnet haben“ [HP I, 13]. Schon bei den Jungen wurde diese Mentalität gefördert; sie „mußten wild sein, wurden gereizt und aggressive Reaktionen wurden auch von den Müttern als aufregend männlich begrüßt.“2114 Als Jähzorn wurde diese Disposition zu plötzlicher „hitziger Dieses und die folgenden Zitate: Hamlet, 2. Akt, 1. Szene [SHAKESPEARE, Sämtliche dramatische Werke, Bd 6, S. 27. 2109 SCHINDLER, Widerspenstige Leute, S. 172. 2110 Vgl. oben den Abschnitt Elterliche ‚Gewalt‘ und Strafe. 2111 NEUMANN, Die große Mutter, S. 230. 2112 SCHINDLER, Widerspenstige Leute, S. 224. 2113 Dieses und die folgenden Zitate: Ebd., S. 229. 2114 Dieses und das folgende Zitat: JEGGLE, Kiebingen, S. 144. 2108

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Aktivität“ erst durch die aufklärerische Pädagogik gebrandmarkt, in deren Sicht die „Triebunterdrückung eine wesentliche Seite der Selbstbeherrschung darstellte, zu der die Menschen zu erziehen waren“.2115 Hebbels Charakter war in dieser Hinsicht auffällig ausgeprägt: „Jetzt konnte er aufbrausen und im Zorn rücksichtslos den Liebsten verletzen, im nächsten Moment aber rührend kindlich mit einem holden Wort die Versöhnung herbeiführen. Der Dualismus ging mitten durch sein Wesen und ergab das merkwürdige Gemisch von Härte und Milde“.2116 Reuevoll, ratlos – und zugleich reichlich selbstmitleidig – blickte Hebbel in einem Brief an Elise Lensing auf sein Verhalten gegenüber seinem Bruder Johann zurück: Auch gegen ihn habe ich so Manches gut zu machen; er ist eine treue und nicht unbedeutende Natur, und ich bin oft so hart gegen ihn gewesen, daß mich’s noch in die Seele schneidet. Ach, das ist’s überhaupt; der ungerechte, wenigstens voreilige oder zu scharfe Schlag, den ich mit jähzorniger Hand ertheilte, schmerzt Andere einmal und mich ewig, und doch kann ich mich nicht zurück halten [WAB 1, 117].

Allerdings hatte Hebbel es nicht anders gelernt; und daß es Situationen zu Genüge gab, in denen solche ‚Schlagfertigkeit‘ durchaus funktional war, zeigt sein Einschreiten gegen ein „Werk des Aufruhrs und der Verwüstung“2117 durch Erntearbeiter, wie Emil Kuh es nacherzählt: Da trat der junge Schreiber mit dem Amtsdiener Gammerat aus dem Hause und richtete an die Tumultuanten eine ebenso kräftige, als unerschrockene Ansprache. Es fruchtete nichts. Nun schritt er auf den Rädelsführer los, packte ihn herzhaft an der Brust und warf ihn zu Boden. Die Herde erschrak und wich zurück. Alsdann veränderte der tapfere Schreiber die Taktik, indem er die sichtlich Eingeschüchterten durch eindringliche wie begütigende Vorstellungen, die seine ausgiebige Stimme noch unterstützte, zu Einsicht und Vernunft zu bringen suchte, was ihm auch vollständig gelang.

Ein besonderer Reiz dieser Anekdote liegt in dem erfolgreichen Code-Switching zwischen Körpersprache und Vernunftgründen, das vom ‚tapferen Schreiberlein‘ besser beherrscht wird, als vom eigentlichen Amtsbüttel: Denn „Gammerat hatte sich unterdessen, allen Fährlichkeiten abhold, in die Kirchspielvogtei gerettet und schaute, seines roten Amtsrockes entledigt, als Privatperson ruhig aus dem Fenster“. Der Vertreter des Gesetzes erweist sich als Feigling, der ohne seine Amtskleidung vollends ein Niemand ist. Demgegenüber erscheint die Heldentat des Jünglings in umso reinerem Licht. Doch die Geschichte ist zu schön, um ganz wahr zu sein; nach Hebbels eigenen Notizen zur Biographie war das wirkliche Geschehen eher unübersichtlich. Hebbel erzählt, daß die Arbeiter „nicht wichen“ [W 15, 22], so daß er sich wohl eher hilfesuchend nach dem verschwundenen Gamrath umsah. Die Situation rettete dann ein Dritter:

SCHLUMBOHM, Kinderstuben, S. 16. WERNER, Friedrich Hebbel. Ein Lebensbild, S. 372. 2117 Dieses und die folgenden Zitate: KUH, Biographie, Bd 1, S. 89. Kuh glaubte irrigerweise, es handle sich um Erntearbeiter Mohrs; vgl. dazu aber BIEBAU, Aus dem Jahr 1830. 2115 2116

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Wie Suhr mich umdrehte; „nu ist’ gut“. Zu den Leuten: „Der Vogt ist nicht zu Hause und der dumme Junge weiß nicht, was er thut.“ Später zu mir. „Nix für ungut, aber die Leute wären nicht anders gegangen. Sie sind besoffen, es ist Sonntag, was sollen sie hier, als saufen. [W 15, 22]

Das Vorpreschen Hebbels hatte also nichts genützt, sondern die Aggressionen nur auf ihn selbst gelenkt, so daß allein der sofortige Rückzug, verbunden mit dem Verweis auf die Unmündigkeit des ‚dummen Jungen‘ die Lage entschärfen konnte. Wie gefährlich sich solche spontanen Situationen, zumal unter Alkohleinfluß, zuspitzen konnten, deutet ein von Hebbel in direktem Anschluß zitierter anonymer Ausspruch an: „Leute laßt mich doch; ich schlag’ Euch ja todt, wenn ich in die Hitz komme“2118 – schon „während der Erntezeit des Jahres 1828 mußten zur Aufrechterhaltung der Ordnung in Wesselburen zehn Infanteristen und ein Offizier angefordert werden“.2119 Emil Kuh erzählt, daß der Schreiber anläßlich einer Prügelei mit Todesfolge den Totschläger zu befragen hatte, der während des Verhörs mit den Worten „Watt schull ik denn seggen, ik bun jo all dood“2120 selber leblos in sich zusammensackte. Noch in sein spätes Idyll von Mutter und Kind rückte der Dichter eigens die Bemerkung ein, „[d]aß die Fäuste noch immer in Wesselburen gedeihen“ [W 8, 311] und gab dazu in den Anmerkungen, nun mit leicht amüsierter Distanz, die Erläuterung: „Die Holsteiner sind als grob verschrieen, die Dithmarscher als noch gröber und die Wesselburer als die allergröbsten“ [W 8, 351]. Doch auch wer umgekehrt seine Fäuste nicht einsetzen wollte, konnte seinerseits schnell zum Gegenstand des Spotts werden – Hebbels Schnock ist dafür das beste Beispiel. Die satirische Novelle über den hünenhaften Feigling demonstriert ein Stück verkehrte Welt in Sachen traditionaler Körperkultur. Mit größerem Ernst griff Hebbel die Thematik in den Nibelungen auf, wo Siegfried den burgundischen König Gunther aufsucht, „mit Dir zu kämpfen um Dein Reich!“ [W 4, 18] Die Ordnung der Welt präsentiert sich als Hackordnung: „An der Spitze der Welt muß der Stärkste und Mächtigste stehen“.2121 Siegfrieds Begründungen sind von entwaffnender Schlichtheit:

W 15, 22. Gustav Biebau ordnete diesen Ausspruch Gamrath zu, der damit sein Verschwinden gerechtfertigt haben soll. Vgl. BIEBAU, Aus dem Jahr 1830. – Vgl. auch Vorkommnisse wie den von Pastor Heinrich Wolf 1790 berichteten Vorfall, „bei dem Hauer und Drescher einen Hausgenossen zu Tode prügeln, weil sie ihn für den Dieb einer Uhr halten“ [SIEVERS, Volkskultur und Aufklärung, S. 154]. 2119 WAGNER, Wesselburen, S. 56. Vgl. auch Hebbels Brief an Klaus Voß vom 14.7.1836 [WAB 1, 97]. 2120 KUH, Biographie, Bd 1, S. 83. Biebau ordnet dieses Verhör dem Tumult vor der Kirchspielvogtei zu. Demnach sei der Auflauf nach der Festnahme des Schlägers entstanden, weil sich bei den Erntearbeitern unter „Verdrehung des Tatbestandes“ herumgesprochen hatte, „ein Mörder sei in die Kirchspielvogtei geflüchtet. Das war Veranlassung genug, daß die, die sich eben noch die Köpfe eingeschlagen hatten, gemeinsam vor der Kirchspielvogtei Anstalten machten, […] ihn zu lynchen“. Nach der Zerstreuung der Menge fand dann das ‚Verhör‘ statt. [BIEBAU, Aus dem Jahr 1830]. 2121 STOLTE, Friedrich Hebbel. Leben und Werk, S. 66. 2118

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Ich brenne, mich zu messen mit dem Recken, Der mir mein Gut verdoppelt oder nimmt: Wär’ dies Gefühl Dir fremd? Das glaub’ ich nicht [W 4, 19].

Heinz Stolte meint, Siegfrieds Aufforderung zum Kampf sei aus einer „urtümlich germanischen Weltordnung und Wertauffassung heraus gesprochen“2122 – so als wäre Hebbel „dies Gefühl […] fremd“ gewesen. Näher lägen in diesem Zusammenhang Parallelen und Kontinuitäten, wie sie Norbert Schindler für die frühe Neuzeit aufzeigt, als Herrschaft „auf die sinnliche Demonstration ihrer sozialen Qualitäten und Qualitätsunterschiede, auf das praktische Ausagieren der ihren Trägern habituell eingeschriebenen Differenzgefühle (noch) nicht verzichten“2123 konnte. Doch auch Hebbel waren die „archaischen Riten des körperlichen Kräftemessens“2124 nicht unbekannt, und solche persönlichen Erfahrungen dürften für ihn durchaus ‚urtümlicher‘, mediävistisches Bildungsgut hingegen sekundär darauf beziehbar gewesen sein. Daß in der „Arena körperbezogener Statusrepräsentation“2125 oftmals nur ein „Hegemonietheater“ geboten wurde, paßt in die germanisch-heroische Welt, wie Stolte sie umreißt, nicht hinein. Indem sich Siegfried aus Liebe zu Kriemhild unterordnet und Gunther Vasallendienste leistet, gerate er, so Stolte „in eine schiefe, unwahre, vorgetäuschte Stellung“.2126 Doch zwischen dieser Tragik und der Komik eines Schnock besteht ein untergründiger Zusammenhang. Denn, so schreibt wiederum Schindler: „Konsens und Konflikt, Spiel und Ernst lagen noch viel dichter beieinander, waren viel weniger trennscharf, als der moderne, soziologisch geschulte Betrachter erwarten würde.“2127 Und wenn selbst die Recken Siegfried und Gunther bei Hebbel beschließen, ihre Rivalitäten „[i]m Spiele“ [W 4, 30] auszutragen und im Steinwettwurf mit anschließendem Trinkgelage zu wetteifern,2128 dann erinnert dies umso mehr an brauchtümliche Wettkämpfe im Dithmarschen des 19. Jahrhunderts, an die „Verzahnung von Spaß und Ernst in der Volkskultur“.2129 Entsprechend sind auch Pose und Affekt nicht zu trennen – man weiß nie genau, was hinter der ‚Drohkulisse‘ steckt. Auch die „vorgetäuschte Stellung“ kann daher durchaus kommunikative Funktionen besitzen. Erläuternd läßt Hebbel seinen Holofernes beiseitesprechen: „Das ist die Kunst, sich nicht auslernen zu lassen, ewig ein Geheimniß zu bleiben“ [W 1, 7]. Auch dessen Praktiken des Machterhalts sind „ein hautnahes Herrschaftstheater, dem der Coup, die gelungene Überraschungsaktion als das höchste der Gefühle g[i]lt“,2130 wie Norbert Schindler es noch für die frühe Neuzeit ausgemacht hat und wie es sich in der volkstümlichen, und besonders der Burschenkultur fortsetzte. Wenn daher Helmut Arntzen erst Nestroys Judith-Parodie Ebd., S. 65. SCHINDLER, Widerspenstige Leute, S. 247. 2124 Ebd., S. 255. 2125 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 171. 2126 STOLTE, Friedrich Hebbel. Leben und Werk, S. 66. 2127 SCHINDLER, Widerspenstige Leute, S. 247. 2128 Vgl. W 4, 20f. 2129 SCHINDLER, Widerspenstige Leute, S. 173. 2130 Ebd., S. 255. 2122 2123

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bemühen muß, um bei Hebbels Holofernes „das ‚Kalkül‘ der Gewalt“2131 aufzudecken, zeigt das, wie fremd die traditionale Mentalität dem Parodisten Nestroy wie dem Interpreten Arntzen geworden sind. Dieser meint, „der scheinbar krasse Affekt, in dem Holofernes bei Hebbel einen Hauptmann tötet, weil er sich der Judith genähert hat, wird bei Nestroy nicht allein zu einer Parodie auf Gewalt als Bramarbasiererei der Tat, […] vielmehr wird der Ausbruch hier gleichzeitig als berechnete Pose gedeutet und ihr Kalkül noch besonders dadurch betont“.2132 Doch gerade die „berechnete Pose“, der nur „scheinbar krasse Affekt“, die jäh ins Gegenteil umschlagen können, sind keine krausen, willkürlichen Erfindungen des Dramatikers, sondern bilden im Kern kulturelle Techniken ab, die ihm gut vertraut waren. So gibt es „in den Übertreibungen des Hebbelschen Holofernes“ weniger „den pubertären Machttraum“ des Autors zu entdecken, oder gar eine moderne „Technisierung“ der Gewalt, „die sie dem politisch-ökonomischen Imperialismus ausliefert“, sondern zuallererst die Problematisierung einer doppeldeutigen Verhaltensdisposition, die noch in der peer group der Burschen kollektiv verankert war. Vergleichbares bezeugt eine Anekdote, die Hebbel als Heidelberger Student seinem vormaligen Schwiegervater in spe, dem Kirchspielschreiber Voß, mitteilte: Nur meine langen Haare machten mir Anfangs Viel zu schaffen; die Heidelberger Studenten nämlich […] tragen Fracks und Titusköpfe pp und konnten sich an das lange Haar eines Menschen, das dazu allerdings nicht in den zierlichsten Locken fällt, nicht gewöhnen; es wurde mir also […] zu verstehen gegeben, daß man erwarte, ich würde es abschneiden; ich kann es in solchen Dingen am wenigsten leiden, wenn man sich in meine Sachen mischt und ließ mich natürlich nicht darauf ein. Dies setzte unangenehme Scenen, ich war aber entschlossen, lieber zum Aeußersten zu schreiten, als nachzugeben, und gewiß wär’ ein Duell – das ich in meiner Lage freilich vermeide, so lange ich’s vermeiden kann, da ich ganz und gar auf mich selbst angewiesen bin, was sich aber nicht immer vermeiden läßt – eingetreten, wenn ich nicht zufällig Gelegenheit gefunden hätte, Einigen zum Sophien-Fest durch ein Paar Verse, die mich Nichts kosteten, einen Gefallen zu thun, womit ich dann, nicht mit, nicht wider Willen, den Ruf der Originalität erlangt habe und so wieder mit aller Welt in Frieden stehe.2133

Glaubt man den Worten Hebbels, so entzündete sich an seinen langen, ungepflegten Haaren beinahe ein Kampf um Leben und Tod – vielleicht hielten die Bürgersöhne ihn für einen der „Nachfolger des Diogenes, die mit wüster Mähne, wirrem Bart […], demonstrierend und provozierend durch die Lande zogen und […] die Bürger mores lehrten“.2134 Oder war all das doch nur eine „Bramarbasiererei der Tat“? Denn so stark die Zumutungen empfunden werden, so laut die beidseitige Bereitschaft verkündet wird, lieber bis „zum Aeußersten“ zu gehen, als solche Angriffe auf das ARNTZEN, Dementi einer Tragödie, S. 410. Dieses und die folgenden Zitate: Ebd., S. 411. 2133 WAB 1, 95. Vgl. auch Hebbels Brief an Sophia Maria Voß vom 19.10.1836: „Neulich sagte mir freilich eine Dame, ich sähe schrecklich aus; dies bezog sich aber nicht auf meinen teint, sondern auf meinen Schnurrbart, der sich allerdings mit dem des besten Husaren messen kann“ [WAB 1, 121]. 2134 BARTELS, Wie Berenike auf die Vernissage kam, S. 218. 2131 2132

„Ich schlag’ Euch ja todt“

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‚Territorium‘ des eigenen Körpers zu dulden – am Ende obsiegen die gleichzeitigen Vermeidungsstrategien, die von Hebbel in einem umständlichen Einschub gestanden und sogleich wieder dementiert werden. Nur der Eindruck eines Rückziehers darf nicht entstehen, weshalb Hebbel darauf insistieren muß, daß seine Verse ihn „nichts kosteten“, daß die gütliche Einigung nur „zufällig“ und „nicht mit, nicht wider Willen“ erfolgt sei. So wahren alle Beteiligten ihr Gesicht (samt Haartracht); der Streit wird aufgelöst in „Originalität“2135 – alles nur Theater? In weitem Rückgriff auf Antike und Mittelalter schreibt August Nitschke: „Die Männer, die zu den ‚Gebildeten‘ in diesen vormodernen Gesellschaften zählen, müssen Krieger sein oder zumindest körperlich tüchtig oder geschickt.“2136 Mit Martin Beutelspacher läßt sich ergänzen: „Der sichtbar funktionierende, wohlgenährte, starke Körper ist schön. Dagegen fehlen in unseren historischen Belegen weitgehend relativ komplizierte und abstrakte Werte wie Anmut oder Grazie, die keinerlei direkte ökonomische Funktion haben“.2137 Auf Wesselburener Verhältnisse heruntergebrochen hieße das: Schön ist die kraftvolle Gewandtheit eines siegreichen Ringreiters oder der schnelle Lauf beim Loperbeer,2138 zweifelhaft dagegen die unnützen Stockschwenkungen und das gezierte Gebaren eines Kirchspielvogt Mohr. Ahmte Friedrich ihn einerseits nach, so war er andererseits auch auf dem Rücken der Pferde zuhause – und verspottete noch im Juli 1845 bei einem Ritt zum Vesuv den dänischen Gelehrten Johan Ussing: „Der Däne, ein kleines spindeldürres Kerlchen mit breitkrempigem weißen Hut sah aus, als ob er noch nie ein Pferd bestiegen hätte, um ihn zu vexiren, ritten wir, obgleich es beständig in die Höhe und über Stock und Stein ging, im rasendsten Galopp“ [WAB 1, 711]. Noch der 32jährige fällt in die ‚Vexierspiele‘ der Burschenzeit zurück, um einem „Kerlchen“ durch solche Mut- und Kraftproben ein „aktionistische[s], im Gegensatz zum stubenhockerisch erworbenen Bildungswissen stehende[s] Selbstbildnis“2139 vorzuführen – auch auf die Gefahr, daß es Kopf und Kragen kostet, daß zumindest „Lungenstiche“ [WAB 1, 711] sich einstellen. Was Norbert Schindler zur Derbheit der Volkskultur der frühen Neuzeit sagt, möchte man auch hier anführen: „Der Gedanke an die Gefahr für Leib und Leben, […] will in uns keine rechte Freude mehr über die groteske Szene aufkommen lassen. Wir halten das für einen groben, ja verantwortungslosen Scherz.“2140 Doch die Grenze des Verständnisses markiert zugleich die aus heutiger Sicht fast unüberwindlich scheinende Grenze der Epochen: So lasse die spontane „ad hoc-Disposition zum Komischen“2141 in der traditionalen Mentalität „jene Antizipation von Handlungsfolgen nicht aufkommen, die wir heute immer schon vornehmen“. Mangelnde Folgenabschätzung bewies Hebbel gleich im Anschluß an die oben geschilderte Szene, als er trotz vulkanischer Aktivität partout im Krater des Vesuvs herumklettern wollte: „Ich konnte Durch uneingeschränkte Redefreiheit und originelle Einfälle hatten sich in der Antike wiederum Diogenes und seine Anhänger ausgezeichnet. 2136 NITSCHKE, Der Typus des Gebildeten, S. 60. 2137 BEUTELSPACHER, Kultivierung bei lebendigem Leib, S. 71. 2138 Vgl. dazu MARTEN/MÄCKELMANN, Dithmarschen, S. 592. 2139 SCHINDLER, Widerspenstige Leute, S. 255. 2140 Ebd., S. 172. 2141 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 173. 2135

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mich Anfangs, so lange es noch Tag war, von der Gefährlichkeit des Unternehmens nicht überzeugen und bestand darauf, es auszuführen, aber ich fand nicht allein keinen Begleiter, sondern der mit uns gekommene Schutz-Soldat schien sich mir sogar widersetzen zu wollen“ [WAB 1, 712]. Die Pose „Standhalten-Könnens und Sich-beweisenMüssens“2142 übte Hebbel noch immer, selbst dann, wenn der zu seinem Schutz abkommandierte Soldat es wagen sollte, sich zu „widersetzen“. Doch es blieb auch hier bei der Pose, und „als später die Nacht einbrach und ich die Größe der niederfallenden Steine und die Regellosigkeit, womit der Berg sie verstreute, deutlicher bemerken konnte, mußte ich allerdings einräumen, daß ich die Vernunft nicht auf meiner Seite gehabt hatte, denn es wäre an kein Ausweichen zu denken gewesen“ [WAB 1, 712]. Zu seinem eigenen Heil wechselte Hebbel doch noch die Seite. Was blieb, waren ein paar starke Sprüche, die noch im Brief an Elise Lensing nachhallen: „[W]enn ein dreizig- oder fünfzigpfündiger Stein und ein menschlicher Schädel zusammen stoßen, pflegt der Stein eine geringere Wunde davon zu tragen, als der Schädel“ [WAB 1, 712]. Ein harter Bursche nimmt auch das mit Humor.

„Ein guter Spaß geht mir […] über Alles“ Nicht Standhalten um jeden Preis ist Sache der traditionalen Mentalität, und keineswegs ist das „Gesetz der Ehre […] so unbedingt verpflichtend wie für die Helden der germanischen Vorzeit“,2143 wie etwa Ilse Münch am Beispiel Meister Antons behauptet. Dessen „Starrheit und Unerbittlichkeit“ bedeuten eben nicht den „höchsten Wert“, sondern tragische Verhärtung. Demgegenüber charakterisieren der geschickte Rückzieher, das Auslachen der Mächtigeren aus sicherer Position, überhaupt „eine gewisse Fertigkeit in jenen subversiven Formen der Travestie“ mit „symbolischer Gegenwirkung“2144 die Volkskultur und in besonderem Maß die Burschenkultur. Wenn der Körper „im Mittelpunkt der subjektiven wie der objektiven Befindlichkeit“2145 steht, so bildet das Lachen „noch einen integrierten Bestandteil dieser Körpersprache.“ In seiner Studie über Literatur und Karneval spricht Michail Bachtin in Bezug auf das Mittelalter von einer regelrechten „Lachkultur“.2146 Seine Erkenntnisse lassen sich im Prinzip auf die traditionale Mentalität insgesamt übertragen: Das Lachen spart das Hohe nicht nur nicht aus – es richtet sich sogar vornehmlich auf dieses Hohe. […] Das Lachen baut sich gleichsam seine Gegenwelt gegen die offizielle Welt, seine Gegenkirche gegen die offizielle Kirche, seinen Gegenstaat gegen den offiziellen Staat. […] Bezeichnenderweise ist selbst noch die kleinste mittelalterliche Parodie so aufgebaut, als wäre sie das Bruchstück einer ganzen und einigen Welt des Komischen. […] Überall finden wir

Ebd., S. 229. Dieses und die folgenden Zitate: MÜNCH, Die Tragik des germanischen Wesens, S. 360. 2144 SCHINDLER, Widerspenstige Leute, S. 220. 2145 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 167f. 2146 Dieses und die folgenden Zitate: BACHTIN, Literatur und Karneval, S. 32. 2142 2143

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den gleichen Charakter des Lachens und seinen Zusammenhang mit der materiall-leiblichen Welt.

Der „universelle Charakter“ des Lachens ergibt sich aus seiner Verbindung „mit der nichtoffiziellen Wahrheit des Volkes“,2147 denn „Macht, Gewalt, Autorität sprechen niemals die Sprache des Lachens“. Das bedeutet aber auch, daß die „Freiheit“2148 des Lachens stark reglementiert ist. Es konzentriert sich auf Freiräume, die Bachtin zeitlich in erster Linie an den Festtagen angesiedelt sieht: „Der Feiertag setzte gleichsam das ganze offizielle System mit allen seinen Verboten und hierarchischen Schranken zeitweilig außer Kraft. Für kurze Zeit trat das Leben aus seiner üblichen, gesetzlich festgelegten und geheiligten Bahn und betrat den Bereich der utopischen Freiheit.“ Darum empfand man im Lachen, im Unterschied zu heute, „besonders scharf den Sieg über die Furcht“2149 – über die Furcht „vor der Macht Gottes und vor der Macht der Menschen, vor den autoritären Geboten und Verboten, vor Tod und Vergeltung im Jenseits, vor der Hölle“. Weil in dieser Lachkultur „stets die besiegte Furcht gegenwärtig“ ist, trägt sie nicht so sehr die Merkmale versöhnlichen Humors, als vielmehr grotesker Zwiespältigkeit – „in der Form des abstoßend Komischen, in der Form umgestülpter Symbole der Macht und Gewalt, in den komischen Gestaltungen des Todes, in der fröhlichen Zerstückelung. Alles Bedrohliche wird ins Komische gekehrt.“ Doch zugleich hält es Bachtin für „falsch anzunehmen, der mittelalterliche Ernst hätte dem Volke überhaupt nicht imponiert. […] Wir wissen, daß die Menschen, die ungebärdige Parodien auf die heiligen Texte und den Kirchenkult verfaßten, diesen Kult akzeptierten und ihm dienten.“2150 Die Menschen hatten, so lautet Bachtins Erkenntnis, „an zwei Leben gleichmäßig teil: am offiziellen Leben und am Karnevalsleben. Ihre Existenz war von zwei Weltaspekten bestimmt: vom Aspekt der Frömmigkeit und des Ernstes und vom Aspekt des Lachens. Die beiden Aspekte koexistierten in ihrem Bewußtsein.“2151 Beide Aspekte koexistierten ebenfalls im Bewußtsein des jungen Friedrich Hebbel: Es war ihm ernst mit der Teilnahme am „offiziellen Leben“ einschließlich der konsequenten Nachahmung des Kirchspielvogts Mohr. Doch daneben führte er ein – mit Bachtin zu sprechen – „Karnevalsleben“, das Teil der volkskulturellen Mentalität war, sich insbesondere mit der Burschenkultur verband und keineswegs nur an Festtagen seine Höhepunkte erreichte, sondern vielerlei Anlässe nutzte, sich zur Geltung zu bringen. So steht dem um Würde bemühten Schreiber des Kirchspielvogts ein ganz anderer „Krischan“ Hebbel gegenüber, von dem ein Wesselburener Zeitgenosse Klaus Groth erzählte: „Daß mir diese beiden jungen Leute [Barbeck und Hebbel] von vornherein besonders gefielen, kann ich nicht sagen. Hebbel kam mir vor wie ein Sonderling, der in seinem Auftreten und seinen sonderbaren Manieren sich fortwährend lächerlich machte; von Charakterfestigkeit und Ernst war keine Spur an ihm vor-

Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 35. Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 33. 2149 Dieses und die folgenden Zitate: Ebd., S. 35f. 2150 Ebd., S. 39f. 2151 Ebd., S. 41. 2147 2148

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handen.“2152 Insbesondere mißfiel dem Beobachter, daß Hebbel „nach Belieben über Barbeck disponierte, ihn gern foppte und seine Freude daran hatte, Barbeck mit seinem geringen Wissen in Verlegenheit zu führen und zu zeigen, wie sehr er seinen Freund überrage.“ Groth wies die Vorwürfe gegen Hebbel zurück: „Viel Charakterfestigkeit darf man nun wohl von einem sechszehn-, siebzehnjährigen Knaben überhaupt nicht erwarten“, meinte er zunächst, um bereits im nächsten Halbsatz bezeichnende Einschränkungen vorzunehmen: „wenigstens nicht im Verkehr mit anderen knabenhaften jungen Leuten in Freistunden, bei Besuchen und Spaziergängen“. Den ‚Ausnahmezuständen‘ werden von Groth ganz bestimmte Räume zugewiesen und zwar in zeitlicher („in Freistunden“) wie in sozialer Hinsicht („mit anderen knabenhaften jungen Leuten“). Deshalb handelt es sich aber auch nicht einfach um unvermeidliche pubertäre Unreife, sondern um einen kulturellen Code, den Hebbel durchaus wechseln konnte, wie Groth wußte. Denn er fand Hebbels ‚lächerliches‘ Verhalten „ganz in der Ordnung, um so mehr, als der Knabe schon in seinem Amte ein kleiner fleißiger, ordentlicher Geschäftsmann war“. In Emil Kuhs Schilderung Barbecks als „des Prügelknaben […], auf den der Kirchspielschreiber [sic!] allen Mutwillen und alle Possen ablud“,2153 kommt noch deutlicher der Spiel- bzw. Rollencharakter des kommunikativen Verhaltens zum Ausdruck: „Hebbel bewegte sich bei dergleichen Anlässen so recht in seinem Fahrwasser, indem er auf die ortwüchsigen Meinungen und Neigungen einzugehen und allerhand Späße und Witze zur allgemeinen Ergötzung beizusteuern verstand. Zu diesen Späßen zählten wohl auch die auf Barbeck gemünzten Scherze, dem er den Übernamen Johann mit’n Buckel beigelegt hatte.“2154 Bestimmte Anlässe und allgemeine Ergötzung deuten auf den kollektiven Rahmen dieser Späße; der Spitzname Johanns auf Körperorientierung und Inversionschema: „Johann mit’n Buckel“ war in Wirklichkeit lang aufgeschossen. Daß Barbeck „mit seinem Schicksale zufrieden“2155 gewesen sein soll und sich „als Zielscheibe Hebbels beinahe geehrt fühlte“, ist ein weiterer Hinweis auf die peer group als eigentlichen Bezugspunkt, die ihm eine ‚minderwertige‘ Rolle zuwies. So trifft auf ihn zu, was Erving Goffman über die stigmatisierte Person schreibt: „In vielen eng-verzahnten Gruppen und Gemeinschaften gibt es Beispiele dafür, daß ein Mitglied entweder im Tun oder in den Attributen, die es besitzt, oder in beidem abweicht und als Konsequenz hierfür ein bestimmtes Rollenspiel übertragen bekommt, welches es ein Symbol der Gruppe und einen Darsteller bestimmter clownartiger Funktionen sein läßt, auch wenn ihm der Respekt, der vollgültigen Mitgliedern der Gruppe gewährt wird, versagt bleibt“.2156 Barbeck war augenscheinlich damit „zufrieden“, zumindest bedingt akzeptiert zu sein, und trug das Seine zur Erfüllung dieser Rolle bei: „Charakteristischerweise hört dies Individuum auf“, so Goffman, das typische „Distanz-Spiel zu spielen, beliebig nähert es sich einem und man sich ihm.“ Speziell Hebbel gegenüber gab Barbeck die Distanz auf und war, wie Kuh meinte, Dieses und die folgenden Zitate: GROTH, Friedrich Hebbels Jugendjahre, S. 127f. KUH, Biographie, Bd 1, S. 86. 2154 Ebd., S. 90. 2155 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 86. 2156 Dieses und das folgende Zitat: GOFFMAN, Stigma, S. 173. 2152 2153

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„ernstlich bemüht, die Eigenheiten unseres Freundes nachzuahmen.“2157 Daß diese Art der Gruppendynamik nicht an die Pubertät gebunden war, geht nicht zuletzt daraus hervor, daß Hebbel sich noch in Hamburg einen Trabanten mit gleicher Funktion zulegte, wie Hermann Krumm meint: „Schneidler scheint, wie in Wesselburen sein Freund Johann Nicolaus Barbeck, eine Zielscheibe von Hebbels Witz gewesen zu sein“.2158 Barbeck blieb nicht der einzige, dem Hebbel einen Spitznamen verlieh. Paul Bornstein schreibt: „Die Mehrzahl der Zeugnisse aus seinen Jugendtagen stimmen darin überein, daß er in Eulenspiegeleien und Übernamen, welche er diesem und jenem anzuhängen pflegte, überaus erfinderisch gewesen“ [HP I, 13]. Es wurde bereits erwähnt, daß er sich selbst als „Eugen“ – ‚der Wohlgeborene‘ – titulieren ließ, als Literat unter dem Pseudonym „Yorick-Sterne-Monarch, der alte“ firmierte, während er Jakob Franz „Hahn-Franz“ nannte, nach dem Mädchennamen seiner Mutter [DjH I, 263]. Den Wesselburener Hilfslehrer Feddersen wiederum bezeichnete Hebbel (laut)malerisch als „Magister Mücke“ [WAB 1, 30], den Amtsdiener Carl Heinrich Gamrath despektierlich als „Gameratte“ [T 301]. Solche Namenserfindungen als individuelle Marotte Hebbels zu bewerten, würde aber in die Irre führen: Das „Hänseln“,2159 die „zahlreich im Lande bekannten Vexierspiele“, die „zahlreichen Spottnamen, -lieder, -schwänke und -sagen“ zeugen von einer allseits geübten Praxis. Kann der Spitzname als Kurzform des Witzes gelten, so war er im Rahmen der traditionalen Kultur zugleich mehr: „noch kein Zierat, sondern wesentliches Identifikationsmerkmal einer Person“.2160 In dieser Funktion schlug er „noch so manche scharfe Klinge gerade auch gegen diejenigen, die darüber nicht mehr lachen konnten“. Regelrecht scharf reagierte der Ordinger Pastor Dieckmann, als Hebbel ihn und seinen Schützling P. C. Dethlefsen in der leicht durchschaubaren Einkleidung einer Fabel als „Esel“ [DjH II, 99] apostrophierte: Statt sich weiter auf den schlagfertigen Austausch von Grobheiten einzulassen, drohte er mit dem Richter – also wohl mit einer Beleidigungsklage, sollte man ihn fortan nicht in Ruhe lassen.2161 Der archaische Wettstreit um die treffendste Beleidigung wurde hier abgebrochen und auf modern-‚zivile‘ Weise zuendegebracht. Auch die Honoratioren seines Heimatorts entgingen Hebbels Spott nicht. „Über höher gestellte Wesselburner Persönlichkeiten sich lustig machen, war ihm ein besonderes Vergnügen. Unter andern diente ihm der alte damalige Hauptpastor Meyn als Zielscheibe seines Witzes. Er besuchte sogar dessen Predigten ebenso häufig, um sich an seinen originellen, aber geistlosen Vorträgen zu ergötzen als zu erbauen“,2162 ließ sich Klaus Groth berichten. In Emil Kuhs Biographie klingt die entprechende Passage KUH, Biographie, Bd 1, S. 86. Anmerkung von Hermann Krumm in: HEBBEL, Sämtliche Werke. Vollständige Ausgabe, Bd 13, S. 548f. Vgl. Hebbels vernichtende Kritik zu dem Aufsatz: „über Menschenkenntniß“ von Schneidler [W 9, 66f.], sowie seinen Verweis auf Schneidlers Charakter als Stoff für ein „Lustspiel“ [T 4152]. 2159 Dieses und die folgenden Zitate: MEYER, Das Brauchtum, S. 76f. 2160 Dieses und das folgende Zitat: SCHINDLER, Widerspenstige Leute, S. 171f. 2161 Vgl. DjH II, 238. 2162 GROTH, Friedrich Hebbels Jugendjahre, S. 130. 2157 2158

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dagegen bitter: „Hebbel haßte ihn und besuchte an jenen Sonntagen, wenn der heilige Mann predigte, die Kirche, um sich an dem ebenso wunderlichen als geistlosen Vortrage desselben zu ergötzen und ihm dann die Früchte dieser Ergötzung im Dithmarschen [sic!] und Eiderstedter Boten aufzutischen“.2163 Die nachgeschobene Erläuterung Kuhs folgt dem sattsam bekannten Muster: „Keine der Standespersonen Wesselburens, wenn wir den biederen Kirchspielschreiber Voß ausnehmen, hat sich um Hebbels Entwicklung irgendwie verdient gemacht“.2164 Die angebliche soziale Verantwortung gegenüber Hebbel betrifft nun nicht mehr nur Mohr einerseits und die peer group andererseits, sie wird von Kuh auf die Honoratiorenschaft des Ortes insgesamt ausgedehnt. Tatsächlich war vor Hebbels ‚Scherzen‘ niemand sicher – weder der Pastor Meyn und der Kirchspielvogt Mohr, noch der Großbauer Paulsen vom Klingberghof, nicht einmal die besten Freunde. Darum aber greift das Erklärungsmuster vom individuellen Aufbegehren gegen ungerechte Zurücksetzung hier ebenso wenig wie die Annahme pubertärer Unreife. Auch im Haushalt des Kirchspielvogts verhielt Hebbel sich keineswegs nur konform mit den Normen der Elitekultur. Gewiß: Wenn Mohrs Stiefvater aus Neuenkirchen zu Besuch kam, dann sprang Friedrich „jedesmal wie ein Maikätzchen an den Kutschenschlag und half dem Papo aussteigen“.2165 Doch solch vorbildliches Verhalten, das jedes Mal mit einem „Dritthalbschillingstück“ vergolten wurde, stellt nur den einen Pol im Rollenverhalten des Schreibers dar. Der Gegenpol orientiert sich an der Lachkultur der peer group. Klaus Groth erzählt: Der junge Hebbel übte seine Neckereien besonders an dem etwas trägen und harthörigen Kutscher des Kirchspielvogts Mohr, namens Jakob Gravert, einem Vetter seines Herrn. […] Kutscher Gravert liebte den Mittagsschlaf, und Hebbel liebte es, ihm den Genuß desselben auf allerlei Art schwierig zu machen. Man erzählt sich, daß er ihn einmal an seinen Ohrringen im Bette festgebunden habe. Danach fand derselbe in dem Chaisenwagen seines Herrn einen ruhigen Platz, bis Hebbel ihn auch hier entdeckte und ihm die Türen von außen verriegelte. Nun wurde Jakob vergeblich den ganzen Nachmittag gesucht und abends bei seiner Erlösung nicht wenig verlacht.2166

Mögen diese Streiche aus ‚aufgeklärter‘ Sicht kindisch wirken, Friedrich hatte offenbar die Lacher des ‚ganzen Hauses‘ auf seiner Seite, indem er die Trägheit des Kutschers wirkungsvoll mit den Mitteln der Inversion zur Schau stellte: Was den Mann mit dem Bett ‚verband‘, störte bei der leisesten Bewegung empfindlich den Schlaf; das ungestörte Plätzchen im Wagen wurde unversehens zum Gefängnis, der Fahrer zum Insassen, der nicht mehr fortkam, und der Rückzug in die Stille endet im lauten Gelächter der Anderen. Auch Mohr selbst blieb vor Friedrichs Streichen nicht verschont, die sich mitunter wie der Nukleus einer Max und Moritz-Geschichte ausnehmen: „So verzehrte er einmal KUH, Biographie, Bd 1, S. 97. Vgl. dazu Bornstein: „Ihm gelten d. 8. Stück der Einfälle u. d. 3. d[e]r Neuen Flocken; vgl. Brief an Gehlsen v. 9. Okt. 1832“ [DjH. I, 273]. 2164 KUH, Biographie, Bd 1, S. 97. 2165 Ebd., S. 78. 2166 GROTH, Friedrich Hebbels Jugendjahre, S. 141. 2163

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zwei Rebhühner, welche für Mohr gekauft waren, nächtlicherweile, nachdem er lange geschrieben, mit großem Appetit und sah andern Tags gelassen zu, wie nach dem Dieb geforscht wurde“.2167 Im Hause des Kirchspielvogts besaß das Delikt nicht nur eine moralische Dimension, wie in den aufklärerischen Näscher-Geschichten, sondern auch eine rechtliche. Denn es ging „um die Eigentumsfrage, den tragenden Pfeiler bürgerlicher Ökonomie und Moral“,2168 woran hier gerüttelt wurde. Doch nächtens galten offenbar andere Gesetze, und so verfolgte der Bursche anderntags „gelassen“ die Fahndung; glaubt man Biebau, dann beteiligte er sich gar „als eifrigster an der Suche nach dem Dieb“.2169 Kuhs Erklärung für dieses Verhalten – „Im übrigen schlang sich durch die Gelehrigkeit des reifenden Hebbel noch häufig genug ein Faden knabenhafter Unbesonnenheit und Schelmerei“2170 – klingt reichlich gewunden. Hebbel handelte wohl kaum aus „Unbesonnenheit“; vielmehr stand er mit beiden Beinen fest auf dem Boden – zweier gegensätzlicher ‚Kulturen‘. Vorsichtiger ging Hebbel zu Werke, als er sich über den von Mohrs späterem Schwiegervater Christian Peter Bruhn angelegten Ziergarten ausließ. Der mit Grotte und Teich ausgestattete „Park“ inmitten der Gemüsebeete der Wesselburener erregte so nachhaltig Aufsehen, daß man noch im 20. Jahrhundert von dem „berühmten Lustgarten“2171 erzählte. Oft saß auch Hebbel „mit seinem Buche in dem der Kirchspielvogtei vis-à-vis gelegenen, durch die Straße von ihr getrennten Gärtchen, allen Ablenkungen unzugänglich“2172 – ein würdiger Nutzer dieses locus amoenus in bildungsbürgerlichen Mußestunden. Doch er konnte auch anders: Im Dithmarser und Eiderstedter Boten vom 28. Juli 1831 ließ er ein simpel gereimtes Gedicht abdrucken, mit dem er sich respektlos über die in diesem „Park zu W*“ gehegte und gepflegte bürgerliche Gartenkultur lustig machte: Ueberschrift auf dem Park zu W*, der im sehr verjüngten Maaßstabe angelegt ist. Es wird ein Jeder sehr gebeten, Die Berge hier nicht flach zu treten; Auch laß man keine Hunde laufen, Damit sie nicht den See aussaufen; So indiskret wird Keyner seyn, Und stecken einen Felsen ein.2173

Auch diese Persiflage einer Besucherordnung bezieht ihre komische Wirkung aus dem Prinzip der Verkehrung: aus der Vertauschung der Maßstäblichkeit, zu der die Kleinheit Vorschub leistet; aus der Einkleidung des absurden Inhalts in eine amtliche Form; KUH, Biographie, Bd 1, S. 81. RICHTER, Das fremde Kind, S. 64. 2169 BIEBAU, Der Kirchspielvogt Mohr, S. 172. 2170 KUH, Biographie, Bd 1, S. 81. 2171 Gustav BIEBAU an Heinrich Claussen, 20.7.1955. Original im Hebbel-Museum. Vgl. SCHOLZ, Gartenlust in Lilliput. 2172 KUH, Biographie, Bd 1, S. 84. 2173 Königlich privilegirter Dithmarser und Eiderstedter Bote, 28.6.1831, Sp. 480. 2167 2168

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schließlich aus der Kontrastierung der Stilebenen: Gegenüber der höflichen Bitte, nicht „indiskret“ zu sein, wirkt das vulgäre „aussaufen“ geradezu ausfällig. Die rauhen Burschen lassen grüßen: Wem sonst sollte der Unfug einfallen, die „Berge hier“ ungestüm „flach zu treten“, und die „Felsen“ der Grotte zu klauen? Dabei trieb Hebbel ein doppeltes Spiel, indem er sich ironisch zum Sprachrohr des Gartenbesitzers machte bzw. als Verfasser einer quasi-amtlichen Ordnung seine Rolle als Schreiber des Kirchspielvogts persiflierend ‚erfüllte‘. Gleichzeitig war er vorsichtig genug, das Gedicht anonym erscheinen zu lassen, um keine Angriffsfläche zu bieten.2174 Was Norbert Schindler über die frühneuzeitlichen „Angehörigen der aufstrebenden humanistischreformatorischen Bildungsschichten, die als erste den schwebenden Konsensus der Lachenden aufkündigten und ihre neuerworbene ständische Würde zu einer durch und durch ernsten Angelegenheit erklärten“2175 schreibt, gilt mit einigen Abstrichen immer noch für die Wesselburener Honoratioren um 1800: „Ihr Statuszugewinn ist noch zu frisch und zu wenig im Habitus verankert, als daß sie es sich leisten könnten, ihn schon wieder in den unsicheren Konjunkturen der hegemonialen Geselligkeit aufs Spiel zu setzen.“ Ihre Distanzierung von einer „körperzentrierten Lebensweise, der die sinnliche Wahrnehmung als wesentlicher Erfahrungsmodus galt“,2176 und von der „grobianischen Lachkultur“, machte sie gerade zur passenden Zielscheibe. Auch vor der bewußten Ironisierung seiner selbst machte Hebbel nicht halt, wie eine bezeichnende, in seiner Schreibstube spielende Szene zeigt: Eines Tages kam ein Bekannter Hebbels in Geschäften auf die Kirchspielvogtei. Hebbel hatte gerade Monarch auf einem Stuhle vor den Schreibtisch postiert, dem Hunde eine Feder hinter dem Ohre befestigt, ihm eine alte Brille aufgesetzt und das Corpus juris vor ihm aufgeschlagen. Indem der Besuchende eintritt, steht Hebbel demonstrierend vor dem Tiere. Lachend ruft jener: „Christian Friedrich, was hast du da vor?“ worauf dieser erwidert: „Mein ehrwürdiger Yorik-Sterne-Monarch wiederholt das Corpus juris und gedenkt demnächst zu promovieren; er ist wahrlich dem Ziele weit näher als ich dem meinigen.“2177

Demonstrativ benutzte Hebbel hier „Anleihen aus dem Bereich der Gelehrten- und der Herrschaftskultur“.2178 Dennoch, so läßt sich mit Wolfgang Kaschuba feststellen, „beinhalten auch sie populäre Grundmuster, insofern auch bei ihnen das Moment des sinnlichen Sich-Auslebens, der Unordnung, der ‚kleinen Anarchie‘ immer wieder sichtbar wird.“ Hebbel inszenierte ein ‚lebendes Bild‘ in Form eines Adynatons, einer Natur-Unmöglichkeit.2179 Zusätzlich steigerte er die Unmöglichkeit szenisch zu einem Stück ‚verkehrte Welt‘, in dem ausgerechnet ein ‚dummer‘ – obschon gelehriger –

Diese Interpretation auf dem Hintergrund der Burschenkultur ergänzt meine Aussagen in Gartenlust in Lilliput, S. 59f. Zur Motivik von See und Gebirge in Minaturformat vgl. zusätzlich W 6, 104f. 2175 Dieses und das folgende Zitat: SCHINDLER, Widerspenstige Leute, S. 168. 2176 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 169. 2177 HP I, 13. Weitere Scherze dieser Art werden angedeutet in T 4438. 2178 Dieses und das folgende Zitat: KASCHUBA, Ritual und Fest, S. 258. 2179 Dabei führen „Tiere menschliche Handlungen aus und ahmen in Manier des ‚Gestiefelten Katers’ menschliche Posen nach“ [KUPER, Zur Semiotik der Inversion, S. 11]. 2174

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Hund als Gelehrter präsentiert wurde.2180 Eine weitere Umkehrung trat hinzu: Indem „Yorik-Sterne-Monarch“ ganz konkret Hebbels Platz einnahm, wurde ironisch herausgestellt, was dieser eben nicht war: ein Jurist, der „gedenkt, demnächst zu promovieren“. Hebbels desavouierte so seine eigene Ambitionen auf eine Nachahmung Mohrs und gab sie dem Gelächter des Freundes preis. Zugleich erwies er, der den Namen auch als Autor-Pseudonym führte, sich als „zynisch“ im Wortsinn, als „hündisch; bedürfnislos wie ein Hund“2181 in wortwörtlichem Sinne. All dieses bedeutet freilich noch nicht, daß Hebbel von dem parodistisch zur Schau gestellten „Ziele“ eines Doctor iuris abließ. Durch die mehrfache Verkehrung wurde vielmehr die Wirklichkeit zum (Un-)Möglichen hin geöffnet, wurde Hebbels eigenes Rollenspiel vieldeutig. Worüber sollte man nun genau lachen: Über den Hund als Gelehrten? Über den Schreiber als armen Hund? Über Hebbel als Möchtegern-Juristen? Oder mit einem Zyniker über seine Verächter? Alles zugleich hat in dem ‚lebenden Bild‘ des Hundes nebeneinander Platz, es vereinigt Kultur wie Gegenkultur, Scherz und Ernst zu einem widerspruchsvollen Ganzen. So darf man sich den jungen Hebbel weder nur als das strebsame Abziehbild des Kirchspielvogts vorstellen, noch als enttäuschten und zurückgezogenen Griesgram – ein Image, gegen das der Dichter sich noch in seinem letzten Lebensjahr entschieden zur Wehr setzte, als er Klaus Groth gegenüber seinen Gesichtsausdruck auf einem Porträt relativierte: „[I]ch sehe keineswegs so bärbeißig aus, und kann es wohl auch nicht füglich, denn ein guter Spaß geht mir noch jetzt, wie in Wesselburen, über Alles“ [WAB 4, 561]. Ähnlich hatte er viel früher schon Charlotte Rousseau brieflich versichert: „Ich bin im Leben gar nicht ein so mißgestimmtes Instrument und gebe oft genug einen lustigen oder muthwilligen Ton“ [WAB 1, 374]. Interessant ist in diesem Zusammenhang, welche Bedeutung Hebbel selber seinen melancholischen Stimmungen gab: Er sei „im Leben“ gar nicht so, „[a]ber dem Papier gegenüber werde ich selbst in den besten Stunden sogleich ein Anderer und meine Gedanken nehmen die Farbe meiner Dinte an. Dies kommt daher, weil ich, statt mich in die Welt zu verbreiten, immer in mein Inneres hinab steige.“2182 Er war sich nicht nur bewußt, daß das hypochondrische Hinabsteigen in ein von der Außenwelt abgeschlosssenes „Inneres“ ins Dunkle führt, sondern er wußte auch um die mediale Künstlichkeit und Gemachtheit dieses Vorgangs, die er metaphorisch mit dem Abfärben der schwarzen Der Hund war als Sujet für das Verkehrte-Welt-Spiel überhaupt sehr beliebt. Auf einem Neuruppiner Bilderbogen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dient er auf drei von 24 Bildern als Motiv: „Der Hund liegt im Bette und der Herr daneben“; „Der Hund speist, der Herr frißt Knochen“; „Der Mann liegt im Hundehaus, und der Hund geht spazieren“ [[Neuruppiner Bilderbogen], Nr. 281, Die verkehrte Welt]. 2181 DROSDOWSKI, Duden. Etymologie, S. 789. Damit spielte er indirekt auf den antiken „Bürgerschreck“ [BARTELS, Wie Berenike auf die Vernissage kam, S. 217] Diogenes an, der sich selbst als „Hund“ bezeichnen ließ, ein entsprechendes Verhalten an den Tag legte, und dessen Grabmal von einem marmornen Hund geschmückt wurde. Zu „Monarch“ als Hundename vgl. Kuh: „Den dritten Namen hatte ihm vermutlich ein Leser des Voß’schen Idylls: Der siebzigste Geburtstag, gegeben, worin ein Monarch mit zum Haushalte gehört“ [KUH, Biographie, Bd 1, S. 85]. 2182 WAB 1, 374. Vgl. dazu auch: „Du erhältst treue Abdrücke meiner Seele, was freilich schlimm ist, da mein Inneres nur Sonnenfinsternisse kennt“ [WAB 1, 182]; vgl. ferner T 516. 2180

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Tinte auf die Gedanken beschrieb. In Wesselburen wären solche Anwandlungen unfehlbar negativ sanktioniert worden: „Sonderlinge und Eigenbrödler verfielen der Burschenjustiz“.2183 Als jemand, der im dichten Netzwerk der Dorfgesellschaft aufwuchs, war ihm das moderne, auf sich allein gestellte Ich noch nichts Selbstverständliches. Für Hebbel war das Ich noch keine ‚Welt‘ für sich, sondern im Gegenteil dazu da, sich „in die Welt zu verbreiten“ – und darum war er selber „im Leben“ so ganz anders, als der bloßen Papierform nach. Tatsächlich war auch noch der Hebbel der Wiener Zeit für seine speziellen Scherze bekannt. Dabei lief der „typisch hebbelische Scherz“, wie Paul Bornstein meinte, „immer auf das hinaus, was wir vulgär ‚uzen‘ nennen“.2184 Sein gleichaltriger Landsmann Klaus Groth verstand diese Dialektik noch aus Hebbels Dithmarscher Herkunft heraus. Die Inversionsriten des Scherzes waren für ihn noch unmittelbarer Bestandteil des Alltagslebens: „Harmlose Neckerei liegt dem Ditmarscher gar nicht fern […]. Je abgeschlossener die Lebensweise, um so lustiger dieses Treiben, das die leeren Sonntage, die langen Winterabende füllt und der Überkraft der Jugend zur Ableitung dient. Rätsel und Spiele gründen sich darauf, Hänseleien teilweise in hergebrachter Form, […] oder geniale Erfindungen und augenblickliche Einfälle, Schauergeschichten, Umzüge, Vermummungen waren an der Tagesordnung. Dergleichen verschwindet natürlich wie die Märchenwelt bei einem inhaltreicheren Leben und lebhafteren Verkehr“.2185 In diesen Kosmos wußte er gerade auch Hebbels so zwiespältig erscheinendes Wesen einzubinden: „Charakteristisch für uns ist die Jugendfreudigkeit in solchem Treiben bei einem Manne, der im Ganzen tief ernst, oft dunkel und gewaltsam erschienen ist, dem das Dämonische näher zu liegen schien als der Scherz. Eben deshalb“, fand es Groth wichtig, auch „von Hebbels neckischem Verkehr mit anderen ‚tölpelhaften‘ Existenzen“2186 Kunde zu geben. Wo Groth im Rückblick auf „die ganze alte idyllische Zeit“ allenfalls verklärte, nahm Emil Kuh eine tiefgreifende Umdeutung vor. Er hielt den Wesselburener Zeitgenossen indirekt Ignoranz gegenüber Hebbels wahrem Wesen vor: Niemand aber in seiner Umgebung […] hat die Faser des Unheimlichen in ihm wahrgenommen, niemand den schmerzlichen Widerspruch seiner inneren Zustände zu der armseligen äußeren Existenz. Alle nahmen sie ihn mehr oder minder als einen geistig sich hervortuenden, absonderlichen, lebhaft angeregten wie anregenden Menschen und […] jeder von ihnen legte auf seine Gutmütigkeit das größte Gewicht. Den gequälten, ungestüm begehrenden, tief leidenden Menschen hat keiner gesehen.2187

In Kuhs Augen hat nicht mehr der Einzelne die Aufgabe, „sich in die Welt zu verbreiten“, sondern es ist die Bringschuld der „Umgebung“, das Individuum in seiner Besonderheit zu erkennen. Betrachtete Hebbel selbst seine „inneren Zustände“ noch mit gehöriger Skepsis, so substantialisiert Kuh diese, indem er sie einer nur noch MEYER, Das Brauchtum, S. 72. HP I, 620. Dort auch Beispiele. Hervorhebung C. S. 2185 GROTH, Friedrich Hebbels Jugendjahre, S. 140. 2186 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 139f. 2187 KUH, Biographie, Bd 1, S. 92. 2183 2184

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„armseligen äußeren Existenz“ gegenüberstellt, und mythisiert sie, indem er sie in einem Bereich des „Unheimlichen“ verortet. So boten Kuhs subtile Verschiebungen die Möglichkeit, den Dichter als unverstandenen, ernsten und „tief leidenden Menschen“, als unzweideutig moderne Ausnahmeerscheinung zu präsentieren. Entsprechend nimmt in der Biographik das Verständnis gegenüber der Lachkultur fortwährend ab. Bei Klaus Groth klingt es vorerst nur wie eine pflichtschuldige Reverenz an den aufkommenden Dichterkult um Hebbel, wenn er schreibt, man dürfe „die vielleicht etwas formlosen Ausbrüche des Bewußtseins seiner geistigen Überlegenheit dem lange unterdrückten Genius gewiß gerne gönnen.“2188 Aus größerer Distanz interpretiert der Wiener Emil Kuh Hebbels Teilhabe an der traditionalen Lachkultur immerhin noch als landsmannschaftliche Besonderheit des Dithmarschers: „Unser Friedrich brauchte nicht weit zu suchen, um allerlei unschuldige Kurzweil zu finden, denn diese ergab sich in dem engen Wesselburen, das alle Familienvorgänge auf die Straße hinaus trug und wo der Born volkstümlicher, ja derber Laune noch so frisch sprudelte, ganz von selbst. Die Wesselburener haben einen Zusatz des Vergnüglichen, wohl auch ein Plus an Grobheit“2189 – doch gerade dieses „Plus“ sperrt sich gegen Kuhs Tendenz zur idyllisierenden Weichzeichnung. Umso deutlicher tritt bei ihm dann die moralische Bewertung hervor: „Die meisten uns überlieferten Jugendstreiche Hebbels, welche auf die dem Dithmarscher eigentümliche Neckerei gegründet sind, haben einen Anflug betrübsamen Übermutes, hin und wieder den Stich des gewalttätig Albernen.“2190 Hebbels Jugendfreund Reiff war um eine besonders diplomatische Ausdrucksweise bemüht, als er nach vielen Jahrzehnten um Auskunft ersucht wurde. Friedrich sei „ihm als ein Mensch erschienen, dem ein gewisses Gegen-den-Strom-Schwimmen Natur war“ [HP I, 14]. Die konkreten Mentalitätsbrüche, die der späteren Generation kaum mehr vermittelbar scheinen, werden jetzt ahistorisch der „Natur“ zugeordnet. Vollends versteht Emil Kuh die traditionale Welt nicht mehr, wenn er in der „bitteren Rüpelhaftigkeit“ 2191 Hebbels eine fast schon psychopathologische „Neigung zu Unfug und Schelmerei, womit er unbewußt dem Drang nach Selbstbefreiung Luft zu machen suchte“, erkennt. Für Karl Strecker ist unbegreiflich, wie in den Briefen des 18jährigen so „viel übermütige Laune und Humor“ 2192 stecken kann – und „inzwischen plätschert seine ernstgemeinte Lyrik trübe in dem Dithmarser- und Eiderstädter Boten weiter.“ Häufiger jedoch spielt die komische Seite Hebbels für Biographen wie Literaturwissenschaftler kaum mehr eine Rolle – Arno Scheunerts wirkmächtige Formulierung von Hebbels „Pantragismus“ mochte das Ihrige dazu beigetragen haben. Schon Hebbel selbst sah sich genötigt, dem bieder-ernsthaft-sentimentalen Zeitgeist des neuen Bürgertums entgegenzutreten. Demonstrativ berief er sich dabei auf den klassischen Dichter schlechthin – auf Goethe:

GROTH, Friedrich Hebbels Jugendjahre, S. 128. KUH, Biographie, Bd 1, S. 59. 2190 Ebd., S. 91. 2191 Dieses und das folgende Zitat: KUH, Biographie, Bd 1, S. 91. 2192 Dieses und das folgende Zitat: STRECKER, Friedrich Hebbel, S. 67. 2188 2189

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Auch verhinderten ihn Faust und Iphigenie eben so wenig, wie der große Ruhm und die weißen Haare, Possen zu treiben und z. B. ein Rudel Knaben, die Räuber spielten und deren Hauptmann durch einen Zufall eingesperrt worden war, so lange über ihren Mangel an Muth und Treue herunter zu hunzen, bis sie auf seine eigenen Kosten ein Fenster einschlugen und den Führer befreiten. Leidenschaft und Kindlichkeit! hieß es ehemals. Jetzt lautet die Parole: Raffinement und Diplomatie! Die Zukunft wird entscheiden, was am besten war [WAB 3, 611].

Dieses Bekenntnis zur Possenhaftigkeit legte er freilich privat, in einem Brief an seine Ehefrau Christine ab. Und wohl nicht von ungefähr zog er im Anschluß an die Goethe-Anekdote einen merkwürdigen Vergleich: „Weißt Du, an welchem [sic!] Ort unter den Tausenden, die ich kenne, Weimar mich am lebhaftesten erinnert? An Wesselburen! Du wirst Dich wundern, aber es ist so! Alles unglaublich eng und klein!“ [WAB 3, 611] Und auch am Thüringer Musenhof gab es anscheinend nur zwei Rollen zu spielen: „In Weimar muß man entweder Goethe oder – sein Schreiber seyn!“ [WAB 3, 611] So sehr er die erste favorisierte; gegenüber einem Weimarer Großherzog wie gegenüber einem Wesselburener Kirchspielvogt lautete für den Schreiber die „Parole: Raffinement und Diplomatie“. Wie ehedem befand Hebbel sich in einem Konflikt zwischen Selbstbehauptung und Anpassung, „Leidenschaft“ und Contenance, „Kindlichkeit“ und Erwachsensein. Und doch wurden die Elemente der burschenschaftlichen Gegenkultur vom erwachsenen Hebbel anders gehandhabt und interpretiert: Je virtuoser er es verstand, zwischen den polaren Verhaltensanforderungen zu vermitteln und die kommunikativen Signale zu nuancieren, umso mehr mythisierte er selbst die traditionalen Verhaltensweisen: „Wie hübsch ist in Las Cases Memoiren der Zug, wo Las Cases den Brief empfängt, den Napoleon mit verstellter Hand an ihn geschrieben und worin er Kindereien vorgebracht hat. Der zeigt so recht, daß jede große Natur kindlich ist und es unter allen Umständen bleibt. Auch sein Zorn, sein heftiges Auffahren u. s. w.“ [T 2447]. Während Hebbel sich von der Jugendkultur mit den Jahren distanzierte, wollte er etwas davon doch „unter allen Umständen“ bewahren. Dabei verstand der ältere Hebbel den jüngeren selbst nicht mehr ganz: Was ihm einerseits wie „Kindereien“ vorkam, monumentalisierte er andererseits zum untrennbaren Bestandteil eines großen Mannes. Positiv gewendet: Was heute auf die Floskel vom „Kind im Manne“ zusammengeschrumpft ist, zeigt sich bei Hebbel noch als doppelte Adaptionsleistung: als Abwehr bildungsbürgerlicher Vorstellungen vom ernst und einsam leidenden Jüngling und zugleich als die Rettung probater ‚vorzivilisierter‘ Verhaltensmuster in die spätere Dichterexistenz. Anders als die meisten zeitgenössischen Dichter und Intellektuellen seit der Romantik widerstand er zumindest teilweise der Versuchung, Kinder- und Jugendzeit zu „Ausdrucksformen einer besseren Vorzeit“2193 und zu „Sehnsuchtsbildern vom ganzen, vom heilen, vom nicht-entfremdeten Leben“2194 zu stilisieren – nicht weil eine ‚schwere‘ Jugend dem entgegenstand, sondern eine aktiv mitgestaltete jugendliche Gegenkultur, die partiell antizivilisatorische, oppositionelle, provokative und parodistische Züge trug und auch in der Erinnerung prägend blieb. 2193 2194

RICHTER, Das fremde Kind, S. 245. Ebd., S. 230.

8. ROLLENSPIELE

Rolle und Selbst Friedrich Hebbel als Sohn des Kleinbürgerpaars Claus und Antje Hebbel, als der Schreiber und konsequente Nachahmer des Kirchspielvogts Mohr und schließlich als profiliertes Mitglied der aufmüpfigen Wesselburener Junggesellenschaft – diese sozialen Rollen haben seine ersten 22 Lebensjahre nachhaltig geprägt und ausgefüllt. Dennoch wurden sie weder von der Hebbel- noch von der lokalen Geschichtsforschung in ihrer Eigenart und Bedeutung gewürdigt. Geschah dies im Hinblick auf den späteren Dichter vielleicht doch zu Recht? Deutet das Aufbrechen aus der Heimat am 14. Februar 1835 auf einen entschiedenen inneren Bruch mit der Vergangenheit? Oder gehen diese Rollen doch in die spätere Künstler-Identität mit ein, und wenn ja, in welcher Weise? Für die Biographen besitzt der realgeschichtliche ‚Bruch‘ mit Dithmarschen eine verführerische Anziehungskraft. Der ‚autonome‘ Dichter ist vielfach ihr Maßstab, von dem aus sie nur selektiv auf sein ‚Vorleben‘ zurückschauen. Das ‚Abschließen‘ mit der Herkunft dient als Beleg, daß sich das schöpferische Individuum letztlich ‚aus sich selbst‘ entwickelt hat. Seine Voraussetzungen verlieren sich in mythischem Dunkel oder sind gar ‚mit ihm geboren‘. Der landläufige Glaube, insbesondere die sieben Jahre in der Wesselburener Kirchspielvogtei seien geprägt gewesen vom Rückzug eines Unverstandenen, der einsam seiner Bestimmung als Dichter entgegenreifte, verstellte oftmals den Blick auf die soziale Wirklichkeit. Solchen Haltungen liegen zwei grundsätzliche Mißverständnisse zu Grunde. Zum einen wird dabei die Lebensgeschichte letztlich preisgegeben: „Die Vorstellung einer in sich geschlossenen Struktur, Stabilität, Autonomie und Homogenität des Psychischen übt offenbar eine so starke Anziehungskraft aus, daß ihr die Möglichkeit geopfert wird, historische Prozesse als Veränderungen auch der Subjektstruktur wahrzunehmen und zu erklären“,2195 schreibt Inge Suchsland. Zum zweiten basiert die Subjektstruktur eben nicht auf der Autonomie eines ‚Ich‘: „Der Ort des andern ist gegenüber der eigenen Psyche keineswegs sekundär, sondern primär. Der eigene Vorrat an Gedanken, Ideen, Vorstellungen muß andern entrissen werden“, schreibt Jacques Lacan.2196 Auch Hans-Georg Soeffner hält in seinem Aufsatz über Typus und Individualität Vorstellungen einer autonomen SubjektEntwicklung entgegen, daß Identität „keine Bestimmung des einzelnen, gesellschaftlich nicht vermittelten (wo gab es das?) Subjekts“ sei, sondern „das gesellschaftlich Allgemeine: die Hereinnahme der Umwelt, der Sprache und der in ihr enthaltenen (historisch vorgegebenen und veränderbaren) Typisierungsschemata in die Reaktion eines handelnden Individuums. Die Interaktionsgemeinschaft, das Erleben der anderen und der Umwelt durch ein Individuum gehen dem Selbstbewußtsein vor2195 2196

SUCHSLAND, Julia Kristeva zur Einführung, S. 70. Zit. nach SUCHSLAND, Julia Kristeva zur Einführung, S. 42.

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Rollenspiele

aus“.2197 Identität entwickelt sich demnach mit der „Entstehung des Wissens eines einzelnen um seine Stelle in der Gemeinschaft“.2198 Soeffner resümiert: Ein in dieser Weise charakterisierter ‚kognitiver‘ Identitätsbegriff zielt nicht auf den Ausbau von ‚Subjektivität‘ und die in aller Regel hierauf bezogene Norm eines ‚autonomen Subjekts‘, das imstande wäre, aus sich heraus eine neue Welt zu produzieren, sondern auf die Möglichkeit zunehmender Intellektualität und Rationalität. Autonomie meint hier: wachsende Bewußtheit über das gesellschaftliche Allgemeine als die realen Möglichkeiten gesellschaftlicher Haltungen und Handlungen.2199

Einem von gesellschaftlichen Erwartungen geprägten normativen Rollenbegriff stellt Ursula Coburn-Staege einen aus „repressionsfreie[m] Handeln“2200 resultierenden dynamischen Rollenbegriff gegenüber; doch bewegt sich dieser gleichfalls „in der gesellschaftlich-historischen Dimension“.2201 Rollenübernahme erfolgt auch hier in der „Auseinandersetzung mit den angebotenen Normen und Werten […] zwischen Fremd- und Selbstbestimmung“. Im Rahmen der Vermittlung zwischen Gesellschaft und Individuum, wie der Untertitel ihrer Überblicksarbeit zum Rollenbegriff verlauten läßt, entfaltet Coburn-Staege eine Rollentypologie, die zwischen primären und sekundären, zugeschriebenen und erworbenen, traditions-, gegenwarts- und zukunftsgeleiteten Rollen etc. unterscheidet und sinnvolle Differenzierungen erlaubt. Rollen werden für das Individuum „zum Bestandteil seiner Persönlichkeit, zu selbstverständlichem, sozialem Verhalten“2202 und „erst dann zum Problem, wenn diese Selbstverständlichkeiten hinterfragt, ja hintergangen werden“. Gesellschaftsgeschichtlich zeigte sich dies vor allem in der Epoche der „Aufklärung und im Aufsteigen des Bürgertums. Durch Reflexion, Verschiebung der Machtverhältnisse, wachsende Industrialisierung und gesellschaftliche Differenzierung wurden seit dem 19. Jahrhundert die kulturellen Selbstverständlichkeiten weitgehend in Frage gestellt“. Dies bedeutete jedoch nicht deren umstandslose Eskamotierung: „Je aufgegliederter eine Gesellschaft ist, desto häufiger und intensiver treten Rollenwidersprüche auf, d. h. Konfliktsituationen, in denen sich die verschiedenen Erwartungen an die verschiedenen Positionen eines Individuums richten (Inter-Rollenkonflikt) und unvereinbare Rollenanforderungen in den verschiedenen Sektoren einer Rolle (Intra-Rollenkonflikt).“2203 Wohl hatte die Aufklärung auch Dithmarschen zu Hebbels Zeit schon berührt – wie etwa an der tragischen Gestalt des Lehrers Dethlefsen deutlich wurde,

SOEFFNER, „Typus und Individualität“ oder „Typen der Individualität“, S. 17. Entsprechend intendiert für Lacan „die Psychoanalyse, die Menschen ihrer Gesellschaftlichkeit innewerden zu lassen. […] Ja, sie verdanken ihre Subjektivität – mögen sie sich noch so einzigartig, privat, spontan, gar revolutionär dünken – in jeder Hinsicht diesen Strukturen. Gesellschaft ist kein Außen, Subjektivität kein Innen.“ [SUCHSLAND, Julia Kristeva zur Einführung, S. 35]. 2198 SOEFFNER, „Typus und Individualität“ oder „Typen der Individualität“, S. 16. 2199 Ebd., S. 20. 2200 COBURN-STAEGE, Der Rollenbegriff, S. 20. 2201 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 7. 2202 Dieses und die folgenden Zitate: Ebd., S. 15. 2203 Ebd., S. 16. 2197

Rolle und Selbst

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doch war die soziale, kulturelle und politische Wirklichkeit insgesamt noch stark traditionsorientiert, und mit ihnen die „kulturellen Selbstverständlichkeiten“. „In traditionalen, nicht-komplexen Gesellschaften wurde Verhalten in Naturkategorien und als Eingeordnetsein in den ganzen Lebenszusammenhang empfunden“,2204 schreibt Ursula Coburn-Staege. Das bedeutet jedoch nicht, daß es dort keine Polaritäten und Widersprüche gegeben hätte, nur wurden sie häufig informell oder institutionell aufgefangen und noch nicht als unvereinbar erlebt. Das galt in Wesselburen etwa im Bereich der Armenfürsorge, die noch als selbstverständliche Aufgabe der Gemeinde gesehen wurde, oder auch für das komplementäre Rollenverhältnis von Erwachsenen- und Jugendkultur bzw. von Obrigkeit und Untertanen: So war auf frappierende Weise zu beobachten, wie Hebbel sich an Sozialisationsinstanzen orientierte, deren Werte, Normen, Kommunikations- und Handlungsformen innerhalb des Rahmens der traditionalen Gesellschaft einander diametral gegenüber standen, ohne daß diese bipolare Struktur in Hebbels Sozialisation zu einem Bruch führte. Das bruderschaftlich organisierte Kollektiv der Junggesellen bot insbesondere dem ‚vaterlosen‘ Friedrich eine geeignete Plattform zu Kompensation und Kontrafaktur der von ihm als Sekretär Mohrs auszufüllenden offiziellen Rolle. Die in diesem Rahmen möglichen Aktionen hatten ihrerseits einen zwiespältigen Charakter. Einerseits schufen sie als brauchtümliches und durch die Gemeinschaft abgesichertes Handeln ‚positive‘ Tatbestände, andererseits besaßen sie in Bezug auf die gesamtgesellschaftliche Ordnung auch einen oppositionellen oder karikierenden Charakter – sie bewegten sich im Rahmen eines den Jugendlichen stillschweigend zugestandenen Freiraums. Entsprechend erwiesen etwa sich die Ereignisse auf Mohrs Hochzeit nicht als rigide Ausgrenzung, sondern vielmehr als raffiniertes Wechselspiel von unerbetenem Auftreten, nachgeholter Einladung und taktischem Rückzug. Der junge Hebbel verkehrte in Wesselburen gleichzeitig in Burschen- wie in Bürgerkreisen; er trieb sich mit Gleichaltrigen auf der Straße herum und besuchte das „Hotel Stadt Hamburg, das doch sonst wohl nur ‚Honoratioren‘ vorbehalten war“.2205 Wenn „wechselnde Interaktionskonfigurationen und Interaktionsgemeinschaften […] in der Regel zu veränderten konkreten Status- und Haltungszuweisungen, zu einer veränderten Spiegelung des Selbst durch die anderen, zu anderen Möglichkeiten der Identität durch die Übernahme der Haltung anderer“2206 führen, so ergab hier der permanent geübte und umkehrbare Wechsel der „Interaktionskonfigurationen“ zwar eine gegenseitige Relativierung der ausgefüllten Rollenmuster, nicht aber eine ‚objektive‘ Rollendistanz bzw. einander ausschließende „Alternativhaltungen“.2207 Diese Rückbindung funktionierte jedoch nicht immer. Bestimmte biographische und kulturelle Erfahrungen konnten durchaus zu kritischer Reflexion, Rollendistanz und Isolation des Einzelnen führen – so der Hausverlust Claus Hebbels, der Schulunterricht bei Dethlefsen oder bestimmte Lektüreerfahrungen. Durch Prozesse der Differenzierung oder Desintegration konnten sich aus einer kohärenten Mentalität Ebd., S. 15. BIEDER, Der Dithmarscher Friedrich Hebbel, S. 167. 2206 SOEFFNER, „Typus und Individualität“ oder „Typen der Individualität“, S. 21. 2207 Ebd., S. 19. 2204 2205

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spezielle Rollen isolieren: „Wahrscheinlich tritt das Bewußtsein von der Rollenhaftigkeit des Verhaltens erst dort auf, wo typisierte Verhaltensweisen als ablösbar von einer Person und auf andere übertragbar erlebt werden“,2208 schreibt Coburn-Staege. Eine spannungsgeladene Sozialisation war bereits die produktive Mitgift Dithmarschens an den jungen Friedrich Hebbel, lange bevor er Anschluß an die ‚moderne‘ Gesellschaft fand. In dichterischer Hinsicht bringt ein Stammbucheintrag vom 2. Oktober 1834 seine Situation am Ende der Wesselburener Zeit auf den Punkt: Ich mögte gern was Neues bringen, Denn Niemand lies’t das Alte gern, Doch leider will’s mir nicht gelingen, Das Neue steht mir gar zu fern! [DjH I, 209]

Vor dem Hintergrund einer solchen rollensoziologischen Sensibilisierung läßt sich aber auch das Ereignis des Jahres 1835 nicht als punktueller ‚Bruch‘ auffassen. Nach dem Weggang aus Wesselburen ließen sich die ‚alten‘ oder ‚unbrauchbar‘ gewordenen Bestandteile dieser Sozialisation nicht einfach abstreifen oder ausstreichen. HansGeorg Soeffner mißt die „Zunahme von Selbst- und Identitätsbewußtsein“ daran, „wie weit vorgegebene soziale Kategorien und Typisierungen der biographischen Artikulation mit anderen Haltungen, anderen Kategorien kontrastiert und alternative Haltungs- und Handlungsmöglichkeiten bewußt und verfügbar gemacht […] und damit das System gewußter gesellschaftlicher Bedeutungen – das ‚logische Universum‘ (Mead) – durch die ‚Stimmen der Vergangenheit und der Zukunft‘ erweitert und für das Identitätsbewußtsein verfügbar gemacht werden konnte.“2209 Will die Hebbel-Biographik der Gefahr schematischer Einteilungen entgehen, müssen also Übergänge und Vermittlungen in Rollenverhalten und Selbstbildern beschrieben werden, die unter stetigem Bezug auf in Wesselburen erworbene Rollenmuster geschehen. Gerade für die anschließenden ‚Lehr- und Wanderjahre‘, die eine extreme Unsicherheit des sozialen Status wie der materiellen Grundlagen mit sich brachten, läßt sich zeigen, daß Hebbel sich intensiv mit den einmal erworbenen Rollen auseinandersetzte, um sie mit der angestrebten dichterischen Identität zu vermitteln. „Das Neue“, das dem 21jährigen Hebbel noch „gar zu fern“ stand, ließ sich nicht durch einen einmaligen Befreiungsschlag erreichen. Das „Sich-Vortasten-Können zu neuen Möglichkeiten bedeutet einerseits Unsicherheit und andererseits ist es ein wesentliches Moment der Freiheit. Ihr wohnt eine rollenändernde und damit auch normsetzende Kraft inne, die sozialen Wandel herbeiführen kann.“2210 Autonome „Ich-Leistungen werden in solchen Rollen und Situationen gefordert, die mehrdeutige oder unvereinbare Handlungserwartungen enthalten.“2211 Auch imaginäre Aspekte sind dabei schließlich von Bedeutung: „Eine Rolle ‚haben‘ bedeutet, eine in die Zukunft vorausweisende Vorgabe möglichen Verhaltens zu haben, heißt antizipieren

COBURN-STAEGE, Der Rollenbegriff, S. 15f. SOEFFNER, „Typus und Individualität“ oder „Typen der Individualität“, S. 22. 2210 COBURN-STAEGE, Der Rollenbegriff, S. 54. 2211 Ebd., S. 64. 2208 2209

Der verlorene Sohn

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zu können“.2212 Mit zunehmender Reflexion und Relativierung wächst die Fähigkeit, mit Rollen zu ‚spielen‘, sie zu bearbeiten und zu transformieren, zu modernisieren oder zu mythisieren. Zu beobachten ist eine „Praxis […], die das Subjekt als Prozeß zeigt und immer neue Möglichkeiten von Subjektivität entwirft“,2213 allerdings: „Kreativ wird das melancholische Sich-Versenken freilich nur dann, wenn sich die Möglichkeit auftut, das Imaginierte zu symbolisieren“,2214 „immer wieder Metaphern für das Verlorene zu bilden“2215 und sie metonymisch zu verbinden – diese Form des ‚Rollenspielens‘ wäre bereits eine metasprachliche Kernkompetenz eines angehenden Dichters und Dramatikers. Im Mai 1837 ist Hebbel so weit, daß er schreiben kann: „Als die Aufgabe meines Lebens betrachte ich die Symbolisirung meines Innern […] durch Schrift und Wort; alles Andere, ohne Unterschied, hab’ ich aufgegeben“ [WAB 1, 180]; was für ihn im Umkehrschluß bedeutet: „Niemand schreibt, der nicht seine Selbstbiographie schriebe“ [T 834]. Zwei weitere Jahre später, am 3. Oktober 1839, einen Tag nach dem Arbeitsbeginn an Judith wird der Prozeß der Identitätsfindung vollends nach ‚innen‘ verlegt und mit dem Schaffensprozeß des Autors gleichgesetzt: „Von meiner Poesie hängt mein Ich ab; ist jene ein Irrthum, so bin ich selbst einer!“2216 Diese Aussage behielt auch nach der Fertigstellung des Manuskripts ihre Geltung. Im Februar 1840 heißt es in einem Brief an Charlotte Rousseau, das Drama sei „kein Treibhausgewächs […]. Es ist mir aus dem Innersten des Gemüths geflossen und ich habe, um es zu gestalten, die höchsten Kräfte angespannt; wäre es Nichts, so wäre ich selbst Nichts.“ [WAB 1, 319]. Nur noch beiläufig erwähnt Hebbel, daß er dadurch anderes verdrängt: „Ich stürze mich jetzt in die Thätigkeit, um so vieles zu vergessen“ [WAB 1, 320]. Der Biograph hat demgegenüber die Aufgabe, auch an zeitweilig Vergessenes und Verdrängtes zu erinnern.

Der verlorene Sohn Vater, Mutter, Sohn – unter den von der Soziologie beschriebenen Rollentypen kommt den „primären Rollen (Geschlechts- und Generationsrollen)“2217 eine besondere Bedeutung zu. Zumal die Rolle des Kindes ist gegenüber anderen Rollen ‚primär‘ nicht nur wegen des Zeitraums, sondern auch wegen der Art ihrer Aneignung. Im Unterschied zur „sekundäre[n] Sozialisation, die in den meisten Fällen ohne Identifikation mit den Sozialisationsagenten stattfindet“,2218 werden primäre Rollen „durch Nachahmung und Identifikation mit diesen übernommen und internalisiert“.2219 DarDieter Claessens, zit. nach COBURN-STAEGE, Der Rollenbegriff, S. 75. SUCHSLAND, Julia Kristeva zur Einführung, S. 107. 2214 Ebd., S. 119. 2215 Ebd., S. 107. 2216 T 1677. Vgl. dazu auch: „Zu dichten, dramatisch zu gestalten […] ist meine innerste Natur, mein Ausathmen, nicht Resultat eines Willensacts“ [WAB 1, 1051]. 2217 COBURN-STAEGE, Der Rollenbegriff, S. 81. 2218 Ebd., S. 82. 2219 Ebd., S. 81. 2212 2213

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aus resultiert eine starke unreflektierte Bindung, bei gleichzeitig geringem eigenen Gestaltungsspielraum. Dies gilt insbesondere in positions- (nicht person-)orientierten Verhältnissen, wie sie in traditionalen Gesellschaften vorherrschen:2220 „Bei diesem Prozeß lernt das Kind ‚zu sein, wie man es heißt‘.“2221 Die primäre Rolle des ‚Sohnes‘ band Friedrich Hebbel nicht nur an den Vater als das familiäre ‚Oberhaupt‘, sondern nach dessen Tod in noch stärkerem Maße an die nun zu versorgende Mutter. Diese Funktion überdauerte seinen Weggang aus Wesselburen, endete nicht einmal mit dem Tod der Mutter im Jahr 1838: Noch lange nach der sukzessiv erfolgenden, realgeschichtlichen Auflösung der ‚Familienbande‘ behauptete die Sohnesrolle in Hebbels Vorstellungswelt eine erstaunliche Präsenz. Dies ist umso bemerkenswerter, als der reale Familienzusammenhang mitsamt den ständischen, beruflichen und finanziellen Implikationen weitgehend irrelevant geworden war. Auch Hebbels eigene Versuche, sich von den mit dem Sohn-Sein verbundenen normativen Zumutungen zu lösen, bedeuteten kein Lossagen vom Familienverband. Das ambivalente Verhalten und Verhältnis Hebbels zu seinen Eltern, das man als „aberrant“2222 bezeichnen kann, hat auch ihn selbst später immer wieder beschäftigt. Als durchgängige Metapher läßt sich dabei die des ‚verlorenen Sohnes‘ ausmachen. Nicht nur die Tatsache, daß sie aus der Bibel geschöpft ist, verweist auf ihren altertümlichen Gehalt. Gerade das Attribut beglaubigt den angelegten traditionalen Maßstab: Im Rahmen der überkommenen (und weiter zu bewahrenden) Ordnung gab es nur die Kategorien ‚gut‘ und ‚verkommen‘, die Erfüllung bzw. Nichterfüllung der Norm. In Hebbels Maria Magdalena erweist sich dies mit aller Deutlichkeit am Verhältnis zwischen Meister Anton und seinem Sohn Karl. Ludger Lütkehaus schreibt anläßlich von Karls „Verweigerung der Rollenidentifikation“2223 über die Reaktion des Vaters: „Die prägnant zugespitzte Frage: ‚Er ist anders als du, muß er denn gleich schlecht sein?‘ wird von Meister Anton eindeutig bejaht. Veränderte Denk- und Verhaltensweisen sind nie wertneutral. Andersartigkeit ist Apostasie. […] Es ist bezeichnend genug, daß der Vater bei der Überprüfung der Anklage weit weniger die Rolle eines Verteidigers als die eines Staatsanwaltes übernimmt, der sich nach Indizien für die Schuld des mutmaßlichen Delinquenten umtut.“ Der mißratene, oder in religiöser Deutung, der ‚verlorene Sohn‘ spielt eine zentrale Rolle innerhalb der gestörten Familienkonstellation. Aus London schrieb Hebbel im Juni 1862 an seine Ehefrau Christine, dort „machten die Hogarthschen Genre-Stücke, die ehemals in Deutschland als Kupferstiche an jeder Wand hingen und wovon der verlorne Sohn sogar das Zimmer meiner Eltern zierte, mir großes Vergnügen, theils durch die lebendige Frische, die sie allerdings characterisirt, theils aber auch wohl durch diese Reminiscenz aus meiner Kinderzeit“ [WAB 4, 423]. Anderthalb Jahre vor seinem Tod betrachtet Hebbel dieses „lebendige“ Vgl. dazu auch den Abschnitt Sachlichkeit statt Gefühl. COBURN-STAEGE, Der Rollenbegriff, S. 81. 2222 Vgl. dazu ebd., S. 45: „Der sich abweichend Verhaltende verletzt meist aus Eigeninteresse die Regeln, bestreitet aber nicht ihre Gültigkeit und will sie auch nicht ändern“. Darin unterscheidet er sich etwa vom „Nonkonformisten“ sowie vom ‚Rebellen‘, der zusätzlich die „Autorität in Zweifel [zieht], auf welcher der Gültigkeitsanspruch einer Gesamtheit von Normen beruht“. 2223 Dieses und das folgende Zitat: LÜTKEHAUS, Friedrich Hebbel. Maria Magdalene, S. 51. 2220

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Andenken an die eigene Kindheit mit ästhetischem „Vergnügen“. Woran ihn das ‚Devotionalienbild‘ vom verlorenen Sohn erinnerte, hatte Hebbel schon vorher in Mutter und Kind literarisch beschrieben. Dort heißt es: Was wir aber behalten, das sind die heiligen Bilder Von dem verlorenen Sohn. Mit Diesem hab’ ich als Knabe Oft zu Mittag gegessen. Mein Vater pflegte zu sagen, Wenn es an Allem gebrach, sogar an Salz und Kartoffeln, Wie sich’s im Winter zuweilen begab, wenn Fastnacht vorbei war: Heute sind wir bei Dem zu Gast gebeten! und zeigte Auf die lustige Tafel, sie hing vergilbt und verräuchert Ueber dem Ofen und hatte gewiß schon den zehnten Besitzer, War auch nicht zu verkaufen und galt nicht einmal als Pfandstück, Wo der Wüstling schwelgt und wo ihn die Dirnen bestehlen. [...] zu Füßen Liegt ihm ein leckeres Brot, vom Arm herunter gestoßen, Welches ein Hund beschnüffelt, indeß er, wenn er sich wendet, […] es augenblicklich zertreten Oder beschmutzen muß […]. Der Tisch ist reichlich beladen Mit den erlesensten Speisen und ausgewählten Getränken, Aber ich wünschte mir Nichts vom ganzen glänzenden Gastmahl Für den brennenden Hunger, als dieses Brot [W 8, 317].

In der – allerdings trügerischen – Idylle Harzer Häuslichkeit verklärt der frischgebackene Familien- und Hausvater Christian das verräucherte Blatt zur ‚lustigen Tafel‘ und zum ‚heiligen Bild‘, führt es doch seine gänzlich ins Gute verkehrte Lage nur noch umso deutlicher vor Augen. Entspricht schon das Bild an der Wand dem Kupferstich in Hebbels Elternhaus und die Situation des Mangels den Verhältnissen am häuslichen Essenstisch, so ist davon auszugehen, daß sich auch die realistisch ausgemalte Szene dort so abgespielt hat. Davon zeugt auch Hebbels Vermerk „Mit den Bildern speisen“ [W 15, 6] in den Notizen zur Biographie, der sich auf eine Äußerung des Vaters beziehen dürfte, wie sie im Epos nachgesprochen wird: „Heute sind wir bei Dem zu Gast gebeten!“ – Geradezu erratisch steht das Zitat auch im dort gegebenen Kontext da: Was soll der Hinweis auf die überfüllte Tafel des verlorenen Sohnes bedeuten, wenn in Wirklichkeit nichts auf dem Tische steht? Daß man sich an diesem Tag nur an dem Bild ‚satt sehen‘ kann? Daß man von der Tafel des sündigen Prassers nur die herabfallenden Brosamen erhält, wie der Hund? Oder bezieht sich der Vater auf die kommende Notlage des verlorenen Sohnes auf dem Bild, die im eigenen Haus längst eingetreten ist? Dann wäre seine Familie zu Gast bei dem verlorenen Sohn, den er selber vorstellte. Aus dem bildlichen und situativen Kontext allein ist die seltsame Äußerung des Vaters nicht zu verstehen, doch auch vom ‚Sitz im Leben‘ her gesehen bleibt sie mehrdeutig. Wenn sich Claus Hebbel selbst an die Stelle des verlorenen Sohnes setzen mochte – hatte doch auch er sein Erbe verloren –, so mußte sich Friedrich eine weitere Interpretationsmöglichkeit aufdrängen – eingedenk der „Anfeindungen meines Vaters, der (von seinem Gesichtspuncte aus mit Recht) in mir stets ein mißrathenes, unbrauchbares, wohl gar böswilliges Geschöpf erblickte“ [T 1295]. Wenn Lesen als zeitver-

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schwendender Luxus galt, so „brachte er sein Gut um mit Prassen“2224 – gleich dem biblischen ‚Vorbild‘. Eine abgründige ‚Kontinuität‘ ergäbe sich: Für die Rolle des verlorenen Sohns konnte ausgerechnet der eigene Vater das Vorbild abgeben. Geradezu beispielhaft belegt die Szene den Umgang einer oral geprägten Gesellschaft mit ‚Medien‘ und Rollen, der mehr von bildlicher Sinnlichkeit als von festgelegtem Textsinn geprägt ist. Das Bild an der Wand wird ohne Umstände in die reale Situation mit einbezogen, die Grenze zwischen Realität, Assoziation und Fiktion verwischt. Logik und Eindeutigkeit spielen dabei keine Rolle, sondern ‚Ähnlichkeit‘ und ‚Anknüpfbarkeit‘. In einem derart ‚dichten Milieu‘ symbolischer und realer Erfahrungen lassen sich unterschiedliche Sichtweisen und Deutungsmöglichkeiten nicht nur an das Bild, sondern auch an die väterliche Äußerung herantragen. Die lebhafte Erinnerung daran wie auch die Übernahme in das literarische Werk zeigen, welch starken Eindruck das altertümliche, audio-visuelle Erlebnis auf Hebbel machte.2225 Nicht nur aufgrund seiner Sinnlichkeit eignet ihm quasi-poetische Qualität. Das vieldeutige Beziehungsnetz, in dem sich das vor-literarische Bewußtsein naiv bewegt, ähnelt strukturell der künstlerisch erzeugten Vieldeutigkeit eines literarischen Textes. Tatsächlich bewirken die als „Vergnügen“ empfundene Londoner „Reminiscenz“ und die Beschreibung der Szene in Mutter und Kind eine weitere Bedeutungsverschiebung, die, wie eine späte Befreiung, signalisiert: Das Gleichnis vom verlorenen Sohn hat als Gleichnis vom Sohn Friedrich Hebbel, über dessen Eßplatz es einst jahrelang wie eine ständige Drohung schwebte, seine Macht verloren. Doch war diese fixe Idee nicht schon mit dem Tod des Vaters obsolet geworden? Interessanterweise nicht: Wenn Peter von Matt in seiner Studie über Verkommene Söhne, mißratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur es für bedeutsam hält, daß „in der Parabel vom Verlorenen Sohn bei Lukas von der Mutter nie die Rede ist“,2226 so heißt das nicht, daß Söhne nur vor Vätern als verlorene dastehen. Psychologisch ist die Übertragung dieser Rolle auf das Mutter-Sohn-Verhältnis durchaus begründbar: „Jede Frau will einen Helden, ein Genie gebären“, um ihn „als ihr Geschöpf, als ihr Eigentum anzusehen“,2227 behauptet Simone de Beauvoir; der Ehrgeiz Antje Hebbels mag dafür ein Indiz sein. Dies versetzt den Sohn in eine schwierige Lage: Vertretungsweise zu leben, ist immer ein mißlicher Notbehelf. Die Dinge können einen Verlauf nehmen, den man nicht gewünscht hatte. Es kommt oft vor, daß der Sohn nichts Lukas 15, 13. Ein anderes, gleichfalls literarisiertes Beispiel für die geradezu selbstverständliche Präsenz dieses Motivs im traditionalen Haushalt findet sich in Gustav Frenssens Roman Jörn Uhl, der auch insgesamt Parallelen zur Geschichte vom verlorenen Sohn aufweist. Der Beginn des sechsten Kapitels lautet: „Beim Fohlenstall, nicht weit von der Außentür, stand eine alte Bauernlade als Futterkiste. Sie war aus Eichenholz gearbeitet und zeigte in Formen schlichter, edler Schnitzerei, links den verlorenen Sohn, im Begriff, in reicher Kleidung und mit schwerem Geldbeutel seinen Vater, der vor der Haustür steht, zu verlassen, rechts denselben Sohn, wie er in Lumpen heimkommt“. Wenig später heißt es: „Wenn diese Lade erzählen könnte! Herz hat sie ja, die so lange unter Menschen lebte! Aber sie hat keinen Mund. Auf dieser Lade sitzend, haben die Kinder […] schwere und starke Lebenspläne geschmiedet“ [FRENSSEN, Jörn Uhl, S. 109]. 2226 MATT, Verkommene Söhne, S. 234. 2227 Dieses und das folgende Zitat: BEAUVOIR, Das andere Geschlecht, S. 559. 2224 2225

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weiter als ein Tunichtgut, ein Bummler, ein verkommenes Genie, eine taube Frucht, der reine Undank ist.

Doch nicht erst aufgrund geheimer mütterlicher Wünsche, schon wegen der weitgehenden Gleichgerichtetheit der traditionalen Elternrollen war die Rolle des ‚verlorenen Sohnes‘ auf die Beziehung zur Mutter übertragbar. Überhaupt erscheint im Vergleich mit späteren Epochen die Flexibilität erstaunlich, mit der in der traditionalen Gesellschaft Individuen in die Rollen anderer eintraten – selbst über ‚Gender‘-Grenzen hinweg. Nur die zu vergebenden Rollen an sich standen fest, nicht unbedingt die Akteure.2228 „In einer Welt der allgegenwärtigen Unsicherheit“2229 war es für den Fortbestand einer Gemeinschaft oftmals ein Gebot der Notwendigkeit, „nicht ausgerechnet die eigene verletzliche Person ins Zentrum zu stellen. Vielmehr betrachtete man das Ego bloß als vorübergehenden Träger einer Rolle, in deren Dienst man sich für eine kürzere oder längere Lebensspanne stellte“.2230 Auf diese Weise „wurden in den damaligen kleinen Welten Stabilitäten erreicht, die uns heute fast unglaublich erscheinen“.2231 Nach dem Tod des Vaters, dem Übertritt Friedrichs in die Wesselburener Kirchspielvogtei und seiner Konfirmation hatte der Sohn im Rahmen des traditionalen ‚Generationenvertrags‘ auch für die alternde Mutter und Witwe mit aufzukommen. Ja, dies machte ‚Sohnschaft‘ nun vornehmlich aus, wenn Hebbel etwa 1836 schrieb: „Ich mögte um Alles nicht, daß meine Mutter, der ich ohnehin in meiner jetzigen Lage mich wenig als Sohn bethätigen kann, wegen der Miethe in Verlegenheit geriethe“.2232 Tatsächlich war Hebbel während seiner Schreiberjahre beim Kirchspielvogt dieser Verantwortung kontinuierlich nachgekommen, so daß dieser ihm 1834 das löbliche Zeugnis ausstellte: „[S]eine Mutter befindet sich seit vielen Jahren in einer hülfsbedürftigen Lage; zum Beweis seiner Herzensgüte und edlen Denkart kann ich nicht umhin, noch anzuführen, daß er seinen Verdienst zum größten Teil seiner Mutter hat zufließen lassen, um die Tage ihres Alters gegen Mangel sicherzustellen“ [HP I, 27]. Der ‚Komplex‘ des ‚verlorenen Sohnes‘ wurde für Hebbel spätestens ab dem Zeitpunkt erneut virulent, als er wie der ungetreue Sohn in der Bibel „ferne über Land

Vgl. in diesem Zusammenhang die „struktural-psychoanalytische“ [GALLAS, Das Textbegehren, S. 97] Analyse, die Helga Gallas an Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas durchgeführt hat: Dabei entsprechen die „Plätze in der Struktur […] bestimmten Einstellungen, Rollen, die die Personen haben, die diese Plätze besetzt halten“ [ebd., S. 98]. Dabei haben diese Plätze „Vorrang vor dem, der sie als reale Person besetzt – augenfällig in der Tatsache, daß diese Plätze von wechselnden Personen und Objekten eingenommen werden können. […] Die Personen fungieren also in der Struktur nicht als Subjeke, sondern als Stelleninhaber“ [ebd., S. 99]. 2229 IMHOF, Die verlorenen Welten, S. 139. 2230 Ebd., S. 139–141. 2231 Ebd., S. 139. 2232 WAB 1, 106. Hervorhebung C. S. Bezeichnenderweise interpretiert Luthers Kleiner Katechismus das fünfte Gebot im Sinne materieller Versorgung und verurteilt dessen Vernachlässigung besonders scharf: „So jemand die Seinen, sonderlich seine Hausgenossen, nicht versorgt, der hat den Glauben verleugnet und ist ärger denn ein Heide“ [LUTHER, Kleiner Katechimus, S. 69] (1. Timotheus 5, 8). 2228

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[zog]“,2233 neben der Mutter einen eifersüchtigen Bruder zuhause zurücklassend. Und gerade Hebbels Hamburger, Heidelberger und Münchner Jahre legten die Frage, ob er ein „Bummler“, eine „taube Frucht“ der „reine Undank“ sei, nur allzu nahe. „Meiner Mutter 2 Fuder Torf versprochen“ [T 230], notierte er 1836 im Tagebuch, doch woher sollte sie der Heidelberger Student nehmen? Die Rolle des materiellen Versorgers nicht nur seiner selbst wurde ihm zur unerträglichen Belastung: „wie sie mich drückt, diese hohle, flache Existenz, wie es mich drückt, für eine Last, der ich erliege, auch noch, damit sie mir bleibt, arbeiten zu müssen!“ [T 156]. Andere, vor allem Elise Lensing sollten bald die Versorgung der Mutter übernehmen. Nur um Ratschläge war Hebbel nicht verlegen: „Für die Sendung an die Mutter des Sohnes Dank, doch schick’ nie wieder Wein, mit 12 Schillingen, die die Flasche kostet, ist ihnen bei weitem mehr gedient, ich weiß es“ [WAB 1, 171]. Auch der Wesselburener Jugendfreund Jakob Franz sollte von ferne eingespannt werden: „Mit Franz in Kiel bin ich nicht besonders zufrieden; ich bat ihn, meiner Mutter von den für mich in seinen Händen befindlichen Geldern 21 [Mark] zu senden u er entschuldigte sich, nachdem er 1 ½ Monat hatte verstreichen lassen, mit Unmöglichkeit“ [WAB 1, 110], schrieb er im September 1836 an Elise, um ihr zugleich zu bedeuten: „Unter allen Beschwerlichkeiten meiner Lage drückt es mich am meisten, daß ich Nichts für meine Mutter thun kann“ [WAB 1, 110]. Im Mai des folgenden Jahres heißt es: „Daß Franz mir gar nicht schreibt, begreif’ ich nicht. Wenn er doch nur das Geld an die Mutter geschickt hat! Die Sache beunruhigt mich sehr und ich leg’ hiebei einige Zeilen für meinen Bruder, die Bitte um Aufschluß enthaltend, an“ [WAB 1, 177]. Schließlich mußte er sich im März 1838 Elise gegenüber selbst ‚mit Unmöglichkeit entschuldigen‘, zumal er von Franz kein Geld mehr zu erwarten hatte: Ich würde Dir schon diesmal von dem Gelde Etwas zur Weiterbeförderung an meine Mutter zurücksenden, wenn ich nicht hoffte, daß bis gegen die Mitte dieses Monats Campes Entscheidung, die, wenn sie günstig ausfällt, ja in Hamburg eine Summe zu meiner Disposition stellt, kommen werde. [...] Franz hat mir nicht geschrieben, er ist mir auch wohl Nichts mehr schuldig, u so muß ich die 20 [Mark] aus eigenen Mitteln aufzubringen suchen. Ach, meine Mutter! Sie dauert mich am meisten, wenn mir so ein Plan nach dem andern verunglückt [WAB 1, 223].

Wieder waren es statt Geld nur markige Worte, die Hebbel für die Mutter übrig hatte und mit denen er der Freundin in den Ohren lag. Jakob Franz gegenüber trat er nun als Bittsteller auf: „so habe ich mich vor ungefähr 8 Wochen mit der Bitte an Franz auf Helgoland gewandt, noch einmal die Miethe für sie zu zahlen“ [WAB 1, 232]. Elise sollte nun auch noch diesen Vorstoß ‚flankieren‘: „Nun mögt’ ich Dich bitten, dem schnell in meinem Namen ein Paar unfrankirte Zeilen zu schreiben u ihn aufzufordern, mir, der Billigkeit gemäß u alter Freundschaft zu Liebe wenigstens zu antworten“ [WAB 1, 232]. Den Umfang der materiellen Hilfe Elises machte Hebbel später in einem Brief an Amalie Schoppe deutlich:

2233

Lukas 15, 13.

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[S]ie schoß mir nach und nach, Alles in Ein’s gerechnet, eine Summe von 500 Rthl vor; ja, sie that, um mein Gemüth von seiner drückendsten Sorge zu befreien, noch mehr, sie unterstützte meine Mutter, sandte ihr, was ich wußte, halbjährlich die Miethe, und erfreute sie, was ich nicht wußte, außerdem noch mit Geld- und sonstigen Geschenken, die sie ihr in meinem Namen, und als ob sie nur Vermittlerin wäre, zufließen ließ. [WAB 1, 335]

Formal entzog Hebbel sich den Sohnespflichten nicht. Doch real hatte die Rolle des Versorgers in Konkurrenz zu Schulbesuch, Studium und ‚freier‘ Literatenexistenz allemal zurückzustehen. „Der Himmel wende das Unglück in Gnaden ab, denn aus zwei Gründen mögt’ ich noch nicht gern sterben“, rief er angesichts der 1836 in München grassierenden Cholera-Epidemie mit geradezu religiöser Inbrunst im Tagebuch aus: „Einmal der Mutter wegen“, wie er schrieb – dann aber auch um seiner selbst willen, um „durch einige Hervorbringungen […] [zu] zeigen, daß ich vielleicht angemessenere Verhältnisse verdient“ [T 408]. Gerade im Festhalten an ‚eigenwilligen‘ „Hervorbringungen“, für die im Horizont der Herkunftsfamilie „angemessenere Verhältnisse“ als die eines entwurzelten Vaganten gerade nicht denkbar waren, erwies sich allerdings die Verlorenheit des Sohnes. „Wie lautet die Diagnose der Verkommenheit? Wonach bemißt sich das Mißraten?“2234 fragt Peter von Matt und nennt „das eigenmächtige Denken“, „die eigenmächtige Wahl des Liebespartners und die eigenmächtige Wahl der Lebensarbeit“2235 – Kategorien, die auch bei Hebbel einschlägig waren. Indem er vom „Himmel“ noch einen Aufschub erbat, setzte er auf eine Zukunft, die ihm „vielleicht“ Genugtuung geben würde. Für die Mutter hielt er über Jahre hinweg nur einen schwachen Trost bereit: „Jene soll nicht darben, wenigstens nicht an Hoffnung – mehr kann ich ihr seit lange [sic] schon nicht geben“ [T 156]. Der literarische Erfolg, ein uneingelöster Wechsel auf die Zukunft, wurde zur alleinigen Bedingung und Grundlage jeder möglichen Hilfe für die Mutter gemacht. Hieran wird eine weitere Dimension des Konflikts zwischen den Generationen sichtbar, indem sie „jetzt unverhofft als eine Differenz der Zeiten, der Epochen, des geschichtlichen Ablaufs erscheint.“2236 Was Matt am hochmittelalterlichen Stoff des Meier Helmbrecht exemplifiziert sieht, gilt als „Grundmodell“ nicht weniger für Hebbel: Der verkommene Sohn ist der Vertreter einer neuen Zeit. Das Problem der privaten Sittlichkeit verflüchtigt sich angesichts des Problems einer Epochenwende. […] Und so gesehen ist der Vater [resp.: die Mutter, C. S.] weder der Gute, noch der Gekränkte, noch der Inbegriff der höchsten Ordnung, sondern das Fossil, der Überlebte, der Mann einer versinkenden Epoche […]. Für uns aber bedeutet das, daß die Epochenwende von nun an als eine der fundamentalen Deutungsmöglichkeiten des Konfliktgeschehens um die mißratenen und verkommenen Kinder bereitliegt und von Fall zu Fall geprüft werden muß […]. Die stets vorhandene Möglichkeit, daß der Verkommene von heute der Geglückte von morgen sei, erleichtert also die Deutungsarbeit nicht.2237 Dieses und das folgende Zitat: MATT, Verkommene Söhne, S. 166. Ebd. Die zweite Möglichkeit wird an dem verlorenen Sohn Albrecht in und mit Agnes Bernauer durchexerziert. Vgl. auch die ‚Gegenüberstellung‘ von Vater und Sohn in der 9. und 10. Szene des 5. Akts [W 3, 228–235]. 2236 Dieses und das folgende Zitat: MATT, Verkommene Söhne, S. 68. 2237 Ebd., S. 69f. 2234 2235

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Auch Hebbel selbst widmete sich dieser Deutungsarbeit. Im Januar 1837 berichtete er Elise von seinem „Vegetiren in ewiger Einsamkeit“ [WAB 1, 146], um im Anschluß daran eine Phantasie zu entwickeln, die das Motiv des verlorenen Sohns an seine eigenen Verhältnisse und Wünsche anpaßte. So stellte er sich eine überraschende Heimkehr zu Mutter und Bruder vor: Oder auch mögt’ ich in diesem Augenblick bei meiner Mutter eintreten u ihr zugleich die Hand drücken u etwas in die Hand drücken; da riefe sie in einem Athemzug: „was, Junge, Du?“ und „Johann, schnell hinaus, u mach’ Feuer im Ofen und auf’m Herd, er ist gewiß durch und durch gefroren!“ Johann aber stachelte sie eben so sehr, zeitig nach fettem Rahm zu gehen, klopfte mir dann auf die Schulter, lächelte pfiffig u sagte: es ist ein Glück, daß ich gestern Stoppeln getragen habe; denn sonst müßten wir uns durchprügeln, um uns zu erwärmen. Ach, würde mir dies Eine nur vergönnt, meiner Mutter, die in Wahrheit bis jetzt nur vom Hörensagen weiß, daß auf Erden eine Sonne scheint, ein ruhiges Alter zu verschaffen! 2238

Der verlorene Sohn kehrt als der versorgende Sohn zurück, der seinerseits versorgt wird. Für die ambivalente Szene findet sich ein plausibles Deutungsmuster bei Simone de Beauvoir: „Gerade diese Verwurzelung erhöht im Manne noch den Stolz auf das Hinausgelangen über sich selbst, er bewundert sich selbst, wenn er sich aus den mütterlichen Armen losreißt, um dem Abenteuer, der Zukunft, dem Kriege entgegenzugehen [...]. Es gefällt ihm aber auch zu wissen, daß diese Arme bereit bleiben, ihn wieder aufzunehmen.“2239 Wohl bietet Johann dem Zurückkommenden „pfiffig“ Prügel an, doch die Eifersucht des biblischen Bruder-Vorbilds verkehrt sich hier in ein Wetteifern mit der Mutter, die Heimkehr feierlich genug auszugestalten. In Wirklichkeit lag diese Vorstellung nicht nur räumlich in weiter Ferne. Aus München schrieb Hebbel Anfang 1838 an den Wesselburener Kirchspielschreiber Claus Stark Voß: Uebrigens habe ich sehr viel zu thun. Sie können Sich es denken: ich soll studiren und mir zugleich durch literairische Arbeiten ausreichende Subsistenzmittel verschaffen. Dies fällt mir in Bezug auf meine eigne Person nicht eben schwer, ich schreibe für die bedeutendsten Journale und werde anständig honorirt; ich mögte aber endlich auch einmal etwas Ordentliches für meine Mutter thun und ihr zu einer sorgenfreien Existenz verhelfen, dies ist bis jetzt über meine Kräfte gegangen [WAB 1, 209].

Es blieb bei den fürsorglichen Beteuerungen eines ‚guten‘ Sohnes gegenüber Dritten. Mit dem Verlust an Realitätsbezug ging zugleich eine Selbst-Heroisierung einher: „All mein Leben und Streben ist jetzt eigentlich nur noch ein Kämpfen für Mutter und Leichenstein“ [T 156], resümierte Hebbel einmal im Tagebuch. Diese Worte „waren ernst gemeint gewesen“,2240 beeilte sich Hermann Krumm zu betonen, um vom ‚Kampf‘ sogleich zum ‚Sieg‘ zu schreiten: „Ihre Freude hatte ihm immer als Lohn gewinkt, wenn er verzagen wollte, ihr hoffte er ein schöneres Dasein zu bereiten, wenn ihm endlich der Sieg geworden“. Im Traum verschaffte sich jedoch eine ganz WAB 1, 146f. Werner liest „Heerd“ [B 1, 153]. BEAUVOIR, Das andere Geschlecht, S. 183. 2240 Dieses und das folgende Zitat: KRUMM, Friedrich Hebbels Leben, S. 63. 2238 2239

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andere ‚Sorge‘ Ausdruck. An Elise Lensing hatte Hebbel wenige Monate zuvor geschrieben: „So hab’ ich auch meine Mutter u Johann im Traum bei mir gesehen; sie waren im guten Glauben hieher gekommen, daß es mir an Unterhaltung, aber nicht an Gulden, fehle und überreichten mir zum entré eine Rechnung, die sich in die Hunderte belief u durch die Reise entstanden war“ [WAB 1, 185]. Auf biographischer Ebene kam Isidor Sadger, der Hebbels „ganzes Verhalten in diesen Jahren von rein egoistischen Triebfedern geleitet“ sieht,2241 zu dem harschen Urteil: Trotz jenes ‚liebsten und letzten Wunsches’, der Mutter ein sorgloses Alter zu bieten, tat Friedrich eigentlich wenig dazu, ja man könnte fast sagen, daß sein ungestümes Drängen, von Wesselburen fortzukommen, gerade jenen angeblich gar so heißen Wunsch für lange hinaus unmöglich machte. [...] Damals nun, etwa um das 16. Jahr, scheint er zum Bewußtsein seiner poetischen Kraft gekommen zu sein, das ihn fortab nicht mehr verließ und sogar zu einer Zeit, da er noch gar nichts geleistet hatte, einen eigenartigen Hochmut verlieh [...]. Die Mutter aber hatte einfach zu warten, bis er ein berühmter Poet geworden.

Doch ihr Warten blieb vergeblich, es kam nicht einmal mehr zu einer persönlichen Begegnung. Friedrich Hebbel ist nach 1836 nie wieder in Wesselburen gewesen. Die Hilfe für die Mutter duldete in seinen Augen auch dann noch Aufschub, als sie bereits im Sterben lag. Helfen sollte nun der „Himmel“: Ich k[enne] Gott lob die Constitution meiner Mutter und fürchte nicht, daß die Krankheit Bedeutung hat; ich kann es mir auch gar nicht denken, daß der Himmel mir meine schönste Freude rauben und mir die Hoffnung, ihr das Leben zu verschönern und werth zu machen, vernichten mag. [...]. Der Himmel wird ein schweres Krankenlager verhüten, er ist mir bisher in diesem Punct doch mild gewesen u wird es mir auch noch ferner seyn. Käme dieses Unglück dennoch – nun, ich darf daran nicht denken, man muß die bösen Geister nicht aufrufen. [WAB 1, 238]

Mit aller Macht verdrängte Hebbel am 13. September 1838 noch einmal, wie es wirklich um sie stand, vielmehr: gestanden hatte. Antje Margaretha Hebbel war bereits am 3. September 1838 verstorben; die Umstände ihrer Beerdigung schildert Emil Kuh nüchtern so: Die Not, die am Sterbebette des Vater gestanden, behauptete auch den Platz an der Leiche der Mutter. Johann mußte den Kirchspielschreiber Voß darum angehen, daß auf dessen Bürgschaft hin der Tischler den Sarg machte; mit Linnen und Weißzeug mußte die Kirchspielschreiberin aushelfen, damit das Leichenbegängnis nach gebräuchlicher Sitte vollzogen werden konnte. Und Hebbel selbst, den sich der alte brave Voß vermutlich als angehenden Doktor dachte, Hebbel mußte in seinem Dankbriefe das Abtragen der durch das Begräbnis der Mutter aufgelaufenen Kosten auf eine spätere Zeit hinausschieben.2242

Dieses und das folgende Zitat: SADGER, Friedrich Hebbel. Ein psychoanalytischer Versuch, S. 71f. 2242 KUH, Biographie, Bd 1, S. 234. 2241

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Jetzt waren es der Kirchspielschreiber Voß und der Kaufmann Hansen in Wesselburen, denen Hebbel als Schuldner Rechenschaft über sein Verhältnis zur Mutter ablegte: „[W]as mich am tiefsten betrübt, ist der Umstand, daß sie eben jetzt, wo ich ein Recht habe, vom Leben Manches zu erwarten, von hinnen gehen mußte. Einige Jahre später, so hätte sie – ich darf es sagen – nicht bloß das Elend, sondern auch einiges Gute dieser Welt gekostet“ [WAB 1, 239]. Mit solcher Entlastung kamen unwillkürlich und in unverhohlener Klarheit auch Hebbels Verdrängungsmechanismen wieder zum Vorschein: „Mir kam kein Gedanke an einen so trüben Ausgang; sie war freilich alt und elend genug, aber [?!] das Leben hatte ihr bis jetzt so außerordentlich wenig gebracht; ich konnte nicht glauben, daß das Schicksal sie mit allen ihren gerechten Ansprüchen so ganz abweisen würde“ [WAB 1, 242]. Alt und elend „genug“ zum Sterben war die 51jährige offenbar – trotzdem hatte der mit sich selbst beschäftigte Literat daran keinen Gedanken verwendet und etwaige Hilfe wiederum um „[e]inige Jahre“ vertagt. Daß sie vorher gestorben war, war nicht seine Schuld, und so verwies er sie „mit allen ihren gerechten Ansprüchen“ an „das Leben“ und das ungerechte „Schicksal“ zurück. Es war Johann Hebbel, der dem Bruder beim Mitteilen der Todesnachricht mit eigenartig subtiler Grausamkeit ins Gewissen redete. Zunächst bestätigte er, daß die Mutter „mangen süßen Lohn der Kindespflicht sich freuete“, seufzte aber im nächsten Atemzug kryptisch: „oh! daß sie nicht das Kommende genoß, wonach sie pp sehnte, ihr aber nicht aus dem dunklen Schooß der Zukunft wurde“ [WAB 1, 233], um dem Bruder wenig später die unangenehme Wahrheit über das Ende der Mutter aufzutischen: „Ihr letztes Wort hab’ ich nicht verstanden; kein einziges Mal hat ihre Zunge den ihr lieben Nahmen, Christian! gestammelt, daß ichs weiß“ [WAB 1, 234]. – Den Namen des „lieben“ Sohns, an dem sie doch so viel Wohlgefallen hatte, scheint sie vergessen zu haben,2243 wie der daheimgebliebene Johann nur deshalb so genau mitzuteilen weiß, weil er selbst ihr die ganze Zeit so nahe war, daß er sogar ihr letztes Stammeln noch vernahm. Geradezu ‚feinfühlig‘ rührt der Zweitgeborene damit auch an die alte Konkurrenz der Brüder, die wenigstens an diesem Punkt unwiderruflich zu seinen Gunsten entschieden scheint. Im Leben Hebbels aber verkehrt sich das hoffnungspendende biblische Gleichnis vom verlorenen Sohn ins Heillose. Angesichts dessen bleibt ihm nur das reumütige Bekenntnis: „Gute, rastlos um Deine Kinder bemühte Mutter, Du warst eine Märtyrin und ich kann mir nicht das Zeugniß geben, daß ich für die Verbesserung Deiner Lage immer so viel gethan hätte, als in meinen freilich geringen Kräften stand!“2244 Noch andere, finsterere Geständnisse kommen in diesem Moment hoch: „Ich war nicht selten, als ich Dir noch näher war, rauh und hart gegen Dich; ach, das Herz ist zuweilen eben so gut wahnsinnig, wie der Geist, ich wühlte in Deinen Wunden, weil 2243

2244

Die Angst, von der Mutter ‚vergessen‘ zu werden, wird in den Nibelungen tragisch ausgestaltet: „One of the most terrible elements of the tragedy of Kriemhild’s life is the fact, that she becomes able to forget her children in her thirst for revenge [PRICE-NEWPORT, Woman in the Thought and Work of Hebbel, S. 148]. T 1295. Nach Matt ist auch dieses Verhalten rollentypisch: „Der klassische Kniefall des Verlorenen Sohnes geschieht vor einem Toten: ‚O gütger Gott! – Kommt meine Reu zu spät?‘ [Wilhelm Tell, Uli im 4. Akt]“ [MATT, Verkommene Söhne, S. 66].

Der verlorene Sohn

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ich sie nicht heilen konnte, Deine Wunden waren ein Gegenstand meines Hasses, denn sie ließen mich meine Ohnmacht fühlen“ [T 1295]. Unverkennbar ist die Nähe zu der wenig später gestalteten Figur des Holofernes, der über die Beziehung zu seiner Erzeugerin schwadronierte: Meine Mutter! Ich hätt’ sie so wenig sehen mögen, als ich mein Grab sehen mag. Das freut mich am meisten, daß ich nicht weiß, woher ich kam! [...] Was ist denn auch eine Mutter für ihren Sohn? Der Spiegel seiner Ohnmacht von gestern oder von morgen. Er kann sie nicht ansehen, ohne der Zeit zu gedenken, wo er ein erbärmlicher Wurm war, der die Paar Tropfen Milch, die er schluckte, mit Schmätzen bezahlte. Und wenn er dieß vergißt, so sieht er ein Gespenst in ihr, das ihm Alter und Tod vorgaukelt und ihm die eigene Gestalt, sein Fleisch und Blut, zuwider macht [W 1, 49f.].

Die Mutter wird dem erwachsenen Holofernes als „Spiegel seiner Ohnmacht“ zum Gegenbild, dem erwachsenen, aber noch nicht etablierten Friedrich Hebbel hingegen als „Märtyrin“ zum Vorbild: „Wenn ich an Dich denke, an Dein unausgesetztes Leiden, so wird mir jede Last, die mir das Schicksal auflegt, gegen die Deinige leicht dünken“ [T 1295], ruft er ihr nach. Hatte er sich zuvor über den wahren Gesundheitszustand der Mutter betrogen, blieb er bei ihrem Tod eigentümlich kühl, so identifizierte er sich im nachhinein umso mehr mit ihrem Leiden. In jeweils ähnlich lautenden Briefpassagen an den Wesselburener Kaufmann Hansen und den Kirchspielschreiber Voß schrieb er: „Nur wenige Tage zuvor hatte ich erfahren, daß sie erkrankt sey. [...] Ich bin selbst krank, und war es schon, bevor der Brief meines Bruders eintraf; ich leide an unerträglichem Kopfweh und das Schreiben greift mich sehr an“;2245 an Elise heißt es gar: „Jetzt bin ich selbst halb todt“ [WAB 1, 240]. Der Tod der Mutter läßt auch für den Schreibenden nichts Gutes ahnen, war sie doch „für mich der Punct, an den ich Alles, was ich von der Zukunft erwartete, anknüpfte“ [WAB 1, 244] – ergo orakelte er: „Ist nicht vielleicht ihr Tod ein Wink der Gottheit, daß ich von der Zukunft Nichts erwarten soll?“ [WAB 1, 241]. Dadurch ausgelöste bange Befürchtungen Elises wies er dagegen im nächsten Brief fast barsch zurück: Diesmal, liebe Elise, hat Dich Deine Ahnung betrogen, ich habe mich körperlich niemals gesunder gefühlt, als in dem Augenblick, da ich Deinen Brief empfing und las. Es thut mir sehr leid, daß meine kurzen Aeußerungen über mein Befinden, die meine letzten Briefe enthielten, Dich so ängstigen konnten [...]. Ich litt in Folge einer Erkältung [...] an heftigem Kopfweh [...]. Es ist mir fatal, Dich um doppeltes Porto zu bringen; dennoch wage ich nicht, meine Antwort aufzuschieben, da ich weiß, daß (etwa mich selbst ausgenommen) Niemand so viel mit Gespenstern verkehrt, als Du [WAB 1, 244f.].

Welch rasche Verkehrung: Nie hat Hebbel sich „gesunder gefühlt“, und er geht zur Tagesordnung über. Das Phantasma der schicksalhaften Identifikation mit der Mutter läßt sich verscheuchen wie Gespenster. „Fatal“ ist jetzt nur noch das Porto für den Antwortbrief.

2245

WAB 1, 242. Hervorhebung C. S.

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Der „Verkommene von heute“2246 entpuppte sich wirklich als der „Geglückte von Morgen“. Als arrivierter Dichter spart Hebbel immerhin noch an der Bahnfahrkarte – und empfindet bei solcher Gelegenheit in der dritten Klasse als das „Uebelste“ die „Gesellschaft, die in der Regel doch nur aus Soldaten, Handwerksburschen, Hausirjuden u. s. w. besteht […]. Himmel, welche Gespräche werden da geführt, welche grauenhafte Tabacks-Sorten werden geraucht, welche Würste verzehrt!“ [WAB 2, 266] Doch unwillkürlich ertappt er sich beim distanzierten Blick auf die Mitreisenden selbst, seltsam betroffen fährt er fort: „Es fällt mir nicht ein, darüber zu spotten; im Gegentheil, es rührt mich in innerster Seele, wenn ich sehe, wie die armen Teufel sich durchschlagen, wie sie sich mit den Trebern behelfen müssen, ohne verlor’ne Söhne gewesen zu seyn“.2247 Wenn aber brave Söhne zu „armen Teufel[n]“ mutieren – was ist dann aus einem verlorenen Sohn geworden?

Heilige Mutter – göttlicher Sohn Antje Hebbels Tod hatte Johann so verkündet: „Sie ist nicht mehr – die Dein Werden begründete; die für Dich aus Liebe Schmähung litt“ [WAB 1, 233] – der Bruder tat das Seine, aus der Mutter eine ‚mater dolorosa‘ zu machen; eine Stilisierung, die gleichermaßen Mißratenheit und Größe ihres Lieblingssohnes implizierte. Diese zwiespältige Rolle eigneten sich Frauen gerade im 19. Jahrhundert auch selbst an: „Die Mater dolorosa macht aus ihren Leiden eine Waffe, die sie sadistisch ausnutzt. Ihre Szenen des Verzichts haben beim Kind Schuldgefühle zur Folge, die oft sein ganzes Leben auf ihm lasten“.2248 War dies bei Antje Hebbel auch kein subjektiv hervorgekehrter, sondern ‚nur‘ ein objektiver Tatbestand, so kennzeichnet dies die psychologische Situation Hebbels. Das Bild der mater dolorosa enthält aber auch für den Sohn ein attraktives Angebot, wird doch zugleich die Dialektik von Nähe und Distanz, BesitzAnspruch und dessen Zurückweisung ideell überhöht und bietet beiden Beteiligten die Möglichkeit der Identifikation: „Zu seinem Glück kann sich der Junge ihrem Zugriff ziemlich leicht entziehen. [...] Und die Mutter findet sich damit ab. Sie weiß wohl, daß der Kampf gegen den Mann ungleich ist. Sie tröstet sich damit, daß sie die Mater dolorosa spielt“.2249 Wenn wiederum Hebbel seine Mutter eine „Märtyrin“ [T 1295] nennen konnte, dann in dem stolzen Bewußtsein, daß ihr Selbstopfer für den großen Sohn nicht umsonst war. Denn nach ihrem Tod durfte an die Stelle materieller Versorgung und schuldiger Sohnesliebe die symbolische Verklärung treten; der im Leben verlorene Sohn wandte sich ihr reuig zu, um für die Ewigkeit ein Verhältnis festzuschreiben, daß es so nicht Dieses und das folgende Zitat: MATT, Verkommene Söhne, S. 70. WAB 2, 266f. Hervorhebungen C. S. 2248 BEAUVOIR, Das andere Geschlecht, S. 499. Als Dithmarscher „Landesmutter” und „Staatsheilige” erscheint Maria schon auf dem Siegel der Kapitulationsurkunde der Bauernrepublik nach der „Letzten Fehde” (1559) in der Rolle der mater dolorosa. Vgl. HANSEN, Marienland Dithmarschen, S. 82 bzw. S. 88f. 2249 BEAUVOIR, Das andere Geschlecht, S. 501. 2246 2247

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gegeben hatte: „So wirst Du mir noch über das Grab hinaus Mutter seyn; Du wirst mir vergeben und ich Dich nimmer, nimmer vergessen!“ [T 1295] Nein: Im Grab erst darf sie, die ihren Sohn „jetzt [...] wahrscheinlich tiefer“ [T 1295] verstehen kann, Mutter sein. Durch ihren Tod schafft sie, wie schon einmal beim letzten Besuch des Sohnes in Wesselburen, „Platz zum Schreiben“ [WAB 1, 68]; als ‚Verewigte’ wird Antje Margaretha Hebbel, endlich frei form- und nutzbar. Ihr Gedenken nimmt bezeichnenderweise bei ihrer bloßen Mutterschaft seinen Ausgangspunkt: „Eins steht fest: sie soll nicht umsonst einen Dichter geboren haben“, schrieb der Dichter und versprach: „Ich will ihr Andenken bekleiden mit dem höchsten Schmuck der Poesie, so weit er mir zu Gebote steht; der Scheiterhaufen, der sie verzehrt hat, soll sie nun auch verklären.“2250 Der an seinen zeitlichen Pflichten gescheiterte Sohn steht endlich vor einer adäquaten Aufgabe – schreibend für ihr ewiges (Nach-)Leben zu sorgen2251. So fällt vom ästhetischen Glanz der Dichtung wenigstens ein Abglanz auf die ‚Dichtermutter‘ zurück. Dieser Topos hat auch in die Hebbel-Biographik Eingang gefunden: „Das ist die Frau, die uns einen Hebbel geboren hat“,2252 „die Frau, die uns den größten nachklassischen Dichter geschenkt hat“2253 rühmt beispielsweise Hermann Nagel ihr nach. Ganz Ähnliches beobachtet Ulrike Prokop schon an der Mutter Goethes: „Sie hat ein Genie hervorgebracht – und darin gewinnt ihr Leben seine Rechtfertigung“:2254 Die Selbstdeutung der Mutter Goethes als Mutter des Genius kam der bürgerlichen Biographik und literaturgeschichtlichen Forschung sehr gelegen. Sie verfestigte die Ignoranz. Statt um die Ausgrenzung von Frauen ging es um die idealisierte Mutterschaft. Als Mutter hatte sie Anteil an den Leistungen des Sohnes, und die Mutter hatte dies ebenso gesehen wie der Sohn.

Auf diese Weise verschmolzen schon Mutter und Sohn Goethe zu einer Einheit: „Catharina verweist nicht nur darauf, daß ihr Sohn Geburtstag hat, sondern, daß es der Tag ist, an dem sie ihn geboren hat: Unio mystica. Sie für ihn, er für sie“.2255 Doch liegt auch in der Festlegung der Mutter auf ‚die Gebärende‘ eine massive Beschränkung – aus „Furcht vor der machtvollen Imago der Frau“,2256 wie Ulrike Prokop es sieht. Dadurch gerät – neben ihren Leiden und Entbehrungen – auch die reale Macht der Mutter im Erziehungsprozeß aus dem Blick; von ihren prägenden oder wenigstens initiatorischen Aufgaben wird sie nachträglich ‚entbunden‘. Die Reduzierung der Mutter auf die Nur-Gebärende schafft vollends den Raum zum Neu-Entwurf WAB 1, 241. Hervorhebung C. S. Vgl. zusammenfassend Clara Price-Newport: „many of the traits in the mother in Maria Magdalene, and probably of Barbara in Demetrius have been taken from her. […] Probably Velleda in Moloch, and Katherine in Genoveva, and, certainly, the mother in Pauls merkwürdigste Nacht show traits which suggest the poet’s mother as a model“ [PRICE-NEWPORT, Woman in the Thought and Work of Hebbel, S. 14]. 2252 NAGEL, Friedrich Hebbels Ahnen, S. 29. 2253 Ebd., S. 27. 2254 Dieses und das folgende Zitat: PROKOP, Die Illusion vom großen Paar, S. 373. 2255 Ebd., S. 261. 2256 Ebd., S. 100. 2250 2251

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der eigenen Biographie, den „Platz zum Schreiben“ [WAB 1, 68], der in der realen Entwicklung mühselig und durch ihre Hilfe gewonnen wurde. Mit Peter von Matt „stehen wir also vor der intimsten und privatesten Dimension“2257 des Konflikts um die mißratenen Kinder: „der seelischen Geburt des einzelnen in seine erwachsene Existenz, der Ablösung der Jungen von denen, die sie aufgezogen haben“.2258 Auf der Ebene der Kommunikation bedeutet dies: „Die mißratenen Kinder finden sich zu allen Zeiten in einem Spannungsfeld zwischen hilfloser Stummheit und großer neuer Eloquenz“.2259 Das von Matt diagnostizierte „Stammeln und Verstummen des Sohnes im Text“2260 äußerte sich bei Hebbel in den Akten der Verdrängung, der Vertröstung, der Selbstanklage und der Opferkonkurrenz mit der Mutter. Doch, so Matt, dem „niederbrechenden oder kriechenden Sohn in der Geschichte müßte ein herrlich ragender oder auffahrender Autor außerhalb ihrer entsprechen.“2261 Genau dies ist an Hebbel zu beobachten. Der Tod der Mutter bedeutet endlich: „Neues Irren; neues Leben!“ [T 1294] und den Beginn eines „Neue[n] Tagebuch[s]“ [T 1294]. Der Dichter-Sohn vergewissert sich seiner selbst; sein Mythos handelt von der Erschaffung des schöpferischen Menschen. Die ‚selbst-herrlichen‘ Worte veranlaßten Richard Maria Werner, sich kommentierend ins Mittel zu legen: „Man sagt ja, daß für jeden Mann der Tod seiner Mutter den Abschluß der Jugend bedeute, für Hebbel galt das in noch höherem Maße“.2262 Deutlicher noch in dem Werk des Biographen als bei Hebbel selbst erkennt man dabei „im Hintergrund die Verleugnung des Traumas, nicht aus sich selbst heraus zu sein, sondern geschaffen, abhängig, abgeleitet, ein Zweites; Kind einer Mutter, deren Imago übermächtig ist“.2263 Doch auch der sich wie ‚neugeboren‘ fühlende Autor verbleibt in der Rolle des Sohnes, der sich nun bestrebt, das profane Geschehen seiner ‚ersten Geburt‘ ideell zu überhöhen. Die imaginäre Ausgestaltung der Familienrollen schöpft dabei wiederum aus der Quelle von Bibel und geistlicher Rede. „Die Mutter wird jetzt gern mit einer Heiligen verglichen, und es kommt die Denkgewohnheit auf, daß eine gute Mutter nur eine ‚heilige Frau‘ sein könnte. Die naturgegebene Schutzpatronin dieser neuen Mutter ist die Jungfrau Maria, deren ganzes Leben von ihrer Hingabe für das Kind zeugt.“2264 Dies war keineswegs nur im katholischen Milieu der Fall. Auch Catharina Elisabeth Goethe erging sich offenbar in einer solchen „Marienphantasie“:2265 „Catharina schilderte die Geburt ihres ersten Sohnes als von den Sternen ausgezeichnetes Ereignis, als MATT, Verkommene Söhne, S. 75. Ebd. In diesem Zusammenhang weist Matt darauf hin, „wie anthropologisch und biologisch universal die Dramatik der zweiten Geburt ist, wie wenig sie bloß eine Krisenzone der neuzeitlich-bürgerlichen Familie darstellt“ [ebd.]. Man möchte sogar noch weitergehen: In ‚progressiven‘ Gesellschaften wird diese Dramatik eher geschwächt und überformt von der Vorstellung einer kontinuierlicher Entwicklung. Vgl. dazu oben im Abschnitt Ein Kirchspielvogt und ein Dienstbote die Passagen über Hebbels Konfirmation. 2259 MATT, Verkommene Söhne, S. 76. 2260 Ebd., S. 282. 2261 Ebd., S. 283. 2262 WERNER, Friedrich Hebbel. Ein Lebensbild, S. 131. 2263 PROKOP, Die Illusion vom großen Paar, S. 100. 2264 BADINTER, Die Mutterliebe, S. 178. 2265 PROKOP, Die Illusion vom großen Paar, S. 284. 2257 2258

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quasi sakrales Geschehen [...]. Catharina verleiht ihrer Mutterschaft magisch-mystische Bedeutung – so ihre Phantasie – sie war bestimmt, ein schöpferisches Genie, den gottähnlichen Menschen hervorzubringen.“2266 Elisabeth Badinter bettete solchen ‚Marienkult‘ in die historische Dialektik von traditionaler und moderner Anschauung ein. Für sie wird die Frau erst in neuerer Zeit „nicht mehr mit der Schlange aus der Schöpfungsgeschichte oder mit einer verschlagenen und teuflischen Kreatur gleichgesetzt, die es zur Ordnung zu rufen gilt. Sie wird zu einer sanften und vernünftigen Person, von der man Verständigkeit und Nachsicht erwartet. Aus Eva wird ganz unmerklich Maria.“2267 Tendenziell mag dies zutreffen, doch stand Maria schon von je her als positive Identifikationsfigur zur Verfügung – ebenso wie auch dem männlichen ‚alten Adam‘ die ‚imitatio Christi‘ vor Augen stand. So bot sich die Figur der Maria als Objekt für unterschiedliche Projektionen an: Für Catharina Goethe ordnete sich die Marienphantasie noch organisch in ihr traditional-religiöses Weltbild ein. Für ihre Zuhörerin Bettina von Arnim hingegen „gehört diese Erlebnisweise schon der romantisch-mystischen Erfahrung an.“2268 Für Hebbel barg dieses Motiv die Möglichkeit, an den Primärrollen festzuhalten, sie in altvertraute Bilder zu integrieren und gleichzeitig die epochalen Verwerfungen in der eigenen Familiengeschichte zu überbrücken und zu deuten. Die Stilisierung der Mutter begann damit, ihr Bild im Rückblick zu reinigen – bereits in Analogie zur Maria, die in der kirchlichen Dogmatik als Mutter Gottes frei von Sünden war. Von allen Schlacken befreit soll Antje Hebbel fortan als „stilles freundliches Bild in aller mütterlichen Heiligkeit vor meiner Seele“ [T 1295] stehen. In der ersten Eintragung seines Kopenhagener Reisetagebuchs schrieb Hebbel 1842 mit Blick auf die Mutter – und zugleich auf ihre ‚Nachfolgerin‘, Elise Lensing: Eine ganz unbeschreibliche Melancholie drückt mich darnieder, Alles, was ich in Hamburg viertehalb Jahre hindurch gegen die treuste Seele, das edelste Gemüth [Elise] gesündigt habe, preßt mir das Herz. Sogar die alte Mutter, die es so gut meinte und gegen die ich oft so schnöde war, scheint mir jetzt gar keine Fehler mehr zu haben!2269

Mit Blick auf den marianischen Kontext muß besonders frappieren, wenn Hebbel die gestandene Ehefrau und Mutter Antje Margaretha, geb. Schubart, mit dem Mythos jungfräulicher Mutterschaft in Verbindung zu bringen suchte. Isidor Sadger sah auch diesen seelischen ‚Tatbestand‘ als erfüllt an. Der Psychologe bezog sich auf die frühe Erinnerung Hebbels, in der Klippschule erfahren zu haben, „daß der Storch die Kinder nicht brächte, sondern daß sie ganz wo anders her kämen; auch, daß es nicht das Kind Jesus sey, welches mich zu Weihnacht beschenke, sondern, daß meine Eltern das thäten. Letzteres konnte ich nicht für mich behalten, sondern theilte es meiner Mutter gleich mit“ [T 2520]. Sadger schrieb dazu: „Bezeichnend an dieser Erinnerung ist, daß er zwar den Zweifel am Jesuskinde der Mutter vorträgt, nicht aber sein neues

Ebd., S. 283f. BADINTER, Die Mutterliebe, S. 138. 2268 PROKOP, Die Illusion vom großen Paar, S. 261. 2269 T 2617. Hervorhebung C. S. 2266 2267

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sexuelles Wissen“.2270 Diese Differenz fand er bemerkenswert, „wissen wir doch, daß sonst kleine Kinder, die von Kameraden eine Theorie des Kinderkriegens hören, dies unbefangen der Mutter erzählen, zumal wenn sie an die Sache nicht glauben. Warum verhielt sich der vierjährige Hebbel da durchaus anders und wirklich nicht wie ein unschuldig Kind?“2271 Mittels einer psychologisierenden Deutung der Gedichte Versöhnung, Auf eine Verlassene und Virgo et mater im biographischen Kontext kam Sadger zu dem Ergebnis: Ich glaube, die Lösung ist nicht allzu schwer, wenn wir uns erinnern, daß Hebbel just damals seine Kindheitseindrücke wieder auffrischte und die Mutter poetisch verklären wollte. Dieses Gottkind ist der Dichter selber, der die Mutter heiligt für das große Verbrechen, ihrem Sohne dereinst mit dem Vater untreu gewesen zu sein. Die uneheliche Schwängerung hat eine Quelle [...] in dem für den Sohn ganz unerträglichen Gedanken, die Mutter solle vor ihm einem anderen angehört haben. Darüber ‚kann wirklich kein Mann hinweg!‘ Und jene Verbindung mit dem Vater kann nie legitim, nie eine rechtmäßige gewesen sein, nur eine sündhafte, arg verpönte, von der nur das Gottkind erlösen kann.2272

Ob sich hier unter religöser und literarisierter Überlagerung tatsächlich der Freudsche Ödipus-Komplex offenbart, sei dahingestellt. In der Hebbel-Biographik wurde dieser Komplex kurioserweise bis zur Realsatire traktiert und travestiert – im erbitterten Glaubensstreit der Biographen darüber, ob Antje Hebbel bei ihrer Hochzeit noch „Jungfer“ war, oder aber bereits eine ‚jungfräuliche Schwangerschaft‘ hinter sich hatte; ob der Mauermann Claus Hebbel wirklich der Vater eines Genies sein konnte, oder ob es der ‚Gottesmann‘ Volckmar sein mußte.2273 Angesichts der Hebbelschen Mythisierungen fiel es den Biographen mitunter besonders schwer, Literatur und Leben auseinanderzuhalten. Das Gedicht Virgo et mater macht immerhin deutlich, daß es letztlich eine geistige Form ‚unbefleckter Empfängnis‘ ist, die aus der sündigen ‚Eva‘ eine reine ‚Maria‘ macht, wobei Hebbel in der Gestalt der ‚Virgo-et-mater‘ beide zu integrieren versucht: Sie fühlt’s, und spricht: Du reine Magd, Dir gleich’ ich nicht, Doch unverzagt! Dir, Mutter, die der Sohn erkannt, Die unter’m Kreuz noch bei ihm stand, Dir will ich gleichen für und für, Und dann vergiebst du mir! [W 6, 179]

Ob aus ödipaler Eifersucht auf den Vater oder nicht – auch die Idee der jungfräulichen Mutter bezieht ihre Faszination vor allem aus der exklusiven Bindung an den Sohn, der sie ‚erkannt‘ hat: „Wenn man der Jungfrau Maria den Charakter der Gattin SADGER, Friedrich Hebbel. Ein psychoanalytischer Versuch, S. 13. Ebd., S. 19. 2272 Ebd., S. 358. 2273 Vgl. oben den Abschnitt Die Familie als Produktions- und ‚Erbengemeinschaft‘. 2270 2271

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versagt, so ist es, um desto reiner in ihr die Frau als Mutter zu verherrlichen. Aber nur indem sie die Rolle der ergebenen Dienerin auf sich nimmt, die ihr zugewiesen ist, gelangt sie zur höchsten Glorie. ‚Ich bin eine Magd des Herrn’“.2274 So auch bei Antje Hebbel. Alle reinigenden Eingriffe präparieren sie für eine Rolle, auf die sie das Leben nicht vorbereitet hatte: „Sie verdient es, die Mutter des unsterblichen [!] Dramatikers zu sein, und als solche wollen wir sie auch achten und ehren“.2275 In späteren Jahren umgab der geläuterte Dichter die Mutterschaft als solche mit der Aura des Heiligen: „Eine Mutter, eine schwangre, oder eine im Kreise ihrer Kinder; wo wäre im Leben des Mannes eine Situation, die dieser an Heiligkeit gliche?“ [T 3609]. In seinem Epos Mutter und Kind trieb er die Parallelisierung von weltlicher Familiengründung und biblischer Geschichte auf die Spitze: Dort ist es zunächst die Kauffrau, die ganz direkt ihr eigenes Schicksal mit dem der Gottesmutter parallelisiert. Allerdings erfährt der Leser davon aus der Perspektive ihres Gatten, so daß ihr Denken als subjektiv, ja, als Profanierung des Numinosen erscheint: Da fällt sein schweifendes Auge Auf die Dreesd’ner Madonna, mit ihrem lieblichsten Knaben, Und den reizenden Engeln [...]. [I]ch würd’ es [das Kunstwerk] noch heute entfernen, Spricht er, aber ich darf’s nicht wagen, und dennoch vergoß sie Oft schon Thränen davor, sie kann in der Fürstin des Himmels Nur noch die glückliche Mutter erblicken [W 8, 289].

Doch auch auf der Handlungsebene erzeugt Hebbel unübersehbare Parallelen zur biblischen Geschichte. Wenn etwa die biologische Mutter des der Kaufffrau versprochenen Knaben entscheidet, „sie will ihn stehlen und fliehen“ [W 8, 330], wenn der Kaufherr die Auswandererhäfen kontrollieren und überall nach dem Kind suchen läßt, dann gemahnt er in seiner vermeintlichen Machtvollkommenheit an den Herodes, die Situation der Eltern hingegen an die Flucht Josefs und Marias nach Ägypten. Und schließlich scheut Hebbel sich nicht, die ‚Heilige Familie‘ als ganze ins Bild zu setzen: Magdalena voran, im Arm den lieblichen Knaben, Christian hinterher, die Augen zu Boden geschlagen, Wilhelm und Anna zuletzt, auch nur bis zur Schwelle sich trauend, Jene dem heiligen Paar vergleichbar, diese den Hirten [W 8, 349].

Claudia Pilling bewertet dieses ‚lebende Bild‘ als „ironische Unangemessenheit“,2276 die den „Tatbestand der Blasphemie erfüllt“. Angesichts des ursprünglichen Plans, daß eine ‚mißratene‘ Mutter bereit war, ihren Sohn durch Verkauf zu ‚verlieren‘, erscheint dies plausibel. Doch der Umschlag des Epos ins Versöhnliche, der Pilling suspekt erscheint, ist gänzlich unironisch gemeint. Die dramatische Verkehrbarkeit der Welt BEAUVOIR, Das andere Geschlecht, S. 182. NAGEL, Friedrich Hebbels Ahnen, S. 29. 2276 Dieses und das folgende Zitat: PILLING, Hebbels Dramen, S. 63. 2274 2275

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war für Hebbel vielmehr auch im Verhältnis von Mutter und Sohn eine direkte Lebenserfahrung. Birgit Fenner nimmt die Heils-Motivik ernst: Die Familie wird ins fast Sakrale erhöht, das Mutter-Kind-Verhältnis ist wie eine Urkraft, die alle Hindernisse überwindet, Magdalena, die ihr Kind zuerst verkaufen wollte, wird wie die heilige Jungfrau Maria vom Glorienschein der Mutterliebe umstrahlt, und dieses Licht wärmt alle. [...] Mutter und Kind endet mit einem positiven Mythos: die natürliche Liebe der Mutter zum Kind trägt die Weihe göttlichen Ursprungs.2277

Mit der Ergänzung der Marienphantasie zum Bild der ‚Heiligen Familie‘ wird wiederum deutlich, daß der Mythos ‚der‘ Mutter nicht isoliert und selbstzweckhaft zu sehen ist. Im Gegenteil, Sinn und Ziel erhält er erst im Zusammenhang mit dem Mythos vom göttlichen Sohn. Noch zu Lebzeiten Antje Hebbels hatte der Sohn sie gelegentlich mit Attributen bedacht, die Parallelen zur ‚Himmelskönigin‘ Maria nahelegten. Mußte diese ihren Sohn in einem Stall zur Welt bringen, so war für jene „eine Stube, worin sie nicht zugleich wohnen u schlafen muß, das köstlichste Fragment eines Palast’s“ [WAB 1, 147], und „ein warmer Unterrock ein Krönungsmantel“ [WAB 1, 147]. Wenn Hebbel damit an die Ikonographie der ‚Schutzmantelmadonna‘ anspielte, so an anderer Stelle an die ‚Maria im Rosenhag‘, indem er die Mutter in den hortus conclusus eines ‚Paradiesgärtleins‘ versetzen wollte: „Es war mir aber der süßeste Gedanke, meiner Mutter aus dem, was mir neben dem Göttlichen selbst noch zufallen mögte, ein Paradies zu erbauen und ihr Alter für ihre früheren Jahre schadlos zu halten“.2278 Fast beiläufig erhöht sich der Autor selbst zum Schöpfer eines irdischen Paradieses, dem ‚Göttliches‘ zufällt. Diese Rolle, die Hebbel versagt blieb, fällt dem – seine Mutter nicht kennenden – Demetrius unverhofft in den Schoß: Ei, da ist die Mutter! Nun, so sprich! Hast Du’s Dir überlegt? Ich hab’ den Schlüssel Zu jedem Kasten, bin so reich fast, wie Der Teufel, aber besser, denn ich fordre Die Seele nicht, ich geb’ mein Silber so. Du stockst? Hat Moskau Nichts, was Dir gefällt? Wie manches Haus steht drin, wie mancher Garten, So wähle doch! Wie heißt’s im Kindermärchen? Ich wünschte wohl – – Nun, was? [W 6, 116f.]

Im Handumdrehen kann Demetrius dem alten Mütterchen ein Haus mit Garten verschaffen – auch er ein Demiurg, der „besser“ ist als der Teufel. Nicht Blasphemie äußert sich darin, sondern ein alter Märchenwunsch – oder aber, bei Hebbel selbst, ein moderner Traum, für den es noch keinen rechten Begriff gibt: „Das Glück ist in 2277 2278

FENNER, Friedrich Hebbel zwischen Hegel und Freud, S. 108. WAB 1, 242. Zu dem Motiv allgemein vgl. SACHS u. a., Christliche Ikonographie, S. 28. Alexandra Tischel greift auf einen ähnlichen ikonographischen Vergleich zurück: sie sieht in dem Gedicht Die junge Mutter „ein Bild, das an eine ‚Maria mit dem Kind‘ (etwa Andrea Mantegnas) erinnert“ [TISCHEL, Geschlechterverhältnisse, S. 201].

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Europa eine neue Vorstellung“,2279 erkannte der französische Revolutionär Louis Antoine de Saint-Just am Ende des 18. Jahrhunderts; der Mentalitätshistoriker Jacques Le Goff pflichtet ihm mit Blick auf Das alte Europa und die Welt der Moderne bei. Das biblische Heilsvokabular ist auch für Hebbel nötig, um einem traditional gebundenen Gemüt die unerhört neue Vorstellung nahezubringen. Auch Hebbel empfand, daß mit dem Versprechen irdischen Glücks eine ganz andere Wirklichkeit anbrechen würde; schon glaubte er die Gesetze der Zeit aufgehoben, indem er Mutter und Sohn für ‚unsterblich‘ hielt: „Daß die Mutter sterben würde, schien mir unmöglich […]. Es giebt Geschicke, vor denen man, aller Wandelbarkeit des Irdischen ungeachtet, sicher zu seyn glaubt; dahin gehörte für mich dieser frühe Tod meiner Mutter. Von nun an will ich glauben, daß auch ich sterben kann [WAB 1, 241]. Mit dezidiert kritischem Impetus versuchte Isidor Sadger, der Rollenidentifkation mit dem ‚göttlichen Sohn‘ in Hebbels Psyche nachzuspüren. Wo Kuh trotz Friedrichs „Ausnahmestellung“2280 und Bevorzugung durch die Mutter „keine unselige Veränderung in seinem Denken und Empfinden […], nichts von dem schadenfrohen Selbstüberheben und Sichbesserdünken, das in den Muttersöhnen, wie wir wissen, sich so gerne einnistet“, erkennen konnte, da behauptetete Sadger: „Solche Menschen bleiben stets unersättlich in der Liebe, weil niemand so viel zu bieten vermag, als seinerzeit die zärtliche Mutter dem Lieblingssprößling“.2281 Die „Verziehung der Mutter“ habe bewirkt, „daß Hebbel selbst unter den drückendsten äußeren Umständen und noch geringsten Leistungen nie an seiner Unsterblichkeit zweifelte“.2282 So kommt Sadger zu der Aussage: „Nie hat er sein ganzes Leben hindurch eine andere Gottheit neben sich geduldet, stets heischte er von seinen Anhängern beiderlei Geschlechtes unbedingte Hingabe“.2283 Als „tiefste Wünsche“ des Jünglings bezeichnet Sadger „die Sehnsucht nach einer großen Liebe, die eben darum, weil sie alles hingibt, auch alles gewinnt, und dann [...], ein Dichter zu werden“.2284 Am Ursprung dieses Wunsches stehe „Hebbels Mutter in den frühesten Tagen, da sie auf seine Hilfe nicht zählen konnte, sondern ihm noch alles selber hingab bis zu eigenem Hungern“. Doch an der religiösen Metaphorik wird deutlich, daß die moderne ‚große Liebe‘ gar nicht gemeint ist. Die Mutter wird allmählich zu einer Art Jüngerin, gerade weil sie den Sohn „bei ihrer Geistes- und Erfahrungsstufe“ [T 1295] nicht verstehen kann. Schon „der bescheidene Erwerb, den ich bei Susanna davon trug“ [W 8, 104] also das LesenLernen in der Klippschule, genügte ja „vollkommen, mir zu Hause ein gewisses Ansehen zu verschaffen“: Ein Kind ist es noch, das „nicht ohne Selbstgefühl“ täglich den Abendsegen ‚spendet‘ und die Mutter dadurch „fast zu Thränen“ [W 8, 104] rührt. Je älter der Knabe wurde, je ferner er der Mutter schließlich rückte, um so größer mußte das „Ansehen“ des Sohnes bei der Mutter werden. In die gleiche religöse Metaphorik kleidet Elisabeth Badinter ihre Analyse dieser Konstellation, speziell der Stellung der Mutter: Saint-Just, zit. nach LE GOFF, Das alte Europa und die Welt der Moderne, S. 65. Dieses und das folgende Zitat: KUH, Biographie, Bd 1, S. 34. 2281 SADGER, Friedrich Hebbel. Ein psychoanalytischer Versuch, S. 38. 2282 Ebd., S. 92. 2283 Ebd., S. 37. 2284 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 75. 2279 2280

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Als eine zugleich natürliche und göttliche entspricht diese Beziehung derjenigen, die zwischen einem Gott und seinem „Anbeter“ oder einem absoluten König und seinem Untertan besteht. Diese Beziehung beinhaltet daher einen ontologischen Statusunterschied zwischen den beiden Protagonisten, mit der Folge, daß der eine dem anderen absolut unterworfen ist. [...] Die Frau fand in dieser Selbstaufopferung zugleich ihre Daseinsberechtigung und ihre Lust. Die Mutter war tatsächlich masochistisch. [...] Sie wird also zu einer Heiligen, weil die von ihr verlangte Anstrengung ungeheuerlich ist.2285

Als konkrete Parallele ließe sich wiederum das Beispiel Goethes und seiner Mutter anführen, wo sich der „stumme innere Bund des großen Auserwählten mit ihr“2286 in variierenden Phantasien wiederholt: „Jesus gehörte für Catharina durchaus in diese Reihe hinein“.2287 Doch weder Catharina Goethe noch Antje Hebbel hätten sich in diesem Bund auf eine masochistische Rolle festlegen lassen. Masochismus wurde wiederum auch beim Sohn gesucht und gefunden. Ein weiterer Ansatzpunkt Isidor Sadgers, eine kindliche Rollenidentifikation Hebbels mit Jesus nachzuweisen, gründet auf dem Motiv der Passion. Auch dabei brauchte er nur auf Hebbels im Tagebuch niedergelegte Kindheitserinnerungen zu verweisen: Als ich ein Knabe von 9 oder 10 Jahren war, las ich [...] zum ersten Mal die LeidensGeschichte Jesu Christi. Ich wurde aufs Tiefste gerührt, und meine Thränen flosen reichlich. Es gehörte seitdem mit zu meinen verstohlnen Wonnen, diese Lectüre […] zu wiederholen und der Eindruck blieb lange Zeit jenem ersten gleich. [T 983]

Sadger analysiert: „In dieser ‚verstohlenen Wonne‘ an den Leiden Christi erkennt der Fachmann ganz deutlich den masochistischen Zug. Und jene Wonne war um so größer, als der Knabe sich mit Jesus selber identifizierte, wie wir dies von so vielen Menschen her kennen“.2288 Doch mit einer nur psychoanalytischen Diagnose ist auch auf Hebbels Seite wenig gewonnen, handelt es sich doch um das zentrale christliche Motiv schlechthin, das noch in säkularisierter Form weitervermittelt wurde. So bewirkte Joachim Heinrich Campe in seinem – dem kleinen Friedrich wohlbekannten – Roman Die Entdeckung von Amerika die „Induzierung und Stärkung gewissermaßen einer Columbus-Identität bei seinen Zöglingen“2289 in „Parallele zum unschuldig leidenden Christus“. Ließ sich einerseits die Passionsmetaphorik von Hebbel später mit realen biographischen Leiden noch unterfüttern, so prägte sie andererseits keineswegs exklusiv „seine Phantasie, Sohn Gottes zu sein“.2290 In einem Taum wiegt Gott höchstselbst das Kind, wenn auch auf eine Weise, daß diesem ‚schwindeln‘ muß: „Mir war, als hätte der liebe Gott, von dem ich schon so Manches gehört hatte, zwischen Himmel und Erde ein Seil ausgespannt, mich hinein gesetzt und sich daneben gestellt, um mich zu schaukeln. Nun flog ich denn ohne Rast und Aufenthalt in Schwindel BADINTER, Die Mutterliebe, S. 215. PROKOP, Die Illusion vom großen Paar, S. 275. 2287 Ebd., S. 278. 2288 SADGER, Friedrich Hebbel. Ein psychoanalytischer Versuch, S. 56. 2289 Dieses und das folgende Zitat: STEINLEIN, Joachim Heinrich Campes Die Entdeckung von Amerika, S. 39. 2290 SADGER, Friedrich Hebbel. Ein psychoanalytischer Versuch, S. 56. 2285 2286

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erregender Eile hinauf und hinunter“ [W 8, 102]. Dieser Traum ließ „einen solchen Eindruck in mir zurück [...], daß er eben deshalb sieben Mal hinter einander wieder kehrte“ [W 8, 102]. Die biblische Vollzahl Sieben2291 war dazu angetan, noch im Rückblick die quasi religiöse Qualität des Traums zu bestätigen. Wo Hebbel auf realgeschichtlicher Ebene die Metaphorik des göttlichen Sohns bediente, geschah dies ohnehin nur in vorsichtigen Anklängen – so etwa im Bericht vom einmaligen Schulschwänz-Versuch, der als „mein erster und vielleicht bitterster Martergang“ [W 8, 93] kommentiert wurde und bei dem der schuldlose Knabe sich erst dem teuflischen „Verführer“ in Gestalt des Nachbarjungen und dann der allgemeinen Verspottung ausgeliefert sah.2292 An anderer Stelle lobte Hebbel Elise: „Mein vollster Dank sey Dir dafür, daß Du zu Weihnacht als Weihnachts-Engel in die freudenlose Stube meiner Mutter eintreten willst. Warum aber in meinem u nicht in Deinem Namen?“ [WAB 1, 135]. Die scheinbar naive Frage läßt sich beantworten: Vermutlich war es ihm so unrecht nicht, daß Elise als „Weihnachts-Engel“ zurücktrat, um gleichsam wie in der biblischen Verkündigungsszene das vom Sohn ausgehende Heil zu melden – ‚in Seinem Namen‘.2293 Und wenn er schließlich „hoffen durfte, sie [die Mutter] wieder zu sehen“ [WAB 1, 241], dann in keiner anderen Rolle als der ihres Erlösers von irdischem Leid, über das er sich selbst zu erheben suchte. In einem Brief an den Wesselburener Kirchspielschreiber bekannte er 1838 offen: „Mein Streben geht zu sehr in’s Unermeßliche [!], als daß ich die Empfänglichkeit für das, was man auf Erden [!] Glück nennt, behalten haben könnte. Mir genügt die Fülle der Kraft, die sich durch alle Adern meines Ichs ergießt“ – und die Aussicht, daß „[mir] Göttliche[s] [...] zufallen mögte“ [WAB 1, 242]. Deutlicher und geradezu systematisch wird die Christus-Metapher auf die Titelfigur des Demetrius-Dramas übertragen, wobei sie zwischen ironischer und beschwörender Verwendung changiert.2294 Ungeniert bittet der heuchlerische Schuiskoi: Mein Fürst, vergönne erst, daß ich den Stern Verehre, der mich her geleitet hat, Wie der der heiligen drei Könige [W 6, 65]

Doch die Anfänge des Demetrius ähnelten tatsächlich den Umständen der Geburt Christi. Ein Mönch hatte ihn „Gott weiß, auf welchem Mist, [/] Dem Hungertode nah‘,“ [W 6, 8] gefunden und „bat bei allen Wunden unsers Herrn [/] Für ihn um eine Streu im Pferdestall.“ [W 6, 8]. Dabei lassen sich die „Wunden unsers Herrn“ nicht nur als Berufung des Mönchs auf die Stigmata Christi, sondern gleichfalls als AnspieVgl. dazu SACHS u. a., Christliche Ikonographie, S. 374. Vgl. T 2520. 2293 Auf eine ikonographische Parallele in dem Gedicht Die junge Mutter hat Alexandra Tischel aufmerksam gemacht: „Eine Figur, deren Funktion durch eine Lilie, symbolisiert wird, taucht […] vor allem […] in der Verkündigungsszene auf“ [TISCHEL, Geschlechterverhältnisse, S. 202]. 2294 Als literarische Parallele vgl. etwa Kleists Michael Kohlhaas, über den Helga Gallas schreibt: „Ich bin der Größte, ich bin Gottes Sohn, diesen ‚Gedanken‘ zitiert der Text auf vielfältige Weise“ [GALLAS, Das Textbegehren, S. 93]. 2291 2292

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lung des Autors auf den elenden Zustand des Findlings deuten, der sich „vom Stall heraus [/] Den Weg zum Czaren-Thron zu bahnen weiß“ [W 8, 68]. Die Zarin Marfa, der man ihr Kind wegnahm, um es zu töten, nennt ausgerechnet der Moskauer Patriarch in direkter Parallele zur biblischen Verkündigungsszene2295 „gebenedeit vor Vielen“ [W 6, 47], und einer Äbtissin legt Hebbel die Worte in den Mund, mit denen Marfa der „Eine[n], die am Kreuze stand“ [W 6, 44] gleichgesetzt wird. Daß mit Demetrius der totgeglaubte Thronerbe wiedergekehrt sei, wird vom Volk wahrgenommen als „Auferstehung [/] Vor’m jüngsten Tag, und ohne unsern Herrn, [/] Und doch geglaubt!“ [W 6, 31]; „Du kommst, als wär’s vom Himmel“ [W 6, 102], bestätigt ihm sein Schwiegervater Mniczek. Und Marfa selbst will – in schiefer Anspielung auf die Tat des Petrus – „Jeden, wie am Ostermorgen, [/] Umarmen, der das Schwert für Dich gezückt“ [W 6, 70]. Auch die Mission des neuen Zaren wird als göttliche gedeutet – von Vertretern der katholischen Kirche. Der Jesuit Gregory, der einst den Knaben aus Moskau fortbrachte, glaubt, Demetrius sei von Gott „erseh’n, den Kirchenspalt zu schließen“ [W 6, 114], und prophezeit ihm: „Die Erde [/] Wird jubeln, wie bei der Geburt des Herrn, [/] Wenn’s endlich wieder Eine Kirche giebt“ [W 6, 115]. Ohnehin erklärt der päpstliche Legat höchstselbst salbungsvoll: Es gilt Das heil’ge Werk, das […] Begonnen und vollendet werden muß […]. Der Rock des Herrn, zerrissen und zersplissen, Ist immer noch das theure Bild der Kirche, und ehe wir ihn neu zusammen stückten, Ist Nichts gescheh’n, wie viel wir auch gethan. [W 6, 23]

Der so von allen Seiten in die Rolle eines zweiten Christus manövrierte Demetrius beginnt schließlich selbst, Worte Christi nachzusprechen: „Ich führe Krieg mit den Lebendigen, [/] Nicht mit den Todten! Laßt die Todten ruh’n!“ [W 6, 99]. Ironischerweise gerät das Zitat gerade dort zum Gleichnis, wo Demetrius von seiner zugeschriebenen Rolle Abstand nehmen will: Gebt einmal eine Münze! – Wessen ist Das Bild? Wen stellt es vor? Mich selbst vielleicht? […] Nun, wenn ich der nicht bin, der dies Metall Gestempelt hat, so kann ich auch wohl der Nicht sein, dem Ihr Gehorsam schuldig wart! [W 6, 69]

Die Prophezeiungen und Zuschreibungen entfalten ihre Macht auch gegen den erklärten Willen des Demetrius. Selbst wenn er ausruft, „nimmer rühr’ ich an das Göttliche, [/] Und hab ich diese unheilvolle Macht, [/] So will ich auch sogleich auf sie verzichten“ [W 6, 114], kann er es nicht mehr, ja glaubt er selbst bereits an diese Macht in sich. Am Ende sieht er sich gezwungen, seine Rolle noch da weiterzuspielen, 2295

Lukas 1, 28.

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als sich herausgestellt hat, daß er als illegitimer Zarensohn keinen Anspruch auf sie hat. Insofern der Mythos die Wirklichkeit überspringt, liegt selbst darin noch eine Parallele zur Christus-Rezeption. Heinz Stolte sah das „Muster“2296 des ChristusMythos ausgedrückt in der Verheißung, „Selig die Mühseligen und Beladenen, die Letzten werden die Ersten sein“, und in dem „Wunder der Verwandlung“,2297 der „Höllenfahrt eines Verdammten, Auferstehung eines Berufenen und Erwählten“. Stolte hatte einen Christus triumphans vor Augen, mit dem er den Demetrius und den Dichter verglich: „Es kann kein Zweifel darüber sein, daß auch Hebbels […] Werdegang auf ähnliche Weise solche mythischen Züge aufweist“.2298 Hebbel selbst wagte sich in eigener Sache allerdings nicht so weit hervor; nur dort wird die Metapher forciert, wo ein lyrisches Ich oder Der Dichter schlechthin spricht. Wenngleich sich keine parallelen autobiographischen Äußerungen finden lassen, mag immerhin das in Ich-Form geschriebene Gedicht Das Abendmahl des Herrn von 1835 durchaus auf ein mystisches Erlebnis im Gottesdienst zurückgehen: Und auch ich, in brünstigem Verlangen, Aß und trank, vor Wehmuth unbewußt, Und die Gluth erlosch auf meinen Wangen, Doch, es glühte in der Brust. Ja, Du selbst, Du selber wirst gegeben, Heiland, Du, Dein ganzes, ganzes Seyn, […] Zuckt es nicht von Dir in jedem Tropfen Meines Bluts, das ungestümer fleußt? Nicht von Dir in meines Herzens Klopfen, Das vor Wonne fast zerreißt? Ist nicht Dein die flammende Empfindung, Die mich selig macht und doch zersprengt, Und, in unerforschlicher Verbindung, Mich und Dich zusammendrängt? [DjH II, 218f.]

Die Einsetzungsworte Christi, „Mein Blut, für Dich gegeben”, werden hier unerhört direkt verstanden und das Verhältnis des Kommunikanten zu ihm geradewegs zur ‚Blutsbrüderschaft‘ stilisiert, die in einer mystischen Verschmelzungsphantasie gipfelt. Der Dichter wiederum, der sich in Hebbels so betitelter Novelle seines quasi-göttlichen Wesens entäußert, indem er „nach schmerzlichem Kampf den höchsten Act menschlicher Selbst-Verläugnung“ [W 5, 113] vollbringt, sein Werk einem anderen überläßt und sich „als Verfasser eines vom Nebenbuhler geschriebenen schwachen Werkes zu erkennen geben, also seinen Verzicht und seine Erniedrigung vollkommen machen müßte“,2299 als ein „Dichter, den die Welt vernichtet“ [W 5, 151], steht schließlich in direkter ‚Opferkonkurrenz‘ nicht mehr mit der Mutter, sondern mit dem leidenden Dieses und das folgende Zitat: STOLTE, Die Tragödie des Unpolitischen, S. 13. Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 14. 2298 Ebd., S. 13. 2299 BRUGGER, Zu Hebbels Fragment: Der Dichter, S. 44. 2296 2297

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Christus am Kreuz. Ja, in gewisser Weise übertrifft er sogar sein religiöses Vorbild: „Ich kann den Lorbeerkranz nicht annehmen. Ich trage seit lange schon eine Dornenkrone und die müßte ich wieder abnehmen, aber das geht nicht, denn sie ist mir längst ins Haupt eingewachsen“ [W 5, 115f.]. Es sei „sein inniges Verhältnis zu Gott, welches vielfach sogar mit spezifische Grundlage seines Dichtens wurde“,2300 zog Sadger eine direkte Verbindung von einer recht pauschal bestimmten Religiösität Hebbels zu den kreativitätspsychologischen Voraussetzungen des Dichters: „Diese allerpersönlichste Beziehung zu Gott, in dem sich Vater und Unbewußtes einen, gibt ihm die Weihe seines Dichterberufes“.2301 Doch rechnet diese Analyse von „Zwangsphänomene[n]“ 2302 weder mit dem möglichen Spielcharakter von Hebbels Rollenübernahmen, noch mit geistesgeschichtlichen Anleihen, die seit dem Geniekult des Sturm und Drang bereitstanden. Wenn Hebbel etwa meinte, der Dichter sei „der Repräsentant der Weltseele, in dem sich zugleich Schöpfung u Schöpfungsact abspiegeln sollen“ [WAB 1, 128]; wenn er glaubte, „jedes seiner Gedichte ist ein Evangelium“ [WAB 1, 159], „[a]lles Dichten aber ist Offenbarung“ [WAB 1, 159] und formulierte: „Daß die Gottheit dem Menschen die formende Kraft verlieh, das ist ihre höchste Selbst-Entäußerung“ [T 2319] – dann äußert sich darin eine zunehmende begriffliche Abstraktion, die von der eigenen Biographie endgültig abgekoppelt erscheint. Wie auch immer sich der arrivierte Dichter wirklich verhielt – seine Wiener Freunde verstanden nur zu gut die unterschwellige ‚frohe‘ Botschaft, die von ihm ausging. Devot näherte sich Adolf Schmidl einem Göttlichen: „Wenn Sie mich nicht schon verurtheilt haben – so sind Sie mehr als ein Mensch, ein divus zum wenigstens! [sic!]“ [WAB 2, 508]. In gläubiger Unterwürfigkeit erging sich geradezu der junge Karl Werner: Nie habe ich noch mit solchem Zagen und Bangen die Feder ergriffen, um an Sie zu schreiben, als dießmal. Es kommt daher, weil ich mir bewußt bin, eine große Sünde gegen den hlg. Geist u. zwar gegen Ihren hlgn Geist begangen zu haben. […] – Die katholische Religion vergibt niemals die Sünden wider den hlg. Geist. Ich aber weiß: Sie sind größer, als die katholische Religion. „Meister! Darf ich auf ein Zeichen harren?“ [WAB 2, 93f.]

Auch längerer vertrauter Umgang änderte wenig an diesem Verhältnis eines Jüngers zu seinem „Meister“. Fast vier Jahre später schrieb Werner an Hebbel: „[D]arum aber flehe ich Sie an, mir nicht zu zürnen, mir nicht als einen [sic] unwiederbringlich Verlorenen den Rücken zuzuwenden, sondern mir wieder mit dem freundlichen Götterblick zuzulächeln und mir die Hand zu lassen, durch welche gestüzt ich bisher den steilen Pfad hinaufklimmen durfte“ [WAB 2, 720f.]. Nicht nur jugendlicher Überschwang konnte zu solch religiöser Hingabe an Hebbel verleiten. Dem 37jährigen gratulierte der fast doppelt so alte Franz Xaver Fritsch hymnisch:

SADGER, Friedrich Hebbel. Ein psychoanalytischer Versuch, S. 61. Ebd., S. 315. 2302 Ebd., S. 61. 2300 2301

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Mich dünkt, als dürft’ ich Dir, aus Gott Gebornen, Zur neuen Welterlösung Miterkornen, Nicht anders am Geburtstagsfeste nah’n, Als wie dort die drei Könige, angethan Mit Gold, Weihrauch und Myrrhen. […] Und zu beweisen, daß es – was dem Gott Gebührt – am Weihrauch endlich mir nicht fehlt: Hab’ ich – wie wenig duftend auch – dies Blatt erwählt! [WAB 2, 133]

Die wohl innigsten Worte aber flossen Karl Werner unter dem Eindruck der Lektüre von Mutter und Kind aus dem Herzen und der Feder, mit denen er Hebbel gleichsam als bevollmächtigten Verkünder des göttlichen Worts feierte: Ja, das ist die Verklärung des heiligsten Gefüles [...]. Man wird heiliger und reiner, wenn man dieß Gedicht liest [...] Und Sie waren das „Glück“ und Ihnen galt das „Gebet“, das, wie von selbst kommend, ungerufen u ungeahnt, von meinen Lippen tönte! Und meine Seele „--weint Dir süßeren Dank, als die Anderen Alle, die Du glücklich u reich gemacht!“ [...] Welch unendlichen Dank sind wir Ihnen für diese Weihnachtsgabe schuldig geworden! Wie hoch haben Sie uns über dieß niedere Erdenleben empor gehoben und uns in jene reineren, höheren Sphären hinaufgetragen, in denen nur die Lieblinge der Götter weilen, die Genien der Menschheit und – Sie! Man kann Ihnen auch nur danken, wie den Göttern mit dem eigenen Gefüle; nicht aber mit Worten. Und dies Gefül, das Sie selbst in mir entzündeten, lege ich nieder auf Ihren Weihaltar! Nemen Sie es gnädig auf, Amen! [WAB 3, 730f.].

Ohne großes Aufheben manövrierten auch einige Biographen Hebbel in die Rolle des ‚göttlichen‘ Sohns. Während Hebbel für sich ‚dichterische Freiheit‘ in Anspruch nahm, Sadger hingegen einem bewußt kritischen Impetus folgte, erlagen andere, wie zuvor Hebbels zeitgenössische Bewunderer, der entgegengesetzten Versuchung, den Dichter selbst in den Himmel zu erheben. So wartete Hermann Krumm mit der Mutter auf die Zeit, „wenn ihm endlich der Sieg geworden“2303 – ‚in hoc signo vinces‘ –, Hermann Nagel hingegen fragte im Hinblick auf die niedrige Geburt rhetorisch: „Und ist es denn wirklich so unmöglich, daß aus einer armen Hütte kein [sic!] Genie hervorgehen kann?“2304 Wie nachhaltig die hagiographischen Tendenzen die Biographik beeinflußten, zeigt sich daran, daß noch Hayo Matthiesen Antje Hebbel mit einem Heiligenschein versah: „Sie war der gute Engel in Hebbels Jugend“.2305 Solche Anspielungen sind letztlich kaum mehr als ein diffus-superlativischer Ausdruck der Bewunderung. Die inflationäre Verwendung und säkularisierende Verflachung des religiösen Sprachgebrauchs trübte schon bei den Zeitgenossen die Wahrnehmung. Hebbels janusköpfige Identifikation mit seiner Primärrolle als ‚verlorener‘ und ‚vergöttlichter‘ Sohn hatte dagegen noch einen konkreten Sinn, der erst vor dem Hintergrund des hergebrachten und durch den epochalen Bruch erschütterten Generationenverhältnisses als Muster erkennbar und interpretierbar wird: als imaginärer KRUMM, Friedrich Hebbels Leben, S. 63. NAGEL, Friedrich Hebbels Ahnen, 30. Hervorhebung C. S. Eigenartigerweise sagt Nagel durch die doppelte Negation das Gegenteil von dem, was er meint. 2305 MATTHIESEN, Friedrich Hebbel, S. 15. 2303 2304

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Vermittlungsversuch zwischen traditionaler und moderner Mentalität, für den ein ‚gemeinsamer‘ Ausdruck gesucht wird. Die religiöse Sprache, die von je her das ‚Ganz Andere‘ in vertraute Bilder faßte, diente nun dazu, auch das inkommensurable Neue in der Biographie des Sohnes Hebbel zu repräsentieren. Die polaren Metaphern für den Sohn ergeben sich aus der imaginierten Zwiesprache mit der Mutter und in konkret erlebten Momenten des Umbruchs – jenseits dieser ‚künstlerischen‘ kommunikativen Funktion erhalten sie, zumal vor dem Hintergrund der modernen Wahrnehmung, den Ruch des Abgeschmackten, Blasphemischen oder Bigotten.

Der Aus- und Eingeschlossene: „dieß verschüchterte Wesen“ Der Tod Claus Hebbels hatte einen empfindlichen Verlust für seine Familie bedeutet – weniger in emotionaler, mehr jedoch in sozialer und struktureller Hinsicht. Positionen bestehen allerdings „auch dann weiter, wenn z. B. keine Person die Position ausfüllt, was sich im Bewußtsein der Vakanz bei den Beziehungsträgern ablesen läßt (z. B. der fehlende Vater)“.2306 Gerade in einem dichten sozialen Milieu bedeutet dies oft, daß eine andere Person in die freigewordene Position einrücken kann. Für den älteren Sohn des Maurers übernahm bald der Nachbar Johann Jacob Mohr die Rolle des ‚Hausvaters‘. Doch trotz der damit verbundenen Kontinuität, die dem Jungen zudem die Möglichkeit zur Weiterentwicklung gab, bedeutete dies einen inneren Bruch: Denn wenn es auch nicht zur direkten Auflösung überkommener Rollen kam, so erfuhr Hebbel am Wechsel der ‚Vaterfigur‘ nur zu deutlich die „Ablösbarkeit der Verhaltenserwartungen von einem Individuum“. Eine solche Erfahrung aber begünstigt das „Bewußtsein von der Rollenhaftigkeit des Verhaltens“,2307 der Uneigentlichkeit der Rollendarstellung und somit Rollendistanz. Hinzu kommt, daß Hebbels Beziehung zum Kirchspielvogt sich im Rahmen der sekundären Sozialisation entwickelte und weitgehend durch bewußte Aneignungsprozesse gestaltet wurde – im Gegensatz zur vorwiegend unbewußt eingeprägten Primärrolle ‚Sohn‘. Auch daß der die Vaterstelle vertretende Mohr nur eine halbe Generation älter war als der Heranwachsende, verminderte die patriarchalische Autorität. Aufgrund dieser strukturellen Brüche ist weder davon auszugehen, daß Mohr ‚menschlich‘ die Vaterrolle ausfüllte, noch, daß Friedrich „Sohnesliebe“2308 auf ihn übertrug. Konterkariert wurden diese strukturellen Schwächen der Beziehung von der enormen inhaltlichen Attraktivität, die von dem Rollenvorbild des vornehmen Kirchspielvogts – zumal im Vergleich mit dem abgeschlagenen Flickmaurer Claus Hebbel – ausging. Wenn Mohr über weite Strecken zum peinlich genau kopierten Vorbild wurde, dann war dies keineswegs Ausdruck einer lebendigen Vater-Sohn-Beziehung, sondern einer eigenartigen Rivalität. Daß der Jugendliche sich umstandslos am höchsten Repräsentanten der Landschaft Dithmarschen maß, deutet gerade nicht auf ‚Ebenbürtigkeit‘, sondern vielmehr auf das Dieses und das folgende Zitat: COBURN-STAEGE, Der Rollenbegriff, S. 51. Ebd., S. 15. 2308 THOMSEN, Grenzen des Individuums, S. 158. 2306 2307

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Überkompensieren einer doppelten sozialisatorischen Irritation: Die strukturell starke Position des ‚primären‘ Vaters Claus Hebbel war inhaltlich unterdeterminiert, die ungleich attraktivere seines Nachfolgers hingegen sekundär und letztlich kontingent. Was Hans-Georg Soeffner in anderem Zusammenhang über konkurrierende Vaterrepräsentanten herauspräpariert, gilt auch hier: Es sind nicht nur Vertreter unterschiedlicher Institutionen sondern auch unterschiedlich organisierter Weltbezüge, Lebenshaltungen und auch unterschiedlicher Welt-Anschauungen (trotz der ihnen gemeinsamen Religion). Diese Unterschiede sind Ausdruck der verschiedenen Ziele, Zweckrationalitäten und Organisationsprinzipien der jeweiligen Institutionen, von denen keine per se das Monopol für eine bestimmte Version der Weltauffassung hat, die vielmehr miteinander konkurrieren und damit keine feste Zuordnung des einzelnen zu einer einsinnigen, sozialen Ordnung mehr gewährleisten. Das führt zu einer strukturellen Labilität, was die Zuordnung des Einzelnen innerhalb des sozialen Verbandes betrifft.2309

Ist damit „bereits eine Vorentscheidung zuungunsten jedweder Vaterfigur gefallen“?2310 Zunächst läßt sich am Beispiel Hebbels ein vielschichtiger Inter-RollenKonflikt beobachten. Gegenüber Mohr changierte sein Verhalten zwischen Imitation und unfreiwilliger Karikatur, spöttischer Persiflage und offenem Widerspruch. Wo die Nachahmung des Kirchspielvogts sich in eine weitreichende Rollen-Übernahme verwandelte, lag eine Usurpation vor, durch die er sich in eine paradoxe Doppelrolle als Herr und Diener in einer Person manövrierte. Dies war ihm schon äußerlich auf den Leib geschrieben. Selbst Emil Kuh räumt ein, daß es ein „drolliges Bild“2311 abgegeben habe, wenn der Knabe gravitätisch in Mohrs „sehr lange[m] Rocke, eine bis in den Nacken niederhängende Mütze auf dem Kopfe, […] den Milchtopf über den Marktplatz in die Kirchspielvogtei trug.“ Klaus Groth wußte: „Für die prosaische Umgebung natürlich war der kleine Mann in den abgetragenen Kleidern des Kirchspielvogts ein Gegenstand der Neckerei oder des Lachens“,2312 wohl auch, weil des Schreibers neue Kleider anfangs „zu groß waren, so daß er recht komisch ausgesehen haben muß“.2313 Paul Bornstein schrieb unter Berufung auf Augenzeugenberichte, daß der junge Hebbel auch „durch seine Umgangsformen“, insbesondere durch die „Sprödigkeit und Steifheit seines Benehmens“ mitunter „Spott oder Widerstreben hervorgerufen“ [HP I, 12] habe. Seine Rolle als Hausgenosse des Kirchspielvogts war strukturell in mehrfacher Hinsicht labil: Sie war erst spät im Rahmen der sekundären Sozialisation erlernt worden und stand in Konflikt mit Hebbels primärem Selbstbild als Sohn, wie auch mit der Gruppen- und Generationsrolle des ‚Junggesellen‘. Doch konnten diese Antagonismen in der ‚kleinen Welt‘ Wesselburens noch in Formen jugendlichen Probehandelns spielerisch ausgetragen und vermittelt werden.

SOEFFNER, „Typus und Individualität“ oder „Typen der Individualität“, S. 35. Ebd., S. 36. 2311 Dieses und das folgende Zitat: KUH, Biographie, Bd 1, S. 79f. 2312 GROTH, Friedrich Hebbels Jugendjahre, S. 125. 2313 WERNER, Friedrich Hebbel. Ein Lebensbild, S. 33. Vgl. auch DETERING, Andersen oder Der Doppelgänger Hebbels, S. 84–86, der Hebbels Beschreibung von Andersens „schlotterige[m]“ Äußerem auf den – inzwischen ausgewachsenen – Hebbel zurückbezieht. 2309 2310

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Mit dem Verlassen der Holsteiner Heimat – von den Biographen meist als Rettung gefeiert – wurde Hebbels Status auch äußerlich instabil: Der verspätete Besuch einer ‚Gelehrtenschule‘ in der unbekannten Großstadt Hamburg, die akademisch erfolglosen Studienjahre in Heidelberg und München und schließlich die Rückkehr nach Hamburg als brotloser Literat prägten die Jahre 1835 bis 1839. Bedeutete die Produktion der Judith im Jahr 1839 dichterisch einen entscheidenden Wendepunkt, so blieb Hebbels sozialer Status auch während der zweiten Hamburger Zeit und der Reisejahre in Frankreich und Italien (1843 – 1845) prekär – bis zur Hochzeit mit der Burgschauspielerin Christine Enghaus am 26. Mai 1846 und der damit verbundenen Seßhaftwerdung in Wien. Schon bald war Hebbel in Hamburg klar geworden, daß er auf die ‚große Welt‘, ihre gesellschaftlichen Konventionen und Mentalitätsstandards kaum vorbereitet war. Hier erst erlebte er eine gesellschaftliche Distanz, die im kleinen Dithmarschen unbekannt war und die nun den ‚Beamten‘ und den ‚Burschen‘ in ihm gleichermaßen betraf: „Man stelle sich nur den unerfahrenen, linkischen Jüngling vor bei den Freitischen, die seine Gönnerin für ihn ausgewirkt hatte, zumal da ihm schon nach Wesselburen eine detaillierte Anweisung zugeschickt war, wie er sich in der ungewohnten Lage zu benehmen habe“,2314 schrieb Hermann Krumm. Zahlreiche Zeugnisse belegen die plötzliche Irritation des Wesselbureners. Christoph Marquard Ed beschrieb ihn als „weder gewandt noch ansehnlich; […] ziemlich eckig in Wuchs und Manieren“ [HP I, 43], als „linkisch“ [HP I, 43] und dabei „hochmütig genug“.2315 Hier der „kaum entpuppte Schreiber, der es für eine große Ehre hielt, in einen Gymnasiasten-Verein eingeführt zu werden“ [T 1550] und der „Jedermann für mehr hielt, als mich selbst“2316 – dort der „selbstische oder despotische Grundzug in Hebbels Wesen“ [HP I, 49], dem nach Ansicht Leopold Albertis „[a]lle ihm bekannten und befreundeten Personen (ich nehme selbst die Schoppe nicht aus) unterlagen“ [HP I, 49]. Hebbel selbst klagte dagegen – kleinlaut und bissig zugleich – im August 1836: „Nur Schade, daß ich durchaus nicht auftreten kann, wie ich wünschte“ [WAB 1, 105]. Um so überraschter reagierte er, daß er wenig später von dem großen Ludwig Uhland bei der ersten Begegnung keineswegs so „gedrückt, ja erdrückt“ [WAB 1, 113] wurde, wie er es erwartet hatte. Aus der Enttäuschung erwuchs sofort ein Hochgefühl der Überlegenheit: „Ich werde nie wieder […] vor irgend einen Menschen mit Befangenheit hintreten. Von all jener Schüchternheit, jenem Schwanken, die mir bisher so sehr im Wege standen, hat der Besuch bei Uhland mich befreit; ich habe hier in München mehrere Besuche zu machen, vor denen ich mich noch in Heidelberg scheute […]; jetzt sehne ich mich danach“ [WAB 1, 113]. Doch die Irritation wirkte fort. Im November gestand Hebbel seinem Freund Gravenhorst: „Ich muß glauben, daß es in meiner Natur an Verhältniß fehlt, daß sie nur so aufs Ungefähre hin zusammen gezimmert ist, ein rohes Durcheinander von Maschine, das klippt und klappt, ohne Zweck und Ziel“ [T 444]. Um so mehr fand Rudolf von Ihering in ihm „etwas Absonderliches […] etwas Gesuchtes, KRUMM, Friedrich Hebbels Leben, S. 41. Vgl. dazu den Brief von Amalie Schoppe in WAB 1, 40. 2315 HP I, 43. Vgl. allgemein dazu: SCHLEE, Friedrich Hebbels äußere Erscheinung. 2316 W 15, 19. Vgl. dazu auch T 4762. 2314

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Gemachtes“ [HP I, 54]. Herrisches und serviles Wesen standen bei Hebbel als unvermittelte Rollencharaktere nebeneinander; zu einer gelassenen, ‚selbstbewußten‘ Rollenerfüllung oder auch -distanz war er dagegen nicht fähig. Gesucht wurden nun Erklärungen und Bewältigungsstrategien. Daß der Dithmarscher auf akademisches Leben und Dichterbesuche, auf großstädtische Salons und Soireen nur unzureichend vorbereitet war, schien vordergründig ein Problem mangelnder Erfahrung zu sein. Noch optimistisch schrieb Hebbel im Februar 1836 in einem Dankesbrief an den Tönninger Bürgermeister J. Fr. Müller: „Höher aber, als diese Ausbeute in litteris, darf ich die Erkenntniß meiner Selbst und meiner Stellung zu Leben und Welt schätzen, die ich mir erworben habe und die mir früher so unendlich fern stand“ [WAB 1, 67]. Doch die sachliche Einschätzung, daß ihm die große „Welt“ einfach zu „fern“ gestanden hatte, reichte in dem Moment nicht mehr hin, als Hebbel merkte, daß er auch in ihr sich nicht wohl fühlte, daß seine subjektive „Stellung zu Leben und Welt“ äußerst labil blieb. Die neuen Sekundärrollen ließen sich keineswegs so schnell und selbstverständlich erlernen wie weiland die traditionalen Wesselburener Rollen. Was die moderne bürgerliche Gesellschaft verlangte und was ihm fehlte, war die Fähigkeit, differenzierte, jeweils situativ angepaßte Rollen zu spielen, und dies wiederum mit einer Sicherheit, die nur durch eine vorausgegangene Internalisierung von Verhaltensnormen zu erreichen war. Diese zweifache Anforderung war im Grunde paradox: Die zunehmende Aufsplitterung der bürgerlichen Identität in verschiedene Einzelrollen mußte durch psychische Vertiefung aufgefangen werden, um nicht den Eindruck einer multiplen, sondern im Gegenteil den einer geschlossenen und glaubwürdigen Persönlichkeit zu erwecken. Die traditionale Gesellschaft hatte vor dem Hintergrund einer fraglos vorausgesetzten Einheitlichkeit der Mentalität deviantes Verhalten noch ohne viele Umstände integrieren können. Weil Hebbel diese Diskrepanz nicht bewußt war, mußte er bei der Suche nach biographischen Ursachen auf konkretere Verletzungen rekurrieren, so etwa wenn er Elise Lensing im März 1837 pathetisch dramatisierend schrieb: Du meinst, es könne sein Gutes haben, daß ich in Noth u Elend aufgewachsen bin. Nein! Das ist der ärgste Fluch eines menschlichen Daseyns, den keine Ewigkeit von dem Haupt des Unglücklichen zu nehmen vermag. Er kommt allenthalben zu spät, u gelangt wenigstens nie zu einer vollkommen ausgebildeten Persönlichkeit. Ein Quentin Glück mehr, etwas weniges Sonnenschein in der früheren Zeit, und der Baum hätte ganz andre Zweige getrieben, ganz andre Früchte gebracht. Das Bestreben, die Gefängnißmauern zu durchbrechen, verzehrt die edelsten Kräfte!“ [WAB 1, 161f.]

Nun wünschte sich Hebbel, er hätte die „edelsten Kräfte“ an die Ausbildung einer gefestigten „Persönlichkeit“ verwandt – doch gerade das lag der traditionalen Sozialisation „unendlich fern“. Rollenzwiespalte, die in Wesselburen noch lässig zu überspielen waren, monumentalisierte er nun im Rückblick zu unüberwindlichen „Gefängnißmauern“, die ihn von seiner Umwelt trennten. Neben die Niedrigkeit seiner Herkunft stellte Hebbel den Hochmut seines Prinzipals – dies gestattete ihm, sich zum Schon-immer-Ausgegrenzten zu stilisieren: „Daß ich in Dithmarschen geistig schon so hoch stand […] und dennoch gesellschaftlich von dem K[irchspielvogt]

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M[ohr], der mich erkannte, so niedrig gestellt ward, ist das größte Unglück meines Lebens. Dies begreift Niemand, als der es selbst erfuhr“ [T 1385], schrieb er im Dezember 1838 im Tagebuch. Doch wie auch sollte diese Aussage von jemandem zu begreifen sein, wenn Hebbel selbst noch am Abend ihrer Niederschrift „im musikalischen Abendzirkel bei Hofrath Vogel“ [T 1384] unter allen Anwesenden „sich mit dem Schlechtesten vergleicht. Zum Lachen! Trefflich!“ [T 1384] Während Hebbel sich noch immer nicht kennt, wird von Mohr im Nachhinein verlangt, daß er den ‚hohen Stand‘ schon des jugendlichen Schreibers hätte respektieren sollen. Hebbel ahnt, wie widersprüchlich er sich noch jetzt verhält: Was ihm bleibt, ist ein bitteres Lachen über die eigene, nur zu leicht zu verkennende Persönlichkeit. Eine Krisis erreichte Hebbels Identitätsproblem, als er – ausgerechnet als königlich dänischer Stipendiat in Rom – am 31. Dezember 1844 klagte, er sähe sich „von Jugend auf“ sein „ganzes Leben hindurch von jedem Kreis, worin man bescheiden das Leben genießt, wie einen Hund, ausgesperrt“ [T 3277]. Das Urbild des ausgestoßenen Hundes hatte Hebbel im Elternhaus täglich vor Augen gehabt: in Gestalt des Kupferstichs, der, wie Hebbel meinte, den verlorenen Sohn als schwelgerischen Wüstling zeigte. Ihm zu Füßen erblickte man „leckeres Brot, vom Arm herunter gestoßen, [/] Welches ein Hund beschnüffelt, indeß er […] es augenblicklich zertreten [/] Oder beschmutzen muß“ [W 8, 317]. Doch realiter war das von Hebbel beklagte Ausgesperrtsein ja gerade in den Wesselburener Jahren nicht gegeben. Und auch jetzt durfte er in der Ewigen Stadt an der einfachen aber stimmungsvollen Weihnachtsfeier der Dänen und Holsteiner teilnehmen. Worüber er „hätte weinen können“ [T 3277], war keine reale Deklassierung, sondern das Gefühl einer permanenten Statusunsicherheit, verbunden mit der mentalitätsbedingten, unterentwickelten Fähigkeit zu ‚menschlicher‘ Gemeinschaft im Rahmen inniger, beseelter Freundschaftlichkeit im Künstlerzirkel. Die Erfahrung solch ‚moderner‘ Umgangsformen hatte der Dithmarscher ‚Bursche‘ gleichfalls nur rudimentär gemacht. Selbst der Kirchspielvogt Mohr höchstpersönlich hätte sich unter den schöngeistigen Deutschrömern wohl fehl am Platze gefühlt... Einen fernen Nachklang auf das Motiv des weggesperrten Tiers bildet eine Stelle aus einem Brief Hebbels von 1858 an den alten Freund und Schreiberkollegen Theodor Hedde: „Darin“ – hielt sich der Wiener Dramatiker zugute – „bin ich noch immer der Aristides von Wesselburen, der dem Handwerksburschen, wenn er vor dem Hofbesitzer in’s Zimmer, oder vielmehr in den Käfig trat (denn die Kaiserl. Königl. Löwen in Schönbrunn sind viel geräumiger logirt, wie damals ich) gewiß früher sein ‚Wanderbuch‘ visirte, als diesem seinen ‚Saat-Schein‘ ausfertigte. Doch Spaß bei Seite“ [WAB 3, 586]. Auch diese Selbstbeschreibung bezeichnet Hebbel als „Spaß“; nur ist es wiederum schwierig zu erkennen, wo die Pointe liegen soll: In der Bezeichnung seiner Schreibstube als „Käfig“? Diese Behauptung war tatsächlich nicht recht ernstzunehmen, selbst wenn Hebbel keinen Hundezwinger, sondern den majestätischen Löwenkäfig zu Schönbrunn als Maßstab heranzog. Das recht geräumige Büro (Abbildung 18) war für Hebbel nämlich geradezu ein ‚Freiraum‘ gewesen, wie Leopold Alberti klarstellte: „Für Hebbel erwuchs aber daraus der Vorteil einer gewissen Freiheit und Ungestörtheit. Er lebte und strebte in dem Kontor auf seine eigenartige Weise; auch war der Zugang zu ihm vermittelst einer separaten Hin-

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tertür ein vom übrigen Hause geschiedener und um so unbehinderterer“ [HP I, 17f.]. Die zweifelhafte Freiheit eines freien Schriftstellers aber hätte er zu diesem Zeitpunkt unmöglich ‚ernsthaft‘ beanspruchen können. Ob Hebbel sich nun als Hund ausgeschlossen oder aber als Löwe ‚eingeschlossen‘ fühlte – was dem „Aristides von Wesselburen“ zu Nutz und Nachteil gleichermaßen ausschlug, war ein instabiles Identitätsbewußtsein, ein Schwanken zwischen ‚Inklusion‘ und ‚Exklusion‘. So wenig Hebbel auch seine ‚Dithmarscher Freiheit‘ eingestand, ließ sie sich doch gegen neue gesellschaftliche Zwänge strategisch ausspielen. Wie der Fuchs der Fabel, der die zu hoch hängenden Trauben für sauer erklärt, teilte er Elise Lensing im Oktober 1836 mit: „Was Du freilich über das Glänzen in Soireen u. d. gl. schreibst, so wird niemals etwas daraus, so wenig in München, als anderswo; mir ist die Gesellschaft nicht zuwider, wie einem Moralphilosophen Paris oder London, worauf er schimpft, weil er daraus verbannt ist; sie ist mir zuwider, wie dem freien Mann ein Sibirien, in welches er verbannt werden kann.“ [WAB 1, 115f.] Im Handumdrehen ist nicht mehr er der Ausgeschlossene, sondern ist die Gesellschaft eine von Verbannten. Zuwider ist ihm schon die bloße Möglichkeit, sich ihr anzuschließen – „[a]ber deßungeachtet werde ich Gesellschaften besuchen, sobald sie mir offen stehen; der Mensch muß sich auf Alles einrichten, denn er kann nicht wissen, wohin ihn das ganze Leben oder doch die Stunde verschlägt“ [WAB 1, 116]. Auch diese Volte ist verblüffend: Die ‚geschlossene‘ Gesellschaft steht ihm am Ende doch offen; und Hebbel ist bereit, eine „Stunde“, oder aber gleich „das ganze Leben“ in dieser Verbannung zuzubringen. Unüberhörbar aber spricht aus diesem „freien Mann“ der republikanische Dithmarscher, dem sein entlegenes Heimatländchen noch allemal nähersteht als das „Sibirien“ der Gesellschaft. Die scheinbar unversöhnlichen Widersprüche löst Hebbel metaphorisch in einen paradoxen Zusammenhang auf. In Zukunft pflegte Hebbel zuweilen geradezu das Gefühl sozialer Ausgeschlossenheit, um darauf mit einem umso trotzigeren Sich-Einschließen zu reagieren. So notierte er am 4. Juli 1841 im Tagebuch: „Den ganzen Tag das Haus nicht verlassen, weil das Musikfest begonnen hat und die ganze Stadt sich amüsirt“ [T 2361]. Obwohl es sich bei dem Fest um „ein kulturgeschichtlich bedeutsames Ereignis“2317 handelte, hält Walter Vontin es für „bloße[n] Zufall“, daß Hebbel es „überhaupt erwähnt“, fänden doch Dinge „der sichtbaren Welt“ in seinem Tagebuch nur dann Platz, soweit sie ihn „ganz persönlich angehen“. ‚Persönlich‘ nimmt Hebbel hier in der Tat etwas ganz anderes: „Man mag sich, wenn man auch nicht kindisch mit dem Schicksal darüber hadert, daß man von jedem Genuß ausgeschlossen ist, doch nicht gern von dem ganzen vornehmen Pöbel als Excludirten beaugenscheinigen lassen“ [T 2361]. Genau dies war, unabhängig vom Musikfest, bereits am Vortag geschehen: „Gestern begegnete mir Gutzkow, von Berlin, wo er Triumphe eingesammelt, zurückgekehrt, in elegantem Wagen fahrend, während ich und Jahnens in der brennenden Hitze, zu Fuß den Sand durchmaßen“ [T 2361]. Als Sinnbild für den sozialen Ausschluß konnte selbst das banale ‚Ausgeschlossensein‘ des schwitzenden Fußgängers aus Gutzkows „elegantem Wagen“ herhalten. Während Hebbel sich selbst nicht eingestand, daß er sehr wohl „kindisch mit dem Schicksal“ haderte, projizierte er 2317

Dieses und die folgenden Zitate: VONTIN, Hebbels Hamburg, S. 183.

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seine Statusunsicherheit auf diejenigen, die er im gleichen Atemzug paradox zum „ganzen vornehmen Pöbel“ zusammenfaßte. Exklusion mutierte so unversehens zu Exklusivität.2318 Das Musikfest hätte Hebbel durchaus am folgenden Abend mitgenießen können, als es fortgesetzt wurde „mit einer malerischen Alster-Illumination, von der man in Hamburg noch jahrzehntelang sprach und von der es reizende Bilder gibt (Abbildung 20). Aber an diesem Tage machte Hebbel keine Eintragung in sein Tagebuch“.2319 Abseits verzweifelter Integrationsbemühungen pflegte Hebbel auch das Gefühl, eben nicht ‚dazuzugehören‘. Zwar ließ sich die Haltung eines witzigen Verächters der bürgerlichen Gesellschaft mit zunehmender Distanz von Dithmarschen nicht durchhalten, doch ergab sich daraus die neue Möglichkeit einer – paradoxerweise von außen aufgenötigten – Rollenfindung in Form ‚autonomer‘ Selbstbestimmung. Mit diesem ‚exklusiven‘ Status trat Hebbel nun wieder in der Gesellschaft auf; das haltlose Schwanken verwandelte sich allmählich in ein virtuoses Spiel. Die Meldungen, er habe seine Verlegenheit endlich verloren, sind dabei ebenso zahlreich wie ihre Dementis. Im Februar 1838 schreibt er in eigentümlicher Selbstdistanz: „mit meiner Person bin ich Gott Lob nicht mehr so in Verlegenheit, wie sonst“ [WAB 1, 216]; im November erklärt er nach einem Auftritt auf dem „glatten gesellschaftlichen Boden“ [WAB 1, 267] gewunden: Wenn mein verstorb. Freund mich eingeführt hätte, so wäre ich, weil ich mich vor ihm nicht schämte, gewiß nach meiner alten Unart sehr verlegen und unbehülflich gewesen; nun es ein mir ziemlich gleichgültiger Herr war, vor dem ich mir keine Blöße geben mogte, nahm ich mich zusammen und darf hoffen, mich leidlich producirt zu haben. Es ist mir dies eine sehr angenehme Erfahrung, die, wie ich glaube, auch in diesem Punct so viel Selbstvertrauen in mir entwickeln wird, als nöthig ist [WAB 1, 267].

Hebbels Gefühl folgt einer eigenartigen Mechanik: Wenn er sich nicht schämt, ist er verlegen; ist ihm die Situation hingegen gleichgültig, gibt er sich Mühe, sich zusammenzureißen – für ihn eine „angenehme Erfahrung“, weil er nun zumindest in der Lage ist, zwischen unbewußtem und (selbst)bewußtem Verhalten zu differenzieren.2320 Jetzt ermöglicht die Distanz einen autoreflexiven „Triangulationsvorgang“,2321 er kann sich ‚pro-duciren‘ im doppelten Sinn von ‚herstellen‘ und ‚vor-führen‘. Entsprechend verkündet er im Dezember 1838: „Meine Verlegenheit ist keine innere mehr, ich fühle jetzt mein Verhältniß zu Anderen, wie es ist, nicht wie es scheint, und daran fehlte es mir früher“ [T 1384]. Grundlage dieser Neubewertung ist Hebbels Bewußtsein, daß er Ausgerechnet dem beneideten ‚Weltmann‘ Karl Gutzkow erklärte Hebbel salbungsvoll noch 1854: „Ich habe mich, wie Sie wissen, zur Zeit meiner Entwicklung ganz für mich gehalten, weil ich das Bedürfniß fühlte, den reinen Widerklang der Welt zu vernehmen, um zur SelbstErkenntniß und zur richtigen Schätzung meiner Kräfte zu gelangen. Daran mag ein gewisser Stolz [!] oder Dünkel […] seinen Antheil gehabt haben, aber ich bereue es noch jetzt nicht“ [WAB 3, 6f.]! 2319 VONTIN, Hebbels Hamburg, S. 183. 2320 Vgl. auch Hebbels spätere Äußerung: „ich […], erkalte, wenn ich höflich werde“ [KUH, Biographie, Bd 2, S. 464]. 2321 SOEFFNER, „Typus und Individualität“ oder „Typen der Individualität“, S. 19. 2318

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in den zurückliegenden Studienjahren „eigentlich erst zum Besitz meiner Persönlichkeit gelangte“ [T 1494]. Indem er zugleich das soziale Rollenspiel als bloßen äußerlichen Schein desavouiert, werden die ‚Mauern‘ gleichsam für nicht existent erklärt. Was Hebbel dabei nicht akzeptiert, ist, daß auch in der bürgerlichen Gesellschaft im „Verhältniß zu Anderen“ nicht allein die „Persönlichkeit“ zählt, sondern – adäquat ausgefülle Rollen. Noch ist es mehr Vorsatz als Realität, wenn er im Februar 1839 Elise Lensing schreibt: „Du weißt nur zu gut, wie wenig ich mir sonst in der Gesellschaft, und Unbekannten gegenüber, Geltung zu verschaffen wußte; Gott sey Dank, jenes Schwanken und Zagen hat sich ganz verloren […]. Es ist mir jetzt gleichgültig, ob ich in den vornehmsten, oder in den niedrigsten Kreis eintreten soll“.2322 Rigoros nimmt sich der gescheiterte Student für seine Rückkehr nach Hamburg vor: „[I]ch fange dort ein ganz neues Leben an, die Zeit, die ich in Hamburgs Mauern schon zubrachte, muß für mich seyn, als wäre sie nie gewesen!“2323 Und: „Keine Rücksichten sollen mich bewegen, mich in meiner Unabhängigkeit beschränken zu lassen“. Das Soziale wird nun vollends aus dem Selbstbewußtsein eskamotiert; was einzig zählt, ist der eigene „Geist“ und die Gewißheit: „[I]ch kenne keine Verlegenheit mehr, mag ich gegenüber stehen, wem ich will; ich kann mich in alle Wege auf meinen Geist verlassen und darf mich getrost heraus wagen, auch in’s fremdeste Gebiet hinein, er läßt mich nie im Stich.“2324 Auch dieser Optimismus war verfrüht. War Hebbel im Juli 1841 nach dem Besuch einer Gesellschaft davon überzeugt, „daß ich nur dann verlegen bin, wenn ich Geldsachen abmachen soll oder mit Leuten verkehren muß, die mich in Säuglings- und Knechtsgestalt noch kannten, und glaube, einen guten Eindruck gemacht zu haben“ [T 2372], so schienen ein halbes Jahr später die eigene Knechtsgestalt und die herrische des Kirchspielvogts wieder übermächtig zu sein: „Woher kommt mein schüchternes, verlegenes Wesen, als daher, daß dieser Mensch mir in der Lebensperiode, wo man sich geselliges Benehmen erwerben muß, jede Gelegenheit dazu nicht allein abschnitt, sondern mich […] aufs Tiefste demüthigte und mir oft im eigentlichsten Verstande das Blut aus den Wangen heraus trieb, wenn Jemand kam und mich so antraf. Nie verwinde ich das wieder, nie“ [T 2442]. Also jammerte er kurz darauf: „Was hilft mir Alles, was ich habe, da mir die Fähigkeit fehlt, es zu gebrauchen und geltend zu machen […]. Bei Gott, wie klein fühl’ ich mich immer vor Menschen, wie ängstlich und verlegen benehme ich mich den erbärmlichsten Gesellen gegenüber, wie hält mich dies aus allen geselligen Kreisen fern, und Andere halten das für Schroffheit!“ [T 2465] Angesichts der anstehenden Reise nach Dänemark versuchte Hebbel im September 1842 sich zu ermannen: „Ich bin gezwungen, mich zu benehmen, ein scharfes Auge auf meine Umgebung zu halten, ich kann mich nicht […] wieder in einen hypochondrischen Winkel zurückziehen, ich muß mit Menschen verkehren und es ist gewiß Zeit, daß ich dies endlich lerne“ [T 2586]. Tatsächlich scheint WAB 1, 286f. Hervorhebung C. S. Dieses und das folgende Zitat: T 1494. Hervorhebung C. S. Vgl. dagegen die Einsicht des benachbarten Notats T 1505: „Wie Andere ihn betrachten und wofür sie ihn halten: das ist die Atmosphäre, worin der Mensch lebt und der beste kann in der schlechtesten ersticken.“ 2324 T 1550. Hervorhebung C. S. 2322 2323

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er in Kopenhagen wie ausgewechselt: „Was mich selbst und mein Benehmen bei diesen Visiten betrifft, so bin ich mit mir zufrieden. Was ich früher schon immer sagte, weil ich es fühlte, hat sich bestätigt; je bedeutender die Personen sind, denen ich gegenüber stehe, je weniger weiß ich von Verlegenheit“ [WAB 1, 396f.]. Nach einem Termin bei Adam Öhlenschläger kann er sich das „Lob beilegen, daß ich mich nie in meinem Leben so in der Gewalt [!] gehabt und eine Conversation mit so viel Unbefangenheit und Freimuth [!] geführt habe, wie diesen Vormittag“ [WAB 1, 399]. Es ist ein zwiespältiges Lob: Hebbel muß sich selbst „in der Gewalt“ haben, sich gleichsam ausschließen, um ‚frei‘ sprechen zu können. Im Januar hatte Hebbel dafür wieder Grund zur Unzufriedenheit, „denn ich sitze hier doch eigentlich wieder eben so im Winkel, wie in Hamburg, [...] spreche ich keinen Menschen, in Gesellschaften komme ich gar nicht“ [T 2641]. Selbstkritisch fragte er sich im Dezember 1843 einmal mehr: Woher diese schreckliche Abhängigkeit von äußeren Eindrücken, deren Nichtigkeit ich ja eben so gut erkenne, wie ein Anderer? Und doch wüßte ich mich ihr auf keine Weise zu entziehen, im Gegentheil, sie kriegt mich immer mehr unter die Füße, ein Lächeln auf dem Gesicht eines Menschen, der mich ansieht, ein Blick auf meine Stiefeln, selbst, wenn ich die zierlichsten trage, wie ich jetzt thue, Alles bringt mich aus dem Gleichgewicht und der Verstand, an dem es mir wahrhaftig nicht fehlt, kann Nichts dazu thun, als daß er mich […] ausspottet und mich so die doppelte Qual, den Zustand zu durchschauen, geistig über ihm zu stehen, und ihn dennoch nicht überwinden zu können, empfinden läßt [T 2958].

Die Antwort – „zum größeren Theil ist es die Folge meiner trüben Kindheit und meiner gedrückten Jünglings-Jahre“ – gibt wieder einmal dem Elternhaus und dem Kirchspielvogt die Schuld. Daß in Dithmarschen in keinem Fall ein Rollenangebot ‚Dichter‘ verfügbar gewesen wäre, interessiert nur insofern, als Hebbel sich sein „großes Unglück“ dadurch wenigstens „zum Theil aus meiner dichterischen Natur“ erklären kann, „die allerdings an sich, da sie vermöge der bloßen Vorstellung das Geheimste menschlicher Situationen und Charaktere in sich hervorrufen soll, eine größere Receptivität, als die gewöhnliche, voraussetzt“ [T 2958]. Dies ist eine „zum Theil“ neue Strategie: Unter partieller Exkludierung der – eben noch lebhaft beklagten Sozialisation – wird die aus der „veränderten Spiegelung des Selbst durch die anderen“2325 mühsam erworbene reflexive Rollendistanz nicht mehr als angestrengte Geistes-Gegenwart verbucht, sondern zur „dichterischen Natur“ subjektiviert und ontologisiert. Hatte Hebbel im September 1843 in Paris eher „glücklicher Weise einen von den Tagen, wo ich ganz Zunge bin, und den Leute nicht eben mißfalle“ [WAB 1, 487], so war er gegen Ende der beiden Reisejahre in Frankreich und Italien sicher: Meine Reisen haben mir, was ich jetzt erst erfahre, einen großen, unschätzbaren Gewinn gebracht, ich weiß jetzt mit Menschen umzugehen, was ich früher nicht wußte. Wie hätte ich’s in der Einsamkeit, zu der ich mich selbst verdammte, lernen sollen? Auf Deinem Sopha ruhte sich’s ganz bequem, ich war gegen jeden rauhen Luftzug geschützt, aber ich hatte dafür auch gleich den Schnupfen, so wie ich in’s Freie trat. Dieß zurückgezogene Leben war für 2325

SOEFFNER, „Typus und Individualität“ oder „Typen der Individualität“, S. 21.

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einen Menschen, der, wie ich, der Welt bedarf, der nur im Sprechen aufgeht, höchst unnatürlich. Wohl mir, daß die Reise mich heraus riß! […] Wie prächtig geht’s jetzt? All dieß verschüchterte Wesen hat sich verloren, ich mache Dutzende von Bekanntschaften“ [WAB 1, 751].

Wußte er „mit Menschen umzugehen“? So ungerecht die gegen den Vater, Mohr und Dithmarschen gerichteten Anwürfe waren, so ungerecht war Hebbel nun gegenüber Elise Lensing: Jetzt war es auf einmal ‚natürlich‘, daß er in „der Welt“ und „im Sprechen“ aufging – auch der von der Freundin gebotene Schonraum war nur ein weiterer „Löwenkäfig“ gewesen. Die Euphorie war einmal mehr voreilig; die alten Empfindlichkeiten sollten nie ganz verschwinden. Doch mit seiner Ankunft in Wien, der Hochzeit mit Christine Enghaus und wachsenden literarischen Erfolgen konnte Hebbel es sich leisten, seine Rückzugswünsche zunehmend zu kultivieren und gelegentlich mit ihnen zu kokettieren. Die Heirat mit einer Schauspielerin und die Beibehaltung seiner dänischen Staatsbürgerschaft hält Friedrich Sengle für symptomatisch: „Beide Lebensentscheidungen symbolisieren nicht nur seinen Abstand zur Wahlheimat, sondern auch seine abstrakte Künstlerexistenz, seine Fremdheit in der Welt.“2326 Diese blieb auch als konkrete Erfahrung präsent, so im Januar 1847: „Abends sogar den so lange aufgeschobenen Besuch bei der Fürstin Schwarzenberg abgelegt. Der fiel mir schwer, ich machte neuerdings die Erfahrung, daß man sich nicht ungestraft ein ganzes Jahr aus aller Gesellschaft zurück zieht, wenn man nicht ein geborner Salonmensch ist“ [T 3933]. 1852 schreibt der in München hofierte Dichter seiner Frau, er „vertrage die Lebensweise nicht, die ich hier führen muß. Von Gesellschaft in Gesellschaft, von Dinér zu Dinér, von Besuch zu Besuch: es ist nun einmal nicht für mich“ [WAB 2, 438f.] – obwohl doch „das Alles meinetwegen veranstaltet wird“ [WAB 2, 439]. Eine Woche später heißt es: „Ich habe keinen Abend für mich und kann doch den gesellschaftlichen Verpflichtungen nicht nachkommen. Eine wahre Hölle für mich“ [WAB 2, 451]. Wenigstens an seinem Geburtstag wolle er, „wenn ich irgend kann, die Einsamkeit suchen und Alles, was durch meine Seele geht, in einem Gedicht auffangen“ [WAB 2, 451]. In der Abgrenzung gegen alles ‚Äußerliche‘ fallen Einsamkeit, Seele und Poesie zusammen. Doch noch immer changieren die Perspektiven, und Hebbel ertappt sich zur gleichen Zeit bei Rückfällen in Verhaltensmuster, die er selbst als lächerlich empfindet: Gestern Abend ging ich zu einer Tochter von Kleinschrod, die an einen Professor verheiratet ist. Ich hatte es in Thiersch[s] Soirée versprochen. Schon stand ich vor dem Hause, als ich wieder umlenkte, um in meine Klause zurück zu kehren, um dort zu träumen und in einem Buch zu blättern. Ich war schon ziemlich weit auf dem Rückwege, als ich mir selbst auf einmal objectiv wurde. „Mensch – rief ich mir zu – was machst Du? Dort droben in den erleuchteten Zimmern ist nun die ganze Familie versammelt, Gäste sind geladen, Kuchen gebacken und Alles wartet auf Dich! Und nun läufst Du davon als ob Du noch der Student wärst, der vor dreizehn Jahren in München herum schwankte und den man allerdings nirgends vermißte.“ Da schwenkte ich denn wieder um und der „Verfasser der

2326

SENGLE, Biedermeierzeit, S. 341.

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Judith“ machte seine Mitmenschen dadurch glücklich, daß er Thee mit ihnen trank. [WAB 2, 452f.].

Das alte ‚Schwanken‘ ist immer noch da; und noch immer braucht es ein entschlossenes ‚Umschwenken‘, damit Hebbel sieht: Auch er darf einfach „Mensch“ unter „Mitmenschen“ sein, bei Tee und Kuchen. Doch so einfach ist es eben nicht. So wie Hebbel sich erst zum ‚Objekt‘ werden, er eine bewußte Rollendistanz zu sich als lesendem Träumer gewinnen muß, um eine andere Rolle spielen zu können, so ist auf der anderen Seite auch der Anschluß an „die ganze Familie“ dort „droben“ an heteronome Bedingungen geknüpft: Der Mitmensch Hebbel ist eingeladen als „der Verfasser der Judith“, wie er selbst sagt. Den einsamen Poeten macht gerade die Poesie zur öffentlichen Person. Sind aber dessen Gefängnißmauern wirklich durchbrochen, wenn dieses zwiefache Rollenspiel aus dem gesellschaftlichen Raum ins Subjekt verlagert wird, das sich nun selber „in der Gewalt“ haben muß? Sind ‚Mensch‘ und ‚Dichter‘ wirklich eins? – Im März 1863 feiert Hebbel zum letzten Mal Geburtstag, zu Hause und in vertrautem Freundes- und Familienkreis – doch auch das geschieht nicht um seiner selbst willen: „Abends eine kleine Nachfeier meines Geburtstags; meiner Freunde wegen, denn ich bin noch immer nicht wieder gesund“ [T 6117]. Und so erlebt sich der Gefeierte wieder als den einzig Aus- und innerlich Eingeschlossenen: „Nur mir selbst waren die Gedanken im Kopf, wie an Ketten gelegt und ich saß dabei, wie ein Oelgötze, der nicht roth noch bleich werden kann. Innerlich: ‚So viel Lärm um Dich!’“ [T 6117]. „Sprache macht den Menschen zum gesellschaftlichen Wesen und damit überhaupt erst zum Menschen“,2327 formuliert Inge Suchsland im Anschluß an Jacques Lacan. Sprache ist „das Symbolische und darum ‚die soziale Tatsache‘ schlechthin“; ja, „menschliches Bewußtsein überhaupt funktioniert als symbolisierendes System“. 2328 Darum entreiße Lacan auch die „Psychoanalyse der Psychologie und macht aus ihr explizit die Wissenschaft von den Wirkungen des Signifikanten“.2329 Suchsland führt aus: Ein Symbolsystem wie die Sprache ist, da es der Kommunikation dient, ein soziales System, ein System also, das den Einzelnen immer schon vorausgeht, in das sie erst hineinfinden müssen. Sie müssen sich dessen Struktur und Funktionsweise aneignen. Der Eintritt in diese symbolische Ordnung konstituiert die Menschen als Subjekte (lat. subicere ‚unterwerfen‘), d. h. als einer gesellschaftlichen Ordnung unterworfene, konstituiert das Unbewußte und das Begehren.2330

Diese Doppelbindung des Symbolischen macht Hebbel die Artikulation so schwer: Ausgerechnet in Gesellschaft versagt die Sprache ihm den Dienst, er wird verlegen und stumm wie ein Ölgötze, während er umgekehrt die Reden um ihn herum nur noch als „Lärm“ wahrnehmen kann. Signifikant und Signifikat, unbewußtes Begehren Dieses und das folgende Zitat: SUCHSLAND, Julia Kristeva zur Einführung, S. 37. Ebd., S. 38. 2329 Ebd., S. 35. 2330 Ebd., S. 38f. 2327 2328

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und gesellschaftliche Ordnung, Persönlichkeit und Rolle lassen sich nicht vereinbaren. Die Übereinstimmung von Innerem und Äußerem bleibt aufgeschoben – nur daß der Modus dieser zu einer ‚literarischen‘ Lebensform geronnenen Erfahrung vom Äußeren ins Innere gerutscht, internalisiert ist. Das gilt sowohl dort, wo der „Verfasser der Judith“ seine „Mitmenschen glücklich“ macht, als auch dort, wo sein 50. Geburtstag gefeiert wird: Das Symbolsystem, das der Dichter für sich selbst entworfen hat und das vielleicht sogar gesellschaftlich Anerkennung findet, folgt eigenen, literarischen Prinzipien, verharrt in Distanz zur Wirklichkeit und findet nur schwer zu ihr Kontakt – er bleibt mit seinen „Gedanken im Kopf“ an sich selbst gekettet. Doch in dieser Rolle ist Hebbel keineswegs nur der ausgeschlossene Hund, an den die Metapher des Angekettet-Seins2331 einmal mehr erinnert. Denn er ist es zugleich selbst, der sich einschließt, und dem dies eine exklusive Lust gewährt. Denn, so Inge Suchsland: Das Unbewußte […] bewahrt Reste von Wahrnehmungserinnerungen, die es zu sprachlichen Strukturen in Beziehung setzt und die in jeder Äußerung mitschwingen. Das Hinabtauchen in diese Sphäre, die die Verbindung zum noch unstrukturierten, Vorsprachlichen bewahrt, das keine Regeln und Strukturen anerkennen will, ist die Quelle der besonderen spielerischen Lust, sozialen und sprachlichen Zwängen ein Schnippchen zu schlagen, die Freud in seiner Abhandlung über den Witz untersucht. Diese spielerische und aggressive Lust sieht Kristeva auch in den Formen moderner Literatur und Kunst überhaupt am Werke, die die Kommunikation von Sinn sabotieren und verweigern und auf diese Weise die Fragilität von Sinn und gesellschaftlichem Zusammenhang spürbar werden lassen.2332

Eingeschlossen in Gefängnismauern lebt in Hebbel auch die ‚an-archische‘, gewitzte Wesselburener ‚Burschenherrlichkeit‘ fort. In dieser spielerischen Rollenhaltung lag schon früh das Potential nicht nur für neue Rollenzuschreibungen und -verteilungen, sondern für „Kunst überhaupt“, insofern es gelang, „immer wieder Metaphern für das Verlorene zu bilden“2333 und das „Imaginierte zu symbolisieren“.2334 Wenn Hebbel sich einerseits als von der Gesellschaft unabhängiges, autonomes Ich darstellte (um damit gerade in Gesellschaft, befangen und schweigsam, als ‚Kettenhund‘ oder „Oelgötze“ dazustehen), so knüpfte er andererseits zunehmend bei symbolischen Rollenvorbildern an. Dadurch nahmen seine Rollenspiele selbst nach und nach literarischen Charakter an.

Vgl. in diesem Zusammenhang auch Hebbels Vorwurf an Amalie Schoppe, sie und die Hamburger Gönner würden „dem Bedürftigen die Kette, an der er eben schmachtet, nur abnehmen, um ihn an eine andere, die sie selbst in der Hand halten, zu fesseln“ [WAB 1, 335]. 2332 SUCHSLAND, Julia Kristeva zur Einführung, S. 76. 2333 Ebd., S. 107. 2334 Ebd., S. 119. 2331

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Ein „Herr von H.“ Wenn Hebbel für sein verschüchtertes Wesen in Gesellschaft post festum den Kirchspielvogt verantwortlich machte, dann stand dies im Kontrast zu den Verhaltensmustern, die er seinem Prinzipal gerade abgeschaut hatte. Johann Jakob Mohrs Vorbild „halb bürgerlicher, halb aristokratischer Hoheit […], welche sich in solchen Würdenträgern eines kleinen Gemeinwesens verkörpert“,2335 hatte für den jungen Hebbel ein großes ‚antizipatorisches‘ Potential besessen. Nach dem Verlassen der Heimat erlaubte die langjährige ‚Ortlosigkeit‘ und Statusunsicherheit vorerst allerdings nur eine sehr selektive Durchsetzung adeliger Rollenvorstellungen – mitunter wirkte dies bei Hebbel so überzogen und unglaubwürdig, daß dadurch wie schon in Wesselburen der Spott der Umgebung hervorgerufen wurde. Doch was war die Alternative? Der Rückzug auf eine vorgeblich autonome Persönlichkeit und inkommensurable Individualität bot allenfalls eine ‚fiktive‘ Lösung, die gesellschaftlich eben nicht ‚vermittelbar‘ war. Die Rolle des Adligen besaß demgegenüber einen doppelten Vorteil: Zum einen fiel sie zusammen mit dem idealen Selbstbild der ausgereiften, integeren ‚Persönlichkeit‘, zum anderen war sie an die verbreitete Vorstellung einer „gesellschaftliche[n] Gleichstellung zwischen Geistes- und Geburtsadel“2336 anschließbar, die schon traditionell „der Traum jedes Dichters und Malers gewesen war“ und die spätestens „in den prunkenden Neurenaissance-Palästen und in den heroisch drapierten Ateliers der Meister für die Spätzeit der bürgerlichen Ära erreicht schien“. Auch Hebbels Ziel war es, „das Leben zum Kunstwerk zu adeln“ [T 2066], und schon 1836 äußerte er vielsagend: „Aus einem Edelmann ist in Deutschland noch nie ein großer Dichter geworden, oft zwar aus einem großen Dichter ein Edelmann“.2337 In Wien war es dann so weit: „[I]ch bin der Aristokrat und […] sitze am Herrentische der Kultur“2338, und nicht am „Gesindetische der Geschichte!“ Noch zur Zeit der Aufklärung verbanden sich die Vorstellungen von ‚Ehre‘ und repräsentativem ‚Dazugehören‘ in erster Linie mit dem Begriff des ‚Adels‘, nicht mit dem des biederen Bürgers, dessen ständisches Selbstbewußtsein noch unterentwickelt war. Christian Garve charakterisierte das „adlige Air“2339 als „nie verlegen, und nie unbescheiden dreist, aufmerksam auf andre Wünsche, und doch unbekümmert und sorglos – bemüht zu gefallen, und doch unbefangen und natürlich“. Aus der „Warte der Bürger“, so Pia Schmid in ihrem Buch über Die Anfänge des deutschen Bildungsbürgertums (Untertitel), seien die Adligen „ungleich stärker Menschen aus einem Guß. Sie sind überall gleich und sich auch stets gleich“.2340 Goethes Wilhelm Meister muß KUH, Biographie, Bd 1, S. 80. Dieses und die folgenden Zitate: MILLER, Einführung, S. VI. 2337 WAB 1, 138. Der Satz klingt an eine Äußerung des Kaisers Maximilian an, der aus Ärger darüber, daß ein Adeliger Albrecht Dürer nicht die Leiter halten wollte, gesagt haben soll: „Meister Albrecht ist wohl mehr werth, als ein Adlicher; denn ich kann alle Tage aus einem Bauer einen Edelmann, nicht aber aus einem Edelmann einen Künstler machen“ [SCHMIDT, Beilage zum Beobachter an der Spree, S. 5f.]. 2338 Dieses und das folgende Zitat: KUH, Biographie, Bd 2, S. 463. 2339 Dieses und das folgende Zitat: Zit. nach SCHMID, Zeit des Lesens – Zeit des Fühlens, S. 25. 2340 Ebd., S. 26. 2335 2336

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feststellen: „In Deutschland ist nur dem Edelmann eine gewisse allgemeine […], personelle, Ausbildung möglich. Ein Bürger kann sich Verdienst erwerben und zur höchsten Noth seinen Geist ausbilden; seine Persönlichkeit geht aber verloren, er mag sich stellen wie er will“.2341 Die aristokratischen Charaktermerkmale gehörten auch zu Hebbels idealem Selbstbild. Doch während die Bürger zu seiner Zeit bereits Fortschritte in dieser Richtung gemacht hatten, war er selber noch weit zurück. Unverlegene Natürlichkeit und höfliche Zurückhaltung, Bescheidenheit und Sorglosigkeit, „Ausbildung“ und „Persönlichkeit“ – bis in die Begrifflichkeit hinein beschreiben diese Qualitäten exakt das, was der Dithmarscher Spätentwickler schmerzlich an sich selbst vermißte bzw. in seinem Rollenverhalten noch nicht zur Geltung bringen konnte. Besitzt man selbst „keinerlei Selbstverständlichkeiten im Verhalten“,2342 ist man „von sich aus nichts“, dann bleiben, um mit Pia Schmid zu fortzufahren, „zwei Möglichkeiten […], die eigene mindere soziale Position zu verarbeiten: den Adel nachahmen oder sich von ihm absetzen“.2343 Wohl ahnte Hebbel die Uneigentlichkeit beider Möglichkeiten. Naserümpfend notierte er in München: „Ein Hofmann ist ein umgekehrter Hofnarr“ [T 1382]. Umso erstaunlicher ist, daß er seit seiner Studentenzeit in der Hauptstadt des Königreichs Bayern kaum eine Gelegenheit ausließ, sich ein betont ‚adeliges Air‘ zu geben – so tragikomisch dies schon auf manche Zeitgenossen wirken mochte. Wie tief er gesellschaftlich stand, konnte Hebbel in Heidelberg fühlen, als er in seiner Dithmarscher Heimat bei „Sr. Hochwohlgeboren, dem Herrn Etatsrath und Landvogt Griebel Ritter vom Dannebrog und Dannebrogsmand in Heide“ (Abbildung 21) um ein „testimonium paupertatis“ oder „Zeugniß meines wirklichen Unvermögens“ [WAB 1, 72] ansuchte – auch in der ehemaligen Republik der freien Bauern gab es Pauperisten einerseits, Ritter von Königs Gnaden andererseits! Zugleich aber bewohnte Hebbel „ein prachtvolles Logis, aus dem Grunde, weil hier kein minder prachtvolles aufzutreiben war“ [WAB 1, 82] (Abbildung 22). War die Begründung glaubhaft? Auch aus München schrieb er: „Ich wohne jetzt in einem Hause, welches in Hamburg für einen Palast gelten würde; aber in München giebt’s nur Paläste“.2344 Solche ‚Entschuldigungen‘ waren wohl eher rhetorischer Art, denn als er der Freundin im November 1838 seine Rückkehr nach Hamburg avisierte, konfrontierte er sie mit dezidierten Bedingungen: An gute Wohnung bin ich jetzt seit 2 ½ Jahren gewöhnt; auf sie kann ich, so lange ich nicht ganz Bettler bin, nicht Verzicht leisten. Ein Zimmer und Möbeln, wie bei Weiss, mogten früher, da ich Nichts Beßres kannte und da mich Niemand besuchte, passiren; jetzt wären sie mein Tod, wie der Tod meines renommée’s. […] Mein Zimmer muß zwei Fenster haben, es muß licht und geräumig seyn, es darf nicht in einen Hof hinausgehen, oder im Hof müßte kein Geschmeiß wohnen, wie doch wohl meistens der Fall ist, und er müßte Helligkeit und Zit. nach SCHMID, Zeit des Lesens – Zeit des Fühlens, S. 26. Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 27. 2343 Ebd., S. 29. 2344 WAB 1, 112. Vgl. auch: „Im Uebrigen wohne ich mehr schön, als bequem; in der Hamburger Esplanade steht schwerlich ein glänzenderes Haus“ [WAB 1, 118]. 2341 2342

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freundliche Aussicht nicht beschränken. Die Möbeln müssen gut seyn, wie man sie bei anständigen Herren voraussetzt; prompte und genaue Aufwartung müßtest Du bedingen und Dich um’s Himmels willen gegen Niemanden merken lassen, daß es mir an etwas fehle, ich bin in Manieren u im Auftreten jetzt vornehm, wie Einer. Zur Aufwartung rechne ich: Stiefel- und Kleiderputzen; Einkaufen der mir nöthigen Artikel, der Lichter, des Kaffees u. s. w.; Besorgung meiner Wäsche an die Wäscherin, hin und wieder ein Gang (dies nur selten), und besonders heißes Wasser, wann ich will, regelmäßig Morgens, Mittags u Abends. Dies wäre Alles; ich zählte die einzelnen Puncte so genau auf, weil keiner wegfallen darf […]. Noch Eins: par terre wohn’ ich ungern, u am Deich, wo die Jugend so ausgelassen ist, durchaus nicht, d. h. nicht parterre [WAB 1, 269f.].

Der ausgelassenen Jugend mit ihren garstigen Streichen ist Hebbel binnen kurzem entwachsen, man ist ein vornehmer Herr geworden, der nicht mehr zu ebener Erde hausen kann, sondern weiter oben, in der bel etage zu logieren wünscht, Bedienung eingeschlossen. Er selbst nahm bierernst, was seinem närrischen Schnock wie ein „Spaß“ [W 8, 168] vorkam. Dieser „erklärte gravitätisch, wie Könige im Puppenspiel, meinen Willen, und [ich] ergötzte mich nicht wenig, wenn die Suppe Mittags wirklich so auf den Tisch kam, wie ich sie Morgens bei’m Frühstück, wo ich, würdevoll den Großvaterstuhl ausfüllend, meine lächerlichen Instructionen ertheilte, bestellt hatte.“ [W 8, 168]. Gibt in Schnock eine Diener-Natur den Puppen-König, so ist Hebbels Situation nicht minder aberwitzig: Niemand darf merken, das es fast ein „Bettler“ ist, der den „anständigen Herrn“ spielt. So peinlich verbargen weiland schon die Eltern Hebbel ihren wahren Status. Mit Blick vor allem auf das fortgeschrittene 19. Jahrhundert charakterisierte Rolf Engelsing die „Dienstbotenhaltung unabhängig von wirtschaftlichen Bedürfnissen als Garant der bürgerlichen Lebenshaltung“2345 und zog zur Illustration der mitunter grotesken Konsequenzen dieser „Standessitte“ als Extrembeispiel zielsicher Friedrich Hebbel heran: Der junge Hebbel […] empfand es als „Indelicatessen, durch die ich vor der ganzen Nachbarschaft zum Bettler gestempelt worden wäre“, wenn er der Zumutung seiner Gönnerin [Amalie Schoppe in Hamburg] hätte Folge leisten und Milch und geschenkte Eßwaren offen nach Hause tragen sollen. Blieb ihm nichts anderes übrig als selbst einzukaufen, so versteckte er die Last unterwegs ängstlich unter seinem Mantel, war er mittags zu seiner Gönnerin eingeladen, so schickte er ihr die Zeitschrift, die er von ihr entliehen hatte, morgens durch ein Dienstmädchen zu, hatte er 1839 als Student auf dem Fußmarsch von München nach Hamburg Kleider und Wäsche im Ranzen auf seinem Rücken zu tragen, so wollte er diesen doch auf keinen Fall bei der Ankunft in Hamburg bei sich haben: „Es könnte mir Jemand begegnen, der mich kennte und dem es auffiele.“

Doch umgab sich Hebbel damit nicht mit einem ursprünglich bürgerlichen, sondern mit einem genuin ‚adeligen Air‘. Daran läßt sich ein ‚rückwärtsgewandtes‘ Identifikationsmuster erkennen, wenngleich auch gesamtgesellschaftlich zu beobachten ist, wie sich „bis zum Ersten Weltkrieg das Bürgertum nach wie vor am Großbürgertum und am Adel, Großbürgertum und Adel nach wie vor an den Standesherrschaften und

2345

Dieses und die folgenden Zitate: ENGELSING, Das häusliche Personal, S. 240f.

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Höfen orientierten.“2346 Der junge Hebbel aber übertraf mit diesem Gebaren selbst arrivierte Damen der älteren Generation: So lud die Berliner Schauspielerin Auguste Stich-Crelinger Hebbel auf „meinen kleinen Landsitz bei Charlottenburg“ [HP I, 94] und bat Amalie Schoppe: „Sehen Sie nun, ob es einzurichten ist, daß der stolze Herr unsere Gastfreundschaft annimmt“ [HP I, 94]. Dieser widmete sich in München keinem bürgerlichen Broterwerb „schnöden Lohns wegen“ [WAB 1, 127] – von wenigen journalistischen Korrespondenzberichten abgesehen –, sondern lieber ‚adeligem‘ Müßig- bzw. „Spatziergang bei frühlingssüßem Sonnenschein“.2347 Die Unlust darüber, daß er wegen bürgerlicher Pflichten „nicht einmal hervor gehen darf in die heitre, anmuthige Freie, und in dem finstern Schacht unwürdiger, drückender Geschäfte fortwühlen muß“ [WAB 1, 7], läßt sich bis in Hebbels frühe Schreiberzeit zurückverfolgen: Wenn er sich 1831 ironisch darüber ausließ, ihm sei „die edle Arbeit bestimmt, etliche Archivhüter […] anzufertigen“ [WAB 1, 7], dann bedeutete dies natürlich das exakte Gegenteil: Die unedle Arbeit hatte sein Prinzipal ihm überlassen, um selbst von bürgerlich-pedantischen Pflichten frei zu ein. Dies hatte Mohr sich bei seinen adligen Jura-Kommilitonen in Göttingen abschauen können. Denn zwar war seit dem späten 18. Jahrhundert auch für Adelssöhne eine „solidere juristische Ausbildung notwendig, die das eher dilettierende Reisestudium so nicht zu bieten vermochte“,2348 um „in der Verwaltung als Beamter Karriere [zu] machen“, doch war „das adlige Verständnis von Zeit ein anderes als das bürgerliche“,2349 und „die Muße […] ein unabdingbarer Bestandteil adligen Lebens“. So ergab sich eine Amtsauffassung, die Ronald G. Asch am Beispiel zweier Osnabrücker Geheimräte als typisch aristokratisch charakterisierte: „Für die adeligen Räte eines geistlichen Territoriums war das Aktenstudium oft eine ‚Verdrießlichkeit‘, und manch ein Amtsträger edler Herkunft beschwerte sich, es sei nicht seine und seiner Standesgenossen Aufgabe[,] „daß wir Allerley Acta mühesamb durchsehen […].’“ Über den Wesselburener Kirchspielvogt war eine solche Haltung auch auf den 18jährigen Hebbel übergegangen, kaum daß dieser es überhaupt zum Sekretär gebracht hatte. Gegenüber seiner Münchener Umgebung war sich Hebbel seines camouflierenden Verhaltens durchaus selbstironisch bewußt: „Bis jetzt gelt’ ich für einen wohlhabenden Herrn, der sich nicht’s grämen läßt; man schließt das hauptsächlich daraus, daß ich jeden Mittag Kaffee trinke […]. Sehr fehlt mir eine ordentliche Hose“ [WAB 1, 129]. Doch trotz solcher eklatanten Widersprüche schreckte er auch vor Unwahrheiten und Hochstapelei nicht zurück, um seine Biographie zu frisieren: So gelte er „für einen Mann von vornehmer Abkunft, von Mitteln u bereits beendigten Studien“ [WAB 1, 144], als „ein reicher Mann, Sohn des Herrn Obercriminalraths Hebbel“.2350 So kann es kaum verwundern, daß Hebbel auch das Adelsprädikat „von“ für sich und seine Lebensgefährtin usurpierte: Schon im September 1835 erzählte er Ebd., S. 241. WAB 1, 127. Vgl. dazu: „Alles fällt mir gegenwärtig schwer, auch das Verfertigen der Correspondenzberichte; so wie ich eine Zeile geschrieben habe, fühl’ ich mich nicht zu der zweiten aufgelegt, sondern dazu, die erste wieder auszustreichen.“ [WAB 1, 151]. 2348 Dieses und das folgende Zitat: ASCH, Der Adel, S. 288. 2349 Dieses und die folgenden Zitate: Ebd., S. 289. 2350 WAB 1, 147. „Hundekalt“ war es derweil in seinem Zimmer. 2346 2347

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seinem alten Freund Jakob Franz, er habe eine Liebesgeschichte mit einem „Fräulein v L.“ [WAB 1, 56] angesponnen. Im Februar 1837 schrieb er „Dem Fräulein Elise von Lensing, Hochgeboren, in Hamburg“ [WAB 1, 156] und bat: „Laß’ Dich die vornehme Adresse auf dies. Brief nicht verwundern. Ich kann hier noch leichter ohne Gold, als ohne Goldschaum, fertig werden“ [WAB 1, 155]. Schon zuvor hatte er ihr erklärt: „Wenn Du ein Fräulein von L. geworden bist, so tröste Dich mit mir; ich bin auch ein Herr von H. Dies ist hier in München nämlich ein Jeder, der seinen Schuster u Schneider bezahlen kann; meine Hauswirthin z. B. ist eine gnädige Frau u wäscht doch zuweilen selbst die Teller ab“ [WAB 1, 118]. Wohl fühlte Hebbel die überkompensatorische Penetranz, mit der „der Herr von Habenichts stets am lautesten auf seinen Adel pocht“ [T 594] – dies explizit einzugestehen, vermochte er nicht. Indes mutet es wie ein spätes autobiographisches Streiflicht an, wenn Hebbel den jungen Demetrius durch einen Hofmann als „heimathlosen Vagabonden“ [W 6, 5] und „Herr[n] von Habenichts“ [W 6, 5] bezeichnen läßt. Nach der Münchner Zeit ersetzte Hebbel den angemaßten Adels- durch den Doktortitel – lange bevor er ihn wirklich erwarb, so bereits in einem Brief an den Wesselburener Kirchspielschreiber Voß vom 25. Juli 1839.2351 Im Hamburgische[n] Adress-Buch für 1842 firmierte er dann offen und öffentlich unter dem Titel eines „Dr. Phil.“2352 Laut Recherchen von Albrecht Janssen im Wandsbeker Kirchenbuch gab Hebbel sich bei der Taufe seines Sohnes Maximilian am 21. Oktober 1842 „dem Pastor gegenüber auch als Doktor aus und ließ den falschen Titel auch ins Kirchenbuch eintragen“.2353 Über die Kindsmutter „gab der Dichter folgendes an: ‚Dorothea Maria Elisabeth von Lensing aus Lenzen, Tochter des Johann Arnold von Lensing.’“2354 Selbst die Nebeneinanderstellung von Familienname und Herkunftsort wirkt effektvoll kalkuliert, läßt sie doch aufgrund der lautlichen Entsprechungen an ein gutsherrliches Ortspatronat denken. Was aber war ein Adliger in der Hauptstadt des Königreichs Bayern ohne Zutritt bei Hofe? Auch daran hatte Hebbel gedacht und schrieb unmittelbar vor seiner Abreise aus München Elise Lensing einen förmlichen Brief (er siezte sie darin), der zum Vorlesen in Hamburg bestimmt war. In gestelztem Ton verlieh er seiner Überzeugung Ausdruck, „daß ich hier gesellschaftlich angenehmer situirt bin, als ich in H. zu seyn hoffen darf“ [WAB 1, 291]. Was dann folgt, ist eine glatte Lüge: [S]ie fragten mich in Ihrem letzten Schreiben, warum ich nicht die Bekanntschaft der Frau von Chezi gesucht habe, diese habe mir bei Hofe Zutritt verschaffen können. Ehrlich [!] geantwortet, habe ich die Frau von Chezi nicht von einer so Einfluß reichen Seite gekannt, obwohl ich mit den hiesigen Verhältnissen ziemlich vertraut bin. Uebrigens habe ich, ohne

Vgl. dazu THOMSEN, Grenzen des Individuums, S. 161f. Die im Hebbel-Museum vorhandene Promotionsurkunde ist auf den 22. April 1846 datiert. 2352 Hamburgisches Adress-Buch für 1842, S. 87. 2353 JANSSEN, Die Frauen rings um Friedrich Hebbel, S. 69. 2354 Ebd., S. 63. Vgl. etwa auch die Briefadressen „An Seine Hochwohlgeboren etc Herrn Friedrich von Hebbel Doktor der Philosophie etc Hochwohlgeboren in Penzing“ [WAB 2, 34] in einem Brief von Wilhelm Zerboni di Sposetti vom 24.7.1849; bzw. „Herrn Doctor von Hebbel“ [WAB 2, 654] vom Verlag Karl Gerold und Sohn vom 27.5.1853. 2351

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ihrer Vermittlung zu bedürfen, die Ehre gehabt, Sr. Maj. dem König, vorgestellt zu werden. Es wurden nämlich im Odeon zwei Gedichte (der junge Jäger und das Haus am Meer) von mir declamirt; der König war anwesend und die Sache machte sich ganz von selbst [WAB 1, 291f.].

Die Deklamation und die Begegnung mit Ludwig I. von Bayern hatten nie stattgefunden.2355 Die Aufzählung all der Schiefheiten, halben Wahrheiten und ganzen Lügen soll hier nicht der moralischen oder charakterlichen Beurteilung dienen. Es geht weder darum, mit Paul Bornstein eine „Schwäche Hebbels, selbst bei solchen gelten zu wollen, an deren Urteil ihm im Grunde nichts lag“2356 aufzudecken, noch darum, mit Richard Maria Werner „jenen edlen Stolz“2357 oder gar „angeborenen Adel“ hinter nichtigen Äußerlichkeiten für eine Ehrenrettung zu beanspruchen, wie dies in der Biographik zu Genüge versucht wurde. Wichtig ist jedoch festzuhalten, daß Hebbel eine Rolle annahm und diese zunehmend spielte, indem er sie zuweilen ‚souverän‘ von der Wirklichkeit ablöste. Darum taugen die geschilderten Verhaltensweisen gerade nicht zu einer Beschreibung des ‚Menschen‘ Friedrich Hebbel, wie er ‚wirklich‘ war. Viel bedeutsamer ist dagegen, daß Hebbel seine frühe Doppelrolle als Abbild des Kirchspielvogts und ‚armer Bursch‘ weiterentwickelte und in der Form des präsumtiven Edel- und heimlichen Bettelmanns an seine jeweilige Lebenssituation anpaßte. Es gehört zur Ironie des Hebbelschen Schicksals, daß ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem er buchstäblich nicht mehr ‚weiter‘ wußte (bei der Rückkehr aus Italien Ende 1845), sein ‚adeliger‘ Rollenentwurf in geradezu traumhafter Weise von der Wirklichkeit eingeholt wurde. Erst im November hatte er aus Wien geschrieben: „[D]as hätte ich nie gedacht, daß ich noch in meinem 32sten [recte: 33sten] Jahre nicht so weit seyn würde, wie der lausigste Handlungs-Diener“ [WAB 1, 739]. Doch am ersten Weihnachtstag wachte er als Gast im Hause der Grafen von Zerboni in einem Märchen auf. So wird es erzählt: Am anderen Morgen ganz in der Frühe holte der Bediente seine Kleider […] und er mußte bis acht Uhr im Bette verweilen. Was geschah? Plötzlich trat Wilhelm v. Zerboni mit einem neuen Anzug ein, warf sich auf die Knie, bat ihn, ihm zu verzeihen u. s. w. Als armer Poet hatte sich Hebbel niedergelegt, als Modekupfer stand er wieder auf. […] Von nun an hatte er seine Wohnung im Erzherzog Karl. Ein teppichbelegtes Zimmer, rotsamtene Stühle, silberne Leuchter, Spiegel in goldenen Rahmen.2358

Mit einem Mal fand Hebbel sich in den besten, ja in Hofkreisen wieder, was es wieder einmal „sehr schwierig [machte], ein passendes Logis aufzutreiben; ich habe hier so unendlich viele Bekanntschaften, und von den vornehmsten, daß ich auf die Leute, die zu mir kommen, mehr Rücksicht nehmen muß, als auf mich selbst, und so suche ich Vgl. dazu die Anmerkung in WAB 1, 296. Vgl. auch WAB 1, 216, wo Hebbel immerhin behauptet, er „könnte jetzt, wenn ich wollte, zu der Ehre kommen, die meinigen [Gedichte] im hiesigen Odeon […] declamiren zu lassen“. 2356 Bornstein, zit. nach WAB 1, 296. 2357 Dieses und das folgende Zitat: WERNER, Friedrich Hebbel. Ein Lebensbild, S. 66. 2358 KUH, Biographie, Bd 2, S. 166. Schon zuvor war er von den Zerbonis gleichsam als ‚Dichterfürst‘ behandelt worden; vgl. WAB 1, 744. 2355

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denn schon seit 10 Tagen umsonst, wohin ich mein Haupt legen soll“ [WAB 1, 767f.], wie er seinem Freund Felix Bamberg am 27. Februar 1846 mitteilte. Sinnlicher denn je erlebte Hebbel die Ablösbarkeit von Rolle und Selbst, die er endlich einmal spielerisch auskosten konnte – wenigstens für einen Moment: Während er hier mit dem Schicksal eines Obdachlosen geradezu kokettierte, wies er Bamberg im nächsten Satz an, ihm unter der ‚standesgemäßen‘ „Adresse des Fräuleins Enghaus, Kaiserlich-Königl. Hofschauspielerin […] zu schreiben“ [WAB 1, 768], wo er freilich selbst nicht wohnte. War nicht auch er zu einer Art ‚Hof-Schauspieler‘ avanciert? Mit sichtlicher Genugtuung schrieb er an Bamberg weiter: Ich bin von einem Fürstenhause zum andern geschleppt worden, der Intendant des Theaters, Graf Dietrichstein, der mich, als ich ihn zum ersten Mal besuchte, nicht dem Namen nach kannte, sagte mir, als er mich zum zweiten Mal sah: er würde mir zuvorgekommen seyn und mir die erste Visite gemacht haben, wenn er von meiner Ankunft gewußt hätte, und das ist denn doch für den Oberstkämmerer des Kaisers von Oestreich ziemlich viel. Was mir solche Dinge an sich gelten, brauche ich Ihnen nicht zu sagen [WAB 1, 768f.].

Sonderbar: Kaum hat Hebbel in Wien einen adelsgleichen Status erreicht, da wird ihm das Herumgeschleppt-Werden „von einem Fürstenhause zum anderen“ bereits lästig, und er beeilt sich zu sagen, was er angeblich „nicht zu sagen“ braucht: daß ihm „solche Dinge an sich“ nichts bedeuten. In völlig veränderter Lebenslage bleibt Hebbel sich damit insofern ‚treu‘, als er den bloßen Rollencharakter der neuerworbenen Identität durchschaut und freimütig reflektiert. Nach außen gelang Hebbel die Mimikry inzwischen so gut, das selbst ein Radikaldemokrat wie Sigmund Engländer von dem „Adel seiner sozialen Formen“ [HP I, 194] positiv eingenommen wurde. Sogar die Genugtuung wurde dem Maurersohn noch zuteil, daß er sich gleich von zwei Monarchen zum Ritter schlagen lassen durfte2359 (Abbildung 23). Einen Brief an den ungeliebten Burgtheaterdirektor Heinrich Laube unterzeichnete er 1861: Fr. Hebbel, Doctor der Philosophie, Ritter des Königl. Bair. Maximilians-Ordens für Wissenschaft und Kunst, so wie des Großh. Sachs. Weim: FalkenOrdens 1ster Cl: [WAB 4, 157]

Das zwiespältige Bewußtsein des Parvenüs verlor sich allerdings bis in Hebbels späte Lebensjahre nicht, auch wenn es nun wieder ins Komische gespiegelt wurde. 1862 schrieb er seiner Ehefrau Christine aus Weimar: „Eben komme ich mit dem Adjutanten des Prinzen Heinrich und einem Kammerherrn der Großherzogin von einer Spatzier-Fahrt zurück […]; der Eine war schon vier Mal in Ostindien […], der Andere ist ein Hannöverscher Graf, dessen Vater schwerlich davon geträumt hat, daß 2359

Daß Hebbel dies auch auf seinen Visitenkarten kundgab, löste sogar öffentliche Polemiken aus; vgl. WAB 4, 304, Anmerkung 7.

„Monarch“

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sein Sohn einem parvenue, wie mir, dereinst die Landgrafenschlucht zeigen müsse“ [WAB 4, 479]. Wenige Tage später berichtete er: Die Gesellschaft selbst besteht aber, das Hof-Personal natürlich eingeschlossen, aus lauter Prinzen und Princeßinnen; bloße Minister, deren wir [!] auch schon einige hatten, kommen kaum in Betracht. Gestern Abend z. B. hatte ich den Bruder des Königs von Holland zu meiner Rechten, den Großherzog zur Linken, und die beiden Fürstlichen Gemahlinnen vis a vis, denn ich werde ganz als Gast behandelt und sitze auch bei Ausfahrten immer bei den Herrschaften im Wagen. Da mir bei solchen Gelegenheiten nun in der Regel einfällt, daß ich vor einigen dreizig Jahren meinem Vater bei’m Bau die Steine zuzutragen hatte und sein gewöhnliches Gebrumm: „Der Junge taugt doch auch zu gar Nichts!“ in den Ohren klingen höre!“ [sic!] so ergötze ich mich im Stillen am Contrast. Doch, zum Ernst zurück. Die Großherzogin thut alles Mögliche, mir den Aufenthalt angenehm zu machen [WAB 4, 484].

Ganz genau zählte Hebbel Rang und Namen des ‚Personals‘ her; sogar bei der Ausfahrt im Wagen durfte die Beschreibung des eigenen Sitzplatzes nicht fehlen, während er sich vor dem geistigen Auge im schmutzigen Maurerkittel sah. Das allgemeine Rollenvorbild ‚Adel‘ erwies sich letztlich als genauso provisorisch und instabil wie einst das konkrete Vorbild Mohrs. Da Hebbel diese Rolle nicht internalisiert hatte, mußte er sie sich immer wieder bewußt zuweisen, gleichsam als Autor seines persönlichen Schauspiels. Doch als ernstes ‚Spiel‘ unter Einsatz des ‚Lebens‘ erhielt Hebbels Rollenverhalten eine unerhörte Dramatik. Damit erfüllte er zugleich Erwartungen, die das Publikum des 19. Jahrhunderts weithin an das ‚Genie‘ stellte. Erst auf der Basis der öffentlichen Akzeptanz seiner Rolle gewann er in fortgeschrittenem Alter die Freiheit, gegen diese Erwartungshaltung zu verstoßen und virtuos mit den Rollen zu spielen. Daß Hebbel sich aristokratische bzw. herrschaftliche Rollenmuster erst im Rahmen der sekundären Sozialisation angeignet hatte, erwies sich dabei durchaus als Vorteil: Anders als in der Rolle des Sohnes, der sich von Anfang an an elterlichen Normen messen lassen muß, welche nur die binäre Entscheidung zwischen ‚gut‘ und ‚mißraten‘ zulassen, erwies sich die des ‚Kopisten‘ Mohrs als wesentlich geschmeidiger und formbarer. Zwischen aufrichtiger Verlegenheit und gespieltem Selbstbewußtsein, zwischen ‚falschem‘ und ‚richtigem‘ Leben ist nicht mehr zu unterscheiden – die Biographie des Literaten wird selbst ein Stück Literatur.

„Monarch“ Kann als Inbegriff von ‚Gesellschaft‘ die Hofgesellschaft gelten, so steht an deren Spitze der König, in dessen Gestalt das Konzept des Adels ins ‚Absolute‘ gesteigert erscheint. Vornehme ‚Herren von und zu‘ gibt es viele – doch es kann nur einen ‚Monarchen‘ geben. Was Antje und Claus Hebbel sich dabei gedacht hatten, als sie ihrem Erstgeborenen mit „Christian“ und „Friedrich“ genau die Taufnamen mitgaben, die sämtliche dänischen Könige seit 1559 abwechselnd trugen, läßt sich nicht mit Gewißheit sagen. Hebbel selbst, der den Namen „Monarch“ schon als Jugendlicher in seinem Autoren-Pseudonym mitführte, ließ jedenfalls auch dieses identifikatorische

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Angebot nicht aus. Bei der fingierten Münchener Begegnung mit Ludwig I. positionierte er sich bereits auf Augenhöhe mit dem Regenten: „Er war artig und sprach über Manches mit mir; daß ich in einem solchen Augenblick der Genugthuung […] nicht die Allmosenbüchse schütteln mogte, können Sie Sich denken; […] überhaupt ist es thörigt, sich über die pecuniäre Lage bloß zu geben, man begiebt sich dadurch der Gleichheit“ [WAB 1, 292]. Man mag die erträumte Begegnung eine Rollen-Antizipation nennen: 1842 erhielt er in Kopenhagen wirklich „ein Billet von Levetzau, des Inhalts, daß der König mich morgen empfangen wolle“ [WAB 1, 404]. Hier war nicht nur jede Verlegenheit verflogen, sondern Hebbel sah in der Privataudienz eine Begegnung inter pares: „Es rollte mir kein Blutstropfe schneller, als ich die Nachricht empfing und ich glaube nicht, daß ich morgen befangener seyn werde, wie heute. Ich gehe zu einem Mann, den ich allein treffe, nicht in einer großen Gesellschaft; es kommt auf Worte an, nicht auf Verbeugungen“ [WAB I, 404]. Paradox bleibt Hebbels Situation auch hier: Die gesellschaftliche Öffentlichkeit, auf die das Königtum bezogen ist, muß gerade ausgeschlossen sein, damit sich Christian Friedrich Hebbel und Christian VIII. von Dänemark auf Augenhöhe begegnen – als Könige ohne Hofstaat, deren je spezifische ‚Autonomie‘ nur unter solch unwirklichen ‚Laborbedingungen‘ hervortreten kann. Wenn Hebbel sich auch diese ‚exklusive‘ Rolle anmaßte, dann mußte an ihr, ungleich stärker als an der des Adeligen, endgültig klar werden, daß der Dichter das Rollenspiel auf eine symbolische und damit ‚literarische‘ Ebene transponierte. Zugleich aber spielte er die Rolle des ‚königlichen Dichters‘ wiederum auf der realen gesellschaftlichen Bühne – es kommt nicht nur auf Worte an, auf Worte kommt es an. Schon 1839 belehrte er Charlotte Rousseau, es gebe nirgendwo sonst, als „in dem Kreise der Literatur […] ein so hohes, preiswürdiges Ziel. Wer hier herrscht, oder auch nur an der Herrschaft Theil nimmt, steht an der Spitze der Nation und hat Einfluß auf ihre Gegenwart, wie auf ihre Zukunft, und das ist, besonders in unserer Zeit, wo der Weg zu Thaten versperrt ist, der größten Opfer werth“ [WAB 1, 310] – eine wahrhaft vielversprechende Identitätsbestimmung. „Wie prächtig geht’s jetzt? All dieß verschüchterte Wesen hat sich verloren, ich mache Dutzende von Bekanntschaften“ [WAB 1, 751], bescheinigte er sich 1845 nach seiner Ankunft in Wien, postulierte: „ein dramatischer Dichter muß auch persönlich etwas von einem Feldherrn haben“ [WAB 1, 751], und konstatierte, „daß die Jugend den König der Literatur in mir sieht und das Alter wenigstens den Kronprinzen“ [WAB 1, 751]. In Wien bildete eine Runde junger Leute dann auch „eine Art Hofstaat bei Hebbel; man sprach wohl spöttisch von einem ‚Hofe Friedrich des Großen‘.“2360 Doch nicht nur wegen des ‚Kunstcharakters‘ von Hebbels Rolle ist Wolfgang Wittkowskis Sicht zu eindimensional, wenn er schreibt, Hebbel „ruhte nicht, bis die Könige ihm wie einem König Ehrerbietung zollten; bis Selbsteinschätzung und gesellschaftliches Ansehen einander entsprachen“.2361 Denn Hebbels Selbsteinschätzung blieb in sich widersprüchlich – neben dem ‚Spielcharakter‘ war er sich auch der Anstrengung, die diese spät angeeignete Rolle ihm abverlangte, bewußt. Die Ambi2360 2361

WERNER, Friedrich Hebbel. Ein Lebensbild, S. 337. WITTKOWSKI, Der junge Hebbel, S. 43.

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valenz ging so weit, daß Hebbel selbst die Königsrolle mit einer genau gegenteiligen verschränkte. Denn solange er ‚König spielen‘ mußte, konnte er gerade nicht ‚ruhen‘; umgekehrt fielen ihm Ruhe und Gelassenheit zu, wenn er den zwanghaften Anspruch einmal fallen ließ: „Uebrigens, liebe Elise, irrst du, wenn Du meinst, daß ich wohl immer trübe gestimmt sey“, schrieb er 1838 aus München und erklärte: „Ich bin ernst und stolz; der König, der die Welt beherrscht, und der Einsiedler, der ihr entsagt und sie verachtet, sehen sich gleich, wie zwei Brüder. Auch kann ich noch immer recht heiter seyn und bin’s jedes Mal, wenn die Gelegenheit nur irgend dazu auffordert“ [WAB 1, 235]. Ernst und heiter, reich und arm, Mittelpunkt und Außenseiter – gegensätzlicher könnte das von Hebbel imaginierte Begriffs- und Brüderpaar kaum sein. Nur der Kunst-Figur eines Dichters und in der ambiguen Kunst-Welt der Literatur war es möglich, der Welt zu entsagen und sie doch zu beherrschen. Selbst nach dem großen Erfolg seines letzten vollendeten Bühnenstücks, der Nibelungen, schien Hebbel der eigene Werdegang keineswegs zielgerichtet und konsequent, sondern geradezu unwirklich und poetisch zu sein: „Märchenhaft; man schläft ein auf Stroh und erwacht in einem Palast.“2362 Auch in sich war die von Hebbel imaginierte monarchische Gestalt gefährdet und gebrochen. Seine schriftlich überlieferten Selbstdarstellungen als ‚König‘ werden zeitlich eingerahmt von zwei Belegen, in denen er sich mit Saul, dem ersten König von Israel gleichsetzt: „Du warst für mich, was David für König Saul, Du beschwichtigtest die Stürme meiner Brust, und tödtetest oft einen Wurm, der an meinem Leben nagte“ [WAB 1, 46], erklärte er schon kurz nach seinem Weggang aus Wesselburen, im April 1835, seinem Jugendfreund Jakob Franz. Und nur ein Jahr vor seinem Tod schrieb er im Oktober 1862 Adolf Stern: „ich war der finstre Saul und Sie neben mir der milde David“ [WAB 4, 508]. Als ‚fixe‘ Idee hat Hebbel den Vergleich auch nach 27 Jahren noch zur Hand, doch zeigt die metaphorische, ‚äußerliche‘ Übernahme der von der Bibel vorgegebenen Rolle, wie vorsichtig man mit dem Postulat eines „inneren Kaisertum[s]“2363 oder auch dem einer gefühlten „königliche[n] Abstammung“2364 sein muß. Der inhaltliche Hintergrund macht dies noch deutlicher: Saul war von den Stämmen Israels in der Philisternot als Heerkönig auf den Schild gehoben worden, dabei wurde sein Aufstieg überschattet „durch die Feindschaft gegen seinen Waffen-

T 6084. Ein solches ‚Märchen‘, wie Hebbel es am Weihnachtsmorgen 1845 im Hause Zerboni ja direkt erlebt hatte, kursierte schon seit Jahrhunderten als beliebte Anekdote. So hatte Johann Adam Weber die Lächerliche [!] Verwandlung eines Bauren in einen Keyser schon im 17. Jahrhundert für die Unterredungs-Kunst aufbereitet: „Als Keyser Carl der V. einsmals zu Gent einen vollen Bauren am Weg schnarchend liegen sahe, ließ er solchen durch seine Diener nach Hofe tragen, und in ein Königlich-zubereitetes Bette legen. Als nun derselbe schier den Rausch ausgeschlaffen, befahle der Keyser, es solten ihm etliche Trabanten die kostbarsten Kleider noch im Schlaff anlegen, und also aufwarten, als ob er, der Kayser, selbst zugegen wäre. Endlich da der Bauer erwachte, und den Schlaff aus den Augen wischte, entsetzte er sich erstlich über diese neue Verwandlung und meinte nicht anders, als träumte ihme bey offnen Augen; bald hielte er davor, er seye bezaubert worden“ [WEBER, Erster Theil Der […] Unterredungs-Kunst, S. 613f.]. Vgl. auch die Umkehrung des Motivs in Hebbels Skizze zum [Prahler] [W 8, 379f.]. 2363 THOMSEN, Grenzen des Individuums, S. 158. 2364 KUH, Biographie, Bd 1, S. 181. 2362

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träger und Schwiegersohn David“.2365 Den „inneren Zwistigkeiten, dem Fehlen jeder isr[aelitischen] Königstradition, dem Einbruch der Eisenzeit“ war Saul nicht gewachsen. – Kämpfe, Anfechtungen, der unsichere Status des Emporkömmlings, der Umbruch zweier Epochen, all dies hatte auch Hebbel zu schaffen gemacht. Darüber hinaus spitzte er den Vergleich situationsbezogen noch zu, indem er gegenüber Stern fortfuhr: „Aber ich stehe nun einmal unter einem so bösen Stern, daß ich mitunter auffahre, wo ich bloß lachen sollte“ [WAB 4, 508]. Wohl unbewußt beschwor er gegenüber dem ‚über ihm‘ stehenden ‚bösen Stern‘ alte Konkurrenzängste und Identitätsschwankungen,2366 während er doch wußte, daß er darüber bloß ‚lachen‘ sollte, wollte er sich nicht selbst zum Narren machen. Im selben Brief gab Hebbel noch ein weiteres Exempel für derartige Vexierungen: „[W]enn sich ein Architect mit mir zu Tisch setzt und als Maurer-Gesell wieder aufsteht, so ist das ein Spaß und weiter Nichts“ [WAB 4, 508]. Es war doch zu vertrackt: Auch im Dichter steckte ein entlaufener Maurergesell, und wieder rührte Hebbel mit diesem ‚spaßigen‘ Vergleich bei sich selbst an einen wunden Punkt! Hebbel wäre darum nicht Hebbel, wenn er nicht auch in die entgegengesetzte Rolle eines ‚heiteren David“ hätte schlüpfen können – des saitenspielenden Lieblings der Damen, der vom Hofe Sauls fliehen muß. Im Sommer 1862 verließ er das sachsenweimarische Schloß Wilhelmsthal in einem bunt-orientalisierenden Aufzug, der halb an den eines Vagabunden, halb an den eines Narren erinnerte – „zu Fuß, höchst lächerlich in meinen Schottischen Shawl eingehüllt, und den türkischen Feß auf dem Scheitel zog ich ein, und hatte das Unglück, einigen Damen zu begegnen, in einer stolzen Equipage rollte ich wieder davon.“2367 Den tragikomischen Rollentausch mußte Hebbel auf der Weiterreise noch mehrmals vollziehen. Zunächst hinderte ihn ein Dienstbote daran, die Bettler-Rolle weiterzuspielen: Als ich abfuhr, stieg auch ein Bedienter in seiner Livrée mit auf. Ich dachte gleich, der Kerl kostet Dich einen Thaler, hoffte aber noch im Stillen, er habe in Eisenach etwas zu thun und erholte mich wieder von meinem Schreck. Aber leider war es bitt’rer Ernst, er begleitete mich bis zur Eisenbahn, riß diensteifrig den Schlag auf, belud sich mit meinen Sachen und folgte mir in den Warte-Saal. Da hieß es also: zweite Classe und ein fettes Trinkgeld! [WAB 4, 488f.]

Normalerweise reiste Hebbel in der dritten Klasse. Jetzt sollte er für seinen Wechsel in die zweite nicht nur mit einem höheren Fahrpreis zahlen. Noch vor der Abfahrt erwartete ihn auf dem Eisenacher Bahnhof das nächste Unglück in Gestalt der Schriftstellerkollegin Klara Mundt. Sofort begann eine neue Verwechselungskomödie, denn Hebbel „erkannte sie Anfangs nicht“, obwohl sie doch „[r]oth und fett, wie immer;

Dieses und das folgende Zitat: SCHLATTER, Calwer Bibellexikon, Sp. 1178. Der Subtext ist so dicht, daß die vertikal-hierarchische („unter“) und die ‚himmlische‘ („Stern“) Dimension auch in der Nebenbedeutung des homonymen Verbums ‚auffahren‘ noch mitsprechen. Bereits der junge Hebbel hatte „unter einem so bösen Stern“ gestanden – unter dem Einfluß Laurence Sternes, dessen Nachnamen er sich als Autorpseudonym zu eigen machte. 2367 WAB 4, 488. Hervorhebung C. S. 2365 2366

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Klatsch-Schwester, wie immer“ [WAB 4, 489] war. Der Dialog zwischen beiden gerät zu einer Anhäufung von Mißverständnissen: Sie fragte, ob der „Michel Angelo“ im Druck erschienen sey, in dem sie einst, als ich ihn in Berlin vorlas, ihre „sämmtlichen“ Schmerzen abgespiegelt fand, und schien gar nicht zu ahnen, wie impertinent das war. Uebrigens in Allem, wie ich; sie spürt auch die Einsamkeit der Könige und – der Bettler, wie ich in Gedanken hinzusetzte, als sie von ihrem Leihbibliothe[ke]n-Thron herab mir die Schwester-Hand reichte und von dem inneren Segen der Kunst sprach, den die Welt nicht rauben könne. Welch ein Gegenbild zum Morgen. Dort die feine fürstliche Frau, welche jeden vornehmen Schmerz der Seele versteht, und hier der routinirte Blaustrumpf, der Grimassen zieht, wie sie das Bauchgrimmen erzeugt [WAB 4, 489].

Hebbels Wut auf Klara Mundt gilt einer Spielverderberin, die ihm als Farce erscheinen läßt, was ihm – bei aller Theatralik – ernst ist: In der geteilten „Einsamkeit der Könige und – der Bettler“, aber auch: der grimassierenden Komödianten, schließt sich der Kreis auf ebenso konsequente wie paradoxe Weise. Denn ist der König der ‚Adelige‘ par excellence, so verbindet sich bei ihm die höchste Integrität mit der größten denkbaren ‚Exklusivität‘ – worin er sich mit dem Bettler und Vagabunden trifft.2368 Hebbel treibt sein Rollenspiel in der Figur des Königs nicht nur auf die Spitze, er bricht ihr zugleich die Spitze, indem er ironisch ihren ‚Sturz‘ betreibt. In einer abenteuerlichen Seelenakrobatik und gesteigert ins Monumentale und Groteske, integriert Hebbel so das ungleiche Paar Kirchspielvogt und Schreiber, ‚Staats-Mann‘ und ‚Straßen-Junge‘ in seine eigene Dichteridentität.

„Ein Königssohn, verlassen“ Imaginiert sich ein Maurersohn als Monarch, so ist die prätendierte Rolle alles andere als sicher und selbstverständlich. Selbst auf der metaphorischen Ebene bedarf sie darum der vermittelnden Vorbereitung. Wenn ein „Königssohn […] Nichts denken [muß], als daß er einst König wird“ [W 5, 89], so läßt sich umgekehrt sagen: Wer König werden will, sollte zunächst ein Königsohn sein. In diesem Zusammenhang erinnert Peter von Matt an das „Phantasiespiel, das Sigmund Freud als erster benannt hat und in seinem elementaren Charakter für die innerseelische Verarbeitung der Ablösung von den Eltern erkannt hat“,2369 nämlich die „lang ausgesponnene Phantasie sehr vieler Kinder und Halbwüchsiger, daß sie nicht das Kind ihres Vaters seien, sondern Tochter oder Sohn einer großen Persönlichkeit, eines Fürsten oder Königs“. Diese Phantasie hatte Hebbel noch in fortgeschrittenem Alter: „Einer seiner LiebAmalie Schoppe und Karl Gutzkow sahen gerade in solcher Widersprüchlichkeit eine Hebbelsche Charakterschwäche: „Die Bettlernatur verleugnet sich selbst in diesem reichen Geiste nicht“ [HP I, 97], meinte Schoppe; Gutzkow geißelte an ihm den „Widerspruch der größten Anmaßung hier und die Kriecherei und Bettelei da!“ [GUTZKOW, Dionysius Longinus, S. 63]. 2369 Dieses und das folgende Zitat: MATT, Verkommene Söhne, S. 73. 2368

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lingsschwänke bestand darin, in launig ernsthaften Versicherungen über den Glanz seines Vaterhauses zu schwatzen; wie es dort hoch hergegangen; daß er in einem goldenen Saale aufgewachsen sei u. dgl. mehr“,2370 erinnerte sich Emil Kuh. Das Bild des ‚goldenen Saals‘ spielte jedoch nicht bloß allgemein an das ‚goldene‘ Zeitalter der Kindheit an, sondern benannte ein ganz konkretes, für den Wesselburener buchstäblich ‚naheliegendes‘ Bauwerk: Der ‚Goldene Saal‘ war die „einzige profane Großhalle der Gotik im Lande“2371 Schleswig-Holstein, nämlich die berühmte „zweischiffige Königs-Halle“ auf Schloß Gottorf. Errichtet wurde sie „unter Herzog Friedrich I. (1492–1533), der auch nach seiner Krönung zum dänischen König gerne auf Gottorf residierte“; 2372 Herzog Friedrich III. (1616–1659) wiederum richtete sich im Schloß einen „abgeschlossenen privaten Bereich ein, zu dem eine im Königssaal aufgestellte Kunst- und Wunderkammer“2373 gehörte. Zwei Friedriche von königlichem Geblüt, der letztere zugleich Landesvater von Norderdithmarschen, bereiteten mit diesen kunstgeschichtlichen Großtaten gleichsam den Boden für einen dritten Kulturheros mit Namen Friedrich. Von diesen ‚realen‘ Bezügen ahnten die Wiener Zuhörer offenbar nichts; die konkrete Implikation, daß in diesem Saale nur ein Königssproß aufgewachsen sein konnte, behielt Hebbel in seinen „launig ernsthaften“ Reden hintergründig für sich. Nur Christine Hebbel wird auch von diesem Aspekt gewußt haben: „Dieser ‚goldene Saal‘ entlockte manchmal dem Antlitz seiner Frau einen wehmütigen Zug“,2374 beobachtete Kuh. Heinz Stolte sah in Hebbels Größen-Phantasien die „Wunschbilder von dem, was […] menschliches Leben in seinen reinsten und höchsten Prägungen sein sollte oder sein könnte.“2375 Tatsächlich hat sich Hebbel mit der ‚genetischen‘ Dimension der Herrscherrolle auch inhaltlich immer wieder auseinandergesetzt – weniger allerdings mit dem simplen Wunschbild eines idealen Märchenprinzen, häufiger mit der Gestalt dessen, der um seinen Thronanspruch erst ringen muß, ohne ihn bereits auszufüllen. Diese Rolle stellt nicht einfach ein identifikatorisches Angebot dar, für sie ist vielmehr die Spannung zwischen Sein und Schein, Sein und Werden konstitutiv. Hebbel selbst berichtet von entsprechenden Konflikten, die ein als ‚adelig‘ qualifiziertes „Selbstgefühl“ voraussetzen, in einer autobiographischen Notiz: Am jungen Goethe wurde in der Jugend schon das Selbstgefühl so gelobt. Ich hatte es auch, wurde aber hart dafür getadelt und oft gezüchtigt, wenn es hervor trat. Das ist der Fluch der Armuth, daß Alles, was Selbstgefühl verräth, sich nicht mit ihr verträgt, sondern als Hochmuth, Anmaßung und Lächerlichkeit erscheint. […] Beim Sohn des reichen Herrn: angeborener Adel; bei dem des armen: Bettler-Eitelkeit! [W 15, 16]

Angeborener Adel? Wie ein verhinderter Kronprinz hatte der Wesselburener Schreiber sich schon geriert, als Amalie Schoppe ihm erste Avancen machte. Ungnädig KUH, Biographie, Bd 2, S. 470. DEHIO, Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler. Hamburg. Schleswig-Holstein, S. 597. 2372 Ebd., S. 594. 2373 Ebd., S. 595. 2374 KUH, Biographie, Bd 2, S. 470. 2375 STOLTE, Die Tragödie des Unpolitischen, S. 12. 2370 2371

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teilte er dem in Kopenhagen weilenden Schacht im Januar 1834 davon mit: „Von Hamburg aus werde ich noch immer mit den schönsten Versprechungen gefüttert; sie schlagen aber bei mir nicht besser an, als wie weiland bei dem Dänenprinzen Hamlet“ [WAB 1, 33]. Das war nicht nur eine beiläufige Anspielung; Hebbel kannte seinen Shakespeare. Dieser ließ den enterbten Königssohn auf die Frage nach seinem Befinden antworten: „Ich esse Luft, ich werde mit Versprechungen gestopft; man kann Kapaunen nicht besser mästen.“2376 Den Text Hamlets, „wer ertrüg’ der Zeiten Spott und Geißel, [/] Des Mächt’gen Druck, des Stolzen Mißhandlungen, [/] Verschmähter Liebe Pein, des Rechtes Aufschub“,2377 hätte der junge Hebbel exakt so nachsprechen können. Mangels Quellen lassen sich zwar keine Aussagen darüber treffen, wie weit er die Parallelisierung trieb. Doch eine spätere Äußerung stellt Hamlet ins Zentrum sowohl von Identifikations- als auch von Desillusionierungprozessen: „Da zerbrechen alle Schlüssel, da wird Hamlet […] trivial, da sinken die Religionen, aber nicht weniger auch die Philosophieen, zu bloßen anthropologischen Momenten des Geschlechts herab“ [WAB 2, 544f.]. Der scheiternde Hamlet konnte im Leiden, doch nicht im Handeln als Leitstern dienen2378 – ein signifikanter Unterschied zur verbreiteten, romantisch inspirierten Hamlet-Rezeption. Nur sporadisch – und dann selbstironisch – verglich sich der reifere Hebbel mit ihm;2379 gereizt reagierte er, als auch der junge Emil Kuh sich Shakespeares tragischen Helden zum Vorbild nahm: „Uebrigens vermag ich Ihre jetzigen Verhältnisse nicht zu beurtheilen […] und ich weiß so wenig; womit, als wie lange Sie Sich beschäftigen. Hierüber etwas mehr und über den Dänenprinzen, mit dem Sie Sich nach Art und Unart junger Leute gern vergleichen, etwas weniger zu vernehmen, wäre mir lieb gewesen!“ [WAB 3, 73]. Nicht konkret Hamlet, wohl aber ein namen- und vaterloser Kronprinz wird in dem frühen Gedicht Der Königssohn erstmals in den thematischen Fokus eines literarischen Werkes gerückt: Ein Königssohn, verlassen, Irrt in der Fremde allein. Was mögte er dort umfassen? Er will bei’m Vater sein.

Hamlet, 3. Akt, 2. Szene [SHAKESPEARE, Sämtliche dramatische Werke, Bd 6, S. 52]. Hamlet, 3. Akt, 1. Szene [ebd., S. 47]. In Tiecks Dichterleben (Zweiter Teil) weiß auch Shakespeare, daß sein Selbstbild der Außenwahrnehmung gerade entgegengesetzt ist: „Die Einwohner von Stratford […] betrachteten mich wie einen ungeratenen Sohn, der seinen Eltern nur Kummer machen könnte” [TIECK, Novellen, S. 458]. 2378 Vgl. einerseits das 1836 entstandene Gedicht Schlafen, das nach Hebbels Aussage „die Wollust des Todes [athmet]“ [WAB 1, 130] und bereits in der Eingangszeile „Schlafen, schlafen, Nichts, als Schlafen!“ [WAB 1, 130] Hamlets Worte „Sterben – schlafen – [/] nichts weiter!“ [SHAKESPEARE, Sämtliche dramatische Werke, Bd 6, S. 46] variiert; andererseits Hebbels brüske Ablehnung von 1845: „Hamlet ist schon Aas vor der Tragödie und diese zeigt uns nur die Disteln und Dornen, die aus ihm aufschießen“ [T 3311]. 2379 Vgl. WAB 4, 173; WAB 4, 286. 2376

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Der Vater, voll Verlangen, Sieht längst schon nach ihm aus; Er mögte ihn gern empfangen Im reichgeschmückten Haus. Nur einmal dürft’ er sagen: „Ich bin der rechte Sohn,“ Da würde er schnell getragen Hinauf zu des Vaters Thron. Doch ach, er weiß es nimmer, Wer und von wann’ er sei, Und dennoch fühlt er sich immer So königlich stolz und frei [W 7, 156f.].

Das Gedicht entstand Anfang 1838 in München; Hebbel schickte es an seine Gönnerin Amalie Schoppe, die es in ihren Pariser Modeblättern veröffentlichte.2380 Das Gedicht liest sich wie eine Wunschprojektion des „in der Fremde allein“ ‚irrenden‘ Studenten Hebbel, der nur allzugern in Hamburg in manchem „reichgeschmückten Haus“ Aufnahme gefunden hätte. Doch „königlich und frei“ durfte er sich in der nüchternen Kaufmannsstadt auch bei seinem zweiten Aufenthalt von 1839 bis 1843 nicht fühlen. Dieser Königssproß ohne Heimat ist weniger ein ‚verlorener Sohn‘ als der Sohn eines ‚verlorenen Vaters‘: Es geht nicht um seine eigene Lossagung, sondern um eine subjektive Desorientierung der Identität, eine familiale und soziale Desintegration, ohne daß diese genauer erklärt würde. Was ist die objektive Rolle unter diesen Umständen aber noch wert? In der Realität nicht viel; was beschworen wird, ist allein ein subjektives mythisches Gefühl, das erneut auf den ‚angeborenen Adel‘ anspielt: „So königlich und frei“. Über einen larmoyanten Hamlet gelangt Der Königssohn noch nicht hinaus. Wenige Wochen nach der Entstehung des Gedichts verbrannte Hebbel denn auch viele Briefe und Gedichte „in einem Augenblick höchster Muthlosigkeit“ [WAB 2, 126]. Doch alsbald wendete er das Motiv bereits anders, indem er es sowohl ins Zweideutige als auch ins Komische verkehrte: „Die Geschichte eines falschen Prinzen, der selbst nicht weiß, was er ist, könnte zu einem Lustspiel höheren Styls einen trefflichen Stoff abgeben“.2381 Im Januar 1841 notierte er sich nochmals die „Idee zu einem höchsten Lustspiel: Einer, der sich für einen Prinzen hält und nun nicht weiß, ob er, der selbst über seine Geburt nicht gewiß ist, Versuche machen soll, den Thron zu erobern, oder nicht. Was er auch thue oder unterlasse: Beides ist vielleicht Frevel und Schande, also ein Mensch, der nicht einmal weiß, was für ihn gut oder bös ist“ [T 2231]. Das Rollenmuster ‚Königssohn‘ und die damit verbundenen Prätentionen erscheinen im Zwielicht von Ambivalenzen und Ambiguitäten. An die Ausführung des schwierigen Motivs wagte sich Hebbel erst mit seiner letzten großen, nicht mehr vollendeten Tragödie Demetrius heran. Nimmt man jedoch den gegenüber Moritz Kolbenheyer 2380 2381

Vgl. dazu W 14, 325. T 1047. Hervorhebung C. S.

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geäußerten Satz ernst, „[d]er Demetrius ist mein ältester dramatischer Gedanke, mit dem ich mich schon in meinem siebzehnten Jahre trug“,2382 dann stellt diese Figur eine motivische Klammer um das gesamte dramatische Werk dar. Offenbar war sie ein frühes Objekt auch der persönlichen Identifikation, ja, „Demetrius sollte in gewissem Sinne ein Selbstporträt des Dichters werden“,2383 meinte Emil Kuh: Der Dichter hat mir offen gestanden, daß die Charakteristik seines Demetrius im Vorspiele zu der gleichnamigen Tragödie ein biographisches Bekenntnis sei. Das trotzige, herausfordernde Benehmen Dmitris am Hofe des Wojewoden von Sendomir, wo er Knechtesdienste verrichtet, der dem Jüngling eingepflanzte Stolz, gegen den derselbe umsonst ankämpft, und welcher erst nachträglich seine Rechtfertigung empfängt, dies alles ist aus verwandten Stimmungen und Prätendentengelüsten der Jugend unseres Freundes geschöpft.2384

Willy Krogmann sah in Hebbels Demetrius noch konkreter den Niederschlag der „Erfahrungen jener acht Jahre, die er im Hause des Kirchspielvogts Johann Jakob Mohr verbracht hatte, und der innere Zwang, sich von ihnen zu befreien, hat ihn immer wieder zum Demetriusstoff geführt.“2385 Die Züge Mohrs hätten freilich „weniger in dem Woiwoden, der nicht genügend hervortritt, als in Odowalsky […] einen Träger gefunden. In Demetrius aber hat sich der Dichter selbst gezeichnet.“2386 In der Tat spielt eine ganze Reihe von Szenen auf biographische Begebenheiten an. Doch beziehen sie sich keinesfalls nur auf die Zeit, die Hebbel ‚am Hofe‘ des Wesselburener ‚Wojewoden‘ zubrachte. Krogmann selber erinnerte daran, daß „der Dichter selbst Emilie Voß zugefügt“2387 habe, was Demetrius als Knabe der Marina antut: „[E]r hat sich einst sogar [/] An uns’rer eigenen Person vergriffen [/] Und uns an unserm langen Haar gezupft“ [W 6, 13]. In die schamhafte Verehrung für Marina wie für Emilie mischt sich, daß diese wie jene „vornehm“ [W 15, 8] ist. Wenn Demetrius erklärt: „Ich setz’ mich lieber auf die nackte Erde, [/] Als auf den Stuhl des Bauern“ [W 6, 15], dann hat dies eine Parallele in Friedrichs Weigerung, auf Geheiß des Vaters „den Bauerjungen spielen“ [T 1295] zu sollen; und wenn Demetrius es als „der Diener Sache“ [W 6, 10] ablehnt, Marina ein Roß zu bringen, dann gemahnt das an Hebbels Erinnerung, als er „bei Asmoli [?] das Pferd ziehen sollte und nicht wollte“.2388 Wie WAB 3, 768. An anderen Stellen schreibt Hebbel leicht abweichend, die „Vollendung des Schillerschen Demitrius“ habe ihn, „was ich fast vergessen hatte, schon mit 18 Jahren beschäftigt“ [T 5620], bzw. sei „seit meinem achtzehnten Lebensjahre schon meine Absicht“ [WAB 3, 669]. 2383 Emil Kuh, Vorrede zur ersten Ausgabe, zit. nach KLÄHR, Hebbel, Schiller und Demetrius, S. 87. 2384 KUH, Biographie, Bd 1, S. 122. 2385 KROGMANN, Der heimliche Prinz, S. 49. Heinz Stolte vertrat die gleiche Ansicht: „Es ist evident, daß Hebbel die existentielle Situation des Demetrius als eines verachteten Stall- und Jagdbediensteten, der dennoch einen ihm angeborenen Adel und Stolz besitzt und auch zur Schau trägt, in lebhaftester Erinnerung an die eigene Wesselburener Vergangenheit, seine Dienstbarkeit im Hause des Kirchspielvogts, gestaltet hat“ [STOLTE, Die Tragödie des Unpolitischen, S. 18]. 2386 KROGMANN, Der heimliche Prinz, S. 56. 2387 Ebd., S. 45. Vgl. W 8, 99. 2388 W 15, 16. Gemeint ist der Gastwirt Asmus; vgl. BARTELS, Kinderland, S. 430. 2382

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Friedrich dies als „Hochmuth“ und „Bettler-Eitelkeit“ ausgelegt wurde, so wird dem Demetrius vorgehalten: „Wir dienen Alle, und der Federbusch [/] Macht keinen Unterschied, der wird zur Ehre [/] Des Herrn getragen, nicht zur eig’nen Zier!“ [W 6, 10]. Dessen Klage: „Ich ward, so lang’ ich diese Erde trete, [/] Gescholten und gehaßt“ [W 6, 27], wirkt wie ein Echo auf Hebbels Satz: „Mein Vater haßte mich eigentlich“ [T 1323]. Eine einzige konkrete Parallele erinnert immerhin an einen (bis heute ungeklärten) Vorgang im Hause Mohrs, der „die von ihm geschwängerte Dirne Antje Hinrichs“ [WAB 3, 587] vergeblich seinem Schreiber angetragen haben soll. Entsprechend sagt Demetrius: „So will ich auch die nied’re Magd nicht küssen, [/] Die mir bestimmt ist“ [W 6, 20]. Eine weitere Episode hat ihr Vorbild schließlich in Hebbels Hamburger Zeit: „Da geht er wieder hin und grüßt uns nicht“ [W 6, 5], beschwert sich der Edelmann Odowalsky über Demetrius, sein Begleiter Poniatowsky setzt hinzu: „Ist das was Neues? Doch, gerecht zu sein, [/] Er sah uns dies Mal nicht“ [W 6, 5]. So geringfügig das Vergehen an sich scheint; zwischen Hebbel und Amalie Schoppe führte es zu einer gravierenden Irritation: Von Janinsky erfahre ich heute Abend, daß ich Ihnen und Ihrer verehrten Frau Mutter vor zwei Tagen auf dem Jungfernstieg begegnet seyn und Sie angesehen haben soll, ohne Sie zu grüßen. Eine solche Hintansetzung alles dessen, was die Humanität unter jeden Umständen von einem gebildeten Manne verlangt, ist in meinen Augen so armselig und unverantwortlich, daß ich mich gegen den Verdacht, sie begangen zu haben, nicht schnell genug glaube verwahren zu können. Ich gebe Ihnen meine ausdrückliche Versicherung, daß ich, als ich von Ihnen und Ihrer Frau Mutter gesehen wurde, Sie nicht gesehen habe; dasselbe ist mir mit anderen Personen schon oft begegnet [WAB 1, 312].

Die Parallelen aus Dichtung und Wirklichkeit verweisen immer wieder auf dasselbe Prinzip: Demetrius wie Hebbel sind mit einer kollektiven Wertordnung konfrontiert, die individuelle Verhaltensabweichungen grundsätzlich negativ sanktioniert. Die literarische Bearbeitung überträgt persönliche Erfahrungen in einen neuen Kontext und ermöglicht so ihrerseits eine ‚Verallgemeinerung‘ und Überprüfung. Man mißversteht die autobiographischen Reminiszenzen im Drama darum gründlich, wenn man in ihnen wieder nur das späte Porträt eines jungen Hebbel erkennt, wenn man mentale Dispositionen als persönlich gemeinte Demütigungen interpretiert und diese wiederum auf den historischen Kirchspielvogt Mohr projiziert. Heinz Stolte sieht nicht bloß in verletztem Stolz die entscheidende Parallele zwischen Hebbel und Demetrius. Er erkennt die literarische Qualität vor allem in der mythischen Steigerung, die er gleichwohl auch wieder biographisch verwertet: Beider ‚Knechtsgestalt‘ ist für ihn nur insofern von Bedeutung, als daran der ungeheure Abstand zum später Erreichten deutlich wird. Der traumhafte Aufstieg ist für Stolte der entscheidende Vergleichspunkt: „Dies also, das Thema der Metamorphose, der Verwandlung aus Zwang in Freiheit, aus Not in Fülle, aus Niedrigkeit in Größe, aus Verachtetheit in Ruhm und Glanz –, dies ist unbezweifelbar eines der Ur- und Kernthemen der Hebbelschen Dichtung, weil es sich hier zugleich um die ganz zentrale Schicksalserfahrung seines eigenen Lebens handelt“.2389 Wohl sei dieses Phäno2389

STOLTE, Die Tragödie des Unpolitischen, S. 16.

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men auch an Judith, Genoveva und Agnes Bernauer zu beobachten, doch sei Demetrius „unbezweifelbar die bedeutsamste Variante, die schlüssigste Problematisierung des Motivs“2390 – die „Existenzverwandlung aus Anonymität und Niedrigkeit zur schwindelnden Höhe eines Kaiserthrones“.2391 Stolte zog daraus weitreichende biographische Rückschlüsse auf Hebbel: Begreift man wohl, wie dieser Demetrius in seiner Verwandlung, die so lange gedemütigte und gescholtene Kreatur, die endlich nun sein darf, was sie ist [!?], nichts anderes darstellt als eine verfremdete Inkarnation dieses Autors selbst? Demetrius ist Hebbel, und ganz gewiß an diesem besonderen Punkt der dramatischen Handlung ist die psychische Identität beider vollkommen. Ein Blick ins Geheimnis künstlerischen Schöpfertums tut sich an dieser Stelle auf, und man vermag zu ermessen, wie zentrale Erlebnisse eines Menschen – seelisches Trauma und Glückerschütterung – sich zu einem poetischen Symbol objektivieren, oder anders gesagt: wie aus dem Demetrius-Komplex in Hebbels psychischer Welt das DemetriusMotiv seiner Tragödie hat werden können.2392

„Demetrius ist Hebbel“ – diese Gleichung geht allerdings auch hier nicht auf, zumal wenn sie durch Begriffe wie „verfremdete Inkarnation“, „Geheimnis“ und „Symbol“ mehr verrätselt als relativiert wird. Denn dadurch wird die Poesie zum bloßen Erfüllungsgehilfen identifikatorischer Wunschprojektionen auf einer ‚höheren‘ als der ‚bloß‘ realen Ebene erklärt.2393 Der von Stolte so apostrophierte „Demetrius-Komplex“ zeigt vielmehr, daß hier eben kein konkretes Rollenangebot vorlag, in das Hebbel sich nur noch hineinzuträumen brauchte. Die Figur des Demetrius stellt nur eine, zudem sehr späte, literarische Ausformung des Motivs vom ‚verlassenen Königssohn‘ dar, der zumindest motivisch keineswegs ‚verlassen‘ dasteht: Im Kontext der von Hebbel imaginierten Rollen ist er nicht nur dem ‚König‘ selbst naturgemäß eng verwandt, sondern auch dem ‚verkauften Kind‘, gleichsam als adoleszentes Pendant, sowie dem ‚verlorenen Sohn‘ als dessen unschuldiges Gegenstück. Der ‚Komplex‘ manifestiert sich in durchaus verschiedenen Gestalten und Konstellationen: Hamlet ist der legitime Thronerbe, Hebbels Demetrius ein illegitimer Zarensproß, Alexander dem Großen verstrich angeblich das „Leben [...] unter dem Zweifel, ob er ein Sohn von König Philipp oder von Jupiter Ammon sei“ [W 5, 45], für Hebbel ein „hoher dramatischer Stoff“. Assad aus Der Rubin und der Diocletian des gleichnamigen Gedichts sind hingegen Söhne von Sklaven, auch ein etwaiger Kaiser Maximinus sollte „von niedrigster Geburt“ [W 5, 44] sein. Es herrscht eine erhebliche Fluktuation: Die personale Identifikation löst sich metonymisch auf in freiere Gedankenspiele und Entwürfe. In diesem pool unterschiedlicher Varianten stellt auch Demetrius nur eine Spielart, sein Drama nur eine Lösung dar. Zurückhaltender als die Forscher vor ihm äußerte sich Dieter Arendt: „Der seiner Herkunft ungewisse Prinz ist also seit seiner Jugend ein fortdauerndes Ebd., S. 17. Ebd., S. 18. 2392 Ebd., S. 23. 2393 Hajo Matthiesen treibt den Vergleich zwischen Dichter und Zar wiederum auf der Ebene der Wirklichkeit auf die Spitze, wenn er schreibt: „Der in seiner Jugend von Not, Armut, von dem Mangel an geistigen Gütern und von fremden Menschen abhängige Hebbel wurde zu einem Herrscher“ [MATTHIESEN, Friedrich Hebbel, S. 22]. 2390 2391

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Thema mit Variation, gleichsam ein Leitmotiv seines Lebens und Denkens“,2394 so daß man „nicht vorbei kann an der biographischen Frage“2395 – doch eine „biographistische Antwort wäre voreilig […]. Demetrius war schon als historische Gestalt nicht eindeutig, erst recht nicht als literarische Symbol-Figur.“ Gerade an die Problematik der illegitimen Herkunft, an die objektive Unmöglichkeit, eine Rolle als ‚Erbteil‘ zu übernehmen und zu erfüllen, knüpft sich Hebbels kreativer Umgang mit dem Motiv. Dies deutet sich bereits in seiner Ablehnung Hamlets an. Goethe hatte zu dessen Unfähigkeit zur Rache an dem frevlerischen Onkel und Thronräuber geschrieben: „Hier wird ein Eichbaum in ein köstliches Gefäß gepflanzt, das nur liebliche Blumen in seinen Schoß hätte aufnehmen sollen; die Wurzeln dehnen sich aus, das Gefäß wird zernichtet“2396 – die legitime Herkunft des edlen Thronanwärters genügt nicht zur Durchsetzung seines Anspruchs. In Anspielung auf dieses Zitat und in klarer Abgrenzung von dem etablierten Bild des zaudernden Hamlet schrieb Hebbel 1837 an Elise Lensing: „Ich fühle mich im Ganzen und Großen (ich wurzle im Welt-All u nicht in einem Topf;)“.2397 Zur Zeit der Abfassung des Demetrius griff er 1859 dieselbe Metapher erneut auf, indem er – subtilerweise der hochadligen Prinzessin Marie von Sayn-Wittgenstein – erklärte, „das Drama schöpft seine eigentliche Kraft aus den Zuständen, und Charactere, die nicht im Volksboden wurzeln, sind Topf-Gewächse“ [WAB 3, 744]. Die Metapher vom „Volksboden“ ist doppeldeutig: Sie bezieht sich zum einen auf die mütterlicherseits nichtadelige Herkunft des Demetrius aus dem Volk, zum anderen auf eine urwüchsignatürliche, ‚volkstümliche‘ Mentalität. Der russische Stallknecht, der „die Art, die manchem König fehlt“ [W 6, 5] besitzt, könnte ebensogut dem Dithmarschen-Drama entstammen, wo die Bauern „zwischen Königssöhnen und sich keinen Unterschied kennen“ [W 5, 90] und wo Hebbel selbst den dänischen König – in Übereinstimmung mit der sagenhaften Überlieferung – sagen läßt: „– das wären Bauern? [/] Es mögen Herren sein!“ [W 5, 83] Für eine traditionale Gesellschaft ist die Übereinstimmung von Adels- und Volks-Kultur durchaus noch denkbar, ist die ‚Deklassierung‘ der letzteren doch erst das Ergebnis jüngerer Modernisierungsprozesse. Die königsgleiche Art, die sich in Demetrius trotz widrigster Umstände regt, wird aber auch dadurch abgesichert, daß Hebbel ihn den natürlichen Sohn des Iwan sein läßt. Indem Demetrius sowohl ein echter Zarensohn ist, als auch von der Mutter her „im Volksboden wurzelt“, ist er an einen Scheideweg gestellt: Tritt er nur ein in die

ARENDT, Demetrius – der heimliche Prinz, S. 23. Dieses und die folgenden Zitate: Ebd., S. 29. 2396 Wilhelm Meisters Lehrjahre [GOETHE, Werke, Bd 7, S. 246]. 2397 WAB 1, 142. Der Satz enthält auch eine autobiographische Reminiszenz an Wesselburen, wo Hebbel eine „unendliche Freude“ [W 15, 7] an Topfblumen hatte. „Viele Wesselburner Frauen trieben auch zu meiner Zeit noch leidenschaftlich Blumenzucht, und man sah die schönsten Topfgewächse vor den Fenstern stehen“, darunter auch eine „Orchidee“, entsann sich noch Adolf Bartels [BARTELS, Kinderland, S. 427]. 2394 2395

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väterliche Rolle, oder nutzt er die perspektivische Öffnung auf kraftvolles autonomes Handeln,2398 das einem Hamlet verwehrt bleibt? Im Drama geschieht beides: „Daß er die politische Laufbahn nur beginnt, um adelig leben zu können, – wie er muß, das bezeugt er selbst, als ihm die Zarenkrone angeboten wird“,2399 meint Friedrich Sengle. Doch ist dieses ‚Müssen‘ kein absoluter Imperativ. Denn Demetrius ist bereit, die Krone wieder abzusetzen, als er erkennt, daß er nicht die juristischen Voraussetzungen seiner Rolle als Zar erfüllt. Eduard Castle schreibt: „Darum ist er auch nicht imstande, als Eroberer eine neue Dynastie zu gründen: Er hat einen Rechtsanspruch erhoben, ‚sein Erbteil‘ angesprochen, ‚und mit dem Recht erlischt der Anspruch’“.2400 Die von ihm abhängigen Hofleute nötigen ihn nun, die Rolle weiter zu ‚spielen‘ – und verlangen damit ein uneigentliches Handeln, das die Legitimitäts-‚Lücke‘ überbrücken könnte. Dazu passen aber weder seine inneren Voraussetzungen, noch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Friedrich Sengle schreibt: „Demetrius geht nicht an seiner Illegitimität zugrunde […]. Er geht an einer Welt zugrunde, für deren Betriebsamkeit und Schlauheit er zu hoch steht. […] Und den Helden selbst kennzeichnet keine märchenhafte Genialität, sondern ganz schlicht der Adel seines Wesens.“2401 Auch in seiner zum ‚Wesen‘ verinnerlichten Form erscheint „Adel“ als anachronistisch, und zwar in doppelter Hinsicht: Von der „Schlauheit“ des gemeinen Menschen ist er ebenso weit entfernt wie von schöpferischer „Genialität“. Das ‚ureigene‘ Wesen wird mit Rollenvorgaben konfrontiert, die immer wieder wechseln: Zunächst ist Demetrius ein elternloser Niemand, dann gilt er als rechtmäßiger Thronanwärter, schließlich entpuppt er sich als Bastard. Das eigene Wollen und Handeln läßt sich mit den vorgegebenen und immer wieder entzogenen Rollen nicht zur Deckung bringen. Vor der ‚Selbstschöpfung‘ als Zar, vor dem Versuch, sich mit allen Mitteln und dem Recht des Stärkeren zu behaupten, schreckt Demetrius jedoch zurück. Damit erweist er sich einer gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht gewachsen, deren Akteure einerseits von derartigen Selbst-Zweifeln nicht mehr angekränkelt sind, andererseits mit provisorischen Identitäten operieren. Das versucht in Hebbels Drama bereits Boris Godunow. Auch er brachte es vom Stallmeister zum Staatsoberhaupt, doch „zitterte“ [W 6, 41] er vor der Zarenkrone. Ausgerechnet der Thronusurpator legt darum sich selbst gegenüber eine Art Beamteneid ab: „Und ich gelobte mir in meinem Schwindel, [/] Zu bleiben, was ich war, ein Reichsverwalter“ [W 6, 41]. Die Vertreter dieser Gesellschaft besitzen die Fähigkeit, in schwindelerregender Schnelligkeit Rollen zu wechseln oder auch ein Doppelspiel zu treiben. Heinz Stolte bewertete dies moralisch: „Dieser Raum des Hochpolitischen offenbart sich uns als ein Dasein ohne Wahrheit, ohne Sicherheit; das Bodenlose und Hohle einer Existenz auf der Höhe dieses Thrones tut sich erschreckend auf“;2402 nirgends sei die „Sphäre Dies malt sich Albrecht in Agnes Bernauer hypothetisch sowohl für sich (wäre er nicht der Sohn einer Prinzessin von Mailand), als auch für seinen zukünftigen Sohn mit Agnes Bernauer hypothetisch aus: Vgl. W 3, 162. 2399 SENGLE, Das historische Drama, S. 207. Vgl. W 6, 27. 2400 CASTLE, Der falsche Demetrius, S. 240. Vgl. W 6, 125. 2401 SENGLE, Das historische Drama, S. 208. Hervorhebung C. S. 2402 Dieses und das folgende Zitat: STOLTE, Die Tragödie des Unpolitischen, S. 25. 2398

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des Menschlichen nichtiger und flüchtiger […] als gerade hier“. Doch nicht nur im „Hochpolitischen“, auch im Privaten lassen sich diese Eigenschaften finden, sogar und vor allem bei Marina, die Demetrius vielleicht gerade darum als so gänzlich von ihm Verschiedene liebt. Richard Maria Werner bescheibt sie als „anmutig, leichtsinnig und unüberlegt, graziös und voll Charme, heiter, fast drollig, ohne Ernst, ohne Gefühl für Pflicht, tändelnd und vom Augenblick bestimmt, kokett und etwas theatralisch“.2403 Gerade dadurch „übt sie einen starken Reiz“ aus. Doch geht es dabei keineswegs nur um Kolorit, wie Werner glaubt, um das reizvolle „Bild des slavischen Mädchens […], wie es sich Hebbel vorstellte“, sondern um einen Menschentypus, der in jedem „Augenblick“ wie auf einer Bühne in eine neue Rolle schlüpfen kann, der nicht auf eine einmal geprägte Identität festgelegt ist. Als Marina in koketter Selbstverleugnung ihr Aussehen mit dem einer Vogelscheuche vergleicht, erwidert Demetrius: „Marina, frevle nicht! Du weißt recht wohl, [/] Daß Könige sich eher um Dein Lächeln, [/] Als um das Reich der Polen schlagen werden –“ [W 6, 18]. Indem er sie mit moralischem Nachdruck zu eindeutiger Rede ermahnt, fließt ihm selbst auch schon, „wie einst de[m] armen Knaben“ [W 6, 18], das Herz über: Die direkte Gunst der Schönen ist ihm wichtiger als abstrakte Macht; für ihr Lächeln, das er wiederum nicht als hintergründiges Mienenspiel, sondern als eindeutigen Gunstbeweis ansieht, würde der in Liebesdingen schlicht gestrickte, und dabei ganz von der traditionalen Körperkultur geprägte Ex-Stallbursche sofort die Fäuste fliegen lassen. Unbewußt – oder aber in grotesker politischer Naivität – redet jedoch auch er zweideutig, indem das Verbum ‚schlagen‘ in diesem Zusammenhang zugleich die Bedeutung von ‚Krieg führen‘ erhält. Sollten Könige dies wirklich nicht für ein Reich, nur für ein Lächeln tun? Der zwielichtigen Semantik des „Hochpolitischen“ kann Demetrius nicht einmal dort entgehen, wo alles ganz ‚einfach‘ scheint. Auch er wünscht sich Handlungsfreiheit, doch nur, um „eine einzige Rolle [zu] spielen, die Rolle eines natürlichen Menschseins und seiner Menschlichkeit“.2404 Dies zeigt sich beipielhaft erneut, als Mniczek ihn mahnt, sein Leben nicht in heldenhaftem Kampf aufs Spiel zu setzen. Demetrius antwortet: „Ich seh’ das ein, doch ich versprech’ Dir Nichts“ [W 6, 56]. Der ‚Selbstherrscher‘ läßt sich – paradox genug – nicht auf ein ‚taktisches‘ Verhalten festlegen. Scheinbar übermütig setzt der ‚ÜberMutige‘ hinzu: „Nun will ich – Weißt Du, was?“ [W 6, 56]. Doch daß Mniczek tatsächlich nicht weiß, was Demetrius will, verwundert diesen wiederum: „Erräth’st Du’s wirklich nicht? [/] So giebt’s auch Pflichten, welche Du nicht kennst“ [W 6, 56]. Die augenscheinliche Freiheit des Demetrius ist nur ein höheres Pflichtbewußtsein – das seinem engsten Vertrauten und Schwiegervater unbekannt ist. Sein ‚rollensoziologischer‘ Irrtum besteht in dem Glauben, daß individuelle Freiheit und gesellschaftliche Verpflichtung in der einen Rolle des Autokraten ideell zusammenfallen. Autonomie, das wußte hingegen Hebbel schon vor seiner Begegnung mit Christian VIII. in Kopenhagen, besitzt selbst ein König höchstens dann, wenn man ihn „allein […], nicht in einer großen Gesellschaft“ [WAB 1, 404] anzutreffen vermag. Autonom handeln aber die vermeintlichen ‚Untertanen‘, die sozial desintegrierten ‚Subjekte‘, die 2403 2404

Dieses und die folgenden Zitate: Werner in W 6, XXIX. ARENDT, Demetrius – der heimliche Prinz, S. 40.

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eben nicht an der idealen „Stelle […], Wo jedes einzig ist und einzig nützt“ [W 6, 53], stehen, die sich allein in sozialen und politischen Reibungsprozessen gegenseitig relativieren. Heinz Stolte vertrat die Meinung, Demetrius besäße als ein „Mensch auf der Suche nach seiner Identität, der Mensch, der aus seiner Selbstentfremdung in die große Freiheit seiner Selbstverwirklichung strebt“,2405 eine „verblüffende Modernität“. Doch lebt der vormoderne Mensch ohne „Identität“ und in „Selbstentfremdung“? Wohl kaum, umgekehrt steckt gerade in der von Demetrius angestrebten Kongruenz zwischen gesellschaftlich zugeschriebener und persönlich akzeptierter Identität ein Moment traditionaler Gebundenheit. Ein modernes Identitätskonstrukt ließe sich an Demetrius allenfalls in dem Umstand erblicken, daß sein adeliges Selbstbild gleichsam individuell ‚angeboren‘ und nicht gesellschaftlich vermittelt sein soll; doch handelt es sich hier nicht um eine ‚geniale‘ Selbsterfindung, Hebbel fundiert es vielmehr real – und mythisch – in der direkten Abkunft von Zar Iwan. Demetrius handelt gerade nicht so ‚modern‘, wie Dieter Arendt verlangt: „Muß er nun nicht, nachdem er seine äußere Legitimation verloren hat, eine innere Legitimation suchen?“2406 Der Fall liegt anders, wie auch Arendt weiß: „Ist es nicht so, daß gerade im Augenblick der höchsten Erhebung […] die Überhebung, die Hybris, deutlich zutage tritt – und sogleich damit die Tragik bzw. die Tragödie?!“ In der tragischen Hybris steckt ein geradezu archaisches Heroentum, für das in einer multipolaren, ‚politischen‘ Gesellschaft kein Platz mehr ist. „Du willst mir doch nicht die Bedingung stellen? [/] Das Markten kommt zu spät“ [W 6, 68], erklärt Demetrius stolz. Doch das „Streben nach Absolutheit, nach Bedingungslosigkeit“2407 erscheint in einer Zeit, in der so relative Prinzipien wie Gewaltenteilung und Marktwirtschaft längst etabliert sind, hoffnungslos anachronistisch. Obzwar nun das Stück im altrussischen Feudalmilieu angesiedelt ist, besitzt doch die Gesellschaft, in die der hinterwäldlerische Jagdknecht gebracht worden ist, beunruhigend moderne Züge. Als „die große und doch wieder in sich selbst zerrissene slavische Welt“ [WAB 3, 661] charakterisierte Hebbel das Milieu des Stücks, was Dieter Arendt zu der Frage motivierte, ob es nicht „die ‚Zerrissenheit‘ bzw. Gespaltenheit der Idee“2408 sei, die „hier das tragische Geschehen im besonderen und die tragische Geschichte im allgemeinen verursacht und nach Versöhnung ruft?“ Doch kann man angesichts der Vielzahl der Akteure und divergierenden Interessen im „Kraftfeld der Politik“2409 als der „Sphäre des Relativen“,2410 angesichts der „einengenden und trübenden Verwicklungen der Individuation, in denen sich der […] Wille tausendfältig am Gegebenen bricht“,2411 überhaupt noch eine prospektive Idee bzw. deren ‚Zwie-Spalt‘ erkennen? Friedrich Sengle äußert sich skeptisch:

Dieses und das folgende Zitat: STOLTE, Die Tragödie des Unpolitischen, S. 43. Dieses und das folgende Zitat: ARENDT, Demetrius – der heimliche Prinz, S. 35. 2407 STOLTE, Die Tragödie des Unpolitischen, S. 30. 2408 Dieses und das folgende Zitat: ARENDT, Demetrius – der heimliche Prinz, S. 44. 2409 STOLTE, Die Tragödie des Unpolitischen, S. 33. 2410 Ebd., S. 31. 2411 Ebd., S. 24. 2405 2406

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Daß aber eine höhere historische Idee aus diesem Chaos der Kräfte siegreich hervorgehen sollte, ist nirgends in dem Stück angelegt oder von dem Dichter ausgesprochen. Ja, man darf sagen: eben deshalb drängt sich das Milieu in diesem Drama so bunt und eigenmächtig vor, weil es nicht in den Rahmen irgendeiner geschichtsphilosophischen Konstruktion gepreßt wird.2412

Wie eine „höhere historische Idee“ in der ‚zerissenen slawischen Welt‘ nicht mehr zur Hand ist, so wohl auch kaum im konfessionell in sich gespaltenen, romanischgermanischen Westen. Sengle zog eine bemerkenswerte Schlußfolgerung: „Nicht Hebbels Tod, sondern der sich immer mehr durchsetzende Relativismus des Dichters und seiner Epoche scheint mir der tiefste Grund dafür zu sein, daß Demetrius nicht mehr abgeschlossen wurde.“2413 Wenn jener moderne Relativimus als erkenntnistheoretischer Fluchtpunkt in dem Fragment gebliebenen Stück nicht mehr manifest werden konnte, dann verdankt sich dies jedoch antinomischen, letztlich antimodernen Denkfiguren. Und steht schon die Gattung Tragödie einem pragmatischen und kompromißhaften ‚Aushandeln‘ gegebener Probleme entgegen, so sind auch kommunikative Mikrostrukturen geprägt von unvermittelten Entgegensetzungen, wie sie traditionale Kommunikationsformen prägen. „Es ist zu toll“, sagt der Bojar Basmanow gleich eingangs der ersten Szene des ersten Akts über das „Märchen“ des Demetrius: „Unsinniger, wie eine stumpfe Amme [/] Es je an einem Kinderbett erfunden, [/] Und doch nicht ausgelacht!“ [W 6, 31] Buchstäblich an ‚erster‘ Stelle steht so der Hinweis auf eine altertümliche Textgattung, die unsinnig erscheint, und sich doch nicht als lächerlich abtun läßt. Demetrius selbst kommt sich wie im Märchen vor; er ist „Heut’ noch, ich weiß nicht was, [/] Und morgen Czar – das ist ja wie ein Wunder“ [W 6, 119]. Boris Godunow bedient sich gleichfalls eines MärchenRequisits, indem er warnt, „nicht hastig nach der goldnen Schlange“ [W 6, 39] zu greifen. Vielfach zeigt sich eine Vorliebe für bildhafte Kontrastierungen. So vergleicht Boris die „Stille [/] Des Klosters mit der Hölle […] [/] Die zu den Füßen eines Thrones gähnt“ [W 6, 40]; Marfa wiederum wehrte sich gegen das Kloster, so wie „der sich wehren mag, den man lebendig [/] In’s off’ne Grab hinunter stoßen will“ [W 6, 42]. Der Mönch Gregori eröffnet dem jungen Zaren, er würde „durch’s Schuldenzahlen reich“ [W 6, 115]; Marina jubelt ihm zu: „Kommt’s Dir nicht seltsam vor, daß Du, der einst [/] Von jedem Hasen Rechenschaft gegeben, [/] Jetzt Fürsten klatschen kannst, als wären’s Fliegen?“ [W 6, 110] Der Woiwode Mniczek bringt diese Anschauungsweise von Mensch und Welt auf die allgemeine Formel: Der Himmel selbst ruht auf gespaltnen Kräften, Die ganze Welt auf Stoß und Gegenstoß: Denkst Du, der Mensch ist davon ausgenommen? [W 6, 126]

Doch Märchenwunder einerseits und dramatische Konfliktzuspitzung andererseits stellen nur ‚Ausnahmesituationen‘ dar. In einer Welt, in der eigentlich nur Platz für die Kategorien ‚wahr‘ und ‚falsch‘, ‚richtig‘ und ‚verkehrt‘ ist, diese aber nicht mehr mit 2412 2413

SENGLE, Das historische Drama, S. 208. Ebd., S. 223.

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Gewißheit erkannt werden können, potenzieren sich die Irritationen, erscheint die Wirklichkeit insgesamt wie ein doppelbödiges Maskenspiel, das aus dem eng gesteckten Rahmen höfischer Lustbarkeit ausgebrochen ist, als nunmehr komplett verkehrte Welt, in der sich alles gegenseitig relativiert. Tatsächlich ist das gesamte Drama von dieser Metaphorik durchwirkt. Am Beginn der Verwechselungsgeschichte um den richtigen und den falschen Demetrius steht der heimliche Kleidertausch durch Barbara: „Anstatt den Prinzen selbst, wie ich versprochen, [/] Zu nehmen, stahl ich ihm bloß Kleid und Schmuck [/] Und stattete mein Eig’nes damit aus, [/] Dann gab ich Dieses hin“ [W 6, 123]. Das Verkleidungsmotiv2414 findet sich immer wieder: Sportlich nimmt Demetrius die Kleiderfrage nach gewonnener Schlacht, indem er scherzt, „heute wär’ ich auch im Weiber-Rock [/] Ein Held geworden“ [W 6, 54]. Marinas changierender Rock entwaffnete ihn allerdings schon einmal: „Leuchtkäfer tanzten gaukelnd um Dich her, [/] Sie hüpften auf Dein Kleid und hüpften ab, [/] Es war, als ob Du selbst die Funken sprühtest“ [W 6, 17]. Weniger harmlos ist, daß Marinas Zofe probehalber in das Hochzeitskleid der künftigen Zarin schlüpft – ein schlimmerer Verstoß gegen die Kleiderordnung ist nicht auszudenken: „Verhüt’ es Gott! Die Dirne müßte sterben, [/] Wenn Sie’s gethan“ [W 6, 107]. „Nur Mönch“ ist Gregori allein „Dem Kleide nach“ [W 6, 114]; und auch bei Otrepiep, von dem Gregori sagt, er habe „als altes Weib [/] Verkleidet, auf den Märkten prophezeit“ [W 6, 112], trügt der äußere Schein. Er selbst wirft sich in die Brust: Du siehst auf meinen Rock Und glaubst mich selbst zu seh’n. Nimm Dich in Acht! Weißt Du, wie’s Timurs Kämmerling erging, Als er den Juden schlug? […] Der Jude kam in Lumpen zum Pallast, Doch trug er einen Diamant bei sich, […] Drum sprich zu mir und nicht zu meinem Rock! Du weißt nicht, was ich bringe! [W 6, 57f.]

Die Palastwache des Demetrius ist nach Mniczeks Worten „Besetzt mit Mördern im Soldaten-Rock“ [W 6, 100], und Otrepiep klagt: „Welche Welt! [/] Ein Dutzend Schurken streift im Polenrock [/] Herum, und schon steht Moskau auf dem Kopf“ [W 6, 136]. Kleider machen nicht nur Leute, sondern stellen dabei gleich die Welt mit auf den Kopf! In metaphorischer Rede ist selbst die Kirche, als der „Rock des Herrn, zerrissen und zersplissen“, wie der päpstliche Legat orakelt, „und ehe wir ihn neu zusammenstückten, [/] Ist Nichts gescheh’n“. Ist der ‚heilige Rock‘ wirklich „immer noch das theure Bild der Kirche“ [W 6, 23], oder erinnert er nicht vielmehr an ein aus bunten Flicken zusammengenähtes Narrengewand? Noch enger und zugleich noch irritierender erscheint die Verbindung zwischen Bekleidung und Körper, wenn das Gesicht von einer Maske verhüllt wird. So treten 2414

Vgl. auch die gleichzeitige Wendung des Motivs ins Harmlos-Burleske in dem „Lustspiel“ Verkleidungen [W 3, 391–401], das Hebbel 1858 für die Aufführung im Familien- und Freundeskreis gedichtet hatte [vgl. WAB 4, 17].

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die Verschwörer Basmanow und Mstilawski „in Masken“ [W 6, 134] auf; öfter aber wird das Motiv metaphorisch verwendet. Für den Fürsten Schuiskoi klang es „seltsam, abentheuerlich [/] Und wunderbar, daß Iwans letzter Prinz, […] nur zum Spiel [/] Die ernste Todten-Maske vorgenommen [/] Und sie hinweg geworfen“ [W 6, 139] haben sollte – „Und dennoch war’s verkehrt!“ [W 6, 140]. Auch Demetrius bleibt die Einsicht nicht erspart, daß er eine Maske trägt, nur weiß er nicht, was er mit ihr tun soll: „meine Maske leg’ ich wieder ab“ [W 6, 122], lautet sein erster Impuls, bevor er einsieht, „Daß ich die Czaren-Maske weiter tragen [/] Und Frieden und Gewissen opfern muß, [/] Wenn ich Euch retten will“ [W 6, 129]. Doch was er retten will, ist wiederum nur eine Kostümierung, denn „Marina soll als Czarin aller Reußen [/] Und nicht als Karten-Königin zurück“ [W 6, 129]. Das Gesicht selbst kann zur Maske, zur Fratze werden, etwa wenn Otrepiep von Marinas Besuch im blauen Kloster argwöhnt, „statt zu fasten und zu beten, [/] Wird sie den Heiligen Gesichter schneiden“ [W 6, 80]. Mniczek wiederum erkennt seine Feinde an aufgesetzten Mienen: „Der schlimmste ist der stillste. Alles lächelt, [/] Wie Sonnenschein. Doch, was verbirgt das Lächeln?“ [W 6, 102]. Eine „aus den Fugen geratene Gesellschaft mit verstörten Menschen in innerer Not“,2415 schildert Hebbel laut Hayo Matthiesen in seinen Novellen. Das hier evozierte Wort Hamlets2416 gehörte auch noch 1861 zu Hebbels eisernem Zitatenschatz: „Aber nun denken Sie Sich den trouble!“ schrieb er scherzend an Julius Campe, „ich der Hamlet, der diese aus ‚den Fugen gegangene‘ Welt wieder einrichten sollte“ [WAB 4, 286]. Damit meinte er nicht die Welt des Demetrius, doch was Matthiesen für die Novellen beansprucht, gilt für Hebbels letztes Drama erst recht. Hamlet ist geprägt von einer „Vision des statischen Kosmos“, 2417 einer traditionalen Sicht der Welt. Darum ist es so ungeheuerlich, „wenn diese Welt irgendwo aus der Ordnung gerät“, und genau das, so Peter von Matt, „meint Hamlet, wenn er sagt […], die Welt sei aus Fugen und Gelenken geraten.“ Der Sinn dieser als statisch empfundenen und doch jäh verkehrten Welt wird intransparent, die Menschen an ihr irre. Die Weltgeschichte gerät zum Gaukelspiel. „Welch Gaukelspiel erlaubt man sich mit mir!“ empört sich die Zarenmutter Marfa: „Man läßt mich mit Gewalt entführen [/] Und stellt sich jetzt, als käme ich von selbst“ [W 6, 61]. Doch das erscheint nur wie ein Fauxpas gegenüber der begründeten Annahme, daß zugleich „ein Gaukler“ [W 6, 49] ihrem toten Kind den „Platz in seinem Grabe streitig macht“ [W 6, 50]. Schwindel ergreift sie schließlich, als man ihr erzählt, sie kenne „das Gaukelspiel erst halb“ [W 6, 50], denn ihr Kind „War schon vertauscht […], Indeß das Kind der Magd den Czarewitsch [/] Vor Deinen Augen spielte“ [W 6, 50]. Die Wahrheit ist auch dies nicht: Barbara vertauschte nicht die Kinder, nur die Kleider. Auch dieses ist ein „Gaukelspiel“ [W 6, 87], das schließlich „entlarvt“ [W 6, 87] wird, als Marfa das Grab ihres Sohnes aufsucht. Mniczek wiederum rügt den Küster, der die alte Zarin in die kaiserliche Grabkapelle einließ, daß er MATTHIESEN, Friedrich Hebbel, S. 39. „Die Zeit ist aus den Fugen: Schmach und Gram, [/] Daß ich zur Welt, sie einzurichten, kam!“ [Hamlet, 1. Akt, 5. Szene; SHAKESPEARE, Sämtliche dramatische Werke, Bd 6, S. 26]. 2417 Dieses und die folgenden Zitate: MATT, Verkommene Söhne, S. 156. 2415 2416

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„zweideut’ge Gäste darin“ dulde: „Der Czar wird Dich […] schelten […], wenn ihn sein eig’nes Zerrbild äfft“ [W 6, 94]. Mniczek ist es auch, der Barbara erst wirklich „närrisch“ werden läßt, indem er sie zum Widerrufen ihrer wahren Geschichte drängt. Diesmal ahnt Demetrius: „Ihr täuscht mich nicht durch Eure Gaukelei, [/] Dieß war die erste Lüge, die Du sprachst!“ [W 6, 124]. Doch Demetrius ist selbst Zar und Zerrbild in einer Person, ein unfreiwilliger Gaukler in einem tödlichen Spiel, wie sein Rivale Schuiskoi erkennt: Ist’s nicht offenbar, Daß hier der ungeheuerste Betrug Gespielt wird? […] Und wollen wir Die Narren sein, die sich wie Schach-Figuren, Wie Todte, schieben lassen? Noch zur Nacht Zeig’ ich, daß ich lebendig bin, und stoße Das ganze Brett um. […] Ich wag’s, ich trete heut’ noch zwischen Den Gaukler und die Krone, […] So machen wir aus ihm den blöden Knaben, Der nach dem goldnen Mond am Himmel greift, Und in den Graben fällt und dort erstickt [W 6, 91].

Das Drama begann wie ein Ammenmärchen, es soll nach Schuiskois Willen auch so enden: mit einem weltfremden Knaben, der nachtwandlerisch ‚nach den Sternen‘ greifen wollte. Der „Gaukler“ Demetrius spricht am Ende selbst von seinem „Carneval“ und „Spaß“ [W 6, 129] – buchstäblicher Galgenhumor dessen, den die eigene Frau einen „Schelm“ [W 6, 128] nennt und den der Schwiegervater indirekt der Schauspielerei bezichtigt: „Dich lockt’s, mit Beifall aus der Welt zu geh’n, [/] Und Beifall wird man klatschen“ [W 6, 126]. Doch auch Schuiskois Handeln wirkt seltsam unwirklich: Wie eine Art Harlekin oder Hofnarr gerierte er sich schon bei der feierlichen Ankunft Marinas: Er ritt mir bei’m Empfang zur Seite Und spottete und höhnte noch viel ärger, Wie ich, wenn wir was Lächerliches sah’n. […] Und er war so lustig [W 6, 109]

Nicht „Wie Todte“, wollen er und die Seinen sich nun verhalten, sondern – wie ‚Untote‘, indem er ausgerechnet „zur Nacht“ beweisen will, daß er „lebendig“ sei. Nicht von ungefähr beschwört Schuiskoi eine Atmosphäre herauf, die an die nächtliche Szene in Hamlet an Yoricks Grab gemahnt: „Macht und Gegenmacht treffen einander im Reich der Chimären, an diesem Schattenort, dem Bezirk der Toten, dort, wo einst ein junger Prinz aus Dänemark, dessen Kopf verwirrt war, den Schatten eines Narren rief, dessen Schädel schon die Würmer aushöhlten: Alas, poor Yorick...“2418 Doch Hamlet ist ein „entrechteter Prinz […], der ungeheuerlicherweise in die Rolle des Narren schlüpft: […] die Rolle desjenigen, der verschleiert (oder unverblümt) die 2418

LEVER, Zepter und Narrenkappe, S. 129.

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Wahrheit ausspricht – die gleiche Rolle, die Yorick gegenüber dem legitimen König innehatte“;2419 Schuiskoi hingegen ist ein Rollen-Spieler, der die Wirklichkeit verändert. Bei Hebbel ist die eigentliche Rollenverteilung zwischen Narr und Herrscher keineswegs mehr klar. Für das nicht ausgeführte Märchen Die Poesie und ihre Werber war dies sogar als explizite Rollenvorgabe geplant: „Hanswurst, ein entthrohnter König, der wieder König wird“ [W 5, 62]. „Ein Königssohn, verlassen, [/] Irrt in der Fremde allein“ [W 7, 156], begann Hebbels Gedicht Der Königssohn von 1838. Am abrupten Ende des Weges, im unvollendeten Demetrius, scheint sich ein halber Prinz in einem Käfig voller Narren wiederzufinden. Was bedeutet das für die persönliche Identität? Hamlet stellt sich an die Spitze der verkehrten Ordnung: „O, ich reiße Possen wie kein anderer. Was kann ein Mensch Besseres thun als lustig sein? Denn seht nur, wie fröhlich meine Mutter aussieht, und doch starb mein Vater vor nicht zwei Stunden.“2420 Gerät der Königssohn, dessen Rolle von der Anlage her ebenso offen wie gefährdet ist, nur ‚umständehalber‘ in die Nähe des Narren und Gauklers? Oder, wenn dies schon Tollheit ist, hat es doch Methode? Und: Sollte dann auch der große Sohn Wesselburens in dieser Weise gezeichnet sein?

„Yorik-Sterne“ „[E]in Narr ist, wer nie das Eis betritt, weil er nun einmal nicht Schlittschuh laufen mag“ [WAB 1, 116], meinte Hebbel im Oktober 1836 über seine Angst, sich in Gesellschaften zu bewegen. Ein Narr, wer das Eis trotzdem betritt, ließe sich entgegnen: Ihm kann es ähnlich gehen wie „dem Betrunkenen, der hin und her taumelnd und tolle Streiche ausübend, auch recht gut weiß, daß er sich nicht beträgt, wie er sich betragen soll“ [T 2958] – auch dies eine Selbstbeschreibung Friedrich Hebbels, wie er sich in Gesellschaft sah. Über seine Auftritte am dänischen Hof in Kopenhagen äußerte Heinz Stolte entgeistert: „Welch schreckliche innere Hemmnis im Verkehr mit Menschen! Die linkische Verlegenheit dieses dithmarsischen Simplizissimus macht noch den fast Dreißigjährigen hilflos wie ein Kind vor ein paar Amtstiteln und Adelsprädikaten.“2421 Als „Simplizissimus“, erscheint Hebbel am Hof des Königs von Dänemark, als einfältiger, reiner Tor, der von der Welt und ihren Ordnungen noch nichts mitbekommen hat und sich so vor ihr zum Narren macht. Doch wurde die ‚unglückliche Figur‘, die er abgab, von Hebbel wirklich nur passiv, in der ‚Leideform‘ erlebt, oder ließ sie sich – eingedenk des ‚lustigen Burschen‘ in Wesselburen – aktiv in die des lachenden Schalksnarren wenden? Die Rolle des Narren STAROBINSKI, Porträt des Künstlers als Gaukler, S. 128. Hamlet, 3. Akt, 2. Szene [SHAKESPEARE, Sämtliche dramatische Werke, Bd 6, S. 52f.]. In Hamlets Augen ist auch der König Claudius „ein Schalk; ein Knecht, […] ein Hanswurst von König, [/] Ein Beutelschneider von Gewalt und Reich, […] Ein geflickter Lumpenkönig! –“ [3. Akt, 4. Szene; ebd., S. 65]. 2421 STOLTE, Friedrich Hebbel. Leben und Werk, S. 35. 2419 2420

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ist die eines Außenseiters, der sich den „großen Ordnungen, die dem Menschen vorgegeben sind“,2422 entzieht. Narr sein heißt schon für Grimmelshausen, „der allgemein verpflichtenden und gültigen Ordnung nicht entsprechen. Narr ist einer, der nicht weiß, wo er herkommt und wo er hingeht, einer, der die Bestimmung des Menschen nicht kennt“. Über die Epoche des Barock hinaus bleibt dies die volkstümliche Anschauung. Laut Bächtold-Stäubli ist der Narr „im Sinne des Volkes entweder ein Geck oder ein Tor, also entweder ein Mensch, der zuviel vorstellen will oder nichts vorstellen kann“2423 – genau dies war eine existentielle Erfahrung Hebbels. Freilich kann die Verkehrtheit des Narren eine sehr relative sein: Wenn die Welt selbst verkehrt ist, ein „Tollhaus, in dem nichts mehr an seinem Platz steht“,2424 wie schon bei Grimmelshausen, oder voller „Dinge, die die Natur allerhöchst unmittelbar auf den Kopf gestellt und ihnen die entsprechende Organisation gegeben hat“ [W 11, 352] wie in den Augen Hebbels – dann ist nicht der Einzelne ‚verkehrt‘, sondern die Welt. Mit dieser Umkehr spielte Hebbel schon, als er seinem Freund Gehlsen im April 1832 bei dessen „Eintritt in die Welt“ [WAB 1, 13] die öffentliche „Meinung der Welt“ gerade als die verkehrte Meinung einer „Zunft der Narren und der Toren“ vorstellte; er tat es noch, als er 1857 Georg Cotta die Gegenwart als eine „Zeit, die Alles auf den Kopf stellen und die Welt neu erschaffen mögte“ [WA 3, 478], präsentierte. Dem Narren nahe standen die Komödianten, denen gleichfalls der Ruf folgte, daß sie sich, „ihren Rollen folgend, dauernd verwandeln und etwas vortäuschen, was sie nicht sind“.2425 „Komödiant“ – mit diesem Schimpfwort hatte ihn in Wesselburen schon der Vater belegt; als Scherzbold tat er sich unter den Wesselburener Burschen hervor, als Satiriker im Dithmarser und Eiderstedter Boten. „Yorik-Sterne-Monarch“ lautete sein meistgebrauchtes Autor-Pseudonym in der Wesselburener Zeit, das auf den Narren- wie den Königstitel gleichermaßen Anspruch erhob.2426 Karl Friedrich Flögel führte in seiner Geschichte der Hofnarren von 1789 auch solche Vertreter an, die diese Bezeichnung zwar nicht besaßen, doch „seine Rolle vor[stellten]; oder sie hießen doch Hofpoet oder Poet des Königs, welches ehemals in Frankreich eben so viel als Hofnarr bedeutete“.2427 Daß dieser Sachverhalt auch in Dithmarschen geläufig war, belegt ein „Allerunterthänigstes Pro Memoria des Poeten Hebbel aus Wesselburen“ [WAB 1, 2] an seinen Freund Hedde in Neuenkirchen aus dem Jahr 1831, das unterzeichnet war von: „C. F. Hebbel [/] Hof- Leib- Stadt- Putz- [/] Wagenrad- Korbmacher- [/]

Dieses und das folgende Zitat: WELZIG, Ordo und verkehrte Welt, S. 387. BÄCHTOLD-STÄUBLI, Handwörterbuch, Bd VI, Sp. 967. 2424 WELZIG, Ordo und verkehrte Welt, S. 386. 2425 SCHUBART-FIKENTSCHER, Zur Stellung der Komödianten, S. 38. 2426 Der Namensteil „Monarch“ war auch in sich selbstironisch: Diesen Namen trug nicht nur der Hund des Kirchspielvogts Mohr, sondern auch etwa der Narr der englischen Königin Elisabeth I. [LEVER, Zepter und Narrenkappe, S. 122]. Zur Sterne-Rezeption in Deutschland vergleiche MEYER, Der Sonderling, S. 50f. 2427 FLÖGEL, Geschichte der Hofnarren, S. 4. Entsprechend mußte ein Hofnarr „eine Unmenge von Geschichten, Reimen, Fabeln und Anekdoten auswendig wissen; er muß es auch verstehen, selbst Verse und Liedchen zu verfassen und Spiele, Rätsel, Rebusse und Wortspiele zu erfinden“ [LEVER, Zepter und Narrenkappe, S. 110]. 2422 2423

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Durchlaucht-Poet“. Das sich anschließende ‚Werk‘ des ‚Hofdichters‘ setzt umstandslos mit lauter närrischen Verkehrungen ein: Befiehl dem Hasen, der den Jäger sieht Und seine Hunde, freien Willens ihm Zu nahen sich – er wird es thun – befiehl Dem scheuen Rebhuhn, ausgespanntem Netz Des Vogelstellers den Besuch zu machen, Es wird gehorchen […] [WAB 1, 2].

Scherzhaft macht sich der Autor schließlich explizit selbst zum Narren: „Wohlan, so magst Du gerne mich entblößen [/] Von aller Achtung [!], magst mich mit den dummen Hasen [/] Vergleichen, die auf nackten Fluren grasen“ [WAB 1, 3]. Eine solche Selbstentblößung ist bei Hebbel selten genug zu beobachten, was aber auch der fehlenden Überlieferung geschuldet sein dürfte: Aus seiner Jugendzeit sind nur wenige derart ungeschützter Privatbriefe erhalten geblieben; das eigentliche Medium solch vertraulich-übermütiger Launen ist das der Mündlichkeit. Doch auch in der Literaturfehde, in die Hebbel sich 1831 mit Eiderstedter Honoratioren einließ, wimmelte es nur so von entsprechenden Zuschreibungen, nur mit herberem Akzent: „Narrheit und Schande“, „Frechheit“ und „Lügen“ [DjH II, 237] warf ihm 1831 im Dithmarser und Eiderstedter Boten der Brösumer Lehrer P. C. Dethlefsen vor; einen „albernen Ignoranten“ [ebd.] und „Lästerer“ [DjH II, 238] nannte ihn der Ordinger Pastor Dieckmann. Hebbel dagegen sprach von „unheilbarem Wahnwitz“ [DjH II, 97] Dethlefsens und gab den Vorwurf der Lächerlichkeit postwendend den beiden „Esel[n]“ [DjH II, 99] und „Lästerern“ [DjH II, 99] zurück. Die Fehde beschloß Christoph Marquard Ed mit einem Epigramm über Die Witzigen. Lustig machte Hebbel sich aber auch über seine eigenen Ergüsse wie das 1829 im Boten veröffentlichte Gedicht Sehnsucht. An L., dem er bald darauf eine satirisch-glossierende Copia der hoch-wohl-sehr-wichtigen Sehnsucht an L. folgen ließ. Bescheinigte Bornstein dem Liebesgedicht „pathetische Unwahrhaftigkeit“ [DjH II, 236] und dem Satiriker in eigener Sache eine „bemerkenswerte innere Freiheit“ [DjH II, 236]; so wollte Hebbel in dieser Ambivalenz später ein Grundübel seines Charakters sehen: „Das mischt sich in all mein Thun und Treiben; das echteste Gefühl find’ ich lächerlich, sobald ich es in einem Gedicht festhalten, die beste Idee unzulänglich, sobald ich sie gestalten will.“2428 Aus dieser Not schien Hebbel eine Tugend machen zu wollen, als er um die Wende der Jahre 1833/1834 „eine Menge – (räthst Du, was?) Lustspiele“ schrieb [WAB 1, 34]; doch obwohl er gleich ganze „Ballen, statt Bogen“ [WAB 1, 34] füllte, ist nichts davon erhalten. Nicht nur ironisch gemeint war darum die 1833 in Amalie Schoppes Modeblättern erschienene Redliche Warnung eines ehr- und achtbaren Bürgermannes an einen jungen Poeten, in der dieser unter die spielenden „Kinder“ und „Narren“ eingereiht wurde:

2428

WAB 1, 191. Hervorhebung C. S. Vgl. demgegenüber wiederum die poetische Veredelung dieses Gefühls in T 3375: „Es fällt mir doch zuweilen ein, [/] Wenn ich mein Bestes mache: [/] Wie werd’ ich weit gekommen seyn,[/] Wenn ich dieß erst verlache!“

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„Ich weiß es wohl, wir Menschen sind Und bleiben ewig Kinder; Wir lieben, was uns nützt, allein Drum Spiel und Tand nicht minder; […] Wo fände man den Weisen wohl, Der Nichts besitzt vom Narren? […] Sie reiten nun ihr Steckenpferd Sobald Sie Verse leimen – Recht gern! Vergäßen Sie nur nicht, Sich auf die Welt zu reimen! Es gab schon manchen Ehrenmann, Der auch Gedichte machte, Deß ungeachtet aber doch Was Blankes vor sich brachte [W 7, 83f.].

Arno Scheunert war mit seiner Parteinahme für den derart angegangenen Dichter, der „dem gemeinen Leben und dem es bewegenden, niederen Alltagsgeschehen fremd und voll Verachtung gegenüber“2429 stehe, schnell bei der Hand: „Gerade das, worin das Denken des Philisters liegen bleibt, verschmäht der Dichter; sein Beruf ist ein heiliger, er selbst ein Priester des Unendlichen, und irdische Verhältnisse sind für ihn nur ein Kerker, aus dem zu befreien, sein Beruf ist“. Doch in seiner pathetischen Begeisterung übersah Scheunert, daß Hebbels Ironie nicht minder dem „jungen Poeten“ galt. Dieser ruft in seiner Antwort auf das Vorige vollmundig aus: Feuer und Wasser – Wer kann sie verbinden? Eins wird das and’re Gewiß überwinden: […] Hehre Begeist’rung! Lodere! Lodere! Dumpfiges Leben! Fodere, fodere Nimmer den Tribut von mir – Ich gehöre ihr! [W 7, 84]

Dieser binnenliterarische „Poet“ darf nicht mit dem Autor Friedrich Hebbel verwechselt werden, der den Ausschließlichkeitsanspruch der Literatur vorerst allenfalls als literarische Idee in der metaphorischen Entgegensetzung von Feuer und Wasser gelten läßt. Welche Distanz Hebbel gegenüber seinem entbrannten Poeten einnehmen konnte, zeigt die zusätzliche Bestimmung der Antwort als eine, worin ein unvernünftiger junger Poet die wohlgemeinte Warnung sichtlich mit Füßen tritt. Freilich: Auch dieser Wink war so „sichtlich“ einseitig, daß er wie ein listiges Zugeständnis an die philiströsen Leser der Pariser Modeblätter und ihre Herausgeberin wirkte. Denn durch diese Camouflage 2429

Dieses und das folgende Zitat: SCHEUNERT, Der Pantragismus, S. 134.

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gelang es immerhin, eine poetologische These in die Zeitschrift einzuschmuggeln, die Amalie Schoppe weder bei ihrem Schützling Hebbel noch überhaupt jemals akzeptieren konnte. Und auch dieser hatte damit noch auf lange Sicht Probleme. Als einen Fisch mit Flügeln, der sich über das Wasser erhebe, um „auf trockenem Sande zu verschmachten“ [WAB 1, 82], beschrieb Hebbel sich 1836 mit Bezug auf seine dichterischen Ambitionen in einem Brief an Jakob Franz. Sofort kommentierte er auch diese Idee: „Das Gleichniß ist albern; das kommt daher, weil ich selbst albern bin; ein eckiges Ding giebt keinen runden Schatten“ [WAB 1, 82]. Doch was meinte er damit? War das Gleichnis an sich albern; oder war es, gerade weil Hebbel selbst „albern“ war, doch wieder authentisch? Die ambigue ‚Argumentationsfigur‘ wiederholt sich in demselben Brief noch einmal in anderer Form: „Ich bin kein Narr“, teilte er Franz mit, „und schweige über Wunden, bis sie geheilt sind“ [WAB 1, 82]. Sein Schweigen brach er schon einen Absatz später: „Du blickst mit Wehmuth in die Vergangenheit zurück; auch die ist mir finster!“ [WAB 1, 82]. Wenn Hebbel diese prompte Inkonsequenz nicht auffiel, so erkannte er doch im Rückblick auf frühere Lamentos, daß er sich über Wunden oft sogar dann beklagt hatte, wenn er nicht einmal welche spürte: „Nur die Stunden, die wir zusammen verlebten, rechne ich zu meinen glücklichen; aber waren wir nicht oft Narren, indem wir sie uns selbst verdarben?“ [WAB 1, 82]. Auch in diesem Satz paaren sich Einsicht und Ignoranz: Was für ein Narr mußte sein, wer sich und dem Freund wider besseres Wissen noch immer selbst die glücklichen Erinnerungen verdarb? Bis in die Struktur seiner Sprache hinein schien Hebbel mit der Rolle eines ‚Narren‘ so verwachsen, daß er ihr nicht einmal dort entkommen konnte, wo es ihm bitterer Ernst war. Das Gefühl der Lächerlichkeit wurde damit – wie das bewußte Lächerlich-Machen – an das Bewußtsein der Ausgeschlossenheit des Niedriggestellten geknüpft. Doch auch dieses larmoyante Selbstgefühl tat Hebbel als närrisch ab: Tatsächlich „dachte ich gestern, als ich den schönen [von Elise geschickten] Rock erblickte: ‚in dem willst du nicht mehr so hypochondrisch seyn!‘ Der Mensch ist ein Narr“ [WAB 1, 199f.]. Der Hypochonder ist hier nicht so sehr der ‚eingebildete Kranke‘, sondern ein älterer Typus, der zwei Verhaltensweisen in sich vereinigt, „gegen die der bürgerliche Rationalismus von Anfang an sich verwahrt hat: die Maßlosigkeit des Misanthropen mit der Maßlosigkeit der Lustigen Person“.2430 Als allerdings sein Freund Rousseau ernsthaft krank, ja todkrank war, erbot Hebbel sich willig, den Narren zu machen: „Wäre ich bei Dir, so wollt’ ich mein bischen Witz und Erfindungsgabe auf die Folter spannen, um Dich fortwährend [!] lachen zu machen“ [WAB 1, 249]. Ob er nun wollte oder nicht – die Rolle schien ihm buchstäblich wie auf den Leib geschneidert. Daß Hebbel sich auch theoretisch intensiv mit der Thematik beschäftigte, zeigt ein Tagebucheintrag aus der Münchener Zeit, in der er sich zugleich erstmals in die Nähe eines Hofes zu bringen suchte: „Ich exerpire [sic!] jetzt Flögels Geschichte der Hofnarren, nicht ohne Bezug auf einen schriftstellerischen Zweck“ [WAB 1, 272]. Es folgt eine entschieden günstige Bewertung dieser Rolle: „Ein Hofnarr war in den finstern Jahrhunderten, deren Schooß diese wunderliche Erscheinung gebar, der einzige 2430

PROMIES, Der Bürger und der Narr, S. 243.

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Repräsentant der Freiheit“ [WAB 1, 272]. Damit war einmal mehr das Reizthema der Exklusion angeschlagen, die hier mit der „Freiheit“ verbunden wurde. In Wesselburen hatte Hebbel sie durchaus genossen. Doch nun verkrampft sich der Blick auf die eigene ‚finstere‘ Vergangenheit, zunächst auf die jüngste in Hamburg, zur Grimasse: „Damals mußte ich Rücksichten nehmen, denn ich war abhängig und mußte auch in den Launen [!] und Vorurtheilen meiner Gönner halbe Gesetze sehen; auch kam ich aus der Dithmarsischen Sclaverei“ [WAB 1, 275]. Hatte sich nicht gerade der kecke Wesselburener Bursche als „Repräsentant der Freiheit“ gefühlt? War seine aktuelle Lage nicht erst recht ‚finster‘? Doch dem in einer prekären Lebenssituation steckenden, halben Jurastudenten kann es nicht einfallen, den Narren hervorzukehren, oder auch nur ‚entfernt‘ an einen zu ‚erinnern‘. Stattdessen keilt er nach allen Seiten aus: „Nach Dithmarschen gehe ich übrigens auf keinen Fall“,2431 schreibt er entschlossen – wenn doch, „so muß sich Manches verändern“. Einmal in Fahrt, hält er auch damit nicht hinterm Berg, wie er sich „unter den jetzigen Umständen“ die Rückkehr an „den Ort, wo ich so viel Unwürdiges erdulden mußte“, vorstellt – nämlich „nur in einer solchen Gestalt […], welche den Respect erzwingt, d. h. als ein anerkannter und in der ihm beschiedenen Sphäre hochachtungswerther Schriftsteller, den Keiner ignoriren darf, der sich nicht lächerlich machen will“. Im Jahr 1838 sind es noch nicht die schriftstellerischen Leistungen, die ihn zum ‚hochachtungswerthen Schriftsteller‘ erheben – es ist allein die unwürdige Rolle des ‚Hofpoeten‘ vergangener Tage, die ihr Gegenteil nun notwendig „erzwingt“. In Zukunft sollen sich die anderen „lächerlich machen“ – die biederen Bürger, die orthodoxen Pastoren, die „ganze Klasse, die immer etwas Degoutantes in der Neigung fand, sich zum Lachen hinreißen zu lassen“.2432 Doch es blieb schwer, der Ambivalenz zu entkommen. „Eine imponirende Gestalt, edle, gebietende Züge, im Gespräch einfach, aber markig“ [T 2636] – so beschrieb Hebbel im Januar 1843 bewundernd Berthel Thorvaldsen. Nicht zu Unrecht meinte darum Heinz Stolte, daß Hebbel den berühmten Bildhauer „auch in seiner persönlichen Erscheinung“2433 zum „Leitbild für die eigene schöpferische Existenz“ erkor. Doch Stolte blendete wie Wittkowski2434 das ‚Ganz Andere‘ aus, das erst Heinrich Detering bemerkte: Denn noch jemand wurde zur gleichen Zeit in Thorvaldsens Kopenhagener Atelier empfangen, der Detering geradezu als Der Doppelgänger Hebbels2435 in die Augen sprang: „Eine lange, schlotterige, lemurenhaft-eingeknickte Gestalt mit einem ausnehmend häßlichen Gesicht“ [T 2636] – der Dichter Hans Christian Andersen. Er verkörperte die Lächerlichkeit schlechthin: Für Porträts warf er sich „bereitwilligst in die Pose des skurrilen Sonderlings“;2436 sein Freund Björnstjerne Björnson meinte, es gebe in ganz Dänemark „niemand, über den man so viele Witze erzählen kann wie über Hans Christian Andersen, aber es hat auch seit Dieses und die folgenden Zitate: WAB 1, 276. PROMIES, Der Bürger und der Narr, S. 67. 2433 Dieses und das folgende Zitat: STOLTE, Hebbel und Dänemark, S. 119. 2434 Vgl. dessen Bild von Hebbel als „König“, bei dem „Selbsteinschätzung und gesellschaftliches Ansehen einander entsprachen“ [WITTKOWSKI, Der junge Hebbel, S. 43]. 2435 DETERING, Andersen oder Der Doppelgänger Hebbels. 2436 Ebd., S. 93. 2431 2432

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Holberg keinen Dänen gegeben, der so viele Witze über sich selbst erzählt hat.“2437 Kein Wunder, daß Hebbel sich von diesem Dichter von der tragikomischen Gestalt so harsch abgrenzte – er war einem Teil seiner selbst zu ähnlich. 1845 war Hebbel geradezu davon angewidert, wie lächerlich ausgerechnet der große Shakespeare „die Poeten darstellt und behandelt. Welche Subjecte im Cäsar und Timon, welche erniedrigende Vergleiche im Heinrich dem 4ten. Diese Jammermenschen, die statt des Huts einen Lorbeerkranz tragen und jedem Vorübergehenden auf die Leichdornen treten, um zu beweisen, daß sie in Begeisterung sind, müssen ihm ebenso zuwider gewesen seyn, wie mir. Ich glaube auch fest, daß es keine armseligere Geschöpfe giebt, als diese, deren ganze Existenz nur eine einzige Lüge ist“ [T 3477]. Doch auch Hebbels Existenz war zeitweise eine ‚einzige Lüge‘ gewesen; und wenn er vor den Dithmarschern „nur in einer solchen Gestalt“ respektheischender Autorität auftreten wollte, die er bis auf weiteres eben nicht darstellte, dann wußte er selbst, daß dies keineswegs die reine ‚Wahrheit‘, sondern nur eine angenommene, nicht weniger erzwungene als zwingende Pose sein würde. Noch darin glich er einem Andersen, den das „ständige Bewusstsein der Selbst-Inszenierung, die Angst vor Entdeckung und Demütigung […] zu einer lebenslänglichen Anspannung und Aufmerksamkeit gezwungen“2438 hat. War Hebbel in Kopenhagen gewissermaßen ein doppelter Doppelgänger – der eines Andersen und eines Thorvaldsen –, so wandelte sich diese unglückliche Doppelrolle in dem Maß zu einer changierenden Doppelgesichtigkeit, wie er es verstand, mit den biographischen und psychischen Brüchen zu spielen und zu kokettieren. Dies gelang 1857 in dem Porträt des norwegisch-dänischen Komödiendichters Ludwig Holberg. Auch in ihm konnte Hebbel unschwer das eigene janusköpfige Profil wiedererkennen: „Hält man gegen diesen Halb-Vagabonden den nachmaligen Würdenträger der Universität, der bis an sein Lebensende in zierlicher französischer Tracht, den Hut unter’m Arm, durch die Straßen ging, der sogar zum Reichsbaron erhoben wurde […], so sind das gewiß zwei Bilder, die Niemand, dem der verknüpfende Faden mangelt, von selbst auf einander beziehen würde“ [W 12, 101]. Bei Holberg versäumte Hebbel nicht, offen auf das Komische dieser Gestalt hinzuweisen: „Es lagen aber auch eine Menge Stufen der abentheuerlichsten Art in der Mitte, ja das ganze Leben des Dichters spann sich eigentlich in comischen Antithesen ab“ [W 12, 101]. Auch Holberg war nicht nur Gegenstand des Lachens, sondern verstand es zugleich, die Lacher auf seine Seite zu ziehen, wie Hebbel wußte: „Früh schon regte sich die poetische Ader in ihm; schon als Knabe machte er ein Spottgedicht auf einen seiner Verwandten, und sein Vormund, der ihn dafür bestrafen sollte, begnügte sich, ihm in seiner Satyre die falschen Redensarten und die unechten Reime zu corrigiren“ [W 12, 102f.]. In der Rolle des Narren, der zuletzt am besten lacht, konnte auch Hebbel sich gefallen. So blieb er als „Mensch“ unter vertrauten Mitmenschen – der reinste Spaßmacher: „Marschall ist ein prächtiger Mensch, Einer von den Wenigen, denen man sich ganz aufknöpfen kann, ohne den Kehrbesen erst zur Hand genommen und den Brustkasten ausgefegt zu haben; er gleicht mir in Allem, bis auf’s Spaßmachen“, schrieb er 2437 2438

Zit. nach DETERING, Andersen oder Der Doppelgänger Hebbels, S. 96. DETERING, Andersen oder Der Doppelgänger Hebbels, S. 97.

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1862 seiner Frau – „wie Du ähnliche Thorheiten von mir gewohnt bist und endlich dulden gelernt hast“ [WAB 4, 418]. Schon als junger Student ahnte Hebbel: „Des Menschen Glück ist nicht an seine Kraft, sondern an seine Laune geknüpft“ [T 331]. Der es symbolisch bis zum König gebracht hat, kann in gelösten Stunden auch freudig in die Rolle des Narren schlüpfen. Was der ‚weise Thor‘ Hebbel zu dulden gelernt hat, ist, daß menschlicher Ehrgeiz oft müßig und eitel ist: „Ich weiß sehr wohl, welche unübersteiglich scheinende Hindernisse sich dem Versuch, ein Loch durch die Erde zu bohren, um ihre innere Beschaffenheit zu erforschen, entgegen stellen“, schreibt er im Januar 1847 in sein Tagebuch: „Dennoch ist das für mich ein unendlich reizender Gedanke und wenn ich König wäre, wer weiß, ob ich nicht einen Versuch anstellen ließe und mich so der Gallerie unsterblicher Narren anschlösse“ [T 3930]. Oft ist ein Hofnarr „der lächerliche Doppelgänger des Königs“,2439 schreibt Maurice Lever, „seine Position ist in Bezug auf seinen Herrn symbolisiert: er ist grotesker Doppelgänger, Zerrbild, Vexierbild, verkehrtes Bild der Macht“,2440 wobei oft schon „die Kleidung des Narren die des Königs widerspiegelt […]. Ja, der Narr kleidet sich nicht wie ein Narr, sondern wie der König“; er ist „Gegenteil und Ergänzung der Macht“2441. Schon im Dithmarschen-Fragment (1840) ließ Hebbel den Narren des Königs Hans beim Abgehen mit Blick auf seinen Herrn murmeln, „es bleibt, wenn ich auch gehe, ja genug von mir hier“; und auf die Drohung des Königs, ihn peitschen zu lassen, antwortet er schlagfertig: „dadurch zeigtet Ihr ja, daß ich Euch vorher gepeitscht hätte“ [W 5, 88]. Das „Paar König-Narr“ 2442 stellt zugleich eine weitere Variante bzw. „in gewisser Weise die Bühnenfassung vom Paar Herr-Diener oder Herrscher-Beherrschter“ dar, schreibt Lever. Rollenspielerisch bewahrt sich so ein Teil der Persönlichkeit „auch in der Nähe des Thrones etwas von seiner Volkszugehörigkeit“. Hebbel schlüpft in diese Rolle nur dann mit Behagen, wenn er in Personalunion auch den Poeten, vor allem aber den König selbst geben darf. Von dieser ‚Dreieinigkeit‘ zeugt sein frühes Autorpseudonym: „Yorik-Sterne-Monarch“. Wo ein Landesherr ein Loch durch die Erde bohrt und wo König und Narr sich die Hand reichen, dort beginnt das Reich der Freiheit, jenseits der Zwecke und Zwänge. Der vielleicht höchste und närrischste Wunsch beider ist es, unerkannt zu bleiben, keine oder aber alle Rollen spielen zu können, um durch die Unterminierung der Welt „ihre innere Beschaffenheit zu erforschen“.

LEVER, Zepter und Narrenkappe, S. 44. Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 55. 2441 Ebd., S. 83. 2442 Dieses und die folgenden Zitate: Ebd., S. 121. 2439 2440

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„Proteus“ – der Rollenspieler „So viele Namen im Kalender steh’n: [/] Ich zweifle ob ein einz’ger ihm gehört“, sagt Odowalsky über den jungen Stallknecht, den man zwar Demetrius nenne, „Doch mit welchem Recht? [/] Warum nicht Iwan oder Feodor? [/] Er kennt den Priester nicht, der ihn getauft“ [W 6, 7]. Damit spricht Odowalsky ihm gleichsam ex cathedra jegliche Identität ab und setzt hinzu: „Von unserm Junker ist nur das gewiß, [/] Daß er kein Mohr ist, das bezeugt die Farbe“ [W 6, 7]. Daß Demetrius alles oder nichts sein kann, ist sein Fluch, will er doch nur eines sein: der legitime Sohn des Zaren. Der Vergleich mit dem „Mohr“ lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers noch auf eine weitere Ebene des Spiels mit den Identitäten: Wenn derjenige, der laut Willy Krogmann die Züge des Kirchspielvogts Mohr trägt, dem augenscheinlichen alter ego Hebbels bescheinigt, Alles sein zu können, nur kein „Mohr“, dann schrumpft die von Hebbel allzu lang als vorbildlich erachtete Rolle gegenüber dem multiplen Rollenpotential zur Bedeutungslosigkeit zusammen. Auf biographischer Ebene deutet sich darin eine entscheidende Differenz zu Demetrius an: Dieser leidet unter der Indefinitheit seiner Identität; der Dichter Hebbel kann sie machtvoll ausspielen. Darin steht ihm der Pfarrer Yorick aus Laurence Sternes Tristram Shandy nahe: „Nichts in der Welt macht mir mehr zu schaffen, als wie ichs angreifen soll, jemanden [sic!] zu sagen, wer ich bin... Denn man soll beschwerlich einen Menschen finden, den ich nicht besser beschreiben kann, als mich selbst“.2443 Demetrius ist ein unfreiwilliger „Gaukler“; nicht er spielt mit seiner Identität, sondern die anderen nutzen seine unsichere Position für ihr „Gaukelspiel“, für das sie die entsprechende Zungenfertigkeit mitbringen. „Die nur Eine Zunge [/] Im Munde haben, und nicht lügen können“ [W 6, 80], sind in der Welt des Demetrius die seltensten Exemplare der Gattung Mensch und gelten für „So dumm, als plump!“ [W 6, 80]. Nicht nur Demetrius’ Rivale Schuiskoi ist „ein falscher, doppelzüng’ger Schurke“ [W 6, 110], auch Marina „kann das Alles“ [W 6, 110]; sie sieht sich bereits schauspielernd „aufgelös’ten Haars, [/] Wie’s die Romanze will, zu Deinen Füßen [/] Und stammelnd, weinend, [...] zu Dir um Gnade flehend“ [W 6, 110]. Ihr Vater Mniczek will sogar wissen: „Dieß ist das Land, wo Jeder sieben Zungen [/] Im Munde trägt und doch mit keiner einz’gen [/] Die Wahrheit spricht!“ [W 6, 122]. Abgesehen davon, daß der gewiefte Taktiker selbst nicht anders ist, führt ihn diese Haltung auch schon im nächsten Augenblick in logische Aporien: „Alte, auf ein Wort! [/] Nicht wahr, Du lügst?“ [W 6, 122]. Verlangt wird die unweigerlich doppeldeutige Antwort von der redlichen Barbara, die freilich bei dem Gedanken, ihren Sohn wiederzusehen, selber glaubte: „ich werde närrisch, wenn ich’s denke“ [W 6, 81]. Die Sprache selbst verliert unter solchen Voraussetzungen ihr weltabbildendes Vermögen: „Das Wort macht nicht die Sache. Die Identität von Sprach- und Weltwirklichkeit wird gekappt, der Logos im metaphysischen Sinn, der die Welt baut und Wort ist, baut, indem er Wort ist, weil er Wort ist und weil ohne Wort nichts ist, er wird hier liquidiert“.2444 Doch was in Demetrius die Krankheit der Welt zu sein scheint, 2443 2444

Dieses und die folgenden Zitate: STERNE, Yoricks empfindsame Reise, S. 148. MATT, Verkommene Söhne, S. 150.

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diagnostiziert Peter von Matt als ein sehr spezielles Krankheitsbild: Es ist das linguistische Syndrom des illegitimen, des mißratenen Sohnes, des Bastards: Er kennt das heilige Denken bis in die feinsten Verknüpfungen, und wie er mit seiner ganzen Existenz außerhalb der prächtigen Ordnung gestellt wurde, so muß er diese auch als Ganzes verlachen und verwerfen. Er spielt mit ihren Elementen wie mit Masken. […]. Seit der Bastard den Abgrund erkannt hat zwischen dem Wort und der Wirklichkeit, kann er mit allen Wörtern spielen. […] Der verkommene Sohn destruiert die Welt des Vaters, indem er deren Verlautung künstlich reproduziert und zum Instrument seiner Interessen macht. Ein Wort – legitimate – hat ihn stigmatisiert; nun zahlt er mit Worten zurück.2445

Paradoxerweise ist Demetrius der einzige, der dies gerade nicht tut; mit seinem Festhalten an der „Welt des Vaters“ steht er am Ende allein. Ist Demetrius Hebbel? Dieser laboriert schon 1837 an ähnlichen Symptomen: Es sei das „Gefühl des vollkommenen Widerspruchs in allen Dingen“ [WAB 1, 169], das er als seine „Todeskrankheit“ [WAB 1, 169] beschreibt, als „Erlösungs-Drang ohne Hoffnung u darum Qual ohne Ende“ [WAB 1, 169]. Wenige Monate vorher schrieb er, wenn er sich „einmal als Individualität empfinde“, dann spüre er zugleich „dies Sauersüße“, daß es „in meiner Natur an Verhältniß fehlt, daß sie nur so aufs Ungefähre hin zusammen gezimmert ist, ein rohes Durcheinander von Maschine, das klippt und klappt, ohne Zweck und Ziel“ [T 444]. Äußere Wirklichkeit, inneres Empfinden und sprachliche Verlautung sind nicht zur Deckung zu bringen, wie Hebbel im September 1838 gedrechselt und gewunden gegenüber Elise Lensing bekennt: Aber, der leiseste Zugwind tötet diesen treibenden Frühling in meiner Brust, und ein solcher Zustand ist schon der Gedanke: „Heuchler, bist Du auch mit der Peitsche hinter dem Gefühl her, legst Du auch Deinem Herzen Contribution auf?“ Und etwas Wahres ist wohl nicht allein an meiner Empfindung in solchen Augenblicken, sondern auch an jenem Gedanken. Nur dessen bin ich mich [sic!] bewußt, daß ich niemals eine Heuchelei irgend einer Art (die sich leider, wenn der Mensch nur aufrichtig seyn will, auf tausend geheimen Wegen in’s Leben hinein schleicht) wissentlich fortsetze. Ach, es liegt so unendlich viel Zweideutiges in uns’rer Natur, und ich bin so zusammen gequetscht, daß ich nicht weiß, was i[ch]2446 meinem eignen Ich, und was ich meinen Verhältnissen zurechnen muß. Dies hindert mich eben so oft am Steinigen meiner Selbst, wie am Bekränzen und Bekomplimentiren. Der Teufel sage die Wahrheit, wenn er kann und Gott, wenn er muß, sonst um keinen Preis! [WAB 1, 235]

Hebbels Lage gleicht der des illegitimen Sohnes bei Peter von Matt. Das Zweideutige seiner Verhältnisse ist ihm bereits zur Natur geworden. Und anders als der treuherzige Demetrius seines Dramas beginnt Hebbel schon früh, sich in dieser Lage einzurichten, mit Worten zu spielen: Er akzeptiert, daß auch der subjektiv Aufrichtige der „auf tausend geheimen Wegen“ sich einschleichenden „Heuchelei“ nicht entgehen kann. „Wahrheit“ wird zu einem relativen Wert, Gott und Teufel zu Vorbildern im ‚souveränen‘ Umgang mit ihr. Schon 1837 ahnt er, daß seine „Todeskrankheit“ zugleich die sei, „deretwegen Göthes Faust sich dem Teufel verschrieb, die Göthen befähigte u 2445 2446

Ebd., S. 152. WAB 1, 235 transkribiert sinnwidrig: „in“.

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begeisterte, seinen Faust zu schreiben; es ist die, die den Humor erzeugt u die Menschheit (d. h. die wenigen Menschen, in denen etwas Weniges vom Menschen ausschlägt u in die Blüte tritt) erwürgt“.2447 Der Dichter befindet sich gleichzeitig innerhalb und außerhalb der beschriebenen Wirklichkeit; sein Blut ist „zugleich erhitzt u erstarrt“ [WAB 1, 169]; er lacht über das, was ihn erwürgt. Das schlägt auch auf das außerliterarische Kommunikationsverhalten durch – bei Hebbel wie bei Goethe. Man verkenne „bis heute oft, wie wenig Goethes Äußerungen in Aphorismus, Brief und Gespräch absolut, losgelöst vom ‚Kontext‘, vom Gesprächszusammenhang, der Konstellation der Brief- und Gesprächspartner etc. verstanden werden dürfen“,2448 meint Dieter Borchmeyer: Goethe selbst hat in Dichtung und Wahrheit einmal bemerkt: „Der Geist des Widerspruchs und die Lust zum Paradoxen steckt in uns allen.“ Wie sehr gilt dies gerade für Goethes Aphoristik und Gespräch! Goethes Gesprächsäußerungen sind namentlich im Falle Eckermann allzu oft absolut genommen worden.

Der Dichter wiederum „mag sich geärgert haben, wenn der Partner alles für bare Münze nahm, anstatt den Gegenspruch auszuspielen, den er, Goethe, wie er versichert, stets parat hatte“. Goethe in die Nähe des schlagfertigen, stets verneinenden Schalksnarren zu stellen, fällt Borchmeyer zwar nicht ein, dafür weist er auf die Kehrseite derselben Medaille hin, nämlich „wie stark er noch einer aristokratischen Gesprächskultur verpflichtet ist; dem ‚Disputierspiel in Gesellschaft, wo die Geister wie in einem Turnier miteinander fechten‘ (Hugo Friedrich), in dem jede Äußerung auf das Gegenüber und die Situation abgestimmt ist, wo es um die Konversation als solche geht, nicht um manifeste Ergebnisse“. Der „irritierende, spielerisch-assoziative Charakter der höfisch-urbanen Konversation“2449 lasse die Teilnehmer „je nach Gesprächskonstellation den Standpunkt wechseln[…]“. Dadurch daß in diesem „tänzerisch-dialektischen Spiel“ der Widerspruch „in ganz besonderem Maße seine Äußerungen prägt“,2450 läßt sich der Edelmann wie der Narr einem traditionalen kulturhistorischen Horizont zuordnen, von dem Borchmeyer auch Goethe in diesem

WAB 1, 169. Kurt Esselbrügge war gegenüber der Janusköpfigkeit Hebbels ratlos: „Wie diese diabolische Lust aber in die schöpferisch-humoristisch gewandte ‚Begeisterung‘ umschlägt, die ja doch auch aus der ‚Krankheit‘ hervorgeht, erfahren wir hier weiter nicht“ [ESSELBRÜGGE, Hebbel und der Humor, S. 90]. – Eine erste parodistische Parallelisierung mit Fausts Gelehrtentragödie deutet sich schon 1832 an, als Hebbel seinem Freund Hedde klagt, er sei „ziemlich mit Arbeiten beladen“ und habe sich „gegenwärtig selbst für einige Jahre in ein Hiobsjoch gespannt. Ich lerne nämlich Latein“, woran sich der Wunsch anschließt: „Der Teufel hole ein Leben, das selbst nicht weiß, wohin es führt“ [WAB 1, 14]. Hier klingt auch die Problematik des perspektivlosen ‚enterbten‘ Sohns an. An anderer Stelle nennt Hebbel Faust bezeichnenderweise den „Sohn“ [WAB 2, 544] Hamlets, so als würde sich im ‚Sohnessohn‘ das Problem gleichsam potenzieren. 2448 Dieses und die folgenden Zitate: BORCHMEYER, Höfische Gesellschaft, S. 5. 2449 Dieses und die folgenden Zitate: Ebd., S. 36. 2450 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 6. 2447

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Zusammenhang noch zu einem guten Teil geprägt sieht: „Goethe stellt sich uns dar als eine Gestalt des Übergangs vom feudalen zum bürgerlichen Wertekosmos“.2451 Die gleiche „Gesprächskultur“ ist auch an der Entwicklung des um zwei Generationen jüngeren Friedrich Hebbel zum ‚Gesellschafts-Menschen‘ zu beobachten: Was im oben zitierten Brief an Elise vom 12. September 1838 [WAB 1, 235] noch bitteres Eingeständnis ist, wird am 13. bereits zum Programm, wenn er seine Freundin „nur um das Einzige“ bittet, „meine Worte niemals auf die Waagschale zu legen und meine Mienen nicht unter die Lupe zu bringen“ [WAB 1, 238]. Von nun an hat sich Elise bei ihm an Wort- und Mienenspiele zu gewöhnen, deren ‚Witz‘ nicht zuletzt darin besteht, daß sie ihn immer falsch versteht. Da verschweigt er eine unangenehme Wahrheit, angeblich, um sie zu schonen, doch unterstellt er ihr zugleich, sie habe insgeheim gewußt, was auszusprechen er sich doch nur ersparen wollte: „Ich habe Dir Alles dieß immer verhehlt, weil Du ja immer krank warst und ich dachte, Du sagtest es Dir selbst“ [WAB 1, 671]. Dabei hatte er durchaus mit ihr geredet – „aber ich sehe jetzt deutlich genug, daß Du Alles, was mir Schonung und Mitleid eingaben, für baare Münze genommen hast“ [WAB 1, 671]. Daß sie ihn ‚richtig‘ und damit falsch verstanden hat, ist ihre eigene Schuld, gerade weil Hebbels Aussagen ebenso undurchsichtig sind, wie die Gründe dafür. Auch wenn sie sich in vorauseilendem Verständnis für den für eine schöne Römerin schwärmenden Partner selbst verleugnet, macht sie es verkehrt: Wozu denn solche Exagerationen, wie der Heiraths-Vorschlag mit einer Italiänerin, um die Mylords und Marquis, Grafen und Barone sich drängen? Wenn die Freude eines eben vom Fieber Genesenen über eine Rose, die ihm eine Viertelstunde duftete, zu laut war, mußtest Du ihn so hart dafür bestrafen? Du mußt ja selbst empfinden, theuerste Elise, daß solche Erfahrungen mich scheu machen könnten, Dir die wenigen Augenblicke meines Lebens, in denen ich froh bin, noch zu malen! [WAB 1, 698]

Der im Irrgarten der Liebe herumtaumelnde, von Viertelstunde zu Viertelstunde zwischen Fieber und Genesung schwankende Cavalier könnte sich seine undurchsichtigen Äußerungen in der Tat gleich ganz sparen, dienten sie bloß der ‚Information‘ und nicht einer chimärischen Selbstdarstellung. Dieser meta-kommunikative Aspekt ist es hingegen, der Hebbel im nächsten Satz grundsätzlich werden läßt: Kannst Du es denn noch immer nicht lernen, Dir aus allen meinen Briefen mein Bild zusammen zu setzen, die guten nicht zu gut, die schlimmen nicht zu schlimm zu nehmen? Es ist schon ein Zusammenhang in all dem scheinbaren Widerspruch. Ich bin ein Mensch, der nie etwas zurück hält, dabei wird denn aber auch Vieles ausgesprochen, was nur für den Moment gilt. [WAB 1, 698f.]

2451

Vom ‚neuen‘ Bürgertum wird diese Konstellation negativ bewertet und die Position des Narren anders besetzt: „Wie vorher Narr und Adel vereinbart sich nun der Adel mit dem Schauspieler. Verstellung nannte man beider Natur. Das Unwesen höfischer Verstellung sah der Bürgerliche mit Vorliebe in der Maskerade ausgestellt“ [PROMIES, Der Bürger und der Narr, S. 73].

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Doch worauf soll Elise sich verlassen, wenn bei ihm so „Vieles“ nur für den „Moment“ Bestand hat? Gleicht Hebbel dem pflicht- und rollengebundenem Demetrius oder doch mehr einem Otrepiep, der nur dann bei seinem Wort bleibt, „wenn mir nicht zwischen Thür und Angel [/] Noch etwas Beßres einfällt“ [W 6, 57]? Der kurze Flirt mit der Signorina Gagiati zu Beginn des Jahres 1845 entsprang vielleicht nur einer Augenblickslaune, einer buchstäblichen Vernarrtheit, die nicht zufällig in die Zeit des römischen Karnevals fiel. Doch übertrieben waren Elise Lensings Besorgnisse keineswegs. Wenige Monate später lernte Hebbel Christine Enghaus kennen, die bald darauf seine Gattin wurde. Ich lache, indem ich diese 10 Zeilen, in denen ich mich völlig metamorphosirt habe, wieder durchlese. Mit einem sehr ernst gemeinten Tadel fing ich an, und nun bin ich schon glücklich bei’m Lob angekommen. Dies Mal kann ich mich an einer inneren Erfahrung ergötzen, die mich schon oft zur Verzweiflung gebracht hat. [WAB 1, 625f.]

Innerhalb weniger Briefzeilen durchmißt Hebbel im Juli 1844 den lebensgeschichtlich langwierigen Weg von der Verzweiflung über das Selbstlob bis zum Lachen über die eigene Verwandlungsfähigkeit. Er hat schon Übung darin: Die verkrampfte Verkehrtheit hat der virtuosen Metamorphose Platz gemacht; aus der lächerlichen Figur jenseits aller Ordnung ist ein die Ordnungen verlachender Gaukler geworden. Daß der Versuch, dessen Eigenschaften auch in die soziale Wirklichkeit zu integrieren, sofort zu stärksten Irritationen führt, muß zuallererst und ausgerechnet diejenige erleben, die mit Hebbel am vertrautesten zu sein scheint – Elise Lensing. Und wieder gleicht Hebbel nicht dem treuherzigen Demetrius, sondern seinen Gegenspielern, die allerdings in der ‚anderen‘ Welt der Tragödie die Oberhand behalten werden. Ist Marina eine „Karten-Königin“ [W 6, 126], dann ist Schuiskoi im Pokerspiel um die Macht gewissermaßen der ‚Joker‘ – von Haus aus ein dynastischer ‚Niemand‘, der dennoch nach dem Fall des falschen Demetrius in die Zarenrolle einrücken wird. Als chamäleonhafter Spieler und lachender Dritter besitzt er auch die Mentalität des Jokers, wie ihn Wolfgang Ullrich beschreibt: Auf den Spielkarten ist er bekanntlich immer lachend abgebildet, und nichts anderes sorgt stärker für seinen unbestimmbaren Charakter. Sein Lachen enthält alle Dimensionen, die Lachen haben kann, ist er doch spitzbübisch und höhnisch, heiter und ironisch, frech und charmant. Es drückt die Freude am Spiel aus, kann aber genauso als aggressiv-laut empfunden werden. Es ist ein An- und ein Auslachen, ist Gelächter, Grinsen und Grimassieren. Im Lachen des Jokers kommt somit seine gesamte Vieldeutigkeit und Wandelbarkeit zum Vorschein.2452

In dem Gelächter dieses Gauklers haben Antinomie und Ambiguität Methode. Es ist diese „Undefinierbarkeit des Lachens“, die ihn „unheimlich“ macht; das „Indefinite […] zeigt […] hier seine abgründige und vielschichtige Seite“. Noch stärker und noch unheimlicher kommt diese Wirkung in Hebbels letztem Drama an dem Patriarchen Hiob zum Vorschein. Was für ein symbolbeladener Name: Keine Figur der Bibel wird 2452

Dieses und die folgenden Zitate: ULLRICH, Gesucht: Kunst! Phantombild eines Jokers, S. 17.

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so geplagt und gedemütigt – durch einen Pakt Gottes mit dem Teufel. Doch welche Verkehrung: War der biblische Hiob einem Herrn ausgesetzt, der in gaukelnder Willkür zu handeln scheint, so nimmt jetzt sein Namensvetter die Stellvertretung der alttestamentlichen ‚Doppelspitze‘ von Gott und Teufel kongenial war. Die gestandene Zarenmutter Marfa muß bekennen: Vor diesem Priester kehrt Das Herz sich in der Brust mir um. Er steht Hier vor mir, wie die Zeit, er giebt und nimmt Und bleibt, als wär’ er nicht auch selbst ein Mensch, In allem Wechsel, was er ist [W 6, 45].

Ist die Zeit auch aus den Fugen, bleibt er sich treu; unterliegt die Welt dem Wechsel, ist er die Wechselhaftigkeit selbst. Er „giebt und nimmt“, er schenkt und entzieht seine Gnade wie der Gott des Alten Testaments auf eine für die Menschen und letztlich ihm selbst intransparente Weise: „[W]as ich immer that, [/] Ich that es so, als thät ich’s nur im Traum“.2453 Diesem Handeln Hiobs haftet – wie auch dem Treiben Schuiskois – etwas Lichtscheues, Unwirkliches an, etwas Dämonisches, wie es Walter Muschg treffend umreißt: Der Dämon ist die archaische Form des Göttlichen, der verkörperte Schauder vor dem Unfaßbaren des Seins, dem sich der Gläubige der Naturreligion zitternd unterworfen weiß. Als Elementargottheit ist der Dämon für ihn zugleich gut und böse, herrlich und schrecklich. Er greift als mysterium tremendum nach ihm, um ihn zu segnen oder zu verfluchen; sein Segen ist voll Grauen, sein Zorn eine Begnadung. […] Die Dämonen sind das unberechenbare Geheimnis der Dinge, das den Menschen der Urzeit noch gewaltig anspricht. Ihr Schrecknis liegt darin, daß es ihnen gegenüber keine Sicherheit gibt. Die Dinge können sich jederzeit verändern, ihre Form zerbrechen; sie sind nicht tot, sondern von Kräften bewohnt, vor denen sich der Mensch behaupten muß. Jede urtümliche Gottheit wirkt sowohl schaffend wie zerstörend.2454

In seinem Aufsatz über Goethes Glaube an das Dämonische beschrieb Muschg den jungen Dichter selbst als „dämonisches Genie, das sich auf solche Vorbilder beruft“.2455 Goethes Thema sei „nicht das ruhend ewige Sein, sondern die ewige Verwandlung. Er stellt […] im Grund immer sich selbst dar, und in der ungeheuren Fülle seiner Metamorphosen kommt der ganze Reichtum des Menschlichen ans Licht.“2456 Das Bekenntnis von Goethes Faust: „Erkenne dich! – Was hab ich da für Lohn? [/] Erkenn ich mich, so muß ich gleich davon“,2457 sei „auch die Verherrlichung von Fausts Ruhelosigkeit, seines Unvermögens, zum Augenblick das ‚Verweile noch‘ zu

W 6, 45. Entsprechendes sagt Herzog Ernst nach der Ermordung von Agnes Bernauer: „Es giebt Dinge, die man, wie im Schlaf thun muß.“ [W 3, 224]. 2454 MUSCHG, Goethes Glaube an das Dämonische, S. 36. 2455 Ebd., S. 38. 2456 MUSCHG, Tragische Literaturgeschichte, S. 54. 2457 Zit. nach MUSCHG, Tragische Literaturgeschichte, S. 64. 2453

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sagen“.2458 Noch in der Marienbader Elegie, so Muschg, „bekennt sich Goethe zu diesem Unvermögen und überläßt sich der Verzweiflung des aus dem Paradies der Gegenwart Verstoßenen“. Obwohl sein „Glaube an ein immer neues ‚Stirb und werde‘ […] ihn auch über diesen Verlust hinweg“ getragen habe, blieb eine starke Affinität zum Tragischen, „dessen Wesen gleichfalls der unauflösliche Widerspruch zwischen Gut und Böse, Leben und Tod ist“.2459 All dies macht auch die „Todeskrankheit“ und das „Süßsaure“ daran aus, das Hebbel und sein Adlatus Gravenhorst im Jahr 1837 Goethe und seinem Faust so schrecklich-schön nachempfanden. Muschg identifiziert diese Haltung zugleich mit dem „Credo des Proteus“,2460 jenes antiken Meergottes, der die „Gabe der Prophetie“2461 besaß, aber abgeneigt war, „zu offenbaren, was er wußte, und […] den Fragern zu entkommen [suchte], indem er eine Vielzahl von Gestalten annahm, auch die des Feuers und Wassers“. Auch dieses Credo spricht Hebbels schon 1834 entstandenes Gedicht Proteus nach: Was oben und unten in Fülle und Kraft Die ewige Mutter erschuf und erschafft, Sie hat es in Formen, in steife, gehüllt, In starrende Normen das Leben gefüllt. […] Doch mich hat sie nimmer gebannt in den Ring, Mit welchem sie grausam die Wesen umfing, Ich steige hinunter, ich steige empor Nach eig’nem Behagen im wirbelnden Chor. Ich schlürfe begierig aus jeglichem Sein Mit tiefem Entzücken den Honig hinein, An keines gebunden, muß jedes mir schnell Die Pforten entriegeln zum innersten Quell. […] O seliges Wohnen in Nachtigallbrust! O süßes Zerrinnen in heimlichster Lust! Ich hauch ihr die Liebe in’s klopfende Herz, Dann scheid’ ich, da singt sie in ewigem Schmerz. In Seelen der Menschen hinein und hinaus! Sie mögten mich fesseln, o neckischer Strauß! Die fromme des Dichters nur ist’s, die mich hält, Ihr geb’ ich ein volles Empfinden der Welt [W 6, 253f.].

In der Figur des Proteus verkehrt sich die Klage über die Identitätslosigkeit in die emphatische Behauptung universeller Potentialität. Was in diesem Gedicht ein lyrisches Ich herausjauchzt, macht Hebbel drei Jahre später auch in Prosa für den Dieses und die folgenden Zitate: Ebd., S. 64. MUSCHG, Goethes Glaube an das Dämonische, S. 51. 2460 MUSCHG, Tragische Literaturgeschichte, S. 64. 2461 Dieses und das folgende Zitat: GRANT/HAZEL, Lexikon der antiken Mythen und Gestalten, S. 354. 2458 2459

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Dichter geltend: „Alles Dichten aber ist Offenbarung; in der Brust des Dichters hält die ganze Menschheit mit all ihrem Wohl u Weh ihren Reigen […]; die begeisternde Stunde […] bringt dem Genius den Schlüssel zum Welt-All, nun kann er eintreten, wo er will“.2462 Kurz darauf formuliert er gegenüber Janinski, der Künstler selbst solle „in sich die Menschheit in ihrer Gesammtkraft und ihrem Gesammtwillen und Streben repräsentiren“ [WAB 1, 182]. 1844 erklärt er Elise Lensing, „daß der Dichter, wie ein Instrument, alle Töne zugleich in seiner Brust trägt […] Liebe, Raserei, die höchste Süßigkeit, der bitterste Schmerz, Alles auf einmal, äußeres und inneres Gewitter, milder Regen und linde Thränen!“ [WAB 1, 554] 1860 wiederholt er schließlich – ausgerechnet gegenüber dem frommen Pfarrer Luck – den expliziten Vergleich des Poeten mit einem Proteus, dem „das Geheimniß des Lebens anvertraut ist, weil er […] instinctiv jede Existenz in ihrer Wurzel und jedes Moment einer Existenz in seinen allgemeinen und besonderen Bedingungen ergreift, […] er ist einfach der Proteus, der den Honig aller Daseyns-Formen einsaugt (allerdings nur, um ihn wieder von sich zu geben) der aber in keiner für immer eingefangen wird“ [WAB 4, 71]. Der spätestens durch Elise Lensings Reaktionen auf sein kommunikatives Verhalten sensibilisierte Hebbel fährt fort: Wer diesen Standpunct […] aus den Augen läßt, der muß über die Widersprüche des Poeten außer sich gerathen, und ihn in gut vulgairem Sinn für characterlos erklären. Es sind aber die Widersprüche der Welt, die trotz ihrer des bindenden und regelnden Mittelpuncts nicht entbehrt, wenn man ihn auch auf keine Formel zurück führen kann! – [WAB 4, 71]

Verbindlich legt Hebbel sich hier für seinen Proteus ins Mittel, indem er auf einen „bindenden und regelnden Mittelpunct“ verweist – im Gedicht ließ er ihn noch wie einen Joker hohnlachen: „Sie möchten mich fesseln, o neckischer Strauß!“ Das wollten nicht nur Zeitgenossen wie der Pfarrer Luck, sondern auch spätere Hebbel-Interpreten. Richard Maria Werner milderte das dämonische Bild des Künstler-Proteus in ein „Abbild Gottes“,2463 der ‚Alles‘ zu sein vermag und in allem lebt: „Ein Dichter und Denker mit solchen Ansichten müßte darum eine tief religiöse Natur sein, wenn er auch keinen Dogmenglauben besaß.“ Für Paul Bornstein ist „der Proteus des Gedichts nicht so der Dichter, wie die Personifikation der dichterischen Phantasie. Diese erscheint jetzt als Trägerin der Allbeseelung“ [DjH II, 258]. Bornstein versucht Hebbel mit philosopischen Kategorien zu ‚fesseln‘, indem er ihn im Gefolge Schellings einordnet:

WAB 1, 159f. Das ist auch das Progamm, das Mephistopheles für Faust vorsieht: Auf dessen ratlose Frage „Wohin soll es nun gehn?“ antwortet er: „Wohin es dir gefällt. [/] Wir sehn die kleine, dann die große Welt. [/] Mit welcher Freude, welchem Nutzen [/] Wirst du den Cursum durchschmarutzen!“ Faust reagiert – obwohl er nie der Schreiber eines Mohr war – wie Hebbel: „Es wird mir der Versuch nicht glücken; [/] Ich wußte nie mich in die Welt zu schicken. [/] Vor andern fühl’ ich mich so klein; [/] Ich werde stets verlegen sein.“ [GOETHE, Werke, Bd 3, S. 66]. 2463 Dieses und das folgende Zitat: WERNER, Friedrich Hebbel. Ein Lebensbild, S. 16. 2462

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Zugrunde liegt […] die Auffassung des gesamten Naturlebens als eines großen Organismus, als eines Stufenreichs von Bildungen, das sein immanentes Ziel in der Entbindung und stetig ansteigenden Entwickelung der Bewußtheit von der anorganischen Materie, den „steifen Formen“ an bis zu der höchsten aller Intelligenzen, dem künstlerischen Genie, findet – das Kunstwerk als Gipfel der Weltorganisation, als höchste und vollkommenste aller irdischen Gestaltungen, die Lösung des Welträtsels in der Kunst, der absolute Primat des Künstlers: das alles sind Schellingsche Gedankenreihen. [DjH II, 258f.]

Dieter Arendt meint schließlich, es sei „immer der gleiche ‚Grundgedanke‘ des Idealismus“,2464 der Hebbels „künstlerisches Schaffen bestimmt […]: die Teilhabe des Mysten, des Charismatikers, des proteischen Dichters an der göttlichen Idee.“ Dabei scheine er sich „von Anfang an als Modell-Fall der ganzen Menschheit verstanden zu haben“.2465 Solchen philosophischen Interpretationen leistete der „fromme“ Dichter noch im Gedicht selber Vorschub, doch die entgegengesetzte Frage drängt sich förmlich auf: Hat der an „jeglichem Sein“ partizipierende und parasitierende Proteus überhaupt eine Identität, oder führt seine Existenzform am Ende zum „ortlos umherschweifenden, ziel- und rastlos suchenden Ich, dessen Heimat verloren, dessen Identität wechselhaft, dessen Zukunft ungewiß ist,“2466 und dessen „nomadische Existenz bereits auf Lebenserfahrungen der Moderne vorausweist“,2467 wie Matthias Luserke an Faust und am jungen Goethe beobachtet? „Ich kann Alles [!], nur das nicht, was ich muß“ [WAB 1, 135], behauptet Hebbel 1836 wie ein zweiter Proteus gegenüber Elise; doch das anscheinende ‚Selbst-Bewußtsein‘ erweist sich auf den zweiten Blick als bodenlose Hohlform: Es sei „zugleich unheimlich u gefährlich, wenn ein Mensch zum Fundament seines Wesens hinunter steigt, u er thut gar wohl, wenn er niemals daran rüttelt, denn drunten lauern die Finsterniß u der Wahnsinn“ [WAB 1, 135]. Doch während Walter Muschg im Fall Goethes auf einen fortwirkenden Dämonie-Glauben hinweist, blenden die Deutungen im Fall Hebbels die dunkle, negierende Seite des Proteus aus. Lediglich Emil Kuh stand dessen „geheimnisvoll bannende wie erschreckende Wirkung auf die Menschen“ 2468 lebhaft vor Augen, wie auch Hebbel „sich seines Dämons bewußt“ gewesen sei. „Ich steige hinunter, ich steige empor“ – jederzeit kann er die Richtung wechseln. Ein „volles Empfinden“ gewährt er dem Dichter, doch dafür wird er zum begierig schlürfenden Vampir an „jeglichem Sein“, woraus er seine Kraft bezieht. Er, der in jede Seele „hinein und hinaus“ fährt, beherrscht virtuos die Mechanismen der Inklusion und Exklusion, seine Identität ist die Identitätslosigkeit. „O süßes Zerrinnen“, jubelt er selbst – „scheid’ ich“, so läßt er sogar ein Vögelchen „in ewigem Schmerz“ zurück. Dieser dämonische Gaukler ist nicht erst ein Geschöpf des modernen Zeitalters, er ist vielmehr eine „echt primitive Figur, die in ihrer deutlichsten Form unter primitiven Völkern erscheint – ein

Dieses und das folgende Zitat: ARENDT, Demetrius – der heimliche Prinz, S. 43. Ebd., S. 20. 2466 LUSERKE, „Ich weis nicht warum ich Narr soviel schreibe“, S. 16. 2467 Ebd., S. 138. 2468 Dieses und das folgende Zitat: KUH, Biographie, Bd 2, S. 463. 2464 2465

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tierisches, menschliches und göttliches Wesen, das ‚weder gut noch böse kennt, jedoch für beides verantwortlich ist.’“2469 Stanley Diamond schreibt: In seiner nie endenden Suche nach seinem eigenen Selbst verändert der Gaukler seine Gestalt und experimentiert mit tausend Identitäten. Er verfügt über gewaltige Macht und ist außerordentlich dumm, ist „Schöpfer und Zerstörer, Gebender und Verneinender“. Der Gaukler ist die Personifizierung der menschlichen Zwiespältigkeit. Er ist der Archetyp des komischen Geistes, die Verspottung des Identitätsproblems, der Vorfahre des Clowns, der Narr aller Zeitalter, die Verkörperung der Absurdität der Existenz.2470

Die Verwandschaft auch mit Goethes Mephisto ist evident: Bei diesem ist „abgründig vieldeutig […] alles, was er sagt und tut. Er hat genau den undurchsichtigen, zwischen Gut und Böse schillernden Charakter, den Goethe dem Dämonischen zuschreibt“.2471 Für Jean Starobinski macht Goethe mit dieser Figur zugleich „jene spielerische Überlegenheit der Sprache des Dichters deutlich, die den bedrohlichen Schatten des Dämons obenhin glänzende Worte jonglieren läßt, aber die zersetzenden Kräfte des Nichts in die tiefsten Gründe unseres Gelächters verschiebt“.2472 Der metonymische Kreis schließt sich, indem auch Hebbel von sich bekennt: „Es ist eine Wollust, sich selbst zu zerstören […]; ich kenne sie, und habe oft auf diese Weise gefrevelt, bin Gott oft in meinem eigenen Ich als Teufel, dem schaffenden und bindenden Princip als vernichtendes und lösendes, entgegen getreten“ [WAB 1, 506]. Darum kann der a-soziale Dichter-Proteus bei kritischer Betrachtung gerade nicht als „Modell-Fall der ganzen Menschheit“, sein Werk nicht als „Gipfel der Weltorganisation“ herhalten. Bezeichnenderweise weigert sich Demetrius, statt des rechtmäßigen Thronerben einen proteusartigen „Erob’rer“ [W 6, 127] zu geben, dem die Welt sich beugt, so „göttlich groß, [/] Daß die Bewund’rung Alles, selbst den Jammer [/] des armen menschlichen Geschlechts erstickt, [/] Und daß das Opfer jauchzt, indem es fällt“, der zugleich ruhelos „von Stadt zu Stadt, [/] von Land zu Land“ zieht, so omnipräsent und intransparent „wie der Fleisch gewordne Geist der Erde, [/] Der sie und alle ihre Heimlichkeiten [/] Genauer kennt, wie seinen eignen Leib“ [W 6, 127]. Schon Platons Ablehnung der Dichter lasse eine „unmittelbare Ablehnung des Verwandlungskünstlers oder Gauklers als eines Abbilds der Götter erkennen“, 2473 meint Stanley Diamond. Denn in der Dichtung erschienen die Götter „in einer Vielzahl von Gestalten und täuschenden Verwandlungen“, besäßen eine „Doppelnatur“, d. h. sie „bewirken Gutes und Böses“, und würden in „unwürdigen Posen“ präsentiert – all das hat in der Politeia keinen Platz; „auch das homerische Gelächter kann nicht geduldet werden“. Hebbel dagegen meinte, „wer Homers unauslöschliches Gelächter erschallen hören will, der zünde“ die „viel zu früh“ ausgegangenen „bunten Lampen, die einst […] den Hans Franzen oder den politischen Kannegießer beleuchteten“, wieder an [W 12, 98f.]. Noch im „Joker“ scheint das Bild des Proteus – etwas verdünnt – wieder DIAMOND, Kritik der Zivilisation, S. 143. Ebd., S. 144. 2471 MUSCHG, Goethes Glaube an das Dämonische, S. 56. 2472 STAROBINSKI, Porträt des Künstlers als Gaukler, S. 112. 2473 Dieses und die folgenden Zitate: DIAMOND, Kritik der Zivilisation, S. 143. 2469 2470

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auf. In dessen undefinierbarem Lachen sieht Wolfgang Ullrich geradezu eine „Metapher für die Kunst“.2474 So entschieden Hebbel die Proteus-Rolle für den Dichter reklamierte, so ‚unmöglich‘ war es, sie in der Wirklichkeit auszuleben und zu proklamieren. „Steife“ Formen und „starrende Normen“ ließen sich nicht einfach sprengen, mochte ihre Notwendigkeit ebenso vorläufig wie „grausam“ erscheinen. Denn das organisierte Leben ist zugleich durch die vom Proteus symbolisierte Tendenz zur Auflösung bedroht. Wenn Hebbel notiert: „Das Leben des Menschen ist, wie Proteus in den Armen des Odysseus“ [T 3102], dann bekommt die personifizierende Metapher hier einen ganz anderen Gehalt: Sie bietet gerade kein positives identifikatorisches Modell, sondern dient als bloße Maske für eine wandelbare Wirklichkeit, die eben ‚nicht zu fassen‘ ist. Am Vorabend seines 30. Geburtstags zeichnete Hebbel ein zutiefst pessimistisches Bild der „Schöpfung“: [D]ies trostlose Zerfahren des Unbegreiflichen in elende, erbärmliche Creaturen, muß eine traurige Nothwendigkeit gewesen seyn, der nicht auszuweichen war; die unendliche Theilbarkeit ist die gräßlichste aller Ideen; und eben sie ist der Grund der Welt. Ein Wurmklumpen, Einer durch den Anderen sich hindurch fressend; Jeder so lange vergnügt und in roher Existenz-Wollust sich wälzend, bis auch er sich an irgend einer Stelle angenagt fühlt [WAB 1, 448].

Die Wandelbarkeit der Welt als ein gegenseitiges Sich-Auffressen und Verdauen ihrer Geschöpfe, als ein „Zerfahren“ in unendlich kleine Teilchen2475 läßt selbst den Dichter an ihr irre werden. Wenige Monate vor seinem Tod äußert Hebbel skeptisch: „Wie glücklich sind die Natur-Forscher, wenn sie irgend einen alten Irrthum widerlegt haben […]. Sie sollten aber nicht vergessen, daß sie dann jedes Mal über sich selbst triumphiren, daß sie ein Kleid zerreißen, was sie selbst dem neckischen Proteus des Lebens einmal anzogen“2476 – da ist er wieder: der gaukelnde Verkleidungskünstler, dessen eigentliches Wesen, allen fesselnden Konstruktionen zum Trotz, unergründlich scheint. Die idealistisch abgehobenen Interpretationen vom proteischen Dichter als dem „Modell-Fall der ganzen Menschheit“ oder Teilhaber „an der göttlichen Idee“ – übersehen aber auch, wie weit der Vergleich mit dem altgriechischen Verwandlungskünstler wirklich trägt: Wer in der Lage ist, seine Gestalt zu wechseln, in vielerlei Rollen zu schlüpfen und mit ihnen zu spielen, der verfügt immerhin über Schlüsselqualifikationen, die gerade ein Dramatiker besitzen muß: „Wer diesen Standpunct fest hält, der würde sich nicht wundern, wenn der Hamlet und der standhafte Prinz Einen ULLRICH, Gesucht: Kunst! Phantombild eines Jokers, S. 17. Auch diese Klage ist keineswegs genuin ‚modern‘; sie erinnert an Hamlet in der Szene mit Yoricks Schädel in der 1. Szene des 5. Akts: „Zu was für schnöden Bestimmungen wir kommen, Horatio! Warum sollte die Einbildungkraft nicht den edlen Staub Alexanders verfolgen können, bis sie ihn findet, wo er ein Spundloch verstopft?“ [SHAKESPEARE, Sämtliche dramatische Werke, Bd 6, S. 91], bzw. an den volkstümlichen Materialismus eines Domenico Scandella (vgl. oben den Abschnitt Das „düsterbiblische“ Element). Vgl. auch T 1346. 2476 T 6126. Vgl. auch T 2157. 2474 2475

„Proteus“ – der Rollenspieler

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und den nämlichen Verfasser hätten“ [WAB 4, 71]. Er läßt die gleichermaßen angestrengten Bemühungen um Identifikation und Abgrenzung, die verkrampften Haltungen der Exklusion und Inklusion spielerisch und projektiv hinter sich. Proteus ist ein Meister der Vermittlung zwischen den Rollen, ob sie nun den verlorenen oder den gelungenen Sohn vorstellen, Narr oder König, Gott oder Teufel, Hamlet, Assad, Demetrius oder Diocletian. Er ist ein Symbol für den „produktiven Polylog zwischen den unterschiedlichen Formen von Subjektivität“,2477 für die „semiotischen Vorgänge […] Verschiebung und Verdichtung“,2478 für das metonymische und metaphorische „Spiel mit dem Sinn“. Gerade weil dieser Illusionskünstler um die abgründigen Differenzen zwischen Rolle und Selbst, zwischen Wort und Wirklichkeit weiß, versteht und spricht er die uneigentliche Sprache des Dichters, mit dem man ihn identifiziert, heißt er nun Hebbel oder auch Goethe: „Unter der Annahme, die sich zur topischen Metonymie verfestigt hat, daß ein Autor so in seinen Werken erscheint, daß man ihn liest, wenn man seine Texte liest, ergibt sich im Falle der Texte, die unter dem Eigennamen Goethe publiziert werden, die Konsequenz, daß dort ein rätselhafter Proteus erscheint, der nie derselbe bleibt“.2479 Auch autobiographische Äußerungen und Texte enthüllen nicht das ‚eigentliche‘ Ich des Autors, sondern sind gleichfalls ein Stück Literatur – nur eben nicht komponiert zu einem Text, sondern in kaleidoskopartiger Zersplitterung. Angesichts von Befunden, nach denen Antje Hebbel eine zweite Maria, der Dichter ein anderer Christus oder ein Proteus ist, wäre es nachgerade grotesk, das ‚Repräsentierte‘ noch als Ausdruck des ‚Realen‘ zu nehmen. Andererseits sind die herausgearbeiteten Rollenfiktionen keineswegs beliebig: „Muß auch die Deutung letztlich immer unabgeschlossen […] bleiben, so lassen sich doch besonders ‚dichte Stellen‘ erkennen, die sich vom Umfeld abheben, eine jedenfalls vorläufig abgrenzbare Einheit bilden“.2480 In solcher ‚Literarizität‘ (und zugleich Disparität) liegt eine ‚Wahrheit‘, die „kein in sich geschlossenes Ganzes“2481 ist, und „der literarische Text [...] spricht sie aus: das Ich ist nicht das autonom denkende, handelnde, das die Geschichte nach seinem Willen zwingt“,2482 sondern „die Summe der Identifikationen des Subjekts“.2483 Diese sind „vielfältig, sie sind heterogen und kontingent, und es lassen sich immer neue finden“, doch ist auch solche dichterische Freiheit gebunden. Über den Autobiographen sagt Gustav Hillard: „Seine ganze Freiheit gewinnt nur der, der seine Vergangenheit integriert“.2484 Wie ernst Hebbel diese ‚Rollenspiele‘ waren, illustrieren seine überempfindlichen Reaktionen auf den Schriftsteller Karl Hugo Bernstein. Daß dieser sich in einem Vierzeiler als „Fürst der Poesie“ hinstellte, trieb ihn fast zur Raserei: „Uebrigens, das darf ich um Gottes willen nicht vergessen, hat gestern nicht bloß der König Wilhelm von Preussen Gnaden ausgetheilt, sondern auch ein anderer Souverain […]. Solch ein SUCHSLAND, Julia Kristeva zur Einführung, S. 84. Ebd., S. 97. 2479 STÜSSEL, Poetische Ausbildung und dichterisches Handeln, S. 251. 2480 SUCHSLAND, Julia Kristeva zur Einführung, S. 26. 2481 Ebd., S. 84. 2482 GALLAS, Das Textbegehren, S. 95. 2483 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 90. 2484 Zit. nach PASCAL, Die Autobiographie, S. 215. 2477 2478

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Mensch geht frei herum! Wer ist dann noch für die Zwangs-Jacke reif?“ [WAB 4, 266]. Eduard Kulke überliefert eine Begegnung zwischen Hebbel und Bernstein, bei der dieser seine „hyperbolischen Tiraden über seine dramatischen Arbeiten“2485 mit dem Satz schloß: „In mir sehen Sie eigentlich vier Persönlichkeiten vereinigt, nämlich: Christus, Napoleon, Shakespeare und mich selbst“. Darauf habe Hebbel ebenso kurz wie unmißverständlich gedroht: „Jetzt kein Wort mehr! Kein Wort! Wie Sie noch ein einziges Wort sprechen, so spazieren Sie da zum Fenster hinunter“. Kulke versicherte er später, „sein Glück war es, daß er ging. Es gibt Dinge, wo ich keinen Spaß verstehe. Es steckt etwas von meinem Hagen in mir. Man schafft keinen solchen Charakter, wenn nicht etwas davon im eigenen Blute liegt.“ Indem Hebbel sich als Hagen darstellt, demonstriert er nicht nur seinen mörderischen Ernst gegenüber dem ‚spaßenden‘ Bernstein, sondern vor allem, was für ihn gelungene Rollenaneignung bedeutet: eine innere, ja ‚blutsmäßige‘ Verbindung zu einem mythischen Proto-Typen, der in seiner Archaik gerade das Gegenteil modischen, willkürlichen Virtuosentums verkörpert. Freilich wäre auch Hebbel mit Lacan entgegenzuhalten, daß das mythisierte „Unbewußte […] keine dunkle Tiefe der Seele“2486 sei, „nicht das Ursprüngliche oder Instinktive“,2487 sondern daß es „an Elementarem […] nur die Elemente des Signifikanten“ enthalte. Vom Text aus ist auch der Rückweg ins vermeintlich ‚wirkliche Leben‘ abgeschnitten; und was einer modern-romantisierten Ich-Auffassung widerspricht, kommt der traditionalen Rollenidentität unversehens ganz nahe. „Das Subjekt findet über die Sprache eine Möglichkeit, sein Begehren zu ‚benennen‘, anzuerkennen, einzugestehen – darin besteht die ‚Erfüllung’“.2488 Bei solchen ‚Textbegehren‘ geht es „also nicht um direkte ‚Erfüllung’“,2489 so wäre etwa auch gegenüber Sadger, Wittkowski oder Stolte zu betonen, sondern letztlich darum, „daß der Wunsch sich Ausdruck verschafft, indem er sich an ein Erinnerungsbild heftet, d. h. einen Signifikanten hat, der reproduziert werden kann. Wunscherfüllung heißt also nicht Spannungsabfuhr, sondern sich zur Sprache bringen, sich ‚benennen‘.“ Der Preis dafür ist vor allem dann hoch, wenn sich das Subjekt den „Notwendigkeiten des herrschenden Diskurses“2490 entzieht, denn da, wo es „begehrt, verliert es sich; es widerspricht sich, vermengt Unvereinbares – ein solcher Mensch gilt als ‚Abschaum in unserer Gesellschaft’“.2491 Auch darum benötigt dieses Sprechen den Freiraum des Literarischen: In der sprachlichen Struktur, konkret: in der substituierenden Funktion der Metapher und der kombinatorischen der Metonymie, ist die Eigenständigkeit des Mythos gegenüber der biographischen Realität begründet: Die „poetische Sprache spielt in besonderem Maße mit der doppelten Möglichkeit der Signifikantenkette, alles andere zu bezeichnen als das, was sie sagt“,2492 insofern ist sie immer auch „Ideologiekritik“.2493 Dieses und die folgenden Zitate: HP II, 297f. SUCHSLAND, Julia Kristeva zur Einführung, S. 50. 2487 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 27. 2488 GALLAS, Das Textbegehren, S. 105. Hervorhebung C. S. 2489 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 102. 2490 Ebd., S. 95. 2491 Ebd., S. 93. 2492 GALLAS, Das Textbegehren, S. 103. 2493 SUCHSLAND, Julia Kristeva zur Einführung, S. 105. 2485 2486

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Indem sich „verschiedene Sinnebenen durchdringen und relativieren[,] […] erscheint es besonders schwer zu klären, wie sich das Erzählte zur Wirklichkeit und zum Autor verhält“.2494 Der Text insgesamt bildet „die Maske […] des Autors, die Figuren sind Gestalten eines Maskenballs.“ Derart geschützt, kann sich der proteische Dichter im Alter allmählich auch souverän und milde geben: „Der Traunstein ist ein Schalk; er zeigte sich mir hell und klar, […] und ich schickte ihm Eure Grüße. So wie er die weg hatte, schlüpfte er in seine Kappe“ [WAB 4, 674], schrieb Hebbel auf einer Reise nach Gmunden an Frau und Tochter. Als sich der erhabene „Schalk“ in Wolken hüllte, hatte es ein kongenialer Hebbel auf der Bahnfahrt schon vorgemacht: Unterwegs begegnete mir ein Spaß. Eine Wiener Familie war mit im Wagon, ein Vater mit zwei Töchtern […]. Sie beschäftigten sich viel mit Lesen; auf einmal lies’t der Vater ein ganzes Register von Dichtern ab, das Inhalts-Verzeichniß irgend eines Buchs, und als der meinige kommt, fragt er, den kennt Ihr doch? Die Mädchen nicken, aber er fragt weiter: Habt Ihr ihn je persönlich gesehen? Er lebt ja in Wien! Die Mädchen schütteln den Kopf und er sagt: Sonderbar, ich auch nicht und wir sind doch uns’rer Vier! Während dieser Conversation sahen sie mir fortwährend in’s Gesicht und ich bedauerte nur, daß Titi nicht dabei war; die hätte sich gewiß weidlich an der Scene ergötzt. Ich selbst war zum Sprechen zu wenig aufgelegt, um aus meiner Wolke hervor zu treten“ [WAB 4, 674].

Ein halbes Jahr vor seinem Tod erlebt ein beruhigter Hebbel in einem Bahnabteil dritter Klasse in halb gespielter, halb gezwungener Rollendistanz die komische Apotheose seiner selbst: Aus dem dämonisch-närrischen Proteus ist ein verlegener Schalk geworden, ein Gipfel, der sich verbirgt, ein deus absconditus. Wieder einmal kann der Dichter nicht sprechen; das Publikum aber findet ihn im Buch.

2494

Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 62.

9. ORALITÄT UND SEMIORALITÄT IM VOLKSKULTURELLEN KONTEXT

„Cultur“, Sub-Kultur und Kreativität Am 19. März 1842, einen Tag nach seinem Geburtstag, rechnete Hebbel mit seiner bisherigen Existenz gründlich ab: „Ich bin jetzt 29 Jahre alt und trete das 30ste Jahr an; seit meinem Weggang aus Dithmarschen bin ich aber erst in der Welt, also erst seit 7 Jahren“ [T 2509]. Die Klage über die verlorene Kindheit dehnte er gleich auf die gesamten zweiundzwanzig in Dithmarschen verbrachten Jahre aus, in denen er nicht einmal „in der Welt“ gewesen sein wollte. Hintersinnig verwies er damit auf eine verspätete ‚zweite Geburt‘ nach einem bis dahin ‚ungelebten‘ Leben. Ein Jahr später diktierte Hebbel dem Literaturhistoriker Karl Goedeke für dessen Anthologie Deutschlands Dichter von 1813 – 1843 weniger pathetisch in die Feder: „Erst in meinem 22sten Jahre konnte ich mich den Wissenschaften widmen; bis dahin mußte ich in meinem Geburtsort Wesselburen bleiben und mich practischeren Lebens-Interessen hingeben“.2495 In Vorfreude auf die Gewährung eines Reisestipendiums, das ihn erst richtig in die Welt führen würde, urteilte Hebbel über sein langes Bleiben in Dithmarschen jetzt milder: „Ich hielt dies damals für ein größeres Unglück, als jetzt, wo ich neben den Nachtheilen eines so engen, von der Welt und ihren tausend Widersprüchen kaum berührten, geschweige bewegten Kreises, auch einige Vortheile, die er der reinen und ungestörten Entwickelung meiner dichterischen Natur darbietet, zu erkennen glaube“ [WAB 1, 456]. Ungeachtet der freundlicheren Bewertung hielt er an der prinzipiellen Engegensetzung Dithmarschens und „der Welt“ fest. Aus der angeblichen Unberührtheit des Ländchens leitete er aber nun auch Authentizität und Unberührtheit der eigenen „dichterischen Natur“ ab. Dieses Konzept der Selbstdarstellung war zukunftsweisend. Den Journalisten Ignaz Hub belieferte er acht Jahre später mit einem in der Leipziger Illustrirten Zeitung erschienenen Lebensabriß, der, so Hebbel, „von einem wohl gewählten Standpunkt ausgeht“ [WAB 2, 232] und diese Gedanken weiter ausformulierte: Wenn nun diese Verzögerung seines Eintritts in die Welt […] ihm selbst früher als ein Fluch erschienen ist und vielleicht jetzt noch als ein solcher erscheint, so möchte man vom Standpunkte ruhiger Betrachtung aus eher einen Segen darin erblicken. Denn wenn ihn einerseits die mit dem Dorfleben verbundene Abgeschnittenheit von den allgemeinen Bildungsmitteln ohne Zweifel eine Zeitlang in seiner Entwickelung aufhielt, so wurde er andererseits durch dieselbe gezwungen sich der Welt selbst gegenüber zu stellen und zu prüfen, was er ihr mit der eigenen Kraft abgewinnen könne. […] Wir wissen nämlich sehr wohl, daß die Natur ihm von Haus aus eine entschiedene Richtung und ein für diese ausreichendes Vermögen zugetheilt haben muß, glauben aber demohngeachtet nicht zu irren, wenn wir die […]

2495

WAB 1, 456. Vgl. W 15, 23.

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Ursprünglichkeit seiner Schöpfungen, zum größeren Theile wenigstens, auf seine einsame Jugend zurückführen.2496

„Noch jetzt“, schrieb Hebbel ein weiteres Jahr später in einer werkbiographischen Selbstauskunft an Saint-René Taillandier, bilde Dithmarschen „einen für die Cultur fast verlorenen Winkel“ [WAB 2, 525], um selbst-bewußt hinzuzufügen: „In diesem Dithmarschen bin ich geboren“ [WAB 2, 525]. Seine Heimat charakterisierte er vornehmlich dadurch, daß Literatur und Literalität gleichermaßen dort quasi fremd seien: Uebrigens kann Keiner, der in einer großen, an Bildungsmitteln überreichen Stadt aufwuchs, sich eine Vorstellung davon machen, wie einem strebenden Geist, einem erwachenden Talent in der Einöde eines Dithmarsischen Marktfleckens, den die Cultur nur in MaculaturGestalt berührt, zu Muthe ist. Jedes Buch, das der Zufall dahin verschlägt, ist ein Ereigniß; aus dem Liede, das ein durchreisender Handwerksbursche singt oder pfeift, erfährt man die Existenz eines großen Dichters, von dem man bis dahin Nichts wußte; ja sogar der Orgelkasten kommt, des begleitenden Textes wegen, mit in Betracht [WAB 2, 548].

Dichtung, die gepfiffen und georgelt wird; Kultur aus Makulatur, aus Zufall und als Abfall nach Wesselburen verschlagen – der satirische Tenor von Hebbels Aussage ist nicht zu verkennen.2497 Doch der Eindruck von „Einöde“ und Unberührtheit bestand nur der reinen Papier-Form nach. Denn unterhalb der literalen „Cultur“ kamen hier zugleich sub-kulturelle Praktiken zum Vorschein, die das triste Bild halbwegs versöhnlich zur jean-paulischen Idylle, man denkt an Fibel oder Wutz, aufhellten. In seiner Selbstbiographie für Karl Goedeke sprach Hebbel weitere Aspekte volkskultureller Prägungen an: Bei einer höchst dürftigen Lectüre zog ich in jener Zeit fast meine ganze Bildung aus der Bibel, die ich viel las; auch die Geschichte meines Vaterlandes, weniger, wie sie von den Chronisten erzählt wird, als wie sie abgerissen und geheimnißvoll als Tradition im Volke lebt, wirkte gewaltig auf mich, und da sich wohl Niemand von den Jugend-Eindrücken wieder befreit, so glaube ich nicht zu irren, wenn ich dies beklommen-düsterbiblische und dies trotzige gestalten-kühne dithmarsische Element als die beiden eigentlichen Factoren meiner Poesie betrachte [WAB 1, 456f].

Indem Hebbel sich hier positiv auf archaische Prägungen oraler und semioraler Form berief, kehrte er Stoßrichtung seiner Argumentation geradezu um. In jugendlich 2496 2497

WAB 2, 233. Hervorhebungen C. S. Es versteht sich, daß Hebbel die wenigen Wesselburener Honoratioren hier außer acht läßt. Vor Johann Jakob Mohr hatte etwa bereits der schriftstellernde Pastor Friedrich Karl Volckmar eine beachtliche Büchersammlung zusammengetragen, die sich aus dem handschriftlichen BücherCatalog aus dem Nachlaß des Herrn Pastor Volkmar von 1814 sogar rekonstruieren läßt. Der im Hebbel-Museum befindliche Katalog [Signatur 16a028] umfaßt 520 Nummern, dazu 17 Musikalien. Neben 43, meist lateinischen Foliobänden werden 124 lateinische, 38 „griechische“ (evtl. in lateinischer Übersetzung?), 28 französische und 33 englische Bücher gesondert aufgeführt. Das Spektrum reicht von Aristoteles und Plautus über Helmold von Bosau bis zu Samuel Pufendorf, Gibbon und ‚Ossian‘. Eine detaillierte Auswertung des Verzeichnisses wäre ein interessanter Beitrag zur Geschichte der Buchkultur der Zeit.

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anmutendem Überschwang gab er sich ein entschieden traditionales geistiges Profil – im Widerspruch zu dem sonstigen Lamento über „Einöde“ und Weltferne. Und die Klage anläßlich seines dreißigsten Geburtstages, er sei überhaupt erst seit seinem 22. Lebensjahr in der Welt, sollte sich in einem autobiographischen Brief an Arnold Ruge in eine gewisse Genugtuung verwandeln: „Jedenfalls blieb ich lange genug in dem Lande, um mich von allen seinen Elementen durchdringen zu lassen“, meinte er und fügte stolz hinzu: „Ich habe seit meinem 22sten Jahre, wo ich den gelehrten Weg einschlug und alle bis dahin versäumten Stationen nachholte, nicht eine einzige wirklich neue Idee gewonnen; Alles, was ich schon mehr oder weniger dunkel ahnte, ist in mir nur weiter entwickelt und links und rechts bestätigt oder bestritten worden“ [WAB 2, 549]. Was bei aller Versöhnlichkeit blieb, war der Gegensatz: Hier ursprüngliche „Natur“, altertümlicher Leierkasten und Archaisch-„Düsterbiblisches“ – dort Bücher, moderne „Wissenschaften“, „Welt“ und „Cultur“: Wie waren diese polaren Aspekte der Kulturisation miteinander zu vereinbaren? Verspätet stand Hebbel vor einem Problem, mit dem ein halbes Jahrhundert früher Johann Gottfried Herder noch die ganze „Nation“ konfrontiert gesehen hatte und das Heinrich Bosse so reformulierte: Die Ungebildeten haben keine Kultur, die Gebildeten haben keine eigene Kultur. Die beiden Teile sind zur Einheit der eigenen Kultur zu integrieren […]. Eine Nation wachzurufen, damit sie zu sich selber komme, ist im positiven Sinne Bildungsarbeit an den unteren Ständen, die auch deshalb ehrwürdig sind, weil sie den nationalen Charakter ursprünglicher bewahrt haben. […] Ähnlich wie die ganze Nation ist auch der einzelne Mensch ein Individuum, das es selbst und (noch) nicht es selbst ist, und das aus diesem Widerspruch heraus sich entwickelt.2498

Hebbels Not, gleichfalls aus den „unteren Ständen“ zu stammen, ließ sich nach dem Muster der Herderschen Denkfigur zur Tugend wandeln. Wer „keine Kultur“ besaß, konnte um so mehr „Charakter“ haben; für Herder schloß gar die Suche nach der „unverfälschten Muttersprache“ die „Ablehnung gelehrter Poesie fast zwangsläufig in sich“.2499 Jochen Schmidt wies freilich darauf hin, daß schon bei Herder „das Verlangen nach genuinem Dasein und genialem Schaffen die Folge eines Rückstoßes“2500 gewesen sei. Die Genie-Ideologie war demnach keine „frisch- und frohgemute Bewegung voller Spontaneität“, sondern geprägt von einem „Reaktionscharakter“. An Hebbels wechselhafter Bewertung der eigenen Kulturisation ist indes abzulesen, daß der positiv-reagierenden Bezugnahme auf die Volkskultur, eine frühere Abwehrreaktion, eine Verneinung der hier wirklich noch primären Prägungen vorausging, die Dialektik bei ihm also eine doppelte war. Angesichts solcher Verschränkung erstaunt, daß der Sturm und Drang-Topos von der „Ursprünglichkeit‘ des „Naturdichters“ weithin unkritisch und ungebrochen von der Hebbel-Biographik übernommen wurde. Dies lag auch daran, daß man von Hebbels früher literarischer Kulturisation lange nur ein dürftiges Bild besaß. So neigte die BOSSE, Herder, S. 79. GRIMM, Einleitung. Zwischen Beruf und Berufung – Aspekte und Aporien des modernen Dichterbildes, S. 12. 2500 Dieses und die folgenden Zitate: SCHMIDT, Geschichte des Genie-Gedankens, Bd 1, S. 121. 2498 2499

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ältere Literatur zu der unreflektierten Sicht, die wundersame Entpuppung des Dithmarschers zum Dichter sei allein seiner genialen Persönlichkeit zu verdanken. „Viel war es nicht, was sich ihm an Lesestoff darbot; umso inniger konnte er sich in das Wenige vertiefen“,2501 meinte Achim von Winterfeld und bekannte: „Wir können uns also über die geringe Auswahl, die Hebbel zu Gebote stand, nur freuen, da ja eine Überfütterung mit Lesestoff nur schädlich und verdummend wirkt, indem sie den Geist von eigenem Denken, von selbständigen Ansichten zurückhält und so zu einem armseligen Nachdenker fremder Gedanken macht.“ Kurt Küchler wunderte sich: „Wir wissen nicht, woher er das Material nahm, an dem sein Geist reifte“, aber „plötzlich werden wir staunend gewahr, wie dieser junge Geist, dessen Wachstum uns nur spärliche Lichter erhellen, selber zu schaffen beginnt […]. Wir stehen plötzlich vor einem Dichter […] – und wir wissen nur, daß dieser Mensch aus dem Dunklen kommt.“2502 Folglich unterstellte er eine „Ursprünglichkeit des Denkens, d. h. Wurzelung alles Denkens in jungfräulich frischem, von der Kultur der Zeit unberührtem Boden“,2503 so als hätte es vor und neben der „Kultur der Zeit“ keine andere gegeben. Adolf Stern konstatierte, „daß der Dichter ein selbstgemachter Mann in der höchsten und besten, aber auch in der verzweifeltsten Bedeutung des Wortes war. Alles, was in seinem Leben tüchtig, mächtig […] wurde, erwuchs aus dem innersten Kern seines Wesens, der bei jedem bedeutenden Menschen unabhängig von der Einwirkung der Außenwelt wenigstens scheint.“2504 Gegenüber solchen Tendenzen zur Mythisierung betonte Paul Bornstein: „Es liegt in der Natur der autodidaktischen Entwicklung Hebbels notwendig begründet, daß neben das Urerleben, nicht minder elementar und intensiv als dieses, das Bildungserlebnis tritt“ [DjH I, XIf.]. Auch Richard Maria Werner sowie später Wolfgang Liepe, Wolfgang Wittkowski und Heinz Stolte versuchten in verstärktem Maße, den literarischen und geistesgeschichtlichen Hintergrund des jungen Hebbel zu rekonstruieren, und förderten, wenn auch nicht für seine Schulzeit bei Dethlefsen, so doch für die Schreiberjahre beim Kirchspielvogt Mohr, eine stattliche Reihe geistiger und literarischer Vorbilder zutage. Unter diesen Vorzeichen standen auch die stilistischen Werkanalysen: „Der geistesgeschichtliche Standort Hebbels, der einerseits Epigone der Klassik ist, andererseits Vorläufer des späten 19. Jahrhunderts, bezeichnet auch sein Verhältnis zu Wort und Sprache“,2505 urteilte Rainer Gruenter apodiktisch über Hebbels ästhetische Theorie des Wortes. Marie Luise Gansberg wollte in einem Aufsatz Zur Sprache in Hebbels Dramen in erster Linie „den Sprachwandel um das Symboljahr 1848, sowie das komplizierte Verhältnis zur dominierenden literarischen Strömung der 50er Jahre, dem Realismus, präzisieren“.2506 Demgegenüber meinte August Langen, der Individualstil Hebbels sei „durch fremde Vorbilder und ‚Einflüsse‘ nicht sonderlich stark bestimmt“,2507 und stellte den Sinn literaturhistorischer Stilvergleiche grundsätzlich in Frage: „Die Summe der in Einzeluntersuchungen erwieDieses und das folgende Zitat: WINTERFELD, Friedrich Hebbel, S. 30. KÜCHLER, Friedrich Hebbel, S. 12f. 2503 Ebd., S. 15f. 2504 STERN, Friedrich Hebbel, S. VIIf. 2505 GRUENTER, Hebbels ästhetische Theorie des Wortes, S. 372. 2506 GANSBERG, Zur Sprache in Hebbels Dramen, S. 59. 2507 Dieses und das folgende Zitat: LANGEN, Deutsche Sprachgeschichte, Sp. 1442f. 2501 2502

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senen Beziehungen und Gemeinsamkeiten [mit anderen Autoren] ordnet Hebbels Dramatik stilgeschichtlich ein, berührt aber nicht den Kern seines Persönlichkeitsstils“. Herbert Kraft vertrat gar die Ansicht, Hebbels Sprache ließe sich „am ehesten kennzeichnen als Negation der ‚dichterischen‘ Möglichkeiten der Sprache bis zur Neutralität“.2508 Während Kraft dabei von einem konstanten „Dauerton“2509 ausging, machte Marie Luise Gansberg neben epigonalen und neutralen Anteilen immerhin auch ein „experimentelle[s] Schwanken in Hebbels Stil“2510 aus. Erklärungsbedürftig bleibt vor diesem Hintergrund das dezidierte Beharren des gereiften Hebbel darauf, daß volkstümliche Kulturtraditionen so „gewaltig“ und nachhaltig auf ihn gewirkt hätten, daß er sie als die „eigentlichen Factoren“ seiner Poesie ansehe. Nimmt man dies ernst, reicht es weder, die vermeintliche tabula rasa der Dithmarscher „Einöde“ nach Prägungen abzusuchen, die Hebbel den früh- oder doch rechtzeitigen Anschluß an die literarische Kultur ermöglichten, noch, die These vom naiven „Naturdichter“ zu wiederholen, die Hebbel mit – zwar spärlichen – Hinweisen wenigstens relativierte. In den Blick zu nehmen ist demgegenüber das unübersichtliche Feld der oralen bzw. semiliteralen Volkskultur. Damit hat sich die Hebbel-Forschung besonders schwergetan, nicht nur aufgrund der kärglichen Überlieferungslage, sondern auch aufgrund des medien- und mentalitätsgeschichtlichen Abstands. Richard Maria Werner konnte hier nur die Zeichen trister Beschränkung sehen, nicht aber eine positive Form der Kulturisation: „Außer der Postille und dem Gesangbuch sollte keine Zeile gelesen werden, profane Bilder waren verpönt, und als sich Hebbel einmal beim heimlichen Genuß des Volksbuchs von den Schildbürgern betreten ließ, wanderte das Buch, wie eine gefährliche Schlange, ins Feuer. Es waren traurige Zeiten!“2511 Eine konkrete Vorstellung von der heterogenen und schillernden Buntheit der Volkskultur besaß Werner augenscheinlich nicht. In anderer Weise pauschalisierend fielen die Bewertungen der dem völkischen bzw. ‚heimatkundlichen‘ Spektrum zuzuordnenden Autoren wie Adolf Bartels, Detlef Cölln und Christian Jenssen aus. Sie blähten das ‚Dithmarschertum‘ Hebbels emphatisch zu einem allumfassenden – und dadurch entleerten – Konzept auf, das noch nach 1945 oft beschworen, kaum überprüft wurde. August Langen hielt sich dagegen an das Beobachtbare und beschränkte sich dabei – seinem sprachgeschichtlichen Interesse entsprechend – auf die Registrierung stilistischer Phänomene wie mundartlicher „Einsprengsel“,2512 „zahlreicher Vulgarismen“2513 und „stilstörende[r] Wendungen aus der Umgangssprache“, die er vage „auf Rechnung von Hebbels ländlicher Herkunft, seines Autodidaktentums und wohl auch des offenbaren Mangels an sprachschöpferischer Ursprünglichkeit“2514 setzte. Herbert Kraft wiederum warnte mit direktem Bezug auf Langen, diese Erscheinungen dürften „nicht überbewertet werden“.2515 KRAFT, Poesie der Idee, S. 75. Ebd., S. 63. 2510 GANSBERG, Zur Sprache in Hebbels Dramen, S. 59. 2511 WERNER, Friedrich Hebbel. Ein Lebensbild, S. 27. 2512 LANGEN, Deutsche Sprachgeschichte, Sp. 1441. 2513 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., Sp. 1442. 2514 Ebd., Sp. 1441. 2515 KRAFT, Poesie der Idee, S. 68. 2508 2509

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Daß die lokale, orale wie semiorale Volkskultur insgesamt in ihrer Bedeutung für Hebbel bis heute noch keine gerechte Würdigung erfahren hat, mag weiterhin wissenschaftsdisziplinäre Gründe haben. Zumal der Literaturwissenschaft muß ein Ansatz fernliegen, der die Bedeutung von Literalität und (Hoch-)Literatur für den Kulturisationsprozeß – ausgerechnet eines Dichters – relativieren könnte. Die kritischen Bemerkungen des Volkskundlers Helmut Müller lassen sich auch auf die Hebbelforschung beziehen: Es könnte nun sein, daß mit der bisherigen Fragestellung Kriterien an die kleinbürgerliche Welt herangetragen wurden, die ihr nicht ohne weiteres angemessen sind, und daß die Suche nach Literarischem wesentliche Bildungselemente gar nicht in den Blick kommen ließ, wofür schon das Übergewicht des gesprochenen Wortes im Alltags- und Arbeitsleben des Kleinbürgers spricht. Das beginnt mit den Märchen, Sagen und Geschichten, die den Kindern im Familienkreis erzählt wurden, und ihr Beitrag zur Formung ihrer Vorstellungswelt läßt sich gewiß nicht auf das Negative reduzieren.2516

Was Möller mit dem Erzählen im Familienkreis beginnen läßt, setzt sich im halböffentlichen und öffentlichen Raum fort: Hebbel selbst erwähnte biblische Geschichten, historische Volkserzählungen, verwies auf Drehorgelspieler und wandernde Handwerksburschen, hinzu kamen hausierende Lied-, Flugblatt- und Kalenderverkäufer, Rezitateure mit Raritäten-, Guckkasten oder vielleicht einer Laterna magica, Bänkelsänger und Schauspieltruppen. Damit deutet sich nicht nur ein reiches Spektrum an, sondern auch die Tatsache, daß „schon die traditionelle Lebenswelt […] nicht eigentlich geschlossen, sondern immer schon quasi ‚überfremdet‘ [ist], in ständiger Auseinandersetzung mit Herrschaft und Bildungswelt“.2517 Wenn hier von ‚Sub‘oder ‚Volkskultur‘ die Rede ist, dann also in einem weiteren, sehr heterogene Formen umfassenden Sinn. Insofern gibt Rainer S. Elkar mit Recht zu bedenken: „All jene Einflüsse, wie sie durch Erzählungen in der Familie, Bilderbogen, Bücher, Lieder der Bänkelsänger und Stücke der Puppenspieler in den Sozialisationsprozeß eingingen, stehen als weitaus weniger gebündelte und geordnete Erziehungsfaktoren den zielgerichteten Bemühungen des häuslichen und ersten schulischen Unterrichtes gegenüber“.2518 Gerade darum fordert er in seiner Untersuchung über Das schleswigholsteinische Bildungsbürgertum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Bezug auf diese Faktoren: „Ihre Einflußmöglichkeiten sind gegeneinander abzuwägen, um Aufschluß über ihre Wirksamkeit zu erhalten.“ Das gilt auch im Fall Hebbels. Gewiß: Die Heterogenität, die teils unbewußt stattfindende Prägung innerhalb des gesamten Lebenszusammenhangs, und die Dialektik von Abwehr und Vereinnahmung erschweren es auch bei Hebbel, die Wirksamkeit des oralen und semioralen Kulturguts ‚objektiv‘ einzuschätzen. Entsprechend wurden diese Prägungen bislang nur anekdotisch oder in stoffgeschichtlichem Kontext angesprochen. Emil Kuh meinte, etwas davon in Hebbels Verhaltensweisen direkt wiederzuerkennen, wenn er schrieb: „Lustig schoß die Prahlsucht seiner Landsleute, die das dithmarsische Lügenmärchen MÖLLER, Die kleinbürgerliche Familie, S. 252. BAUSINGER, Traditionale Welten, S. 277. 2518 Dieses und das folgende Zitat: ELKAR, Junges Deutschland, S. 135f. 2516 2517

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so schalkhaft gezeichnet hat, bei ihm in den Halm“.2519 Auf stofflicher Ebene genügte Kuh ein Blick auf die Werke, um die heldisch-grausige Dithmarscher Historie, teils in exotischer Verkleidung, wiederzuentdecken: „Die Derbheit und den Übermut [hält] der dramatische Entwurf: Die Dithmarscher [fest]; während wir den blutbesprengten steinernen Altar, den Götzendienst und Opferhain der düsteren Heimatsage in den Szenen seines Moloch wieder erkennen.“ Überhaupt schienen Kuh „die Bilder des überschwenglich Erhabenen und des humoristisch Gräßlichen“ der Sagen am „bezeichnendsten […] und wie das volkstümliche Vorgesicht der Phantasie Hebbels“.2520 Interessant sind hier Kuhs heterogene begriffliche Verknüpfungen, die erkennbar das volkskulturelle Merkmal des jähen Umschlags einzufangen suchen. Weit unspezifischer ist dagegen die Formulierung Richard Maria Werners, der mit Blick auf das mündliche Erzählgut schrieb: „Alles war dazu angetan, auf die Phantasie zu wirken, und diese war bei Christian Friedrich schon von Natur aus besonders erregt“.2521 Doch solche sporadischen Betrachtungen führen nicht grundsätzlich weiter. Notwendig ist vielmehr die differenzierte Interpretation der subliterarischen Traditionen im Rahmen ihres medialen und mentalitätsgeschichtlichen Kontextes und insbesondere die Frage nach den Auswirkungen auf Hebbels kreativitätspsychologische Disposition.

Orales und Semiorales In seinem Brief an Taillandier, in dem Hebbel von der Dithmarscher ‚MakulaturKultur‘ berichtete, klammerte er die rein mündlichen Erzähltraditionen des familiären und nachbarschaftlichen Umfelds von vornherein aus. Märchen, Sagen oder Schwänke, Volkslieder, von Gesang begleitete Umzüge wie Heischegänge, Neujahrsoder Leichenaussingen2522 kamen als „Cultur“ nicht einmal in Betracht. Daß selbst die Zimmerleute, die gegenüber von Hebbels Elternhaus ihren Arbeitsplatz hatten, Abend für Abend „pfiffen und sangen“ [W 15, 31], oder auch „Johann Walters Gesang“ [W 15, 8], wohl das allabendliche Lied des Nachtwächters, überliefert Hebbel nur beiläufig. Vielleicht mehr noch als das Liedgut stellten gesellige Erzählformen eine besonders vielfältige, allgegenwärtige Wirklichkeit dar, wie Joachim Hartig ausführt: Wir sind kaum noch in der Lage, uns die Bedeutung der in damaliger Zeit allerorts geübten Kunst des Erzählens zu vergegenwärtigen. Erzählt wurde überall, wo Menschen beieinander waren und ihre Konzentrationskraft nicht durch eine bestimmte Arbeit absorbiert war, also bei leichteren Tätigkeiten in der Familie oder im kleinen Handwerksbetrieb, beim Ausruhen während der Arbeitspausen, zur bereits genannten Dämmerstunde, beim Schoppen im Gasthaus, im Reisewagen, in vertrauter Runde, in zufälliger Gesellschaft.2523 Dieses und das folgende Zitat: KUH, Biographie, Bd 1, S. 130. Ebd., S. 72. 2521 WERNER, Friedrich Hebbel. Ein Lebensbild, S. 25, Hervorhebung C. S. 2522 Vgl. etwa Max Kuckeis Sammlung Volkslieder aus Dithmarschen. 2523 HARTIG, Von der Kunst volkstümlichen Erzählens, S. 15f. 2519 2520

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Von dieser laut Hartig „allerorts geübten Kunst“ sprach Hebbel gleichfalls nur ganz selten und beiläufig. Dabei wußte sogar Emil Kuh über Dithmarschen zu berichten: „Märchenerzähler, einst überaus zahlreich, so daß sonst auf keinem Hofe solch ein Fabelmund fehlte, existierten noch in Hebbels Jugend viele, besonders unter dem Gesinde“.2524 Nur wenige von ihnen lassen sich namhaft machen. Da gab es die von Hebbel selbst eindringlich geschilderte Nachbarin Meta mit ihren Hexen- und Gespenstergeschichten,2525 den Spökenkieker Struve mit seinen Visionen, die abenteuerlichen Brüder des Nachbarn Ohl mit ihren Horrormärchen „von Räubern und Mördern“ [W 8, 87], aber auch „Bordell-Gespräche“ [W 5, 12] unter Wesselburener Bürgersleuten. Generell nahm „das Zusammenleben mit anderen Parteien […] auf die Kinder keine Rücksicht, man erzählte sogar Zoten vor ihnen“,2526 meinte Richard Maria Werner. Während Hebbel der Darstellung des religiösen Austausches mit der Mutter recht breiten Raum widmete, ist von ihr als Erzählerin eigenartigerweise nirgends die Rede. Anders die Mutterfigur in seinen fiktionalen Texten: In Mutter und Kind ist sie es, die „im Winter, bei’m Schein der erlöschenden Lampe […] die Thaten des Besenstieles erzählte“;2527 in Die einsamen Kinder erinnert sich einer der Brüder, „daß seine Mutter ihm oft von Menschen erzählt hatte, die ein Bündniß mit dem Teufel gemacht und dadurch Alles erlangt hätten, was ihr Herz begehrt habe“ [DjH II, 79]; und den im gleichen Märchen erwähnten „Rabenstein, von welchem die Mutter ihm oft in langen Winter-Abenden erzählt hatte, wenn er den Bruder in heftigem Jähzorn gescholten oder geschlagen“ [DjH II, 71], identifizierte Bornstein als „offenbar autobiographisch“.2528 Von solch ‚dunklen‘ Stellen sollte das Bild Antje Hebbels offenbar reingehalten werden. Ähnlich wortkarg war Hebbel über seinen Vater. „[D]er Vater nimmt den Sohn gerne auf’s Knie und erzählt ihm von den Schlägen, die die Dänen bekommen haben“ [WAB 2, 548], schrieb er im autobiographischen Brief an Arnold Ruge – und vermied es, direkt von seinem Vater zu sprechen. Nur ein einziges Mal und scheinbar unbeteiligt erwähnte er, daß „man“ an Claus Hebbel „die Gabe [rühmte,] Märchen zu erzählen“ [W 8, 82]. Lag Hebbels Schweigen darüber nur daran, daß „viele Jahre [vergingen], ehe wir sie mit eigenen Ohren kennen lernten“ [W 8, 82], wie der enttäuschte Sohn klagte? Oder sollte es für einen ‚echten‘ Dichter schlicht irrelevant sein, daß der Vater ein „beliebter Märchenerzähler“2529 gewesen war? Nur teilweise war das sprachliche Volksgut von reiner Mündlichkeit geprägt; weitere semiorale bzw. semiliterale Übergangsformen traten hinzu, die nicht genuine ‚Volksdichtung‘ darstellten, sondern oftmals Gebrauchs- und Auftragstexte, die – von den Obrigkeiten befördert oder geduldet – für das Volk produziert und distribuiert wurden. Das Vorlesen aus der Postille, die Predigt in der Kirche, der katechetische UnterKUH, Biographie, Bd 1, S. 71. Vgl. W 8, 85f. 2526 WERNER, Friedrich Hebbel. Ein Lebensbild, S. 28. 2527 W 8, 320. „Vgl. Aufz. a. m. Leben (S. 145); hier ist es die Tagelöhnerin Meta, welche die Mär vom Besenstiel berichtet“ [DjH I, 249]. 2528 DjH I, 249. Vgl. auch Hebbels Kindheitserinnerung den Meldorfer „Galgenberg, der mich […] als ich ihn in der Dämmerung abseits liegen sah, schauerlich angezogen hatte“ [T 2523] 2529 WERNER, Friedrich Hebbel. Ein Lebensbild, S. 24. 2524 2525

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richt in der Schule sind bereits in den vorausgegangenen Kapiteln thematisiert worden. Doch damit ist der Stoff- und Formenkanon noch nicht ausgeschritten. Schon im Mittelalter traten auf Jahrmärkten, Festen oder im Umfeld von Schauprozessen Spielleute, Gaukler, Händler mit Flugblättern und Sensationsberichten sowie Zeitungssinger auf. Von einem erhöhten Standort aus deklamierten sie bzw. priesen ihre Druckwerke an; später machten sie zusätzlich mit einem Schild oder instrumentaler Begleitung auf sich aufmerksam.2530 Damit sind die Requisiten beisammen, mit denen auch die Bänkelsänger bis weit ins 20. Jahrhundert hinein agierten: Auf einem Podest, dem Bänkel, standen sie vor ihren „knapp 2 mal 3 Meter großen Moritatentafeln“,2531 die oft von halbwüchsigen Kindern an einer Stange gehalten, später auch montiert wurden. Diese Schilder veranschaulichten – als Simultanbild oder in Einzeldarstellungen zerlegt – eine Geschichte, die nach einem „fest etablierten Darbietungsschema“2532 vorgetragen wurde: Ein kurzes Lied, meist von der Frau gesungen und von Drehorgelmusik untermalt, stimmte die Zuhörerschaft auf die folgende, vorzugsweise von dem Mann rezitierte Prosaerzählung ein. Bei seinem Vortrag deutete der Bänkelsänger mit seinem Zeigestock jeweils auf die entsprechenden Bildfelder seines Schildes. Bereits während des Vortrags begannen die Frau oder Gehilfen, gedruckte Moritatentexte zu verkaufen. Diese behandelten in der Reihenfolge von erst Prosa und dann Lied ausführlicher den eben in Bild und Ton vorgetragenen Stoff. Der Verkauf dieser Blätter oder Hefte war häufig die einzige Einnahmequelle der Bänkelsänger (Abbildung 24).

In der Multimedialität des Bänkelsangs kulminierte die vormoderne Ausdrucksästhetik: „Die Verbindung von bildlicher Darstellung, deklamatorischer Erzählung, gesungenem Lied und gedruckten Texten bedeutet eine geschickte Steigerung der darstellerischen Mittel, die beim Jahrmarktspublikum eine starke Wirkung zu erzielen vermochten.“2533 Daneben gab es Schrumpfformen; sei es, daß Drehorgelspieler ohne Moritatenschilder lediglich Liedzettel verkauften, sei es, daß die Blätter „einfach von hausierenden Händlern und Bettlern“2534 vertrieben wurden. Während der Bänkelsang „davon lebt, auf dem Marktplatz aufgeführt zu werden“,2535 stellte der Hausierhandel mit Druckerzeugnissen gleichfalls einen „wichtigen Distributionsweg dar, der zeitweise wahrscheinlich den Marktverkauf durch den Bänkelsänger übertroffen haben dürfte“.2536 Doch standen orale und literale Rezeption, Hören und Singen, Lesen und Weitererzählen in einer engen Wechselbeziehung: Die Rezipienten – neben „Handwerkern […] städtisches Hauspersonal, aber auch Knechte und Mägde vom Land“2537 sowie Kinder2538 – wandten den Liedern „ein über den einmaligen Auftritt hinausVgl. dazu EICHLER, Einführung – Bänkelsang und Moritat, S. 14–18. KOHLMANN, Bevor die Bilder laufen lernten, S. [2]. 2532 Dieses und das folgende Zitat: EICHLER, Einführung – Bänkelsang und Moritat, S. 11. 2533 KOHLMANN, Bevor die Bilder laufen lernten, S. [2]. 2534 HIRSCHBERG, Moritat und Justiz, S. 28. 2535 BRAUNGART, Nachwort, S. 391. 2536 PETZOLDT, Über das Problem der Ungleichzeitigkeit, S. 47. 2537 Ebd., S. 49. 2538 Vgl. HIRSCHBERG, Die Kinder und der Bänkelsang, S. 52. 2530 2531

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gehendes Interesse“2539 zu und wurden selbst zu Reproduzierenden. So war es auch in Wesselburen, zum Leidwesen der Pastoren. Ausgerechnet während seiner Predigt, so klagte Hauptpastor Meyn im Jahr 1821, „soll auch Jemand auf dem Kirchhofe Lieder feil geboten haben, und manche davon gleich nach dem Gottesdienste abgesungen seyn“.2540 Wer die Leierkastenspieler, Bänkelsänger, fahrenden Künstler und sonstigen Schausteller waren, deren Auftritte in Wesselburen eine nachhaltige Faszination auf den jungen Friedrich Hebbel ausgeübt haben müssen – auch darüber erfahren wir von ihm fast nichts. Doch hat es unter ihnen rechte Exoten gegeben, deren Hebbel in seinen Notizen zur Biographie wenigstens in äußerster Kürze gedachte – so der Namen „Claude Makorio, Carl Grumbach“ [W 15, 9]; auch sein „Einschleichen bei Block“ [W 15, 8] hielt er fest. Nur wenig konnten die Biogaphen über sie in Erfahrung bringen. Block war ein „‘Kunstmacher‘, Schattenspieler in W[esselburen]“;2541 Grumbach „ist älteren Wesselburenern als herumziehender Kunstreiter bekannt“2542; „seinem Namen nach wird auch Claude Marcorio so etwas wie ein fahrender Künstler gewesen sein“ [DjH I, 253]. Der Name Marcorio tauchte auch in Hebbels frühem Mirandola wieder auf. Noch das 1837 entstandene Gedicht Der blinde Orgelspieler [W 7, 154] ist eine zartfühlende, pietätvolle Hommage an ihn, der „[u]ns das tiefste Gefühl“ erweckt; eine frühere Produktion über „den blinden Musicanten“ [WAB 1, 198] ist nicht mehr erhalten. Wahrscheinlich kannte Hebbel auch „Wilhelm Reimers, angeblich aus guter Familie in Meldorf oder Marne“,2543 der als „Orgeldreher und später im Besitze eines Kasperletheaters […] in ganz Schleswig-Holstein bekannt“ war und dem Klaus Groths Gedicht Orgeldreier so auf den Leib geschrieben schien, daß Reimers sich bei Groth bedankte, darin „verewigt zu sein“. Auch Hebbel stand diese Figur ‚lebhaft‘ vor Augen: „Ich werde nie vergessen, wie Hebbel den Orgeldreier vorgelesen“ [HP II, 303], erinnerte sich sein Wiener Freund Eduard Kulke. Auch vom Weltwissen des jungen Hebbel lassen sich immerhin gewisse Rückschlüsse auf semiliterale Informationsquellen ziehen. Von dem Dithmarscher Nationalhelden Wulf Isebrant erzählten traditionell Volkslieder, Chroniken, die in wenigen Abschriften von Hand überliefert waren, und vor allem die Menschen selber. Napoleon war eine weitere Identifikationsfigur des jungen Hebbel. Seinetwegen waren einst „die Wehrufe des getretenen Hamburgs in die Herzogtümer herüber gedrungen“,2544 wie Kuh schrieb – man kann sich einen vielstimmigen Chor aus Erzählungen von Augenzeugen, Zeitungsberichten, Bänkelliedern, Kalendergeschichten u. ä. vorstellen. Von Struensee, über Jahrzehnte Gegenstand des öffentlichen Interesses, wußte Kuh, daß „dessen entstellte Züge die Verleumdung aus Kopenhagen auch nach Dithmarschen herübergetragen hatte. Friedrich hielt als Knabe vergilbte Exemplare der PETZOLDT, Über das Problem der Ungleichzeitigkeit, S. 49. MEYN an die Kirchenvisitatoren in Norderdithmarschen [am 4.9.1821]. La. S-H, Abt. 101 IV, C I, Nr. 355. 2541 Anmerkung von Hermann Krumm in: HEBBEL, Sämtliche Werke. Vollständige Ausgabe, Bd 11, S. 431. 2542 Ebd., S. 432 2543 Dieses und die folgenden Zitate: GROTH, Quickborn, Erster Teil, Anmerkungen, S. 369. 2544 Dieses und das folgende Zitat: KUH, Biographie, Bd 1, S. 53. 2539 2540

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vor mehr als einem halben Jahrhundert vom Adel ausgestreuten Flugblätter in der Hand, welche, sorgfältig aufbewahrt, von Geschlecht auf Geschlecht wie ein Evangelium übergegangen waren.“ Um sie herum rankte sich in immer neuen Verästelungen die mündliche Überlieferung; Hebbel spielte zeitweise mit dem Stoff [W 5, 267–269]. Das Schauspiel bewegt sich gleichfalls im Übergangsbereich von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Aktualgenese und Rezeption geschehen im Rahmen einer oralen Kommunikationssituation; der gesprochene Text kann auf einer schriftlichen Vorlage basieren, oder mündlich weitergegeben und memoriert, oder aber spontan improvisiert sein. Nicht zuletzt von diesen medialen Gegebenheiten hängt ab, ob ein Schauspiel eher der Populär- oder der Elitekultur zuzurechnen ist. Klaus Groth hielt es für möglich, daß Hebbel „schon als Knabe ein wanderndes Puppentheater in Wesselburen oder Neuenkirchen gesehen“ habe, auch wenn im großen und ganzen deren „Saison schon vorüber“2545 gewesen sei. So blieb sein Gedanke eher spekulativ. Er selbst kannte aus Heide immerhin „dat splinternie Poppenspill, [/] Wat Wilhelm Reimers Heider Permark wis’“.2546 Aus dem Wesselburen unmittelbar benachbarten Dorf Reinsbüttel ist indes ein hübscher Beleg dem eifernden Pastor Meyn zu verdanken, der noch 1837 rapportierte, daß „neulich ein Marionetten Spieler am Sonnabend Abend, die dasigen Einwohner zu seinen obscönen Vorstellungen eingeladen, und in dieser Nacht zahlreichen Zuspruch gehabt“.2547 Während die Zuschauer sich köstlich amüsierten, sah der hochwürdige Mann für ihre Seelen schwarz: „Wenn solchem und ähnlichem Unfuge nicht bald ernstlich gesteuert wird, so werden die daraus entstehenden schrecklichen Folgen immer weiter um sich greifen und der religiöse Sinn immer mehr erlöschen“. Was sich in seinen Kassandrarufen ankündigte, war jedoch etwas anderes: die beabsichtigte Auslöschung der vitalen mündlichen Kultur. Verbreitet war das laienhafte ‚Bauerntheater‘. Ernst Schlee dokumentiert einen Fall aus dem Dezember 1832, bei dem sich „die Tagelöhner Friedrich Köster, Marx Claus Hansen und die Brüder Wäsch, alle im Kirchspiel Lunden wohnhaft, persönlich auf Gottorp um die Erlaubnis [bewarben], ein Spiel von David und Goliath aufzuführen. Sie nannten es eine ‚biblische Szene‘ und wollten damit in ihrem Kirchspiel hausieren gehen, indem sie es ‚durch Gesang, Reden und Gesten‘ aufführten“.2548 Das Gesuch gab Anlaß zu einem kontrovers geführten amtlichen Briefwechsel, bei dem der Heider Landvogt Griebel seine Zustimmung zu dem saisonalen Nebenerwerb der Tagelöhner versagte: „Ein hausierendes, gemeinschaftliches Herumziehen wird sie der Tätigkeit noch mehr entwöhnen und sie noch mehr entsittlichen. Aus einer Komödiantengesellschaft wird bald eine Bande von Malefikanten werden“. Trotz des Verbots in diesem konkreten Fall kann kein Zweifel bestehen, daß das Dorftheater im halbprivaten Bereich, etwa auf den Dielen der Bauernhäuser, weit verbreitet und noch GROTH, Friedrich Hebbels Jugendjahre, S. 142. GROTH, Quickborn, Erster Teil, S. 107. 2547 Dieses und das folgende Zitat: MEYN, Bericht zur Generalkirchenvisitation an Generalsuperintendent Herzbruch. LA S-H, Abt. 19, 111/1. 2548 SCHLEE, Ein altes Volksschaupiel, S. 38. Dort auch das folgende Zitat. 2545 2546

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lange lebendig war. So ist aus dem Jahr 1860 eine Aufführung von Goliath und David in Nordhackstedt bezeugt, das in der Lundener Tradition stand;2549 Gustav Frenssen erinnerte sich lebhaft eines ähnliches Spiels zum Dreikönigstag, das er um 1870 als Kind in seinem Heimatdorf Barlt in Süderdithmarschen miterlebt hatte: Goliath hoch aufgeschossen, rötlich blond, mit einem mächtigen alten Schwert und einem Schild versehn, der offenbar der Deckel eines kupfernen Breikessels war; David, klein, dunkelblond und breit, nur mit der Lederschleuder […] so zogen sie durchs Dorf und traten auf, […] und hielten in einer Sprache, die wahrscheinlich aus einem alten Marionettentheaterstück stammte, ihre Reden gegeneinander […]. Ich hatte diesem Spiel in einer halbdunklen großen Diele zwischen zuschauenden Menschen und Stalltieren, mich im Hintergrund haltend, zugesehn. […] Als […] die Knaben durch den Schnee weitertrotteten und diese Begebenheit dann und wann noch wieder besprochen und auch gelobt wurde, war ich wochenlang mit diesem seltsamen Erlebnis, diesem wunderlichen Bild in der halbdunklen Diele, diesen großmächtigen, fremdartigen Worten beschäftigt, wobei ich mich immer wieder in die Stelle des David versetzte, und noch viel raschere, wuchtigere Reden hielt, als jener kleinere der beiden Knaben getan hatte.2550

Es anzunehmen, daß sich auch Friedrich Hebbel Gelegenheiten boten, solchen Laienaufführungen beizuwohnen – das Verdikt des Landvogts zeigte indes, wie das aufgeklärte Bürgertum dazu stand. So wie er die verhinderten Schauspieler von Amts wegen zum Schweigen verurteilte, so schwieg sich das kollektive Gedächtnis über das ländliche Laienschauspiel weitgehend aus. Aktenkundig sind professionelle wandernde Theatertruppen, die schon eher dem bürgerlichen Geschmack entsprachen und die auch in Wesselburen Halt machten. Emil Kuh erwähnt namentlich den „Mechanikus Paulsen samt Weib und Kindern[, die] alle holsteinischen Märkte durchzogen“2551 und dabei ausschließlich Kotzebues Drama Das Landhaus an der Heerstraße spielten, sowie die Familie Schulz oder Schultze, die „im Winter 1830“ [WAB 1, 14] in Wesselburen auftrat. Die kleine Gesellschaft bestand aus der verwitweten Mutter, ihren zwei Töchtern und einem Schauspieler namens Linhart. In die noch unkonfirmierte, jüngere Tochter Hedwig verliebte sich Hebbel und widmete ihr noch 1837 ein Gedicht (An Hedwig); Linhart veranlaßte ihn wohl, sich im August 1831 dem Direktor des Hamburger Stadttheaters, Karl August Lebrun, vorzustellen.2552 In einem Brief an Hebbel bezeichnet Linhart sich als „Ihren wahren Freund“ [WAB 1, 9]. Die Kontakte zu dieser Schauspieltruppe waren also recht intensiv. Doch auch über die Theater-Eindrücke aus seiner Kinder- und Jugendzeit hat Hebbel Schweigen gebreitet – im direkten Kontrast zu ihrer Bedeutung: Die Befürchtung des Vaters, sein Junge würde „Komödiant“ [W 15, 8], bezeichnet ebenso knapp wie vielsagend die frühe Faszination. Tatsächlich waren ihm die Auftritte der Wandertruppen Anlaß, schon „im zehnten oder zwölften Jahre […] als Bühnenunternehmer“2553 aufzutreten, wie Emil Kuh vermerkte. Vgl. SCHLEE, Das Volksschauspiel von David und Goliath, S. 44. FRENSSEN, Grübeleien, S. 203f. 2551 KUH, Biographie, Bd 1, S. 98. 2552 Vgl. DjH I, 277. 2553 KUH, Biographie, Bd 1, S. 52. 2549 2550

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Von dem, was „geheimnißvoll als Tradition im Volke lebt“ [WAB 1, 456f.], lassen sich aus den biographischen Quellen nur spärliche Überreste zusammenlesen. Aus Hebbels Leben scheint diese Tradition fast spurlos getilgt, als sei sie nie „in der Welt“ gewesen. Damit entspricht die Quellenlage auf frappierende Weise Hebbels erklärtem Verhältnis zum volkskulturellen Erbe. Im Widerstreit von Abwehr und Bejahung ist es anwesend und abwesend zugleich: Der Eindruck einer kulturellen „Einöde“ offenbart sich zuallererst als Leerstelle im biographischen Material und diese nicht zuletzt als Effekt der Literalisierung des kulturellen Gedächtnisses. Mit ihrem Verstummen riß die Überlieferung uneinholbar ab; überkommene Praxis wurde abgeschlossene Vergangenheit. Mit dem mediengeschichtlichen Umschwung verband sich ein mentalitätsgeschichtlicher Wandel. Das tradierte Stoffgut entsprach den moderneren Standards nicht mehr – das Schweigen wurde zum Verschweigen des Gewesenen. Und doch lebte es „geheimnisvoll“ auch bei Hebbel fort: Unterirdisch, als orale Erinnerung, gegenüber der literalen ‚Technik‘ zur ursprünglichen Natur stilisiert, spukte das verlorene Kulturgut weiter in seinem Kopf herum – und „wirkte gewaltig auf mich“ [WAB 1, 457]. Im Kopf bewahrte Hebbel schließlich auch Strukturen, die eine Kultur des mündlichen Memorierens ihm eingeprägt hatte. Der Wesselburener Kirchspielschreiber Heinrich Möhring berichtete, eines Tages sei ein Kaufmann „mit einem vollbeschriebenen Foliobogen zu Hebbel gekommen und hätte nun Hebbel den Inhalt des umfassenden Schriftstücks, das auf vier Seiten beschrieben gewesen sei, einmal langsam durchgelesen und hätte nun der junge Schreiber ebenfalls den langen Aufsatz einmal laut vorlesen müssen. Nachdem dieses nun geschehen, hätte Hebbel den Inhalt des Schreibens buchstäblich genau, frei aus dem Gedächtnis hersagen können.“2554 Übereinstimmend sprachen Hebbels Wiener Freunde von „seinem kolossalen Gedächtnisse […], das ihm erlaubte, noch nach Jahren Stellen aus gelesenen Büchern wörtlich zu zitieren“.2555 Ludwig Foglar wußte von dieser „beneidenswerten“ Eigenschaft zu erzählen: „Hebbel merkte sich mit fast stenographischer Treue und Genauigkeit die Worte, welche man über irgendein Objekt zu ihm vor Tagen, Wochen oder Jahren gesprochen; aber nicht allein diese, sondern auch seine eigenen Gegenreden darauf“ [HP II, 327]. In einer Kultur, in der man ganze Bibliotheken zum Nachschlagen zur Hand hat und wichtige Gespräche mitstenographiert, wirkt ein auf mündliches Memorieren trainiertes Gedächtnis auf einmal exotisch. Zur Mythisierung ist es dann nur noch ein Schritt: Für Paul Bornstein war Hebbels „gewaltige Gedächtniskraft“ bereits „eine der markantesten Eigentümlichkeiten genialer Begabung“ [HP I, 460].

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Zit. nach JANSSEN, Die Frauen rings um Friedrich Hebbel, S. 3; vgl. auch HP I, S. 6f. Karl Werner, zit. nach HP I, 252. Vgl. auch Eduard Kulke in HP II, 303, und Ernst Wilhelm v. Brücke in HP I, 386.

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Die Stoffe und ihr „Lebenszusammenhang“ Aus Kuhs Anekdote zur Struensee-Überlieferung sprachen Distanz und Befremden: „Verleumdung“ und „entstellte Züge“,2556 selbst ein halbes Jahrhundert nach ihrer Verbreitung noch andächtig und unkritisch in Ehren gehalten wie die Bibel – darüber konnte man nur noch den Kopf schütteln: Die semiliterale Form der Tradierung vermochte offenbar kaum anderes, als Verwirrung zu stiften. Daß die Überprüfbarkeit der bunten Schilderungen den Lesern oder Hörern durchaus zweitrangig war und daß es „damals gang und gäbe und keineswegs ehrenrührig [war], eine Geschichte ohne Herkunftsangabe weiterzuerzählen“,2557 wollte einer jüngeren Generation von versierten Zeitungslesern nicht mehr in den Kopf. Als ein Ausweis von „Kindlichkeit“2558 erschien Emil Kuh Hebbels „demütiges Vertrauen auf Aussprüche, deren Berechtigung er nicht selbst prüfen“ konnte, die Art und Weise, wie er „Menschen zuhörte, welche ihm nicht geläufige Dinge mitteilten. Da glaubte er unbedingt, was sie sagten, wenn es nur verständig gesagt war, da schien seine Selbständigkeit durchaus verschwunden“. Eine „aktuelle und objektive Berichterstattung liefert der Bänkelsang allerdings nicht“,2559 stellt Theodor Kohlmann speziell zu diesem ‚Nachrichtenmedium‘ fest; es sei denn, man begreift wie Leander Petzoldt als aktuell „alles, was der Masse fremd und unbekannt“2560 ist und was „aus dem Alltagsleben herausragt[…]“. Bänkelsänger und Drehorgelmann erzählen „eine schaurige Geschichte, die sich so ähnlich zugetragen haben könnte, die aber nicht geschehen sein muß“;2561 Kohlmann betont: „Wichtiger als die Information ist die Sensation, die das Publikum herbeilockt und die Kauflust fördert. Die Moritaten sind entsetzlich traurig und bewirken keine Aufklärung, sondern Erschütterung und Rührung“.2562 Auf der anderen Seite waren selbst Sagen und Märchen nicht einfach einem starr abgegrenzten Bereich ‚Fiktion‘ zuzuordnen. Im Rahmen der traditionalen Erzählkultur war, nach der Feststellung Dieter Richters, „’Märchenhaftes‘ Bestandteil nahezu aller literarischer Gattungen“.2563 Erst mit der „allmählichen Ausbildung eines neuen und für die Geschichte der europäischen Kulturen ungemein folgenreichen Wahr/FalschParadigmas wird zunehmend zwischen ‚erdichteter Narration‘ und ‚wahrhafter History‘ unterschieden“ – in der Volkskultur mit gehöriger Verspätung gegenüber der Elitekultur. Bezogen auf den bis ins 20. Jahrhundert lebendigen Bänkelsang und sein Publikum spricht Leander Petzoldt von einem cultural lag, einer „historische[n] Ungleichzeitigkeit“ gegenüber der „mit ihrer Zeit ‚gleichzeitige[n]‘ Gesellschafts- und Bildungsschicht“.2564 Entsprechend geht auch Emil Kuhs Bestimmung der Dith-

KUH, Biographie, Bd 1, S. 53. HARTIG, Von der Kunst volkstümlichen Erzählens, S. 17. 2558 Dieses und die folgenden Zitate: KUH, Biographie, Bd 2, S. 471. 2559 KOHLMANN, Bevor die Bilder laufen lernten, S. [3]. 2560 Dieses und das folgende Zitat: PETZOLD[T], Soziale Bedingungen des Bänkelsangs, S. 121. 2561 HINCK, Volksballade – Kunstballade – Bänkelsang, S. 66. 2562 KOHLMANN, Bevor die Bilder laufen lernten, S. [3]. 2563 Dieses und das folgende Zitat: RICHTER, Das fremde Kind, S. 176. 2564 PETZOLDT, Über das Problem der Ungleichzeitigkeit, S. 44. 2556 2557

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marscher „Märchen“ als „ihrer Mehrzahl nach phantastisch allegorisch“2565 an der Wahrnehmung der Rezipienten vorbei – die literaturwissenschaftliche Ausgrenzung des Erzählens aus dem ‚wirklichen‘ Leben wäre der Hörerschaft selbst nicht vermittelbar gewesen. Entsprechend waren auch die historischen Dithmarscher Erzählungen keine unparteiischen, auf strikte Faktizität bedachten Geschichtsdarstellungen, sondern luden vor allem zur Identifikation ein. Hebbel erinnerte sich: „[D]as Kind hört in früher Jugend von starken Männern, die Königen und Fürsten die Spitze geboten, von Zügen zu Wasser und zu Lande, gegen mächtige Städte, wie Hamburg und Lübeck gerichtet, erzählen“ [T 2521]. Tatsächlich bot die Dithmarscher Geschichte nicht wenig Anlaß zum Stolz. Eine quasi-selbständige „Bauernrepublik“ konnte sich über Jahrhunderte gegen die Angriffe auswärtiger Mächte behaupten, ehe sie 1559 von einer nordeuropäischen Fürstenkoalition unterworfen wurde – immerhin unter Beibehaltung einer verfassungsmäßigen Sonderstellung, die bis in Hebbels Zeit währte.2566 Zumal Claus Hebbel scheint für diese Stoffe eine besondere Vorliebe gehabt zu haben – aus besonderem Grund: Wollte es doch die „Familientradition“, daß „zu seinen direkten Vorfahren jener Wulf Isenbrant“2567 gehörte, der die Dithmarscher in der Schlacht von Hemmingstedt des Jahres 1500 zum legendären Sieg gegen die dänische Übermacht geführt hatte. Diese Genealogie verfehlte ihre identitätsstiftende Wirkung auch auf Friedrich nicht. In ihm entstand „durch das Bewußtseyn, von solchen Männern abzustammen, sehr zeitig ein Gefühl, wie es die Brust des jungen Adligen, der seiner Vorfahren gedenkt, kaum stolzer schwellen kann“.2568 Diese aktualisierende Vereinnahmung der ‚fernen‘ Vergangenheit illustriert anschaulich die Auffassung funktionalistisch orientierter Forscher wie Helge Gerndt, nach der Volkserzählungen nicht als isolierte Texte, sondern, eingebettet in einen „Lebenszusammenhang“,2569 als „Alltagsobjekte mit jeweils sozialen und psychischen Zweckfunktionen“ betrachtet werden müssen. Als solche sind sie Teil einer „gruppenübergreifende[n] Kultur des Wortes und der Geste, des kollektiven Erlebens und der sinnlichen Erfahrung“ mit einer „interaktive[n] Struktur“,2570 wie Wolfgang KUH, Biographie, Bd 1, S. 71. Vgl. OPITZ, Dithmarschen 1773 – 1867, S. 221–223 und S. 241, sowie oben den Abschnitt Ein Kirchspielvogt und ein Dienstbote. 2567 WERNER, Friedrich Hebbel. Ein Lebensbild, S. 25. Er sei „unser Ahnherr“ [KUH, Biographie, Bd 1, S. 71]. 2568 T 2521. Daß dies keine Phrase war, bestätigt die zeitgenössische Beobachtung Johann Georg Kohls: „Die Bauern verfolgen hier gewöhnlich ihre Geschlechter und Verwandschaften sehr hoch hinauf, und man wird gar bedenklich, ob man diese dithmarsischen Bauern für antiaristokratisch oder für viel aristokratischer als die unseren zu nehmen hat“ [KOHL, Die Marschen und Inseln, S. 183]. 2569 Dieses und das folgende Zitat: GERNDT, Volkssagen, S. 399. Aus der „Instrumentalität“ ergibt sich, wie auch bei anderen mentalitätsgeschichtlichen Phänomenen von ‚langer Dauer‘, daß „Volkskunst sich nur langsam verändert und nicht den ‚Entwicklungsesetzen‘ der Stilkunst folgt“, wobei sie als „Kunst“ erst rezipiert wurde, „als sie keine Funktion mehr hatte: hier wurde aus dem Zweckmäßigen das ästhetisch Relevante“ [ITZELSBERGER, Volkskunst und Hochkunst, S. 104]. 2570 KASCHUBA, Ritual und Fest, S. 244. 2565 2566

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Kaschuba umreißt. Dieser Gesamtzusammenhang stellt sich auch in Hebbels Erinnerung wieder her: Mit Grausen und tiefem Schauder erfüllte mich, was ich zwischendurch über den Götzendienst der alten Dithmarschen, über die Opferfeier und den blutbespritzten steinernen Altar, der noch zu sehen seyn sollte, vernahm, und alle Angst, aber auch alle Demuth und alles Gottvertrauen des jungen Herzens ward aufgeregt, wenn ich an dunklen stürmischen Herbstabenden der furchtbaren Wasserfluthen, die so oft den größten Theil des Landes verwüstet, Häuser umgestürzt, Menschen und Thiere erdrückt und die Aecker auf lange unfruchtbar gemacht hatten, von meinen Eltern [!] oder den Nachbaren unter und gegen einander [!], mit Furcht und oft in zitternder Erwartung des Kommenden erwähnen und sie beschreiben hörte. Elf Jahre ungefähr war ich alt, als eine solche Wasserfluth im Februar des Jahres 1825 hereinbrach.2571

Aus dem Bericht spricht noch immer das Chaos der Gefühle, das sich dem kindlichen Hörer aufdrängte und das der Erzählsituation selbst inhärent war: Kein ‚Autor‘ zeichnet für die ‚Geschichte‘ verantwortlich; Erzähler und Zuhörer sind selbst Teil des Erzählten, das gemeinsam nacherlebt wird – mit „Grausen und tiefem Schauder“ – und bei dem obendrein die Grenzen von Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen: Die „furchtbaren Wasserfluthen“ brechen mit der Februar-Sturmflut von 1825 wieder herein;2572 der eigene Vater wird bei Nacht und Nebel herausgerufen, um die Schlafdeiche und Siele zwischen Heringsand und Norddeich verteidigen zu helfen, nachdem der Deich von Hillgroven „auf 17 Ruthen Länge bis ans Maifeld durchbrach“.2573 Im fast ganz überschwemmten Kirchspiel Büsum spielten sich wahre ‚Untergangs‘Szenarien ab: „Nach allen Seiten des Kirchspiels gingen Kähne ab […]. Viele wurden aus den Bodenluken ihrer Wohnungen, in welchen das Wasser zum Theil 5 Fuß hoch stand, hervorgeholt“.2574 Diese Februarflut zog ihrerseits Geschichten von Not, Tod und Errettung nach sich. Am Wesselburener Binnendeich, wo auch Maurer Hebbel im Einsatz war, trug sich ein Ereignis zu, das bis an das Ohr des ostfriesischen Berichterstatters Friedrich Arends drang: „Bei dieser Arbeit sah man einen Hasen auf einem Brette herumschwimmen, der aber bei Erblickung der arbeitenden Menschenmenge in die Wellen sprang und dort sein Grab fand“.2575 Der aufgeklärte Autor erkannte darin den natürlichen Fluchtreflex und insofern gerade nichts Besonderes: „In anderen Gegenden schienen die Thiere ihre Furcht vor den Menschen dagegen ganz vergessen zu haben.“ Was ihm einen beiläufigen Satz wert war, wird die Augenzeugen und ihre Zuhörer jedoch ganz anders aufgeregt haben: Da schaffte es ein einziges Lebewesen, den Fluten auf wundersame Weise zu entkommen – um schließlich ‚ohne Not‘ vom rettenden Stück Treibholz in den sicheren Tod zu springen. Das war eine ebenso T 2521. Vgl. bei Hebbel Die Dithmarschen und Moloch. Vgl. OPITZ, Dithmarschen 1773 – 1867, S. 241, sowie WAGNER, Wesselburen, S. 55. 2573 ARENDS, Gemählde der Sturmfluthen, S. 267. Vgl. ebd.: „Der übrige Theil des Kirchspiels blieb vermittelst der Binnendeiche vom Wasser befreit, indem man eiligst mit großer Anstrengung noch während der Nacht die schwachen Stellen derselben verstärkte und die beiden Binnenschleusen mit Erdsäcken verstopfte“. 2574 Ebd., S. 266. 2575 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 267. 2571

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wahre wie phantastische Geschichte, in der sich die ganze Verkehrtheit der ‚verrückten‘ Wirklichkeit widerspiegelte; ein böses Omen für ängstliche Gemüter obendrein, vor allem aber der beste Stoff zum Weitersagen, weil in ihm alles Erlebte symbolisch zu kumulieren schien. Leander Petzoldt sieht in den Volkserzählstoffen die Welt „einer streng traditionsgebundenen Lebensform“2576 bzw. „die Mentalität und die Weltsicht des Individuums“2577 abgebildet, das „seinerseits durch die Einflüsse und Bedingungen der es umgebenden Welt geprägt“ sei. Das bedeute nicht, daß die Sage „den Gleichlauf des täglichen Lebens spiegelt; im Gegenteil werden diejenigen Vorfälle berichtet, die geeignet sind, diesen Gleichlauf zu stören“.2578 So steht in ihrem Zentrum „die Begegnung des Menschen mit dem Ungewöhnlichen, Außerordentlichen, das im Extremfall, und er ist häufig, als ein Jenseitiges, Magisches, einer andern Welt Angehöriges erscheint.“2579 ‚Phantastik‘ ist dabei keine Kategorie des Ästhetischen, sondern der Wirklichkeitswahrnehmung. So eng und geschlossen die traditionale Weltsicht anmutet; sie hat immer auch ein Empfinden für „das Auseinanderklaffen von Schein und Sein, von Erscheinung und wahrer Realität“.2580 Daher umreißt Max Lüthi als stets wiederkehrende Themen in Volkserzählungen, Volksliedern und Sprichwörtern: „Schwaches kann Starkes besiegen. – Schein und Sein klaffen auseinander. – Jeder Zustand kann in sein Gegenteil umschlagen, Situationen und Verhältnisse können sich umkehren, sich verkehren.“2581 In den Grimmschen Kinder- und Hausmärchen bietet das krasseste Beispiel passenderweise gerade Das dietmarsische Lügenmärchen: „Ich will euch was erzählen. Ich sah zwei gebratene Hühner fliegen, […] ein Amboß und ein Mühlstein schwammen über den Rhein, […] ein Frosch saß und fraß eine Pflugschar zu Pfingsten auf dem Eis“2582 etc. Auch in der Volksliteratur zeigt sich somit der für die traditionale Mentalität insgesamt kennzeichnende „Mechanismus der Verkehrung, des Umschlags“2583 als grundlegendes Strukturmerkmal. Lüthi führt aus: Die Erhöhung der Verachteten, der Sturz der Bevorrechteten sind nur Einzelglieder in einer reichen Kette. Daß dem Sommer der Winter folgt, die Nacht dem Tag, und umgekehrt, ist weder Wunsch- noch Angsttraum, sondern eine menschheitliche Erfahrung. Wärme kann unversehens aus einer Wohltat zur Plage, zur Bedrohung werden, Wasser vom Lebensbringer zum Todesbringer. Die im Märchen so häufigen Verkehrungen des einen Zustands in einen anderen sind Zeichen dafür, daß in ihm nicht nur Menschheitswünsche, sondern auch Menschheitserfahrungen sich niedergeschlagen haben.

Tatsächlich handelten nicht nur die abergläubischen, abenteuerlichen und phantastischen, sondern auch die historischen, ja aktuellen Erzählstoffe, die Friedrich zu Ohren kamen, von Ungeheuerlichkeiten: Der kleine Kätnerssohn ein geborener PETZOLDT, Dämonenfurcht und Gottvertrauen, S. 171. Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 158. 2578 GERNDT, Volkssagen, S. 399. 2579 LÜTHI, Europäische Volksliteratur, S. 70. 2580 Ebd., S. 66. 2581 Ebd., S. 57. 2582 GRIMM, Kinder- und Hausmärchen. Nr. 159, S. 601. 2583 Dieses und das folgende Zitat: LÜTHI, Europäische Volksliteratur, S. 59. 2576 2577

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Aristokrat, das schwache Häufchen Dithmarscher als Sieger über Fürsten und Könige, blutige Götzendienste im frommen „Marienland“,2584 „Wasserfluthen“ auf fruchtbaren Äckern, und ein Hase, der von der rettenden Planke in sein nasses Grab setzt – waren dies nicht unerhörte Verkehrungen des Wahrscheinlichen und Erwartbaren? Am deutlichsten ‚sichtbar‘ wird dieses Prinzip in der direkten Vertauschung der Maßstäbe von ‚klein‘ und groß‘. Das Gegenstück zur fürchterlichen, unbeherrschbaren Natur wäre eine Welt im Taschenformat – und genau diese besingt spöttisch die in Knittelversen gereimte Ueberschrift auf dem Park zu W*, der im sehr verjüngten Maaßstabe angelegt ist, und in dem deshalb die Berge nicht flachgetreten, der See nicht von den Hunden ausgesoffen und die Felsen nicht eingesteckt werden sollen.2585 Für Richard Maria Werner war der Sechszeiler schlicht „ein alter Witz“ [W 14, 359] – die perfekte Mimikry an volkstümliche Spottlyrik verleitete dazu, Hebbel als Verfasser der anonymen Verse voreilig auszuschließen.2586 Es ist bezeichnend, daß selbst einer der besten Kenner Hebbels diesen Aspekt des Burlesken, der spielerischen Übertreibung und Verkehrung in Werk und Persönlichkeit buchstäblich ausblendete. Daß die Satire auf den „Park zu W*“ dem ‚modernen‘ Ziergarten galt, den der Amtsvorgänger und spätere Schwiegervater des Kirchspielvogts Mohr, Christian Peter Bruhn (1773 – 1826) angelegt hatte,2587 deutet exemplarisch auf die engen Zusammenhänge zwischen Stoff, Stil, Intention, Mentalität und sozialem Status des Verfassers. Die semiliteralen Bänkellieder und Moritaten sind in dieser Hinsicht gleichfalls sehr ‚volksnah‘. Auch sie zeichnen sich durch das Moment der Verkehrung aus; oftmals „spielt das Entsetzliche in die Nähe des komischen Umschlags“.2588 Im Vordergrund stehen dabei das Unterhaltungsbedürfnis einerseits, die (verordnete) moralische Lehre andererseits. „Liebesgeschichten, die ihre Zuhörer oftmals zum Weinen brachten“,2589 und vor allem „grausige Geschehnisse, wie Mord und Überfall, Schiffsuntergang und Brandkatastrophe wurden von geschäftstüchtigen Literaten schnell zu einem packenden Bericht verarbeitet, dem ein passendes Lied angehängt wurde“.2590 Die abgerundete literarische Erzählung, der durchdachte Sachtext, die skripturale Kultur überhaupt – sie folgen anderen, stringenteren Mustern. Inhalte und Darbietungsweise der Bänkeltexte waren beim gebildeten Publikum keineswegs wohlgelitten. „Die ärgsten Zoten, die gemeinsten Dinge, den tollsten Unsinn kann jeder darin finden, der seinen Ekel überwinden und sich die Mühe geben will, in dieselbe hineinzusehen“,2591 klagte der Risumer Pastor Friedrich Nicolaus Matthaeus Michaelis 1822 in den Schleswig-Holsteinischen Provinzialberichten. Empört mußte er verfolgen,

Vgl. HANSEN, Marienland Dithmarschen. Vgl. Königlich privilegirter Dithmarser und Eiderstedter Bote, 30. Jahrgang, 30. Reise. Donnerstag den 28sten July 1831, Sp. 480. 2586 Vgl. dazu SCHOLZ, Gartenlust in Lilliput. 2587 Vgl. ebd., S. 56f. 2588 HINCK, Volksballade – Kunstballade – Bänkelsang, S. 66. 2589 ELKAR, Junges Deutschland., S. 134. 2590 KUCKEI, Das Fliegende Blatt in Dithmarschen, S. 83. 2591 MICHAELIS, Ueber eine, bisher noch unbeachtete, Quelle der Unsittlichkeit, S. 96. 2584 2585

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daß solche Lieder, die nicht allein öffentlich ab- und vorgesungen, sondern auch zur Versinnlichung mit den unanständigsten Gestikulationen begleitet wurden, jedesmal von einer gedrängten Volksmasse nicht nur mit offenem Munde angehört, sondern auch mit der größten Begierde reißend gekauft, und dann, wie man sagt, in succum et sanguinem verwandelt wurden. Und wenn nun nur solche Lieder in dem Gedächtniß und Munde des Volks leben, wie man ebenfalls leicht bemerken kann, wenn man nur auf den Inhalt ihrer Gesänge bei ihrer Arbeit, unter sich und in Zusammenkünften, achten will; kann bei einer solchen losen Speise, ich frage jeden Unpartheiischen, kann da die Sittlichkeit unter dem Volke befördert werden, das nun auch nicht versäumt, in praxi das auszuüben, was es aus seinen neuen, schönen Liedern gelernt hat?2592

Bei alledem besaßen die „neuen“ Lieder eine durchaus wertkonservative Tendenz. Oft geht es um das „Unheimliche in seiner wörtlichen Bedeutung“,2593 um das seines Heimes und angestammten Obdaches beraubte Menschenleben, sei es daß Leichtsinn, Trunksucht oder Buhlerei das Haus zerrütten, daß Überfall und Plünderung den Herd zerstört, daß eine Überschwemmung, Feuersbrunst und Hungersnot die Eingesessenen von ihrem Hof vertreibt oder daß sie ihn – von der Fremde Besseres erhoffend – freiwillig verlassen. Daher die Vorliebe der Moritat für Abenteurer, Seefahrer, Auswanderer, Legionäre oder Handwerksburschen, […] vor allem aber für die gänzlich heimatlosen Existenzen der Räuber, Wegelagerer und Vagabunden […][.] Heim, Hof und Habe sind die wertbeständigen Voraussetzungen, worauf der gruselige Anreiz ihrer Gegenwelt: der abenteuerlichen und verbrecherischen Moritat beruht. Sie war in ihrer Wirkung abgezweckt auf einen eng umfriedigten, bodengebundenen, kleinbürgerlichen Hörerkreis, der sich von den herumziehenden Bänkelsängern gern eine möglichst aufregende Kunde von der weiten Welt, von wunderlichen Lebensläufen und unerhörten Schicksalsfügungen vermitteln ließ.

Insofern wirken die Befürchtungen des Pastors Michaelis, das Volk würde gerade den negativen Vorbildern folgen, engstirnig und allzu eifernd. Und doch lag es nahe, daß die Menschen die in Lied, Bild und Text sinnlich erlebten Gegenstände nicht mit ‚interesselosem Wohlgefallen‘ zur Kenntnis nehmen, sondern gewitzt und geübt in ihren „Lebenszusammenhang“ eingliedern würden – von dieser Rezeptionspraxis aber distanzierten sich die aufgeklärten Schichten ebenso beflissen wie von jenem Lebenszusammenhang selbst. Eine ähnlich „lose Speise“ bot auch das Schauspiel jeglicher Couleur. Sachlicher ausgedrückt: Hebbels Wesselburener Erfahrungen mit dem Theater waren geprägt von starken Interferenzen und Konfrontationen zwischen traditionaler und moderner Mentalität, Oralität und Literalität. Davon war auch sein 1831 mit Freunden ins Leben gerufenes Liebhabertheater – im Prinzip eine „Begleiterscheinung des großen bürgerlichen Bildungsaufschwungs und der reichen Literaturentwicklung“2594 – nicht ausgenommen; vieles daran wirkt auf den heutigen Betrachter burlesk oder grotesk. Nicht in einem Bühnensaal, sondern „im Stall eines Reimer Schröder und H. Hemm wurde Ebd., S. 98. Dabei erregten die Bänkellieder das Interesse „nicht bloß der Erwachsenen, sondern auch der Kinder der unteren Volksklassen, welche sich für ihren Schilling, ebenfalls in solchen Liedern, einen wichtigen Schatz zu erkaufen meinen“ [ebd.]. 2593 Dieses und das folgende Zitat: FRAENGER, Nachwort, S. 105f. 2594 ULLMANN, Adolph Müllner und sein Weißenfelser Liebhabertheater, S. 5. 2592

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der Musentempel aufgeschlagen“,2595 wie Paul Bornstein süffisant berichtet. Eine alte Fotografie zeigt den Veranstaltungsort in seiner ganzen Kärglichkeit, die sich durchaus nicht von den Bauerndielen des Dorfschauspiels abhob (Abbildung 25). Eine Atmosphäre andächtiger Erwartung war hier kaum herzustellen. Die Wesselburener „nahmen die Sache natürlich als reines oder unreines Amüsement“,2596 wußte Klaus Groth. Ihr Geschmack orientierte sich weniger am ‚Geist‘ des Stücks, als an konkreten Requisiten: „Ganz besonderen Beifall fand die Aufführung von Die schöne Dorothea, denn […] es kam ein Sarg dabei auf die Bühne“ [HP I, 6], ließ Paul Bornstein sich von einem Augenzeugen erzählen. Hedwig Schulz gab die Rolle der Unschuld in Begleitung einer lebendigen Taube, die ihr auf der Schulter festgebunden war2597 und vermutlich nicht mit sanftem ‚Taubenmut‘ auf die Freiheitsberaubung reagierte. Ähnlich groß war die Bedeutung der Requisiten beim Bänkelsang, wo man sie auf den Schildern gut sichtbar ins Bild setzte. Immer wurden sie als konkrete „Symbole verstanden; ein Wasserglas muß Gift enthalten, ein Messer heißt Mord.“2598 Nicht umsonst schrieb Hebbel über seine Krähwinkler, daß ihnen „was sie mit Händen nicht greifen, […] ein Unding scheint“ [DjH II, 97]. Nicht minder stark als die Freude am Greifbaren war die am Handgreiflichen verbreitet. Bei der Lundener David und Goliath-Inszenierung werden die Kampfszenen breiten Raum beansprucht haben. Denn, so Schlee, „selbst bei sakralen Spielen verlangte bekanntlich die Freude an Prügeleien solche Einlagen“.2599 Die Wesselburener Freunde Gehlsen und Barbeck schlugen sich schon vorher, nämlich bei der Rollenverteilung um den Hauptmannsrang in der Räuberbande. Auf seinem Liebhabertheater mußte Hebbel als Regisseur und Rausschmeißer in einem fungieren; er sorgte „in den Reihen der Zuhörer, besonders der ‚Jungs‘, für Ordnung und Ruhe, und manchen Schlingel hat er an die frische Luft befördert“ [HP I, 6]. Auch auf der Bühne gerieten Spiel und Ernst, Komödie und Realsatire manchmal durcheinander. Hebbel selbst erinnerte seinen Freund Johann Gehlsen brieflich an dessen Auftritt in Körners Drama Der Nachtwächter, wo der Kampf mit einem schlecht sitzenden Haarbeutel offenbar zu einer unfreiwillig komischen Einlage ausartete: Siehst Du Dich noch als Herrn Tobias Schwalbe Im blauen Wächter-Rock, wie Dir der falbe Haarbeutel Capriolen macht, Bis ihn ein Ritter ohne Furcht und Tadel – Ich meine eine wohlgewetzte Nadel! – Geschickt genug zur Ruh gebracht? [WAB 1, 27]

Ausgerechnet ein professioneller Darsteller, den Hebbel eigens für das Liebhabertheater verpflichtet hatte, der aus Schleswig stammende Schauspieler Schmidt, leistete

HP I, 5. In der Remise des Gasthofs „Stadt Hamburg“ in der heutigen Schülper Straße. GROTH, Friedrich Hebbels Jugendjahre, S. 152. 2597 Vgl. KUH, Biographie, Bd 1, S. 116. 2598 PIESKE, Ein Moritatenschildermaler, S. 40. 2599 SCHLEE, Ein altes Volksschauspiel, S. 48. 2595 2596

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sich in alkoholisiertem Zustand einen peinlichen Auftritt; sein Abgang wurde später in unterschiedlichen Versionen kolportiert: Der Bruder unseres Dichters erzählt, Friedrich sei in solche Wut geraten, als der Säufer im Vetter aus Bremen auf die Bühne taumelte, daß er denselben mit dem Schaft einer Pistole zu Boden geschlagen habe. Von anderer Seite wird die Szene als lustiger geschildert: Hebbel hätte den betrunkenen Künstler vor den Zuschauern plötzlich umgedreht und laut gerufen: „So sehen Sie die Sau auch von der Hinterseite!“ Dann hätte er den Unglücklichen abgeführt und persönlich dessen Rolle weitergespielt. Damit aber scheint das Liebhabertheater sein Ende erreicht zu haben.2600

Auch dieser ‚desillusionierende‘ Einbruch des Lebens zeugte auf seine Art vom unmittelbaren „Lebenszusammenhang“ des Geschehens auf, hinter und vor der Bühne. Klaus Groth fragte sich, „wie weit Hebbel bei solchem Spiel den Ernst eingemischt und an seiner Entwicklung als Dramatiker gearbeitet“2601 habe. Absichtlich mischte er jedenfalls bisweilen den Spaß ein, so zum Beispiel „[j]ene Scene, die ich in den Heinrich IV hinein improvisierte“ [T 1453]: Sir John: Pfui, du Trunkenbold, wer säuft aus Kannen! Junge. Es ist ja Wasser, Sir John. Sir John. Einerlei, worin du dich übernimmst, du Trunkenbold! [T 1453]

Der Schenkelklopfer im Shakespeare-Stück – so unpassend war die derbe Einlage gerade bei diesem Dramatiker nicht. Denn der frühneuzeitliche Autor stand der traditionalen Welt, ihren Ambivalenzen und jähen Verkehrungen noch weit näher als die späteren Bewunderer und Verächter seiner Literatur. Insofern überrascht wenig, daß Julian Schmidt Shakespeare und Hebbel zusammenstellte, um selber von beiden abzurücken: „Shakespeare hat in seinen Ausdrücken Vieles, was man auch in Hebbel wiederfinden kann und was bei dem Einen so geschmacklos ist als bei dem Andern“.2602 Doch Schmidts ‚guter Geschmack‘ hatte sich zu seiner Zeit noch keineswegs in allen Schichten durchgesetzt. Parallelen zu Hebbels Praxis liefert einmal mehr der Bänkelsang: „Unter fromme Sprüche und untertänige Redensarten mischte sich aber auch manch plumper Scherz, der die Parodie auf den Bänkelsang vorwegnahm“.2603 Solche Tendenzen zur Selbstparodie, zum permanenten Nebeneinander von Witz und Ernst sind beim adoleszenten Hebbel unübersehbar.2604 Schon kurz nach dem spektakulären Ende des Liebhabertheaters teilte er seinem Freund Theodor Hedde in ironischer Distanzierung mit: „Das hiesige Theater (wehklage, Schüler Apollos!) ist verschieden. Der Schauspieler Schmidt hat dieser armen Creatur den Todesstoß gegeben“ [WAB 1, 12]. Als Hebbel sie gegen Ende 1832 wiederauferstehen lassen wollte, verfaßte er „zu KUH, Biographie, Bd 1, S. 98. Vgl. dazu WAB 1, 12. GROTH, Friedrich Hebbels Jugendjahre, S. 152. 2602 SCHMIDT, [Rez.] Julia, S. 101. 2603 HIRSCHBERG, Moritat und Justiz, S. 31. 2604 Vgl. etwa das 1829 veröffentlichte Gedicht Sehnsucht. An L. [W 7, 9f.] und die kurz darauf entstandene Copia der hoch=wohl=sehr=wichtigen Sehnsucht an L. […] mit raren Anmerkungen vermehret [W 14, 297f.]. 2600 2601

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dem Behuf selbst eine Posse (Dichterwuth betitelt)“, die „indeß auch für den Druck bestimmt“ [WAB 1, 24] war. Gerade in ihrer chimärischen Gestalt blieb diese ‚Creatur‘ Theater „so ziemlich das Factotum unserer gegenseitigen Erinnerungen“ [WAB 1, 28], wie er anderthalb Jahre später seinem Mitakteur Heinrich Schacht versicherte. Über den Schauspielstil Hebbels ist nur so viel bekannt, daß die Prüfung seines mimischen Talents durch Karl August Lebrun, den Direktor des Hamburger Stadttheaters, im August 1831 bei diesem eine Art ‚Kulturschock‘ auslöste: „Lebrun erschrak, als er die nichts weniger denn bühnenfähige, trotz ihrer Biegsamkeit theatralisch ungelenke Gestalt erblickte und er wurde in seinem Schrecken bestärkt, als Hebbel Proben seines rezitierenden Talentes ablegte.“2605 Möglicherweise orientierte sich seine „theatralisch ungelenke“ Darbietung noch stark an einer pantomimeartigen, formelhaften Gebärdensprache und einer deklamatorischen Vortragsart der herkömmlichen Schaubühne – im krassen Gegensatz zum modernen Stil Lebruns: Dessen „Darstellungen waren voll Wahrheit und Natürlichkeit, belebt von glücklicher Laune, nie gestört durch Uebertreibung, immer abgetönt durch Geist und Bildung, die nichts Anstößiges aufkommen ließen.“2606 Der Gesamteindruck, der sich aus den spärlichen anekdotenhaften Überlieferungen vom Wesselburener Theaterleben zu Beginn des 19. Jahrhunderts, einschließlich Hebbels Liebhaberheater ergibt, vermittelt nicht unbedingt den Eindruck einer bürgerlichen Anstalt. Eher möchte man die herrschenden Zustände zu den Szenerien gesellen, wie sie noch einige Jahrzehnte später in Karl Friedrich Flögels Geschichte des Grotesk-Komischen für Tiroler Bauernkomödien beschrieben wurden: Für die weiblichen Rollen werden als mächtiges Zugmittel die geschicktesten und schönsten Mädchen ausgesucht. Zwischen den Coulissen, einem sehr sichtbaren Raume, hat jeder Darsteller, trotz seines Ornates, die Tabackspfeife im Munde. Die Zuschauer lachen, pfeifen, klatschen, beten, rauchen Taback, trinken Bier und Wein, werfen sich mit dem Abgang von Rettigen oder Wurstschale, und treiben so possenhafte Komödie […] wirklich gerührt und ergriffen wurden die Zuschauer nicht. Gerade die am meisten auf Rührung und Entsetzen berechneten Stellen wurden auf das Herzhafteste belacht. […] Was das Spiel anlangt, so mußte vor allem der Dialekt auffallen, in den die Darsteller trotz ihrer Bemühungen, hochdeutsch sprechen zu wollen, von Zeit zu Zeit immer wieder zurückfielen.2607

Dies wurde um 1860 nur noch als kuriose Ausnahme empfunden. Bei Flögel hieß es mit unverhohlener Erleichterung: „Die fortschreitende Aufklärung machte dem blödsinnigen Mischmasch von Kunst und religiösem Cultus, von Ernst und Spott ein Ende“.2608 Doch die peinliche Trennung von bürgerlicher Bildungsveranstaltung und burleskem Vergnügen verstellte zugleich den Blick auf die produktiven Spannungsverhältnisse des verfemten „Mischmasch“. Schwer taten sich auch Hebbels Biographen mit der Beschreibung der ‚dörperlichen‘ Theaterfreuden, wobei die Ablehnung mit zunehmendem zeitlichen Abstand KUH, Biographie, Bd 1, S. 101. Vgl. auch W 15, 19. KÜRSCHNER, Lebrun, S. 101f. 2607 FLÖGEL, Geschichte des Grotesk-Komischen, S. 148–150. 2608 Ebd., S. 144. 2605 2606

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wuchs: Der Germanist Hermann Fricke machte in seiner Dissertation über Hebbel und Schiller (1921) keinen Hehl aus seiner naserümpfenden Abneigung gegen die Wandertheater: „Was konnten diese grösstenteils aus verkrachten Existenzen, verbummelten Studenten und liederlichen Frauen zusammengesetzten Banden bieten! […] Da gab es, woran das Volk seine Gelüste befriedigen mochte: Mord- und Blutszenen, rohe Sensationen und derbe Possen.“2609 Dagegen hatte sich Emil Kuh noch bemüht, bei seiner Schilderung der Dithmarscher Verhältnisse die Innensicht zu treffen: „Kommen einmal Komödianten in den Ort, so gibt es ein Jubeln, als ob sich die goldenen Pforten des Paradieses, die vor vielen tausend Jahren zugeschlagen worden sind, wieder geöffnet hätten, und die Mimen erzählen dann auch von Wien und vom Prater, von Wilhelm Tell und dem großen Kronleuchter in der Oper“.2610 Kuhs Distanz äußert sich unauffälliger, in der Tendenz zur Romantisierung bzw. zur Ironisierung. Räumlich und zeitlich am nächsten stand Klaus Groth dem jungen Hebbel, über dessen Liebhabertheater er meinte: „Keiner von den Zuschauern oder Mitspielern hat wohl je daran gedacht, daß dieser Narrentand eine Schule bedeuten könne für die Kraft eines Unsterblichen, eine Schule, die er sich selber baute“.2611 Damit erkannte Groth einen Zusammenhang zwischen scheinbar Unvereinbarem: Denn weder ahnten die Wesselburener etwas von dem „Unsterblichen“ unter ihnen, noch wollten wiederum spätere Bewunderer dem früheren „Narrentand“ Bedeutung zugestehen. Als Zeitgenosse hatte Groth dieses ‚närrische‘ Element deutlich genug vor Augen – gerade darin erblickte er die „Schule […] für die Kraft eines Unsterblichen“.

Weder „Ur-Poet“ noch „aesthetischer Schneider“ – oder: Wie spricht der Dichter? Nicht nur inhaltlich, sondern auch durch die Unmittelbarkeit des Vortrags orientiert sich mündliches Kulturgut mehr am ‚Leben‘ als an einem autonomen Bezugssystem ‚Literatur‘. Sagen treten nicht „als selbständige, abgerundete Geschichten“2612 vor den Rezipienten, sie „heben sich nicht als sich selbst genügende ästhetische Systeme von der Alltagsprosa ab“, sondern sind im kulturellen Gedächtnis latent vorhanden, um sich „zwischendurch“ [T 2521], wie Hebbel selbst äußerte, immer wieder in den Redefluß einzumischen. Helge Gerndt schreibt: Man trifft sich in der Regel nicht auf Verabredung zum Sagenerzählen, sondern unterhält sich über sonderbare Vorkommnisse und seltsame Dinge, und jemand berichtet dann eine Geschichte, entweder um das Vorkommnis zu erklären oder um zumindest die Tatsächlichkeit desselben zu erhärten. Die merkwürdige Geschichte schwebt in einer amorphen Unterhaltung, die sich gleichsam an bedeutsamen Stellen zu dem verdichtet, was wir Sage

FRICKE, Hebbel und Schiller, S. 5f. KUH, Biographie, Bd 1, S. 60. 2611 GROTH, Friedrich Hebbels Jugendjahre, S. 152. 2612 Dieses und das folgende Zitat: GERNDT, Volkssagen, S. 400. 2609 2610

Weder „Ur-Poet“ noch „aesthetischer Schneider“

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nennen, um sich am Ende wieder in die allgemeine Unterhaltung aufzulösen. Oft ist den Zuhörern das traditionelle Erzählgut bekannt, soll im Erzählen also nicht weitervermittelt, sondern aufgefrischt werden, ist einfach ein Gegenstand, an dem sich Erzählfreude manifestiert.2613

Die Bekanntheit der Stoffe gestattete Formen der Darbietung, die eher undramaturgisch wirken. So begegnete man im David und Goliath-Spiel der Lundener Tagelöhner dem typischen „jähen Wechsel stationärer Bilder“,2614 wie Ernst Schlee meinte. Unter solchen Bedingungen ist es nicht leicht, aus dem Konglomerat des volkstümlichen Sprachguts geschlossene ‚Geschichten‘ zu isolieren. In diesem Zusammenhang verdient eine Äußerung Hebbels Aufmerksamkeit, die sich auf die Stoffe der Dithmarscher Vorzeit bezog. „Die Dithmarsische Geschichte, als Geschichte, lebt eigentlich nicht unter dem Volk“,2615 meinte er, um hinzuzufügen: „Aber sie lebt als Sage“. Mit dieser gattungsmäßigen Gegenüberstellung verband sich implizit auch eine mediale und dadurch erzählstrukturelle, wie die anschließende Wertung nahelegte: Denn die mündliche Sage erschien ihm gegenüber der – planvoll konzipierten – Geschichte als „unzusammenhängende und oft unverständliche Ueberlieferung“. In der Tat ist mit der mündlichen Weitergabe das ‚Zersingen‘ von Liedern2616 oder ‚Zerspielen‘ von Stücken verbunden; doch geht es immer auch darum, daß der Erzähler vor seinem kompetenten Publikum „richtig zu erzählen“2617 versteht, d. h. „ohne Brüche und Sprünge“. So kam „neben dem ‚Was‘ des Erzählten dem ‚Wie‘ eine mindestens ebenbürtige Rolle zu“2618 – und die geübten und kompetenten Zuhörer wachten darüber, wurden gar zu „Mitgestaltern“.2619 Nicht alles, schon gar nicht der Zusammenhang der ‚großen Geschichte‘, mußte dabei gewußt werden, und nicht alles, was gewußt wurde, mußte auch ausgesprochen werden. Hebbels Urteil zeugt demgegenüber von der Distanz des bereits Abseitsstehenden. Von den alten Erzähl- und Lebenszusammenhängen wollte der homo litteratus Hebbel nur noch wenig wissen, nachdem er einmal aus ihnen befreit war. Ohnehin waren sie in einem modernen kulturellen Umfeld, ob in Hamburg oder Wien, kaum mehr vermittelbar. Die „Geschichte“, auch eine „Dithmarsische“, mußte von ihren situativen Bezügen gelöst, in sich geschlossen sein. Erst dann besaß sie die Ubiquität, die jedem geschriebenen und gedruckten Text zukam, dessen Lektüre nicht an einen Ort gebunden war. Hebbel sah allerdings auch die Verluste an „Leben“, die mit der schriftlichen Fixierung von Geschehenem als ‚Geschichte‘ verbunden seien: Es ist die Frage, ob die Geschichte eine Wohlthat des Menschengeschlechts ist. Die überlieferten Erfahrungen müssen dem Menschen und den Völkern nach und nach alle eigenen abschneiden und unmöglich machen, der Gedanke wird dem Leben immer mehr zuvor

Ebd., S. 400. SCHLEE, Ein altes Volksschauspiel, S. 48. 2615 Dieses und die folgenden Zitate: T 2521. Hervorhebungen C. S. 2616 Vgl. dazu: SCHOLZ, Orale Überlierung im Wandel. Ein Kinderlied. 2617 Dieses und das folgende Zitat: HARTIG, Von der Kunst volkstümlichen Erzählens, S. 16. 2618 Ebd., S. 17. 2619 LÜTHI, Europäische Volksliteratur, S. 56. 2613 2614

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kommen, und alles Seyn wird sich in Categorieen verlieren, wenn nicht ein ungeheurer Sturm über kurz oder lang die einbalsamirte Vergangenheit mit Sand überschüttet. Es kann und darf von Sterblichen nichts Unsterbliches ausgehen […], wenn nicht der lebendige Sprudequell [sic] der Schöpfung erstickt werden soll. [T 1995]

Diese Überlegung bezog er auch auf die Dichtung, was auf diesem Gebiet freilich bedeutete: „Shakespear, Göthe, Alles weg – ungeheuer, unsäglich vernichtender Gedanke!“ [T 1995]. Die Herauslösung der ‚Literatur‘, als eines eigenständigen ästhetischen Systems aus den Bezügen zur Umwelt erforderte auch die reine Scheidung von Faktizität und Fiktionalität und damit auch die Aufgabe des gleichsam schwebenden Wirklichkeitsbezugs von Sage und Märchen. Von dieser Emanzipation, doch zugleich von großer Sensibilität für das tradititionale Zusammenhängen von Erzählgut und erlebter Wirklichkeit handelt eine Szene im vierten Akt der Genoveva. Als Text gelesen, muten die von Caspar vorgeschlagenen, archaischen Symbolhandlungen ‚unzusammenhängend und unverständlich‘ an, mit denen er den heimkehrenden Siegfried auf die düsteren Geschehnisse um seine Gattin vorbereiten will: Wir schlagen’s Schloß Mit schwarzem Tuch aus, stellen in’s Gemach, Das sie bewohnte, einen leeren Sarg, Der schweigend mahnt, das er zu füllen ist, Und kleiden sie in Grabgewande ein [W 1, 198].

Doch Caspar beteuert: „Dieß wird er gleich versteh’n, ich bürge Euch, [/] Ein altes Märchen schließt so, das er kennt.“2620 Die vermeintlich aus dem Zusammenhang gerissenen Attribute und Zeichen ergeben einen Sinn, weil vorgefundene Realität und voraussetzbare Märchenkenntnis ganz selbstverständlich zusammenwirken. Bänkelsang funktioniert in ganz ähnlicher Weise, wie Wolfgang Braungart herausgestellt hat. Dort wird die Geschichte als „Montage“ […] aus vorfabrizierten Teilen zusammengesetzt“,2621 die das Publikum bereits „aus Sagen, Märchen, Kalendergeschichten“ kennt2622 – die Geschichten „sind ihm fremd und bekannt zugleich“; immer erkenne es „im Neuen Bekanntes“.2623 Darauf setzt auch Caspar im Fall Siegfrieds. Daß er die ‚funktionierende‘ deiktische Kommunikationform dazu benutzen kann, den Pfalzgrafen über die wahren Sachverhalte um Genoveva zu täuschen, deckt zugleich eine Rückständigkeit dieses Zeichensystems auf, in dem die Informationen weder durch ein eindeutiges Wahr/Falsch-Paradigma noch durch klare Fiktionssignale strukturiert sind.

W 1, 198. Motivisch verwandt ist das Grimmsche Märchen Die zwölf Brüder. Hier sind es allerdings ganze zwölf Särge, die ‚mahnen, daß sie zu füllen sind‘, sollte die Königin ein Mädchen zur Welt bringen. Das Signal dazu gibt eine Fahne auf dem Schloßturm. Vgl. GRIMM, Kinder- und Hausmärchen, S. 51–56, insbesondere S. 51f. 2621 BRAUNGART, Nachwort, S. 402. 2622 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 401. 2623 Ebd., S. 402. 2620

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Siegfried ist stattdessen einer buchstäblich ‚vor-aufklärerischen‘ Wirkungsästhetik ausgeliefert, die ihn ergreifen, wirklich ‚Furcht und Mitleid‘ erregen will – zumal sie mit Requisiten aus seiner Lebenswelt agiert. Als Vergleich bietet sich wiederum der Bänkelsang an. Auch auf seinen „grob gemalten Tafeln geht es nicht um subtile ästhetische Reize. Auf ihnen dominieren vielmehr einsinnige Zeichen, mit einem Begriff Aby Warburgs: Pathosformeln, die im deiktischen Vortrag ausgedeutet werden“.2624 Mit diesem emblematischen Prinzip gehorche der Bänkelsang, so Wolfgang Braungart, einem „im Barock und noch in der Aufklärung gültigen wirkungsästhetischen, operativen Konzept“,2625 das die „Hochkunst […] schon längst verabschiedet hat“;2626 er sei, zugespitzt formuliert, eine Kunstform „aus dem Geist des 17. Jahrhunderts“. In medialer Hinsicht steht das Visuelle – und nicht etwa ein Text – jeweils im Vordergrund. In Hebbels Drama läßt Caspar vor dem geistigen Auge des Betrachters mit dem schwarz verhüllten Schloß eine scena muta erstehen: Schon im barocken Theater wurden solche stummen Bilder „in den Gang der Handlung […] z. B. als richtige Gemälde eingeschaltet, um den emblematischen Lehrgehalt des Stückes zusammenzufassen“;2627 und ganz ähnlich funktioniert die „Theaterästhetik des Bänkelsangs“. Caspars uneigentliche Mitteilung erzeugt, ‚vorurteilslos‘ betrachtet, keine Falschaussage, sondern lediglich ein Bild. Aber indem Siegfried es emblematisch auslegen und in seine Wirklichkeit ‚übersetzen‘ wird, statt es als uneindeutige Metapher, als fiktional-mehrdeutig wahrzunehmen, muß er zum Opfer einer Täuschung durch den semiotisch versierteren Caspar werden. „Alle Dichter lügen“, könnte der Getäuschte mit Platon meinen – auch der griechische Philosoph stand am Übergang von einer oral und visuell zu einer literal dominierten Kulturstufe. Der die doppelbödige Situation von außen übersehende Leser ist beiden um einen Schritt – und eine mentalitätsgeschichtliche Ewigkeit – voraus. Er darf sich an einem Lehrstückchen über Literarizität ergötzen. Wenn Hebbel die Episode dieserart zu einer distanzierenden Inszenierung von traditionalen Kommunikationsformen nutzt, bleiben diese zumindest als Kontrastfolie für ihn unverzichtbar. Bei Judith besteht darin sogar ein entscheidendes Strukturmoment ihres tragischen Konflikts: Während sie ursprünglich glaubt, den Auftrag zur Beseitigung des Holofernes durch die Stimme Gottes zu empfangen – archaische Form der Kommunikation –, so macht sie später, in modern-psychologisierender Interpretation, unbewußte Triebe dafür verantwortlich (die freilich noch nicht sublimiert, sondern elementar ausgelebt werden). Damit aber verliert die Tat ihre ‚sagen-hafte‘ Klarheit; der Wirklichkeitsbezug der Zeichen wird in Frage gestellt; der direkte „Lebenszusammenhang“ wird aufgelöst und dafür in eine literarisch verwertbare Ambiguität überführt. Hebbels Literatur zeichnet sich auch an dieser Stelle dadurch aus, daß sie aus der Konfrontation mit oralen Kommunikations- und Verhaltensweisen Spannung und Tiefe gewinnt – ohne das traditionale Substrat als die „eigentlichen Factoren meiner Poesie“ mochte Hebbel sein Dichtertum nicht denken. Die Tragik seiner Dramenfiguren ist gewissermaßen auch die Tragik des ‚unliteraEbd., S. 399. Ebd., S. 403. 2626 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 417. 2627 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 411. 2624 2625

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rischen‘ Menschen. Um so mehr muß der Autor für sich auf einer kategorialen Differenz bestehen: Trotz aller Interferenzen trennen ‚Welten‘ den berühmten Dichter und einen „beliebte[n] Märchenerzähler“, wie es sein Vater war. Die in Genoveva binnenliterarisch sichtbar werdende Ausdifferenzierung einer eng mit der literalen Kultur verbundenen uneigentlichen Kommunikationsform aus dem mündlichen Sprachkontinuum, läßt sich biographisch zurückbinden. Die Erfahrungen, die der „Kömödiant“ bereits im Knabenalter am eigenen Leibe machte, waren allerdings eher schmerzlicher Art; sie mündeten regelmäßig in Unverständnis und Zurückweisung. Eine Jugendfreundin erinnerte sich: Hebbel war ein ganz wunderlicher Junge. […] Einmal lud er uns in den Stall zur Komödie; als Entree bezahlte man eine Kopfnadel, die Komödien dichtete er selbst und spielte sie allein. Er redete gewaltig aus dem Pferdestall heraus auf uns ein. Oft verstanden wir gar nichts von seinen Reden und liefen ihm unbefriedigt und scheltend davon; doch hinderte dies ihn nicht, seine Einladungen zu wiederholen und neu zu agieren [HP I, 9].

Nur oberflächlich spricht der Akteur dieselbe Sprache wie seine Zuhörer. Ausgerechnet auf dem versierten Umgang mit Texten, denen er seine ‚gewaltigen Reden‘ entnehmen konnte, basierten die Schwierigkeiten Friedrichs im Umgang mit den Menschen. Anzunehmen ist, daß seine Eigenproduktionen wie Graf Reutlinger, Julius Caesar und Räuberhauptmann Evolia, die nach Hebbels Auskunft „in dem wichtigen Zeitraum vom 9ten bis zum 13ten Jahre zu Tage gefördert wurden“ [WAB 1, 457], bereits von intensiven Lektüre-Erfahrungen gespeist und von seinen einfältigen Zuhörern nicht verstanden wurden. Diese konnten auf seine Darbietung nur mit kopflosem Davonrennen antworten – die Komödien waren nicht ihre ‚Welt‘. Daß andererseits der auf der Bühne gesprochene Text allzu leicht für das Leben selbst genommen wurde, demonstrierte der Disput mit Johann Nikolaus Barbeck über den Namen des Räuberhauptmanns in Friedrichs Trauerspiel Hedwig, bei dem der Freund steif und fest darauf bestand, daß Hebbel wenigstens einen „wälschen Räuber Barbeck heißen“ [T 214] ließ. Wunschphantasie, Bühnenrepräsentation und Lebenswirklichkeit waren für den guten Barbeck nur schwer auseinanderzuhalten. Doch auch Friedrichs Liebäugeln mit Hedwig Schulz, der personifizierten „Unschuld“,2628 mochte im Grunde auf theatralischer Illusionierung beruhen; wie überhaupt – laut Kuh – manche „erste Liebhaberin Unheil an[stiftete], indem sie einem biedern, schon ältlichen Dithmarscher den Kopf verdreht[e] und ihn zum Heiraten verleitet[e]“.2629 Von traditionaler Oralität erwies sich die sekundäre Mündlichkeit des Theaters zwar als grundverschieden – doch ging von der täuschend ‚echten‘ Nachahmung eine große Faszination aus, wie diese heftigen Reaktionen von Anziehung und Abstoßung illustrieren. Nicht ohne Grund führt Georg Jäger die „Fähigkeit zur Unterscheidung von fiktiven und nicht-fiktiven Texten, zur Zuordnung von Texten zu Gattungen bzw. Textsorten“2630 als „wichtige Ergebnisse literarischer Sozialisation“ an. Dem „wunderliche[n] Junge[n]“ verlieh die zunehmend souveräne Medienkompetenz ein KUH, Biographie, Bd 1, S. 116. Ebd., S. 60. 2630 Dieses und das folgende Zitat: JÄGER, Historische Lese(r)foschung, S. 497. 2628 2629

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Gefühl der Überlegenheit, so daß seine frühen Mißerfolge ihn nicht davon abhielten, immer „neu zu agieren“. Andererseits folgte er auch später immer wieder schlicht mimetischen Bedürfnissen, sei es, daß er „mit dem höchsten Schmuck der Poesie“ [WAB 1, 241] seiner Mutter „Andenken bekleiden“, Mohr einen „Denkstein“ [WAB 1, 56] setzen wollte, oder seinem Bettgenossen Christoph Sievers in Julia tatsächlich ein „Denkmal“ [WAB 3, 60] setzte. Aus entsprechenden Verwirrungen speist sich die Komik in Hebbels 1831 entstandenem Text Wie die Krähwinkler ein Gedicht verstehen und auslegen. Auch hier wird ein Publikum von einer semiliteralen Rezeptionssituation ge- und überfordert: Der Grabspruch auf ein Mädchen wird von der Trauergemeinde zunächst gemeinsam entziffert und besprochen, dann aber schlüpft der Totengräber – einem Bänkelsänger ähnlich – in die Rolle des Erklärers und Vermittlers zwischen Text und Publikum. Hebbel gestaltet die Szene zu einem Zusammenstoß zwischen Hoch- und Volkskultur aus, der zu fatalen Mißverständnissen führt. Wenn die rätselnde Schar erst die ehrbare Verstorbene mit dem Wort „Hure“ der Grabschrift in Verbindung bringt (was einen derben Moritatenstoff verspräche), dann der Totengräber das Wort zur moralischen Befried(ig)ung der Anwesenden als Verschreibung von „Uhre“ interpretiert, so wird für den Leser Hebbels der Eindruck erzeugt, die Menschen nähmen auch hier eine „unzusammenhängende und oft unverständliche Ueberlieferung“ [T 2521] dumm und ergeben auf, um sie schlecht und recht in ihr beschränktes Weltbild einzuordnen. Was im Gelächter darüber übersehen wird, jedoch den manipulativen Charakter der Satire ausmacht, ist, daß die Krähwinkler einem Text voller Metaphern und Lyrismen ausgesetzt werden, der ihrem (semi)oral geprägten Verstehens- und Wirklichkeitshorizont in keiner Weise entspricht. Ein handfestes Bänkellied war eben aus anderem Holz geschnitzt. Der Erzähler selbst läßt keinen Zweifel daran, auf welcher Seite er dabei steht: Dort die „nachterfüllte[n] Köpfe“ [DjH II, 97] der Krähwinkler, hier das „Licht der gesunden Vernunft“, das nur von befähigteren „Schriftgelehrten“ auf den rechten ‚Begriff‘ zu bringen wäre. Doch durch diese Stilisierungen sagt die Satire im Grunde weniger über das einfache Volk und seinen Geisteszustand aus, als über ihren Verfasser, der nur allzu gern als „Nicht-Krähwinkler“ [DjH II, 96] – und als Literat – identifiziert werden wollte. Daneben veranschaulicht die Szene auf durchaus realistische Weise Charakteristika der semiliteralen Kulturvermittlung, auf die erst die neuere Leserforschung wieder aufmerksam geworden ist. Sie gibt erstens ein Beispiel, daß auch die mehr oder weniger leseunkundigen Bevölkerungsschichten über Formen des „Gruppenalphabetismus“2631 an der literarischen Kultur teilhaben konnten und von ihr keineswegs ausgeschlossen waren. Rudolf Schenda vertritt die Ansicht, daß selbst die „sogenannte Volksdichtung“ auf einer „indirekten Gruppenliterarisierung“ basiere. Man müsse damit rechnen, so Schenda, daß „zahlreiche ‚Volks‘-Erzählungen keineswegs auf uralter mündlicher Tradition beruhen, sondern oftmals literarischen Ursprungs“ seien. Zweitens verweist die Szene exemplarisch auf die „vielfältigen Überlagerungs-

2631

Dieses und die folgenden Zitate: SCHENDA, Vorlesen, S. 13.

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möglichkeiten von traditionalem und modernem Leseverhalten“.2632 Auch auf diese „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen individuellen Leseverhaltens wie auch der unterschiedlichen Leserschichten“ hat die Leserforschung ihr Augenmerk erst in jüngerer Zeit gelenkt. Für Hebbel waren dies hingegen selbstverständliche Realitäten, die noch in jedem „Krähwinkel“ anzutreffen waren und an denen sich die eigene Medienwahrnehmung schärfte. Die Vereinnahmung hochkultureller Elemente durch das einfache Volk war für Hebbel freilich nur ein Quell der Abgeschmacktheit. Als einmal ein alter bayrischer Bauer in Lederhose und Dreispitz – ganz „mittelalterliche Figur“ – in seiner Gegenwart „vom Fortschritt und vom Zeitgeist“ zu sprechen begann, empörte sich Hebbel so sehr, „daß ich ihn aus seiner Joppe hätte herausprügeln mögen“ [WAB 4, 480], wie er brieflich seiner Frau anvertraute. Ein andermal ärgerte er sich, daß in einem „neuen Theaterstück, welches sehr gefällt“, die „Viehund Milchmägde […] sogar über die Sonnenuntergänge entzückt“ seien. In Wirklichkeit sei die Sonne für den Bauern „aber bloß eine Uhr, die dem Knecht immer zu langsam geht und dem Wirth immer zu schnell“ [T 5253]. Hebbels demonstrativer Dünkel beruht auf alter Bedrängnis: Denn wenn die Krähwinkler Landleute selbst dort eine „Uhre“ erblicken, wo eindeutig „Hure“ steht, dann läßt sich dies auch als Ausweis der Macht kollektiver Interpretation lesen: Niemand interessiert sich für den Urheber der inkriminierten Aussagen. Stattdessen bemächtigt sich die Menge des Textes, indem sie ihn sich ‚schöpferisch‘, durch produktives Mißverstehen, aneignet. So illustriert die Satire – gegen ihren Willen – drittens die Einsicht, daß der „Gebrauch von Literatur oftmals auch kollektiven Anstrengungen zu danken ist“.2633 Selbst unter den von Hebbel gesetzten parodistischen Vorzeichen wird an dieser Adaptionsweise eine ‚spielerische‘ Originalität sichtbar, der in der modernen Hochkultur immer weniger Platz eingeräumt wurde. Sie basiert letztlich darauf, daß die „eigene Kulturleistung des Volkes in bezug auf seinen Erzählungsschatz […] in der gewaltigen Erinnerungsleistung und der Variationsfähigkeit gegenüber den erinnerten Materialien“2634 besteht, und „nicht in der vollständigen eigenen Schöpferkraft“. Die teils aggressive, teils satirische, teils spielerisch-lustvolle Bezugnahme auf die Volkskultur besaß bei Hebbel einen „Reaktionscharakter“,2635 der als unmittelbare Abstoßung weit tiefgründiger war als alle bejahenden nostalgischen Rückgriffe der Romantiker. Gerade darum konnte er vordergründig keine Verbindungen zwischen ‚Welt‘ und ‚Winkel‘, zwischen ‚Krähen‘ und Kreativität akzeptieren. Von Sigmund Engländers Gratulation zu der Ballade Vater und Sohn dürfte Hebbel wenig erbaut gewesen sein, als dieser schrieb, „ich kann Ihnen kein besseres Compliment darüber machen, als wenn ich Ihnen sage: es sieht aus, als ob Sie es dem Volke gestohlen hätten, als ob es ein anonymes Volkslied wäre“ [WAB 4, 629]. Zwar wunderte Hebbel BÖDEKER, Einleitung, S. 3. Vgl. auch Kalmbach: „Lesen gehört als Kulturtechnik zu jenen menschlichen Fähigkeiten, die sich über Zeiträume der ‚longue durée‘ entwickeln. Die Vermutung scheint plausibel, daß ‚neue Hermeneutik und Lektüre‘ sich nicht quasi naturgegeben durchsetzen, sondern daß es Gegenentwürfe und Zwischenformen, Einübungsphasen und Spielräume gab.“ [KALMBACH, Der Dialog, S. 87]. 2633 SCHENDA, Vorlesen, S. 14. 2634 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 13. 2635 SCHMIDT, Geschichte des Genie-Gedankens, Bd 1, S. 121. 2632

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sich gelegentlich, daß seine Gedichte „nicht längst in’s Volk gedrungen“ [WAB 4, 508] seien; umgekehrt aber widersprach er vehement der Ansicht, „es sey auch ein Zeichen des wahren Dichters, daß er Balladen und Legenden erfinde, wie das Volk. Auch!“ [WAB 4, 508] Der es aus dem Bannkreis der Volkskultur zum schreibenden Originalgenie gebracht hatte, stellte sich taub für die produktionsästhetischen Qualitäten des (vermeintlich) bloßen ‚Tradierens‘, während er die der literarischen Schöpfung absolut setzte. Um die Allgemeingültigkeit des eigenen Schöpfungskonzepts zu begründen, bediente er sich Vergleichen und Metaphern. Ein Tagebucheintrag lautete: „Man sagt oft, das Volk sey der Ur-Poet. Hoffentlich doch in keinem anderen Sinn, als in dem es auch der Ur-Jurist und der Ur-Mediciner ist“ [T 5972]. Gerade durch die Koppelung von Poesie und Urzeit zwang er indirekt moderne und archaische Aspekte, Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Kollektivität und Individualität begrifflich zu einem unmöglichen Konglomerat zusammen. Noch verstiegener war ein weiteres Gedankenspiel: „Das Kind vieler Väter wäre ein größeres Wunder als das Kind ohne Vater. Im Geistigen, wie im Physischen“ [T 5812]. Indem er die Textherstellung zur Vaterschaft naturalisierte und das Konzept einer ‚naiv‘ gezeugten Ur-Poesie für sich reklamierte, unterschlug er wiederum die komplexe Heterogenität der Schaffensprozesse. Hebbels Beschäftigung mit dem Nibelungenlied hatte den Anstoß für derart dezidierte Stellungnahmen über die Problematik von Autorschaft gegeben: „Die Nibelungen auf viele Dichter zurück führen, heißt behaupten, ein Apfel sey nicht das Product eines Baumes, sondern eines Waldes“ [T 5582], lautet noch aphoristisch ein Tagebucheintrag von 1857. Differenzierter äußerte er sich in einem Notat zwei Jahre später, in dem er zugestand, daß es eine Zeit gegeben habe, „wo das ganze Volk den poetischen Stoff zusammentrug“, während es jetzt „nur noch der, der auch schaffen soll“ [T 5664] täte; allerdings blieb für ihn „Volks-Poesie“ im Wortsinne „ein Unding, denn immer haben nur einzelne Individuen gedichtet“ [T 5664]. Damit bezog Hebbel pointiert Stellung in einem durchaus noch unentschiedenen philologischen Streit. 1836 hatte der bedeutende Philologe Karl Lachmann Zu den Nibelungen und zur Klage geäußert, es handele sich hier um ein Werk, „welches nicht anlass giebt an einen einzelnen dichter zu denken“2636 und bei dem „auch kein irgend bedeutender theil der erzählung von einem einzelnen kann mit absicht erfunden sein“. Dies sei deswegen so schwer zu vermitteln, „weil ein gelehrtes zeitalter immer abgeneigt ist der volkspoesie etwas eignes zu gönnen, das nicht von buchgelehrsamkeit ausgeht“. Lachmann selbst hielt das Nibelungenlied für eine „sammlung von volksliedern“.2637 Hebbel vermeldete indes noch in seinem letzten Lebensjahr: „Prof. Pfeiffer hat den Verfasser des Nibelungen-Liedes entdeckt. Es ist ein gewisser Kürenberger, von dem man noch ein Paar Strophen hat, die im Nibelungen-Versmaaß gedichtet sind“. So sehr ihm die (irrige) Erkenntnis des Germanisten entgegenkam, so sehr war Hebbel die Dürftigkeit dieses Arguments bewußt: „Napoleons sämmtliche Schlachten werden nach dieser Analogie einst vergessen seyn, aber der graue Rock und der dreieckigte Hut werden leben!“ [T 6068]. Anders ausgedrückt: Die ‚Geschichte‘ geht verloren, was bleibt, sind Dieses und die folgenden Zitate: LACHMANN, Zu den Nibelungen und zur Klage, S. 1. Kleinschreibung im Original. 2637 Ebd., S. 3. 2636

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ein paar erinnerte Requisiten – kaum anders als beim Wesselburener Theaterpublikum. Doch beim Nibelungenlied hatte ja dank der schriftlichen Überlieferung gerade die ‚Geschichte‘ überlebt, nur eben ohne Autor. Letztlich erwiesen sich beide Extrempositionen zur Verfasserfrage als unrichtig. Das Epos steht gerade am Übergang von anonymer Mündlichkeit zur fixierten Literalität – „in der Mentalität weithin archaisch, mit allen Kennzeichen des mündlichen Stils […], ja mit einer gewissen Varianz der Überlieferung“ ist es doch „nicht denkbar ohne die wohldurchdachte, literarische […] Komposition als Buchepos“.2638 Allerdings konnte „auf jeder Stufe der Textüberlieferung […] mündliches Traditionsgut aufgegriffen und verarbeitet“ 2639 werden; das Werk bewegte sich noch „auf lange Zeit hinaus in einem Fluidum konkurrierender Mündlichkeit“2640 und besaß durchaus „keine endgültige, ‚schriftliche‘ Autorität“. Der volkstümliche mittelalterliche Kompilator bleibt anonym, weil er „eben altiu maere […] berichtet und gültig wiedergeben will und auch bei der variabeln Gestalt, die mit dem mündlichen Vortrag zusammenhängt, eine persönliche, sozusagen urheberrechtliche Beglaubigung gegenstandslos wäre“.2641 Der Anspruch des Autors auf Autorität, auf Werkherrschaft, ist an die schriftliche Fixierung und die dadurch gegebene Verfügbarkeit gebunden – doch ist dies die einzig denkbare Form von erzählerischer Kreativität? Den Gedanken, daß literale und orale Kultur je eigengesetzliche Formen des Schaffens hervorbringen, wollte Hebbel nicht akzeptieren. Prototypischen Charakter für den philologischen ‚Vaterschaftsstreit‘ besaß die bereits 1795 ausgelöste, ähnlich gelagerte Diskussion über Homer. Der klassische Philologe Friedrich August Wolf hatte in seinen Prolegomena ad Homerum I eine aufsehenerregende Position vertreten, „indem er darlegte, daß die Griechen zur Zeit Homers noch nicht schreiben konnten, den ‚Autor‘ Homer zur Fiktion erklärte und an den Werken, die unter seinem Namen überliefert sind, die Eingriffe einer späteren schriftlichen Bearbeitung kenntlich machte“.2642 Der Streit über diese Thesen währte Jahrzehnte. Hier hatte Hebbel 1838 noch eine weniger starre Haltung, als er nostalgisch-romantisch schwärmte: „Die Kunst der Griechen war das Product der gesammten Volksbildung“ [T 1143]; die Rolle des Rhapsoden ließ er dabei unerörtert. Kategorisch anders bewertete er demgegenüber nur „die moderne Kunst“, die „im glücklichsten Fall das Product der Bildung des einzelnen Künstlers“ [T 1143] sei. Auch in diesem Disput nahm Hebbel sein Zugeständnis an die kollektive Kompetenz der Alten später zurück. 1860 hörte er einen zwar „vortrefflichen Vortrag von Bonitz wider die Einheit des Homer“, der „aber dennoch auf dem vollkommensten Mißverständniß der Kunst beruhte“ [T 5788]. Als Entstehungsvoraussetzung der homerischen Epen galt Hebbel nun, wie schon bei den Nibelungen, der einsame Schöpfungsakt der „Kunst“, nicht der Lebenszusammenhang des ‚Kults‘ – in dieser Einseitigkeit lag sein Mißverständnis begründet. Von der zeitgenössischen mündlichen Kultur Dithmarschens hatte er sich vehement distanziert. Jetzt projizierte er die WEHRLI, Literatur im deutschen Mittelalter, S. 64. LOHSE, Nibelungenhandschriften, S. 353. 2640 Dieses und das folgende Zitat: CURSCHMANN, Nibelungenlied und Klage, S. 385. 2641 WEHRLI, Literatur im deutschen Mittelalter, S. 77. 2642 SCHLAFFER, Einleitung, S. 9. 2638 2639

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künstlerische Unabhängigkeit, mit der er selbst überkommene Stoffe gestaltete, generell auf die fernste Vergangenheit. Konstruiert wurde so eine uralte Tradition der Originalität – während die andersgeartete Originalität des Tradierens ausgeblendet wurde. Doch ausgerechnet der „Ur-Poet“ Homer ist von seinem „Volk“ und den Zusammenhängen der mündlichen Kultur nicht ablösbar; „der Erzähler der Ilias und der Odyssee verliert sich in der oralen Gemeinschaft: Er erscheint niemals als ‚ich’“.2643 Um das ‚Ich‘ aber ging es Hebbel: Dichtung als Akt der Emanzipation vom traditionalen Lebenszusammenhang ermöglichte die Selbst-Verwirklichung im Zeichen der Schrift. Dies schließt die gleichzeitige Wirksamkeit gegenläufiger Strömungen nicht aus. Während Hebbel einer ‚oralen Gemeinschaft‘ durch Herkommen und Prägung unfreiwillig verbunden war, und sich unter Mühen von ihr abgrenzte, war diese im gesamtgesellschaftlichen Kontext inzwischen selbst bedroht. Dabei war die Überlieferung des oralen Volksgutes zu Hebbels Zeit bereits in eine historisch neue Situation eingetreten. Während die lokalen Traditionen verkümmerten, erfolgte ihre Weitergabe zunehmend im Rahmen des literalen und literarischen Kommunikationssystems. Herder, Arnim, Brentano und die Brüder Grimm hatten sich daran gemacht, „auf der Suche nach der verlorenen Mündlichkeit […] die im Volke erhaltenen Reste einer archaischen Poesie – Lieder, Märchen, Sagen – zu sammeln“.2644 Arnim und Brentano spielten gar mit dem Gedanken, eine Schule für Bänkelsänger einzurichten. Auf einmal verbanden sich „Emphase und Sehnsucht […] mit der Vorstellung einer ursprünglichen Mündlichkeit“, die so ‚ursprünglich‘ oftmals gar nicht war. Es gehört zu den biographischen Brüchen bei Hebbel, daß auch er zeitweise von dieser modischen Strömung erfaßt wurde. Als 23jähriger Student hatte er auf seiner Wanderung von Heidelberg nach München Gustav Schwab in Stuttgart und Ludwig Uhland in Tübingen besucht. Schwab veröffentlichte zu dieser Zeit sein Buch der schönsten Geschichten und Sagen für Alt und Jung wiedererzählt sowie seine Sammlung der Deutschen Volksbücher, während von Uhland Der Mythus von Thor2645 erschien. Geschmeichelt schrieb Hebbel über die von ihnen erhaltenen Anregungen mit jeweils ähnlichem Tenor an Elise Lensing und an den Jugendfreund Heinrich Schacht: Im nächsten Winter werd’ ich vielleicht einen Band Romanzen schreiben, die sich mit der Vorzeit unseres theuren Dithmarschens beschäftigen; ich habe mit Schwab u Uhland viel über Dithmarschen gesprochen u wenn sie meinten, es müsse mich reizen, das für Dithm. Geschichte zu werden, was sie für Schwaben geworden, so berührten sie damit einen meiner liebsten Pläne, den ich längst gehegt u für den ich schon Manches gethan habe.2646

In der Tat war Hebbel schon von Amalie Schoppe, die 1832 eine Sagenbibliothek veröffentlicht hatte, zu dieser Beschäftigung angeregt worden.2647 Im Ditmarser und ONG, Oralität und Literalität, S. 157. Dieses und das folgende Zitat: SCHLAFFER, Einleitung, S. 13. 2645 WILPERT/GÜHRING, Erstausgaben, S. 1189 (Schwab, Nr. 33 und 34) und S. 1287 (Uhland, Nr. 12). 2646 WAB 1, 121; vgl. auch WAB 1, 113. 2647 Vgl. den Brief von Amalie Schoppe vom 14. Februar 1833 [WAB 1, 25f]. 2643 2644

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Eiderstedter Boten war damals Hebbels Der Tanz. Romanze nach einer Eiderstedtischen Sage erschienen. In einer Fußnote bat er „die gebildeten [!] Einwohner des an Sagen so reichen Eiderstedts“, ihm „gütigst einige dieser für Volksgeschichte und Poesie gleich wichtigen Schätze mittheilen zu wollen“ [DjH II, 251]. Hebbels Pläne blieben allerdings unverwirklicht, abgesehen von einzelnen Balladen wie Ein Dithmarsischer Bauer (1853), bei der die „Dithmarscher Sage vom starken Klaas Andres“2648 Pate stand. Doch auch diese Beispiele zeigen, daß es Hebbel, anders als seinem fünf Jahre jüngeren Dithmarscher Landsmann Karl Müllenhoff,2649 eben nicht um die Bewahrung der Überlieferung, sondern um deren Umschaffen in eigene Werke ging. Ausgerechnet in dem auf Dauer eher gering ausgeprägten Interesse, Stoffe der heimischen Überlieferung bewußt zu übernehmen, äußert sich aber Hebbels bodenständige Prägung: Seine eifrigeren Vorgänger waren von gelehrter, romantischer oder auch nationalbewußter Sehnsucht und Emphase beflügelt worden – und vor allem von modernen Verlusterfahrungen. Hebbel dagegen waren die volkstümlichen Stoffe letztlich ein allzu gewöhnlicher, fast selbstverständlicher Besitz. Darum trat für ihn der Aspekt der ‚Rettung‘ in den Hintergrund; dafür richtete er sein Augenmerk umso mehr auf die poetische Qualität eines Textes. „Es ist doch Täuschung, wenn man glaubt, daß ein Stoff an sich schon etwas sey“ [T 4018], notierte er 1847 im Tagebuch. Dies zeigte sich dem kritischen Blick vor allem dann, wenn die „unverständliche Überlieferung“ – durch Schriftsteller von Profession auf- und umgeschrieben – schließlich als stummes Schriftstück vorlag. Spöttisch blickte Hebbel auf Nikolaus Lenau herab, der „für funfzig Jahre in Oesterreich dadurch unsterblich [wurde], daß er ganz vortreffliche Schwedische [!] Sagen in Verse brachte“ [WAB 4, 508]. Die geographische Verpflanzung war nur das äußere Zeichen von mediokrer Beliebigkeit. Die eigentliche Crux lag in der Verschriftung: Schriftlichkeit ermöglicht dieserart nicht nur Autorschaft, sondern sie stellt sie zugleich in Frage. Die medialen Verschiebungen durch Alphabetisierung und Literarisierung provozieren und erfordern eine schärfere Scheidung zwischen ‚Vorhandenem‘ und ‚Ureigenem‘, zwischen echter Produktion und bloßer Variation. Das Publikum muß diesen Wandel ebenfalls erst verarbeiten, um den veränderten Maßstäben von Kreativität unter den Voraussetzungen der Schriftkultur gerecht zu werden – manchmal braucht es „funfzig Jahre“ und mehr. So kritisierte Hebbel im selben Atemzug „die große Menge der Kritiker und der Leser“ [WAB 4, 508], die „zwischen einem Schöpfer, der ganz neue Bildungen aus ureigener Tiefe heraufholt und einem aesthetischen Schneider, der das längst vorhandene in neue Röcke steckt, nicht unterscheiden“ [WAB 4, 508] könnten. Texte aus Texten zu erstellen, bedeutete eine mortifizierende Musealisierung; die schriftbasierten ästhetischen Wiederbelebungsversuche stellten das vollkommene Gegenteil lebendiger mündlicher Überlieferung dar. Die Metapher des „aesthetischen Schneider[s]“ verweist in diesem Zusammenhang sichtlich auf das ‚Textile‘ des Materials, die medial gegebene ‚Stofflichkeit‘ – dem Beschreibstoff Papier waren ja tatsächlich Lumpen und Hadern zugesetzt. Wer gleichsam mit der Schere vorhandene ‚Texturen‘ zerschnitt, CÖLLN, Friedrich Hebbel und seine Heimat, S. 101. Vgl. die Geschich’n von den starken Ditmarscher Klas Andres [HUBRICH-MESSOW, Sagen und Märchen aus Dithmarschen, S. 29–31]. 2649 Die von Müllenhoff herausgegebenen Sagen, Märchen und Lieder erschienen zuerst 1845 in Kiel. 2648

Weder „Ur-Poet“ noch „aesthetischer Schneider“

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um daraus, wie Hebbel formulierte, „neue Röcke“ zusammenzusetzen, der konnte allenfalls Flickwerk herstellen. Oder allgemeiner: Wenn die Stoffe einmal als schriftliche Texte vorlagen, war die bloß variierende Weitergabe des längst Vorhandenen ‚keine Kunst‘ mehr. In einer oralen Kultur sind die Stoffe nie unabhängig von ihrer mündlichen Realisierung vorhanden – die Kunstfertigkeit liegt in der an den Moment gebundenen Verwandlung des Erinnerten in Erzähltes; das macht ihre ‚Einmaligkeit‘ und Authentizität aus. Anders ist dies in einer Kultur, in der die Stoffe materialiter vorhanden sind: Einmal aufgeschrieben, liegen Sagen und Märchen, Lieder und Moritaten unabhängig von ihrer mündlichen Hervorbringung vor und sind der textkritischen Betrachtung zugänglich. Form und Inhalt, Produktion und Rezeption lassen sich analytisch voneinander trennen. Als bloße Relikte verlieren sie ihre ehemalige lebensweltliche Aura. Nach ‚Gattungen‘ sortiert und den diversen Anthologien als fixierte Texte einverleibt, erscheinen sie plötzlich – um Hebbels Diktum anders zu wenden – als „unzusammenhängende und oft unverständliche Ueberlieferung“ [T 2521]. So ergibt sich ein zweifaches Dilemma: Einerseits können sie mit der Kohärenz und Kontrolliertheit schriftlich konzipierter Texte nicht konkurrieren; ‚orale Literatur‘ ist ein Widerspruch in sich. Andererseits kann auch die nachgeholte Anpassung an skripturale Standards nicht befriedigen, weil dadurch Authentizität und Ereignishaftigkeit des Vortragens verloren gehen. Hier wurde eine Verlustgeschichte konkret erfahrbar, die durchaus mit der kulturellen Großwetterlage der nachklassischen Epoche korrespondierte: Nicht nur die Anlehnung an die gültigen ‚klassischen‘ Muster der „Kunstperiode“, auch die Vertextung volkstümlicher Stoffe mußte in die Sackgasse lebloser Epigonalität führen. Wie ließ sich auf dem Feld der Poesie überhaupt noch ein eigenes Terrain abstecken? Die einseitige Berufung auf die literarische Tradition griff ersichtlich zu kurz, der Rekurs auf die Volksliteratur hatte sich als reaktiv, wenn nicht reaktionär erwiesen, und die Genie-Rhetorik hatte selbst inflationäre Züge angenommen. In diesem Dilemma konnte Hebbel aufgrund seiner spezifischen Kulturisation wiederum auf tiefere Ressourcen traditionaler Mündlichkeit zurückzugreifen. Dies bedeutete freilich eine Gratwanderung. In seinem Wort über das Drama lehnte er ausdrücklich die Meinung ab, „daß die Poeten ihre dramatischen Dichtungen aus der Luft greifen sollen; im Gegentheil, wenn ihnen die Geschichte oder die Sage einen Anhaltspunkt darbietet, so sollen sie ihn nicht in lächerlichem Erfindungsdünkel verschmähen, sondern ihn dankbar benutzen“ [W 11, 9]. Die Art und Weise der Benutzung blieb freilich dunkel. Der „Schöpfer, der ganz neue Bildungen aus ureigener Tiefe heraufholt“ [WAB 4, 508], förderte keine Papiere zutage, sondern versunkene Worte und Bilder, in unreflektiert-genialer Naivität. Auf diese Weise schien die behauptete „Ursprünglichkeit“ der Produktion gewährleistet. Eigenes und Fremdes, Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Subkultur und Kultur, Ursprünglichkeit und Kunstfertigkeit durften so in der Brust des Dichters zusammenfallen. Schon die Volkserzähler besaßen „nicht nur die Oberflächenfreiheit zu individueller Nuancierung, sondern vor allem die Chance, bisher unbemerkte Entwicklungsmöglichkeiten eines Motivs oder eines Handlungsschemas zu entdecken und zu ver-

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wirklichen“.2650 Während dann aber die Sammler der Volkssagen, Volksmärchen und Volkslieder im frühen 19. Jahrhunderten zu Abschreibern wurden, die am Ende bloßes, schriftgewordenes Material in Händen hielten, knüpfte Hebbel an die Oralität als Medium an, indem er eine Verbindung von primärer Mündlichkeit zum dichterischen Produzieren zog. Dies verhieß eine wiedergewonnene Einheit von kreativem Prozeß, phonetischer Realisierung in der schauspielerischen Darstellung sowie der gleichzeitigen audiovisuellen Rezeption durch das Publikum. Sollte so erneut möglich sein, was zu Lebzeiten Hebbels immer mehr in mythische Ferne gerückt war – eine kreative Oralität, deren ‚subliterarische‘ Merkmale sowohl ausdrucks- als auch produktionsästhetisch wirksam waren?

Aspekte ‚subliterarischer‘ Ausdrucksästhetik und ihrer Rezeption Hebbels Pläne, die heimische mündliche Überlieferung einerseits in Sagensammlungen, andererseits in ein Dithmarscher Historiendrama zu überführen, blieben episodisch. Während diese hochgespannten Vorhaben scheiterten, bediente sich Hebbel häufig unauffälliger und unbefangener aus dem Fundus der vertrauten Stoffe, Strukturen und Stilfiguren. In welchem Umfang dies geschah, ist bislang kaum Gegenstand wissenschaftlichen Interesses gewesen. Gelegentlich vorgetragene Einzelbeobachtungen illustrieren nur die bisherige Randständigkeit des Themas. Die zeitgenössischen Literaturkritiker erspürten hingegen sehr wohl eine tiefgreifende Fremdartigkeit an Hebbels Texten, die wiederum kaum begriffen und zumeist unverhohlen abgelehnt wurde. So verschieden sind die oralen und semioralen Quellen aus Volkskultur und populärer Literatur, so vielfältig die Möglichkeiten von Adaption oder Anspielung, so vielschichtig die Textebenen, daß an eine erschöpfende Bestandsaufnahme auch an dieser Stelle nicht zu denken ist. Im Folgenden kann es nur darum gehen, eine ‚kritische Masse‘ verschiedener Phänomene zu versammeln und mit früheren Bewertungen zu konfrontieren, um sie dann einer qualitativ neuen Interpretation zuzuführen. Ausgehend von Hebbels Erleben der Wandertheater hatte Hermann Fricke – gegen seine eigene Abneigung – zugestanden: „Das und die Erlebnisse aus den ersten Knabenspielen, die Eindrücke aus lebender Tradition von Volkssage und Bibel gaben den Grund zu den ersten dramatischen Versuchen.“2651 Daß darüber hinaus auch Hebbels große Dramen thematisch die meistgespielten Stoffe des volkstümlichen Theaters aufgreifen, liegt auf der Hand: Zu diesen zählen die dramatisierten biblischen Geschichten über Judith und Holofernes und über den König Herodes; die Sünderin Maria Magdalena stand zumindest Pate für Hebbels gleichnamiges Trauerspiel. Die Geschichte der Agnes Bernauer war „durch Balladen und das Volkstheater in brei-

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LÜTHI, Europäische Volksliteratur, S. 77. FRICKE, Hebbel und Schiller, S. 6.

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testen Volkskreisen bekannt“,2652 Genoveva hatte vor allem als Volksbuch,2653 aber auch als Bühnenstoff weiteste Verbreitung gefunden. Andere beliebte Motive aus dem Volksschauspiel tauchen bei Hebbel in den unterschiedlichsten Textsorten auf: Der karikierte „miles gloriosus“ oder der „eifersüchtige Alte“ im Trauerspiel in Sicilien, eine verweltlichte Krippenspielszene am Schluß von Mutter und Kind, der verlorene Sohn in zahlreichen selbstreflexiven Anspielungen und diversen literarischen Figuren, auch etwa im Verhältnis von Albrecht und Ernst in Agnes Bernauer; die Geschichte von David und Goliath im gleichnamigen Gedicht. Auch Parallelen zum altmodischen Marionettentheater meinten die Zeitgenossen noch zu erspüren: Julian Schmidt kritisierte, das Auftreten des Holofernes habe „etwas vom Puppenspiel. Er erklärt gravitätisch: ‚Ich bin der grausame Holofernes, und schlage Jedem, dem ich will, den Kopf ab‘, und nun läßt er Einem nach dem Andern den Kopf abschlagen, und füllt die Zwischenpausen durch Jagdgeschichten à la Münchhausen aus“.2654 Dies aber seien „sehr unkünstlerische Mittel“. Damit stand Schmidt nicht allein; auch der Hebbel durchaus wohlgesonnene Gustav Kühne fand Holofernes „zu schwächlich, um ganz Teufel zu sein, und zu gigantisch, um noch das Attribut des Menschen an sich zu tragen“,2655 und erblickte in ihm „eine willenlose Figur des Puppenspiels, die nur der Drahtzug einer denkenden Mechanik in Bewegung setzt“.2656 Adalbert Stifter sah in ihm schlicht einen „Theaterhanswurst“.2657 Über sein Trauerspiel in Sicilien sagte Hebbel selbst, daß es ihm mit dem „durch Simrock herausgegebenen alten Puppenspiel von Faust […] verwandt scheint“ [T 3893], was Gerhard Kaiser wegen fehlender stofflicher Parallelen dem „Marionettenhaften und Grotesken“2658 des Stücks zuschreibt. Auch zu anderen ‚sub-kulturellen‘ Gattungen bestehen vielerlei Verbindungen: Zeitlebens sammelte Hebbel im Tagebuch gehörte und gelesene Anekdoten. So basierte die Kurzerzählung Die Kuh auf einer „Geschichte aus den Zeitungen, die Janens erzählte“ [T 2701]. Laut Richard Maria Werner stellte sie eine „von Zeit zu Zeit immer wieder auftauchende Anekdote“2659 dar, die in ähnlicher Form sogar im 20. BRINKMANN, Erläuterungen zu Friedrich Hebbels Agnes Bernauer, S. 7. So rezipierte Hebbel zuerst diesen Stoff, vgl. FASSBINDER, Friedrich Hebbel, S. 47, sowie W 15, 9. 2654 Dieses und das folgende Zitat: SCHMIDT, [Rez.] Friedrich Hebbel. Der Rubin, S. 83. 2655 [KÜHNE], Friedrich Hebbel und die Tragikomödie, S. 149. 2656 Ebd. Die volkstümliche Überlieferung stellte eine spezielle Verbindung zwischen Holofernes und Dithmarschen her: In der Chronik des Landes Dithmarschen des Neocorus, die Hebbel zur Entstehungszeit der Judith rezipierte (er gab das Buch mit Brief vom 13.10.1839 an Amalie Schoppe zurück), wurde die Ansicht ventiliert, ob „de Ditmerschen van Holofernes her reken unde rekenen“ und nach der „etliche vorgeven dorven, de Ditmerschen sin mitt in des Holofernis Lager vor Bethulia gewesen, und nhademe gedachter Hertoch van der gottseligen Judith wunderbarlich erschlagen und des Koppes korter worden, hebben se sick mit ehrem Oversten Petroclus darvan gemaket […] und sin darnha van dar in diese Jegent mit Schepen angevahren“ [NEOCORUS, Chronik, S. 52]. Auch die Annahme kursierte, daß die Dithmarscher „ein gewisser Demetrius (daher Dithmarschen) hierher geführt habe“ [KOHL, Die Marschen und Inseln, S. 108] – erste krause ‚Merkzeichen‘ für den kleinen Friedrich, urtümliche Identifikationsmuster, an die sich dramatische Phantasien anknüpfen ließen? 2657 Zit. nach LANGEN, Deutsche Sprachgeschichte, Sp. 1446. 2658 KAISER, Hebbels Trauerspiel in Sicilien als Tragikomödie, S. 183. 2659 Werner in W 8, XLVI. 2652

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Jahrhundert noch für eine Zeitungsnachricht gut war, wie ein aus dem Jahr 1913 stammender Artikel zeigt (Abbildung 26). Auch zu dem Zweiakter Michel Angelo gab ein anekdotischer Stoff den Anstoß, den Hebbel „benutzt und zu seinen Zwecken umgestaltet“2660 habe, wie Paul Heyse bemerkte. Hebbels erste, 1828 anonym im Ditmarser und Eiderstedter Boten erschienene Prosaerzählung Treue Liebe beruhte vor allem auf der Kalendergeschichte Unverhofftes Wiedersehen von Johann Peter Hebel. Der zuerst von Gotthilf Heinrich Schubert berichtete Stoff bot viele Möglichkeiten der Ausgestaltung: In einer gebrechlichen, alten Frau erwacht erneut die Liebe, als sie den in jugendlicher Frische konservierten, aber erkalteten Leichnam ihres 50 Jahre zuvor im Bergwerk verschütteten Verlobten erblickt – welch unglückliche Verschränkung von Jung und Alt, Warm und Kalt, Innerem und Äußerlichem, Glück und Trauer! Sowohl die Literatur – von Hoffmann bis zu Hofmannsthal – als auch der Bänkelsang bemächtigten sich des Stoffes. Noch 1932 war eine Bänkelsang-Fassung im Programm des Verlags Reiche in Schwiebus zu finden.2661 Wolfgang Liepe, der 1953 überhaupt erst Hebbel als Autor von Treue Liebe identifizierte, sah in dem Prosastückchen Einflüsse von Hoffmanns Die Bergwerke zu Falun und Kleists Käthchen von Heilbronn2662 wirksam. Betrachtet man das Werkchen genauer, so drängt sich jedoch der Eindruck auf, der fünfzehnjährige Hebbel hätte die Chancen einer literarisch wirksamen Ausbeutung des Stoffes vollkommen vergeben. Werden im Bänkelsang und anderen populären Gattungen Liebesbeziehungen bei aller Sentimentalität „unerotisch, unsinnlich und klischeehaft“2663 geschildert, so galt dies ohne Abstriche für die Treue Liebe zwischen Julius und Maria: „Wenn dann beide Liebende beisammen waren, dann tändelten sie auf schuldlose Weise, wie die lieben Kinder“.2664 Der Verlust des Bräutigams wurde von Hebbel zwar als „ein herber Schmerz für Maria“2665 beschrieben, doch verzichtete er auf jede differenziertere Einfühlung. Nicht die individuelle Empfindung, sondern die unbeirrbare Treue zum einmal Erwählten war das Thema. Folglich ging der Autor zu langatmigen Belehrungen über: „Die Bewegungen der Natur müssen sich erst legen, ehe die besänftigende Stimme der Vernunft Gehör finden kann“. Der aufklärerische Tenor verdünnte die theatralische Wirkungsästhetik am Ende zu einem indirekten, verschämt-empfindelnden Rezeptionsvorschlag: „Aber die Zuschauer konnten sich der Thränen nicht erwehren!“2666 Mit Recht meint daher Wulf Segebrecht, daß es „eher der moralisch-didaktischen Tendenz Schuberts und Hebels“2667 als der Poetik Hoffmanns und Kleists folge. Wem es um den ‚Dichter‘ Hebbel zu tun ist, der wird Treue Liebe als unreif oder defizitär abtun. HEYSE, [Rez.] Michel Angelo, S. 217, vgl. Werner in W 3, XXVIIIf. Nr. 455: Gottes Wege sind wunderbar, oder 50 Jahre im Schoße der Erde begraben, vgl. BRAUNGART, Bänkelsang, S. 374. 2662 LIEPE, Unbekannte und unerkannte Frühprosen Hebbels. Vgl. auch SCHOLZ, Treue Liebe zum Verschütteten. 2663 PETZOLD[T], Soziale Bedingungen des Bänkelsangs, S. 126f. 2664 HEBBEL, Vier unbekannte Frühprosen, S. 71. 2665 Ebd., S. 72. 2666 Ebd., S. 73. Vgl. auch die direkte Aufforderung am Ende von Der Brudermord: „Weine, Leser“ [W 8, 8]. 2667 In: HOFFMANN, Die Serapions-Brüder, S. 1330. 2660 2661

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Doch liegt dieser Wertung eine perspektivische Verzerrung zugrunde. Denn in der vorliegenden Form fügte sich das Stück Prosa exakt seinem publizistischen Kontext ein. Der Ditmarser und Eiderstedter Bote diente in erster Linie der Information der Landbevölkerung, sein Titel erinnerte noch an die ältere Tradition der wandernden Zeitungssänger. An deren „Neue Zeitung“ knüpfte der „Bote“ auch mit der Berichterstattung von seiner „37ste[n] Reise“ des Jahres 1828 an: Unmittelbar setzt sie mit der Überschrift Treue Liebe ein; die Geschichte selbst beginnt mit Orts- und Zeitangaben: „Zu Falun in Schweden, verliebte sich vor etwa 50 Jahren, ein lieber junger Bergknappe“ (Abbildung 27). In diesem Kontext ist kein literarisches Kunstwerk zu erwarten, sondern ein mündlich erzählbarer Sensationsbericht mit moralischem Zusatznutzen für das breite Volk – und diesen lieferte Hebbel.2668 Der Verzicht auf die Nennung seines Namens deutet an, daß er keinen Anspruch auf den Text als sein geistiges Eigentum erhob. Ausgerechnet darin steckte ein fiktionales Moment. Denn indem der Bearbeiter hinter den „Boten“ zurücktrat, konnte der ‚Nachricht‘ ein Authentizitätsanspruch zuwachsen, den sie nicht besaß. Doch setzt diese Sichtweise gleichfalls den modernen Zeitungsleser voraus – dem traditionalen Rezipienten kam es nicht auf nachprüfbare Daten und Fakten an, sondern auf die ‚Stimmigkeit‘ einer ‚guten‘ Geschichte. In dieser Eigenschaft gleichen Kalender- und Zeitungsgeschichten den Liedern und Erzählungen des Bänkelsangs, von denen gleichfalls Überlieferungsspuren zu Lyrik und Prosa Hebbels führen. Immerhin nannte schon Ernst Alker das 1846 verfaßte Trauerspiel in Sicilien als Ganzes „eine dramatisierte Moritat“,2669 und Heinz Stolte hatte nach eigenem Bekunden „1961 einen Vortrag in Wesselburen über Hebbels Lyrik gehalten und dabei die Hypothese vertreten, auf die Dichtung des jungen Hebbel in der Wesselburener Zeit müßten vor allem Bänkelsängerlieder, volkstümliche Moritaten eingewirkt haben. Das schloß ich aus einer Stilanalyse der frühen Lyrik Hebbels. Aber ich hatte keine Beweise dafür“.2670 Umso überraschender kam für Stolte der konkrete Beleg eines solchen Zusammenhangs zwischen ‚Straße‘ und Kunst: Hinterher nahm mich Gustav Biebau im Museum beiseite. In einer verborgenen Ecke zeigte er mir eine alte Truhe aus der Hebbel-Zeit. Er öffnete den Deckel und sagte: „Hier haben Sie den Beweis dafür, wie verbreitet zu jener Zeit die Moritaten gewesen sind und daß Hebbel sie gekannt haben muß, bevor er noch mit klassischer Literatur in Berührung kam.“ In der Tat – der Deckel der Truhe war an seiner Innenseite tapeziert mit einem bebilderten Moritatendruck. Das sei, versicherte er mir, damals eine sehr verbreitete Art des Truhenschmucks gewesen.

Auch wenn Stolte diese Umstände zunächst als „abgelegenere Sachverhalte“ abtun wollte, konnte er „den starken Einfluß der Moritaten in Hebbels Umwelt“2671 wie in Auch später noch, wenn Hebbel im Wiener Freundeskreis Verbrechergeschichten zum Besten gab, folgte der „Schaustellung des Furchtbaren […] bei ihm jedesmal der ernste Epilog“ [KUH, Biographie, Bd 2, S. 469]. 2669 ALKER, Die deutsche Literatur im 19. Jahrhundert, S. 563. 2670 Dieses und die folgenden Zitate: STOLTE, Gustav Biebau, S. 136f. 2671 STOLTE, Ahne das Wunder der Form, S. 18. 2668

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seiner dichterischen Entwicklung selbst „nun einmal nicht leugnen“. Auf der anderen Seite blieb die werkbiographische Evidenz schwach. Zu der 1835 entstandenen Novelle Barbier Zitterlein meinte Stolte eine Moritat entdeckt zu haben, „die Hebbel vermutlich angeregt“ habe, doch eine lebendige Vorstellung von der Vielfalt subliterarischer Enflüsse gewann bzw. vermittelte Stolte nicht. Dem jugendlichen Hebbel indes schien die Hingabe gerade an den Bänkelsang eine Zeitlang sogar als Lebensform verheißungsvoll: 1820 erweckten die Bänkelsänger in weiten Bevölkerungskreisen „die Teilnahme für die Griechen“2672 und ihren Befreiungskampf; und noch einmal, um 1832, gab es „im Gedanken an den Aufbau eines neuen Deutschland“2673 Vorschläge, die volkstümliche Figur des Bänkelsängers für eine „didaktisch moralische“ bzw. „politische Rolle“ in Anspruch zu nehmen. Dieser Motivkomplex verdichtete sich beim jungen Hebbel 1833 zu dem Vorhaben, allen Ernstes „nach Griechenland“2674 zu gehen – als wandernder Sänger. Und noch in seiner Wiener Zeit erzählte er leidenschaftlich gern „bildlich“2675 und mit der „großartigen Nachlässigkeit und Eindringlichkeit der alten holländischen Künstler“ Kriminalgeschichten und grausige Anekdoten und empfand ein geradezu „diabolisches Behagen an dem hervorgebrachten Entsetzen“. Kuh erinnerte sich „namentlich seiner Reproduktion des Prozesses jenes ungeheuerlichen Mörders, eines Haarkräuslers in Braunschweig, der sich nach Hinschlachtung seines Opfers, einer jungen Frau, damit die ‚Langeweile‘ kürzte, daß er die Tote, weil er nicht sofort aus ihrem Zimmer hinaus konnte, in einen Lehnstuhl setzte und kunstgemäß frisierte“ – ein klassischer Moritatenstoff! In seinen Werken finden sich nicht nur stilistische Reminiszenzen an den Bänkelsang, auf die sich Stolte berief, sondern ebenso Übernahmen von Motiven, Schlüsselworten und plots: So sind Der Brudermord und Die Räuberbraut nicht nur die Titel von Hebbelschen, sondern auch von Bänkelsang-Erzählungen;2676 Banditen, Wilderer, Kindsmörderinnen und Vagabonden spielen hier wie dort Hauptrollen. Hebbels Titel Eine Nacht im Jägerhause benennt präzise Tatzeit und -ort so mancher Moritat. Die einsamen Kinder Hebbels finden eine Parallele in der Geschichte von eilf herumirrenden vater- und mutterlosen Waisen2677 bzw. in Die Kinder des Verschollenen.2678 Brandkatastrophen sind nicht nur wiederkehrender Gegenstand in Moritaten, sondern auch in Hebbels Erzählungen Anna und Die Kuh – das gleich zweimalige Verwendung dieses Motivs innerhalb eines schmalen Bändchens hatte bereits der Literaturkritiker Julian Schmidt spöttisch moniert.2679 Auch im Längsschnitt durch einzelne Texte ergeben sich Kongruenzen: Hebbels Novelle Anna liest sich insgesamt wie eine elaboriertere (und natürlich stark modiPETZOLD[T]: Soziale Bedingungen, S. 123. Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 122. 2674 WAB 1, 31. Vgl. auch autobiographischen Brief an Arnold Ruge vom 15.9.1852: „bald entschloß ich mich, aufs Gerathewohl mit einem jungen Musiker in die Welt zu gehen“ [WAB 2, 548]. 2675 Dieses und die folgenden Zitate: KUH, Biographie, Bd 2, S. 468f. 2676 Vgl. BRAUNGART, Bänkelsang, S. 93; FRAENGER, Schock schwere Not, S. 60. 2677 BRAUNGART, Bänkelsang, S. 181. 2678 KOHLMANN, Bevor die Bilder laufen lernten, S. [3]. 2679 Vgl. SCHMIDT, [Rez.] Friedrich Hebbel. Der Rubin, S. 86. 2672 2673

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fizierte) Variante auf eine typische Bänkelsang-Erzählung, wie sie Der Todestag der Brandstifterin Sophie Cath. Büscher2680 darstellt, die im Jahr 1824 publiziert wurde. Beide Protagonistinnen sind Dienstmädchen, beide erhalten von ihrem Brotherrn „ernste Verweise“,2681 bevor es auf ähnliche Art zum Eklat kommt: Als die Sophie der Moritat „eine Tasse zerbrach, fand es ihre Herrschaft für nothwendig, ihr nach wiederholten, ernsten Vorwürfen eine kleine Züchtigung zu ertheilen“.2682 Hebbels Anna läßt nach einem ungerechten Tadel eine Terrine, „in heftigem Kampf mit der ihr eigenen Unerschrockenheit begriffen, zu Boden fallen. Das kostbare Geschirr zerbrach“ [W 8, 230]. Auch bei ihr läßt die Züchtigung durch den Herrn nicht auf sich warten: „Was? – rief er laut aus und trat dicht vor das Mädchen hin – will Sie Tückmäuserin an meiner Mutter Küchengeräthschaften ihr Müthchen kühlen, weil Ihre Verstocktheit es Ihr nicht erlaubt, einen wohl verdienten Vorwurf ruhig hinzunehmen, wie sich’s geziemt?“ Und damit gab er ihr rechts und links, scheltend und tobend, Ohrfeigen über Ohrfeigen [W 8, 230].

Der Gutsherr unterstellt Anna, was bei Sophie Catharina Büscher der BänkelsangText als Faktum hinstellt: Diese lebe in „dem unvernünftigen Wahne, ihr sey so groß Unrecht geschehen“.2683 Entsprechend sinnt sie auf Rache, geht „mit brennender Lampe in die Scheure ihres Brodherrn“ und setzt „das vom Boden herabhängende Stroh in Flammen“. Anna hingegen muß den Abend strafweise in der Flachskammer verbringen; durch eine Unachtsamkeit fällt das Licht herunter und entzündet „den schnell in mächtiger Flamme auflodernden Flachs“ [W 8, 234]. Unversehens steht „die Kammer schon halb in Feuer“ [W 8, 234] wenig später – „Immer gewaltiger erhob sich der Wind“ [W 8, 235] – brennt es schon im Dorf. Wie von Sinnen stürzt Anna „sich in jede Gefahr, rettete, löschte, und war allen Anderen zugleich Gegenstand des Erstaunens, der Bewunderung und ein unheimliches Räthsel“ [W 8, 236]. Einen ähnlichen Verlauf nimmt das Geschehen in der Moritat: „Bey dem zufällig herrschenden Windsturme verbreitete sich diese Flamme so schnell, daß an Rettung gar nicht zu denken war. […] Obgleich die boshafte Urheberinn aller dieser Gräuelthaten die Frechheit besaß, statt zu entfliehen, ihre Herrschaft mit scheinbarer Theilnahme, beym Retten ihrer Habe noch zu unterstützen: so machte sie sich dennoch auf mannigfache Weise der Obrigkeit zu verdächtig“.2684 Beide Geschichten enden schauerlich: Während Sophie Catharina Büscher der Prozeß gemacht wird, „worauf sie ihre schaudervolle That eingestand“; kehrt Hebbel noch einmal das subjektive Moment hervor, indem er Anna ausrufen läßt, „ich, ich bin Schuld“ [W 8, 236], bevor sie in den Flammen umkommt. Zwar begleitet Hebbel das Geschehen mit psychologisierenden Passagen, um dem Leser die ‚Täterin‘ näherzubringen, doch läßt sich die grundsätzliche Affinität zum Moritatenstil bei der Schilderung des Drastischen und Gräßlichen kaum in Abrede BRAUNGART, Bänkelsang, S. 116–123. Ebd., S. 119. 2682 Ebd., S. 120. 2683 Dieses und die folgenden Zitate: Ebd., S. 120. 2684 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 120f. 2680 2681

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stellen. Auch in anderen Erzählungen reichen die Parallelen bis in konkrete Einzelzüge hinein. So gefällt sich eine Moritat in der unbefangenen Ausmalung der im Titel angekündigten Gräuel und Schandthaten des Banditen-Hauptmanns Alex Scharnofski: „Der Hauptmann ergriff das Kind mit der linken Hand und mit der rechten schwang er eine mächtige Keule über das Haupt der vor ihm knieenden Mutter, dann warf er das Kind zu Boden, über das seine Dogge sogleich herfiel und das arme wimmernde Kind zerriß […] mit teuflischer Lust schwang er die Keule und zerschmetterte damit das Haupt der armen Mutter“.2685 An anderer Stelle faßt jemand ein Kind „bei den Haaren und schleuderte es ingrimmig gegen die Wand, als ob es eine giftige Schlange wäre“ [W 8, 248], wo es „laut- und leblos mit geborstenem Schädel und mit verspritztem Gehirn am Boden lag“ [W 8, 248]. Dieser andere ist freilich kein Räuber, sondern der Bauer Andreas aus Hebbels Die Kuh! Auch für diese Sequenz fand Hebbel eine zweite Verwendung: In Matteo „packte“ ein Vater seinen Sohn „und warf ihn weit von sich, so daß der kleine Kopf dröhnend gegen die harte Wand fuhr, und das Kind, ohne einen Laut von sich zu geben, liegen blieb“ [W 8, 213]. Mehr von innerer als von physischer Rohheit zeugt Eine wahrhafte Begebenheit, welche sich in der Stadt Rentzburg zuge[tra]gen. Darin redet eine Mutter „dem gottlosen Sohn beweglichst zu, hält ihm vor, daß er ja ihr Kind sey, daß sie ihn unter ihrem Herzen getragen, mit ihren Brüsten gesäuget“,2686 um ihn von ihrer Ermordung abzubringen. Hebbels Holofernes kennt solche Vorhaltungen offenbar nur zu gut und will seine Mutter aus eben diesem Grunde nicht mehr sehen – müßte er doch der Zeit „gedenken, wo er ein erbärmlicher Wurm war, der die Paar Tropfen Milch, die er schluckte, mit Schmätzen bezahlte“ [W 1, 49]. Neben motivischen lassen sich strukturelle Übereinstimmungen benennen. Paul Zumthor zählte generell zu den „klareren Strukturierungsmerkmalen“2687 der mündlichen Dichtung gegenüber der schriftlichen, daß sie „eine besondere Redundanz“ aufweise, die den „stärksten Wiederholungsmomenten“ der kollektiven Existenz verhaftet sei. Dies schlägt noch in der semioralen, populären Literatur – wie Bänkelsang und Volksballade – durch, die konsequent „’kumulativ‘ verfährt“.2688 Eine solche „Kumulierung trauriger Ereignisse und verhängnisvoller Zufälle erregte sentimentale Rührung“2689 und war für das Publikum besonders attraktiv. Diesem Prinzip folgte Hebbel keineswegs nur im Handlungsablauf von Anna; mit noch größerer Konsequenz übertrug er es auf die Erzählung Die Kuh, wo die Eskalationsstufen besonders rasch aufeinander folgen. Markiert werden sie – ganz wie in Bauerntheater und Bänkelsang – durch handfeste Requisiten: Bei Anna geschieht das durch die zerbrochene Suppenterrine und das umgeworfene Licht; in Die Kuh sind es „die Pfeife, der Strick, die Streu, die sich für den Bauern mit der Vorstellung seines Glückszustandes verbanden“ und die zugleich „zu Fallstricken seines Unglücks“2690 werden. Auch die Dramen Ebd., S. 178. Ebd., S. 22. 2687 Dieses und die folgenden Zitate: ZUMTHOR, Einführung in die mündliche Dichtung, S. 41f. 2688 BRAUNGART, Bänkelsang, S. 370. Vgl. auch HINCK, Volksballade – Kunstballade – Bänkelsang, S. 62. 2689 PETZOLD[T], Soziale Bedingungen, S. 124. Vgl. auch ebd., S. 128. 2690 DURZAK, Der wiederentdeckte Erzähler, S. 173. 2685 2686

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weisen, wenn auch weniger dominant, eine kumulative Organisation der Handlung auf: So etwa in der wiederholten Gegenüberstellung von Golo und Genoveva oder in der zweimaligen Abwesenheit des Herodes mit dem jedesmaligen Beschluß, Mariamne unter das Schwert zu stellen. Während das Geschehen hier jeweils eine dramatische Steigerung erfährt, dominieren in Erzählungen wie Schnock, Nepomuk Schlägel und Herr Haidvogel repetitive Muster, die eher ein „Motivkaleidoskop“2691 entfalten. Ähnlich verdeutlichen die von Holofernes fortwährend statuierten Machtexempel seinen hervorstechendsten Charakterzug. Auf stilistischer Ebene setzt sich das Wiederholungsprinzip in der häufigen Verwendung von Anapher, Parallelismus, Klimax oder auch der Wortwiederaufnahme in Monolog und Dialog fort.2692 Die kumulativen Strukturen widersprachen tendenziell den ästhetischen Vorstellungen des Realismus; gerade bei Holofernes reizten sie zu noch grotesker übertreibenden Parodien.2693 Julian Schmidt bemängelte nicht allein bei Gelegenheit der Anna, daß „eine Häufung von Gräueln immer ein sehr zweifelhafter Gegenstand der Kunst ist“,2694 sondern machte dasselbe Stilprinzip auch bei Maria Magdalena aus: „Der Vater […] erlebt in ein Paar Tagen den Schmerz, daß sein Sohn als Dieb angeschuldigt wird, daß seine Frau darüber der Schlag rührt, daß die Tochter von ihrem Bräutigam im Stich gelassen wird, daß sie sich endlich ersäuft“2695. Emil Kuh meinte, Hebbel mit einem Verweis auf seine Biographie in Schutz nehmen zu müssen. Demnach „schnitten sich auch die schmachvollen Zustände, die Unbilden und Erniedrigungen seines Lebens in scharfen Konturen vor ihm ab; mit dem poetischen Vermögen, das auf dem Sammeln und Steigern beruht, ging ein geschäftiges Zusammentragen der bittern, häßlichen Eindrücke, ein emsiges Aufzählen aller Unglücksposten betrübsam Hand in Hand“.2696 Ein derart umstandsloses Ummünzen von Erfahrung in ein ästhetisches Prinzip mochte mit am Werk sein – näher aber liegt die direkte Wirksamkeit der populären Erzählungen, von der gebildete Zeitgenossen wenig wußten und noch weniger wissen wollten. Das Beispiel Bänkelsang eignet sich zur Herausarbeitung noch weiterer ‚subliterarischer‘ Eigenarten. Dessen schauerliche Wirkung auf die Zuschauer geht vor allem von einer Ereignisdominanz aus. Nicht auf die Erzeugung von zartfühlender Empathie, sondern auf Schauder, Schockeffekte und die daraus resultierende Belehrung kommt es an. Für die Rezipienten gilt: „Wer sich an den rechten Weg hält, darf kein falsches Mitleid haben“. 2697 Entsprechend, so Ludwig Hirschberg, war das „Gewissen der Neugierigen […] beruhigt, wenn dem Gesetz genüge getan war“.2698 Mit dieser moralischen Ausrüstung lauschte man dem Bänkelsänger: „Die GrausamBRAUNGART, Bänkelsang, S. 371. Vgl. LANGEN, Deutsche Sprachgeschichte, Sp. 1444f., sowie GANSBERG, Zur Sprache in Hebbels Dramen, S. 61. 2693 Neben der bekannten Parodie Nestroys existiert auch eine, die der Hebbelforschung offenbar unbekannt ist: Tschindadra, aus der Feder eines „Wütherich Schnebbel“. 2694 SCHMIDT, [Rez.] Friedrich Hebbel. Der Rubin, S. 85. 2695 SCHMIDT, [Rez.] Friedrich Hebbel. Judith, S. 70. 2696 KUH, Biographie, Bd 1, S. 121. Hervorhebungen C. S. 2697 HIRSCHBERG, Die Kinder und der Bänkelsang, S. 52. 2698 HIRSCHBERG, Moritat und Justiz, S. 30. 2691 2692

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keit seiner ‚Schilderung‘ konnte nicht schlimmer sein als die Wirklichkeit.“2699 Sein steif-würdiges Auftreten in Uniform oder schwarzem Gehrock verlieh seinem Bericht zudem einen geradezu „amtlichen Charakter“,2700 der sich auch im Text stilistisch widerspiegeln konnte. Am Schluß einer Räuber-Moritat macht die Obrigkeit kurzen Prozeß und sendet „Infanterie, um das Raubgesindel aufzusuchen und einzufangen. Dies geschah denn auch bald.“2701 Hebbels Anna endet – bei aller psychologischen Vertiefung – ähnlich trocken: „Als der Freiherr am andern Morgen erfuhr, was sich mit Anna begeben hatte, befahl er, ihre Gebeine aus dem Schutt hervor zu suchen und sie auf dem Schindanger zu verscharren. Dieß geschah“ [W 8, 237]. Seinen mündlichen Bericht vom grausigen Haarkräusler schloß Hebbel lakonisch: „Ja, Kuh […], der gelangweilte Mann operierte so gemächlich mit den langen Strähnen, als ob nichts Erhebliches vorgegangen wäre“.2702 Ganz allgemein beobachteten die Zeitgenossen an Hebbel „bei den haarsträubendsten Handlungen eine raffinirte, imponirende Kälte, die ebenso gezwungen aussieht, als die hohle Declamation der Empfindsamkeit“.2703 Weniger der Bezug auf die literarische Epoche der Empfindsamkeit war an dieser Bemerkung Julian Schmidts zutreffend, wohl aber der Verweis auf das extrovertiert-deklamatorische Bekunden von Betroffenheit, das generell als Merkmal der traditionalen Kultur und des Bänkelsangs im besonderen gelten kann. Schmidt verstand den mentalitätsgeschichtlichen Hintergrund nicht mehr, wenn er das Fehlen empathischer Innerlichkeit mit „raffinirte[r]“ Kälte gleichsetzte. Als Repräsentant der neuen bürgerlichen Ära bemängelte er, Hebbels Probleme kämen „nicht aus dem Herzen“,2704 und selbst in Maria Magdalena sei der unangenehm kühle „Lapidarstil“ durch eine immerhin „vortreffliche Charakteristik der Gemüthsbewegung“2705 lediglich gemildert. Daß Hebbels Figuren durchaus auch moderne psychologische Züge trugen, erschwerte natürlich die Erkennbarkeit des traditionalen Gehalts. Richard Maria Werner verbarg solche Probleme der Einordnung hinter dem Gestus wertfreien Registrierens, indem er an Die Kuh exemplarisch „jene furchtbare Objektivität, die das Entsetzlichste mit scheinbarer Teilnahmslosigkeit erzählt“2706 festzustellen glaubte. Rainer Gruenter wiederum wollte Hebbels „Lakonismus“2707 aus der „Unsicherheit des autodidaktisch Gebildeten“ ableiten. Dagegen interpretierte Marie Luise Gansberg den „nüchtern-karge[n] Stil“, 2708 die „abgekühlte, asketisch-harte, ‚filtrierte‘ Sprache des Gyges“ plausibler als Ausdruck dessen, „was ‚zur Sache‘ gehört“ und „der unmittelbaren Verständigung dient“. Den „legeren Lakonismus Hagens“2709 sah sie in die „umgangssprachlichHIRSCHBERG, Die Kinder und der Bänkelsang, S. 52. HIRSCHBERG, Moritat und Justiz, S. 30. 2701 BRAUNGART, Bänkelsang, S. 178. 2702 KUH, Biographie, Bd 2, S. 469. 2703 SCHMIDT, [Rez.] Friedrich Hebbel. Der Rubin, S. 83f. 2704 SCHMIDT, [Rez.] Friedrich Hebbel. Judith, S. 70. 2705 SCHMIDT, [Rez.] Friedrich Hebbel. Der Rubin, S. 85. 2706 Werner in W 8, XI. 2707 Dieses und das folgende Zitat: GRUENTER, Hebbels ästhetische Theorie des Wortes, S. 372. 2708 Dieses und die folgenden Zitate: GANSBERG, Zur Sprache in Hebbels Dramen, S. 74. 2709 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 75. 2699 2700

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alltägliche Sprachschicht“ eingebettet; die Ursache für die „vereinfachende Form des Pathos“2710 und der „Zuwachs an […] suggestiver Einfachheit, lakonischer Wucht“2711 in den Nibelungen bestand für sie „einmal in ganz direkter Schilderung von Tatbeständen“2712 und dann wiederum im Anknüpfen „an ganz konkrete alltägliche Dinge“. Gerade darin, daß Hebbel diese Stilelemene in die Literatursprache aufnahm, erblickte Gansberg „eine – wenn auch bescheidene und bedrohte – sprachschöpferische Leistung“.2713 Der Eindruck insgesamt, den Hebbels Texte bei seinen Zeitgenossen hinterließen, war allerdings alles andere als ‚kühl‘ oder ‚sachlich‘. Schon an seiner mündlichen Vortragsweise bemerkte der gebannte Zuhörer Kuh: „Der oft peinliche Lakonismus der Darstellung schien wie vom Gesprächigen wohltuend überströmt“, 2714 der „Zuschuß seiner starken Persönlichkeit in Sprechorgan, Mienenspiel und Gebärde milderte die seinen Gestalten hier und dort anhaftende Sprödigkeit“; doch blieb ihm eine „pathologische Nähe, in welcher er zu seinen Phantasiegeschöpfen stand“, nicht verborgen. Die Rezensenten, die Literatur zu bewerten hatten, urteilten dagegen scharf: Gustav Kühne sprach von „Schreckgestalten des Häßlichen“,2715 Julian Schmidt von „Monstrositäten“2716, August Henneberger von einer „Freude am Grassen und Widrigen“,2717 und Robert Prutz von „Schwulst und Übertreibung“.2718 Hermann Hettner schließlich erblickte im „wüsten Treiben“2719 Hebbels „Nichts als lauter Ungeheuerlichkeiten“. Mit den hochliterarischen Normen ihrer Zeit konnten die Kritiker Hebbels Werke hermeneutisch nicht adäquat erfassen. So machten „die Hebbelschen Excentritäten“ im Trauerspiel in Sicilien auf Henneberger geradezu einen „gespenstisch peinlichen Eindruck“;2720 Hettner fand das Stück „undramatisch, schlechthin unkünstlerisch“2721 und griff zum Vergleich mit einer „Criminalgeschichte“, die „zu fratzenhafter Häßlichkeit aufgestachelt“ sei. Auch mit dem ‚ästhetischen‘ Begriff des Grotesken2722 ist das von den Kritikern verwendete Vokabular noch zu schwach bestimmt, ist doch in den Definitionen der „nachromantischen Jahrzehnte“2723 eine „Verharmlosung“ zu beobachten; auch in der bürgerlich bestimmte[n]“ Literatur der Zeit ist das „eigentlich Groteske kaum“ oder „höchstens in abgemilderter Form“ anzutreffen. Die KraftEbd., S. 77. Ebd., S. 78. 2712 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 77. 2713 Ebd., S. 78. Kurz zuvor hatte Fritz Martini eine solche Leistung schlichtweg negiert; vgl. MARTINI, Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus, S. 107. 2714 Dieses und die folgenden Zitate: KUH, Biographie, Bd 2, S. 466f. 2715 [KÜHNE], Friedrich Hebbel und die Tragikomödie, S. 147. 2716 SCHMIDT, [Rez.] Julia, S. 108, und HENNEBERGER, Das neueste deutsche Drama, S. 54. 2717 HENNEBERGER, Das neueste deutsche Drama, S. 53. 2718 PRUTZ, Literatur und Kunst, S. 211. 2719 Dieses und das folgende Zitat: HETTNER, Hebbel und die Tragikomödie, S. 47. 2720 HENNEBERGER, Das neueste deutsche Drama, S. 51. 2721 Dieses und die folgenden Zitate: HETTNER, Hebbel und die Tragikomödie, S. 49f. 2722 Kayser bezeichnet das „Monströse […] als Kennzeichen der Groteske“ [KAYSER, Das Groteske, S. 17] bzw. verweist auf Goethe: „Fratzenhaft ist in seiner Sprache oft synonym mit grotesk“ [ebd., S. 35]. 2723 Dieses und die folgenden Zitate: Ebd., S. 82. 2710 2711

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ausdrücke der Kritiker erinnern aber frappierend an Attribute, mit denen gemeinhin auch der Bänkelsang beschrieben worden ist: Der Volkskundler Hans Naumann charakterisierte die Moritatenschilder als „unglaublich roh und primitiv, […] voll übertrieben gräßlichen Affekts; die Barbarei des Dargestellten“ sei „schauerlich“;2724 „Monstrositäten“ und „Ungeheuer“ wurden auf ihnen ganz direkt ins Bild gesetzt; und „Fratzenhaftigkeit“2725 bescheinigte Friedrich Schaubach den Schilderungen der Leierkastenlieder. Ähnliche Begriffe hatte Hebbel selbst benutzt, als er über seine nicht erhaltene Erzählung Andreas schrieb, sie solle „neben dem Fratzenhaft-Lächerlichen das Schauerlich-Gespenstische zur Anschauung bringen und so jene letzte gemischte Empfindung, die uns Welt und Leben in ihrer Gesammtheit aufdrängen, erregen“ [W 8, 362f.]. Indem er nicht auf einen poetischen ‚Realidealismus‘, verbunden mit der Versöhnung der Widersprüche, zielte, sondern auf „jene letzte gemischte Empfindung“, auf ein archaisch ambivalentes Lebensgefühl, setzte Hebbel sich in einen prinzipiellen Gegensatz zum zeitgenössischen Kulturbetrieb. Mit der „Vermischung des Tragischen und Komischen“2726 konnten sich die Kritiker gleichfalls nicht anfreunden. „Soll man hierbei nun lachen oder weinen oder, insofern man dies möglich machen könnte, Beides gleichzeitig thun?“, 2727 fragte Rudolf Gottschall nach der Lektüre von Die Kuh ratlos. Eben solchen Gefühlsambivalenzen sah Hebbel die Menschen ausgesetzt. Der Ritter Hildebrant in Genoveva weiß er nur zu gut, wie bei Aufbruch und Abschied „im Bügel hält der Bursch sich fest [/] Und lacht, um nicht zu weinen […] oder schilt und flucht“ [W 1, 87]. Gottschall hingegen bedauerte, daß bei Hebbel überhaupt die „Reinheit des ästhetischen Eindrucks durch die Unangemessenheit der Darstellung“2728 getrübt würde. Nach Meinung von Robert Prutz konnte Hebbel „zuweilen die Grenze nicht finden, wo das Erhabene aufhört und das Lächerliche anfängt“.2729 Und Julian Schmidt erregte sich darüber, daß der alte Tobaldi in Julia „mitten in diesen schrecklichen Todesscenen fortwährend Witze macht […] – das alles sind Züge, die vielleicht im Leben einmal vorkommen mögen, […] aber nicht mehr in die Grenze der Kunst fallen, weil sie eine Abnormität sind“.2730 Das angestrengte Bemühen, die Kunst normativ von den Widersprüchen des Lebens zu sondern, deckte auf, was eigentlich kaschiert werden sollte – daß die puristischen Maßstäbe der bürgerlichen Ästhetik eben keine überzeitliche Gültigkeit beanspruchen konnten. Daß Erhabenes und Lächerliches in der Wirklichkeit, im Volksschauspiel, in Hebbels Liebhabertheater, seinen Tragikomödien und schließlich auch in den Tragödien wechselseitig eins ins andere umschlugen, wollten die Exponenten des sich formierenden bürgerlichen Publikums nicht mehr unwidersprochen durchgehen lassen.

Zit. nach EICHLER, Einführung – Bänkelsang und Moritat, S. 25 Zur Charakteristik der heutigen Volksliteratur (1863), zit. nach BRAUNGART, Nachwort, S. 419. 2726 GOTTSCHALL, Novellenliteratur, S. 60. 2727 Ebd., S. 59. 2728 Ebd., S. 60 2729 PRUTZ, Literatur und Kunst, S. 211. 2730 SCHMIDT, [Rez.] Julia, S. 108. 2724 2725

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Nicht nur Ernst und Komik, auch Gut und Böse, alle Leidenschaften können plötzlich umschlagen – bis in die „inhumane Spontanhandlung“2731 und in das „Stadium der Unzurechnungsfähigkeit, […] des aus der Ordnung Entrissenseins“,2732 wie Manfred Durzak und Ingrid Kreuzer an Hebbels Werken feststellen. Solche Ängste und Erwartungen sind in der traditionalen Mentalität immer präsent. Wie tiefgreifend diese Struktur der Ambivalenz in der menschlichen Psyche verankert ist, zeigen Beobachtungen des Ethnologen Stanley Diamond: „In den primitiven Ritualen wird das, was wir die grundlegenden Paradoxe des menschlichen Lebens nennen würden – Liebe und Haß, das Komische und Tragische, Hingebung und Ablehnung und ihre Ableitungen – spezifiziert, freigegeben, manchmal schrankenlos, sogar bis zum mörderischen ‚Spiel’“.2733 Daß Hebbels Einsicht über die gemeinsame Wurzel von Tragödie und Komödie [W 10, 367] primär und „unmittelbar auf Solger“2734 verweise, für den beides „gleich nothwendig und wesentlich zum Schönen gehört“, erscheint aus mentalitätshistorischer Perspektive, aber auch aus inhaltlichen Erwägungen fraglich. Denn die aufgeklärte Moral, die neuhumanistische Pädagogik, die ‚realistisch‘ ausgerichtete Ästhetik und Literaturkritik verlangten andere (Leit-)Bilder, bei denen alles „Aktuelle, Konkrete, Wirkliche an das Ewige, Allgemeine, Menschliche“2735 gebunden werden sollte. Die sogenannte Volkspoesie, namentlich die Dorfgeschichten waren in dieser Hinsicht gerade nicht volkstümlich, wie Jürgen Hein herausgestellt hat: „In Auerbachs Programm spielen die Begriffe ‚Versöhnung‘ und ‚Vermittlung‘ eine große Rolle; sie beziehen sich auf seine Kunst- und Bildungstheorie wie auf seine Betrachtungsweise der realen Wirklichkeit“.2736 Beunruhigendes, Unkontrollierbares wurde dagegen ausgegrenzt. „Nur die gemäßigte, gesetzlich gebändigte Kraft bleibt Kraft; der zügellose Ungestüm führt zur Ohnmacht“,2737 verkündete Julian Schmidt und verlangte selbst im tragischen Untergang eine „innere Nothwendigkeit“, ein „immanentes Gesetz“.2738 Bei Hebbels Golo aber gehe es „stets aus einem Extrem in das andere“2739 und „in der Judith ist es eben so; Holofernes […] springt von einer Laune zur andern“.2740 Statt veredelt und belehrt würde man „jeden Augenblick überrascht und bestürzt“ – alles dieses gehöre „nicht in’s Drama“,2741 meinte der Kritiker. Wie das Prinzip der Kumulation des Gleichartigen, so entspricht auch das der Koppelung der Gegensätze weder formal dem (mit der Schriftkultur ausgebildeten und verfeinerten) „Gesetz des Zusammenhangs, der Spannung und Steigerung“2742 noch DURZAK, Der wiederentdeckte Erzähler, S. 173. KREUZER, Hebbel als Novellist, S. 156. 2733 DIAMOND, Kritik der Zivilisation, S. 109. 2734 Dieses und das folgende Zitat: SIEBERT, Zur Theorie der Komödie bei Friedrich Hebbel, S. 125. Vgl. auch Hebbels Bestimmung des Humors als Ausdruck eines „zur Empfindung gekommenen […] Dualismus“ [W 12, 215]. 2735 HEIN, Die „absurde Bauernverhimmlung unserer Tage“, S. 108. 2736 HEIN, Friedrich Hebbel und die Dorfgeschichte, S. 179. 2737 SCHMIDT, [Rez.] Friedrich Hebbel. Judith, S. 75. 2738 Ebd., S. 66. 2739 Ebd., S. 65. 2740 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 66. 2741 Ebd., S. 65. 2742 Dieses und das folgende Zitat: SCHMIDT, [Rez.] Julia, S. 101. 2731 2732

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inhaltlich dem (mit der Zivilisierung einhergehenden) „Gesetz der Charakterbildung“. Selbst Gustav Kühne entdeckte bei Hebbel das „Element des Häßlichen“2743 in „seiner vollen Entfaltung“, brachte aber zugleich andere als die klassizisierenden Geschmacksmuster ins Spiel, indem er auf Parallelen zu Shakespeare verwies – und damit indirekt auf Merkmale der traditionalen Kultur: „Was nach antikem Maß für schön gilt, reicht schon nicht mehr aus für ihn, weder wo er dämonisch – in der Tragödie –, noch wo er burlesk – im Possenhaften – ist“,2744 meinte Kühne. Da sich das Leben für Hebbel „nur in der Gestalt des Uebergangs“ [T 2449] zeigt, entzieht es sich auch der rhetorischen Stillstellung: „Nur wo das Leben sich bricht, […] nur wo die inneren Verhältnisse sich verwirren, hat die Poesie eine Aufgabe“ [T 3003], lautet seine Konsequenz. Darum mache „der wahre und ganze Dichter“ – und nicht nur der dramatische – „gar bald die Erfahrung, daß Ideal und Gegensatz, Licht und Schatten sich nicht gegenseitig aufheben, sondern sich gegenseitig bedingen“ [T 2947]. Auch wenn Hebbel diese Qualität, frei nach Hegel, als „dialectisch“ kennzeichnet, so meint er dies nicht abstrakt-philosophisch, sondern konkreter „in dem Sinne, worin Welt und Leben selbst dialectisch sind und jede Erscheinung unmittelbar in und durch sich selbst ihren Gegensatz hervor ruft, aussprechen“ [T 2947]. ‚Dramatisches‘ Handeln lebt von ‚archaischer‘ Direktheit, spontanem Ausdruck und jähem Wechsel; die Affinität zur traditionalen und oralen Mentalität ist unverkennbar. Dramatisches Ausagieren statt theoretischer Systematik, offene Ambivalenz statt apriorischem Normativismus – dem dramatischen Programm Hebbels scheint selber eine „Kritik der Zivilisation“ strukturell inhärent, die den jeweiligen konkreten Inhalten noch vorgelagert ist. Vage empfanden die Kritiker das ‚Unzeitgemäße‘ an Hebbel: Laut Julian Schmidt würde man über Genoveva „wohl sagen müssen, es sei ein Jahrhundert gemeint, in welchem die Sittlichkeit noch ein äußerlich Gegebenes war, nicht ein innerlich Vermitteltes, in welcher die Leidenschaft um so brausender aus dem Quelle des unheiligen Gemüths hervorschäumte, je enger und fester der künstliche Wall der Autorität sie einschränkte. Das kann also unser Zeitalter nicht sein.“2745 Für Hettner war Hebbel der „ursprünglichste Dichter der Gegenwart“,2746 dem er dennoch die „entsetzlichen Ausschweifungen und Fehlgriffe“ nicht nachsehen konnte. Rudolf Gottschall sah in Hebbels Novellen „barockes Zeug“2747 und in Die Kuh „von Anfang bis zu Ende eine barocke Tragödie“.2748 Überhaupt habe diese Erzählung, so Jürgen Hein, „auf die Zeitgenossen Hebbels wohl wie ein Bruch mit Traditionen und vertrauten Lesegewohnheiten gewirkt“.2749 An eine Art „barocker“ Hell-dunkelÄsthetik knüpfte Hebbel selbst mit Untertiteln wie Ein niederländisches Gemälde für Dieses und das folgende Zitat: [KÜHNE], [Rez.] Friedrich Hebbel. Schnock und Der Rubin, S. 138. 2744 Ebd., S. 139. 2745 SCHMIDT, [Rez.] Friedrich Hebbel. Genoveva, S. 69. 2746 Dieses und das folgende Zitat: HETTNER, Hebbel und die Tragikomödie, S. 47. Hervorhebung C. S. 2747 GOTTSCHALL, [Rez.] Novellenliteratur, S. 57. 2748 Ebd., S. 58. 2749 HEIN, Friedrich Hebbel und die Dorfgeschichte, S. 183. 2743

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Schnock oder Ein dramatisches Nachtgemälde für den Vatermord an. Gustav Kühne griff diesen historisch wie ästhetisch deutbaren Hinweis auf, um Hebbel gegen die Zeitgenossen in Schutz zu nehmen, indem er fragte: „Ist unsere Kultur vielleicht zu weich geartet oder zu sentimental, um blos im Gemälde das gigantisch Groteske eines Rembrandt zu erdulden?“2750 So vorläufig und emotional die Urteile im einzelnen sein mochten, so erspürten sie an Hebbels Texten allesamt Charakteristika, die in Stil und Mentalität auf eine vermeintlich überwundene, vormoderne Epoche zurückwiesen. In dem Maß, wie Hebbel sich von den bildungsbürgerlichen Kritikern zurückgewiesen sah, besann er sich erneut des „Volks“ als adäquater Rezipientenschaft, um sich mit ihm gegen die „Gebildeten“ zu verbünden. Schon in einem Tagebucheintrag des Jahres 1843 hieß es: „Wo es ein Volk giebt, da giebt es auch eine Bühne, und wenn das Volk in Deutschland ein Theater hätte, anstatt der ‚gebildeten Leute‘ so würde der dramatische Dichter auf Dank rechnen können, denn das Volk hat immer Phantasie, die ‚Gebildeten‘ haben bloß Lange-Weile“ [T 2698]. In Mein Wort über das Drama begründete und pointierte er diesen Gedanken: „denn das Volk […] läßt sich hinreißen und erschüttern, und der ihm einwohnende Instinct für das Echte und Nachhaltige, den es […] offenbart, schützt den Dichter […] besser vor Verkennung und Mißhandlung, als der ‚gute Geschmack‘ der Halbwisser“ [W 11, 16]. In der bürgerlichen Ästhetik des Realismus war für das Dämonische und Burleske, überhaupt für die „gemischte Empfindung“, die im Leben der traditionalen Gesellschaft und in der Kultur der Unterschichten das Feld behaupteten, kaum noch Platz. Hargen Thomsen beobachtet richtig eine Pathologisierung von Hebbels Dichtung in der zeitgenössischen Kritik; seine Behauptung, sie würde dadurch „ermordet“,2751 und der Vergleich mit der nationalsozialistischen Kunstpolitik sind indes nicht nachvollziehbar. Die Behandlung vormals tolerierter Formen von psychischer Devianz als Krankheit ist vielmehr ein schon im 19. Jahrhundert zunehmendes Phänomen. Hebbels Streit mit Julian Schmidt darüber, ob dieser „vom medicinischen Wahnsinn“2752 des Dichters gesprochen habe, zeigt, wie unscharf der Sprachgebrauch damals noch war. Eine Parallele besitzt der Streit in den Nachtwachen des Bonaventura von 1804. Dort ist es bezeichnenderweise ein Bänkelsänger, der sich in einem Prozeß gegen den Vorwurf des „partiellen Wahnsinns“ und eine drohende Einweisung ins „Tollhaus“ zu Wehr setzen muß.2753 Real war die ständige Bedrohung durch die Zensur. So drohte die Hamburger Polizeibehörde beispielsweise 1819 mit Bestrafungen, „da das Umhertragen von scandalösen Liedern […] und das Aufhängen von Abbildungen grauser Mordscenen nachteilig für die Moralität und unsittlich ist, auch den bestehenden Gesetzen gerade zuwider lauft“.2754 Tempora mutantur: Nicht lange zuvor hatte man öffentliche Hinrichtungsspektakel und ähnliches noch für heilsam und volkspädagogisch wertvoll gehalten. Seltsamerweise akzeptiert und verabsolutiert Thomsen selber den von ihm in Frage gestellten Krankheitsbefund, um zu mutmaßen, [KÜHNE], [Rez.] Friedrich Hebbel. Schnock und Der Rubin, S. 139. THOMSEN, Grenzen des Individuums, S. 21. 2752 SCHMIDT, [Rez.] Julia, S. 98. 2753 Vgl. DÖHL, Bänkelsang und Dichtung, S. 70. 2754 Zit. nach PETZOLDT, Bänkelsang, S. 21f. 2750

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„daß die Pathologie Hebbels vielleicht die Pathologie seiner Zeit sein könnte“.2755 Doch die Umkehrung und Erweiterung des Pathologie-Verdachts führt nicht weiter. Die unterschiedliche Bewertung von „Monstrositäten“ oder ‚Fratzenhaftem‘ in Texten ist Teil der Kultur- und nicht einer Krankengeschichte. Hebbels Werke waren in Teilen schlicht unvereinbar mit den Maßstäben der zeitgenössischen Höhenkammliteratur. Denn ganz offenkundig integrierte er zahlreiche Merkmale der traditionalen Kultur, die hauptsächlich in den populären Formen von Bauerntheater oder Bänkelsang, Anekdoten oder Moritaten in seine Zeit hineinragten. Hier waren auch die unmittelbaren Anstöße für die Erzählungen Anna und Die Kuh zu finden. Insofern geht Jürgen Hein einen Umweg, wenn er sie als „Anti-Dorfgeschichten“2756 beschreibt. Hebbel brauchte nicht erst die ‚realidealistische‘ „BauernVerhimmlung“ [WAB 3, 774] und den „Dorfgeschichten-Schwindel unserer Tage“ [W 12, 191] als Gegenentwurf, um davon die eigenen Prosastücke abzuleiten – die meisten von ihnen entstanden ohnehin vor seiner Rezeption der Dorfgeschichten. Der kumulative, schauerliche und doch lapidare ‚Realismus‘ wie auch die ‚antithetische‘ Struktur des plötzlichen Umschlagens in seinen Erzählungen wurden aus ‚Vorbildern‘ geschöpft, die der zeitgenössischen Kritik als nicht ‚gesellschaftsfähig‘ erschienen, der späteren Literaturwissenschaft hingegen kaum noch in den Blick kamen. Wohl bemerkte man an Hebbels Prosa die ‚Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen‘ im Rahmen der Literatur des 19. Jahrhunderts, doch wurde dies nicht als Verzögerungsphänomen im Sinne eines cultural lag wahrgenommen, weil Hebbel diese Überlieferungsschicht selbst zu überspielen, zu verdecken oder zu integrieren versuchte. Wie schnell sich der Zeitgeist in seinen letzten Lebensjahren wandelte, konnte Hebbel noch 1862 an der Aufnahme seiner Nibelungen erleben. Insbesondere sein vormals schärfster Kritiker Julian Schmidt akzeptierte es nun, daß der Dichter „trotzig allen unseren conventionellen Begriffen ins Gesicht schlägt“.2757 Je mehr sich die ‚Cultur‘ zur Konvention verfestigte, um so mehr ging von ‚Barbarischem‘ eine unheimliche Faszination aus. Jetzt wollte auch Schmidt im Drama nacherleben, was „in der ursprünglichen Form der Sage […] ausgedrückt war“, jetzt ließ er es sich gefallen, daß der Dichter „in klarer und berechtigter Absicht das Maßlose, das Reckenhafte seiner Helden in den gewaltigsten Umrissen“2758 zeichnete und daß „kein Augenblick des Grausens […] uns erlassen“ wurde. Immer noch hielt er es für eine „Thatsache, daß unser Volk das Gemüthsleben der epischen Zeit längst überwunden hat“,2759 doch ließ seine Wortwahl durchblicken, daß die kulturhistorische Entwicklung vom Recken zum „blasirten Großstädter“2760 auch von Verlusten begleitet war, die kompensiert sein wollten. Wenn Schmidt nun Hebbels Drama mit dem Oberammergauer Passionsspiel parallelisierte und hier wie dort die gleiche „künstlerische THOMSEN, Grenzen des Individuums, S. 21. Daß man „an Hebbel die Pathologie unserer Zeit studiren“ [HETTNER, Hebbel und die Tragikomödie, S. 49] könne, hatte – freilich mit anderer Akzentuierung – Hermann Hettner behauptet. 2756 HEIN, Friedrich Hebbel und die Dorfgeschichte, S. 186. 2757 Dieses und das folgende Zitat: SCHMIDT, [Rez.] Die Nibelungen, S. 114f. 2758 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 117. 2759 Ebd., S. 121. 2760 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S.116. 2755

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Kraft, die in den Tiefen unseres Volkes schlummert“, am Werke sah, dann beruhte dieses Urteil allerdings nicht mehr auf kritischer Untersuchung der jeweiligen Voraussetzungen, sondern auf einer bereits ideologisch gefärbten Inanspruchnahme von Vergangenheit. Schmidt gab sich als Kritiker selbst auf, wenn er angesichts des Hebbelschen Hagen meinte, „wir denken gar nicht daran, diesen Recken mit unserem Maße zu messen – aber wir nehmen sein Verfahren hin wie ein unabänderliches Naturereigniß und meinen im Stillen: den Mann verstehen wir nicht.“2761 Was hier noch als Binnenexotismus bestaunt wurde, sollte schon bald auf breiter Front als das ursprüngliche Eigene scheinbar bruchlos internalisiert werden. Doch im Aufgreifen des ‚Volkstümlichen‘ durch die ‚Heimatkunst‘, die wenig später zum Durchbruch kam, gelang nicht etwa eine Versöhnung zwischen Tradition und Moderne – hier baute sich vielmehr eine Spannung auf, die in den tiefen Brüchen und Ausbrüchen des 20. Jahrhunderts zum Austrag kam. Wurde Hebbels Werk von den Zeitgenossen als „barock“ empfunden und später durch völkisch-konservative Kreise in fatal selektiver Aneignung als ‚zeitgemäß‘ vereinnahmt, so sahen die Rezipienten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts „antizipatorische Energien“2762 am Werk. Manfred Durzak bezog diese Wertung nicht allein auf Die Kuh, die schon Wolfgang Weyrauch 1949 als modellhaft für die Kurzprosa der Nachkriegszeit in seine Anthologie Tausend Gramm aufgenommen hatte. Gleiches gelte für Anna, Die Obermedizinalrätin, Pauls merkwürdige Nacht und Der Schneidermeister Nepomuk Schlägel auf der Freudenjagd.2763 Durch die Reflexion der „Katastrophenbilanz der Zeitgeschichte“,2764 der Erfahrungen aus den Weltkriegen und der nationalsozialistischen Herrschaft war eine Neubewertung möglich: Mit dem Rückfall der bürgerlichen Gesellschaft in barbarische Umgangsformen war unvermittelt der historische ‚Prozeß der Zivilisation‘ in Frage gestellt. In dem Maße, wie man Parallelen bei ‚archaischen‘ Sprach- und Verhaltensmustern und ihrer Bewältigung suchte, gewann auch Hebbels Literatur an Relevanz: Sie „verliert, aus dieser Perspektive betrachtet, jegliche historische Abgerücktheit, die aus der Distanz zu seiner zeitgeschichtlichen Erfahrung oder aus der Verklammerung seines Textes mit literarischen Konventionen seiner Zeit entspringen könnte“. Mit dieser Wertung gab Manfred Durzak gerade jenen Werkanteilen ihren existentiellen Ernst zurück, die von den Zeitgenossen verachtet und von der Literaturwissenschaft bis dahin vernachlässigt wurden. Doch bedeutete es eine neuerliche Mystifizierung, Hebbel als Propheten der Moderne in Anspruch zu nehmen. Dieser Effekt ergab sich für die Nachgeborenen vielmehr aus dem Blick zurück, wobei die historischen Wendepunkte des 20. Jahrhunderts den Anlaß zu Vergleichen mit früheren epochalen Umbrüchen der Mentalitäts- und Gesellschaftsgeschichte boten. Daß Hebbel mit solchen Phänomenen rang, machte seine erneute Attraktivität nach den Erfahrungen zivilisatorischer Um- und Rückschläge aus. Denn er wußte wie kaum ein zweiter von Gefährdungen und Gefahren des Zivilisationsprozesses. Einen Kommentar zur Julia ließ er in die rhetorische Frage Ebd., S.119f. DURZAK, Der wiederentdeckte Erzähler, S. 175. 2763 Vgl. ebd., S. 176, Anmerkung 26. 2764 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 175. 2761 2762

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Oralität und Semioralität im volkskulturellen Kontext

münden, die den epochalen Bruch ebenso wie die permanente Brüchigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung markiert: „Ueberhaupt, was ist die Barbarei vor der Cultur gegen die Barbarei nach der Cultur!“ [WAB 1, 836] Auch Ingrid Kreuzer sah Hebbels Erzählungen „in vieler Hinsicht schon der ‚Moderne’“2765 zugehörig, indem hier „Züge der short story und anderer Erzählformen des 20. Jahrhunderts“ vorweggenommen seien. Als die entscheidenden „strukturellen Elemente“ führte sie an: die Richtung auf Absurdes und Groteskes, den ‚wahnsinnigen‘ Humor, die Monströsität des Mediokren und Banalen; die kalte Diagnose und das registrierend Reportagehafte; das ausschnitthaft Begrenzte; das ‚Musivische‘, Punktuelle, Montierte […]; der Verzicht auf Entwicklung und Angemessenheit von Ursache und Wirkung, auf Geschlossenheit, Sinnbezug und Transzendenz; die Rolle von Sadismus und Masochismus; die Triebhaftigkeit der Figuren […]; ihre innere Isolation.

Damit benannte Ingrid Kreuzer lauter Merkmale, die schon charakteristisch für die traditionale und mündlich geprägte Kultur waren, oder anders: die dort noch in ihrer Widersprüchlichkeit ungeschieden zutage traten, ohne zivilisatorischen Zensurmaßnahmen unterworfen zu sein – der analytischen Trennung, der diskursiven Rationalisierung, der Ausgrenzung aus dem kulturellen Kanon, dem Verdrängen ins Unbewußte. Bei dem Bemühen, diese Erscheinungen in Hebbels kulturellem Umfeld zu verankern, wurden sie von Kreuzer „zugleich [zu] Erben der nihilistischen Tendenzen in romantischer und jungdeutscher Literatur“2766 erklärt. Doch ist diese philosophische Interpretation zu eng, um die Fülle der Aspekte zu fassen. Der Sache näher kommt Jörg Schönert, wenn er mit Blick auf die Schauerromantik von einem „Rekurs auf trivialliterarische Konventionen“2767 spricht. Auf die Wirkung z. B. des Abällino wurde bereits hingewiesen. Doch reicht auch diese Erweiterung des Blickwinkels noch nicht aus. Wenn Hebbel beispielsweise als Stoffquelle für die Julia eine „Mordgeschichte, ganz gemein vorgetragen, woran Shakespeare nicht mehr Antheil hat, als am Rinaldo Rinaldini“ [WAB 1, 835], benannte, dann gerade, um sich von jeglicher Räuberromantik der Zeitgenossen zu distanzieren und stattdessen ein Stück nach Shakespeares Vorbild zu dichten, „im Mittelpunct reine, aber gedrückte und beschränkte Menschheit […] und als milderndes Grund-Element der Humor, der das Schreckliche […] mit dem Bizarren versetzt“ [WAB 1, 835]. Auch in stilistischer Beziehung reicht der angesichts schauerromantischer Anklänge naheliegende Verweis auf entsprechende literarische Vorbilder wohl nicht aus – August Langen sah hier ein „Zeichen individueller Veranlagung“,2768 die er nicht näher bestimmte. Jenseits trivialromantischer Formeln prägten solche traditionalen Merkmale Hebbels Werke dauerhaft und verliehen ihnen provokative Kraft. Diese gestalterischen Prämissen lagen so tief, daß Hebbel selbst mühsam darum kämpfen mußte, sie zu mildern und in ‚klassische‘ Formen zu bannen. Dieses und die folgenden Zitate: KREUZER, Hebbel als Novellist, S. 161. Ebd. Hervorhebung C. S. 2767 Zit. nach DURZAK, Der wiederentdeckte Erzähler, S. 173f. 2768 LANGEN, Deutsche Sprachgeschichte, Sp. 1446. 2765 2766

Aspekte ‚subliterarischer‘ Ausdrucksästhetik

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Auf einer unerhört schmalen Materialbasis formulierte Heinz Stolte in seiner 1987 erschienenen kurzen Werkbiographie Hebbels en passant eine These, die nach den vorliegenden Befunden ein ganz anderes Gewicht erhalten muß: „Überhaupt war das finster Moritatenhafte seiner Themen und seines Stils eine Mitgift seiner im Primitiven wurzelnden Anfänge, die er nur langsam und schwer überwand.“2769 In der etwas verwaschenen Bezugnahme auf das „finster Moritatenhafte“, das „im Primitiven“ wurzele und überwunden werden sollte, deutet sich noch bei Stolte an, warum dieser Aspekt von Hebbels Werk „bis heute notorisch unterschätzt“2770 wird. Man traut seiner Wesselburener Umgebung nicht zu, daß sie gültige, produktive Erfahrungen bereitstellte, und bestaunt lieber den rätselhaften Aufstieg Hebbels aus den Niederungen des Primitiven auf den Parnaß der Hochliteratur. Hebbel für eine ‚volkstümliche‘ oder gar speziell ‚dithmarsische‘ Kunst zu reklamieren, wäre genauso einseitig, wie der allzu lang praktizierte Versuch, ihn lediglich an die geistigen Strömungen der Elitekultur anzuschließen. Dies ist auf das Oeuvre insgesamt zu beziehen: Nicht nur die Erzählungen „mußten enttäuschen, wo Erwartung und kritisches Urteil von den Meisternovellen der klassisch-romantischen und der realistischen Epoche bestimmt waren“,2771 sondern ebenso seine von den Zeitgenossen harsch zurückgewiesenen Dramen. Der Grund für solchen Eigen-Sinn ist zuallererst in den kräftigen subliterarischen Prägungen zu suchen: Sobald Dethlefsens Klassenprimus aus der Rektorschule trat, war er schon wieder ein ‚Kind der Straße‘; sobald der Schreiber den Dunstkreis der Kirchspielvogtei verließ, gehörte er der Wesselburener Burschenschar an. Hebbel erfuhr und gestaltete auf vielerlei Weise die stetig wachsenden Spannungen zwischen den ‚zwei Kulturen‘. Inwieweit dies auch die produktionsästhetischen bzw. kreativitätspsychologischen Grundlagen und ihre medialen Implikationen betrifft, soll im folgenden Abschnitt diskutiert werden.

STOLTE, Friedrich Hebbel. Leben und Werk, S. 13. DURZAK, Der wiederentdeckte Erzähler, S. 173. 2771 KREUZER, Hebbel als Novellist, S. 160; vgl. auch: HEIN, Die „absurde Bauernverhimmlung unserer Tage“, S. 118. 2769 2770

10. ORALE ASPEKTE DER KREATIVITÄT

Die überlieferten Stoffe an sich bürgten weder für die Verbindung mit der Tradition noch für die poetische Qualität eines Werkes. Das bloße Festhalten daran deckte im Gegenteil angesichts der mentalitäts- und mediengeschichtlichen Umbrüche die Problematik der für überzeitlich gültig gehaltenen Konzepte von ‚Kunst‘ und ‚Autorschaft‘ erst auf. Wenn lebendiges Tradieren längst umgeschlagen war in das geschäftige Fortschreiben durch Epigonen und Kopisten, dann schienen auch die Produktionsformen selbst einer Rückbesinnung zu bedürfen, wollte man Authentizität und „Ursprünglichkeit“ für das eigene Schaffen in Anspruch nehmen. Gerade Hebbels ‚doppelsträngige‘ Kulturisation bot die Möglichkeit, die unterdrückten Konzepte einer traditionalen mündlichen Kreativität zu aktualisieren, ohne sich einseitig darauf festlegen zu lassen. Während die immer zahlreicher werdenden Schriftsteller eine zunehmend triviale und austauschbare Produktivität auf einem schnell expandierenden Buchmarkt entfalteten und während zugleich überkommene Formen kreativer Oralität in eine mythischen Ferne rückten, stilisierte sich Hebbel zu einem Schöpfer, der nicht einfach mehr Texte schreibt, sondern Bild und Rede, Gehörtes und Gesehenes „aus ureigener Tiefe heraufholt“. Auf produktionsästhetischer Ebene stellt sich damit erneut die Frage nach dem Zusammenspiel der Medien: Gehen Erinnern und poetisches Schaffen mit einer erneuerten Form kreativer Oralität einher? Fragt man nach der sub-‚literarischen‘ Seite des Produzierens selbst, so muß man wiederum den Blick von den schriftgestützten Kulturtechniken – der Anlehnung an literarische Vorbilder, den Recherchen in Fach- und Sekundärliteratur, den kritischen Bearbeitungs- und Korrekturgängen am Text – abwenden und die Aufmerksamkeit auf schwer zu Erfassendes richten: auf mögliche Affinitäten zu mündlichem Sprechen oder quasi-mündlichen Bewußtseinsabläufen. Unter dieser Perspektive wären also Dramentexte nicht bloß als Produkte eines Schreibakts zu betrachten, sondern möglicherweise als vom Autor innerlich ausagiertes Handeln, vorgesprochene Rede, die erst in einer nachgeordneten Schaffensphase verschriftet wird, ohne daß dieser Prozeßcharakter vollständig getilgt würde. Wenn Textproduktion – je nach dem Grad von Spontaneität, Reflektiertheit, Stillage etc. – mehr einer ‚oralen‘ oder einer ‚skripturalen‘ Vorgehensweise zuneigen kann, dann eröffnet sich die Frage nach der Art des Schaffensprozesses überhaupt und seinen untergründigen Beziehungen zur (semi)oralen ‚Sub-Kultur‘.

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Dichter oder Denker? Forschungs-Probleme Sind der oralen Kultur entnommene Inhalte an den Texten direkt ablesbar, so hinterlassen ‚orale‘ Produktionsstrategien vordergründig naturgemäß keine Spuren. Das gesprochene und gedachte Wort ist unsichtbar, übrig bleibt ein geschriebener Text; spontane Korrekturen und Umformulierungen schlagen sich eventuell noch in der Handschrift, nicht aber im Druckbild nieder. Von einer unkontrollierten Écriture automatique scheinen Hebbels wie gestanzt wirkende Satzkonstruktionen denkbar weit entfernt. Eher selten bieten verschiedene Textfassungen Einblicke in die Stadien des Schaffensprozesses;2772 im Großen und Ganzen muß die Werkgenese aus indirekten Quellen erschlossen werden. Unscheinbare Nachrichten über Eigenarten und Gewohnheiten sind hier oft aufschlußreicher als programmatische Selbstinterpretationen, auf deren Reformulierung sich die Sekundärliteratur oftmals im wesentlichen beschränkt hat. Wenig selbständig waren Aufsätze, die Friedrich Hebbels Anschauungen vom Beruf des Dichters2773 oder Hebbels Selbstverständnis als Autor2774 wiederzugeben suchten. Stärker problemorientierte Arbeiten konzentrierten sich vor allem auf die Frage nach der Verteilung von Intuition und Bewußtsein im Schaffen Hebbels – so lautete der Titel eines Aufsatzes von Anni Meetz. Dort wurden die Ergebnisse früherer Diskussionen zusammengefaßt und zugespitzt: Der schwere Ernst und die unabdingbare Notwendigkeit des tragischen Geschehens in Hebbels Dramen haben die Vorstellung erweckt, daß Hebbel aus Bewußtheit, mit wissend überlegendem Kunstverstande geschaffen habe, daß es bei ihm nicht die Intuition gegeben habe, dies unmittelbare innerliche Betroffensein von einer schöpferischen Eingebung, das impulsive Gestaltenmüssen dessen, was man soeben geschaut oder empfunden hat. […] Über der Herausarbeitung der Konsequenz, mit der Hebbel den tragischen Grundzug von Leben, Welt und Gesetz in seinen Dramen gestaltet habe, wurde oft vergessen zu fragen, ob denn diese Dichtungen wirklich nur geschaffen seien, um an Geschehnissen und Gestalten auf der Bühne philosophische Erkenntnisse und Überzeugungen zu verifizieren. Hebbel galt immer mehr als der scharfsinnige und tiefdringende Denker, dem sich das Weltmysterium erschloß, nicht so sehr als der Dichter, dem die bunte Fülle des Lebens und der Menschen sich intuitiv im schöpferischen Prozeß offenbarte.2775

Daß Hebbels Schaffen „unmittelbar aus seinem Innern heraus sich vollziehe, intuitiv, in einer Konzeption von menschlichen Gestalten, in deutlichen Konturen, Bildern, ja Zur Genese z. B. von Hebbels Epigrammen vgl. HÄNTZSCHEL, Friedrich Hebbel: Tagebuch und Lyrik, sowie: HÄNTZSCHEL, Hebbels Epigramme [Handzettel, mit vier Fassungen von Colosseum und Rotunda]. 2773 MARTINI, Friedrich Hebbels Anschauungen vom Beruf des Dichters. 2774 GERLACH, Beruf oder Berufung – Dichtung oder Schriftstellerei. Hebbels Selbstverständnis als Autor. 2775 MEETZ, Intuition und Bewußtheit im Schaffen Hebbels, S. 138f. Da der Aufsatz in einer heimatkundlichen Zeitschrift erschien, wurde er von der Hebbel-Philologie offenbar nicht wahrgenommen. Auch Gerlach nennt in seinem Verzeichnis der Bibliothek des Hebbel-Museums nur den Heft-Titel „Dithmarschen“ [GERLACH, Hebbel-Museum, Wesselburen. Verzeichnis, S. 114], nicht aber den wichtigen Aufsatz. 2772

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Orale Aspekte der Kreativität

Farben […], die sich dann ihren sprachlichen Ausdruck schufen“, das habe man, so Meetz „generationenlang übersehen oder nicht wahrhaben wollen“.2776 Indem die Forschung Hebbel zum „Denker“2777 auf Hegels und Schellings Spuren und zum pantragischen „Ideendichter“ stempelte, habe sie seine nur „sehr fragmentische Ausbildung“2778 ignoriert; und sogar die Tatsache, daß er „selbst immer wieder in Briefen und Tagebüchern gegen diese Abhängigkeit protestiert hatte, vermochte die Forschung erstaunlich wenig zu irritieren“.2779 Inkonsequent wird Meetz jedoch, wenn sie sich ihrerseits philosophische „Ideen“ zur Begründung des Hebbelschen Ursprünglichkeits-Anspruchs zu eigen macht: „Schuberts Ideen vom Dichter als dem ‚Organ der ursprünglichen Sprache Gottes‘ hatten sich in Hebbels Geist mit dem ‚geniehaften Selbstbewußtsein des frühen Feuerbach‘ verbunden.“2780 Wo sie willkommen sind, werden philosophische Konstrukte in die Argumentation eingebaut, deren Relevanz eben noch prinzipiell in Abrede gestellt wurde. Über den eigentlichen kreativen Prozeß sagen solche Projektionen wenig aus. Grundsatzdiskussionen über die Anteile von ‚Dichten‘ und ‚Denken‘ in Hebbels Werk führen, je nach Präferenz, daher auch zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen. Für Anni Meetz betrifft das „ungewöhnliche Nebeneinander“2781 von „Intuition und Bewußtheit“ bei Hebbel nicht den eigentlichen Schaffensprozeß: Erst „wenn das Werk dann fertig war, setzte sogleich sein scharfer Verstand ein, kritisierte, verglich, argumentierte und theoretisierte“. Demgegenüber gelangt Julius Bahle in seinem Büchlein über Friedrich Hebbel als Arbeitstypus zu dem Resultat: „Jedenfalls ist der künstlerische Schaffensprozeß kein unbewußtes Geschehen, sondern eine höchst besonnene und wertbewußte Tätigkeit“.2782 Nach Bahle seien „Plötzlichkeit und Unmittelbarkeit“ von Eingebungen die „deutlichsten Kennzeichen für die Langwierigkeit und Mittelbarkeit aller vorangegangenen inneren Vorbereitungen“,2783 die als „Gefühle und Wünsche, Ahnungen und Strebungen, Vorstellungen und Erinnerungen zu den Bewußtseinsinhalten gehören“.2784 Während Bahle damit auf der einen Seite den Bewußtseinsbegriff sehr weit dehnt, postuliert er auf der anderen eine „zweite Naivität im Schaffen“2785 auf der Basis „selbsterarbeiteter Ausdrucksmittel, Methoden und Prinzipien“. Bei Hebbel sei dieser Zustand mit dem Erleben von „traumartigen und nachtwandlerischen Zuständen“2786 verbunden. So verliert Bahles zunächst so scharf gezogene Grenze zwischen Bewußtem und Unbewußtem ihre unterscheidende Kraft.

MEETZ, Intuition und Bewußtheit im Schaffen Hebbels, S. 138. Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 141. 2778 Ebd., S. 140. 2779 Ebd., S. 141. Vgl.: „Ich kann dichten, aber nicht dociren […], denn Dichten und Denken sind verschiedene Processe“ [WAB 1, 460]. Vgl. dazu THOMSEN, Grenzen des Individuums, S. 22 und S. 29ff. 2780 MEETZ, Intuition und Bewußtheit im Schaffen Hebbels, S. 139. 2781 Dieses und die folgenden Zitate: Ebd., S. 145. 2782 BAHLE, Friedrich Hebbel als Arbeitstypus, S. 67. Hervorhebungen C. S. 2783 Ebd., S. 60. 2784 Ebd., S. 65. 2785 Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 37. 2786 Ebd., S. 66. 2776 2777

Dichter oder Denker? Forschungs-Probleme

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Peter von Matt wiederum mißt Tagträumen ohnehin nur eine sehr begrenzte, katalysatorische Funktion zu: Sie „bewirken nicht das Werk, sondern sie bewirken die Arbeit des Künstlers. Die Arbeit, nur sie führt zum Opus. Sie ist Umsetzung, Organisation, Verwandlung nicht von Traumbildern, sondern […] von konkretem, historisch definierbarem Material“.2787 Zu diesem Material gehören „vor allem die Sprache“, der verfügbare literarische „Formenkatalog“ und schließlich „die Summe aller Institutionen und Gesetze, unter denen der Dichter als Gesellschaftswesen lebt“. Angesichts dieser vielfältigen Vorfestlegungen droht für Matt das individualpsychologische Moment ohnehin „zu einem sekundären Faktor einzuschrumpfen“. Schon 1930 hat Herbert Leisegang die augenscheinlichen Gegensätze zu vereinen gesucht, indem er Hebbels „vermeintlich kalte, tote Buchsprache mit blutendem Leben“2788 erfüllt sah: „Ein solches Denken, das bei Hebbel Leidenschaft des Blutes war, eine Leidenschaft, die immer wieder den Weg durchs Gehirn nehmen mußte, ist Rausch […], ist in Wahrheit Gehirnleidenschaft oder Leidenschaftsintellekt“. Herbert Kraft beschreibt die Problematik ähnlich, wenn er warnt: „Hebbels Angaben über seine Arbeitsweise dürfen nicht mißverstanden werden; der ‚Rausch‘ ist ‚intellekteller Rausch’“.2789 Kraft selber sieht „Reflexion und Dichtung nicht als unvereinbar – und das Wort ‚Gedankendichter‘ nicht als ‚Schimpfwort’“2790 an. Daß man mit der Dichotomisierung von ‚Denken‘ und ‚Dichten‘, ‚Bewußtem‘ und ‚Un(ter)bewußtem‘ den komplexen kreativen Abläufen nicht sonderlich nahe kommt, empfand schon Herbert Klysch, der 1935 eine Monographie über Friedrich Hebbels Schaffens- und Arbeitsweise vorlegte: „Soll die Frage zur Formel Unbewußt-Bewußt zusammengedrängt werden“,2791 werde er, so Klysch, „eine Beantwortung der Frage nicht bringen“, da diese „durch Hypothesen erzwungen“ werden müßte. Nicht das ‚Zusammendrängen‘, sondern das Zerlegen des Schaffensprozesses schien ihm notwendig, um zu genaueren Ergebnissen zu kommen. Genau dies unternahm Klysch, indem er einschlägige Äußerungen Hebbels akribisch zusammenstellte. Allerdings beließ er es im wesentlichen beim Sammeln und Ordnen. Wenn Intuition und Reflexion gleichermaßen Bestandteile des dichterischen Schaffens sind, dann ist dessen Spezifik nicht mit bestimmten kognitiven Strategien gleichzusetzen, sondern ergibt sich aus dem Integrations- und Prozeßcharakter selbst. Näher kommt man den kreativen Abläufen daher durch die Beobachtung der einzelnen Aktivitäten während verschiedener Phasen. Die einzelnen Prozesse der Wahrnehmung, Speicherung, Ordnung, Rekombination etc. werden so als ‚Kulturtechniken‘ wahrnehmbar, die in engen Zusammenhängen mit Mentalität, Kulturisationsform und medialer Prägung stehen.

Dieses und die folgenden Zitate: MATT, Literaturwissenschaft und Psychoanalyse, S. 125f. Dieses und das folgende Zitat: LEISEGANG, Hebbels Sprache und das Theater, S. 99f. 2789 KRAFT, Poesie der Idee, S. 68. 2790 Ebd., S. 69. 2791 Dieses und die folgenden Zitate: KLYSCH, Friedrich Hebbels Schaffens- und Arbeitsweise, S. 19. Die grundlegende Arbeit wurde von Meetz, Bahle und Kraft offenbar nicht zur Kenntnis genommen. 2787 2788

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Kreative Prozesse und mediale Implikationen Erika Landau hat die Psychologie der Kreativität analysiert und in einen brauchbaren theoretischen Rahmen gefaßt. Landau unterscheidet grundsätzlich eine „organisierte“, induktive Methodik von einer „inspirierten“2792 Vorgehensweise. Zwar soll nicht in Abrede gestellt werden, daß Hebbel Probleme auch exakt definierte, um sie einer systematischen Lösung zuzuführen, doch ist bei ihm die inspirierte, weniger kontrollierte, nicht szientifische Schaffensweise von vorrangiger Bedeutung. Landau unterteilt sie in vier Phasen. In einer „Vorbereitungsphase“ werden Wahrnehmungen und Informationen „offen und vorurteilsfrei“2793 registriert, „ohne sie zu kategorisieren“. Hebbel erfüllte diese Voraussetzung inspirierter Kreativität in nahezu ‚idealer‘ Weise; seinem sinnlichen Erleben war er geradezu ausgeliefert: „Sonnenschein und Gewitternacht wechseln beständig miteinander ab“, meinte Emil Kuh und resümierte: „Er lebt durchaus unmittelbar, jedem Eindruck erschlossen und zugänglich“.2794 Das ständige Sammeln unterschiedlichster Realitätsfragmente gehört zu den hervorstechenden Merkmalen von Hebbels kreativer Psyche – das über Jahrzehnte geführte Tagebuch belegt dies eindrücklich, wenngleich es seinerseits bereits ein Destillat ist. Auch in medialer Hinsicht ist das Material völlig heterogen: Erinnertes und Erlebtes, Gelesenes und Aufgeschnapptes wurden gleichermaßen notiert und auf diese Weise rekombinierbar. Deutlich unterscheidet sich diese offene Form des Aufnehmens vom zielgerichteten Recherchieren, das eher Landaus „organisierter“ Vorgehensweise zuzuordnen wäre, und das bei Hebbel natürlich auch zu finden ist: „Da bot ihm dann die Lektüre das Milieu und die Atmosphäre der Handlung oder gewährte Details für die einzelnen Charaktere oder die ganze Fabel“ [HP I, 252], berichtete Karl Werner. Nach eigener Auskunft führte Hebbel mitunter regelrechte ethnologische Studien durch, um Material zu gewinnen: „Nur mit den Volkszuständen suche ich mich recht vertraut zu machen, bevor ich an’s Werk gehe, denn aus diesen zieht das Drama nach meiner Ueberzeugung seine ganze Kraft“ [WAB 3, 718]. Doch standen solche Vorstudien nicht am Anfang des Schaffensprozesses, sondern am Ende, „in direkter Hinsicht auf die zu beginnende Niederschrift“,2795 wie Herbert Klysch festhielt. Sie gehörten also gerade nicht in die frühe „Vorbereitungsphase“. Das zweite von Erika Landau beschriebene Stadium ist die „Inkubationsphase“.2796 Während die „angesammelten Erfahrungen im Unbewußten schweben“, besteht die kreative Aktivität „im unbewußten Problemerwägen“. Hebbels Verhalten, „mit Haupt-Arbeiten Jahre lang zu spielen, wie es eigentlich immer meine Gewohnheit war“ [WAB 2, 196], zeigt solche Inkubationsphasen in ausgeprägtester Form. So dauerte es, um ein einziges Beispiel zu nennen, Jahrzehnte, bis die in der Jugend aus dem LANDAU, Psychologie der Kreativität, S. 64. Dieses und das folgende Zitat: Ebd., S. 72. 2794 Kuh, Friedrich Hebbel. Eine Charakteristik; zit. nach KLYSCH, Friedrich Hebbels Schaffens- und Arbeitsweise, S. 29. Vgl. dazu oben den Abschnitt „Ein tolles Gemisch von Rausch und ekler Nüchternheit“. 2795 KLYSCH, Friedrich Hebbels Schaffens- und Arbeitsweise, S. 94. Vgl. dazu die Aussage Karl Werners in HP I, 252. 2796 Dieses und die folgenden Zitate: LANDAU, Psychologie der Kreativität, S. 66. 2792 2793

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Nibelungenlied empfangenen Eindrücke in das letzte vollendete Drama Hebbels Eingang finden konnten. Zusammenfassend schreibt Herbert Klysch: „Wenn man in Hebbels Tagebüchern von Zeit zu Zeit den gleichen Dramenplan in verschiedensten Beleuchtungen immer wieder auftauchen sieht, oder die Notizzettel […] aus verschiedenen oft weit auseinanderliegenden Zeiten stammen, so hat man hier den schriftlichen Niederschlag einer Schaffenseigenart Hebbels, des im Innern Langeherumtragens des Stoffes“.2797 In diesem „gespannten Zustand“2798 benötigt das kreative Ich eine starke „Frustrations- und Ambiguitätstoleranz“, wie auch Hebbel wußte: „Bei dem Brüten kommt nicht viel heraus; wenn man voll vom Gegenstand ist, kommt im rechten Augenblick Alles von selbst und den rechten Augenblick muß man mit Ruhe erwarten“ [WAB 3, 834]. Bei Hebbel scheint es sogar, als wollte er diesen Zustand gespannter Fülle nur ungern um der schriftlichen Organisation des Stoffes willen aufgeben, wenn der 23jährige in einem Brief an Elise Lensing gleichsam ausrief: Du glaubst nicht, wie sauer mich’s ankommt, die Feder anzusetzen, sogar in Augenblicken der Fülle u Ueberfülle; immer denk’ ich, es könnte auf die Flut […] noch eine Springflut folgen und dann müsse die Mühle wirbeln, statt bloß zu gehen […] denn elendes Klimpern u Nachklimpern muß, da es Handwerksgriff u technische Geschicklichkeit ist, wenn einmal, immer gelingen [WAB 1, 127f.]

Hebbels lebhafte Schilderung der kreativen Inkubationsphase ist auch in medialer Hinsicht interessant: Die unmittelbare Präsenz einer Fülle von Erscheinungen widersetzt sich dem ordnenden, kanalisierenden Prozeß des Schreibens; weil sie als diesem entgegengesetzt und genuin ‚mündlich‘ erlebt wird. So glaubte er „an mir selbst erfahren zu haben, daß der Mensch nicht allein […] in Worten denkt, sondern […] in Gedanken zugleich spricht, und eben, weil er nicht zwei Gedanken zugleich aussprechen kann, kann er sie auch nicht zugleich, ihrem ganzen Umriß und Inhalt nach – als Skizze geht’s zur Noth, doch auch schwer – fest halten“. 2799 Eben dieser ‚Frustration‘ gegenüber beweist Hebbel die ‚Toleranz‘ des Kreativen: Er läßt die Elemente sich austoben, statt sie sofort mit der ‚technischen Geschicklichkeit‘ des Schreibfertigen in die dürftige Linearität des Schreibflusses zu überführen. Paradoxerweise bewirkt dieses Zulassen assoziativer Fülle oftmals einen Darstellungsstil, der mit seiner inhaltlichen und syntaktischen Komplexität vordergründig eben nicht ‚mündlich‘ wirkt. Ueber den Styl des Dramas bemerkte Hebbel selbst: „Die Darstellung giebt den Werdeproceß in seiner ganzen Tiefe und begleitet Alles, was sie in ihren Kreis aufnimmt, von der Wurzel bis zum Gipfel-Punct. […] Bei jedem Schritt, den sie thut, drängt sich ihr eine Welt von Anschauungen und Beziehungen auf, die zugleich rückwärts und vorwärts deuten, und die sie alle mitnehmen muß.“ [W 11, 71f.] Auf stilistischer Ebene bewirke diese „Lebensfülle“2800 eine „Rauhigkeit des Versbaus,

KLYSCH, Friedrich Hebbels Schaffens- und Arbeitsweise, S. 91. Dieses und das folgende Zitat: LANDAU, Psychologie der Kreativität, S. 72. 2799 T 652. Der Satz selbst gibt durch Länge, Komplexität, Hypotaxe und Parenthese die Probe aufs Exempel. 2800 T 3830. Die Tagebuchnotiz gilt, bis in die Wortwahl hinein, dem gleichen Gegenstand. 2797 2798

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Verwickelung und Verworrenheit des Periodengefüges, Widerspruch der Bilder“.2801 Es entsprach dem apologetischen Charakter des Aufsatzes, daß Hebbel die ‚Frustrationen‘ und Verluste, die bei der schriftlichen Umsetzung entstehen mußten, nicht eingestand. Im Gegenteil, er sprach von „wirksamen und unumgänglichen [!] Darstellungsmitteln, wenn sie auch dem oberflächlichen Blick, der nicht erkennt, daß auch das Ringen um Ausdruck Ausdruck ist [!], als Ungeschicklichkeiten und Schwerfälligkeiten erscheinen mögen“ [W 11, 73]. Sicherheitshalber verwies Hebbel auch auf Shakespeare, „der seinen Dialog vor sich herwälzt, wie Sisyphus den Stein“ [W 11, 73]. August Langen erblickte in dieser Argumentation scharfsichtig die „Not einer Denkund Phantasieanlage“,2802 aus der Hebbel die „Tugend einer Theorie“ mache, die zugleich den „Schlüssel zu der Syntax seiner Dramen“ gebe.2803 Leichter zu bewältigen war die empfundene Fülle, die „Vergegenwärtigung der Zustände in ihrer organischen Gesammtheit“ [W 11, 72] allerdings in mündlichen Gesprächen als der geschmeidigeren, flüssigeren Form. Ludwig August Frankls Zeugnis ist dafür beispielhaft: „Es schien, während ihm Gestalten und Bilder fort und fort zuströmten, als ob er sich dieselben erst, wenn er sprach, deutlich mache“.2804 Die spontanen und unstrukturierten Monologe waren für die überforderten Zuhörer oftmals eine Zumutung, für Hebbel aber eine „Art brouillon“ und imstande, „unerwartete Voraussetzungen für seine Produktion zu schaffen“,2805 wie Frank Thiess urteilte. Auch Herbert Klysch sah in Hebbels „Sprechen eine Art Produktion: er ‚predigt‘, ‚doziert‘, er spricht nicht mit jemand, sondern über etwas, er wickelt in Gegenwart anderer sprechend seine Gedankengänge ab“.2806 Auch darüber waren seine zum Zuhören verurteilten Gesprächspartner oftmals indigniert. Seinen Göttinger Gastgeber Rudolf v. Ihering, den er im März 1839 auf der Wanderung von München nach Hamburg aufsuchte, ließ der redselige Hebbel wissen, „daß er nicht sowohl meinetwegen, als um sich seine Gedanken klarzusprechen“ [HP I, 69], geredet habe. Frank Thiess überschrieb seine Untersuchung über den Produktionsprozeß bei Friedrich Hebbel entsprechend mit dem Obertitel Der unbequeme Mitmensch. Denn Hebbel übertrug „den Produktionsprozeß über die Schranken der vier Wände hinaus in den offenen Raum des geselligen Kreises, wo er nach allgemein gültiger Anschauung fehl am Platze war“.2807 Diese Aussage ist bemerkenswert, weil sie sich exakt an die medien- und mentalitätsgeschichtliche Argumentation anschließen läßt: Der „unbequeme“ Hebbel ist zugleich der ‚ungleichzeitige‘ Hebbel. Er reproduziert unbefangen anachronistisch gewordene Verhaltensweisen, indem er in geselliger Runde spontan improvisiert, W 11, 73. Marie Luise Gansberg beobachtete zudem eine „Neigung zur anakoluthischen, in der Ellipse erregt abgebrochenen Rede“ [GANSBERG, Zur Sprache in Hebbels Dramen, S. 68]. 2802 Dieses und die folgenden Zitate: LANGEN, Deutsche Sprachgeschichte, Sp. 1444. 2803 Entsprechend sei auch der „Durchschnittssatz im Drama lang“ [ebd., Sp. 1445]. Langen geht dabei thetisch von einer kreativitätspsychologischen „Anlage“ aus, die erst genauer zu beschreiben wäre. In textgenetischer Perspektive wäre umgekehrt die Syntax, wenn nicht als Schlüssel, so doch als ein Symptom produktiver Abläufe oder ‚Anlagen‘ zu betrachten. 2804 Zit. nach THIESS, Der unbequeme Mitmensch, S. 40. 2805 THIESS, Der unbequeme Mitmensch, S. 44. 2806 KLYSCH, Friedrich Hebbels Schaffens- und Arbeitsweise, S. 67. 2807 THIESS, Der unbequeme Mitmensch, S. 43. 2801

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wobei er zugleich eine gewisse „Formvollendung“2808 anstrebt. Die Gesellschaft erwartet dagegen vom Schriftsteller, daß er sein Werk still und einsam am Schreibtisch zu Papier bringt, bei der ‚Konversation‘ hingegen ‚zivilisierte‘ Interaktionsregeln einhält. Hebbel jedoch „rühmte sich, daß er so rasch mit der Zunge, als langsam mit der Feder sei“,2809 wie Adolf Stern ihn paraphrasierte. Auch das Stillsitzen fiel Hebbel offenbar schwer: „Sprach Hebbel daheim, so wanderte er ruhelos, unaufhörlich im Zimmer auf und ab, mit dem eigentümlichen Gange, in den Hüften sich wiegend, wie ein Pendel mit dem Oberkörper nach hüben und drüben ausschlagend. Dabei gestikulierte er heftig und agierte besonders mit dem rechten Arm.“2810 Wenn er „ins Sprechen kam“, erinnerte sich Friedrich Uhl fast belustigt, „wiegte sich […] der hagere Körper in den Hüften hin und her, als wenn er geschaukelt würde, und man mußte dem Nachahmungstrieb Gewalt antun, um sich nicht mit hin und her zu wiegen und in die Gefahr zu geraten, von der Seekrankheit ereilt zu werden“ [HP I, 406]. Gleichwohl beteuerte Uhl: „Im Gespräche war er am bedeutendsten“ [HP I, 407]. Herbert Klysch war „überrascht“,2811 wie viele Äußerungen Hebbels eine „Abneigung gegen das Schreiben, das ihm nur ein trauriger Notbehelf fürs Reden war“, bezeugten, eine Abneigung, die „durch sein ganzes Leben zu verfolgen“ sei. Ratlos meinte Klysch, diese Eigentümlichkeit könne „nicht mehr als registriert werden; eine Erklärung für sie läßt sich nicht finden“. Doch das Rätsel löst sich aus mediengeschichtlicher Perspektive wie von selbst: Das bei einem Schriftsteller irritierende „Moment der Schreibantipathie und Redesympathie“ verdankt sich Hebbels biographischem Standort am historischen Übergang von einer oral zu einer literal dominierten Kulturstufe. In intimen Geständnissen wurde gerade das hervorgekehrt, was im kulturellen Epochenbruch vordergründig geopfert werden mußte. Rasche Zunge und langsame Feder begriff er selbst als anachronistische Gaben, so daß er „schon deshalb in ein Säculum nicht hinein[passe], das eher ohne die Zunge als ohne die Feder fertig werden könnte“ [WAB 3, 700]. Die kaleidoskopartige Gebrochenheit der Rede, die mühelos widerstreitende Perspektiven, selbst Paradoxa in einem Atemzug zusammenbringt, gerät unter dem disziplinierenden Einfluß schriftkultureller ‚Sekundärtugenden‘ zunehmend außer Kurs. Die skripturalen Normen, etwa der thematischen und stilistischen Konstanz, der Folgerichtigkeit, der Linearität werden von immer mehr „Schriftstellern“ beherrscht und souverän gehandhabt. In dieser Entwicklung sah Hebbel eine tiefgreifende Verarmung der Literatur. Daß er selbst sich die moderne ‚Kultur-Technik‘ einmal mit Eifer angeeignet und bis zur Virtuosität perfektioniert hatte, zeigte sich allenfalls in einer entspannten Situation unter Freunden, wie sie von Louis Gurlitt überliefert worden ist: Eines Tages war die Rede von den Dichtern, die derzeit die deutsche Bühne beherrschten, wobei Hebbel die Äußerung tat: „Wenn ich solches Zeug schreiben wollte, würde ich mich erbieten, nach zwei Seiten hin zu diktieren“ – es sollten Reden sein, über welche die Galerien BORNSTEIN, Wie sprach Friedrich Hebbel?, S. 35. Zit. nach Bornstein in HP II, 10. Vgl. WAB 3, 700. 2810 BORNSTEIN, Wie sprach Friedrich Hebbel?, S. 35. 2811 Dieses und die folgenden Zitate: KLYSCH, Friedrich Hebbels Schaffens- und Arbeitsweise, S. 64f. 2808 2809

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enthusiastisch applaudieren sollten – „aber statt solchen Quarkes setze ich ein Wort.“ „Halt,“ rief Rahl, „wir halten dich beim Wort.“ „Hier sind Feder und Papier“, sagte Kümmel. „Nun meinetwegen“, entgegnete Hebbel. Nun wurden ihm zwei Situationen aufgegeben, und er diktierte; wenn er mit der einen Seite fertig war, sich zur anderen wendend – und wir mußten uns befriedigt erklären; wir waren überzeugt, daß seinen Diktaten der Applaus im Theater nicht fehlen würde [HP I, 164].

Nicht ohne Koketterie, doch mit demonstrativer Geringschätzung entledigte sich Hebbel der selbstgestellten Aufgabe, um den empirischen Beweis zu erbringen, daß die konventionelle Bühnenrede kein lebendiger Dialog, sondern eine Aneinanderreihung vorgefertigter Elemente darstellte, bei der nicht nur die Phase der „Inkubation“ entfiel, sondern bei der auch die Medialität belanglos geworden war: Ohne jeden Umstand gelingt die Transponierung von primärer Mündlichkeit in Schriftlichkeit und, wie am Resultat prognostizierbar ist, in die sekundäre Mündlichkeit der Bühne. Das eigentlich Verblüffende an der Anekdote war jedoch, daß Hebbel abwechselnd nach zwei Seiten diktierte. Damit demonstrierte er weniger die Schnelligkeit der eigenen Zunge, mit der die Feder nicht mithielt, sondern er decouvrierte vor allem die Banalität der linearen Textherstellung, indem er zur Erschwerung des Ganzen gleichsam eine künstliche Gesprächssituation inszenierte – indiziert durch das gleichzeitige Präsenthalten disparater „Situationen“ im Kopf und die wechselseitige Zuwendung an verschiedene Adressaten. Schnell mit der Feder war Hebbel auch dort, wo Schreiben das Aufzeichnen eines Gedankenflusses war, so in Briefen an die Freundin Elise Lensing: „So lieb’ ich’s; sich bei Briefen irgend eine Art von Zwang anthun, heißt in das Herz Methode [!] bringen u Händedruck u Umarmung nach Regeln zu betreiben“ [WAB 1, 152]. In der Spontaneität des Niederschreibens lagen für Hebbel Qualitäten des Authentischen, Ungefilterten, auch Schonungslosen: „Aber, gegen Dich bin ich wahr, so wahr, wie gegen mich selbst“ [WAB 1, 182]. Allerdings besaß das unzensierte ‚neutrale‘ Mitstenographieren ohne Rücksicht auf soziale und kulturelle Konventionen seinen Preis: „Darum sind meine Briefe an Dich, wie meine Launen, herb, bitter und ausschweifend; ich lasse das Gefühl walten, wie es steigt und fällt, Du erhältst treue Abdrücke meiner Seele, was freilich schlimm ist, da mein Inneres nur Sonnenfinsternisse kennt“ [WAB 1, 182]. Inwiefern diese Briefe als wirkliche „Abdrücke“ von Hebbels „Seele“ gelten konnten, braucht hier nicht entschieden werden. Eindrücklich belegen sie, welches Gewicht Hebbel den gedanklichen Gärungen der „Inkubationsphase“ beimaß. Das (Auf-)Schreiben diente dabei lediglich als Medium des Speicherns. Der Übergang zur „Einsichtsphase“2812 kann fließend sein. In diesem dritten Stadium, dem der Hypothesenbildung, verwandelt sich das Material zu einer „deutlichen, sinnvollen Erkenntnis“, kommt es zu einer inneren „Interaktion des Intellekts und der Affekte“2813 und damit zu einer ersten „Distanzierung von dieser Einsicht, um sie klarer formulieren und kommunizieren zu können“.2814 Bezogen auf das dichterische Schaffen markiert diese Phase den Übergang von der Stoffsammlung zur Dieses und das folgende Zitat: LANDAU, Psychologie der Kreativität, S. 67. Ebd., S. 68. 2814 Ebd., S. 73. 2812 2813

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strukturierenden Ausgestaltung. Bei Hebbel spielte sich auch dies noch weitgehend im Kopf und nicht am Schreibtisch ab. Ein auffälliges äußeres Merkmal von Hebbels Schaffensweise war es, daß er sehr häufig während langer Spaziergänge dichtete. Schon aus Wesselburen wurde berichtet, er sei „in seinen Schuljahren vielfach in Feld und Flur, anscheinend zweck- und ziellos, einsam in den nahe belegenen Feldmarken umhergelaufen“ [HP I, 7]; und noch in der Wiener Zeit war Hebbel ein leidenschaftlicher Spaziergänger. „[E]inem Vagabunden, wie mir, brennt der Boden immer unter den Füßen, wenn er wieder sechs Monate still saß und sich irgend ein Vorwand zu einem neuen kleinen Ausflug darbietet“ [WAB 2, 409], schrieb er 1852 an Franz Dingelstedt. Für den jungen Goethe war das Motiv des Wanderns eine Hauptchiffre „für geniale Unruhe“,2815 die er in seiner Rede Zum Schäkespears Tag an dem großen Vorbild festmachte. Der Philologe Rudolf Hildebrand stellte den medialen Aspekt der Korrespondenz zwischen Spazierund Gedankengang heraus, indem er meinte, „die an der Mündlichkeit geschulte Spachverwendung erinnere an sich lebhaft unterhaltende Spaziergänger“.2816 Hebbels Gänge waren in der Tat von Reden begleitet: Angefangen bei didaktischen Dialogen, wenn er mit Peter Andreas Claussen von Wesselburen nach Schülp wanderte,2817 über imaginierte Gespräche – „Geh’ ich spatzieren, so rede ich mit Dir, als ob Du’s hören könntest“, schrieb er 1852 aus München an seine Frau [WAB 2, 444] – bis hin zum „Gedankenspinnen“2818, „innerliche[n] Recitiren von Gedichten“2819 und zum regelrechten Dichten: Das Gedicht Abendgefühl entstand am 17. Oktober 1838 „auf einem träumerischen Spatziergang in der Dämmerung“ [WAB 1, 265], der vierte Gesang von Mutter und Kind am 15. April 1856 „fast ganz im Prater bei’m Veilchenpflücken“ [T 5428], der Schluß des dritten Nibelungen-Akts am 18. Februar 1857 „um halb sechs Uhr auf der Mariahilfer Hauptstraße“.2820 Als Hebbel 1852 bei seinem MünchenBesuch in den Englischen Garten ging, verband er mit den verschiedenen Örtlichkeiten zugleich Wegmarken seines poetischen Schaffens: Wie ich so fort schlenderte, stieß ich auf eine Baum-Gruppe, unter der ich einst, bei einem plötzlichen Regenguß aus blauer Luft herab, den ersten Gedanken zum Diamant gefaßt hatte. Nun führte die Erinnerung mich weiter und weiter. Dort entstand Der junge Jäger (ein Gedicht) hier kam mir die Idee zur Maria Magdalena, hier zeigte mir Genoveva zum ersten Mal ihr Gesicht. Als ich wieder in den Hofgarten zurück kehrte, bezog das Militair gerade die Wache und marschirte mit klingendem Spiel von seiner Kaserne bis zur Residenz. Das

SCHMIDT, Geschichte des Genie-Gedankens, Bd 1, S. 168. Zit. nach KETELSEN, Frenssens Werk, S. 169. 2817 Vgl. HP I, 5. 2818 WAB 2, 416. Vgl. auch die Aussage von 1839, daß „ich mich auf der Straße meistens meinen Gedanken überlasse und über diese geistige Jagd meine Umgebungen vergesse [WAB 1, 312f.], sowie eine ähnliche von 1859: „ich habe nur Gedanken, wenn ich mich bewege“ [WAB 3, 793]. 2819 WAB 2, 416. Vgl. auch T 3882. 2820 T 5555. Andere Beispiele: WAB 1, 127; WAB 1, 265; T 4109; T 6175. Vgl. auch die Zitatensammlung bei KLYSCH, Friedrich Hebbels Schaffens- und Arbeitsweise, S. 44–46 und S. 115, sowie neuerlich THOMSEN, Friedrich Hebbel. Lebensbilder und Anekdoten, S. 86f. 2815 2816

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geschah früher auch immer um dieselbe Stunde und, wie früher als Student, schloß ich mich an, in Phantasieen versenkt und mehr taumelnd, als wandelnd.2821

Beim späteren München-Aufenthalt blieb es nicht bei der bloßen Erinnerung. Ohne Mühe konnte sich der Spaziergänger auch nach dreizehn Jahren wieder in den Zustand des gedankenverlorenen, aber produktiven mündlichen Phantasierens versetzen, bei dem das körperliche Wandern zum vergeistigten Wandeln wurde. An seinem 49. Geburtstag ging Hebbel wieder in den Englischen Garten: Ich dachte mit jener Sehnsucht, die mich gar nicht verläßt, an Euch und es entstand ein Gedicht [Ein Geburtstag auf der Reise], in dem Vergangenheit und Gegenwart auf märchenhafte Weise durch einander laufen; wann es gelesen wird, weißt Du. Einen Vers schrieb ich auf dem chinesischen Thurm nieder, den ich ehemals so oft bestieg; einen anderen in einem kleinen Tempel […]; dabei schmückte ich die Wand mit Euren Namen. Ich besuchte, immer fort wandelnd und dichtend, alle alten Plätze und kehrte von meiner einsamen Pilgerschaft, die wirklich nur hie und da durch einen Bauer unterbrochen wurde, erst gegen zwei Uhr in die Stadt zurück [WAB 2, 463].

Die Entstehungsweise des Geburtstagsgedichts charakterisierte Hebbel wenige Wochen später in einem Brief an Dingelstedt. Nicht Konstruktivität und Kontrolliertheit eines „programmierten“ oder „prozeduralen“ Schreibens „aus dem Schreiben heraus“2822 waltete hier vor, sondern – „der ganze Frühling kukte schon hie und da aus einem Baum mit springenden Knospen hervor und ich erblickte unterwegs nicht bloß ganze Veilchenbeete, ich sah schon einen Schmetterling, einen glänzend-bunten, was mir eine ganz besondere Freude machte“ – die „lyrische Stimmung“ förderte das Gedicht wie „von selbst“ [WAB 2, 477] zutage. Keineswegs nur „seine besten Einfälle“ waren es also, die er „weniger den neun Musen, als seinen beiden Beinen verdankt[e]“ [WAB 3, 792]. Die gleichsam organische Genese machte Hebbel auch für seine größeren Werke geltend, die schon aufgrund ihres Umfangs nicht ‚im Vorübergehen‘ entstehen konnten. Judith nannte er ein mit „naiver Unbekümmertheit […] im Furor gelaichtes Stück“ [WAB 2, 277] und noch der reife Dichter ‚gestand‘ Marie von Sayn-Wittgenstein im Jahr 1858, daß er auf schriftliche Konzepte verzichte: Sie fragen mich nach dem Plan zum zweiten Theil [der Nibelungen]. Da muß ich Ihnen ein Geständniß machen […]. Ich habe keinen, ja ich habe nie einen, auch zum Demetrius nicht. Wenn Dingelstedt die Freundlichkeit gehabt hat, von diesem Stück mit Liebe zu sprechen, so ist es in Folge einer mündlichen Rhapsodie geschehen, die ich wahrscheinlich noch früher vergaß, als er. Mir ist ein Drama im buchstäblichen Sinne dasselbe, was einem Jäger eine Jagd ist; ich bereite mich so wenig darauf vor, wie auf einen Traum und begreife nicht einmal, wie man das kann. Ich sehe Gestalten, mehr oder weniger hell beleuchtet, sey es nun im Dämmerlicht meiner Phantasie oder der Geschichte, und es reizt mich, sie fest zu halten, wie der

2821 2822

WAB 2, 444f. Der junge Jäger erhielt später den Titel Situation. Vgl. dazu auch T 1528. VIOLLET, Schriftlichkeit und Literatur, S. 668.

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Maler; Kopf nach Kopf tritt hervor und alles Uebrige findet sich hinzu, wenn ich’s brauche.2823

Im Anschluß an die oralen Erzähler der Frühzeit charakterisierte Hebbel sich hier in archaisierenden Termini als ‚Jäger‘ und als einen ‚Seher‘, der seine poetischen Gestalten und Gesichte in Form einer ‚mündlichen Rhapsodie‘ weitergibt. Dagegen bezeichnete er „Rhetorik und Declamatorik“ – schriftgestützte Formen sekundärer Oralität – als „fremde Momente“ [WAB 1, 782]. Daß er sich nicht zum ‚Sammler‘ stilisierte, war kein Zufall, denn aus Zettelkästen und Tagebuchnotaten, auf der Basis schriftlich gespeicherter ‚Informationen‘ ließ sich nach seinem Verständnis keine lebendige Dichtung rekombinieren. Ebenso verwarf er das „Dogma, daß man Alles lernen könne“ [T 2948] – dieses Argument bräuchte nur der Philister, „damit er, wenn er […] zugeben muß, noch keine Ilias […] geschrieben zu haben, antworten kann: […] ich habe mich nicht bei Zeiten darauf gelegt“ [T 2948]. So konnte nur jemand sprechen, der tief von einer oralen Gedächtniskultur geprägt war. Komplexe Handlungsstrukturen und -verkettungen, Umschläge in Situationen und Charakteren hatte Hebbel im Kopf; er brauchte sie nicht erst zu ‚studieren‘. Als Herbert Kraft Hebbels Dramensprache mit doppeltem Akzent als „gedachte Rede“2824 und als „gedachte Rede“2825 charakterisierte, wollte er die Momente des Monologischen und Reflexiven herausheben. Die mit dieser Formel auch erfaßbare zugrundeliegende kreative Struktur und ihre mediale Implikation sah er nicht: Im Produktionsprozeß erweist sich die „gedachte Rede“ als ein ‚unausgesprochenes Sprechen‘. Selbst das Aufschreiben des Werks war aus dieser Sicht nur ein, wenn auch unumgänglicher Notbehelf: Dennoch nimmt meine Abneigung gegen die Mosaik-Arbeit des Schreibens immer zu, statt ab. Aus hundert und tausend vereinzelten Zügen, die eben ihrer Abgerissenheit wegen leblos sind, das Bild wieder zusammen setzen zu wollen, ist ein vergebliches Unternehmen. Ganz anders ist es mit inneren Vorgängen. Die erlebt man erst zu Ende, wenn man sie darstellt, wir erobern uns selbst nur durch das Wort. Auch wird mir das Sprechen immer mehr Bedürfniß, je mehr das Schreiben aufhört, ein solches zu seyn. Ich kann sogar sagen, daß mich Nichts so sehr zur Selbst-Erkenntniß führt, als das lebendige, sich aus den Tiefen des Geistes heraus gebärende Wort. Wenn all die innern Ströme rauschen und brausen, wenn sie sich gegenseitig verschlucken und in einander wühlen, da hab’ ich ein Bild meiner selbst, wie ich im Augenblick bin, und wie überhaupt, denn mir fehlt keineswegs die Kraft, einen solchen Wasser-Fall, wie von ganz unten herauf, zu betrachten [WAB 1, 661].

Die eigentliche Phase der Produktion erlebte Hebbel als eine Phase, die mit „inneren Vorgängen“, mit Bewegung, Aktion und mit „Sprechen“ zu tun hatte. Als er W. Zimmermanns Gedichte besprach, leitete er von den gerade gelesenen Texten ein weitreichendes Postulat ab, indem er der Lyrik eine mündliche Struktur zugrundelegte: „[D]as Lied ist ein dem Herzen abgelauschtes Selbstgespräch, Ballade und Romanze geben die Wechselrede zwischen dem Herzen und dem Geschick“ [W 10, 402]. Diese WAB 3, 718. Vgl. auch T 5338. KRAFT, Poesie der Idee, S. 65. 2825 Ebd., S. 67. 2823 2824

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Struktur wollte Hebbel als direkten Niederschlag der Produktionsweise verstanden wissen. Seinem Freund Felix Bamberg schrieb er 1846: „Der Drang meiner ganzen Natur geht nach Mittheilung, aber die unmittelbarste ist mir die liebste […]. Dieß geht immer weiter bei mir, es ist gar so unmöglich nicht, daß ich meine besten Tragödien dereinst nur noch für mich selbst dichte, denn so seltsam ist die menschliche Natur ja beschaffen, daß man sich selbst Mittheilungen machen kann. Diese Julia zum Exempel! Nun, wo ich sie nicht eben so leicht zu Papier bringen könnte, wie den Brief, den ich eben an Sie schreibe, so soll mich der Teufel holen“ [WAB 1, 768]. Der Rollenvirtuose Hebbel erlebte sein dramatisches Schaffen geradezu in Form von „Mittheilungen“ jeweils eines Teil-Ichs an ein anderes. Der ‚Sprechakt‘ wiederum ist nur eine spezielle Form des ‚Akts‘ an sich – Hebbels Menschenbild ist handlungsorientiert: „Nicht was der Mensch ist, nur was er thut, ist sein unverlierbares Eigenthum“ [T 1980]. Davon abgeleitet ist dem Dichter prinzipiell „[a]lle Poesie […] dramatisch“ [T 2449], wobei das Drama gattungsbedingt stärker als die übrigen literarischen Formen vom Handeln geprägt ist. Hebbel schrieb dazu: „Was das Drama betrifft, so ist noch zu erwägen, daß, wenn Epos und Lyrik uns doch Erzähler und Sänger, also in gewissem Sinn characteristische Masken mit bestimmten Eigenthümlichkeiten vorführen, dieses uns den nackten Menschen, wie er aus seiner Natur heraus handelt und spricht, hinstellen soll“ [T 3669]. Und eben die Tateinheit von Handeln und Sprechen ist es, die für ihn die eigentliche Qualität des Dramas ausmacht: „Das Drama schildert den Gedanken, der That werden will durch Handeln oder Dulden“ [T 112]. Diese Art „Gedanke“ hat nichts mit theoretischer Reflexion und abwägendem Räsonnement (als Äußerungen tief verinnerlichter Literalität) zu tun. Er ist – gleich der Tat – „wie ein Schuß; er ist nur einer, wenn er trifft. Aus der Ueberlegung geht nie eine That hervor“ [T 1766]. Entsprechend sei es zweitrangig, das „Verhältniß einer That zum Gesetz zu ermitteln“ [W 12, 260], wie es 1860 kritisch in einer Rezension über Gutzkow hieß. Bezeichnenderweise ist es genau dies, was in Hebbels letztem Drama ein Demetrius tut – er scheitert nicht zuletzt auch an seiner literalen Kulturisation: „Ritt ich den Blitz? Ich ritt ein Manifest“ [W 6, 127], sagt er sich selbst. Er, der sein Erbe schon „Von frühster Jugend auf sich Stück für Stück [/] Bei’m Buchstabiren in den Sinn geprägt“ hat und „Nicht einmal ein Gesetz, ein Blatt Papier [/] Mit Dintenklexen d’rauf, […] sich nehmen [läßt]“ [W 6, 71], wie der offenbar nur rudimentär literal geprägte Schuiskoi höhnt, fühlt sich an das schriftlich verbriefte Recht gebunden, das nicht mehr seines ist. So sehr sein Scheitern als ein Rückschritt im ‚Prozeß der Zivilisation‘ bedauert werden mag, es genügt nicht, das ‚Gesetz des Handelns‘ anderen zu überlassen. Auch für den Dichter sei es „das Höchste, Seelen-Ereignisse und Geistes-Revolutionen ohne Zergliederung und Beschwätzung unmittelbar durch das Thun und Leiden des Menschen zu zeichnen“ [T 1522], Dichten heiße „nicht Leben-Entziffern, sondern Leben-Schaffen!“2826 „Gesetz“, „Zergliederung“, „Entziffern“ – zur Beschreibung des Gegenpols seiner Poesie wählte Hebbel Attribute der typographisch-literalen Kultur. Hebbels Überzeugung, daß das Theater erst als ‚Volks-Theater‘ zu sich finde, fußte auf der Anschauung, daß die Darstellung auf der Bühne nicht nur einen Text, sondern 2826

T 2265. Vgl. auch T 1408 und T 1965.

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„den ganzen Lebensproceß“ [T 2449] widerspiegele, daß die sekundäre Oralität der Figurenrede dem ursprünglichen Sprechen nahekäme – den „Instinct“ für solche ‚Echtheit‘ besaß nur, wer sich nicht durch literale Verbildung hatte korrumpieren lassen. Auf der Produktionsseite parallelisierte Hebbel diesen Instinkt „der Masse“ ohne Umschweife mit dem, was „im Genius die Intuition“ [T 4981] sei. Dichterische Sprachschöpfung und menschliche Sprechhandlung, Aktualgenese auf der Bühne und direktes feed back vom Publikum fielen in diesem Konzept wieder zusammen – in Anlehnung an die orale Werkgenese. Dies ging einher mit deutlicher Kritik an skripturalen Merkmalen, die Hebbel etwa an Jacobis Woldemar dingfest machte: „[Er] referirt die Gemüthszustände, und glaubt sie darzustellen“ [T 3271]. Mit ganz ähnlicher Stoßrichtung formuliert Stanley Diamond seine Kritik der Zivilisation, wenn er Texte verwirft, in denen Konflikte „zu gestelzten intellektuellen Dialogen komponiert“2827 und „rationalisiert“, statt „in dramatischer Form ausagiert“ würden. Neutraler ließe sich mit Walter J. Ong sagen: „Tief-typographischen Personen ist die ursprüngliche Oralität, Ereignishaftigkeit und Kraftbewegtheit der Wörter entfallen“,2828 wohingegen bei „’primitiven‘ (oralen) Völkern die Sprache im allgemeinen eine Handlungsweise ist und nicht nur eine Bestärkung der Gedanken“. Genau solche Züge fand bereits Herbert Klysch an Hebbel auffällig: „Daß Hebbel immer irgendwie ‚in Handlung‘ reagiert, in Emotionen, […] nicht nur empfindend in Melancholie und Euphorie, ist das, was ihn, psychologisch gesehen, zum geborenen Dramatiker stempelt“.2829 Auf stilistischer Ebene ist dies nur äußerlich in Epiphänomenen wie „Antithese“,2830 „Klimax“ oder „epigrammatische[r] Zuspitzung[…]“ faßbar. Paul Bornstein sah im „Hyperbolischen“ eine „Eigentümlichkeit der Sprech- und Schreibweise Hebbels“ und interpretierte Hyperbeln gerade nicht als gekünstelte Stilfiguren: „Er schreibt sie, weil er sie spricht […] als Ausbruch eines gereizten Selbstgefühls, und solche Reizung geschieht ihm nur allzu häufig“.2831 Auch daß Hebbel Gesprächen oft „eine überraschende Wendung“ gab, fand Bornstein bemerkenswert. Hebbel selbst sah das Moment des jähen Umschlags als elementarisch in der ‚dramatischen‘ Psyche gegeben: „Daß Shakespeare Mörder schuf, war seine Rettung, daß er nicht selbst Mörder zu werden brauchte“ [T 3174] – doch sei „sehr gut eine gebrochene DichterNatur denkbar, bei der das […] entfesselte und auf ein zu erringendes Gleichgewicht angewiesene elementarische Leben unmittelbar in Thaten hervor bräche, weil die künstlerischen Productionen in sich ersticken“ [T 3174]. Die Äußerung gemahnt an das, was Diamond in der „prototypischen Situation des Primitiven“,2832 speziell in der „Verbindung […], die zwischen dem Psychotiker und dem Schamanen besteht, den Dieses und die folgenden Zitate: DIAMOND, Kritik der Zivilisation, S. 159. Dieses und das folgende Zitat: ONG, Oralität und Literalität, S. 38. 2829 KLYSCH, Friedrich Hebbels Schaffens- und Arbeitsweise, S. 138. 2830 Dieses und die folgenden Zitate: LANGEN, Deutsche Sprachgeschichte, Sp. 1444. 2831 BORNSTEIN, Wie sprach Friedrich Hebbel?, S. 36. Demgegenüber hielt Marie Luise Gansberg „die hohe pathetische Stillage, die Extremheit von Wort- und Bildbereichen […] eher kennzeichnend für die Literatursprache der Restaurationszeit überhaupt“ [GANSBERG, Zur Sprache in Hebbels Dramen, S. 61]. Allein auf stilistischer Ebene ist eine Entscheidung also nicht zu treffen. 2832 Dieses und die folgenden Zitate: DIAMOND, Kritik der Zivilisation, S. 153. 2827 2828

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wir Dramatiker genannt haben“, vorgezeichnet sah. Dieser stand, anders als die meisten Menschen, „unter relativ kontinuierlichem Streß“. So sei sein bloßes Vorhandensein eine „ständige Erinnerung daran, daß das Leben häufig auf des Messers Schneide zwischen Chaos und Sinn steht“. Man muß die Parallelen nicht überanstrengen – doch Hebbels Verwurzelung „im Primitiven“, von der Stolte so unangenehm berührt war, erreichte kommunikative Tiefenschichten, die durch gattungsmäßige, motivische und stilistische Untersuchungen kaum erfaßt werden können. Sprechen und Handeln sind eingebettet in sinnliches Erleben. Die „Sphäre des Optischen und Akustischen ist im Wort- und Bildschatz reich vertreten“,2833 konnte August Langen aufgrund der werkästhetischen Analyse vermelden. In produktionsästhetischer Wendung schrieb Frank Thiess: „Gedanken waren diesem Dramatiker Formen einer inneren Erscheinungswelt, die – denen der äußeren Welt vergleichbar – von ihm aus dem ‚Gegensatz in sich selbst‘ [T 3047] hervorgerufen wurden, als wären sie Gestalten“.2834 Die „Bedeutung des Okularen“2835 für den Schaffensprozeß hob auch Hebbel selbst häufig hervor: „Das Talent muß reflectiren; das Genie schaut an“ [T 4413]. Ganz und gar nicht stimmte er mit einem Diktum Herders überein, das er 1836 im Tagebuch zitierte: „Schlimm ist’s, wenn’s mit dem Menschen dahin kommt, daß gemalte Leiden auf ihn wirken, wie wirkliche!“ Hebbel nahm diesen Satz geradezu als einen Beweis dafür, „wie selten der echte Künstler in seinen Bestrebungen und seinem Ziel begriffen wird“ [T 344]. In der Besprechung von Gutzkows Selbst-Portrait meinte er: „[W]enn das viel wichtigere Verhältniß des Menschen zu seiner eigenen That festgestellt werden soll, so braucht man ihn selbst, das Wort seines Mundes, den Blick seines Auges, das Mienenspiel seines Gesichts“ [W 12, 260]. Darum tendiert bei Hebbel die Rede immer wieder zum Bildhaften oder Gestischen, denn „Bilder, für innere Zustände aus der äußern Natur genommen, haben nicht bloß erleuchtende, auch beweisende, Kraft“ [T 808]. Beispielhaft dafür ist ein Zug, den er im Münchner Tagebuch festhielt: „Du weißt, wie gern ich rothe Grütze esse – schrieb ein Mädchen an ihren Geliebten, dem sie ihren Schmerz über das lange Ausbleiben seiner Briefe schildern wollte – gestern hatten wir rothe Grütze und ich aß gar nicht“ [T 603]. Ganz ähnlich verhielt es sich bei Hebbels eigenem Großvater, Christian Schubart. Hebbels Notizen „Der Großvater und der Pudding“ [W 15, 8] bzw. „Pudding-Einrühren der ersten Frau am Weihnacht-Abend; er nie mit essen“ [W 15, 14] deutete Adolf Bartels so, „daß er, sich des Puddingeinrührens der ersten Frau am Weihnachtsabend erinnernd, dem Mahle, das die zweite oder dritte bereitet, ferngeblieben sei“.2836 Was in ihm vorgeht, ihm buchstäblich auf den Magen schlägt, kann er nicht ausdrücken, also verdrückt er sich LANGEN, Deutsche Sprachgeschichte, Sp. 1446. THIESS, Der unbequeme Mitmensch, S. 45. Rezeptionsästhetisch spiegelte sich diese Sinnlichkeit schon in den frühesten Leseerfahrungen Friedrichs. Vgl. oben den Abschnitt Die Sprache und die Dinge. 2835 JÄGER, Historische Historische Lese(r)forschung, S. 495. 2836 BARTELS, Kinderland, 425f. Schubart war dreimal verheiratet; drei Kinder stammten aus der ersten, eins aus der zweiten, Friedrich Hebbels Mutter und ihr Bruder Christian Conrad aus der dritten Ehe. Vgl. die „Stammtafel des Schubartschen Geschlechtes“ in: NAGEL, Friedrich Hebbels Ahnen. 2833 2834

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wortlos – und das am Weihnachtsabend! Der visuellen Erfaßbarkeit durch den Betrachter entspricht auf der Ausdrucksseite eine ‚Ästhetik der Körperlichkeit‘, die gleichfalls archaische Momente birgt. „Physiologische Bilder und Vorgänge spielen überhaupt bei Hebbel eine ziemlich bedeutende Rolle“,2837 stellte August Langen fest und bemerkte zugleich, daß diese Eigenart „dem Salonpathos der Zeit“ durchaus widerstrebte. Doch sah er hierin nur das „kraß naturalistische Element“, das er – ganz gegen seine sonstige Intention – stilgeschichtlich Schillers Die Räuber und Grabbes Herzog Theodor von Gothland zuzuordnen versuchte. „Wenn die Zunge versagt, so redet der Körper statt ihrer“ [T 5569] – was Hebbel 1857 in schlichten Worten notierte, war jedoch eine ganz eigene Erfahrung, wenn er sie auch etwa am mittelhochdeutschen Nibelungenlied bestätigt fand: Das Epos kam ihm vor „wie ein taubstummes Gedicht […], das nur durch Zeichen redet.“ [T 5405]. Dies war der semiotische Code, mit dem auch Genovevas Siegfried umzugehen gelernt hatte. Hebbel konnte noch nicht (wie etwa Walter J. Ong) auf linguistische Feldforschungen zurückgreifen; dennoch beschrieb und benutzte er ganz offensichtlich Kommunikationsweisen Nichtliteralisierter. Diese haben, so Ong, „Probleme damit, Selbsteinschätzungen zu artikulieren“,2838 und denken vorzugsweise „in operativen Zusammenhängen“.2839 Für Hebbel bedeuteten die Eigenarten der oralen Kultur eine Tiefenschicht, die er als Kontrast zur modernen Diskursivität für seine Literatur zurückgewinnen wollte. Die körperliche Reaktion ist – situativ und metaphorisch – die ‚Verkörperung‘ des Gedankens schlechthin, unumstößlicher Beleg für den unausgesprochenen Zusammenhang zwischen Gedanke und Tat. Wenn im Drama der Gedanke Tat wird „durch Handeln oder Dulden“ [T 112], wenn in der Aufführung der geschriebene Text körperlich greifbar und lebendig wird, dann gehen Sprache und Gegenstand die engstmögliche Symbiose ein. Als Ausdruck einer oralen kulturellen Prägung unterscheidet sich dies von der bloß situativ bedingten „dramatische[n] Gestaltung“ einer sozialen Rolle, wie Erving Goffman sie beschrieb, bei der eine Handlung lediglich „während der Interaktion das ausdrückt, was er [der „Darsteller“] mitteilen will“.2840 Hebbels Dramen gewinnen ihre Spannung nicht zuletzt aus der Konfrontation oral und literal geprägter Kommunikationsformen. Wenn in ihnen archaische Zeichenhaftigkeit und rabulistische Argumentation gegeneinander ausgespielt werden, dann sind sie auch Tragödien der Kommunikation. Hebbels immer wieder geäußerter Vorbehalt gegenüber einem universitären Lehramt war nicht nur ein Problem fehlenden positiven Wissens, sondern gewissermaßen auch einer mangelnden spezifischen Medienkompetenz. Gegen die ‚gelehrte‘ Tätigkeit der Herstellung von Texten aus Texten verspürte er unüberwindliche innere Widerstände, wie er Elise Lensing klarzumachen versuchte: „Wenn es mir vergönnt wäre, sie in der Tiefe meines Geistes langsam auszubilden, so könnte ich vielleicht 5 bis 7 Dramen dichten, aber Lehr-Vorträge auszuarbeiten, ist mir völlig unmöglich, ich brächte wöchentlich keine 2 Seiten zusammen, statt 60, es widerstrebt meiner Dieses und die folgenden Zitate: LANGEN, Deutsche Sprachgeschichte, Sp. 1446. ONG, Oralität und Literalität, S. 58. 2839 Ebd., S. 60. 2840 GOFFMAN, Wir alle spielen Theater, S. 31. 2837 2838

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Natur“.2841 Schreiben – und damit waren eher die dem „Aufschreiben“ vorangehenden kreativen Prozesse gemeint – war für ihn nur als ‚Lebensform‘ denkbar. Aus dieser Sicht erschien ihm jemand, der „zu faul zum Schreiben“ war, eigentlich als „zu faul zum Leben, zum Genießen und Handeln“ [T 3195]. Wenn Hebbel Literaturrecherchen für seine Dramen trieb, dann trat dies „erst dann bei ihm ein, wenn er über das Stadium des bloßen ‚Spielens mit dem Stoffe‘, wie er es nannte, bereits heraus war. Da bot ihm dann die Lektüre das Milieu und die Atmosphäre der Handlung oder gewährte Details für die einzelnen Charaktere oder die ganze Fabel“ [HP I, 252]. Doch selbst diese Studien näherten sich semioralen Praktiken, wie Karl Werner aus eigener Anschauung bestätigte, denn „hierbei wurde er häufig von seinem kolossalen Gedächtnisse unterstützt, das ihm erlaubte, noch nach Jahrzehnten Stellen aus gelesenen Büchern wörtlich zu zitieren“ [HP I, 252]. Erika Landaus kreativitätspsychologisches Modell sieht als viertes und letztes Stadium die „Verifikationsphase“2842 vor. In ihr wird die Problemlösung „getestet, geprüft und geformt […], bis sie dem kreativen Individuum und der Umwelt adäquat ist“. Bezogen auf literarische Werke kommen spätestens bei dieser Übersetzung in „objektive symbolische Formen“ auch die bei Peter von Matt angeführten literarischen und gesellschaftlichen Konventionen zu ihrem Recht. Bei Hebbel war auch dieser Arbeitsgang nur zum Teil mit dem Akt des Niederschreibens verbunden. „Denn Hebbel geht erst an die Niederschrift, wenn das Werk […] in seiner Phantasie völlig gewachsen und ausgebildet ist“,2843 wie Herbert Klysch formuliert. Anders mochte sich dies im Knabenalter verhalten haben, kaum daß Friedrich bei Dethlefsen flüssig Schreiben und Lesen gelernt hatte. Die verschollenen frühen Theaterstücke – von Räuberhauptmann Evolia über Graf Reutlinger und Julius Cäsar bis zu Hedwig – waren sehr wahrscheinlich prompte Anwendungen der frisch erworbenen Künste und kaum etwas anderes als flinke Reformulierungen von Gelesenem. Schon darum konnte Hebbel diese „Kinderspiele“ [WAB 1, 457] ausnehmen, wenn er Karl Goedeke versicherte, er habe vor der Judith „nie eine dramatische Zeile geschrieben“ [WAB 1, 457]. Sein Wiener Arbeitszimmer glich nicht gerade dem Studiolo eines Gelehrten. Karl Werner berichtete, daß man auf Hebbels Schreibtisch „selten Bücher gewahrte, da er dort weder gelehrte Abhandlungen noch auch poetische Werke ins Leben rief, sondern nur Briefe schrieb oder die im Kopfe bereits vollständig ausgereifte Schöpfung zu Papier brachte“ [HP I, 251]. Nicht einmal in der Phase der Niederschrift hielt es ihn länger am Schreibtisch, wie Hebbel einmal gelegentlich eines Traumberichts erwähnte: „[I]ch ging, wie ich zu thun pflege, mit schnellen Schritten im Zimmer auf und ab und trat zuweilen an den Schreibtisch, um die Verse, sowie sie entstanden, nieder zu schreiben“ [T 1038]. Die Bewegung des Gehens, die auch Ausdruck der Gemütsbewegung war, prägte sich mitunter noch dem Gestus des Schreibens ein: „Du wirst es an meiner Handschrift sehen, wie sehr mein Blut von dem weiten Weg noch in Wallung ist“ [WAB 2, 271]. WAB 1, 518. Werner liest dagegen „vielleicht noch 6 bis 7“ [B 2, 333]. Dieses und die folgenden Zitate: LANDAU, Psychologie der Kreativität, S. 67. 2843 KLYSCH, Friedrich Hebbels Schaffens- und Arbeitsweise, S. 98. 2841 2842

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Die Erstellung des Manuskripts war bei Hebbel weniger Abschluß, als Anlaß für Tätigkeiten der Verifikationsphase, weil, wie Julius Bahle schreibt, das „spontan Geschaffene oft lückenhaft ist und den nachträglichen Korrekturen die Aufgabe zufällt, diese Lücken auszufüllen“.2844 Hebbel sei „immer mehr zu der schaffenspsychologischen Einsicht“ gekommen, daß die „Inspirationen einer besonders strengen Überwachung bedürfen, um alle noch vorhandenen Mängel derselben durch nachträgliche Korrekturen auszumerzen und zu verbessern“.2845 Ähnlich äußert sich Herbert Klysch: „Das endlich in der Niederschrift abgeschlossen vorliegende Werk hat in Hebbels Augen zunächst noch nichts von Vollendetsein. Mit unendlicher Peinlichkeit und Genauigkeit geht’s ans Überarbeiten.“2846 Die Intensität dieser Korrekturvorgänge erweckt den Eindruck, als sollten die Spuren von Oralität getilgt, oder wenigstens auf der stilistischen Ebene kompensiert werden. Betrachtet man Versmaß, Wortwahl, Syntax und Dialogaufbau, so möchte man von einer übersteigerten ‚Skripturalität‘ sprechen: Hebbel selbst meinte einmal, daß „ich zu viel in die einzelne Periode hinein pfropfe“ [WAB 2, 126]. Daß die Dramenfiguren natürlich-sprachliche Dialoge führten, möchte man nicht eben behaupten. Lange Monologe wirken selbst im theatralischen Kontext oft wie Fremdkörper und eher störend. All dies verweist auf eher literale Qualitäten, auf Reflektiertheit, Distanz, Dialektik. Die „Peinlichkeit, mit der er seine Dramen und Gedichte überarbeitet, wird bei den Prosastücken, der ihm fernstliegenden Tätigkeit, wohl am greifbarsten“,2847 meint Herbert Klysch: „Alle Aufsätze […] werden mit allergrößter stilistischer Sorgfalt ausgeführt und durchkorrigiert“,2848 mit „jedem Komma und Punkt“2849 sei es ihm ernst. Auch als Kritiker nahm Hebbel diese Haltung ein: „Ich lese Bücher, die ich beurtheilen soll, an und für sich schon so gewissenhaft, wie ein Richter seine Acten“ [WAB 3, 583]. In diesem ‚kritischen‘ Stadium hat Lesen nichts mehr mit dem Eintauchen in einen Redestrom zu tun, sondern gerät zum quasi juristischen Studium von in Schriftform fixierten Beweisstücken. Gerade die ‚Peinlichkeit‘ der Korrekturen, die durchaus auch eine emotionale Dimension besitzt, deutet allerdings auch auf Hebbels primäre Distanz zu Philologie und Schrift-Kultur. Emil Kuh, der mit der Schaffensweise seines Mentors am besten vertraut war, relativierte denn auch die Bedeutung dieser Tätigkeiten: „Daß Hebbel hie und da Änderungen vornahm, dies hinzufügte, jenes verrückte, manches entfernte, bevor er ein Werk für abgeschlossen erklärte, versteht sich von selbst“.2850 Als Intimus des Dichters wußte er: „Das Umarbeiten des bereits Gestalteten lag nicht in Hebbels Wesen“.2851 Das bloße Abschreiben, zumal in sauberer Schrift, war ihm vollends ein Greuel. In einem der ersten Briefe aus Hamburg an Jakob Franz platzte Hebbel heraus: „Gott sey Dank! Du bist ein Mensch, der meine unleserliche Hand entziffern kann, darum BAHLE, Friedrich Hebbel als Arbeitstypus, S. 72. Ebd., S. 73. 2846 KLYSCH, Friedrich Hebbels Schaffens- und Arbeitsweise, S. 103. 2847 Ebd., S. 133. 2848 Ebd., S. 132. Vgl. KUH, Biographie, Bd 2, S. 457. 2849 KLYSCH, Friedrich Hebbels Schaffens- und Arbeitsweise, S. 133. 2850 KUH, Biographie, Bd 2, S. 473f. 2851 Ebd., S. 473. 2844 2845

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bist Du auch ein solcher, dem ich schreiben ka[nn]“ [WAB 1, 41]. Nur die flüchtige Handschrift konnte mit dem Gedankenfluß mithalten. Anders verhielt es sich mit den Beilagen an weitere Empfänger: „Mein Bruder ist nicht eben sehr gelehrt, D. wird sich auch schwerlich in den nächsten 10 Jahren den Doctorhut erringen, Herr Wilhelm Abraham bedarf vielleicht ohnehin eines Dolmetschers, wenn er Briefe empfängt – – ich habe also viele Aufmerksamkeit auf die Buchstaben richten müssen und das nehmen die Gedanken gleich übel, d. h. sie kommen gar nicht“ [WAB 1, 41]. Zwölf Jahre später war die Diagnose noch immer die gleiche, als Hebbel nach einer BriefAbschrift stöhnte: „Der Kopf ist mir ohnehin so wüst, daß ich nur noch zum Copisten tauge“ [T 3943]. Doch dazu wollte er eben partout nicht taugen. So wartete Felix Bamberg im Oktober 1846 vergeblich auf die von Hebbel versprochenen Szenen aus Moloch: „Eben habe ich, in dieser Stunde, wieder einen Versuch mit dem Abschreiben gemacht, aber es geht nicht, und hier weiß ich keinen Menschen aufzutreiben, der das Geschäft für mich übernehmen könnte“ [WAB 1, 834].

Atavismen im Umgang mit Schrift Die vielfältig fortwirkende, teils unterdrückte, teils hervorgekehrte Präsenz der oralen und semioralen Prägung in Leben und Werk zieht eine weitere Frage nach sich: Gibt es neben der in Dethlefsens Schule erworbenen virtuosen Schriftkompetenz auch Relikte archaischer, semiliteraler Praktiken? Emotionale, abergläubische und mythisierende Umgehensweisen begleiteten historisch die Einführung und allmähliche Durchsetzung des neuen Mediums in vielfältiger Form. Denn es bedurfte ja durchaus abstrahierender Anstrengungen, Schrift abgelöst vom ursprünglichen „Lebenszusammenhang“ als abstraktes Zeichensystem bzw. Kommunikationsmedium zu sehen und zu behandeln. Tatsächlich finden sich auch bei Hebbel zahlreiche, geradezu atavistisch anmutende Verhaltensweisen, die teils habituell geworden waren, teils auch spielerisch gehandhabt wurden, ohne daß dies immer zu trennen wäre. Bemerkenswert ist etwa, wie er – im vorgerückten Alter – die Briefe seiner Frau Christine (Abbildung 28) behandelte: „Eben komme ich von der Post zurück, wo ich zu meiner innigsten Freude Deinen lieben Brief fand. Ich küßte ihn und las ihn augenblicklich auf dem Posthof“ [WAB 2, 273], schrieb er beglückt am 17. April 1851 aus Berlin der in Wien zurückgebliebenen Gattin. Die papierenen Zärtlichkeiten wiederholten sich. Auf seiner Reise nach München im folgenden Jahr verlangte er: „Küsse Deinen nächsten Brief, laß’ Titerl’ ihn auch küssen und bezeichne die Stellen!“.2852 Am nächsten Morgen öffnete er den Brief noch einmal, „um mich noch ein wenig mit Dir zu unterhalten“! [WAB 2, 419] Schon am selben Tag durfte er einen Brief von seiner Frau in Empfang nehmen, den er anderntags beantwortete: Wie ich mich gestern freute, als ich Deinen lieben Brief empfing, kann ich Dir gar nicht sagen. Deine bloßen Schriftzüge sind für mich electrisch, mir ist, als ob ein Theil Deines 2852

WAB 2, 419. Vgl. auch den Brief vom 15. März 1852 [WAB 2, 452].

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Wesens in sie übergegangen wäre, so daß ich nie einen Zettel von Dir, und wenn’s ein Waschzettel seyn sollte, zerreißen könnte. […] D[a]rum kommt es gar nicht darauf an, ob in Deinen Briefen viel oder wenig steht; mir sind sie, wie lebendige Boten Deiner Seele, die mir in ihrer bloßen Existenz immer viel mehr bedeuten, als Alles, was sie bringen oder melden. Das vergiß nicht; wenn Du mir ein bloßes weißes Blatt mit Deinem Namen schicktest, so wäre ich schon zufrieden. […] Der Bogen ist zu Ende, ich muß schließen, das ist so viel, wie scheiden. […] Nun mein allerallerallerallerallertheuerstes Weib leb’ wohl u gieb mir im Geist einen Kuß. [WAB 2, 420ff.]

Alles Wissen um die Vermitteltheit der brieflichen Kommunikation wird hier über Bord geworfen, stattdessen eine körperliche Unmittelbarkeit beschworen, wofür das von der Geliebten berührte und verschickte Papier, der geschriebene Name und die charakteristischen Schriftzüge bürgen müssen. Diesen und andere Briefe behandelte Hebbel „in partialer Kontiguität der empirischen Person“2853 des Absenders: Der Brief wird zum Ersatz, zum ‚Talisman‘ [vgl. den Brief an Elise Lensing vom 4. April 1843], zum Substitut des abwesenden Subjekts, der physische Wirkungen ausübt und physischen, nicht nur intellektuellen Manipulationen unterworfen wird, um den Mangel an Präsenz zu kompensieren: […] Metonymisch werden Briefe zu Fetischen, die in absente des begehrten Subjekts abgeküßt werden.

Zu magischen Symbolen von besonderer Aufladung werden dabei „Stellen, wo Sonne und Abendstern stehen und ihren Segen auf mich ausströmen!“ [WAB 2, 428] Natürlich war sich Hebbel des autosuggestiven Charakters seines Verhaltens bewußt. In einem der nächsten Briefe an seine Frau, am 10. März 1852 schrieb er: „Wie ich mich sehne, so bald, als irgend möglich, wieder bei Dir zu seyn, kann ich Dir gar nicht sagen; mir blutet jetzt das Herz sogar, wenn ich Dir schreibe, was mich sonst immer beruhigte“ [WAB 2, 442]. Zwei Tage später sandte er „[a]bermals ein Blatt Papier, statt meiner selbst!“ [WAB 2, 444] Dann wiederum, am 21. März, ist ihm, „als könnte ich mit Dir reden und brauchte nicht an Dich zu schreiben. Denn vor mir auf dem Tisch steht Dein Bild mit den edlen treuen Zügen und das Titele sieht mich so naiv an, als wunderte es sich über mein Treiben“ [WAB 2, 465]. Die „Fetische“ in Schrift- und Bildform schienen auch hier ‚materialiter‘ die geliebte Person zu enthalten – und riefen reale Beschwörungsriten hervor, allen ‚vernünftigen‘ Einsichten zum Trotz. Neben solchen zärtlichen gab es freilich auch ganz andere Affekthandlungen Hebbels gegenüber Schriftstücken von eigener und fremder Hand. „Ich schreibe allerlei tolles Zeug durcheinander u muß den Brief schließen, wenn ich ihn nicht zerreißen soll“ [WAB 1, 81], schrieb der 23jährige seiner Freundin Elise Lensing. 1840 mußte er bei seiner Gönnerin Amalie Schoppe Abbitte leisten: „Ich sende Ihnen diesen [Ihren letzten] Brief zurück; verzeihen Sie, daß ich ihn am Tage des Empfangs in der ersten Heftigkeit in der Mitte durchriß, was nicht mir, nur Ihnen, zustand“ [WAB 1, 345]. 1845 warnte er hingegen Elise: „Ich bitte Dich noch einmal: nie wieder etwas von Gott, von Vorgefühlen u. s. w. Meine Hand fährt unwillkürlich nach Briefen, die so etwas enthalten, um sie zu zerknittern“ [WAB 1, 700]. Auch Bücher 2853

Dieses und das folgende Zitat: KNEBEL, „Nicht bloß Bücher haben ihre Schicksale […]“, S. 79.

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waren bei ihm vor physischen Aggressionen nicht sicher: Im Münchner Englischen Garten studierte Hebbel „Hegel und Schelling so lange […], bis ich sie (buchstäblich) mit Füßen trat, weil sie mich verrückt machten“ [WAB 2, 277f]. Radikaler war der Akt des Verbrennens, den Hebbel in seiner Studentenzeit „in einem Augenblick höchster Muthlosigkeit“ [WAB 2, 126] an seinem Roman Der deutsche Philister sowie „Hunderten von Briefen, vielen Gedichten u.s.w.“ [WAB 2, 126] ausführte. Anders als die spontanen Affekthandlungen war diese Aktion mit Bedacht ausgeführt worden: „Ich hielt es in jener Stunde für die allerlächerlichste Selbstüberschätzung, mehr als einen angehenden Candidaten der Rechte vorstellen zu wollen und warf meine Spielpuppen in’s Feuer, um mich von meiner Thorheit gründlich zu heilen, indem ich dachte, daß die mich allein verhinderten, auf dem rechten Wege zu bleiben“ [WAB 2, 126]. Allerdings war das Autodafé keineswegs so rational, wie seine Begründung zunächst klingt. Die Bestrafung galt nach Hebbels Empfinden anthropomorphen „Spielpuppen“, die ihm zum Fluch wurden, indem ihre bloße Gegenwart ihn negativ zu beeinflussen schien. Wenig später, kurz nach der Rückkehr nach Hamburg 1839 „hob und trug“ ihn zwar bereits „ein unbegränztes, zuversichtliches Vertrauen“ in sein dichterisches Vermögen; zugleich war damit aber noch einmal ein „unwiderstehlicher Drang verbunden, alle Spuren meines irdischen Daseyns, namentlich meiner Gedichte, zu vertilgen, […] weil sie mir bis auf Weniges, meinem Wollen und Sollen gegenüber, gar zu unzulänglich vorkamen“ [T 5086]. Doch dieses Mal setzten sich einige Werke zur Wehr, als führten sie ein Eigenleben. Hebbel fuhr fort: Dabei war es eigen, daß gerade dieß Wenige, was sich mir gegenüber behauptete, mich am meisten quälte und peinigte; ich wandte es unablässig hin und her, um es auch verurtheilen zu können, aber ich hätte es ohne hinreichenden Grund verdammen müssen, denn es entsprach meinen Forderungen noch jetzt, und so stand ich denn von seiner Vernichtung ab, wie von einer Art Mord [T 5086].

Bei nüchterner Betrachtung ist gegen Walter J. Ongs Diktum über den Unterschied von Oralität und Literalität kaum etwas einzuwenden: „Man kann einen Text nicht unmittelbar zur Verantwortung ziehen. Nach totaler und vernichtender Kritik bleibt er doch stets der alte.“2854 Doch in Hebbels Empfinden blieb die Schrift geheimnisvoll mit dem Schreibenden verbunden, war der Text direkte Handlung und nicht bloß Vermittlung von Zeichen. Entsprechend ist auf ihn zu reagieren: „Nur durch Handlungen sollten wir recensiren; im Handeln können wir unbedingt wahr seyn, ohne zu verletzen, im Reden kaum“ [T 3697], äußerte Hebbel 1846. Eine akzeptable Folgerung? Nicht lange vorher hatte er ein Buch Gutzkows „durch Handeln“ auf eine Weise „rezensiert“, die in mehrfacher Hinsicht eine schwere ‚Verletzung‘ bedeutete. In seinen Briefen und Tagebüchern findet sich wohlweislich darüber nichts. Der aus Altona stammende Landschaftsmaler Louis Gurlitt war indes Zeuge der sonderbaren Gewalttat seines Zimmernachbars in Rom: Eines Tages wurde ich durch einen mächtigen Knall an der Türe, die unser Zimmer verband, aber verschlossen war, sehr erschreckt. Ich stürzte zu Hebbel und fand ihn in größter Auf2854

ONG, Oralität und Literalität, S. 81.

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regung in seinem Zimmer auf und ab schreiten: „Das nennt sich Dichter!“ rief er wütend, „solche Kerle!“ Es war ein Buch von Gutzkow, in dem er gelesen und das er dann an die Wand geschleudert hatte, das ihn in solche Aufregung versetzt hatte, und erst nachdem er einen großen Nagel aus der Wand gerissen, ihn mit dem Stiefelknecht durch das Buch getrieben und dieses an die Wand genagelt hatte, beruhigte er sich wieder [HP I, 163f.].

Dies war eine Exekution in mehreren Eskalationsstufen: Zunächst warf Hebbel das Buch an die Wand, dann lief er laut schimpfend im Zimmer umher, riß einen Nagel ab, schlug ihn mit einem Stiefelknecht durch das Buch, um schließlich das Ganze an die Wand zu nageln. Hinter diesem Ablauf verbirgt sich mehr als nur ein spontaner Ausbruch. Gurlitt hatte das sonderbare Schauspiel auch Klaus Groth mitgeteilt, der Hebbel 1863 noch einmal daran erinnerte, wie er „den infamen Gutzkow an die Wand genagelt (einen Roman von ihm mein ich)“ [WAB 4, 541]. Wenn Groth von sich erzählte, „daß ich einmal Adolf Stahrs Jena und Weimar gegen die Wand geworfen“ [WAB 4, 541], war dies nur eine schwache Parallele. So bestaunte er auch an Hebbels Tat die „sittliche Höhe und Reinheit“, die Gurlitt wiederum „fast komisch erschienen“ [WAB 4, 541]. Allerdings hatte auch dieser seinem Bericht schon hinzugefügt, für Hebbel sei eben „die Dichtkunst seine Gottheit“ [HP I, 164] gewesen. Aus der Distanz mochte die Nagelung Gutzkows Anlaß zum Schmunzeln geben – an Hebbels ‚heiligem Zorn‘ war dagegen nicht zu zweifeln. Hierin mit Isidor Sadger eine symbolische Kastration des Gegners sehen zu wollen,2855 wäre wohl eine allzu schematische Adaption Freuds. Rolf Engelsing hat 1968 Die Nagelung des Buches einer ausführlichen Betrachtung unterzogen und Hebbels Tat mit einer gleichartigen Handlung Goethes an Friedrich Heinrich Jacobis Woldemar 1779 im Ettersburger Park verglichen. Dabei wies er nicht nur auf die Nähe zur „Kreuzigung“2856 hin, sondern auch darauf, „daß die Nagelung im Volksglauben als ein Abwehrmittel gegen den Vampir und andere Wiedergänger, d. h. gegen Nachzehrer galt, von denen man fürchtete, sie könnten als Tote leibhaftig zurückkehren und sich über die Lebenden werfen, wenn sie schliefen, um ihnen das Blut auszusaugen. Darum wurden Leichen, die man für Nachzehrer hielt, Nägel in den Leib getrieben, oder sie wurden im Sarg angenagelt.“2857 Auch diese Erklärungsversuche mögen im Nachhinein „fast komisch“ wirken – Engelsing selbst beeilte sich zu erklären: „Es soll damit nicht behauptet werden, daß die Nagelung des Buches eine analoge Handlung war. Aber eine entfernte Verwandschaft mag zwischen diesen Akten bestehen.“ Uns Heutigen erscheint der Vergleich in der Tat weit hergeholt – vor allem aber deshalb, weil wir mit der Lebenswirklichkeit der Zeit nicht mehr vertraut sind. Bereits für Goethe war die Nagelung des Woldemar, die sich an eine mündliche Persiflierung des Stücks vor der Weimarer Hofgesellschaft anschloß, bei der der Held zuletzt vom Teufel geholt wurde, ein „literarischer Scherz“.2858 Bei Hebbels Tat ging es demgegenüber nicht um eine Inszenierung kurioser kulturgeVgl. SADGER, Friedrich Hebbel. Ein psychoanalytischer Versuch, S. 115. ENGELSING, Die Nagelung des Buches, S. 289. 2857 Dieses und das folgende Zitat: Ebd. Vgl. auch BÄCHTOLD-STÄUBLI, Handwörterbuch, Bd VI, Sp. 815f. und Sp. 819. 2858 NICOLAI, Goethe und Jacobi, S. 127. 2855 2856

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schichtlicher Referenzen. Sein unreflektierter Ausbruch läßt an eine tiefere psychische Prägung denken. Als Teil komplexer brauchtümlicher Handlungen waren Nagelungen im Volk weit verbreitet. Mehrere Aspekte kamen dabei zusammen, wie Hanns Bächtold-Stäubli erklärte: Nach uraltem Aberglauben sind E[isen] und Stahl magische Abwehr- und Schutzmittel gegen Dämonen und ihre bösen Einwirkungen. Von den angeführten Gründen, weshalb sie E[isen] und Stahl fürchten, ist der einleuchtendste, daß aus diesem blanke, scharfe Waffen verfertigt wurden. […] Oft kommt ihnen [Eisen und Stahl] als solchen weniger die abwehrende Kraft zu, als der Form der aus ihnen gefertigten Gegenstände (Hufeisen, Messer, Nagel, Beil u. a.) und der mit ihnen vorgenommenen Handlung.2859

Das Annageln von Gegenständen, oft an Türen, war ein ausgesprochener Abwehrritus. In diesem Zusammenhang berichtete Bächtold-Schäubli von eigenartigen Gepflogenheiten, so etwa „am Scheunentor tote Tierkörper zu befestigen“,2860 über einem zu oft weinenden Kind „einen Nagel so tief in die Tür [zu schlagen], daß er nicht mehr hervorsteht“,2861 oder ähnlichen Hausmitteln: Gegen Zahnweh schreibt man den Namen des Kranken in dreifacher Verstellung auf ein Papier, faltet es zusammen und nagelt es dann an die Stubent[ür] […]. Gegen Warzen nehme man eine große braune Schnecke, nagle sie mit einem großen hölzernen Hammer an den T[ür]pfosten, verdorrt sie, so dorrt auch die Warze. […] Wenn ein Kind einen dicken Nabel hat, so nimmt man einen gefundenen Nagel und schlägt ihn unter drei Vaterunsern in der Höhe des Nabels in die T[ür].2862

Vom Wiener „Stock im Eisen“ und anderen Orten ist bekannt, daß „in die Ferne reisende Handwerksburschen in einen Baum oder eine Holzfigur Nägel einzuschlagen pflegten, vermutlich, um ein Unheil damit zu bannen“.2863 Auch in Dithmarscher Sagen und Märchen hat sich die Vorstellung von der magischen (und praktischen) Wirksamkeit des Annagelns – sogar von menschlichen Wesen – niedergeschlagen. In der Dithmarscher Variante von Sesam öffne dich wird einem geldgierigen Kaufmann mehr als übel mitgespielt: „Man hieb ihm den Kopf, die Arme und die Beine ab und nagelte die Stücke über der Tür, die zu dem Schatz führte, fest“2864 – zur Abwehr und Abschreckung möglicher Nachahmer. Lustig-burlesker geht es in De Matros, de ni bang warrn kunn zu: „Do kreeg de Matros gau en Nagel un slog em dör dat Lock, dat de Düwel mit sin Näs annagelt wer. Do nehm he en String un baller em wedher lumsch dat Fell vull.“2865 Auch bei der von Hebbel ausgeführten Nagelung wurde mit dem Buch letztlich ein sympathetischer ‚Stellvertreter‘ haftbar gemacht, galt die Tat eigentBÄCHTOLD-STÄUBLI, Handwörterbuch, Bd II, Sp. 717f. Ebd., Bd VII, Sp. 1041. 2861 Ebd., Bd IX, Sp. 325. 2862 Ebd., Bd VIII, Sp. 1196. 2863 Ebd., Bd II, Sp. 722. 2864 HUBRICH-MESSOW, Sagen und Märchen aus Dithmarschen, S. 92. 2865 Ebd., S. 64. 2859 2860

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lich dem Menschen Gutzkow – was ihr eine zusätzlich magische Komponente verlieh, die durch Gurlitts ‚Erklärung‘ von der „Gottheit“ der Dichtkunst nur noch schillernder wurde. Das Bild des Annagelns findet sich auch sonst bei Hebbel wieder. In dem Epigramm Moderne Staatsbildungen wird die Vorstellung des demiurgischen Zusammennagelns von Teilen eines Körpers zu einem neuen Wesen zur desillusionierenden Charakterisierung „moderner“ Politik benutzt: „[G]laubt ihr, es gebe ein Tier? [/] Nein, das wächs’t nicht zusammen, das kann nur zusammen verwesen, [/] Denn das belebende Herz hat noch kein Nagel ersetzt“ [W 6, 361f]. Vielleicht noch fundamentaler ist die Skepsis des alten Herzog Ernst: „Wir Menschen in uns’rer Bedürftigkeit können keinen Stern vom Himmel herunter reißen, um ihn auf die Standarte zu nageln“ [W 3, 233f.], auch wenn letzteres bei weihnachtlichen Volksschauspielen und bei den Sternsingern gängige Praxis sein mochte. Die an einem Nagel hängende Dingmagie verfing bei ihm nicht: „Wir müssen das an sich Werthlose stempeln und ihm einen Wert beilegen“ [W 3, 234]. Auf die Klara in Maria Magdalena übte das gleiche Bild dagegen eine starke Wirkung aus: „Mir ist, als wär’ ich auf einmal tausend Jahr alt geworden, und nun stünde die Zeit über mir still, ich kann nicht zurück und auch nicht vorwärts. O, dieser festgenagelte Sonnenschein und all die Heiterkeit um mich her“ [W 2, 49]. Im Trauerspiel in Sicilien hat der Mordbube Ambrosio seinem Kumpan Bartolino vieles, das diesem „im Kopf sitzt, fest wie’s Einmaleins […] mit Schwüren angenagelt“ [W 2, 85]. Hier erscheint das Motiv eigenartig konkret ‚psychologisiert‘ bzw. ‚verinnerlicht‘. An die magische Dimension einer ähnlichen Handlung erinnerte Hebbel, als er 1838 im Tagebuch notierte: „Die Juden im Mittelalter mußten an die Göttlichkeit Christi glauben, bevor sie, wie es ihnen Schuld gegeben ward, Hostien durchbohren konnten“ [T 991]. Das Durchbohren der Hostie verweist von abergläubischen Nagel-Praktiken weiter auf die Kreuzigung. Diese metaphorische Höchststrafe hatte Hebbel dem gehaßten Kirchspielvogt Mohr zugedacht: „Der Kerl ist doch gar zu gemein gegen mich gewesen, als daß ich es ihm ganz ungestraft hingehen lassen könnte; hat er mich einmal an’s Kreuz geschlagen, so darf ich’s wieder thun“ [WAB 1, 58], schrieb er seinem Freund Jakob Franz schon im September 1835 im Hinblick auf den avisierten Roman Der deutsche Philister. An eine Kreuzigung, mehr noch aber an das Bannen eines Wiedergängers im Sarg erinnerte die Affekthandlung, deren sich Meister Anton rühmte: „Eigenlob stinkt, aber was that ich, als der Nachbar über Deiner Mutter den Sargdeckel zunageln wollte?“ [W 2, 37] Klara antwortete statt seiner: „Er riß ihm den Hammer weg und that’s selbst, und sprach: dieß ist mein Meisterstück! Der Cantor […] meinte, Er sei verrückt geworden“ [W 2, 37]. Die Annagelung eines lebendigen Menschen malte Hebbel schließlich mit Behagen in einer Anekdote über Iwan den Schrecklichen aus, der „einmal einem Gesandten die Eisenspitze des Stockes, auf den er sich stützte, in den Fuß trieb und mit dem solcherweise von ihm Angenagelten und Erbleichenden unbefangen weiter sprach“.2866 In Anbetracht dieser Beispiele steht Hebbels tatsächliche Nagelung eines Buches keineswegs so isoliert da, wie es zunächst den Anschein hat; sie wird in viel-

2866

KUH, Biographie, Bd 2, S. 468.

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Orale Aspekte der Kreativität

fältiger Weise ‚kontextualisiert‘ – von Äußerungen Hebbels wie von volkstümlichen abergläubischen Praktiken. Mit der magischen Kraft der Nagelung korrespondiert die magische Kraft des quasilebendigen Buches – nicht als esoterischer Glaube, sondern als Erinnerung an sinnlich Erlebtes mit zeichenhafter Bedeutung. Die frühesten Erfahrungen Hebbels mit Bildern, Texten und Büchern waren ja ‚körperliche‘ Wahrnehmungen gewesen, die individual- wie menschheitsgeschichtlich als primär gelten können: So schien Luther aus dem Katechismus herauszublicken, so lauerte die urtümliche Postille oben auf dem Schrank, und so merzte schon der Klippschüler das Wort „Rippe“ aus seinem Katechismus aus, als wäre es das grausige Objekt selbst. Die ausführliche Untersuchung des Motivs der Nagelung hat gezeigt, daß diese atavistische Umgangsform mit Schrift keineswegs nur ein isoliertes und kurioses Relikt war, das in einem Moment unreflektierter und unkontrollierter Emotionalität zum Durchbruch gekommen wäre. Es bewegte sich innerhalb eines dichten Feldes traditionaler kultureller Praktiken, in dessen Rahmen Schrift und Schriftlichkeit – selbst in ihrer materiellen Form – in den „Lebenszusammenhang“ eingegliedert wurden. Die angesichts der abergläubischen Tendenzen prekär erscheinende Frage, ob Hebbel wirklich ‚daran geglaubt‘ habe, ist dabei aus kulturpsychologischer Perspektive von untergeordneter Bedeutung. Wichtiger ist die Erkenntnis, daß diese ebenso Teil seiner Mentalität sind wie alle übrigen angeführten Aspekte einer archaischen Kulturisation. Indem sie sich mit modernen Zügen mischen, ergibt sich bei Hebbel eine ganz eigenes Verhältnis zwischen Oralität und Literalität – dies gilt für seine kommunikativen Gewohnheiten und Eigenarten, seine kreativitätspsychologischen Disposition und nicht zuletzt für Struktur und Stil seiner Werke.

HEBBEL IN WESSELBUREN – WESSELBUREN IN HEBBEL

Das Bild des jungen Friedrich Hebbel, das von ihm selbst, dann von seinem Freund und ersten Biographen Emil Kuh und schließlich von der Hebbel-Sekundärliteratur vorgezeichnet wurde, ist sowohl als Ganzes wie auch in zahlreichen signifikanten Details wesentlich revidiert worden. Es hat sich gezeigt, daß der Blick auf die Persönlichkeit des Dichters bisher in vielfacher Weise erstarrt und verstellt gewesen ist, was auf verschiedene Ursachen zurückzuführen ist. Die ersten 22 Wesselburener Lebensjahre waren nur sehr lückenhaft überliefert. Nach den Recherchen Richard Maria Werners und Paul Bornsteins wurden kaum noch Versuche unternommen, das positive Wissen über Hebbel zu erweitern bzw. zu verknüpfen. Durch archivalische Forschungen sind hier zum einen bisher unbekannte, überraschende Tatsachen ans Licht gebracht und biographische Daten fixiert worden. Zum anderen hat die Einbindung von zeitgenössischen Quellen und rezenten wissenschaftlichen Studien das Ausfüllen einzelner Leerstellen ebenso ermöglicht wie die umfassende Rekonstruktion des sozial-, kultur- und mentalitätshistorischen Hintergrunds, der sich zu einem dichten Zeitbild einer schleswig-holsteinischen Landstadt weitete: Erst dadurch haben sich prägende und bedingende lokalgeschichtliche Verhältnisse systematisch durchschauen lassen. Nicht nur in quantitativer, auch in qualitativer Hinsicht hat sich der komplexe methodische Ansatz einer historischen Sozialpsychologie, die Fokussierung auf Mentalität als den Übergangsbereich von Kollektivem und Individuellem, von Objektivem und Subjektivem, als fruchtbar erwiesen. Denn bei Hebbel haben sich durchgängig Merkmale einer traditionalen Mentalität aufzeigen lassen, die der modernen in vieler Hinsicht geradezu entgegengesetzt ist. Diese differenzierte Analyse hat wiederum den Blick auf Quellen und Sekundärliteratur geschärft. „Dichtung und Wahrheit“ gingen schon in Texten Hebbels vielfältige Verbindungen ein. Das gilt für dezidiert autobiographische Auskünfte ebenso wie für literarische Werke, in denen wiederum konkrete Lebenserfahrungen des Dichters aufscheinen. Inhaltlich zeigte sich dies eklatant, wenn Hebbel etwa den – seinerzeit peinlich nachgeahmten – Kirchspielvogt Mohr im Nachhinein zum ‚schwarzen Mann‘, sich selbst aber zum ‚verkauften Kind‘ oder die Mutter zu einer Heiligenfigur stilisierte, vor allem aber in seinen antizipativen ‚Rollensspielen‘. Eine vordringliche Aufgabe dieser Arbeit war es, Mythos und Wirklichkeit analytisch voneinander zu trennen – nicht, um die ‚reine‘ Wahrheit über den jungen Hebbel herauszupräparieren, sondern um biographische Sachverhalte und Selbstinterpretationen sinnvoll aufeinander beziehen zu können. Hier geht historische Forschung in die literaturwissenschaftliche Deutungsarbeit der ‚Lebensgeschichte‘ über. Ein solches methodisches oder wenigstens quellenkritisches Bewußtsein hat die Hebbel-Biographik zu oft vermissen lassen. Selbst in zentralen sozialpsychologischen Fragestellungen verließ man sich auf eine unhistorische und beinahe naiv zu nennende hermeneutische Einfühlung. Gewiß konnte man sich auf Selbstaussagen Hebbel berufen, doch wurde dabei dessen gebrochene Perspektive nur unzureichend wahrge-

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Hebbel in Wesselburen – Wesselburen in Hebbel

nommen. Ja, während Hebbels durchaus widersprüchliche Selbststilisierungen – wie gleichfalls hier gezeigt – interessante Aufschlüsse über seine Identitätsbildung gewähren können, arbeitete die Biographik bewußt oder unbewußt an der Fortschreibung eines idealisierenden Dichter-Mythos. Realhistorische Lücken und der wachsende mentalitätshistorische Abstand wurden übersprungen, bzw. boten Raum für eine mythisierende Ausgestaltung, die sich aus der Perspektive des arrivierten Dichters wie der staunenden Nachwelt zu einem geglückten Leben voll bestandener Prüfungen rundete – Dichtung als Wahrheit. Aus der dichten Rekonstrukion der historischen Wirklichkeit haben sich tiefgreifende Neubewertungen lebensgeschichtlicher Tatsachen und Strukturen ergeben: Korrigiert wurde das Bild des durch den Verlust seines Hauses auch um seine „Seele“ betrogenen Vaters ebenso wie das einer modernen, auf eine intime familiäre Gemeinschaft orientierten Mutter; wie sich überhaupt der elterliche ‚Kampf der Geschlechter‘ als Mythos erwies. Erstmals wurden die Umstände der elterlichen Eheschließung rekonstruiert, die Claus Hebbel ein von Beginn an fragwürdiges Erbe antreten ließen; erstmals konnte seine finanzielle Lage von der Hochzeit bis zum nominellen Verlust des – ihm ohnehin erst nach sechs Ehejahren übertragenen – Hauses nachvollzogen werden. Die Existenz zweier Halbbrüder Hebbels wurde aufgedeckt, deren Schicksal ernüchternd Auskunft über die familiären Binnenstrukturen gab. Kaum berücksichtigt wurden von der bisherigen Hebbel-Literatur auch latent wirksame Faktoren, wie das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit, Kollektivität und Individualität, Stabilität und Wandel. Ausgehend von der Einsicht, daß sich die traditionale Sozialisation nicht evolutionär, sondern in Stufen vollzieht, wurden wesentliche Strukturen von Hebbels Adoleszenzphase herausgearbeitet, so etwa die kaum zu unterschätzende Funktion der Konfirmation als Mündigkeitsritus (einschließlich ihrer Konsequenz für die Stellung Hebbels bei Mohr), die vielfältigen Aspekte des Junggesellenstatus und der dadurch definierten peer group, oder auch die Bedeutung der Verlobung Hebbels für die Lebenspläne noch des angehenden Studenten. Insgesamt hat sich seine Kindheit und Jugend im Kontext einer traditional orientierten Gesellschaft eben nicht als außergewöhnlich erwiesen – dieser Effekt ergab sich erst auf der Grundlage einer modernisierenden Stilisierung und Rezeptionsweise schon bei Hebbel selbst. Zugleich wurde aber auch gezeigt, daß die scheinbar ‚geschlossene‘ kleine Welt im abgelegenen Wesselburen von starken Brüchen geprägt war. Diese stellten sich weitgehend als stabiler Gegensatz zwischen einer noch systemisch intakten ‚Volkskultur‘ und einer punktuell etablierten Elitekultur dar. Diese Konstellation führte zu Verwerfungen, bei denen die jeweils andere Mentalität die ‚verkehrte Welt‘ zu repräsentieren schien. Die sozialpsychologischen Widersprüche konnten durch sämtliche Sozialisationsphasen des jungen Hebbel beobachtet werden; sie äußerten sich im Dualismus von Elternhaus und Schule, von Kirche und Volksglauben, von verordneter Moral und überkommenen Sitten und Bräuchen, von amtlicher Bürokratie und informeller Gruppensolidarität. Aber auch einzelne sozialisatorische Instanzen erschienen vor diesem Hintergrund komisch oder tragisch gebrochen, wie an der Klippschullehrerin Susanna Krätzer und ihrem Winkel-Institut, am Schicksal des um ‚Aufklärung‘ bemühten Lehrers Franz Christian Dethlefsen, und nicht zuletzt an Friedrichs eigener Doppelrolle als amtlichem Schreiber und unverheiratetem ‚Burschen‘ deutlich gewor-

Hebbel in Wesselburen – Wesselburen in Hebbel

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den ist. Nachahmung und Verkehrung, nicht aber die vermittelnde Argumentation, haben sich als ein kommunikatives Grundmuster der traditionalen Kultur erwiesen, die Hebbel auch in dieser Hinsicht tief geprägt hat. An der Person Dethlefsens, an Hebbels eigener Kulturisation und medialer Prägung hat sich indes gezeigt, daß die Gegensätze allmählich noch in anderer Weise aufgeladen wurden: Sie speisten sich zunehmend aus einem Gegeneinander von traditionalen Einstellungen und einsickernden geistigen Modernisierungsimpulsen – so dürftig diese vorerst auch waren. Hier tat sich der tiefe mentalitätshistorische Graben auf, der das Gros der Wesselburener Bevölkerung von der sich zunehmend als ‚universell’ begreifenden bürgerlichen „Welt“ trennen sollte. Die eklatante soziale Randstellung und schließlich das Scheitern des für Hebbel so wichtigen Lehrers Dethlefsen illustrierten beispielhaft die Gefährdung und Isolation eines frühen ‚modernen Individuums‘ im zeitgenössischen Wesselburen. In der sozialen Wirklichkeit blieb in Dithmarschen indes noch Alles beim Alten. Für Hebbel kam es erst durch seinen Weggang aus Wesselburen und seinen Eintritt in die „Welt“ zu einem schockartigen Bruch, der langwierige Verarbeitungs- und Vermittlungsprozesse nach sich zog – plötzlich hatte sich für Hebbel die Welt selbst verkehrt. Bis dahin hatte er den Lebensplan einer Dithmarscher Beamtenlaufbahn konsequenter verfolgt, als bisher vermutet wurde: Nicht nur das von Hamburger Gönnern gewährte Stipendium, sondern auch kaum beachtete Einzelheiten wie die Verlobung mit einer Honoratiorentochter, publizistische Aktivitäten, der Wunsch nach Kredit bei einem Freund und anderes deuten auf systematische Vorbereitungen hin, die allerdings in Hamburg schnell hinfällig wurden – der baldige Tod der Verlobten war Hebbel in diesem Zusammenhang nicht einmal unwillkommen. Der in der ‚Welt-Stadt‘ erlebte Kulturschock, der unmittelbar zum Scheitern in Schule und Jurastudium führte, nötigte ihn in eine im doppelten Sinn ‚exklusive‘ Außenseiterrolle und zwang auf Dauer zu einer Neubestimmung nicht nur der zukünftigen Berufsrolle. Dies war jedoch keine ‚Stunde Null‘, die zur umstandslosen Neu-Erfindung des ‚Dichters‘ führte. Zwar blieb Hebbel nicht in Wesselburen, doch blieb Wesselburen in Hebbel. So haben sich mehrere exemplarische Teilrollen ‚isolieren‘ lassen, die an Wesselburener Prägungen anschlossen und die in den Studien- und Wanderjahren bis 1839 bzw. 1845/1846 immer wieder bearbeitet wurden, um zwischen eingeübten Rollen und tastenden Selbstentwürfen zu vermitteln. Aus der Zusammenstellung und ReKonstruktion verstreuter und disparater Belege ergaben sich distinkte Rollenkomplexe, die in ihrer literarischen Überhöhung überraschen mögen, die aber darum nicht weniger konkret und konsequent waren. So changiert die Primärrolle des Sohnes ‚dialektisch‘ zwischen den Polen des ‚verlorenen‘ und des ‚göttlichen‘ Sohnes, in dessen Gefolge Antje Hebbel Züge einer zweiten ‚Maria‘ erhält. Der Nachahmer seines Wesselburener Prinzipals perfektioniert mehr und mehr ein ‚adeliges Air‘, schwankt noch lange zwischen der Position eines ‚entrechteten‘ und eines ‚illegitimen Königssohns‘, bis er sich zur imaginierten Autorität eines ‚Monarchen‘ aufschwingt. Doch parallel dazu wird die Rolle des ‚lustigen Dieners‘ seines Herrn, des burschikosen Burschen auf die Spitze getrieben in dem zwiespältigen Bild des ‚Narren‘ als des königlichen Konterparts. Erstmals sind in der vorliegenden Arbeit diese Selbstentwürfe als jeweils geschlossene Rollenkomplexe vorgestellt und funktional aufein-

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Hebbel in Wesselburen – Wesselburen in Hebbel

ander bezogen worden. Auch sie folgen einer Strategie der Verkehrung: Von der rhetorischen Figur bis hin zur Gestaltung ganzer ‚verkehrter Welten‘ ist dies ein grundlegendes Strukturmuster des Selbst- und Weltbildes Hebbels wie auch seiner literarischen Texte. Die Figur des Narren ist geradezu die Personifizierung dieses Prinzips. Insgesamt hat sich eine Entwicklungslinie von traditionaler Rollengebundenheit hin zu einer programmatischen Rollenvirtuosität ergeben, die in dem metaphorischen Platzhalter eines universell wandelbaren Proteus gipfelt. Diese höchst ambivalente, ‚dämonische‘ Figur, die ‚in Wirklichkeit‘ nicht geduldet werden kann, spiegelt in dichterischer Vieldeutigkeit die Identität des Dichters. Für den ‚Menschen‘ Hebbel blieb das erworbene Gleichgewicht labil; für den Dramatiker war die Fähigkeit zur Metamorphose von elementarer Bedeutung, indem sie ermöglichte, traditionale Persönlichkeitsmuster zu überwinden bzw. in ein komplexeres Selbst- und Menschenbild zu integrieren, sie also in zwiefältigem Sinn ‚aufzuheben‘. Der mentalitätsgeschichtliche Wandel besitzt auch ein mediale Seite – gerade dieser Aspekt durfte bei einem „Schreiber“, aus dem ein Schriftsteller wurde, nicht vernachlässigt werden. Es hat sich gezeigt, daß auch Hebbels Kulturisation sich gleichsam antithetisch vollzog: Seine Alphabetisierung geschah auf recht altertümliche Weise; ganz im Rahmen der Tradition stand auch die ritualisierte Vorlesepraxis im Elternhaus. Seinem Lehrer Dethlefsen verdankte Hebbel ohne Zweifel die Hinführung zu avancierteren Lektürepraktiken und Stoffen. In diesem Zusammenhang ging die Hebbel-Forschung den Einflüssen aus Philosophie, Geistesgeschichte und Literatur detailliert nach, soweit sie Stoffe und Stile Hebbels prägten; unbeachtet blieben jedoch die von Hebbel bereits früher rezipierten (volks)aufklärerischen Schriften und Jugendbücher und ihre ‚vorliterarische‘ pädagogische Wirkung. Weitgehend unberücksichtigt blieb bislang auch die dazu parallele, fortwährende Prägung durch die orale und semiorale Volkskultur. Diese bezieht sich gleichfalls nicht nur auf Stoffe, sondern auch auf Denkstile – Oralität geht nicht im Sprechen von Texten auf, Literalität ist nicht einfach verschriftlichte Mündlichkeit. Dabei hat überrascht, wie intensiv und ostentativ gerade der späte Hebbel sich wieder auf orale Kommunikation und Kultur zurückbesann. Aus der abschließenden Untersuchung seiner Schaffensweise ging hervor, daß auch die kreativitätspychologischen Grundlagen seiner Dichtung stark von Mündlichkeit geprägt sind. Auch inhaltlich sind Hebbels literarische Werke auf die mentalitätshistorischen Fragestellungen hin betrachtet worden. Die zahlreichen, durchgehend beigebrachten Belege decken das gesamte kulturelle und sozialpsychologische Spektrum traditionaler Motive ab. Punktuell vorgenommene detailliertere Untersuchungen haben gezeigt, daß auch die komplexen Brüche und Spannungen zwischen traditionaler und moderner Mentalität in den Texten als Probleme abgebildet werden. Vordergründig präsentierte sich der erfolgreiche Wiener Dichter als Weltmann auf der Höhe seiner Zeit. Kaum noch etwas an der gereiften und versöhnlicher gestimmten Persönlichkeit Hebbels schien auf die biographischen Brüche und den weiten Weg in die moderne bürgerliche Welt hinzudeuten. Die erfolgreichen Versuche Hebbels, Brücken hinter sich abzubrechen, wurden oft gleichsam nur noch ex negativo sichtbar – nicht immer sind die erkennbaren Bruchstellen und Bruchstücke eindeutig bestimmbar. Gerade manch unerhört ‚modern‘ erscheinender Zug weist auf geradezu

Hebbel in Wesselburen – Wesselburen in Hebbel

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‚archaisch‘ Anmutendes zurück, wobei einiges doppeldeutig bleibt. So mag man in der schillernden Gestalt des Proteus die Metapher für eine moderne oder aber eine ‚primitive‘ Identität erblicken. Auch in dieser Hinsicht ist bei Hebbel mit Ambiguitäten, Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten immer zu rechnen – Resultaten einer gebrochenen Biographie. Zu einzelnen Ergebnissen mag es konkurrierende alternative Erklärungen geben; unbesteitbar dürfte jedoch der Erkenntnisgewinn durch einen historisch fundierten, sozialpsychologischen Ansatz sein, der zugleich sensibilisiert ist für literarische Sprache und mediale Effekte. Obwohl die vorliegende Arbeit damit bereits viele methodische Perspektiven integriert, die unter den Begriff der ‚Mentalitätsgeschichte‘ nicht vollkommen subsumierbar sind, erhebt sie nicht den Anspruch, die von der neueren Forschung geforderte umfassende Hebbel-Monographie darzustellen. In diesem Zusammenhang kann nur von einer Ergänzung, keineswegs aber von dem Versuch einer Ablösung literatur- und geistesgeschichtlicher, philosophischer oder individualpsychologischer Interpretationen die Rede sein. Es bleibt eine zukünftige Aufgabe, zwischen den Methoden zu vermitteln und im einzelnen abzuwägen. Vorerst ist auch der hier verfolgte Ansatz noch keineswegs ausgeschöpft: Zeitlich haben sich die Untersuchungen auf die erste Lebenshälfte konzentriert, mit Ausgriffen auf das folgende Lebensjahrzehnt und nur punktuellen Bezugnahmen auf den späten Hebbel. Dem biographischen Hauptinteresse entsprechend sind literarische Werke meist nur insoweit herangezogen worden, als sie bestimmte Prägungen und deren Verarbeitung belegen. Interessant und weiterführend wären daher auch Analysen ganzer Werke unter mentalitätshistorischem Aspekt. Zu fragen wäre schließlich, ob die für Hebbel herausgearbeiteten markanten Brüche zwischen traditionaler und moderner Prägung von paradigmatischer Bedeutung sind: Gewiß ließe sich auch an manch anderer (Dichter-)Biographie entdecken, daß sie weit weniger das Ergebnis kontinuierlicher Entwicklung ist, als vielmehr das Produkt diskontinuierlicher Stöße und Anstöße, die sich aus den besonderen Umständen der „Sattelzeit“ um die Wende des 19. Jahrhunderts ergeben. Die gelegentlich angeführten biographischen Parallelen mit Goethe deuten an, wie weit der Zeitraum je nach sozialer oder auch topographischer Herkunft anzusetzen wäre, in dem sich diese Umbrüche vollzogen. Der Dithmarscher erlebte sie mit deutlicher historischer Verspätung – das läßt viele Aspekte seiner Biographie wie auch seiner literarischen Werke so singulär und erratisch erscheinen; vor allem darum steht er, bei allen Anpassungsleistungen, oftmals quer zu ‚seiner‘ Zeit. Mit gewissem Recht ließe sich der ethnologische Begriff des bicultural eccentric2867 auf die soziokulturelle ‚Binnenexotik‘ des Wesselburener Flickmaurersohns übertragen. Es gehört zu den Paradoxien der Hebbel-Rezeption, daß mitunter gerade archaische Aspekte von späteren Generationen nicht nur nicht erkannt, sondern als unerhört modern empfunden worden sind. Seine historische Ferne und Fremdheit wird dabei schlankweg ignoriert. Dabei zeigen gerade Hebbels enorme Anstrengungen der Vermittlung, der Übersetzung, aber auch des Aushaltens der ‚zwei Kulturen‘ eine (mentalitäts)geschichtliche und literarische

2867

Vgl. GOETSCH, Mündliches Wissen, S. 28.

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Hebbel in Wesselburen – Wesselburen in Hebbel

Größe, für die der rechte Maßstab in vergleichenden Untersuchungen noch zu finden wäre. Hebbel sollte jedoch weder exotisiert noch gewaltsam modernisiert werden. Mythische Überhöhungen ließen ihn allzu lange seltsam erstarrt und unnahbar erscheinen. Nimmt man hingegen die scheinbar überwundenen traditionalen Prägungen genau wahr und als Quelle ‚dramatischer‘ Widerspüche ernst, dann ergibt sich eine realitätsgesättigte Nahsicht auf eine ambivalente Persönlichkeit, die noch immer ‚unheimlich‘ lebendig wirkt. Über seine bleibende Relevanz ließe sich in Abwandlung eines Diktums von Jacques Le Goff sagen: Hebbel ist „nicht alt“, 2868 er „ist traditionsreich“ – und der „richtig gebrauchte Reichtum seiner Traditionen ist eine Stärke“. Doch während Le Goff fortfährt: Die „Geschichte ist eine Kraft, die sich nach vorne bewegt“, hätte Hebbel selbst, gerade insoweit er traditional geprägt war, solchen historischen Optimismus auch wieder in Zweifel gezogen. Tatsächlich fragte er einmal im Beisein Emil Kuhs, „ob das, was ewig menschlich […] sei, nicht auch modern sei, wie das heute beliebte Schlagwort laute“.2869 Die Antwort gab er selbst: „Wem die Gegenwart […] nicht so alt vorkommt, wie das, was zu Aarons Zeiten in Jerusalem geschehen, und dieses nicht so jung, als ob es sich eben ereignete, der kann weder das eine, noch das andere darstellen.“ Bewegung und Bewegtheit machen zeitlos Leben aus – dazu braucht es nicht erst die ideologische Tendenz „nach vorne“. Als Schöpfer literarischer Werke konnte Hebbel dem Fortschritt der ‚Geschichte‘ gegenüber eine durchaus gelassene, gleichfalls ambivalente Haltung einnehmen. In seiner letzten Brieftasche fand man die Notiz: „Der Dichter verwandelt die Welt in ein Spiel. Was heißt das? Er kehrt das Ding um“.2870

Dieses und die folgenden Zitate: LE GOFF, Das alte Europa und die Welt der Moderne, S. 59. Dieses und das folgende Zitat: KUH, Biographie, Bd 2, S. 481f. 2870 HEBBEL, Sämmtliche Werke, Tagebücher, Bd 4, S. XVII. 2868 2869

ZEITTAFEL

1787

1. Februar: Geburt der Mutter Antje Margaretha Schubart

1790

16. Februar: Geburt des Vaters Claus Friedrich Hebbel

1807

31. Oktober: Eintritt Dänemarks in die Napoleonischen Kriege, Ende der „Ruhe des Nordens“

1809

17. April: Geburt des Halbbruders Clas Johann Böh (Tod am 13. Mai)

1811

26. November: Tod des ‚Erbonkels‘ Christian Conrad Schubart 8. Dezember: Hochzeit von Claus Fr. und Antje Margaretha Hebbel

1813

5. Januar: Dänischer Staatsbankrott 18. März: Geburt Christian Friedrich Hebbels ab Dezember: „Kosackenwinter“

1815

20. März: Geburt des Bruders Johann Hinrich Hebbel

1816

5. Dezember: Genehmigung der Umschreibung von Haus und Schulden des verstorbenen Christian Schubart auf seinen Schwiegersohn Claus Friedrich Hebbel durch Schubarts Gläubiger

1817

18. Januar: Ueberlassungs- und Alimentations-Contract zwischen Anna Margaretha Schubart und Claus Friedrich Hebbel Besuch der Klippschule (bis 1820) 3. Mai: Geburt des Halbbruders Hans Friedrich Hebbel 28. Oktober: Tod Anna Margaretha Schubarts 31. Oktober: Aufführung einer Kirchenmusik zum Reformationsfest

1818

20. August: Aufnahme eines hohen Darlehens durch Claus Friedrich Hebbel bei Johann Friedrich Siemssen zur Tilgung anderer Schulden 5. Oktober: Regulatif für sämmtliche Schulen in der Landschaft Norderdithmarschen

1819

24. Februar: Tod des Halbbruders Hans Friedrich Hebbel im Pflegehaus

1820

1. März: Wahl Franz Christian Dethlefsens zum Elementarlehrer ab April: Besuch der Elementarschule, später der Rektorschule (bis 1829) 21. November: Antrag Claus Friedrich Hebbels auf cessio bonorum 7. Dezember: Aufschub der cessio bonorum wegen gewünschten Vergleichs

Zeittafel

640

29. Dezember: Aufhebung der cessio bonorum 1821

16. Januar: Verkauf des Elternhauses an Johann Friedrich Siemssen 1. Mai: Umzug der Familie in eine Mietwohnung in der Österstraße 3

1823

Wahl Franz Christian Dethlefsens zum Rektor der Oberknabenklasse

1825

3./4. Februar: schwere Sturmflut („Februarflut“) Handlanger des Vaters auf dem Bau „Bühnenunternehmer“

1826

10. März: Wahl Johann Jakob Mohrs zum Wesselburener Kirchspielvogt

1827

10. November: Tod des Vaters 27. Dezember: 29. Geburtstag Johann Jakob Mohrs, zu dem Hebbel ihm ein Gedicht widmet

1828

vor dem 18. März: Übersiedlung als Laufbursche in die Kirchspielvogtei vor dem 25. Mai: Gelegenheitsgedicht für Theodor Hedde: [Für ein Ringreiterfest] 4. September: erste anonyme Gedichtpublikation: Schmerz und Mitleid 11. September: erste anonyme Publikation eines Prosatextes: Treue Liebe

1829

22. März: Konfirmation, Aufrücken ins Schreiberamt 19. April (Ostersonntag): Offizielle Entlassung aus der Schule 18. Juni: erste Veröffentlichung von „C. F. Hebbel“: Sehnsucht. An L.

1830

am Jahresende: Schauspieltruppe Schulz in Wesselburen

1831

Liebhabertheater (bis Anfang 1832) 9. Juni: Publikation von Wie die Krähwinkler ein Gedicht verstehen und auslegen Anfang August: Vorstellung bei dem Direktor des Hamburger Stadttheaters, Karl August Lebrun 15. September: Veröffentlichung der Polemik Dem Schullehrer P. C. Dethlefsen in Brösum, anschließend erste literarische Fehde mit dem Ordinger Pastor Dieckmann

1832

ab 20. Mai: Lateinunterricht bei Heinrich Schacht (bis März/April 1833) 31. Mai: zweite literarische Fehde mit Dieckmann (bis zum 5. Juli) 8. August: Wahl Ottos I. zum griechischen König, Griechenlandbegeisterung in Deutschland 9. August: Brief an Ludwig Uhland etwa ab September: Plan der Wiedereinrichtung des Liebhabertheaters

641

Zeittafel

1833

Februar: Vermittlungsbemühungen Amalia Schoppes um eine Buchhandels-Stelle o. ä. in Hamburg Frühjahr: Entstehung des Märchens Die einsamen Kinder 19. Oktober: Brief an Johann Gehlsen: Gedanken an (Aus-)Wanderung nach Griechenland

1834

18. Januar: Brief an Adam Öhlenschläger 15. Juni: Entstehung des Gedichts Proteus Mitte Juli: Finanzielle Zusagen durch Amalia Schoppe für ein Studium 7. Oktober: Hochzeit Mohrs, Lobgedicht Hebbels Zur Vermählung Mohrs 13. Oktober: Mohrs Zeugnis für Hebbel Verlobung mit Dorothea („Doris“) Voß

1835

10. Januar: Veröffentlichung des Aufsatzes Er ist kein Norderdithmarscher 14. Februar: Abreise nach Hamburg 3. Juni: Tod von Doris Voß

1836

Februar: letzter Besuch in Wesselburen 27. März: Abreise von Hamburg nach Heidelberg zur Aufnahme eines Jurastudiums 12. – 29. September: Fußreise von Heidelberg über Straßburg, Stuttgart und Tübingen nach München Auftreten als „Herr von H.“

1838

Februar: Entstehung des Gedichts Der Königssohn nach dem 23. Februar: Autodafé des „Candidaten der Rechte […], um […] auf dem rechten Wege zu bleiben“ 3. September: Tod der Mutter 2. Oktober: Tod des Studienfreundes Emil Rousseau

1839

11. – 31. März: Wanderung von München nach Hamburg 2. Oktober: Beginn der Arbeit an Judith

1840

5. November: Geburt des Sohnes Maximilian Hebbel (Tod am 30. September 1843)

1843

9. September: Beginn der Reisejahre in Frankreich und Italien

1844

14. Mai: Geburt des Sohnes Ernst Hebbel (Tod am 12. Mai 1847)

1845

4. November 1845: Eintreffen in Wien, Ende der Reisejahre

1846

26. Mai: Hochzeit mit Christine Enghaus

1863

13. Dezember: Tod in Wien.

LITERATURVERZEICHNIS

Siglen B: HEBBEL, Friedrich: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, besorgt von Richard Maria WERNER. Dritte Abteilung. Briefe. DjH I/II: BORNSTEIN, Paul (Hg): Der junge Hebbel. H IV: [HEBBEL, Claus Friedrich: Urkunden und Akten]. Hebbel-Museum Wesselburen. Abteilung H. IV. a. HJB: Hebbel-Jahrbuch. HP I/II: BORNSTEIN, Paul (Hg.): Friedrich Hebbels Persönlichkeit. HSR: KOLLER-ANORF, Ida, [Bd 7: mit] BENESCH-TSCHANETT, Gerda, [Bd 8: mit] KRETSCHMANN, Carsten (Hg): Hebbel. Mensch und Dichter im Werk. (Schriftenreihe). LA S-H: Landesarchiv Schleswig Holstein. T: HEBBEL, Friedrich: Sämmtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, besorgt von Richard Maria WERNER. Zweite Abteilung. Tagebücher. (Säkular Ausgabe). W: HEBBEL, Friedrich: Sämmtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, besorgt von Richard Maria Werner. Erste Abteilung. (Säkular Ausgabe). WAB: HEBBEL, Friedrich: Briefwechsel 1829 – 1863. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Otfried EHRISMANN, U. Henry GERLACH, Günther HÄNTZSCHEL, Hermann KNEBEL, Hargen THOMSEN. (Wesselburener Ausgabe).

Ungedruckte Quellen BIEBAU, Gustav: [Brief an Heinrich Claussen vom 20.7.1955]. Hebbel-Museum Wesselburen, [nicht katalogisiert]. [HEBBEL, Claus Friedrich: Urkunden und Akten]. Hebbel-Museum Wesselburen, Abteilung H. IV. a. Nr. 4 u. 6 – 14. Landesarchiv Schleswig-Holstein. Abteilung 19. Landesarchiv Schleswig-Holstein. Abteilung 101, Kirchspiel Wesselburen. Totenregister des Kirchspiels Wesselburen. Ev.-luth. Kirchengemeinde Wesselburen. [VOLCKMAR, Friedrich Karl]: Bücher-Catalog aus dem Nachlaß des Herrn Pastor Volkmar. [Wesselburen] 1814. Hebbel-Museum Wesselburen, Signatur 16a028. Wesselburener Tauf-Protocoll 1803 – 1827. Ev.-luth. Kirchengemeinde Wesselburen.

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Literaturverzeichnis

Gedruckte Quellen und Untersuchungen AICHINGER, Ingrid: Friedrich Hebbel: Aufzeichnungen aus meinem Leben. Zur Problematik der literarischen Autobiographie im 19. Jahrhundert. In: HJB 1971/72. S. 139 – 161. ALKER, Ernst: Die deutsche Literatur im 19. Jahrhundert (1832 – 1914). 2. Aufl. Stuttgart 1962. Allgemeine deutsche Biographie. (Neudruck der Auflage 1883). Berlin 1969. ALT, Robert: Bilderatlas zur Schul- und Erziehungsgeschichte. Band 1: Von der Urgesellschaft bis zum Vorabend der bürgerlichen Revolution. Berlin 1966. [ANONYM]: Patriotisch-pädagogische Bemerkungen, Wünsche und Vorschläge zur Beseitigung der, der wechselseitigen Schuleinrichtung entgegenstehenden Hindernisse. Altona 1831. [ANONYM]: Ueber Auswanderungen nach der Türkei und nach Griechenland. In: Stargarder Wochenblatt [vom] 13ten August 1836. Jg. 13, Nr. 65. [Unpaginiert]. [ANONYM]: Nachwort. In: VOLCKMAR, Friedrich Karl: Versuch einer Beschreibung von Eiderstädt. In Briefen an einen Freund im Hollsteinischen. (Neudruck der Ausgabe Garding 1795). Hg. vom Nordfriisk Instituut. Husum 1976. S. A – E. ARENDS, Fridrich [sic!]: Gemählde der Sturmfluthen vom 3. bis 5. Februar 1825. Bremen 1826. ARENDT, Dieter: Demetrius – der heimliche Prinz und die Weltgeschichte. (Bemerkungen zu Schillers und Hebbels Demetrius-Tragödie). In HJB 1985. S. 9 – 56. ARIÈS, Philippe: Geschichte der Kindheit. München 1978. ARNOLD, Werner u. a. (Hg.): Die Erforschung der Buch- und Bibliotheksgeschichte in Deutschland. Wiesbaden 1987. ARNTZEN, Helmut: Dementi einer Tragödie. Zu Hebbels und Nestroys Judith. In: Studi germanici, N. S. 10. 1972. S. 405 – 423. ARNTZEN, Helmut: Lehrt die Fabel? Bemerkungen zur deutschen Tierfabel seit dem 18. Jahrhundert. In: Fabula docet. Illustrierte Fabelbücher aus sechs Jahrhunderten. (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek 41). Wolfenbüttel 1983. S. 75 – 81. ASCH, Ronald G.: Der Adel als Herrschaftsstand zwischen Dreißigjährigem Krieg und Französischer Revolution. In: DÜSELDER, Heike (Hg.): Adel auf dem Lande. Kultur und Herrschaft des Adels zwischen Weser und Ems. 16. bis 18. Jahrhundert. (Materialien und Studien zur Alltagsgeschichte und Volkskultur Niedersachsens 36). Cloppenburg 2004. S. 277 – 301. ASSMANN, Aleida/ASSMANN, Jan: Schrift, Tradition und Kultur. In: RAIBLE, Wolfgang (Hg.): Zwischen Festtag und Alltag. Zehn Beiträge zum Thema ‚Mündlichkeit und Schriftlichkeit‘. (Script-Oralia 6). Tübingen 1987. S. 25 – 49. ASSMANN, Aleida/ASSMANN, Jan u. Christof HARDMEIER (Hg.): Schrift und Gedächtnis. (Archäologie der literarischen Kommunikation 1). 2. Aufl. München 1993. ASSMANN, Aleida/ASSMANN, Jan: Schrift und Gedächtnis. In: Dies. u. HARDMEIER, Christof (Hg.): Schrift und Gedächtnis. (Archäologie der literarischen Kommunikation 1). 2. Aufl. München 1993. S. 265 – 284.

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Theo Buck

STreifzüge durch die PoeSie Von kloPSTock BiS cel an gedichTe und inTerPreTaTionen

In seinem neuen Buch führt der Literaturwissenschaftler Theo Buck den Leser in die Welt seiner Lieblingsgedichte ein, die zugleich kanonische Texte der deutschsprachigen Lyrik seit dem 18. Jahrhundert sind. Seine Interpretationen machen deutlich, welchen Reichtum an Bedeutungen und Bezügen lyrische Texte bereithalten. Das Buch ist als Einladung in die Welt der Poesie zu verstehen und wendet sich gleichermaßen an erfahrene wie an unkundige Leser. Nicht Vollständigkeit, sondern Repräsentativität wird mit dieser Gedichtauswahl angestrebt: Sie enthält Werke von Friedrich Gottlieb Klopstock, Matthias Claudius, Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Schiller, Clemens Brentano, Friedrich Hölderlin, Heinrich Heine, Friedrich Nietzsche, Else Lasker-Schüler, Rainer Maria Rilke, Bertolt Brecht, Gottfried Benn, Ingeborg Bachmann, Paul Celan und anderen – und dazu die Interpretationen von Theo Buck. 2010. 323 S. Gb. 155 x 230 mm. ISbN 978-3-412-20533-1

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Natascha hoefer

chattertoN oder der Mythos des ruiNierteN PoeteN Werk uNd WirkuNg des eNglischeN dichters

Ein schöner, verblassender Jüngling mit unheimlich lebendigem rotem Haar. So malte Henry Wallis 1856 den ruinierten Poeten Chatterton, sechsund­ achtzig Jahre nach dem Gifttod des Siebzehnjährigen in einer Londoner Dachbodenkammer. Doch wer war dieser Thomas Chatterton wirklich? Zu früh geborener Romantiker? Fälscher einer pseudomittelalterlichen Poesie? Opfer einer Gesellschaft, die ›unpoetisch‹ geworden war? Dieses Buch enthüllt

den romantischen Mythos des ruinierten Poeten, den vor allem Alfred de Vigny und Henry Wallis prägten. Zuerst jedoch stellt es Chatterton vor: in

seinem eigenen, poetischen, fälscherischen und merkantilen Schaffen, das zu lange von seinem romantischen Bild überschattet war.

2010. 383 S. 17 S/w- und 11 farb. abb. auf 16 Taf. Gb. 155 x 230 mm. ISbn 978-3-412-20384-9

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JOHANN WOLFGANG VON GOETHE EIN PORTR ÄT

Johann Wolfgang von Goethe war ein berufstätiges Genie, dem es nie genügte, der größte lyrische Dichter in deutscher Sprache zu sein: ein Minister mit sechs Ressorts, der sich in einer Menge Verwaltungsarbeit erging, Naturforscher, Sammler, Liebender, Reisender, Maler, ein prometheischer Grenzgänger schließlich mit allen Gefährdungen, die das mit sich bringt. In Goethes Leben und Werk geht es um Individualität, ihre Möglichkeiten und Grenzen. Von mühsamen Wandlungsprozessen und „fruchtbaren Irrtümern“ ist beim Dichter und seinem Protagonisten die Rede. Doch während der männliche Held scheitert und zum Opfer seiner eigenen Maßlosigkeit wird, steht ein weiblicher Geist am Ende des Lebenswerks für eine große Vision: Steigerung ohne Selbstüberhebung. 2009. 346 S. MIT 22 S/W-ABB. GB. MIT SU. 135 X 210 MM. ISBN 978-3-412-20282-8

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SCHILLERS HEIMLICHE LIEBE DER DICHTER IN RUDOLSTADT

Die beschauliche Residenzstadt Rudolstadt an der Saale stand in ihrer Bedeutung für den Dichter Friedrich Schiller bisher im Schatten Weimars. Die dortigen Begegnungen mit den Schwestern Charlotte von Lengefeld und Caroline von Beulwitz waren jedoch sowohl emotional als auch intellektuell von entscheidendem Einfluss auf Leben und Werk des Klassikers. Anhand zahlreicher, hier teilweise erstmals veröffentlichter Dokumente zeichnet das Buch die Beziehung des Dichters zu Rudolstadt umfassend und anschaulich nach. 2009. 280 S. MIT 116 S/W-ABB SOWIE 41 FARB. ABB. GB. 150 X 230 MM. ISBN 978-3-412-20278-1

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Literatur und Leben Neue Folge

Band 71: Gottfried W. Stix, Herbert Zeman (Hg.) Die gesuchte mitte

Eine Auswahl.

Band 67:

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2006. 402 S. Gb. ISBN 978-3-205-77568-3

Das Deutsche DirNeNlieD

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2. Aufl. 2007. XIV, 550 S. mit 42 s/w-Abb. Gb. ISBN 978-3-412-03306-4

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2006. XII, 444 S. Gb. ISBN 978-3-412-08906-1

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2008. 281 S. Gb. ISBN 978-3-205-77734-2

Band 75:

Sabine Zelger

Der schriFtsteller JohaNNes Freumbichler 1881–1949

Das ist alles viel Komplizierter, herr seKtioNscheF!

lebeN uND WerK voN thomas berNharDs grossvater

büroKratie – literarische reFlexioNeN aus österreich

2006. 331 S. 37 s/w-Abb. Gb. ISBN 978-3-205-77531-7

2009. XIII, 413 S. 23 s/w-Abb. Gb. ISBN 978-3-205-78299-5

Band 76: Karl Müller, Hans Wagener (Hg.) österreich 1918 uND Die FolgeN geschichte, literatur, theater uND Film. austria 1918 aND the aFtermath history, literature, theater, aND Film

2009. 206 S.15 s/w-Abb. Br. ISBN 978-3-205-78244-5

Band 70:

Daniela Anna Frickel

aDele gerharD (1868–1956) spureN eiNer schriFtstelleriN

2007. X, 367 S. Gb. ISBN 978-3-412-12106-8

Band 77:

Christian Neuhuber

leNz-bilDer bilDlichKeit iN büchNers erzähluNg uND ihre rezeptioN iN Der bilDeNDeN KuNst

TC244

2009. 386 S.100 s/w- u. 23 farb. Abb. Gb. m. SU. ISBN 978-3-205-78380-0

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