Der junge Herder [Reprint 2016 ed.] 9783111584683, 9783111211374


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German Pages 127 [128] Year 1955

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Inhalt
1. Aus dem „Journal meiner Reise im Jahr 1769"
2. Der Genius der Zukunft
3. Meines Lebens verworrene Schattenfabel
4. Aus der Schrift „Über die neuere deutsche Litteratur"
5. Über Thomas Abbts Schriften
6. Auszug aus einem Briefwechsel über Oßian und die Lieder alter Völker
7. Shakespear
8. Aus der „Abhandlung über den Ursprung der Sprache".
9. Aus der Schrift „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit"
Nachwort
Quellenverzeichnis
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Der junge Herder [Reprint 2016 ed.]
 9783111584683, 9783111211374

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DER J U N Ç E HERDER HERAUSGEGEBEN VON

WOLFDIETRICH RASCH

DEUTSCHE

TEXTE

I

MAX N I E M E Y E R VERLAG T Ü B I N G E N 1955

DEUTSCHE TEXTE Herausgegeben von

R i c h a r d A l e w y n und L u d w i g E. S c h m i t t

1 Der junge Herder Herausgegeben von

Wolfdietrich Rasch

Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany Druck: Ferd. Oechelhäusersche Buchdruckerei, Kempten/Allgäu

Inhalt 1. Aus dem „Journal meiner Reise im Jahr 1769" .

.

5

2. Der Genius der Zukunft

15

3. Meines Lebens verworrene Schattenfabel

17

4. Aus der Schrift „Über die neuere deutsche Litteratur"

19

5. Über Thomas Abbts Schriften Aus der „Einleitung, die von der Kunst redet, die Seele des andern abzubilden" 29 6. Auszug aus einem Briefwechsel über Oßian und die Lieder alter Völker 33 7. Shakespear

74

8. Aus der „Abhandlung über den Ursprung der Sprache"

95

9. Aus der Sdirift „Audi eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit" 101 Nachwort

123

Quellenverzeichnis

127

1. Aus dem „Journal meiner Reise im Jahr 1769" Den 23 Mai/3 Jun. reisete idi aus Riga ab und den 25/5. ging idi in See, um idi weiß nicht wohin? zu gehen. Ein großer Theil unsrer Lebensbegebenheiten hängt würklidi vom Wurf von Zufällen ab. So kam ich nach Riga, so in mein geistliches Amt und so ward ich deßelben los; so ging idi auf Reisen. Ich gefiel mir nicht, als Gesellschafter, weder in dem Kraise, da ich war; nodi in der Ausschließung, die ich mir gegeben hatte. Idi gefiel mir nicht als Schullehrer, die Sphäre war für midi zu enge, zu fremde, zu unpassend, und ich für meine Sphäre zu weit, zu fremde, zu beschäftigt. Ich gefiel mir nicht, als Bürger, da meine häusliche Lebensart Einschränkungen, wenig wesentliche Nutzbarkeiten, und eine faule, oft eckle Ruhe hatte. Am wenigsten endlich als Autor, wo ich ein Gerücht erregt hatte, das meinem Stande eben so nachtheilig, als meiner Person empfindlich war. Alles also war mir zuwider. Muth und Kräfte gnug hatte ich nicht, alle diese Mißsituationen zu zerstören, und midi ganz in eine andre Laufbahn hinein zu schwingen. Ich muste also reisen: und da ich an der Möglichkeit hiezu verzweifelte, so schleunig, übertäubend, und fast abentheuerlich reisen, als idi konnte . . . O Gott, der den Grundstof Menschlicher Geister kennet, und in ihre körperliche Scherbe eingepaßt hast, ists allein zum Ganzen, oder auch zur Glückseligkeit des Einzeln nöthig gewesen, daß es Seelen gebe, die durch eine schüchterne Betäubung gleichsam in diese Welt getreten, nie wissen, was sie thun, und thun werden; nie dahin kommen, wo sie wollen, und zu kommen gedachten; nie da sind, wo sie sind, und nur durch solche Schauder von Lebhaftigkeit aus Zustand in Zustand hinüberrauschen, und staunen, wo sie sich finden? Wenn o Gott, du Vater der Seelen, finden diese Ruhe und Philosophischen Gleichschritt? in dieser Welt? in ihrem Alter wenigstens? oder sind 5

sie bestimmt, durch eben solchen Schauer frühzeitig ihr Leben zu endigen, wo sie nichts recht gewesen, und nichts recht genossen, und alles wie in der Eil eines erschrocknen, weggehenden Wandrers erwischt haben; und alsdenn gar durch einen diesem Leben ähnlichen Tod, eine neue ähnliche Wallfahrt anzutreten? Vater der Menschen! wirst du es würdigen, mich zu belehren? So denkt man, wenn man aus Situation in Situation tritt, und was gibt ein Schiff, daß zwischen Himmel und Meer schwebt, nicht für weite Sphäre zu denken! Alles gibt hier dem Gedanken Flügel und Bewegung und weiten Luftkreis! D a s flatternde Segel, das immer wankende Schiff, der rauschende Wellenstrom, die fliegende Wolke, der weite unendliche Luftkreis! Auf der Erde ist man an einen todten Punkt angeheftet; und in den engen Kreis einer Situation eingesdilossen. Oft ist jener der Studierstul in einer dumpfen Kammer, der Sitz an einem einförmigen, gemietheten Tische, eine Kanzel, ein Katheder — oft ist diese, eine kleine Stadt, ein Abgott von Publikum aus Dreien, auf die man horchet, und ein Einerlei von Beschäftigung, in welche uns Gewohnheit und Anmaßung stossen. Wie klein und eingeschränkt wird da Leben, Ehre, Achtung, Wunsch, Furcht, Haß, Abneigung, Liebe, Freundschaft, Lust zu lernen, Beschäftigung, Neigung — wie enge und eingeschränkt endlich der ganze Geist. Nun trete man mit Einmal heraus, oder vielmehr ohne Bücher, Schriften, Beschäftigung und Homogene Gesellschaft werde man herausgeworfen — welch eine andre Aussicht! Wo ist das veste Land, auf dem ich so veste stand? und die kleine Kanzel und der Lehnstul und das Katheder, worauf ich mich brüstete? wo sind die, für denen ich mich fürchtete, und die ich liebte! o Seele, wie wird dirs seyn, wenn du aus dieser Welt hinaustrittst? Der enge, veste, eingeschränkte Mittelpunkt ist verschwunden, du flatterst in den Lüften, oder schwimmst auf einem Meere — die Welt vorschwindet dir — ist unter dir verschwunden! — Welch neue Denkart! aber sie kostet Thränen, Reue, Herauswindung aus dem Alten, Selbstverdammung! — bis auf meine Tugend war ich nicht mehr mit mir zufrieden; ich sah sie für nichts, als Schwäche, für einen abstrakten Namen an, den die ganze Welt von Jugend auf realisiren lernt! Es sei Seeluft, Einwürkung von Seegerichten, unstäter Schlaf, oder was es sei, ich hatte 6

Stunden, wo idi keine Tugend, selbst nicht bis auf die Tugend einer Ehegattin, die idi dodi für den hödisten und reellsten Grad gehalten hatte, begreifen konnte! Selbst bei Beßerung der Mensdien; idi nehme Menschliche Realitäten aus, fand idi nur Schwächung der Charaktere, Selbstpein, oder Änderung der falschen Seiten — o warum ist man durch die Sprache, zu abstrakten Schattenbildern, wie zu Körpern, wie zu exsistirenden Realitäten verwöhnt! Wenn werde idi so weit seyn, um alles, was ich gelernt, in mir zu zerstören, und nur selbst zu erfinden, was idi denke und lerne und glaube. — Gespielen und Gespielinnen meiner Jugendjahre, was werde ich eudi zu sagen haben, wenn ich euch wieder sehe und eudi auch über die Dunkelheit erleuchte, die mir selbst noch anhing! Nichts, als Menschliches Leben und Glückseligkeit, ist Tugend: jedes Datum ist Handlung; alles übrige ist Schatten, ist Raisonnement. Zu viel Keuschheit, die da schwächt; ist eben so wohl Laster, als zu viel Unkeusdiheit: jede Versagung sollte nur Negation seyn: sie zur Privation, und diese gar zum Positiven der Haupttugend zu machen — wo kommen wir hin? — Gespielin meiner Liebe, jede Empfindbarkeit, die du verdammest, und ich blind gnug bin, um nicht zu erkennen, ist auch Tugend, und mehr als die, wovon Du rühmest, und wofür ich midi fürchte. Du bist tugendhaft gewesen: zeige mir deine Tugend auf. Sie ist Null, sie ist Nichts! Sie ist ein Gewebe von Entsagungen, ein Facit von Zeros. Wer sieht sie an dir? Der, dem du zu Ehren sie dichtest? Oder du? du würdest sie wie Alles vergessen, und dich, so wie zu Manchem, gewöhnen? O es ist zweiseitige Schwäche von Einer und der Andern Seite, und wir nennen sie mit dem grossen Namen T u g e n d ! Die ersten Unterredungen sind natürlich Familiengespräche, in denen man Charaktere kennen lernt, die man vorher nicht kannte: so habe ich einen tracassier, einen verwahrloseten Garçon u.s.w. kennen gelernt. Alsdenn wirft man sich gern in Ideen zurück, an die man gewöhnt war: und so ward ich Philosoph auf dem Schiffe — Philosoph aber, der es nodi schlecht gelernt hatte, ohne Bücher und Instrumente aus der Natur zu philosophiren. Hätte idi dies gekonnt, welcher Standpunkt, unter einem Mäste auf dem weiten Ocean sitzend, über Himmel, Sonne, Sterne, Mond, Luft, Wind, Meer, Regen, Strom, Fisch, Seegrund philosophiren, und die Physik alles dessen, aus sich 7

herausfinden zu können. Philosoph der Natur, das sollte dein Standpunkt seyn, mit dem Jünglinge, den du unterrichtest! Stelle dich mit ihm aufs weite Meer, und zeige ihm Fakta und Realitäten, und erkläre sie ihm nicht mit Worten, sondern laß ihn sich alles selbst erklären. Und ich, wenn ich Nollet, und Kästner und Newton lesen werde, auch ich will mich unter den Mast stellen, wo idi saß, und den Funken der Elektricität vom Stoß der Welle, bis ins Gewitter führen, und den Druck des Waßers, bis zum Druds der Luft und der Winde erheben, und die Bewegung des Schiffes, um welche sich das Waßer umschließt, bis zur Gestalt und Bewegung der Gestirne verfolgen, und nicht eher aufhören, bis ich m i r s e l b s t alles weiß, da ich b i s j e t z t mir selbst Nichts weiß . . . Der kalte Norden scheint hier der Geburtsort so gut der Seeungeheuer zu seyn, als ers der Barbaren, der Menschenriesen, und Weltverwüster gewesen. Wallfische und große Schlangen und was weiß ich mehr? Hierüber will Pontoppidan lesen, und ich werde in den Horden ziehender Heeringe, (die immer feiner werden, je weiter sie nach Süden kommen; sich aber nicht so weit wie die Vandalen und Longobarden, wagen, um nicht, wie sie, weibisch, krank, und vernichtigt zu werden, sondern zurückziehen) die Geschichte wandernder nordischer Völker finden — welche grosse Aussicht auf die Natur der Menschen und Seegeschöpfen, und Climaten, um sie, und eins aus dem andern und die Geschichte der Weltscenen zu erklären. Ist Norden oder Süden, Morgen, oder Abend die Vagina hominum gewesen? Welches der Ursprung des Menschengeschlechts, der Erfindungen und Künste und Religionen? . . . Welch ein Werk über das Menschliche Geschlecht! den Menschlichen Geist! die Cultur der Erde! aller Räume! Zeiten! Völker! Kräfte! Mischungen! Gestalten! Asiatische Religion! und Chronologie und Policei und Philosophie! Aegyptische Kunst und Philosophie und Policei! Phönicische Arithmetik und Sprache und Luxus! Griechisches Alles! Römisches Alles! Nordische Religion, Recht, Sitten, Krieg, Ehre! Papistische Zeit, Mönche, Gelehrsamkeit! Nordisch asiatische Kreuzzieher, Wallfahrter, Ritter! Christliche Heidnische Aufweckung der Gelehrsamkeit! Jahrhundert Frankreichs! Englische, Holländische, Deutsche Gestalt! — Chinesische, Japonische Politik! Naturlehre einer neuen Welt! Amerikanische Sitten u.s.w. Grosses 8

Thema: das Menschengeschlecht wird nicht vergehen, bis daß es alles geschehe! Bis der Genius der Erleuchtung die Erde durchzogen! Universalgeschichte der Bildung der Welt! . . . Die Schiffsleute sind immer ein Volk, das am Aberglauben und Wunderbaren für andern hängt. Da sie genöthigt sind, auf Wind und Wetter, auf kleine Zeichen und Vorboten Acht zu geben, da ihr Schicksal von Phänomenen in der Höhe abhängt: so gibt dies schon Anlaß gnug auf Zeichen und Vorboten zu merken, und also eine Art von ehrerbietigen Anstaunung und Zeichenforschung. Da nun diese Sachen äußerst wichtig sind; da Tod und Leben davon abhängt: welcher Mensch wird im Sturm einer fürchterlich dunkeln Nacht, im Ungewitter, an örtern, wo überall der blasse Tod wohnt, nicht beten? Wo Menschliche Hülfe aufhört, setzt der Mensch immer, sich selbst wenigstens zum Trost Göttliche Hülfe, und der unwissende Mensch zumal, der von zehn Phänomenen der Natur nur das zehnte als natürlich einsiehet, den alsdenn das Zufällige, das Plötzliche, das Erstaunende, das Unvermeidliche schrecket? O der glaubt und betet; wenn er auch sonst, wie der meinige, ein grober Ruchloser wäre. Er wird in Absicht auf Seedinge fromme Formeln im Munde haben, und nicht fragen: wie war Jonas im Wallfisch? denn nichts ist dem grossen Gott unmöglich: wenn er auch sonst sich ganz völlig eine Religion glaubt machen zu können, und die Bibel für nichts hält. Die ganze Schiffsprache, das Aufwecken, Stundenabsagen, ist daher in frommen Ausdrücken und so feierlich, als ein Gesang, aus dem Bauche des Schiffs. In allem liegen Data, die erste Mythologische Zeit zu erklären. Da man unkundig der Natur auf Zeichen horchte, und horchen mußte: da war für Schiffer, die nach Griechenland kamen und die See nicht kannten, der Flug eines Vogels eine feierliche Sache, wie ers auch würklich im grossen Expansum der Luft und auf der wüsten See ist. Da ward der Blitzstral Jupiters fürchterlich, wie ers auch auf der See ist: Zevs rollete durch den Himmel, und schärfte Blitze, um sündige Haine, oder Gewäßer zu schlagen. Mit welcher Ehrfurcht betete man da nicht den stillen silbernen Mond an, der so groß und allein da steht und so mächtig würkt, auf Luft, Meer und Zeiten. Mit welcher Begierde horchte man da auf gewisse Hülfsbringende Sterne, auf einen Kastor und Pollux, Venus u.s.w. wie der Schiffer in einer neblichten Nacht. Auf mich selbst, der 9

idi alle diese Sachen kannte, und von Jugend auf unter ganz andern Anzeigungen gesehn hatte, madite der Flug eines Vogels, und der Blitzstral des Gewässers, und der stille Mond des Abends andre Eindrücke, als sie zu Lande gemacht hatten, und nun auf einen Seefahrer, der unkundig der See, vielleicht als ein Vertriebner seines Vaterlandes, als ein Jüngling, der seinen Vater erschlagen, ein fremdes Land suchte. Wie kniete der f ü r Donner und Blitz und Adler? wie natürlich dem, in der obern Luftsphäre den Sitz Jupiters zu sehen? wie tröstlich dem, mit seinem Gebete diese Dinge lenken zu können! Wie natürlich dem, die Sonne, die sich ins Meer taucht, mit den Farben des fahrenden Phöbus, und die Aurora mit aller ihrer Schönheit zu mahlen? Es gibt tausend neue und natürlichere Erklärungen der Mythologie, oder vielmehr tausend innigere Empfindungen ihrer ältesten Poeten, wenn man einen Orpheus, Homer, Pindar, insonderheit den ersten zu Schiffe lieset. Seefahrer warens, die den Griechen ihre erste Religion brachten: ganz Griechenland war an der See Kolonie: es konnte also nicht eine Mythologie haben, wie Aegypter und Araber hinter ihren Sandwüsten, sondern e i n e R e l i g i o n , d e r F r e m d e , d e s M e e r e s u n d d e r H a i n e : sie muß also audi zur See gelesen w e r d e n . . . Man bildet sich ein, daß man auf Meeren, indem man Länder und Welttheile vorbeifliegt, man viel von ihnen denken werde: allein diese Länder und Welttheile siehet man nicht. Sie sind nur fernher stehende Nebel, und so sind auch meistens die Ideen von ihnen für gemeine Seelen. Es ist kein Unterschied, ob das jetzt das Curische, Preußische, Pommersche, Dänische, Schwedische, Norwegische, Holländische, Englische, Französische Meer ist: wie unsre Sdiiffart geht, ists nur überall Meer. Die Schiff art der Alten war hierinn anders. Sie zeigte Küsten, und Menschengattungen: in ihren Schlachten redeten Charaktere und Menschen — jetzt ist alles Kunst, Schlacht und Krieg und Seefahrt und Alles. Ich wollte den Reisebeschreiber zu Hülfe nehmen, um an den Küsten jedes Landes dasselbe zu denken, als ob ichs sähe; aber noch vergebens. Ich fand nichts, als Okularverzeichniße und sähe nichts, als entfernte Küsten. Liefland, du Provinz der Barbarei und des Luxus, der Unwißenheit, und eines angemaaßten Geschmacks, der Freiheit und der Sklaverei, wie viel wäre in dir zu thun? Zu thun, um die Barbarei zu zerstören, die Unwißenheit auszurotten, die Cultur und Freiheit io

auszubreiten, ein zweiter Zwinglius, Calvin und Luther, dieser Provinz zu werden. Kann idis werden? habe ich dazu Anlage, Gelegenheit, Talente? was muß ich thun, um es zu werden? was muß idi zerstören? Idi frage nodi! Unnütze Critiken, und todte Untersuchungen aufgeben; midi über Streitigkeiten und Bücherverdienste erheben, mich zum Nutzen und zur Bildung der lebenden Welt einweihen, das Zutrauen der Regierung, des Gouvernements und Hofes gewinnen, Frankreich, England und Italien und Deutschland in diesem Betradit durchreisen, Französische Sprache und Wohlstand, Englisdien Geist der Realität und Freiheit, Italienisdien Gesdimack feiner Erfindungen, Deutsche Gründlichkeit und Kenntniße, und endlich, wo es nöthig ist, Holländische Gelehrsamkeit einsammlen, grosse Begriffe von mir, und grosse Absichten in mir erwecken, mich meinem Zeitalter bequemen, und den Geist der Gesetzgebung, des Commerzes und der Policei gewinnen, alles im Gesichtspunkt von Politik, Staat und Finanzen einzusehen wagen, keine Blößen mehr geben und die vorigen so kurz und gut, als möglich zu verbeßern suchen, Nächte und Tage darauf denken, dieser Genius Lieflands zu werden, es todt und lebendig kennen zu lernen, alles Praktisch zu denken und zu unternehmen, mich anzugewöhnen, Welt, Adel und Menschen zu überreden, auf meine Seite zu bringen wissen — edler Jüngling! das alles schläft in dir? aber unausgeführt und verwahrloset! Die Kleinheit deiner Erziehung, die Sklaverei deines Geburtslandes, der Bagatellenkram deines Jahrhunderts, die Unstätigkeit deiner Laufbahn hat dich eingeschränkt, dich so herabgesenkt, daß du dich nidit erkennest.In Critischen unnützen, groben, elenden Wäldern verlierst du das Feuer deiner Jugend, die beste Hitze deines Genies, die gröste Stärke deiner Leidenschaft, zu unternehmen. Du wirst eine so träge, lache Seele, wie alle Fibern und Nerven deines Körpers: Elender, was ists, das dich beschäftigt? Und was dich besdiäftigen sollte? und nach Gelegenheit, Anlaß und Pflicht beschäftigen könnte? — O daß eine Evmenide mir in meinen Wäldern erschiene, mich zu erschrecken, midi aus denselben auf ewig zu jagen, und mich in die grosse nutzbare Welt zu bannen! Liefland ist eine Provinz, den Fremden gegeben! Viele Fremde haben es, aber bisher nur auf ihre Kaufmännische Art, zum Reich werden, genoßen; mir, audi einem Fremden, ists zu einem höhern Zwecke gegeben, es zu bilden! Dazu sei mein II

geistliches Amt; die Colonie einer verbeßerten Evangelischen Religion zu machen: nicht schriftlich, nicht durch Federkriege, sondern lebendig, durch Bildung. Dazu habe ich Raum, Zeit, und Gelegenheit: ich bin ohne drückende Aufsicht: ich habe alle Groß- Gut- und Edeldenkende, gegen ein paar Pedanten, auf meiner Seite: ich habe freie Hand. Laßet uns also anfangen, den Menschen und Menschliche Tugend recht kennen und predigen zu lernen, ehe man sich in tiefere Sachen mischet. Die Menschliche Seele, an sich und in ihrer Erscheinung auf dieser Erde, ihre sinnlichen Werkzeuge und Gewichte und Hoffnungen und Vergnügen, und Charaktere und Pflichten, und alles, was Menschen hier glücklich machen kann, sei meine erste Aussicht. Alles übrige werde blos bei Seite gesetzt, so lange ich hiezu Materialien sammle, und alle Triebfedern, die im Menschlichen Herzen liegen, vom Schreckhaften und Wunderbaren, bis zum Stillnachdenkenden und Sanftbetäubenden, kennen, erwecken, verwalten und brauchen lernen. Hiezu will ich in der Geschichte aller Zeiten Data sammlen: jede soll mir das Bild ihrer eignen Sitten, Gebräuche, Tugenden, Laster und Glückseligkeiten liefern, und so will ich alles bis auf unsre Zeit zurückführen, und diese recht nutzen lernen. Das Menschliche Geschlecht hat in allen seinen Zeitaltern, nur in jedem auf andre Art, Glückseligkeit zur Summe; wir, in dem unsrigen, schweifen aus, wenn wir wie Roußeau Zeiten preisen, die nicht mehr sind, und nicht gewesen sind; wenn wir aus diesen zu unserm Mißvergnügen, Romanbilder schaffen und uns wegwerfen, um uns nicht selbst zu genießen. Suche also auch selbst aus den Zeiten der Bibel nur Religion, und Tugend, und Vorbilder und Glückseligkeiten, die für uns sind: werde ein Prediger der Tugend d e i n e s Z e i t a l t e r s ! O wie viel habe ich damit zu thun, daß ichs werde! wie viel bin ich aber, wenn ichs bin! — Welch ein Großes Thema, zu zeigen, daß man, um zu seyn, was man seyn soll, weder Jude, noch Araber, noch Grieche, noch Wilder, noch Märtrer, noch Wallfahrter seyn müsse; sondern eben der aufgeklärte, unterrichtete, feine, vernünftige, gebildete, Tugendhafte, geniessende Mensch, den Gott auf der Stuffe unsrer Cultur fodert. Hier werde alles das Gute gezeigt, was wir in unserm Zeitalter, Künsten, Höfflichkeit, Leben u.s.w. für andern Zeitaltern, Gegenden, und Ländern haben; alsdenn das Grosse und Gute aus andern dazu genommen, sollte es auch nur zur Nacheiferung 12

seyn, so weit es möglich wäre, es zu verbinden — o was schläft in alle dem f ü r Aufweckung der Mensdiheit . . . Was für ein Blick überhaupt auf diese Gegenden von WestNorden, wenn einmal der Geist der Kultur sie besuchen wird! Die Ukraine wird ein neues Griechenland werden: der schöne Himmel dieses Volks, ihr lustiges Wesen, ihre Musikalische Natur, ihr fruchtbares Land u.s.w. werden einmal aufwachen : aus so vielen kleinen wilden Völkern, wie es die Griechen vormals auch waren, wird eine gesittete Nation werden: ihr Gränzen werden sich bis zum schwarzen Meer hin erstrecken und von dahinaus durch die Welt. Ungarn, diese Nationen und ein Strich von Polen und Rußland werden Theilnehmerinnen dieser neuen Kultur werden; von Nordwest wird dieser Geist über Europa gehen, das im Schlafe liegt, und dasselbe dem Geiste nach dienstbar machen. Das alles liegt vor, das muß einmal geschehen; aber wie? wenn? durch wen? Was für Samenkörner liegen in dem Geist der dortigen Völker, um ihnen Mythologie, Poesie, lebendige Kultur zu geben? Kann die Katholische Religion ihn aufwecken? Nein, und wirds nicht nach ihrem Zustande in Ungarn, Polen u.s.w. nach dem Toleranzgeist, der sich audi selbst in dieser und der Griechischen Religion mehr ausbreitet, nach dem anscheinenden Mangel von Eroberungen, den diese Religion mehr machen kann. Vielmehr werden also unsre Religionen mit ihrer Toleranz, mit ihrer Verfeinerung, mit ihrer Anrückung an einander zum gemeinschaftlichen Deismus einschlafen, wie die Römische, die alle fremde Götter aufnahm: die brausende Stärke wird einschlafen, und von einem Winkel der Erde ein andres Volk erwachen. Was wird dieses zuerst seyn? Auf welche Art wirds gehen? was werden die Bestandt e i l e ihrer neuen Denkart seyn? wird seine Kultur blos off- oder defensiv im Stillen gehen? Was ists das eigentlich in Europa nicht ausgerottet werden kann vermöge der Buchdruckerei, so vieler Erfindungen und der Denkart der Nationen? Kann man über alles dies nicht rathen nach der Lage der gegenwärtigen Welt, und der Analogie verflossner Jahrhunderte? Und kann man nicht hierinn zum Voraus einwürken? Nicht Rußland auf eine Kultur des Volks hinzeigen, die sich so sehr belohne? Da wird man mehr als Bako: da wird man im Weißagen größer als Newton: da muß man aber mit dem Geist eines Montesquieu sehen; mit der feurigen Feder Roußeaus 13

schreiben, und Voltairs Glück haben, das Ohr der grossen zu finden. In unserm Jahrhundert ists Zeit: Hume und Locke, Montesquieu und Mablys sind da: eine Kaiserin von Rußland da, die man bei der Schwäche ihres Gesetzbuchs fassen kann, wie Voltaire den König von Preußen: und wer weiß wozu der gegenwärtige Krieg in den Gegenden bereitet. Hier will ich etwas versuchen. Schlötzers Annalen, Beilagen, Merkwürdigkeiten, Millers Sammlungen, jenes seine Geschichte der Moldau soll mir Gedenkbuch seyn, das idi studire: Montesquieu nach dem ich denke und wenigstens spreche: das Gesetzbuch der Kaiserin wenigstens Einfassung meines Bildes, ü b e r d i e w a h r e Kultur eines Volks und i n s o n d e r h e i t Rußlands.

14

2. Der Genius der Zukunft 1769

Vom dunkeln Meer vergangener Thaten steigt ein Schattenbild in die Seel' empor I Wer bist du, Dämon ! Kommst du leitend mein Lebensschiff in die Höh' dort aufl in die blaue Nebelferne dort auf, wo Meer und Himmel verweben ihr Trugegewand; wie? oder Flamme des hohen Masts! mir Irrphantom und nicht der Errettenden Einer, der Sternegekrönte Jüngling! Flamm auf, du Licht der Zeiten, Gesang! du stralst vom Angesicht der Vergangenheit, und bist mir Fackel, meinen Gang dort fürder Zu leiten! dort, wo die Zukunft graut, wo ihr Haupt der Saum der Wolke verhüllt, wo Erd' und Himmel sich weben, als war' es Eins ! Denn was ist Lebens wissen ! und du der Götter Geschenk, Prophetengesicht! und der Ahndung vorsingende Zauberstimme ! Mit Flammenzügen glänzt in der Seelen Abgründen der Vorwelt Bild und schießt weitüber weißagend starkes Geschoß in das Herz der Zukunft ! Siehe ! da steigen der Mitternacht Gestalten empor! wie Götter aus Gräbern empor aus Asche der Jugendglut die Seher ! Sie zerreißen mit Schwerterblitzen das Gewölk! Sie wehn im Blick durch die Sieben der Himmel, und schwingen sich herab ! Denn liest der Geist in seines Meers Zauberspiegel die Ewigkeit. Dich bet' ich an, o Seele! Der Gottheit Bild in Deine Züge gesenkt! In dir Zusammengehn des weiten Weltalls Erhalterband' ! Aus der Tiefe, dir 15

aus dem Abgrund webt sich Weltengebäu und sinnst und tastest zum Saume des Ends hinan I Nur tief umhüllt ! in schwangerem Schoos mit Wolken umhüllt 1 in Kluft des erbrausenden Meers da ruht die keimende Nachwelt. Wer fand den Sonnenspiegel, in's dunklen Meers verhüllte Schätze zu sehn ? Wer fand das Auge dieser neuen Schöpfung? und ging hinein im Triumph? und nahm im Triumph die tiefen Welten gefangen ? und kam und nannte den Herrscher des Abgrunds sich. Es liegt verflochten, und unentwirrt der Thaten Gespinnst! Des Glücks unerforschlichen Knäul •webt ab die leitende Zeit nur! Ich aber komme jetzt von der röthenden Dämmerung Morgenhöhn und sinn' hinüber und ziele gefiederten Blick zu des Ufers Hoffnung. Siehe! da kommen der Anfurt hohe Boten mir schon I umkränzen mit Freudegesang die Gipfel des Schiffs. Ich seh! ihr Götter, da grünen Gebürg', wie Säulen des Triumphs ! Da wehn, sie wehn mit den Düften der Felder und laben mich hinan ! O Landl o Land! der schwarzen Ueberfart Schlünden entrann ich, o Land !

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3. Meines Lebens verworrene Schattenfabel 1770 Meines Lebens verworrene Schattenfabel! o früh, frühe begann sie schon dunkel. Bebte den kommenden Lebensflüchtling ein Schaur hier auf die Wüste der Erde, daß er in Wüste sich unterm Klange der Nacht inne ward, daß ihm Schaur mächtig ewig ins Innre klang! Daß ihm Leben und Tod, Schlummer und Auferstehn, Freud' und Wonne des Lebens ihm hoher Göttergedank und der zerfließenden Seele Fülle, wie Wandeltraum hindurch schwebet! daß ihm seine Erlesenen stets im Wetter vorüber gehn! Stets aus dunklem Gewölk' Blitze 1 die weckenden Väterstimmen ihm Mitternachts kommen, reden und hin wandeln in Mitternachts Dunkel, und er wandelt allein! Schicksals Schwestern, warum? die ihr sein Tageloos warfet, warfet ihrs unhold stets Irrhinüber, wohin nimmer das Götterbild seines leitenden Dämons wies ? Irrhinüber, wohin aller erstrebenden Ahndung Kräfte nicht ahndeten? — Ach ! da weben sie nun meiner erzogenen Hoffnung Blüthel da weben sie Einsam! Waisen! wie Wurf nächtlicherstarreter Frühlingsblätter! da flatterst du Schattenfabel, zerstückt I Scene zerrißen! Wurf dort und hinnen verlohrner Zeit ! SchicksalsSchwestern! o wie? Sammlen sie, sammlen sich dem ermatteten Lebensblick einst die Scenen ? ersieht er in den wehenden Blättern je der Vorsehung Buch? je einst Ernte der Saat! jener verflogenen 2 Rasch, Der junge Herder

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Erdbegrabnen, gemoderten Keime Frühling ? und rauscht Aehrengefild hinab, rauscht durch Früchtebelastete Zweige! siehet erstaunt, sich die verworrene Schattenfabel zum Prachttriumph sammlen! siehet erstaunt, Krümmen und Mißgestalt sich zur Schöne des Ganzen ziehn ! — SchicksalsSchwesternI o sprecht! wie oder liegen mir in der nächtlichen Zukunft Schoos dort noch immer das Heer wartender Schauer ? harrt meinem Gange noch bis ans Ziel Ungewitter? ich hör', höre sie fernher schon Flügel schwingen „wir werden seyn „wie wir waren ! o Sohn schaudernder Mitternacht, „wie wir waren!" Ihr brauset mir meinen Wandrergesang, Stürme ! du, feuriger zeuchst du, Wettergebärerin, Haupt hinüber mir schon ! rauschet des Ungestüms Fittig Sterneberaubt mich schon neue Wüsten hinan I drohendes Waldgebürg' unbetretner, verwebeter Dorngefilde durchan! Ach der ermüdenden Lebenswege! „wir werden seyn „wie wir waren!" — Wohlan, Wandrer, sie waren nie feige Krümmen des Schlangen-Gangs ! Wandrer, höre Triumph! Siehe, sie werden seyn wie sie waren ! des Frommen Gang, der den kriechenden Gleis unter dem Fuß zertrat, nicht für Götter und Tempel log ! nicht für Purpur und Gold heuchelt' und ungestüm nur der Wahrheit, und ungestüm, Biedermenschheit, nur dir! würdige Tugend dir sich im Leben ermattet hat — — Matter Wandrer, wohlan! wie die verworrene Schattenfabel auch enden mag !

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4. Aus der Schrift „Über die neuere deutsche Litteratur" Die Sprache ist ein Werkzeug der Wissenschaften, und ein Theil derselben: wer über die Litteratur eines Landes schreibt, muß ihre Sprache auch nicht aus der Adit lassen. Ein Volk, das ohne Poetische Sprache große Dichter, ohne eine biegsame Sprache gute Prosaisten, ohne eine genaue Sprache große Weise gehabt hätte, ist ein Unding. Wenigstens miisten bei einer unausgebildeten Sprache die Geister, die gebohren sind, Hindernisse zu überwinden, selbst erfinden, sie müsten verwüsten und schaffen: schwächere Nachfolger aber quälen sich, ohne nachher zeigen zu können: das habe ich geliefert. Lernet also, ihr Kunstrichter! eure Sprache kennen: und sucht sie zur Poesie, zur Weltweisheit und zur Prose zu bereiten. Alsdenn ebnet ihr einen Boden, damit er ein Gebäude trage. Oder noch mehr! ihr liefert Werkzeuge für den Schriftsteller: für den Dichter schmiedet ihr Donnerkeile; für den Redner glänzet ihr seine Rüstung; für den Weltweisen schärfet ihr die Waffen. Sie ist aber mehr als Werkzeug: Worte und Ideen sind genau in der Weltweisheit verwandt: wie viel hängt vom Ausdrucke in der Critik der schönen Wissenschaften ab: durch die Sprache lernen wir bestimmt denken, und bei bestimmten, und lebhaften Gedanken suchen wir deutliche und lebendige Worte: unsre Wärterinnen, die unsre Zunge bilden, sind unsre erste Lehrer der Logik. Der Genius der Sprache ist also audi der Genius von der Litteratur einer Nation. Die Spradie, sagt Isokrates, war die Bezähmerin der alten Wilden, und man sezze dazu audi die Bilderin jeder Nation in den Wissenschaften. Die Griechen, die Römer, wie arbeiteten sie nicht in ihrer Sprache! Die Araber, die die Grammatik das Salz der Wissenschaften benannten, hatten so viel Critiker, daß jener Rabbi 60 Camele mit Wörter*9 2·

büchern bepacken konnte, wie ein Arabischer Schriftsteller mit Arabischer Genauigkeit berichtet. Ihr könnt also die Litteratur eines Volks ohne ihre Sprache nicht übersehen, ihr könnt jene durch diese kennen lernen, ihr könnt beide durch einander ausbessern, denn ihre Vollkommenheit geht mit ziemlich gleichen Schritten fort. Wir haben noch keinen Sprachkundigen Philosophen gehabt, der das für u η s r e Sprache gethan hätte, was Michaelis in einigen allgemeinen Exempeln der Akademie zeigte: „daß die Sprachen einen Einfluß auf die Meinungen; die Meinungen auf die Sprachen hätten, und wie eines durch das andere verbessert werden könnte." Folgende Aufgabe ist vielleicht nicht unwürdig untersucht und im Einzeln bestätigt zu werden. „Wie fern hat auch die natürliche Denkungsart der Deutschen einen Einfluß in ihre Sprache? Und die Sprache auf ihre Litteratur. Von ihren Elementen, ihrer Aussprache und Sylbenmaas an. Wie viel kann aus der Beschaffenheit ihrer Umstände und Sprachwerkzeuge erklärt werden? Wie fern kann ihr Reichthum und ihre Armuth nach den Zeugnissen der Geschichte von ihrer Denk- und Lebensart entsprossen seyn? Wiefern die Etymologie ihrer Wörter aus den Gesichtspunkten bestimmt werden, die ihnen mit andern Nationen gemein, oder eigen gewesen? Wiefern halten auch die Sprachregeln mit den Gesezzen ihrer Denkart eine Parallele? und wie können die Idiotismen aus ihr erklärt werden? Welche Revolutionen hat die Deutsche Sprache in ihrem Wesentlichen erfahren müssen? Und wie weit ist sie jezt für den Dichter, den Prosaisten und den Weltweisen?" Eine große Aufgabe! Denn das Wie fern fodert nicht blos Exempel, „daß so etwas ohngefähr seyn könnte," sondern Beweise, Sammlungen von Beispielen, die das Allgemeine zeigen, und Philosophische Beobachtungen, die bis zu den Grundsäzzen heraufsteigen. Man hat noch in der That wenig über unsre Sprache philosophiret: Breitinger, Bodmer, Bödicker, Heinze, Oest, Klopstock haben zerrissene Anmerkungen geliefert; und von so vielen Deutschen Gesellschaften haben nur zwei oder drei gezeiget, daß sie auch nur so etwas zu liefern im Stande wären — Ich kann verschiedene Litteraturbriefe nennen, die nüzliche Beobachtungen in diesem Felde geliefert: ich samle sie, und schreibe meine Einf alle dazu — weil nach dem Zustand unserer Philosophie über die 20

Deutsche Sprache, man sich nicht der Füllsteine schämen und noch lange nicht an ein ganzes Gebäude denken darf . . . So wie der Mensch auf verschiedenen Stuffen des Alters erscheinet: so verändert die Zeit alles. D a s ganze Menschengeschlecht, ja die todte Welt selbst, jede Nation, und jede Familie haben einerlei Gesezze der Veränderung: vom Schlechten zum Guten, vom Guten zum Vortreflichen, vom Vortreflichen zum Schlechtem, und zum Schlechten: dieses ist der Kreislauf aller Dinge. So ists mit jeder Kunst und Wissenschaft: sie keimt, trägt Knospen, blüht auf, und verblühet. — So ists auch mit der Sprache. Daß man dies bisher so wenig als möglich unterschieden, daß man diese Zeitalter beständig verwirret, werden die Plane zeigen, die man so oft macht, um eine Stuffe aus der andern ausbilden zu wollen: man reifet das Kind zu früh zum Milchhaar des Jünglings; den muntern Jüngling fesselt man durch den Ernst des Mannes, und der Greis soll wieder in seine vorige Kindheit zurückkehren; oder gar eine Sprache soll auf einmal die Tugenden aller Alter an sich haben. Verkehrte Versuche, die schädlich würden, wenn nicht die Natur mit vielen nachtheiligen Entwürfen einen Grad von Schwäche verbunden hätte, der sie zurückhält. Ein junger Greis, und ein Knabe, der ein Mann ist, sind unleidlich, und ein Ungeheuer, das alles auf einmal seyn will, ist nichts ganz. Eine Sprache in ihrer Kindheit bricht wie ein Kind, einsylbichte, rauhe und hohe Töne hervor. Eine Nation in ihrem ersten wilden Ursprünge starret, wie ein Kind, alle Gegenstände an; Schrecken, Furcht und alsdenn Bewunderung sind die Empfindungen, derer beide allein fähig sind, und die Sprache dieser Empfindungen sind Töne, — und Geberden. Zu den Tönen sind ihre Werkzeuge noch ungebraucht: folglich sind jene hoch und mächtig an Accenten; Töne und Geberden sind Zeichen von Leidenschaften und Empfindungen, folglich sind sie heftig und stark: ihre Sprache spricht für Auge und Ohr, für Sinne und Leidenschaften: sie sind größerer Leidenschaften fähig, weil ihre Lebensart voll Gefahr und T o d und Wildheit ist: sie verstehen also auch die Sprache des Affects mehr, als wir, die wir dies Zeitalter nur aus spätem Berichten und Schlüssen kennen; denn so wenig wir aus unsrer ersten Kindheit Nachricht durch Erinnerung haben, so wenig sind Nachrichten aus dieser Zeit der Sprache möglich, da man nodi nidit sprach, 21

sondern tönete; da man noch wenig dachte, aber desto mehr fühlte; und also nichts weniger als schrieb. So wie sich das Kind oder die Nation änderte: so mit ihr die Sprache. Entsezzen, Furcht und Verwunderung verschwand allmälich, da man die Gegenstände mehr kennen lernte; man ward mit ihnen vertraut und gab ihnen Namen, Namen, die von der Natur abgezogen waren, und ihr so viel möglich im Tönen nachahmten. Bei den Gegenständen fürs Auge muste die Geberdung noch sehr zu Hülfe kommen, um sich verständlich zu machen: und ihr ganzes Wörterbuch war noch sinnlich. Ihre Sprachwerkzeuge wurden biegsamer, und die Accente weniger schreyend. Man sang also, wie viele Völker es noch thun und wie es die alten Geschichtschreiber durchgehends von ihren Vorfahren behaupten. Man pantomimisirte, und nahm Körper und Geberden zu Hülfe: damals war die Sprache in ihren Verbindungen noch sehr ungeordnet und unregelmäßig in ihren Formen. Das Kind erhob sich zum Jünglinge: die Wildheit senkte sich zur Politischen Ruhe: die Lebens- und Denkart legte ihr rauschendes Feuer ab: der Gesang der Sprache flöß lieblidi von der Zunge herunter, wie dem Nestor des Homers, und säuselte in die Ohren. Man nahm Begriffe, die nicht sinnlich waren, in die Sprache; man nannte sie aber, wie von selbst zu vermuthen ist, mit bekannten sinnlichen Namen; daher müssen die ersten Sprachen Bildervoll, und reich an Metaphern gewesen seyn. Und dieses jugendliche Sprachalter, war blos das Poetische: man sang im gemeinen Leben, und der Dichter erhöhete nur seine Accente in einem für das Ohr gewählten Rhythmus: die Sprache war sinnlich, und reich an kühnen Bildern: sie war noch ein Ausdruck der Leidenschaft, sie war noch in den Verbindungen ungefesselt: der Periode fiel aus einander, wie er wollte! — Seht! das ist die Poetische Sprache, der Poetische Periode. Die beste Blüthe der Jugend in der Sprache war die Zeit der Dichter: jezt sangen die αοιδοί und ραφωδοι : da es noch keine Schriftsteller gab, so verewigten sie die merkwürdigsten Thaten durch Lieder: durch Gesänge lehrten sie, und in den Gesängen waren nach der damaligen Zeit der Welt Schlachten und Siege, Fabeln und Sittensprüche, Gesezze und Mythologie enthalten. Daß dies bei den Griechen so gewesen, beweisen die Büchertitel der ältesten verlohrnen Schrift22

steller, und daß es bei jedem Volk so gewesen, zeugen die ältesten Nachrichten. Je älter der Jüngling wird, je mehr ernste Weisheit und Politische Geseztheit seinen Charakter bildet: je mehr wird er männlich, und hört auf Jüngling zu seyn. Eine Sprache, in ihrem männlichen Alter, ist nicht eigentlich mehr Poesie; sondern die schöne Prose. Jede hohe Stuffe neiget sich wieder zum Abfall, und wenn wir einen Zeitpunkt in der Sprache f ü r den am meisten Poetischen annehmen: so muß nach demselben die Dichtkunst sich wieder neigen. Je mehr sie Kunst wird, je mehr entfernet sie sich von der Natur. Je eingezogener und Politischer die Sitten werden, je weniger die Leidenschaften in der Welt wirken, desto mehr verlieret sie an Gegenständen. Je mehr man am Perioden künstelt, je mehr die Inversionen abschaffet, je mehr bürgerliche und abstrakte Wörter eingeführet werden, je mehr Regeln eine Sprache erhält: desto vollkommener wird sie zwar, aber desto mehr verliert die wahre Poesie. Jezt ward der Periode der Prose geboren, und in die Runde gedrehet: durch Uebung und Bemerkung ward diese Zeit, da sie am besten war, das Alter der schönen Prose, die den Reichthum ihrer Jugend mäßig brauchte, die den Eigensinn der Idiotismen einschränkte, ohne ihn ganz abzuschaffen, die die Freiheit der Inversionen mäßigte, ohne dodi nodi die Fesseln einer Philosophischen Construction über sich zu nehmen, die den Poetischen Rhythmus zum Wohlklang der Prose herunter stimmte, und die vorher freie Anordnung der Worte mehr in die Runde eines Perioden einschloß: — dies ist das männliche Alter der Sprache. Das hohe Alter weiß statt Schönheit blos von Richtigkeit. Diese entziehet ihrem Reichthum, wie die Lacedämonisdie Diät die Attische Wohllust verbannet. Je mehr die Grammatici den Inversionen Fesseln anlegen; je mehr der Weltweise die Synonymen zu unterscheiden, oder wegzuwerfen sucht, je mehr er statt der uneigentlichen eigentliche Worte einführen kann; je mehr verlieret die Sprache Reize: aber auch desto weniger wird sie sündigen. Ein Fremder in Sparta siehet keine Unordnungen und keine Ergözzungen. Dies ist das Philosophische Zeitalter der Sprache . . . Jetzt bitte ich einige Dichter etwas beyseit, mit denen ich ein Wort zu sprechen habe. Wenn bei sinnlichen Begriffen, bei 2

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Erfahrungsideen, bei einfachen Wahrheiten und in der klaren Spradie des natürlichen Lebens der Gedanke am Ausdrucke so sehr klebt: so wird f ü r den, der meistens aus dieser Quelle schöpfen muß, für den, der gleichsam der Oberherr dieser Sphäre gewesen, (wenigstens in der alten sinnlichen Zeit der Welt) f ü r ihn muß der Gedanke zum Ausdrucke sich verhalten, nicht wie der Körper zur Haut, die ihn umziehet; sondern wie die Seele zum Körper, den sie bewohnet: und so ists für den Dichter. Er soll Empfindungen ausdrücken: — Empfindungen durch eine gemahlte Sprache in Büchern ist schwer, ja an sich unmöglich. Im Auge, im Antlitz, durch den Ton, durch die Zeichensprache des Körpers — so spricht die Empfindung eigentlich, und überläßt den todten Gedanken das Gebiet der todten Sprache. Nun, armer Dichter! und du sollst deine Empfindungen aufs Blatt mahlen, sie durch einen Kanal schwarzen Safts hinströmen, du sollst schreiben, daß man es fühlt, und sollst dem wahren Ausdrucke der Empfindung entsagen; du sollst nicht dein Papier mit Thränen benetzen, daß die Tinte zerfließt, du sollst deine ganze lebendige Seele in todte Buchstaben hinmahlen, und parliren, statt auszudrücken. — Hier sieht man, daß bei dieser Spradie der Empfindungen, wo ich nicht s a g e n , sondern s p r e c h e n muß, daß man mir glaubt, wo ich nicht schreiben, sondern in die Seele reden muß, daß es der andre fühlt: daß hier der eigentliche A u s d r u c k unabtrennlich sey. Du mußt den natürlichen Ausdruck der Empfindung künstlich vorstellen, wie du einen Würfel auf der Oberfläche zeichnest; du mußt den ganzen Ton deiner Empfindung in dem Perioden, in der Lenkung und Bindung der Wörter ausdrücken: du mußt ein Gemälde hinzeichnen, daß dies selbst zur Einbildung des andern ohne deine Beihülfe spreche, sie erfülle, und durch sie sich zum Herzen grabe: du mußt Einfalt und Reichthum, Stärke und Kolorit der Spradie in deiner Gewalt haben, um das durch sie zu bewürken, was du durch die Sprache des Tons und der Geberden erreichen willst — wie sehr klebt hier alles am Ausdrucke: nicht in einzelnen Worten, sondern in jedem Theile, im Fortgange derselben und im Ganzen. Daher rührt die Macht der Dichtkunst in jenen rohen Zeiten, wo nodi die Seele der Dichter, die zu sprechen, und nicht zu plappern gewohnt war, nicht schrieb, sondern sprach, und audi schreibend lebendige Sprache tönete: in jenen Zeiten, 24

wo die Seele des andern nicht las, sondern hörte, und auch selbst im Lesen zu sehen und zu hören wußte, weil sie jeder Spur des wahren und natürlichen Ausdrucks offen stand: daher rühren jene Wunder, die die Dichtkunst geleistet, über die wir staunen und fast zweifeln; die aber unsre süße Herren verspotten und närrisch finden: daher rührt alles Leben der Dichtkunst, was ausstarb, da der Ausdruck nichts als Kunst wurde, da man ihn von dem, was er ausdrücken sollte, abtrennete: der ganze Verfall der Dichterei, daß man sie der Mutter Natur entführte, in das Land der Kunst brachte, und als eine Tochter der Künstelei ansah: der Fluch, der auf dem Lesen der Alten ruhet, wenn wir blos Worte lernen, oder den Inhalt Historisch durchwandern, oder Aesthetische Regeln suchen, oder Beispiele ausklauben, kurz! wenn wir Gedanken und Worte in ihnen abgetrennt betrachten: nicht das Schöpferische Ohr haben, das die Empfindung in seinem Ausdrucke, in vollem Tone höret; nicht jenes Dichterische Auge haben, das den Ausdruck als einen Körper erblickt, in welchem sein Geist denket und spricht und handelt. „Daher rührt das Aesthetische Gewäsche, wo immer Gedanke, vom Ausdrucke abgesondert, behandelt wird:" daher rührt jener Unsegen, daß es uns schwer wird, wie die Alten zu denken, weil man das Denken ohne Ausdruck erhäschen wollte, und wie die Alten zu sprechen, weil man wiederum den Ausdruck vom Gedanken abgesondert betrachtete. Je mehr ich der Sache nachdenke, daß man es für nüzzlich, ja für nothwendig habe halten können, in Poesien Gedanke und Ausdruck unverbunden zu behandeln, in Poetiken unverbunden zu lehren, und in Alten unverbunden zu zergliedern: desto fremder kömmt mit diese Zerreißung vor. Gedanke und Ausdruck! verhält er sich hier wie ein Kleid zu seinem Körper? Das beste Kleid ist bey einem schönen Körper blos Hinderniß. — Verhält er sich, wie die H a u t zum Körper? Auch noch nicht gnug: die Farbe und glatte H a u t macht nie die Schönheit vollkommen aus. Wie eine Braut bei ihrem Geliebten, wenn derselbe seinen Arm um sie geschlungen, an ihrem Munde hanget: Wie zwei zusammen Vermälte, die sich einander mittheilen; ein Paar Zwillinge, die zusammen gebildet und erzogen, sich lieben und begleiten wie Shakespears Freundinnen? Diese Bilder sind bedeutend, aber wie mich dünkt, 25

noch nicht vollständig. — Wohl! es fällt mir ein Platonisches Mährchen ein, wie der schöne Körper ein Gesdiöpf, ein Bote, ein Spiegel, ein Werkzeug einer schönen Seele sey, wie in ihm die Gegenwart der Götter wohne, und die himmlische Schönheit einen Abdruck in ihn gesenkt, der uns an die obere Vollkommenheit erinnert: ich sezze diese schöne Sokratisdie Bilder zusammen und zeige meinen Lesern ein Bild, daß Gedanke und Wort, Empfindung und Ausdruck sich zu einander verhalten, wie Piatons Seele zum Körper. Wenn einer von meinen Lesern, der bei den Werken der Alten in das Jahrhundert der goldnen Zeit und einfachen Natur entzückt gewesen ist, sich bei meiner Erzälung dessen erinnert, was er hier in diesem Elysium für Gedanken gesehen, für Ausdrücke gehört, und wie beide in einander geflossen sind: wie würde ich mich freuen, wenn einer von diesen mir Recht gäbe, und damit mich schadlos hielte, daß zehn schöne Geister, die sich in das schöne Kleid und den Putz des Costume, in die schönen Fingerspitzen der Chineserschönheiten, in das blendende Teint Französischer Wendungen, oder in das oft überladene Kolorit Brittischer Bilder verliebt haben, mich für einen Träumer und Enthusiasten schelten werden. Aus dem seeligen Reich der Götter ward die Empfindung, wie die Seele des Plato, heruntergesandt in den Schoos der irrdischen einfältigen Natur. In dem Schoos dieser gesunden und starken und fruchtbaren Mutter sollte die Bewohnerin des Himmels einen schönen und blühenden Körper sich zum Wohnhause bereiten: daher nahm sie das zarteste und feinste Geblüt ihrer Mutter zur sanften Hülle, und ward die Schöpferin des Gebäudes rings um sich. Kein Sturm widriger Wallungen und kein Blizstral von ungesunden Zuckungen hinderte ihr Gewebe, in welches sie, ohne Gefühl gewaltsamer Störungen ihr Bild voll ruhiger Stille eintrug: als das Bild einer Freundin der Götter und Gespielin der Göttinnen. Sie vollendete ihre Schöpfung: sie brachte die Frucht zur Reife: sie vollführte den Pallast ihrer Wohnung: ihr gelang das Bild ihrer selbst, das von ihr zeugen sollte. Kurz! der himmlische Gedanke formte sich einen Ausdruck, der ein Sohn der einfältigen Natur war, sie aber in den schönsten Jahren seiner Mutter: er ward in ihrem Sdiooße reif, ohne gewaltsame Gährungen, und mit einer stillen Größe vollendet. Er wand sich seiner Gebährerin 26

sanft vom Herzen, und bei seiner Geburt beglückten ihn die Grazien, und Göttinnen lächelten ihn an. Nun steht dieser Körper vor dir: willst du ihn als ein todtes Kunststück betrachten, blos seine Farbe lieben, blos seinen Puzz anbeten, seine Nägel an den Füßen bewundern, und umarmen eine kalte Bildsäule: willst du im Ausdrucke ohne Gedanken Schönheit finden! — Dann bist du ein elender, kurzsichtiger, fühlloser Betrachter! — Nein! siehe diesen Körper an, als ein Sinnbild der Seele, die ihm blos so viel körperliche Reize gab, als erfodert wurden, um ihn deinen irrdischen Augen sichtbar und schön darzustellen. — (Begnüge dich also nicht mit Grammatischer Schönheit, der Wörterwahl, der Stellung der Worte und des todten Rhythmus; denn wenn du da trockne Richtigkeit suchest, wo Schönheit dich erfüllen soll: so liesest du wie ein Meßkünstler und Handwerker, oder Tagelöhner.) Aber siehest du den Ausdruck als ein Geschöpf, das sich die Empfindung geschaffen, als ein Sinnbild, in dem sich ihr Bildniß abdrucket; siehest du den ganzen Ausdruck als einen Boten des Gedankens, und als den Pallast, den seine ganze Größe erfüllet: so wirst du mit den Augen sehen, mit denen Plato sah, wenn er sich der unkörperlichen Schönheit aus dem Reiche der Geister erinnerte, mit denen Winkelmann siehet, wenn er bei dem Apoll im Belvedere, oder dem Herkules im Torso, oder dem Laokoon, oder der Niobe ins Reich unkörperlicher Ideen geräth, du wirst mit dem Auge deine H a n d leiten, mit welchem Mengs die Schönheit siehet. Ich rede nicht von einzelnen Stücken, sondern von dem vollendeten Ausdrucke eines ganzen Werks der ältesten Zeiten, wo ich Gedanken und Rede eines Schriftstellers mir zu einem Ganzen bilde, und es meinen Lesern vor Augen stelle. Wenn hier die Stärke der Gedanken sich mit dem starken Ausdrucke paaret: so steht ein Bild vor mir, wo der einförmige Umriß des Körpers f ü r mich blos ein Zeuge jenes Gedankens ist, der sich denselben formte: die äußere Gestalt der wohlgebildeten Form erinnert mich des bildenden Gedankens, der sich hier in seinem Werke spiegelt: die freye Stellung redet von dem Werkmeister, der dies Werkzeug so leicht zu brauchen wußte: die Madit, die nichts leeres übrig läßt, ist eine Hülle des großen Bewohners: alles wird ein Gegenschein von seinem Urbilde, 27

und eine Morgenröthe, die sich in Stralen der Sonne gekleidet. Wenn ich auf die Art Ausdruck und Gedanke zusammen betrachte: soll ich jenen allein bemerken? — einen Körper ohne Seele; diesen allein? — eine Seele ohne Körper. — Und wohnt sie in einem wüsten ungestalten Hause, wo sie wie aus einem dunkeln, unregelmäßigen Kerker herausblickt, wo Sehnen wie Stricke, und Adern wie unreine Kanäle sich erheben und sichtbar fortlaufen: wo ein dürftiges mißgebohrnes schmachtendes Werk uns Zittern, oder Ekel, oder Abscheu erwecket: so muß uns der Traum des Plato beifallen: in dieses Gefängniß ward der Gedanke gesandt zur Strafe f ü r die in der Oberwelt begangne Verbrechen. — So wenig ist in der wahren Dichtkunst Gedanke und Ausdruck von einander zu trennen: und es ist beinahe immer ein Kennzeichen einer mittelmäßigen Poesie, wenn sie gar zu leicht zu übersezzen ist . . .

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5. Über Thomas Abbts Schriften Aus der „Einleitung, die von der Kunst redet, die Seele des andern abzubilden."

Eine Menschenseele ist ein Individuum im Reiche der Geister: sie empfindet nach einzelner Bildung, und denket nach der Stärke ihrer geistigen Organen. Durch die Erziehung haben diese eine gewisse eigne, entweder gute oder widrige Richtung bekommen, nadi der Lage von Umständen, die da bildeten, oder mißbildeten. So wird also unsre Denkart geformt, zu einem ganzen Körper, in welchem die Naturkräfte gleichsam die specifische Masse sind, weldie die Erziehung der Menschen gestaltet. Nach gewissen Jahren der Formung kann ein späteres Lernen selten, wie ich glaube, eine neue Schöpfung verursachen, selten Gestalt und Maße umändern, aber desto känntlidier kann es durch vielfache Erscheinungen auf der Oberfläche wirken, Anstrich, Gewand, und Mine und Anstand geben, und nehmen, und auszeichnen. Meine lange Allegorie ist gelungen, wenn sie es erreicht, den Geist eines Menschen, wie ein einzelnes Phänomenon, wie eine Seltenheit darzustellen, die würdig ist, unser Auge zu beschäftigen; noch besser aber wäre es, wenn ich durch sie, wie durch eine Zauberformel, auch unser Auge aufthun könnte, Geister, wie körperliche Erscheinungen zu sehen, zu betrachten. Immer ist unsere Psychologie noch nicht weit über die Kindheit hinaus, wenn sie bloß nach dem Bekanntesten, das alle Menschliche Seelen gemein haben, ihren Weg durch Schlüsse und Errathungen fortsetzt; ohne auf die Besonderheiten einzelner Subjekte mit der Genauigkeit zu merken, mit welcher der Naturforscher die Körper der Thiere zergliedert, um sidi in die innere Werkstäte der Natur einzuschleichen. Ungeheuer, Mißgeburten, Seltenheiten sind ihm willkommen, unterrichtend und 29

nützlich; und so sollten es dem Weltweisen alle außerordentliche Geister seyn, die wie Cometen aufgehen, und verschwinden. Wenn unsre Systematische Philosophen in der Geisterlehre L i η η e u s sind, die eigensinnig schichten, und classificiren: so ist ein unsystematischer Kopf an ihre Seite zu stellen, der, wie Büffon, eigensinnig in ihre Classen falle, und Individua zergliedre. Hier muß ich aber sagen: welcher Mensch weiß, was im Menschen ist, ohne der Geist des Menschen in ihm? und audi dieser kennet sich nur, so wie wir unser Gesicht kennen, anschauend, aber nicht deutlich. Mit einem lebendigen aber verworrenen Bewustseyn unsrer selbst, gehen wir einher wie in einem Traume, von welchem uns nur bei Gelegenheit ein und ander Stück einfällt, abgerissen, mangelhaft, ohne Verbindung. Selbst geben wir oft nicht auf unsre Gedanken Acht; allein den Augenblick erkennen wir uns, wie in der Platonischen Erinnerung aus dem Reich der Geister, wenn ein andrer Gedanken vorzeiget, die unsrer Seele entwandt scheinen. Selbst können wir nicht vollständig darauf antworten, wie die Gestalt unsres Antlitzes sey; wohl aber werden wir aus uns fahren, wenn uns ein Bild unser selbst, ein zweytes Ich, aufstieße. So fand sich Socrates getroffen, da der Gesichtsdeuter in seiner Seele las; er schüttelte aber den Kopf, da er sähe, was Plato in ihm finden wollte. Idi übergehe den ganzen d u n k e l n Grund unsrer Seele, in dessen unabsehbarer Tiefe unbekannte Kräfte, wie ungebohrne Könige, schlafen: in welchem, wie in einem Erdreich, das mit Schnee und Eis bedeckt ist, der Keim modert zu einem Frühlinge Paradiesischer Gedanken: in welchem, wie in dunkler Asche der Funke zu großen Leidenschaften und Trieben glimmet. Wie erhebt sich hier auf einmal die Idee, in der ich mir das Bild der Gottheit gedenke: er, der die Morgensterne und die Geister mit Namen ruffet; den Gedanken von ferne kennet, ehe er geboren wird: nur Er, der Schöpfer, kennet eine von ihm erschaff ne Seele! Wenn unsre Philosophen also diese Känntniß einzelner Geister noch nicht so häufig versuchen, so hat ein andrer dazu mehr Gelegenheit und Pflicht: Der G e s c h i c h t s c h r e i b e r : und der hat mehr gethan, als jener Maler der Seele, Parrhasius, und Aristides, der eine Menschliche Seele in ihrer ganzen Denkart zu sehen, zu zeichnen, vorzustellen weiß. Man 30

wird mir aber doch zutrauen, daß idi hier etwas anders verstehe, als was unsre witzige Nachbarn Charaktere und Porträte nennen. Bilderchen, die fast nie die Wahrheit, sondern die Künstelei gezeichnet, die aus der Phantasie, nicht nach der N a tur entworfen, und von einem kindischen Geist ausgemalet sind, der oft nur zum Zweck hat, sich durch abwechselnde Schattenbilder an der Wand zu vergnügen, und durch rasende Contraste das Auge des Zuschauers zu bestürmen. Ich ärgere mich, wenn ich einen neuern Deutschen Schriftsteller so kühn nennen höre, einen pragmatischen Geschichtschreiber unsres Jahrhunderts, blos weil er seinem trocknen und kreuzlahmen Skelett ein p a a r solcher Französischen Bilderchen, ganz am Unrechten Ort angeheftet. Vorzüglich muß ein B i o g r a p h die Gestalt seines Helden ihm gleichsam v o m Antlitz zu reißen wissen, wenn er dieses Namens werth seyn will. U n d da, wie voraus gezeigt ist, wir uns selbst nicht einmal von innen kennen: und wir also, wenn wir auch alle wie Montagne wären, schwerlich vollkommene Biographen unser selbst werden könnten: so hat der Geschichtschreiber seinen Autor desto mehr von a u ß e n zu studiren, um die Seele desselben in Worten und Handlungen aufzuspähen. So zeidinet er das Bild der Sonne nicht aus ihrem stralenden Antlitz, sondern nach ihrem Wiederschein im Wasser. Es ist das große Unterscheidungszeichen, das die Biographen alter und neuer Zeit Himmelweit von einander absondert: jene zeigen uns ihren M a n n in Thaten und Handlungen, die bis auf die kleinsten Nüancen, Verräther seiner Seele sind; die neuern malen uns selbst seinen Charakter; der oft ein R o m a n ihrer, öfter ein Roman ihres Autors ist. Ich weiß sehr wohl die U r sachen, warum die Alten eher, als wir, haben Biographen der Seele seyn können; allein schriebe ich ein Leben, so würde idi ihnen entweder nacheifern, und statt selbst zu reden, H a n d lungen reden lassen: oder wenn ich ihnen ja nachbliebe: so würde ich getrost vor mein Werk hinschreiben: „einige Begebenheiten von dem Leben so wie ich sie weiß, und der Charakter desselben, wie er der Gestalt und Schwäche meiner Augen vorkommt." Was wird nicht zu einem Biographen erfodert, der das wahre Bild seines Autors weder verschönert, noch entstellt, noch unähnlich an seinen wahren Ort im Range der Geister stellen 3i

will? Wie Rousseau den Sohn seiner Phantasie, den wunderbaren Emil vor der Geburt und im Ehebette kannte: so müste er seinen Freund durch alle Scenen seines Lebens begleitet haben, und der Vertraute seiner Geheimnisse geworden seyn; und immer müste er ihn doch fremde, wie ein müßiger Zuschauer beobachten können, um jeden Augenblick mit Aufmerksamkeit zu verfolgen. Unpartheyisch, wie ein Richter der Todten müste er urtheilen: und doch — gehört nicht fast ein kleiner Grad von verliebter Schwärmerei dazu, seinen Mann so sehr der Phantasie einzuprägen, daß man sein Bild nachher, wie aus dem Kopf, entwerfen kann? Und soll dies Bild aus dem Kopf entworfen werden, wie leicht können alsdenn aus der Kammer des Herzens Säfte heraufwallen, um es zu tuschen und auszumalen? Es wird in unserm Geist gepräget, und siehe da! unser Gepräge drückt sich von unten ein, und trift in die Züge des andern. Ich führe einige absolute Schwürigkeiten an; die hypothetischen wird ohnedem jeder fühlen, der je auf den Gedanken auch nur gekommen ist, ein Leben zu schreiben . . .

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6. Auszug aus einem Briefwechsel über Oßian und die Lieder alter Völker. Audi ich bin, wie Sie, über die Übersetzung Oßians für unser Volk und unsre Sprache, eben so sehr als über ein Episches Original entzückt. Ein Dichter, so voll Hoheit, Unschuld, Einfalt, Thätigkeit, und Seligkeit des Mensdilichen Lebens, muß, wenn man in faece Romuli an der Würksamkeit guter Bücher nicht ganz verzweifeln will, gewiß würken und Herzen rühren, die auch in der armen Schottischen Hütte zu leben wünschen, und sich ihre Häuser zu solchem Hüttenfest einweihen. — Audi D e η i s Übersetzung verräth so viel Fleiß und Geschmack, theils glücklichen Schwung der Bilder, theils Stärke der Deutschen Sprache, daß ich auch sie gleich unter die Lieblingsbücher meiner Bibliothek gestellt, und Deutschland zu einem Barden Glück gewünscht, den der Schottische Barde nur gewecket — Aber Sie, der vorher so halsstarrig an der Wahrheit und Authenticität des Schottischen Oßians zweifelte, hören Sie jetzt mich den Vertheidiger, nicht halsstarrig zweifeln, sondern behaupten, daß Trotz alles Fleisses und Geschmacks und Schwunges und Stärke der Deutschen Übersetzung unser Oßian gewiß nidit der wahre Oßian mehr sey. Der Raum fehlt mir, das jetzt zu beweisen: idi muß also meine Behauptung nur, wie ein Türkischer Mufti sein Fetwa hinsetzen, und hier der Name des Mufti. — — — Meine Gründe gegen den Deutschen Oßian sind nicht blos, wie Sie gütigst wähnen, Eigensinn gegen den Deutschen Hexameter ü b e r h a u p t : denn was trauen Sie mir für Empfindung, für Ton und Harmonie der Seele zu, wenn ich z. E. den Kleistischen, den Klopstockisdien Hexameter nicht fühlen sollte? Aber freilich, weil Sie dodi Einmal selbst darauf gekommen sind, der Klopstockisdie Hexameter bei Oßian? freilich audi hinc illae lacrimae! Hätte der Herr D. die eigentliche 5

Rasch, Der junge Herder

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Manier Oßians nur etwas audi mit dem innern Ohre überlegt — Oßian so kurz, stark, männlich, abgebrochen in Bildern und Empfindungen — Klopstocks Manier, so ausmahlend, so vortreflich, Empfindungen ganz ausströmen, und wie sie Wellen schlagen, sich legen und wiederkommen, audi die Worte, die Sprachfügungen ergiessen zu lassen — welch ein Unterschied! und was ist nun ein Oßian in Klopstocks Hexameter? in Klopstocks Manier? Fast kenne ich keine zwo verschiednere, auch Oßian schon würklidi wie E p o p ö i s t betrachtet. Aber das ist er nun nicht, und sehen Sie, das wollte ich Ihnen nur sagen, von jenem hat schon, wie midi dünkt, eine Kritische Bibliothek geredet, und das geht mich nichts an. Ihnen wollte ich nur in Erinnerung bringen, daß Oßians Gedichte L i e d e r , L i e d e r d e s V o l k s , L i e d e r eines ungebildeten sinnlichen Volks sind, die sich so lange im Munde der väterlichen Tradition haben fortsingen können — sind sie das in unsrer schönen Epischen Gestalt gewesen? haben sies seyn können? — mein Freund, wenn ich mich zuerst gegen Ihre zweifelnde Halsstarrigkeit gegen die Ursprünglichkeit Oßians auf Nichts so sehr, als auf inneres Zeugniß, auf den Geist des Werks selbst berief, der uns mit weissagender Stimme zusagte: „so etwas kann Macpherson unmöglich gedichtet haben! so was läßt sich in unserm Jahrhunderte nicht dichten!" mit eben dem innern Zeugniß rufe ich jetzt eben so laut: „das läßt sich wahrhaftig nicht singen! in solchem Ton von einem wilden Bergvolke wahrhaftig nicht fortsingen und erhalten! folglich ists nicht Oßian, der da sang, der so lange fortgesungen wurde!" Was sagen Sie zu meinem innern Beweise? — nächstens fülle idi Ihnen vielleicht damit Seiten! So eigensinnig für Ihren Deutschen Oßian hätte ich Sie dodi nicht geglaubt! Es mir durch Zergliederungen und einzelne Vergleichungen abzwingen zu wollen, „daß er gewiß so gut, als der Englische sey!" In Sachen der blossen, schnellen Empfindung, was läßt sich da nicht aus zergliedern? was nicht durch ein grübelndes Zerlegen heraus beweisen, was — wenigstens die vorige schnelle Empfindung gewiß nicht ist. Haben Sie es wohl diesmal bedacht, was Sie so oft, oft, und täglich fühlen, „was die Auslaßung Eines, der Zusatz eines andern, die Umschreibung und Wiederholung eines dritten Worts; was mir andrer Accent, Blick, Stimme der Rede durchaus für anderen 34

Ton geben könne?" Idi will den Sinn nodi immer bleiben laßen; aber Ton? Farbe? die schnellste Empfindung von Eigenheit des Orts, des Zwecks? — Und beruht nicht auf diesen alle Schönheit eines Gedichts, aller Geist und Kraft der Rede? — Ihnen also immer zugegeben, daß unser Oßian, als ein Poetisches Werk so gut, ja besser, als der Englische sey — eben weil er ein so schönes Poetisches Werk ist, so ist er der alte Barde, Oßian, nidit mehr; das will ich ja eben sagen. Nehmen Sie dodi Eins der alten Lieder, die in S h a k e s p e a r , oder in den Englischen Sammlungen dieser Art vorkommen, und entkleiden Sies von allem Lyrischen des Wohlklanges, des Reims, der Wortsetzung, des dunkeln Ganges der Melodie: laßen Sie ihm blos den Sinn, so so, und auf solche und solche Weise in eine andre Sprache übertragen; ists nicht, als wenn Sie die Noten in einer Melodie von P e r g o l e s e , oder die Lettern auf einer Blattseite umwürfen? wo bliebe der Sinn der Seite? wo bliebe Pergolese? Mir fällt eben das Liedchen aus Shakespears Twelfth-Night in die Hände, bei welchem der Liebesieche Herzog von hinnen scheiden will: — that old and antik song Me thought it did relieve my passion much — More than light airs and recollected terms Of these most brisk and giddy-paced times.

it is old and plain The Spinsters and the Knitters in the Sun And the free Maids that weave their Thread with Bones D o use to chant it: it is silly sooth And dallies with the innocence of L o v e Like the old Age —

Nun, werden Sie bei solchem Lobe nicht so begierig, wie der verliebte Ritter selbst? Auf! übersetzen Sies flugs in Denisdie Hexameter: Song Come away, come away, death I And in sad cypress let me be laid ! Fly away, fly away, breath ! I am slain by a fair cruel Maid I My Shroud of white stuck all with yew Oh prepare iti My Part of death, no one so true Did share it ! 35 5*

Not a Flow'r, not a Flow'r sweet On my black Coffin let there be strown Not a Friend, not a Friend greet My poor Corpse, where my Bones shall be thrown. A thousand thousand Sighs to save Lay me o where True Lover never find my Grave To weep there. Der sollte nicht mein Freund seyn, der bei diesem so einfältigen, Nichtssagenden Liede, insonderheit lebendig gesungen, nichts mit fühlte! Indessen, wenn es übersetzt würde (W i e l a n d hat es, so wie die Meisten dieser Art, nicht übersetzt!) wenn der Einige fast, dem ich hiezu Biegsamkeit zutraue, der Sänger des Skaldengesanges und der Grabschrift Aspasiens, und des Griechischen Schnitterliedchens und der süssen Nänie auf die Wachtel und das Schnittermädchen des Himmels, und auf die Herzensangst jenes guten Pfarrers — wenn dieser Dichter, der so Mancherlei, und dies Mancherlei so vortreflich seyn kann, es übersetzte, wie anders erhält er den Abdruck der innern Empfindung, als durch den Abdruck des Äussern, des Sinnlichen, in Form, Klang, Ton, Melodie, alles des Dunklen, Unnennbaren, was uns mit dem Gesänge Stromweise in die Seele iiiesset. Schlagen Sie die Dodslei'sdien Reliques of ancient Poetry auf, von Einem Ende zum andern; übersetzen Sie was und wie schön Sie es wollen, aber ausser dem Ton des Gesanges, und sehen Sie denn, was Sie haben werden! Sie kennen doch die liebe, süsse Romanze, von der ich mich wundere, daß sie sich in den Dodslei'sdien Reliques nicht finde: Heinrich und Kathrine In ancient times in Britain Isle Lord Henry was well knowne — ein Englischer Schulrector, seines Namens Samuel Bishop, hat gewisse Ferias poéticas gefeiret: i. e. Carmina Anglicana Elegiaci plerumque argumenti (idi schreibe Ihnen den Verdienstvollen Titel) latine reddita geschrieben, und in diesen Carminibus Anglicanis latine redditis ist auch unsre Romanze Elegiaci argumenti, und also audi Elegiaco versu, schön skandirt und phraseologisirt, die sich also anhebt: Angliacos inter proceres innotuit olim Henricus priscae nobilitatis honos 1 36

und wo ist nun die Romanze? — Daß es mit Oßian kaum anders sei, sehen Sie nur einmal die schöne M a c f e r l a n s c h e Übersetzung von Τ e m o r a. Der Verf. selbst ein Schotte? der Oßian singen gehört? ihn doch also fühlen muß? Sehen Sie nun, was unter den Händen des guten, flinken Lateiners aus der rührenden Stelle geworden ist, da Oscar fällt, und der Dichter plötzlich abbrechend, sich an seine Geliebte wendet — In der N. Bibl. d. sch. W. Band 9. St. 2. S. 344. sind die Übersetzungen a u s M a c p h e r s o n , M a c f e r l a n , und D e n i s neben einander. Sie können nachschlagen und sehen! Ihre Einwürfe sind sonderbar. Bei alten Gothischen Gesängen, wie Sie sie zu nennen belieben, bei Reimgedichten, Romanzen, Sonnets und dergleichen schon künstlichen oder gar gekünstelten Stanzen, geben Sie mir nach; aber bei alten ungekünstelten Liedern, wilder, ungesitteter Völker — wilder ungesitteter Völker? ich kann Ihre Stelle kaum ausschreiben. So gehörte Ihr Oßian und sein edler, großer Fingal so schlechthin zu einem wilden, ungesitteten Volk? und wenn jener auch alles idealisirt hätte, wer so idealisiren konnte, und wem so idealisirt, dergleichen Bilder, dergleichen Geschichte, der Traum des Nachts, und das Vorbild des Tags, Gemüthserholung und beste Herzenslust seyn konnte; der war wildes Volk? Wohin man doch abgerathen kann, um nur seine Lieblingsmeinung zu retten. Wißen Sie also, daß je wilder, d. i. je lebendiger, je freiwürkender ein Volk ist, (den mehr heißt dies Wort doch nicht!) desto wilder, d. i. desto lebendiger, freier, sinnlicher, lyrisch handelnder müßen audi, wenn es Lieder hat, seine Lieder seyn! Je entfernter von künstlicher, wißenschaftlicher Denkart, Sprache und Letternart das Volk ist: desto weniger müßen auch seine Lieder fürs Papier gemacht, und todte Lettern Verse seyn: vom Lyrischen, vom Lebendigen und gleichsam Tanzmäßigen des Gesanges, von lebendiger Gegenwart der Bilder, vom Zusammenhange und gleichsam Nothdrange des Inhalts, der Empfindungen, von Symmetrie der Worte, der Sylben, bei manchen sogar der Buchstaben, vom Gange der Melodie, und von hundert andern Sachen, die zur lebendigen Welt, zum Sprudi- und Nationalliede gehören, und mit diesem verschwinden — davon, und davon allein hängt das Wesen, der Zweck, die ganze wunderthätige Kraft ab, die diese Lieder haben, die Entzückung, 37

die Triebfeder, der ewige Erb- und Lustgesang des Volks zu seyn! Das sind die Pfeile dieses wilden Apollo, womit er Herzen durchbohrt, und woran er Seelen und Gedächtniße heftet! Je länger ein Lied dauren soll, desto stärker, desto sinnlicher müßen diese Seelenerwecker seyn, daß sie der Macht der Zeit und den Veränderungen der Jahrhunderte trotzen — wohin wendet sich nun die Sache? Ohne Zweifel waren die Skandinavier, wie sie audi in Oßian überall erscheinen, ein wilderes, rauheres Volk, als die weich idealisirten Schotten: mir ist von jenen kein Gedicht bekannt, wo sanfte Empfindung ströme: ihr Tritt ist ganz auf Felsen und Eis und gefrorner Erde, und in Absicht auf soldie Bearbeitung und Kultur ist mir von ihnen kein Stück bekannt, das sich mit den Oßianschen darinn vergleichen lasse. Aber sehen Sie einmal im W o r m , im B a r t h o l i n , im P e r i n g s k i ö 1 d , und V e r e 1 ihre Gedichte an — wie viel Sylbenmaasse! wie genau jedes unmittelbar durch den fühlbaren Takt des Ohrs bestimmt! ähnliche Anfangssylben mitten in den Versen symmetrisch aufgezählt, gleichsam Losungen zum Schlage des Takts, Anschläge zum Tritt, zum Gange des Kriegsheers. Ähnliche Anfangsbuchstaben zum Anstoß, zum Schallen des Bardengesanges in die Schilde! Disticha und Verse sich entsprechend! Vokale gleich! Sylben conson — wahrhaftig eine Rhythmik des Verses, so künstlich, so schnell, so genau, daß es uns Büchergelehrten schwer wird, sie nur mit den Augen aufzufinden; aber denken Sie nicht, daß sie jenen lebendigen Völkern, die sie hörten und nicht lasen, von Jugend auf hörten und mit sangen, und ihr ganzes Ohr darnach gebildet hatten, eben so schwer gewesen sei. Nichts ist stärker und ewiger, und schneller, und feiner, als Gewohnheit des Ohrs! Einmal tief gefaßt, wie lange behält dasselbe! In der Jugend, mit dem Stammlen der Sprache gefaßt, wie lebhaft kommt es zurück, und so schnell mit allen Erscheinungen der lebendigen Welt verbunden, wie reich und mächtig kommt es wieder. Aus Musik, Gesang und Rede könnt' ich Ihnen eine Menge sonderbarer Phänomene anführen, wenn idi einmal psychologisiren wollte! Denken Sie nicht, daß ich übertreibe. Unter 136 Rhythmusarten der Skalden, habe ich nur Einen, den Sangbaren, in W o r m näher studirt (denn ihre eigentliche Prosodie, der zweite Theil der E d d a ist meines Wißens noch nicht er3»

sdiienen!) und was denken Sie, wenn in diesem Rhythmus von 8 Reihen nicht blos 2 Disticha, sondern in jedem Distichon 3 Anfangähnliche Buchstaben, 3 consone Wörter und Schälle, und diese in ihren Regionen wieder so metrisch bestimmt sind, daß die ganze Strophe gleichsam eine prosodische Runentextur geworden ist — und alles waren Schälle, Laute eines lebenden Gesanges, Wecker des Takts und der Erinnerung, alles klopfte, und stieß und schallte zusammen! — Machen Sie nun die Probe, und studiren R e g n e r L o d b r o g s Sterbegesang in den Runen des Worms, und lesen denn die feine, zierliche Übersetzung, die wir davon im Deutschen, in ganz anderm Ton und ganz anderm Sylbenmaasse haben — der verzogenste Kupferstich von einem schönen Gemälde! Nun komme jemand und mache aus dem Schlachtgesang der D y s e η , aus dem Zaubergespräch O d i n s am Thor der Hölle, aus dem jüngsten Gericht der E d d a g ö t t e r ein schönes Heldengedicht in Hexametern, oder schöne Griechische Sylbenmaasse, wie Herr D e n i s aus dem Gespräch G a u l s und M o r n i ' s , F i n g a i s und R o s k r a n e n gemacht hat; aus E v i n d S k a l d a s p i l l e r s Trauerlied auf Η a k o eine Elegie im Ton der Rothschildsgräber — was würde Vater O d i n und der alte S k a 1 d a s ρ i 11 e r sagen? — Daß sich nun diese Skaldische Rhythmik nicht auf Island und Skandinavien eingeschränkt, können Sie aus Η i c k e s , und andern; am neuesten noch in den Dodslei'schen Reliques aus der Vorabhandlung vor dem complaint of conscience (Th. 2. Β. 3. S. 277.) sehen, wo aus dem Angelsächsischen dergleichen mehr als Eine Probe angeführt wird. Aber nodi mehr. Gehen Sie die Gedichte Oßians durch. Bei allen Gelegenheiten des Bardengesanges sind sie einem andern Volk so ähnlich, das noch jetzt auf der Erde lebet, singet, und Thaten thut; in deren Geschichte ich also ohne Vorurtheil und Wahn die Geschichte Oßians und seiner Väter mehr als einmal lebendig erkannt habe. Es sind die f ü n f N a t i o n e n in N o r d - A m e r i k a : Sterbelied und Kriegsgesang, Schlachtund Grablied, historische Lobgesänge auf die Väter und an die Väter — alles ist den Barden Oßians und den Wilden in Nordamerika gemein; der letzten Marter- und Rachelied nehme ich aus, dafür die sanften Kaledonier ihre Gesänge mit dem sanften Blut der Liebe färbten. Nun sehen Sie einmal, was alle Reisebeschreiber, C h a r l e v o i x und L a f i t e a u , R o g e r , und 39

C a d w a l l a d e r C o l d e n vom Ton, vom Rhythmus, von der Macht dieser Gesänge auch f ü r Ohren der Fremdlinge sagen. Sehen Sie nach, wie viel nach allen Berichten darinn auf lebende Bewegung, Melodie, Zeichensprache und Pantomime ankömmt, und wenn nun Reisende, die die Schotten kannten, und mit den Amerikanern so lange gelebt hatten, Kapt. Τ i m b e r l a k e ζ. Β. die offenbare Ähnlichkeit der Gesänge beider Nationen anerkannten — so schliessen Sie weiter. Bei Denis stehen wir steif und fest auf der Erde: hören etwa Sinn und Inhalt in eigner, guter Poetischer Sprache, aber nach der Analogie aller wilden Völker kein Laut, kein Ton, kein lebendiges Lüftdien von den Hügeln der Kaledonier, das uns hebe und schwinge, und den lebendigen Ton ihrer Lieder hören laße: wir sitzen, wir lesen, wir kleben steif und fest an der Erde. Als eine Reise nach England noch in meiner Seele lebte — o Freund, Sie wißen nicht, wie sehr ich damals audi auf diese Sdiotten redinete! Ein Blick, dachte idi, auf den öffentlidien Geist, und die Sdiaubühne, und das ganze lebende Schauspiel des Englischen Volks, um im Ganzen die Ideen mir aufzuklären, die sich im Kopf eines Ausländers in Geschichte, Philosophie, Politik und Sonderbarkeiten dieser wunderbaren Nation, so dunkel und sonderbar zu bilden und zu verwirren pflegen. Alsdenn die größte Abwechselung des Schauspiels, zu den Sdiotten! zu Macpherson! Da will idi die Gesänge eines lebenden Volks lebendig hören, sie in alle der Würkung sehen, die sie machen, die ö r t e r sehen, die allenthalben in den Gediditen leben, die Reste dieser alten Welt in ihren Sitten studiren! eine Zeitlang ein alter Kaledonier werden — und denn nach England zurück, um die Monumente ihrer Litteratur und ihre zusammengeschleppten Kunstwerke und das Detail ihres Charakters mehr zu kennen — wie freute ich mich auf den Plan! und als Übersetzter hätte idi gewiß auf andern Wegen ähnliche Schritte thun wollen, die jetzt — D e n i s nicht gethan hat! Für ihn ist selbst die M a c p h e r s o n s c h e Probe der Ursprache ganz vergebens abgedruckt gewesen. Sie lachen über meinen Enthusiasmus für die Wilden beinahe so, wie V o l t a i r e über R o u ß e a u , daß ihm das Gehen auf Vieren so wohl gefiele: Glauben Sie nicht, daß ich deswegen unsre sittlichen und gesitteten Vorzüge, worinn es auch sey, verachte. Das Menschliche Geschlecht ist zu einem 40

Fortgange von Scenen, von Bildung, von Sitten bestimmt: wehe dem Menschen, dem die Scene mißfällt, in der er auftreten, handeln und sich verleben soll! Wehe aber audi dem Philosophen über Menschheit und Sitten, dem Seine Scene die Einzige ist, und der die Erste immer, auch als die Schlechteste, verkennet! Wenn alle mit zum Ganzen des fortgehenden Schauspiels gehören: so zeigt sich in jeder eine neue, sehr merkwürdige Seite der Menschheit — und nehmen Sie sich nur in Acht, daß ich Sie nicht nächstens mit einer P s y c h o l o g i e a u s d e n G e d i c h t e n O ß i a n s heimsudie. Die Ideen wenigstens dazu liegen tief und lebendig gnug in meiner Seele, und Sie würden manches Sonderbare lesen! Für jetzt. Wißen Sie, warum ich ein solch Gefühl theils für L i e d e r d e r W i l d e n , theils für O ß i a η insonderheit habe? O ß i a η zuerst, habe ich in Situationen gelesen, wo ihn die meisten, immer in Bürgerlichen Geschäften, und Sitten und Vergnügen zerstreute Leser, als blos a m u s a n t e , a b g e b r o c h e n e L e c t u r e , kaum lesen können. Sie wißen das Abentheuer meiner Schiffahrt; aber nie können Sie sich die Würkung einer solchen, etwas langen Schiffahrt so denken, wie man sie fühlt. Auf Einmal aus Geschäften, Tumult und Rangespoßen der Bürgerlichen Welt, aus dem Lehnstul des Gelehrten und vom weichen Sopha der Gesellschaften auf Einmal weggeworfen, ohne Zerstreuungen, Büchersäle, gelehrten und ungelehrten Zeitungen, über Einem Brette, auf ofnem allweiten Meere, in einem kleinen Staat von Menschen, die strengere Gesetze haben, als die Republik Lykurgus, mitten im Schauspiel einer ganz andern, lebenden und webenden Natur, zwischen Abgrund und Himmel schwebend, täglich mit denselben Endlosen Elementen umgeben, und dann und wann nur auf eine neue ferne Küste, auf eine neue Wolke, auf eine ideale Weltgegend merkend — nun die Lieder und Thaten der alten Skalden in der Hand, ganz die Seele damit erfüllet, an den Orten, da sie geschahen — hier die Klippen Olaus vorbei, von denen so viele Wundergeschichte lauten — dort dem Eilande gegenüber, das jene Zauberase, mit ihren vier mächtigen Sternebestirnten Stieren abpflügte, „das Meer schlug, wie Platzregen, in die Lüfte empor, und wo sich, ihren schweren Pflug ziehend, die Stiere wandten, glänzten 8 Sterne vor ihrem Haupte," über dem Sandlande hin, wo vormals Skalden und Vikinge mit 41

Schwert und Liede auf ihren Roßen des Erdegürtels (Schiffen) das Meer durchwandelten, jetzt von fern die Küsten vorbei, da Fingais Thaten geschahen, und Oßians Lieder Wehmuth sangen, unter eben dem Weben der Luft, in der Welt, der Stille — glauben Sie, da laßen sich Skalden und Barden anders lesen, als neben dem Katheder des Professors. W o o d mit seinem H o m e r auf den Trümmern Troja's, und die Argonauten, Odyßeen und Lusiaden unter wehendem Segel, unter raßelndem Steuer: die Geschichte U t h a 1 s und N i n a t h o m a im Anblick der Insel, da sie geschähe; wenigstens für mich sinnlichen Menschen haben solche sinnliche Situationen so viel Würkung. Und das Gefühl der Nacht ist noch in mir, da ich auf scheiterndem Schiffe, das kein Sturm und keine Fluth mehr bewegte, mit Meer bespült, und mit Mitternachtwind umschauert, Fingal las und Morgen hofte — — — Verzeihen Sie es also wenigstens einer alternden Einbildung, die sich auf Eindrücke dieser Art, als auf alte bekannte und innige Freunde stützet. — Aber auch das ist nodi nicht eigentlich Genesis des Enthusiasmus, über weldien Sie mir Vorwürfe machten: denn sonst wäre er vielleicht nidits als individuelles Blendwerk, ein blosses Meergespenst, das mir erscheinet. Wißen Sie also, daß idi selbst Gelegenheit gehabt, lebendige Reste dieses alten, wilden Gesanges, Rhythmus, Tanzes, unter lebenden Völkern zu sehen, denen unsre Sitten noch nicht völlig Sprache und Lieder und Gebräuche haben nehmen können, um ihnen dafür etwas sehr Verstümmeltes oder Nidits zu geben. Wißen Sie also, daß, wenn ich einen solchen alten Gesang mit seinem wilden Gange gehört, ich fast immer, wie der Französische Marceil gestanden: que de choses dans un menuet! oder vielmehr, was haben solche Völker durch Umtausch ihrer Gesänge gegen eine verstümmelte Menuet, und Reimleins, die dieser Menuet gleich sind, gewonnen? — Sie kennen die beiden L e t t i s c h e n L i e d e r c h e n , die L e ß i η g in den L i t t e r a t u r b r i e f e n aus R u h i g anzog, und wißen, wie viel sinnlicher Rhythmus der Sprache in ihrem Wesen liegen mußte; laßen Sie mich itzt ein paar P e r u a n i s c h e aus G a r c i l a s s o d i V e g a ziehen, die ich nach Worten, Klang, und Rhythmus so viel möglich übertragen; Sie werden aber gleich selbst sehen, wie weit sie sich übertragen laßen. 42

Das Erste ist die Serenate eines Liebhabers in der Abenddämmerung: Schlummre, schlummr', o Mädchen, Sanft in meine Lieder, Mitternachts, o Mädchen, Weck' ich dich schon -wieder I

Was läßt sidi seinem Mädchen mehr und süsser sagen? — Das andre ist ein blosses Bild, eine Fiktion ihrer Mythologie von Donner und Blitz. In den Wolken ist eine Nymphe mit einem Waßerkruge in der Hand, bestellet, um zu gehöriger Zeit der Erde Regen zu geben. Unterläßt sies, läßt sie die Erde in Dürre schmachten, so kömmt ihr Bruder, zerschlägt ihren Krug, das gibt Blitz und Donner, und denn zugleich Regen. Wenn die Dichtung vom Ungewitter in der Dürre, mit Regen begleitet, Ihnen als sinnlich, als anschauend gefällt, so hören Sie das Lied oder Gebet an Sie, wie Sie wollen: Schöne Göttin, Himmelstochter ! Mit dem vollen Waßerkruge, Den dein Bruder Jetzt zerschmettert Daß es wettert Ungewitter, Blitz und Donnerl Schöne Göttin, Königstochter I Und nun träufelst Du uns Regen, Milden Regen I Doch oft streuest Du auch Flocken Und auch Schlossen! Denn so hat dir Er der Weltgeist I Er der Weltgott I Virakocha 1 Macht gegeben Amt gegeben I 43

Als Weisheit habe idi das Liedchen nicht angeführt: denn Sie wißen, in welchem Ruf die dummen Peruaner stehen? Ich rede von Symmetrie des Rhythmus, des Sangbaren, und da arbeitet meine Nachbildung dem Original so matt und schwach nach. Sie kennen das K l e i s t i s c h e L i e d eines Lappländers, und die Hand dieses braven Mannes konnte für uns gewiß nicht anders, als verschönern; aber wenn ich Ihnen nun den rohen Lappländer gäbe? — wenigstens aus der dritten Hand, denn ich habe S c h e f f e r nicht bei mir: O Sonne, dein hellester Schimmer beglänze den Orra-Seel Ich würde den Fichtengipfel ersteigen, könnt' ich schauen den Orra-Seel Ich würd' ihn ersteigen, den Gipfel, meine Blumenfreundinn zu sehn I Ich würd ihn bescheeren, ihm alle Zweige, seine grünen Zweige stümmeln — Hätt' ich Flügel, zu dir zu fliegen, Flügel der Krähen Dem Laufe der Wolken folgt' ich, ziehend zum Orra-See I Aber mir mangeln die Flügel I Enteflügel I Füsse der Entel Rudernde Füsse der Gänse, die mich zu dir bringen I O du hast lange gewartet, so viel Tagel schöne Tage, D u mit erquickenden Augen, mit deinem freundlichen Herzen 1 — Was ist stärker, als Flechte Sehnen? als eisene, mächtige Ketten? So feßelt uns die Liebe, die Umschafferinn Sinns und Willens : Denn der Wille des liebenden Jünglings ist Windesgang Die Gedanken des Liebenden lange Gedanken ! Folgt' ich ihnen allen, ich irrte vom rechten Weg' ab. Drum bleibt mir Ein Entschluß, die sichre Bahn zu gehen I Es ist, wie gesagt, aus der dritten Hand, dieses Lappländische Lied — aber noch immer, wie natürlich, wie sehnlich sinnet der junge, begehrende Lappländer, dem sein Weg zu lange wird, dem Alles, was er sieht, Sonne und Wipfel und Wolke und Krähe und Ruderfüsse sich zum Orrasee, auf sein Mädchen beziehen muß! Der auf die Schnelle und Langsamkeit seines Weges, auf sein Hineilen der Seele, auf seine vorwandernde Gedanken, auf seine Lust, Richtsteige zu suchen, wie natürlich! wie sehnlich zurück kommt! Q u e de dioses dans un menuet! und ich liefre Ihnen doch nur die stammlendsten, zerrißensten Reste. Ein andres Lappländisches Liebeslied an s e i n R e n n t h i e r wollte idi Ihnen auch mittheilen; aber es ist verworfen, und 44

wer mag Zettel suchen? Dafür stehe hier ein altes, redit sdiauderhaftes Schottisches Lied, für das ich schon mehr stehen kann, weil ichs unmittelbar aus der Ursprache habe. Es ist ein Gespräch zwischen Mutter und Sohn, und soll im Sdiottischen mit der rührendsten Landmelodie begleitet seyn, der der Text so viel Raum gönnet: Dein Schwert, wie ists von Blut so roth? Edward, Edward ! Dein Schwert, wie ists von Blut so roth Und gehst so traurig dal — Ol Ich hab geschlagen meinen Geyer todt I Mutter, Mutter I Ich hab geschlagen meinen Geyer todt, Und das, das geht mir nahl — Ol Dein's Geyers Blut ist nicht so roth I Edward, Edward! Dein's Geyers Blut ist nicht so roth, Mein Sohn, bekenn mir frei ! — Ol Ich hab geschlagen mein Rothroß todtl Mutter, Mutter 1 Ich hab geschlagen mein Rothroß todtl Und's war so stolz und treu! Ol Dein Roß war alt und hasts nicht nothl Edward, Edward, Dein Roß war alt und hasts nicht noth, Dich drückt ein ander Schmerz I 0 1 Ich hab geschlagen meinen Vater todt, Mutter, Mutter! Ich hab geschlagen meinen Vater todt, Und das, das quält mein Herz! Ol Und was wirst du nun an dir thun ? Edward, Edward! Und was wirst du nun an dir thun ? Mein Sohn, bekenn mir mehrl O! Auf Erden soll mein Fuß nicht ruhn 1 Mutter, Mutter, Auf Erden soll mein Fuß nicht ruhnl Will wandern über Meer! Ol Und was soll werden dein Hof und Hall, Edward, Edward, Und was soll werden dein Hof und Hall, So herrlich sonst und schönI Ol 45

Achí immer stehs und sink' und fall', Mutter, Mutter, Ach immer stehs und sink' und fall', Ich werd' es nimmer sehn ! O ! Und was soll werden dein Weib und Kind, Edward, Edward? Und was soll werden dein Weib und Kind, Wann du gehst über Meer — Ol Die Welt ist groß I lass sie betteln drinn, Mutter, Mutter I Die Welt ist groß ! laß sie betteln drinn, Ich seh sie nimmermehr! — O! Und was soll deine Mutter thun? Edward, Edward I Und was soll deine Mutter thun ? Mein Sohn, das sage miri Ol Der Fluch der Hölle soll auf Euch ruhn, Mutter, Mutter I Der Fluch der Hölle soll auf Euch ruhn, Denn Ihr, Ihr riethets mir ! O.

Könnte der Brudermord Kains in einem Populärliede mit grausendern Zügen geschildert werden? und welche Würkung muß im lebendigen Rhythmus das Lied thun? und so, wie viele viele Lieder des Volks! Doch aus meinem Briefe soll kein Buch werden u.s.w.

Endlich werden Sie aufmerksam, und mahnen mich um mehrere solche Volkslieder; ich aber beweise nun wieder gegen Sie Eigensinn. Denn aus Ihrem vorletzten Briefe z. E. ist mir nodi ein Einwurf auf dem Herzen. „Auch Herr D. habe ja so viel Lyrisdie Stücke, und die so schön wären!" Lyrische Stücke hat er, und schön sind sie; aber wie viel Lyrische Stücke, und wodurch sind sie sdiön? Was ist das andre im Original, was bei ihm nicht Lyrisch ist, der Grund des Gedichts, auf dem seine Oden nur Blumen sind, ist das Hexameter? Und denn auch, wie? wodurch sind sie schön? Durch schöne Römische, Griechische Sylbenmaasse, und durch so schöne Anordnung in denselben, daß ich ja eben deswegen behauptet, sie seyn die schönen Bardenlieder Oßians nicht mehr! Was 46

macht Macpherson fast bei jedem solcher Stücke für Ausrüfe über das Wilde, oder Sanfte, oder Feierliche oder Kriegerische ihres Rhythmus, ihrer Melodien, ihrer Sylbenmaasse, das Seele des Gesangs sey — nun muß ich aber bekennen, daß bei den meisten Fällen ich weder Wahl, noch Veranlaßung eben zu solchen Römischen und Griechischen Sylbenmaassen; ja wenn idi von den Gesängen der Wilden überhaupt Ton habe, nirgends Veranlaßung zu E i n e m solcher Römischen und Griechischen Sylbenmaasse sehe. Ich mag mit Herrn D. nicht wetteifern; er hat so viel Poetischen Styl und Sprache in seiner Gewalt; aber ich wollte Ein Stück bei ihm sehen, das nidit in einem andern Sylbenmaasse eben so gut, das ist, eben so geziert, erscheinen sollte, und manches ist, ohne Umschweif, ü b e l gewählt. Zur Probe davon sehen Sie einmal den dritten Band durch. Da hat ihm, idi weiß nicht, welcher Kunstrichter, den Rath gegeben, mehr des Skaldischen Sylbenmaasses zu gebrauchen, und nun sehen Sie, wie es der Übersetzer mißbraudit hat. Die vortreflidie, so vielsaitige Goldharfe, die unter der H a n d des dänischen S k a l d e n allen Zauber- und Madit- und Leierund Wunderton hat annehmen können, so wie gegenseitig den Ton der Liebe, der Freundschaft, der Entzückung, ist in den Händen des Übersetzers eine hölzerne Trommel mit zween Schlägen geworden. — Sdiade nur, daß eben dadurch die schönen Lieder von S e l m a und das süsse C a r r i k t h u r a verunstaltet sind. Im ersten Bande hat der Übersetzer gar eine Cantate in Reimen nach aller Form e r f u n d e n , und da ihm nun kaum zwei Reime gelingen, so sinkt dies ganze Stück fast unter die Kritik hinab. Wie ganz anders hat K l o p s t o c k audi hier z. E. in der Sprache gearbeitet! Der sonst so ausfliessende, ausströmende Dichter, wie kurz! wie stark und abgebrochen! wie altdeutsch hat er sich in seiner H e r m a n n s - S c h l a c h t zu seyn bestrebt! Welche Prose gleicht da wohl seinem Hexameter! welch Lyrisches Silbenmaaß seinen sonst so strömenden Griechischen Sylbenmaassen! Wenn in seinem Bardit wenig Drama ist: so ist wenigstens das Lyrische im Bardit, und im Lyrischen mindestens der Wortbau so Dramatisch, so Deutsch! — Lesen Sie z. E. das edle, simple Stückdien: Auf Moos', am luftigen Badi etc. 47

und so viele, ja fast alle andre, und dann zeigen Sie mir Etwas in dem B a r d e n t o n in Denis. D a nun Klopstock selbst sich so sehr hat verläugnen können, verändern müßen — ist dies Muß nicht eine grosse Lehre? Sie schrieben mir neulich, da Sie Denis Sylbenmaasse priesen, Ihnen sey bei seinem F i n g a l u n d R o s k r a n e Klopstocks H e r m a n n u n d T h u s n e l d e (in den Brem. Beitr.) eingefallen: desto schlimmer, denn K l o p stocks neuerer Bardeton ist wohl nicht ganz der in H e r m a n n und T h u s n e l d e . Ich bins gewiß nicht allein, der diesen veränderten, härtern Bardeton im neuern K l o p s t o c k empfindet, und ohne mich in das Beßre oder Sdilechtre einzulassen, gehe ich gern mit den Jahren des Dichters, und mit der Natur fort, und idi bin stolz darauf das Deutsche Bardenmäßige in seinem Was that dir Thor, dein Vaterland und in allen neuern Stücken, w o so viel kurzer, Dramatischer D i a l o g und Wurf der Gedanken ist, zu empfinden

Der Faden unsres Briefwechsels vervielfältigt sich so, daß ich kaum mehr weiß, w o ich ihn angreifen soll, um ihn fortzuführen — am besten also, w o er mir in die Hände fällt. Die Anmerkung, die Sie „über das D r a m a t i s c h e i n d e n a l t e n L i e d e r n " dieser A r t madien, ist so nadi meinem Sinn, daß ichs mir immer mit unter den Charakterstücken der Alten gedacht habe, die wir Neuere so wenig erreichen, als ein todtes momentarisches Gemälde eine fortgehende, handelnde, lebendige Scene. Jenes sind unsre Oden; dies die Lyrischen Stücke der Alten, insonderheit wilder Völker. A l l e Reden und Gedichte derselben sind Handlung: Lesen Sie z. E. im Charlevoix selbst die unvorbereitete Kriegs- und Friedensrede des E s k i m a u χ : es ist alles in ihr Bild, Strophe, Scene! Was für Handlung in O d i n s Höllenfahrt, im W e b e g e s a n g e d e r V a l k y r i u r , im B e s c h w ö r u n g s l i e d e d e r H e r v o r , und bei O ß i a η auf jeder Seite, in jedem Stücke! Damit Sie nun nidit wieder sagen, daß idi Ihnen viel nenne und nidits gebe: so madie ich mit Abtragung meiner Schuld den Anfang, und lege Ihnen, zumal ich jetzt zu schreiben, nicht mehr Zeit habe, ein paar der genannten bei. Ich hätte sie Ihnen so neu aufstutzen und idealisieren können: denn blieben 48

sie ja aber nidit mehr, was sie jetzt sind, und eben am Aerugo der Bildsäule, am dunkeln, einförmigen, Nordischen Zauberton der Stücke, ist Ihnen und mir ja gelegen: Odins Höllenfahrt Es erhub sich Odin Der Menschen höchster Und nahm sein Roß Und schwang sich aufs Roß Und ritt hinunter Zu der Höllen Thor. Da kam ihm entgegen Der Höllenhund I Blutbespritzt War seine Brust! Mit offnem Rachen, Und scharfem Gebiß Und Wuth und Schaum. Und riß den Rachen Und bellt' entgegen Dem Zaubervater Und bellte lang! Und fort ritt Odin Und die Erd' erbebte. Da kam er zum hohen Höllenschloß, Und ritt gen Aufgang Zum Höllenthor, Wo die Seherin Im Grabe lag. Und sang der Weisen Todtenerweckenden Gräbergesang : Und sah gen Norden Und legte Runen Und beschwur und fragt', Und foderte Rede Bis sie zürnend endlich Sich erhub und begann Todtenstimme:

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Rasch, Der junge Herder

„Wer ist der Mann? Ich kenn' ihn nicht! Der meine Ruhe Zu stören beginnt! Ich lag mit Schnee Und Eis bedeckt, Und Regen beflossen Und Thau benetzt, Und lag so lang!" Ein Wandrer bin ich, Kriegerssohn. Du sollst mir Kunde Vom Höllenreich geben. Ich will sie dir geben Aus meiner Welt! Jener goldne Sitz Wem ist er bereitet ? Jenes goldne Bette Für wen stehts da ? „Für B a l d e r ' n steht, Sieh her ! der Trank, Der Honigtrank Und der Schild liegt drauf! Bald werden um ihn Die Götter trauren! Unwillig red' ich Nun laß mich ruhn!" Noch ruhe nicht, Jungfrau ! Ich forsche weiter, Und laße nicht ab, Bis ich Alles weiß ! Sprich, wer wird Β alder η Den Tod bereiten ? Und Leben berauben Odins Sohn?

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„ H o d e r ists, Der wird dem Bruder Den Tod bereiten Und Leben berauben Odins Sohnl Unwillig red' ich N u n laß mich ruhn!" Noch ruhe nicht, Jungfrau ! Ich forsche weiter, Und laße nicht ab, Bis ich Alles weiß ! Sprich, wer wird H o d e r n Den Haß vergelten Und B a l d e r s Mörder Zum Grabe senden ? „In Westen wird Rinda Dem Odin zu Nacht Einen Sohn gebären, Der kaum gebohren Wird Waffen tragen, Seine Hand nicht waschen, Sein Haar nicht kämmen, Bis er Balders Mörder Zu Grabe gebracht. Unwillig red' ichs Nun laß mich r u h n ! " Noch ruhe nicht, Jungfrau I Ich forsche weiter,

Und laße nicht ab Bis ich Alles weiß. Wer sind die Jungfraun, Die stumm dort weinen Und Himmelan werfen Im Schmerz den Schlei'r Noch das sprich mir Eher sollt du nicht ruhn. „ O du kein Wandrer, Wie ich erst gewähnt I Du bist Odin selbst Der Menschen Höchster." Und du keine Weise Propheten Jungfrau; Keine Seherini Drei-Riesen-Mutter Vielmehr bist du ! „Weg, Odinl wandre Nachheim! hinweg! Und rühme daheim, Daß Niemand der Menschen Wie du's vermocht, Forschen wird, Bis einst der Arge Die Ketten bricht Und die Götter fallen Und die Welt zerfällt Und Nacht beginnt!"

Der W e b e g e s a n g der V a l k y r i u r . (Der Schicksalsgöttinnen, vor der Schlacht, zu des Grafen Randvers Tod, und des Königs Siege) Umher wirds dunkel Von Pfeilgewölken ! Sie breiten umher sich Wetterverkündend ! Es regnet Blut! Auf! knüpfet an Spieße Das Schicksalsgewebe Blutrothen Einschlags, JO

Ihr Todesschwestern Zu Randvers Tod. Sie weben Gewebe Von Menschendärmen ! Menschenhäupter Hängen sie dran! Bluttriefende Spieße

Schießen sie durch Und sind mit Waffen Und Pfeil gerüstet Und dichten mit Schwertern Das Sieggarn vest. Sie kommen zu weben Mit nackten Schwerdtern Hild', Hiorthrimul, Sangrida, Svipul, Eh die Sonne sinkt Werden Schilde spalten Und Panzer brechen Und Schwerter treffen, Daß die Helme tönen. Wir weben, wir weben Schlachtgewebe ! Dies Schwert trug einst Ein Königs Sohnl Hinaus, hinaus An die Schaaren hinan, Wo unsre Freunde In Waffen schon glühn! Wir weben, wir weben Schlachtgewebe ! Hinaus, hinaus Zum König hinan! Gudr, Gondula! Da sahen sie schon Schilde Blutroth Den König decken! Wir weben, wir weben Schlachtgewebe ! Hinaus, hinaus! Wo die Waffen tönen Und Helden fechten ! Wir wollen nicht fallen Den König lassen I Die Valkyriur walten Über Leben und Todi

Es soll gebieten, Dem Erdenkreis Dies Volk der Wüste! Mächtiger König Ich verkünde dir: Es naht in Pfeilen Ein Tod heran! Dein Feind ist gefallen ! — Und Irrland wird Trauer treffen, Die seinen Söhnen Nie schwinden wird! Das Geweb' ist gewebt! Das Schlachtfeld fließt Von rothem Blut! Der Krieg wird wüten Noch Länder hindurch ! Wie ists nun schrecklich Umherzuschaun ! Blutwolken fliegen In der Luft umher! Ach! Kriegerblutes Wird die Luft getüncht, Eh unsre Stimmen Erfüllt einst sind. Singt all' ihr Schwestern Dem Könige Heil! Und Siegesliederl Und Heil uns Schwestern Und unserm Gesang' ! Und wer sie hört Die Schlachtgesänge, Der lern' und singe Sie den Kriegern vor. Und reiten auf Roßen In der Luft hinweg : Mit nackten Schwerdtern Hinweg von hier! 51

4'

— Habe idi denn je meine Skaldische Gedichte in, Allem für Muster neuerer Gedichte ausgeben wollen? Nichts weniger! sie mögen so einförmig, so trocken seyn; andre Nationen sie so sehr übertreffen: sie mögen für Nichts als Gesänge Nordischer Meistersänger oder Improvisatori gelten; was ich mit ihnen beweisen will, beweisen sie. Der Geist, der sie erfüllet, die rohe, einfältige, aber grosse, Zaubermäßige, feierliche Art, die Tiefe des Eindrucks, den jedes so starkgesagte Wort macht, und der freie Wurf, mit dem der Eindruck gemacht wird — nur das wollte ich bei den alten Völkern, nicht als Seltenheit, als Muster, sondern als Natur anführen, und darüber also laßen Sie mich reden. Sie wißen aus Reisebeschreibungen, wie stark und fest sich immer die Wilden ausdrücken. Immer die Sache, die sie sagen wollen, sinnlich, klar, lebendig anschauend: den Zweck, zu dem sie reden, unmittelbar und genau fühlend: nicht durch Schattenbegriffe, Halbideen und symbolischen Letternverstand (von dem sie in keinem Worte ihrer Sprache, da sie fast keine abstracta haben, wissen) durch alle dies nicht zerstreuet: noch minder durch Künsteleien, sklavische Erwartungen, furchtsamschleichende Politik, und verwirrende Prämeditation verdorben — über alle diese Schwächungen des Geistes seligunwissend, erfassen sie den ganzen Gedanken mit dem ganzen Worte, und dies mit jenem. Sie schweigen entweder, oder reden im Moment des Intereße mit einer unvorbedachten Vestigkeit, Sicherheit und Schönheit, die alle wohlstudierte Europäer allezeit haben bewundern müßen, und — müßen bleiben laßen. Unsre Pedanten, die alles vorher zusammen stoppeln, und auswendig lernen müßen, um alsdenn recht methodisch zu stammeln; unsre Schulmeister, Küster, Halbgelehrte: Apotheker, und alle, die den Gelehrten durchs Haus laufen, und nichts erbeuten, als daß sie endlich, wie Shakespear's L a u n c e l o t s , Policeidiener, und Todtengräber uneigen, unbestimmt, und wie in der letzten Todesverwirrung sprechen — diese gelehrte Leute, was wären die gegen die Wilden? — Wer nodi bei uns Spuren von dieser Vestigkeit finden will, der suche sie ja nicht bei solchen; — unverdorbne Kinder, Frauenzimmer, Leute von gutem Naturverstande, mehr durch Thätigkeit, als Spekulation gebildet, die sind, wenn das, was ich anführete, Beredsamkeit ist, alsdenn die Einzigen und besten Redner unsrer Zeit. 52

In der alten Zeit aber waren es Dichter, Skalden, Gelehrte, die eben diese Sicherheit und Vestigkeit des Ausdrucks am meisten mit Würde, mit Wohlklang, mit Schönheit zu paaren wußten; und die also Seele und Mund in den festen Bund gebracht hatten, sich einander nicht zu verwirren, sondern zu unterstützen, beizuhelfen: so entstanden daher jene für uns halbe Wunderwerke von αοιδοις, Sängern, Barden, Minstreis, wie die größten Dichter der ältesten Zeiten waren. H o m e r s Rhapsodien und O ß i a η s Lieder waren gleichsam impromptus, weil man damals nodi von Nichts als impromptus der Rede wußte: dem letztern sind die Minstreis, wiewohl so schwach und entfernt, gefolgt; indessen dodi gefolgt, bis endlich die Kunst kam und die Natur auslöschte. In fremden Sprachen quälte man sich von Jugend auf Quantitäten von Sylben kennen zu lernen, die uns nicht mehr Ohr und Natur zu fühlen gibt; nach Regeln zu arbeiten, deren wenigste, ein Genie, als Naturregeln anerkennet; über Gegenstände zu dichten, über die sich nichts denken, noch weniger s i n n e n , nodi weniger imaginiren läßt; Leidenschaften zu erkünsteln, die wir nicht haben, Seelenkräfte nachzuahmen, die wir nicht besitzen — und endlich wurde Alles Falschheit, Sdiwädie, und Künstelei. Selbst jeder beste Kopf ward verwirret, und verlohr Vestigkeit des Auges, und der Hand, Sicherheit des Gedankens und des Ausdrucks: mithin die wahre Lebhaftigkeit und Wahrheit und Andringlichkeit — Alles ging verlohren. Die Dichtkunst, die die stürmendste, sicherste Tochter der Menschlichen Seele seyn sollte, ward die ungewißeste, lahmste, wankendste: die Gedichte fein oft corrigirte Knaben- und Schulexercitien. Und freilich, wenn das der Begriff unsrer Zeit ist, so wollen wir audi in den alten Stücken immer mehr Kunst als Natur bewundern, finden also in ihnen bald zu viel, bald zu wenig, nachdem uns der Kopf steht, und selten was in ihnen singt, den Geist der Natur. Ich bin gewiß, daß H o m e r und O ß i a η , wenn sie aufleben und sich lesen, sich rühmen hören sollten, mehr als zu oft über das erstaunen würden, was ihnen gegeben und genommen, angekünstelt, und wiederum in ihnen nidit gefühlt wird. Freilich sind unsre Seelen heut zu Tage durch lange Generationen und Erziehung von Jugend auf anders gebildet. Wir sehen und fühlen kaum mehr, sondern denken und grüblen nur; wir dichten nidit über und in lebendiger Welt, im Sturm J3

und im Zusammenstrom soldier Gegenstände, solcher Empfindungen; sondern erkünsteln uns entweder Thema, oder Art, das Thema zu behandeln, oder gar beides — und haben uns das schon so lange, so oft, so von früh auf erkünstelt, daß uns freilich jetzt kaum eine freie Ausbildung mehr glücken würde, denn wie kann ein Lahmer gehen? Daher also auch, daß unsern meisten neuen Gedichten, die Vestigkeit, die Bestimmtheit, der runde Contour so oft fehlet, den nur der erste Hinwurf verleihet, und kein späteres Nachzirkeln ertheilen kann. Einem H o m e r ' und O ß i a η würden wir bei solchem Poetischen Fleiß gewiß nicht anders vorkommen, als einem R a p h a e l oder A p e l l e s , der durch Einen Umriss sich als Apelles zeigt, der schwachhändig krizzelnde Lehrknabe — u.sw.

— Als ob idi mit dem, was ich neulich vom ersten Wurfe eines Gedichts gemeint, der Eilfertigkeit und Schmiererei unsrer jungen Dichterlinge, auch nur im mindesten zu statten kommen könnte? Denn was ist doch bei ihnen für ein Fehler sichtbarer, als eben die Unbestimmtheit, Unsicherheit der Gedanken und der Worte, daß sie nie wißen, was sie sagen wollen, oder sollen? — Weiß aber jemand das nicht, wie kann ers durch alle Korrektur lernen? Durch Schnitzelei kann da je ein Bratspieß zur marmornen Bildsäule Apolls werden? Mich dünkt, nach der Lage unsrer gegenwärtigen Dichtkunst sind hierinn zwei Hauptfälle möglich. Erkennet ein Dichter, daß die Seelenkräfte, die theils sein Gegenstand und seine Dichtungsart fodert, und die bei ihm herrschend sind, v o r s t e l l e n d e , e r k e n n e n d e Kräfte sind: so muß er seinen Gegenstand und den Inhalt seines Gedichts in Gedanken so überlegen, so deutlich und klar faßen, wenden, und ordnen, daß ihm gleichsam alle Lettern schon in die Seele gegraben sind, und er gibt an seinem Gedichte nur den ganzen, redlichen Abdruck. Fodert sein Gedicht aber Ausströmung der Leidenschaft und der Empfindung, oder ist in seiner Seele diese Klasse von Kräften die würksamste, die geläufigste Triebfeder, ohne die er nicht arbeiten kann: so überläßt er sich dem Feuer der glücklichen Stunde, und schreibt und bezaubert. Im ersten Falle haben M i l t o n , H a l l e r , K l e i s t und andre gedichtet: sie 54

sannen lang, ohne zu schreiben: sprachen sie aber, so wards und stand. Bei M i l t o n wenige Verse, die er so Nächte durch gleichsam als Mosaische Arbeit in seiner Seele gebildet hatte, und frühe dann seiner Schreiberin sagte: H a 11 e r , dessen Gedichten mans gnug ansieht, wie ausgedadit und zusammendrängend sie sind; L e ß i η g ist, glaub' ich, in seinen spätem Stücken der Dichtkunst auch in dieser Zahl — alle so lebendig, und in der Seele ganz vollendete Stücke nehmen sidi, wenn nicht durch ein Schnelles, so durch ein Tiefes und Beständiges des Eindrucks aus. Sie dauren, und die Seele findet bei jedem neuen wiederholten Eindruck gleichsam noch etwas Tiefers und Vollendetes, was sie anfangs nicht bemerkte. Von der zweiten Art muß ζ. Ε. Κ 1 ο ρ s t o c k in den ausströmendsten Stellen seiner Gedichte seyn: G l e i m , dessen Gedichte so viel Sichtbares vom ersten Wurf haben: J a c o b i , dessen Verse Nichts, als sanfte Unterhaltungen des Moments werden, und andre, die die Sache freilich nachher bis zu jeder Nachläßigkeit übertrieben haben. R a m l e r , glaube idi, sucht beide Arten zu verbinden, ob freilidi gleich die Erste, die ausgedadite, bei ihm ungleich sichtbarer ist. W i e 1 a η d sucht sie zu verbinden, ob er gleich immer doch mehr aus dem Fach der Weltkänntniß seines Herzens zu schreiben scheint, G e r s t e n b e r g zu verbinden — und überhaupt verbindet sie in gewißem Maasse jeder glückliche Kopf: denn so entfernt beide Arten im Anfange scheinen; so wenig Ein Genie sich der Art des Andern aus dem Stegreife bemächtigen kann: so kommen sie doch endlich beide überein; lange und stark und lebendig gedacht, oder schnell und würksam empfunden — im Punkt der Thätigkeit wird beides impromptu, oder bekömmt die Vestigkeit, Wahrheit, Lebhaftigkeit und Sicherheit desselben, und das — nur das ist, was ich sagen wollte. Was Hessen sich aber audi nur aus dem für grosse, reiche Wahrheiten der Erziehung, der Bildung, der Unterweisung ziehen! Was Hessen sich überhaupt aus dieser Proportion oder Disproportion des erkennenden und empfindenden Theils unsrer Seele für psychologische und praktische Anmerkungen madien! — Aber Sie müßen auf meine Psychologie über Oßian warten! Ich bleibe hier in meinem Felde. Da die Gedichte der alten, und wilden Völker so sehr aus unmittelbarer Gegenwart, aus unmittelbarer Begeisterung der Sinne, und der Einbildung ent55

stehen, und dodi so viel Würfe, so viel Sprünge haben: so hat mich dies längst, aus vielen Wahrnehmungen, auf die Gedanken gebracht, die ich Ihnen hier zum freundschaftlichen Gutachten mittheile. Zuerst, sollten also wohl für den sinnlichen Verstand, und die Einbildung, also für die Seele des Volks, die doch nur fast sinnlicher Verstand und Einbildung ist, dergleichen lebhafte Sprünge, Würfe, Wendungen, wie Sies nennen wollen, so eine fremde Böhmische Sache seyn, als uns die Gelehrten und Kunstrichter beibringen wollen? Sie wißen die Einwürfe, die man hier aus K l o p s t o c k s Kirchenliedern, wie es immer gelautet hat, für die gute Sache des Christlichen Volks gemacht hat, laßen Sie uns sehen, was daran sey? Zuerst muß ich Ihnen also, wenn es auf Erfahrung und Autorität ankommt, sagen, daß Nichts in der Welt mehr Sprünge und kühne Würfe hat, als Lieder des Volks, und eben die Lieder des Volks haben deren am meisten, die selbst in ihrem Mittel gedacht, ersonnen, entsprungen und gebohren sind, und die sie daher mit so viel Aufwallung und Feuer singen, und zu singen nicht abiaßen können. Mir ist z. E. ein J ä g e r l i e d bekannt, das ich wohl unterlaßen werde, Ihnen ganz mitzutheilen, weil sich das Meiste und Anziehendste in ihm, auf lebendigen Ton und M e l o d i e d e s H o r n s beziehet; aber bei allem Simpeln und Populären ist kein Vers ohne Sprung und Wurf des Dialogs, der in einem neuen Gedichte gewiß Erstaunen machte, und über den unsre lahme Kunstriditer, als so unverständlich, kühn, Dithyrambisch schreien würden. Ein Jäger hat Abends spät das Netz gestellt, und bläßt a l l e w e i l b e i d e r N a c h t , (welche Worte die Jägerresonanz sind) mit seinem Hörne das Wild aus dem Korn ins lange Holz: alleweil bei der Nadit begegnet ihm also von fern eine J u n g f r a u s t o l z , und da hebt sich dieser Dialog an: Wo aus ? wo ein ? du wildes Thier I Alleweil bei der Nacht ! Ich bin ein Jäger, und fang dich schier, u. s. w. „Bist du ein Jäger, du fängst mich nicht Alleweil bei der Nacht ! „Mein' hohe Sprüng', die weißt du nicht, u. s. w. Dein* hohe Sprüng', die weiß ich wohl, Alleweil bei der Nacht ! Weiß wohl, wie ich sie dir stellen soll, u. s. w.

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U n d sehen Sie, plötzlich, ohne alle weitere Vorbereitung erhebt sich die F r a g e : W a s hat sic an i h f e m rechten A r m ρ und plötzlich, ohne weitere Vorbereitung die Antwort: Nun bin ich gefangen, u.s.w. Was hat sie an ihrem linken Fuß ? „Nun weiß ich, daß ich sterben mußl" und so gehen die Würfe fort, und doch in einem so gemeinen, populären Jägerliede! und wer ists, ders nicht verstünde, der nicht eben daher auf eine dunkle Weise, das lebendige Poetische empfände? Alle alte Lieder sind meine Zeugen! Aus L a p p - und Esthland, Lettisch und Pohlnisch, und Schottisch und Deutsch, und die ich nur kenne, je älter, je Volksmässiger, je lebendiger; desto kühner, desto werfender. Wenn Ihnen meine Skaldischen, und L a p p und Schottländischen Lieder nicht gnug sind, hören Sie einmal ein andres, aus den D o d s l e i s c h e n Reliques: ich wähle ein ganz gemeines, deren wir unter unserm Volk gewiß hundert ähnliche, und wo nicht Lieder, doch Sagen haben. Es ist nichts in der Welt mehr, als Sweet Williams Ghost: und dodi, wie wenig kann ich ihm in der Übersetzung, seinen Aerugo, sein feierliches Populäres lassen. Zu Hannchens Thür, da kam ein Geist, Mit manchem Weh und Ach 1 Und drückt' am Schloß und kehrt' am Schloß Und ächzte traurig nach. „Ists, Vater Philipp ! der ist da ? Bists, Bruder! du, Johann? Oder ists Wilhelm, mein Bräutigam ! Aus Schottland kommen a n ? " Dein Vater Philipp, der ists nicht! Dein Bruder nicht, Johann! Es ist Wilhelm, dein Bräutigam, Aus Schottland kommen an! Hör, süsses Hannchen, höre mich, Hör' und willfahre mir! Gib mir zurück mein Wort und Treu, Das ich gegeben dir ! „Dein Wort und Treu geb' ich dir nicht Geb's nimmer wieder dir ! Bis du zu meiner Kammer kommst, Mit Liebeskuß zu mir!" 57

Zu deiner Kammer soll ich ein, Und bin kein Mensch nicht mehr? Und küssen deinen Rosenmund? So küß ich Tod dir her! Mein süsses Hannchen, höre mich, Hör' und willfahre mir. Gib mir zurück mein Wort und Treu Das ich gegeben diri „Dein Wort und Treu geb' ich dir nicht, Geb's nimmer wieder dir! Bis du mich führst zur Kirch' hinan Mit Treuering dafür!" Und an der Kirche lieg' ich schon Und bin ein Todtenbein! 'S ist, süsses Hannchen, nur mein Geist, Der hier zu dir kommt ein! Ausstreckt sie ihre Liljenhand Streckt bebend sie ihm zu: „Da, Wilhelm, hast du Wort und Treu, Und geh, und geh zur Ruh!" Und schnell warf sie die Kleider an Und ging dem Geiste nach, Die ganze lange Winternacht Ging sie dem Geiste nach. „Ist, Wilhelm, Raum noch, dir zu Haupt, Noch Raum zu Füssen dir ? Ist Raum zu deiner Seite noch, So gib, o gib ihn mir!" Zu Haupt und Fuß ist mir nicht Raum Kein Raum zur Seite mir! Mein Sarg ist, süsses Hannchen, schmal Daß ich ihn gebe dir ! Da kräht der Hahn! da schlug die Uhr! Da brach der Morgen für I „Ach, Hannchen, nun, nun kommt die Zeit, Zu scheiden weg von dir!" Der Geist — und mehr, mehr sprach er nicht Und seufzte traurig drein Und schwand in Nacht und Dunkel hin Und sie, sie stand allein! „Bleib, treue Liebe, bleibe noch Dein Mädchen rufet dich!" Da brach ihr Blick! ihr Leib der sank, Und ihre Wang' erblich! -

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N u n sagen Sie mir, was kühn geworfner, abgebrochner und doch natürlicher, gemeiner, Volksmäßiger seyn kann? Ith sage Volksmässiger: denn was die Bräutigamssitte betrift, lesen Sie die Gebräuche der Wilden, ζ. E. der Nordamerikaner; und das Kostüme der Erscheinung, in seiner ganzen Natur, brauche ich Ihnen nicht zu erklären — künftig weiter! Sie glauben, daß auch wir Deutschen wohl mehr solche Gedichte hätten, als ich mit der Schottischen Romanze angeführet; ich glaube nicht allein, sondern idi weiß es. In mehr als einer Provinz sind mir Volkslieder, Provinziallieder, Bauerlieder bekannt, die an Lebhaftigkeit und Rhythmus, und Naivetät und Stärke der Sprache vielen derselben gewiß nichts nachgeben würden; nur wer ist der sie sammle? der sich um sie bekümmre? sidi um Lieder des Volks bekümmre? auf Strassen, und Gassen und Fischmärkten? im ungelehrten Rundgesange des Landvolks? um Lieder, die oft nicht skandirt, und oft schlecht gereimt sind? wer wollte sie sammlen — wer für unsre Kritiker, die ja so gut Sylben zählen, und skandiren können, drucken lassen? Lieber lesen wir, doch nur zum Zeitvertreib, unsre neuere schöngedruckte Dichter — Laß die Franzosen ihre alte Chansons sammlen! Laß Engländer ihre alte Songs und Balladen und Romanzen in prächtigen Bänden herausgeben! Laß in Deutschland etwa der Einzige L e ß i η g sich um die L o g a u s und S c u l t e t u s und B a r d e n g e s ä n g e bekümmern! Unsre neuen Dichter sind ja besser gedruckt und schöner zu lesen; allenfalls laßen wir noch aus O p i t z , F l e m m i n g , G r y p h i u s Stücke abdrucken. — Der Rest der ältern, der wahren Volksstücke, mag mit der sogenannten täglich verbreitetem Kultur ganz untergehen, wie schon solche Schätze untergegangen sind — wir haben ja Metaphysik und Dogmatiken und Akten — und träumen ruhig hin — Und doch, glauben Sie nur, daß wenn wir noch in unsern Provinzialliedern, jeder in seiner Provinz nachsuchten, wir vielleicht noch Stücke zusammen brächten, vielleicht die Hälfte der Dodslei'schen Sammlung von Reliques, aber die derselben beinahe an Werth gleich käme! Bei wie vielen Stücken dieser Sammlung, insonderheit den besten Schottischen Stücken sind mir Deutsche Sitten, Deutsche Stücke beigefallen, die ich selbst zum Theil gehöret — haben Sie Freunde in Elsaß, in der

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Sdiweitz, in Franken, in Tyrol, in Schwaben, so bitten Sie — aber zuerst, daß sich diese Freunde ja der Stücke nicht schämen; denn die dreusten Engländer haben sich ζ. E. nicht schämen wollen und dörfen. Selbst die Melodie des Ihnen einmal angeführten: Come away, come away, death! erinnere ich mich einmal dunkel gehört zu haben, und noch nicht vor langer Zeit erinnere ich midi eines Bettlerliedes, das an Inhalt so gemischt und voll Sprünge war, und in seiner sehr Lyrischen alten Melodie so traurig tönte. — Unter ihrem Jammer kam die Sängerin, eine P e n ì a selbst, im halben Gebetston aufs Ende ihres Lebens, wenn sie d e r b i t t r e T o d ü b e r w ä n d e , und ihr (ich glaube es ist Gewohnheit oder Ausdruck) d i e F ü s s e b ä n d e ; endlich kämen 4 oder 6 Leute, die sie von Hause und Freunden weg, unter dem Schall der Todtenglocke, in ihr Grab trügen — Und wenn die Glocke verliert ihren Ton So haben meine Freunde vergeßen mich schon! —

Sagen Sie, ist der Zug nicht Elegisch und rührend? Da ich weiß, daß dieser Brief keinem von den eckein Herren unsrer Zeit in die Hände kommen wird, die über einen veralteten Reim oder Ausdruck gleich rümpfen! da idi weiß, daß Sie überall mit mir mehr Natur, als Kunst suchen: so trage idi kein Bedenken, Ihnen z. E. aus einer Sammlung schlechter Handwerkslieder, ein sehnend-trauriges Liebeslied hinzusetzen, das, wenn es ein G l e i m , R a m l e r oder G e r s t e n b e r g nur etwas einlenkte, wie viele der Neuern überträfe! — Der süsse Schlaf, der sonst stillt Alles wohl Kann stillen nicht mein Herz mit Trauren voll, Das schafft allein, die mich erfreuen soll ! Kein Speis', kein Trank mir Lust noch Nahrung geit, Kein' Kurzweil ist, die mir mein Herz erfreut, Das schafft allein, die mir im Herzen leit I Kein' Gesellschaft ich nicht mehr besuchen mag, Ganz einig sitz in Unmuth Nacht und Tag, Das schafft allein, die ich im Herzen trag'. In Zuversicht allein gen ihr ich hang' Und hoff, sie soll mich nicht verlaßen lang, Sonst fiel ich g'wiß ins bittern Todes Zwang. 60

Ist das Sylbenmaaß nicht schön, die Sprache nicht stark, der Ausdruck empfunden? Und, glauben Sie, so würden sich in jeder Art mehrere Stücke finden, wenn nur Menschen wären, die sie suchten! Wir haben ζ. B. viele und vielerlei neue Fabeln, was sagen Sie demohngeachtet aber zu einer solchen alten Fabel im alten Ausdruck und Ton: Kukuk und Nachtigal. Einmal in einem tiefen Thal Der Kukuk und die Nachtigal Eine Wett thäten anschlagen, Zu singen um das Meisterstück, Wers gewönn' aus Kunst oder aus Glück Dank sollt' er davon tragen. Der Kukuk sprach: „so dirs gefällt — Hab der Sach einen Richter erwählt!" Und thät den Esel nennen. Denn w e i l der hat z w e i O h r e n g r o ß , So kann er h ö r e n d e s t o baß Und was recht ist, erkennen ! Als ihm die Sach nun ward erzählt, (vermuthlich vertali) Und er zu richten hat Gewalt, Schuf er : sie solten singen ! Die Nachtigall sang lieblich aus ; Der Esel sprach: Du machst m i r s k r a u s I I c h k a n n s in Kopf n i c h t b r i n g e n . Der Kukuk fing auch an und sang W i e er denn p f l e g t zu s i n g e n : K u k u k ! K u k u k ! — lacht fein darein ! Das gefiel dem Esel im Sinne sein. Er sprach: in allen Rechten Wül ich ein Urtheil sprechen : Hast wohl gesungen, Nachtigal, Aber! — K u k u k ! — singt gut Choral! Und hält den Takt fein innen. Das Sprech' ich nach meinem hohen Verstand, Und ob es gölt ein ganzes Land So laß ichs dich gewinnen — 61

Was meinen Sie zu der Fabel? Nicht lieber zehn solche gemacht, als alle sehe? Laßen Sie mich die Moral nicht dazu setzen, sie ist schlechter gesagt, neuer, und wie vielerlei Moral kann sich nicht jeder selbst daraus ziehen, — in Theilen und im Ganzen! Die Herren, die so Bürgerlich feist wohlmeinend achten, daß jener Titel und dieser Kragen doch das Ding verstehen müßte — Dieweil er hat zwei Ohren g r o ß So kann er freilich hören baß I

Die Herren, die aus Stumpfsinn, und Gedankenlosigkeit gleich über jeden etwas gedrängten oder lebhaften Styl schreien, „ei nicht Griechische Lauterkeit! Ciceronische Wohlberedtheit" in Ellenlangen Deutschlateinischen Perioden! so voll Anspielungen, voll Bilder, voll Gedanken — sonst aber freilich kurz: Der Esel sprach: du machst mirs kraus, Ich kanns in Kopf nicht bringen — Aber Kukuk singt gut Choral Und hält den Takt fein innen I —

Was Hessen sich sonst noch vor Deutungen machen, wenn man etwas die Welt kennet? — Aber zu unserm Zweck: wie fest und tief erzählt! Ohne erzwungne Lustigkeit und doch wie lustig und stark und treffend in jedem Wort, in jeder Wendung! — Aller guten Dinge sind drei! und zu unsern Zeiten wird so viel von L i e d e r n f ü r K i n d e r g e s p r o c h e n : wollen Sie ein älteres Deutsches hören? Es enthält zwar keine transcendente Weisheit und Moral, mit der die Kinder zeitig gnug überhäuft werden — es nicht nichts als ein kindisches Fabelliedchen. Es sah' ein Knab' ein Rößlein stehn Ein Rößlein auf der Haiden. Er sah, es war so frisch und schön Und blieb stehn, es anzusehen Und stand in s ü s s e n Freuden.

Idi supplire diese Reihe nur aus dem Gedächtniß, und nun folgt das kindische Ritornell bei jeder Strophe: Rößlein, Rößlein, Rößlein roth, Rößlein auf der Heiden !

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Der Knabe sprach, ich breche dichl Rößlein etc. Das Rößlein sprach: ich steche dich, Daß du ewig denkst an mich Daß ichs nicht will leiden I Rößlein etc. Jedoch der wilde Knabe brach, Das Rößlein etc. Das Rößlein wehrte sich und stach, Aber er vergaß darnach Beim Genuß das Leiden 1 Rößlein etc. Ist das nicht Kinderton? U n d noch muß ich Ihnen Eine Änderung des lebendigen Gesanges melden. Der Vorschlag thut bei den Liedern des Volks eine so grosse und gute Würkung, daß ich aus Deutschen und Englischen alten Stücken sehe, wie viel die M ί η s t r e 1 s darauf gehalten: und der ist nun noch im Deutschen wie im Englischen in den Volksliedern meistens der dunkle Laut von the in beidem Geschlecht (de K n a b e ) s ' statt das (s' R ö ß l e i n ) und statt e i n ein dunkles a, und was man noch immer in Liedern der Art mit ' ausdrücken könnte. Das H a u p t w o r t bekommt auf solche Weise immer weit mehr Poetische Substantialität und Persönlichkeit ' Knabe sprach ' Rößlein sprach, u. s. w. in den Liedern weit mehr Accent, und endlich laßen Sie mich noch mit einer weitern Anmerkung hieraus schliessen. In schnellrollenden, gereimten Komischen Sachen, und aus dem entgegen gesetztesten Grunde in den stärksten, heftigsten Stellen der tragischen Leidenschaft, dort insonderheit in leichtsinnigen Liedern, hier am meisten in den gedrungnen Blankversen haben Sie es da nicht oft bemerkt, wie schädlich es uns Deutschen sey, daß wir keine Elisionen haben, oder uns madien wollen? Unsre Vorfahren haben sie häufig und zu häufig gehabt: die Engländer mit ihren Artikeln, mit den Vokalen bei unbedeutenden Wörtern, Partikeln u.s.w. haben sie zur Regel gemacht: die innre Beschaffenheit beider Sprachen ist in diesem Stücke ganz Einerlei: uns quälen diese schleppende Artikel, Partikeln u.s.w. oft so sehr und hindern den Gang des Sinns oder der Leidenschaft — aber wer unter uns wird zu elidiren wagen? Unsre Kunstrichter zählen ja Sylben, und können so 63

gut skandiren! Sie also, der kein Kunstrichter ist, erlauben Sie also in dergleichen Fällen mir wenigstens, mich Freiherrlicher maassen des Zeichens (') bedienen zu können, nach bestem Belieben u.s.w.

— Und so führen Sie mich wieder auf meine abgebrochne Materie: „woher anscheinend einfältige Völker sich an dergleichen kühne Sprünge und Wendungen haben gewöhnen können?" Gewöhnen wäre immer das Leichteste zu erklären: denn wozu kann man sich nicht gewöhnen, wenn man nichts anders hat und kennet? Da wird uns im kurzen die Hütte zum Pallast, und der Fels zum ebnen Wege — aber darauf kommen? es als eigne Natur so lieben können? Das ist die Frage, und die Antwort drauf sehr kurz: weil das in der That die Art der Einbildung ist, und sie auf keinem engern Wege je fortgehen kann. Alle Gesänge solcher wilden Völker weben um daseiende Gegenstände, Handlungen, Begebenheiten, um eine lebendige Welt! Wie reich und vielfach sind da nun Umstände, gegenwärtige Züge, TheilVorfälle! Und alle hat das Auge gesehen! Die Seele stellet sie sich vor! Das setzt Sprünge und Würfe! Es ist kein anderer Zusammenhang unter den Theilen des Gesanges, als unter den Bäumen und Gebüschen im Walde, unter den Felsen und Grotten in der Einöde, als unter den Scenen der Begebenheit selbst. Wenn der Grönländer von seinem Seehundfange erzählt: so redet er nicht, sondern mahlet mit Worten und Bewegungen, jeden Umstand, jede Bewegung: denn alle sind H e i l e vom Bilde in seiner Seele. Wenn er also auch seinem Verstorbnen das Leichenlob und die Todtenklage hält, er lobt, er klagt nicht: er mahlt, und das Leben des Verstorbnen selbst, mit allen Würfen der Einbildung herbeigerißen, muß reden und bejammern. Ich entbreche mich nicht ein Fragment der Art hieher zu setzen; denn da es gewöhnlich ist, Sprünge und Würfe solcher Stücke f ü r Tollheiten der Morgenländischen Hitze, f ü r Enthusiasmus des Prophetengeistes, oder f ü r schöne Kunstsprünge der Ode auszugeben, und man aus diesen eine so herrliche Webertheorie vom Plan und den Sprüngen der Ode recht regelmässig ausgesponnen hat: so möge hier 64

ein kalter Grönländer fast unterm Pol hervor, ohne Hitze und Prophetengeist und Odentheorie, aus dem vollen Bilde seiner Phantasie reden. Alle Grabbegleiter und Freunde des Verstorbnen sitzen im Trauerhause, den Kopf zwischen die Hände, die Arme aufs Knie gestützt: die Weiber auf dem Angesidit, und schluchzen und weinen in der Stille; und der Vater, Sohn oder nächste Verwandte fängt mit heulender Stimme an: „Wehe mir, daß ich deinen Sitz ansehen soll, der nun leer ist! Deine Mutter bemühet sich vergebens, dir die Kleider zu trocknen!" „Siehe! meine Freude ist ins Finstre gegangen, und in den Berg verkrochen." „Ehedem ging ich des Abends aus, und freute mich: ich streckte meine Augen aus, und wartete auf dein Kommen." „Siehe du kamst! du kamst muthig angerudert mit Jungen und Alten." „Du kamst nie leer von der See: dein Kajack war stets mit Seehunden oder Vögeln beladen." „Deine Mutter machte Feuer und kochte. Von dem Gekochten, das du erworben hattest, ließ deine Mutter den übrigen Leuten vorlegen, und idi nahm mir auch ein Stück." „Du sähest der Sdialuppe rothen Wimpel von weiten, und ruftest: da kommt L a r s " (der Kaufmann). „Du liefst an den Strand und hieltst das Vordertheil der Schaluppe." „Denn brachtest du deine Seehunde hervor, von welchen deine Mutter den Speck abnahm, und dafür bekamst du Hemde und Pfeileisen." „Aber das ist nun aus. Wenn ich an dich denke, so brauset mein Eingeweide." „O daß idi weinen könnte, wie ihr andern: so könnte idi dodi meinen Sdimerz lindern." „Was soll ich mir wünschen? Der Tod ist mir nun selbst annehmlidi geworden, aber wer soll mein Weib und meine übrigen kleinen Kinder versorgen?" Ich will nodi eine Zeitlang leben: aber meine Freude soll seyn in Enthaltung dessen, was den Menschen sonst so lieb ist." — Der Grönländer befolgt die feinsten Gesetze vom Schweben der Elegie, die auch — irrt, doch nicht verwirret! — 5

Rasch, Der jnnge Herder

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und von wem hat er sie gelernet? Sollte es mit den Gesetzen der Ode, des Liedes nicht eben so seyn? und wenn sie in der Natur der Einbildung liegen, wen sind sie nöthig zu lehren? wem unmöglich zu faßen, der nur dieselbe Einbildung hat? — Alle Gesänge des A. T., Lieder, Elegien, Orakelstücke der Propheten sind voll davon, und die sollten doch kaum Poetische Übungen seyn. — Selbst einen allgemeinen Satz, eine abgezogne Wahrheit kann ein lebendiges Volk im Liede, im Gesänge, nicht anders als audi so lebendig, und kühn behandeln: es weiß von der Lehrart und dem Gange eines Dogmatischen Locus nicht, und es schläft gewiß ein, wenn es denselben geführt werden soll. Sehen Sie ζ. E. in den mehr angeführten D o d s l e i i s c h e n R e l i q u e s die alten Moralischen Stücke an: My heart to me a kingdom is u.s.w. Sie brechen immer in ihrem Lyrischen Gange nur die Blumen ihrer Moral, und kommen, da hier kein sichtbarer Gegenstand, keine an einander hangende Geschichte und Handlung der Einbildung und dem Gedächtniß vorschwebet, jenem immer durch Anwendung, diesem durch Symmetrie, Refrain des Verses und zehn andre Mittel zu statten. Hören Sie einmal eine Probe der Art über den allgemeinen Satz: D e r L i e b e l ä ß t s i c h n i e ht w i d e r s t e h e n ! Wie würde ein neuer Analytischer, Dogmatischer Kopf den Satz ausgeführt haben, und nun der alte Sänger?

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Über die Berge ! über die Quellen I Unter den Gräbern, Unter den Wellen Unter Tiefen und Seen In der Abgründe Steg Über Felsen, über Höhen Findt Liebe den Weg.

Sprecht, Amor sei nimmer Zu fürchten das Kind ! Lacht über ihn immer Als Flüchtling, als blind ! Und schließt ihn durch Riegel Vom Tagstral hinweg ! Durch Schlösser und Riegel Findt Liebe den Weg !

In Ritzen, in Falten, Wo der Feurwurm nicht liegt I In Höhlen, in Spalten, Wo die Fliege nicht kriecht I Wo Mücken nicht fliegen, Und schlüpfen hinweg, Kommt Liebe ! Sie wird siegen Und finden den Weg!

Wenn Phönix und Adler Sich unter Euch beugt! Wenn Drache und Tiger Gefällig sich neigt! Die Löwin läßt kriegen Den Raub sich hinweg; Aber Liebe wird siegen Und finden sich Weg !

Konnte der Gedanke sinnlicher, mächtiger, stärker ausgeführt werden? Und mit welchem Fluge! mit welchem Wurfe von Bildern! Laßen Sie den dümmsten Menschen das Lied dreimal hören: er wirds können, und mit Freude und Entzückung singen; sagen Sie ihm aber eben dieselbe Sache auf einförmige, Dogmatische Art, in hübsch abgezählten Strophen, und seine Seele schläft. Alle unsre alte Kirchenlieder sind voll dieser Würfe und Inversionen: keine aber fast mehr und mächtiger, als die von unserm L u t h e r . Welche K l o p s t o c k s c h e Wendung in seinen Liedern kommt wohl den Transgressionen bei, die in seinem „ E i n f e s t e B u r g i s t u n s e r G o t t ! " „ G e l o b e t s e y s t du J e s u C h r i s t ! " „ C h r i s t l a g in T o d e s b a n d e n ! " und dergleichen vorkommen: und wie mächtig sind diese Übergänge und Inversionen! Wahrhaftig nicht Nothfälle einer ungeschliffenen Muse, für die wir sie gütig annehmen: sie sind allen alten Liedern solcher Art, sie sind der ursprünglichen, unentnervten, freien und männlichen Sprache besonders eigen: die Einbildungskraft führet natürlich darauf, und das Volk, das mehr Sinne und Einbildung hat, als der studirende Gelehrte, fühlt sie, zumal von Jugend auf gelernt, und sich gleichsam nach ihnen gebildet, so innig und übereinstimmend, daß ich mich ζ. E. wie über zehn Thorheiten unsrer Liederverbeßerung, so auch darüber wundern muß, wie sorgfältig man sie wegbannet, und dafür die schläfrigsten Zeilen, die erkünsteltsten Partikeln, die mattesten Reime hineinpropfet. Eben als wenn der grosse ehrwürdige Theil des Publicums, der Volk heißt, und für den doch die Gesänge castigirt werden, eine von den schönen Regeln fühle, nach denen man sie castigiret ! und Lehren in trockner, schläfriger Dogmatischer Form, in einer Reihe todter, schlaftrunken nickender Reime mehr fühlen, empfinden und behalten werde, als wo ihm durch Bild und Feuer, Lehre und That auf Einmal in Herz und Seele geworfen wird. Sie glauben doch nicht, daß ich hiemit eine Schutzschrift etwa für die K l o p s t o c k i s c h e n Lieder schreiben wolle?. Idi glaube sehr gerne, daß auch sie nicht immer L i e d e r d e s V o l k e s sind, und daß sie seltner ganze Gegenstände, als kleine Züge aus diesen Gegenständen, seltner ganze Pflichten, Thaten und Gestalten des Herzens, als feine Nüancen, oft Mittelnüancen von Empfindungen besingen: daß also ein sehr sympathetischer, und zu gewißen Vorstellungen sehr zugebil-

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deter Charakter zum ganzen Sänger seiner Lieder gehöre. Aber demohngeachtet ist das, was viele sonst gegen ihn sagten, und nodi mehr, was man ihm entgegen stellet, so trocken, so mager, so unkundig der Menschlichen Seele, daß ich immer wetten will, das kühnste Klopstockische Lied, voll Sprünge und Inversionen, einem Kinde beigebracht, und von ihm einige mal lebendig gesungen, werde mehr f ü r ihn seyn, und tiefer und ewiger in ihm bleiben, als der Dogmatische Locus von Liede, wo ja keine Zwischenpartikel und Zwischengedanke ausgelaßen ist. — Mein Gott! wie trocken und dürre stellen sich dodi manche Leute die Menschliche Seele, die Seele eines Kindes vor! Und was f ü r ein grosses, trefliches Ideal wäre mir dieselbe, wenn ich mich je an Lieder dieser Art versuchte! Eine ganze jugendliche, kindliche Seele zu füllen, Gesänge in sie zu legen, die, meistens die Einzigen, Lebenslang in ihnen bleiben, und den Ton derselben anstimmen, und ihnen ewige Stimme zu Thaten und Ruhe, zu Tugenden und zum Tröste seyn soll, wie Kriegs-, Helden- und Väterlieder in der Seele der alten, wilden Völker — welch ein Zweck! welch ein Werk! und wie viel wahrhafte Bestrebungen zu solchem Werke haben wir denn? Reimgebetlein und Lehrverse genug! Wenn Luther über jene beide wegen der Religion verbrannte anstimmt: D i e A s c h e w ;u n i c ht laßen ab, Sie stäubt in allen Landen Hier hilft kein Bach und Grub' und Grab, Sie macht den Feind zu schänden! Die er im Leben durch den Mord Zu schreien hat gezwungen, Die muß er todt an allem Ort Mit heller Stimm' und Zungen Gar frölich laßen singen oder wenn er schließt: Die laß man liegen immerhin; Sie habens keinen Frommen! Wir wollen danken Gott darinn Sein Wort ist wieder kommen, Der Sommer ist hart für der Thür Der Winter ist vergangen. Die Gartenblumen gehn herfür, Der das hat angefangen Der wird es auch vollenden — 68

so wollte idi fragen, wie viele unsrer neuern Liederdichter dergleichen Strophen, (idi sage nicht dem Inhalt, sondern der A n nach) gemacht haben? und wie viele haben Luthern verbeßert? Auch Sie beklagens, daß die Romanze, ursprünglich so edle und feierliche Dichtart bei uns zu Nichts, als zum Niedrigkomischen und Abentheuerlichen gebraudit, oder vielmehr gemißbraucht werde — ich beklage es gewiß mit: denn wie wahrer, tiefer und daurender ist das Vergnügen, das eine sanfte oder rührende Romanze des alten Englands oder der Provinzialen, und eine neuere Deutsche voll niedrigen abgebrauchten, pöbelhaften Spottes und Wortwitzes nadiläßt. Aber noch sonderbarer ists, daß in dieser letzten Gestalt die Romanze uns fast nur bekannt geworden zu seyn scheint. G l e i m sang seine M a r i a n n e so schön — ich sage, er sang sie schön: denn eigentlich ist das Stück Zug vor Zug eine alte Französische Romanze, die Sie, (wenn Sie das noch nicht wissen,) wie mich dünkt, auch in dem neuen dioix des Romances anciennes et modernes finden werden — und so sang man ihm nach. Seine beiden andern Stücke neigten sich ins Komische; die Nachsinger stürzten sich mit ganzem plumpen Leibe hinein, und so haben wir jetzt eine Menge des Zeugs, und alle nach Einem Schlage, und alle in der uneigentlichsten Romanzenart, und fast alle so gemein, so sehr aüf ein Einmaliges Lesen — daß, nach weniger Zeit, wir fast Nichts wieder, als die Gleimsdien übrig haben werden. Dazu kommt nun noch das, daß die wenigen fremden, die übersetzt sind, so sdilecht übersetzt sind, (idi führe Ihnen nur die s c h ö n e R o s e m u n d e , und A l k a n z o r und Ζ a i d e an, welche letztere noch den Vorzug hat, zweimal elend übersetzt zu seyn) und da der Ton nun Einmal gegeben ist: so singt man fort, und verfehlt also den ganzen Nutzen, den für unser jetziges Zeitalter diese Dichtart haben könnte, nämlich unsre L y r i s c h e n G e s ä n g e , O d e n , L i e d e r , und wie man sie sonst nennt, etwas zu e i n f ä l t i g e n , an einfachere Gegenstände und edlere Behandlung derselben zu gewöhnen, kurz uns von so manchem drückenden Schmuck zu befreien, der uns jetzt fast Gesetz geworden. Sehen Sie einmal, in welcher gekünstelten, überladnen, Gothisdien Manier die neuern sogenannten Philosophischen und 69

Pindarischen Oden der Engländer sind, die ihnen als Meisterstücke gelten! Von G r a y , von A k e n s i d e , von M a s o n u. s. w. ob wohl in ihnen Sylbenmaaß, oder Inhalt, oder Einkleidung die mindste Odenwürkung thun könne? Sehen Sie, in welche gekünstelte Horazische Manier wir Deutsche hie und da gefallen sind — Oßian, die Lieder der Wilden, der Skalden, Romanzen, Provinzialgedidite könnten uns auf beßern Weg bringen, wenn wir aber audi hier nur mehr als Form, als Einkleidung, als Sprache lernen wollten. Zum Unglück aber fangen wir hiervon an, und bleiben hiebei stehen, und da wird wieder Nichts. — Irre idi midi, oder ists wahr, daß die schönsten Lyrischen Stücke, die wir schon jetzt haben, und längst gehabt haben, schon mit diesem männlichen, starken, festen Deutschen Ton übereinkommen, oder sich ihm nähern — was wäre nicht also von der Aufweckung mehrerer solcher zu hoffen! — Nadisdirift J a Nachschrift! wo keine Schrift, wo lauter Umrede rings um das leider! halb erlosdine und entstellte Schaustück der Menschlichen Natur Oßian, ist, oder es höchstens ewige Vorrede wird, zu dem was kommen will und kommen soll und nie kommt. Laßen Sie uns also, m. Fr., da die Sache einmal so liegt, dem klügern? oder blödern? Theil des Publikum wenigstens ein favete Unguis ins Ohr lispeln, wie nichtig es mit Einkleidung des Briefwechsels, der versprochnen Psychologie Oßians, (wenn der Druckfehler anzumerken werth ist) die Fabelreise zu seinen Inseln völlig zu gesdiweigen, stehen müße! wie untreu eine Skandinavische Übersetzung sei, wo der Autor nur aus Übersetzung und höchstens Wortansicht translatirte, zumal endlich wie solch Geschwätz, außer dem vielleicht, was es hie und da sage, so wenig Muster seyn könne und wolle, wie etwas der Art in der Welt z u s a g e n s e y ? Überhaupt schien damals die Lyrische Natur, zu der auch Oßian gebrodine Endtöne liefert, dem Briefwechsler noch so fernher zu tönen, daß er natürlich in die Mine des Lauschers fallen muste, der zu hören glaubt, wo andre vielleicht nichts hören, oder das sausende Kind der Lüfte. Glücklich, daß er alle seinen kritischen Wahn- und Ahndungsglauben jetzt durch Eine Erscheinung übertroffen sieht, der er mit Pindarischem Schwünge seinen Kranz zuwerfen wollte, 70

wenn der Kranz nicht dahin verdorrte. Kein kritischer Schöpfeimer, und alle Fässer der Danaiden geben Waßer, w o kein Quell ist — und es ist und wird ewig allein jener wunderthätige Huf des Flügelroßes von Genie bleiben, der anschlägt und der siebenfache Quell strömet. Siebenfacher Quell! Wenn Deutsches Ohr noch mehr als Wortklanges und SyIbenbaues fähig ist! wenns kein Mährchen vom ersten April seyn und bleiben darf, daß die Göttin Harmonie des Griechischen Himmels Kind — nodi Einmal mit der Asträa oder Uranischen Venus unser tiefes Cimmerien besuchen würde; am meisten aber, wenn die volle, gesunde, blühende Weltjugend wieder hergestellt werden kann und soll, daß in Ode und Tischgebet, Kirchen- und Liebesgesange das Herz und kein Regelncodex, kein Horaz, Pindar oder Orbil statt unser, sprechen dörfe — eine Göttererscheinung auf dem Blumengürtel der Grazien und Genien des Menschlichen Geschlechts darf so wenig Aus- und Zurufs, als sie den Augen soldier Hinzugerufnen auch nur sichtbar seyn kann. vulgus & arceo! Allerdings wars nur immer „Lyrischen Stabs Ende!" wie unsre Lehrbücher sich zeither mit Ode, Hymne, Psalm, Elegie und womit nicht? getragen! — Gemälde zu liefern, ohne Subjekt, blos des künstlich angelegten und so wohl unterhaltnen Gesichtspunkts, Kompositionsgeistes, Kolorits und alles andern feinern Details wegen! Dies allein aus der Autorität Eines fremden Vorbildes zu lernen, bei dem doch hundert conventionelle Befremdnisse eben der Schleier sind, in dem wirs zuerst und zuletzt sehen, es mit Deutschem Kopf, Fleiß, Glück und Ehrlichkeit zu studiren, und sich ihm aufzuopfern; endlich gar den Wohlklang nur in Sylbenbau, Strophenbau, und Regionen der Perioden-Deklamation zu setzen, und Alles durdi die Kunst zu heben, . — die wie die Flote tönet, oder über die Flöte sich hebt. Aus Alle diesem muß nur immer ein R e m b r a n d und obgleich R e m b r a n d ein grosser Meister

werden,

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Heil uns, m. Fr. zu unserm — wie soll ich sagen? G u i d o , C o r r e g i o oder R a p h a e l ! Aber Engelgesichte hat er gemahlt in Menschengestalt! Siehe dies Bild! welche Wahrheit! Leben! tiefe Seele! wie heben sich die Figuren von der Leinwand hervor, und sprechen (nicht mit uns! uns sehen sie nicht an! denn sie sind nicht für uns gemahlt!) aber unter sich, wie handeln, wie sprechen sie, und enthüllen uns Gesicht und Seele. Wehe, der hier ausruft: „das war nodi Einmal gesungen!" sondern der es still fühlt, „das muß so empfunden gewesen seyn, oder" — Ode! sie wird wieder, was sie war! Gefühl ganzer Situation des Lebens! Gespräch Menschlichen Herzens — mit Gott! mit sich! mit der ganzen Natur. Wohlklang! er wird, was er war. Kein aufgezähltes H a r monienkunststück! Bewegung! Melodie des Herzens! Tanz! In Fehlern und Eigenheiten, wie ist ein Genie noch überall lehrend! Daß wir doch schon, m. Fr., eine Komposition über „den Allgegenwärtigen! die Frühlingsfeier" und dergl. hörten! oder vielmehr, daß diese Stücke der Musik schon Gepräge wiedergegeben hätten, was sie — ehedem gehabt hat, und nicht mehr hat. Laßen Sie mich um vom ecklen Lobe abzukommen, mit Ein, zwei Wünschen hierüber schliessen. Unser jetzige Musikalische Poesienbau — welch ein Gothisches Gebäude! Wie fallen die Massen aus einander? Wo Verflössung? Übergang? Fortleitung bis zum Taumel? bis zur Täuschung schönen Wahnsinnes? Wo endlich der feine Mittelpunkt, daß keine beider Schwestern herrsche oder diene — ihr Pieriden und Kastalinnen, wo? Unsre eigentliche Kirchenmusiken haben nodi eine erbärmlichere Gestalt. Das Erste, das berühmteste von Allen, R a m l e r s T o d J e s u , a l s Werk des Genies, der Seele, des Herzens, auch nur des Menschenverstandes, (s.v.v.) welch ein Werk! Wer spricht? wer singt? erzählt sich Etwas in den Recitativen — so kalt! so scholastisch! als kaum jener Simon von K a n a würde gethan haben, da er vom Felde kam, und vorbei zu streichen Lust hatte. Und nun zwischen inne in Arien, in Choral, in Chören — wer spricht? wer singt? Auf Einmal eine nützliche Lehre aus der biblischen Geschichte gezogen, locus communis in der besten Gestalt! und dazu beinahe in allen Personen und Dichtungen des Lebens! und von einer zur andern mit den 7*

sonderbarsten Sprüngen! Durchs Ganze kein Standpunkt! kein fortgehender Faden der Empfindung, des Plans, des Zwecks — R. Tod Jesu ist ein erbauliches, nützliches Werk, das ich in solchem Betracht tausendmal beneidet habe! Jede Arie ist fast ein schönes Ganze! Viele Recitative auch — aber als Poetisches Werk des Genies — für die Musik! — Hr. R. hat selbst ein viel zu feines Gefühl, als daß er das nicht weit inniger bemerke. Seine H i r t e n b e i d e r K r i p p e ! Welche Poesie für die Musik? welch ein Plan? welch ein Ganzes? Das Vordere zu hinterst, und es ist fast noch immer derselbe Eindruck! Idylleneindruck, wo lauter Schäferbilder und Worte und von Anfang bis zu Ende kein Zug und Hauch einer Hirtenseele ist! blos eine Maske Jesaias, Virgils und Pope in Schäferkleidern! — Und endlich Poesie zur Musik — wo im ganzen Stück nur Bilder, und keine Empfindung! Bilder für die Leinwand, (da die Lanze ζ. E. Zeilen hindurch in die Erde wurzelt, empor strebt, steht, grünt, wird ein Palmbaum u. s. w.) durchaus nicht für den Tonschöpfer! So weiterhin — und was wäre von seiner A u f e r s t e h u n g zu sagen? Und nun, wie bearbeiten unsre Tonkünstler das Alles n a c h d e m e i n m a l h e r g e b r a c h t e n L e i s t e n ? Da doch eben der Ursprung dieses Leistens, die Umstände, unter welchen er entstanden u.s.w., wo nicht Jedermann, so doch gewiß uns Deutschen zurufen müste: „nicht nachgeahmt, oder ihr bleibt ewig hinten! und es wird ewig Schande seyn, einen M ä n t e r an M e t a s t a s i o zu messen!" Was das aber nun für eine Gattung Poesie sey, die wahre Mittelgattung zwischen Gemälde und Musik! und was das für eine Gattung Musik sey, die über Poesie nicht herrschet

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7· Shakespear

Wenn bei einem Manne mir jenes ungeheure Bild einfällt: »hoch auf einem Felsengipfel sitzend! zu seinen Füssen Sturm, Ungewitter und Brausen des Meers; aber sein Haupt in den Stralen des Himmels!" so ists bei S h a k e s p e a r ! — N u r freilich auch mit dem Zusatz, wie unten am tiefsten Fusse seines Felsenthrones Haufen murmeln, die ihn — erklären, retten, verdammen, entschuldigen, anbeten, verläumden, übersetzen und lästern! — und die Er alle nicht höret! Welche Bibliothek ist schon über, für und wider ihn geschrieben! — die ich nun auf keine Weise zu vermehren Lust habe. Ich möchte es vielmehr gern, daß in dem kleinen Kreise, wo dies gelesen wird, es niemand mehr in den Sinn komme, über, f ü r und wider ihn zu schreiben: ihn weder zu entschuldigen, nodi zu verläumden; aber zu erklären, zu fühlen wie er ist, zu nützen, und — wo möglich! — uns Deutschen herzustellen. Trüge dies Blatt dazu etwas bei! Die kühnsten Feinde Shakespeare haben ihn — unter wie vielfachen Gestalten! beschuldigt und verspottet, daß er, wenn audi ein grosser Dichter, doch kein guter Sdiauspieldichter, und wenn auch dies, dodi wahrlich kein so klassischer Trauerspieler sey, als S o p h o k l e s , E u r i p i d e s , C o r n e i l l e und V o l t a i r e , die alles Höchste und Ganze dieser Kunst erschöpft. — Und die kühnsten Freunde Shakespeare haben sich meistens nur begnüget, ihn hierüber zu e n t s c h u l d i g e n , zu r e t t e n : seine Schönheiten nur immer mit Anstoß gegen die Regeln zu wägen, zu kompensiren; ihm als Angeklagten das absolvo zu erreden, und denn sein Grosses desto mehr zu vergöttern, je mehr sie über Fehler die Achsel ziehen musten. So stehet die Sache noch bei den neuesten Herausgebern und Kommentatoren über ihn— ich hoffe,diese Blätter sollen den Gesichtspunkt verändern, daß sein Bild in ein volleres Licht kommt. 74

Aber ist die Hoffnung nicht zu kühn? gegen so viele, grosse Leute, die ihn schon behandelt, zu anmassend? ich glaube nicht. Wenn ich zeige, daß man von beiden Seiten blos auf ein V o r u r t h e i 1, auf Wahn gebauet, der nichts ist, wenn ich also nur eine Wolke von den Augen zu nehmen, oder höchstens das Bild beßer zu stellen habe, ohne im mindesten etwas im Auge oder im Bilde zu ändern: so kann vielleicht meine Zeit, oder ein Zufall gar schuld seyn, daß ich auf den Punkt getroffen, darauf ich den Leser nun fest halte, „hier stehe! oder du siehest nichts als Karrikatur!" Wenn wir den großen Knaul der Gelehrsamkeit denn nur immer auf- und abwinden solten, ohne je mit ihm weiter zu kommen — welches traurige Schicksal um dies höllische Weben! Es ist von Griechenland aus, daß man die Wörter D r a m a , T r a g ö d i e , K o m ö d i e geerbet; und so wie die Letternkultur des Menschlichen Geschlechts auf einem schmalen Striche des Erdbodens den Weg nur durch die T r a d i t i o n genommen, so ist in dem Schoosse und mit der Sprache dieser, natürlich auch ein gewißer Regelnvorrath überall mitgekommen, der von der Lehre unzertrennlich schien. Da die Bildung eines Kindes doch unmöglich durch Vernunft geschehen kann und geschieht; sondern durch Ansehen, Eindruck, Göttlichkeit des Beispiels und der Gewohnheit: so sind ganze Nationen in Allem, was sie lernen, noch weit mehr Kinder. Der Kern würde ohne Schlaube nicht wachsen, und sie werden auch nie den Kern ohne Schlaube bekommen, selbst wenn sie von dieser ganz keinen Gebrauch machen könnten. Es ist der Fall mit dem Griechischen und Nordischen Drama. In Griechenland entstand das Drama, wie es in Norden nicht entstehen konnte. In Griechenland wars, was es in Norden nicht seyn kann. In Norden ists also nicht und darf nicht seyn, was es in Griechenland gewesen. Also Sophokles Drama und Shakespears Dramâ sind zwei Dinge, die in gewißem Betracht kaum den Namen gemein haben. Ich glaube diese Sätze aus Griechenland selbst beweisen zu können, und eben dadurch die Natur des Nordischen Drama, und des größten Dramatisten in Norden, S h a k e s p e a r e sehr zu entziffern. Man wird Genese Einer Sache durch die Andre, aber zugleich Verwandlung sehen, daß sie gar nicht mehr Dieselbe bleibt. 75

Die Griechische Tragödie entstand gleichsam aus Einem Auftritt, aus dem Impromptu des Dityramben, des mimischen Tanzes, des C h o r s . Dieser bekam Zuwachs, Umschmelzung: A e s c h y l u s brachte statt Einer handelnden Person zween auf die Bühne, erfand den Begriff der Hauptperson, und verminderte das Chormässige. S o p h o k l e s fügte die dritte Person hinzu, erfand Bühne — aus solchem Ursprünge, aber spät, hob sich das Griechische Trauerspiel zu seiner Grösse empor, ward Meisterstück des Menschlichen Geistes, Gipfel der Dichtkunst, den Aristoteles so hoch ehret, und wir freilich nicht tief gnug in S o p h o k l e s und E u r i p i d e s bewundern können. Man siehet aber zugleich, daß aus diesem Ursprünge gewiße Dinge erklärlich werden, die man sonst, als todte Regeln angestaunet, erschrecklich verkennen müssen. Jene S i m ρ 1 i c i t a t d e r G r i e c h i s c h e n F a b e l , jene N ü c h t e r n h e i t G r i e c h i s c h e r S i t t e n , jenes f o r t a u s g e h a l t ne Κ o t h u r η m ä s s i g e des A u s d r u c k s , M u s i k , B ü h n e , E i n h e i t d e s O r t s u n d d e r Z e i t — das Alles lag ohne Kunst und Zauberei so natürlich und wesentlich im Ursprünge Griechischer Tragödie, daß diese ohne Veredlung zu alle Jenem nicht möglich war. Alles das war Schlaube, in der die Frucht wuchs. Tretet in die Kindheit der damaligen Zeit zurück: S i m ρ 1 i c i t ä t d e r F a b e l lag würklich so sehr in dem, was H a n d l u n g d e r V o r z e i t , der R e p u b l i k , des V a t e r l a n d e s , der R e l i g i o n , was H e l d e n h a n d l u n g hieß, daß der Dichter eher Mühe hatte, in dieser einfältigen Grösse Theile zu entdecken, Anfang, Mittel und Ende Dramatisch hineinzubringen, als sie gewaltsam zu sondern, zu verstümmeln, oder aus vielen, abgesonderten Begebenheiten Ein Ganzes zu kneten. Wer jemals A e s c h y l u s oder S o p h o k l e s gelesen, müste das nie unbegreiflich finden. Im Ersten was ist die Tragödie als oft ein A l l e g o r i s c h - M y t h o l o g i s c h h a l b E p i s c h e s G e m ä l d e , fast ohne Folge der Auftritte, der Geschichte, der Empfindungen, oder gar, wie die Alten sagten, nur noch C h o r , dem einige Geschichte zwischengesetzt war—konnte hier über Simplicität der Fabel die geringste Mühe und Kunst seyn? Und wars in den meisten Stücken des Sophokles anders? Sein P h i l o k t e t , A j a x , vertriebner O e d i p u s u.s.w. nähern sich noch immer so sehr dem Ein76

artigen ihres Ursprunges, dem D r a m a t i s c h e n B i l d e m i t t e n i m C h o r . Kein Zweifel! es ist Genesis der Griediisdien Bühne. Nun sehe man, wie viel aus der simpeln Bemerkung folge. Nichts minder als: „das Künstliche ihrer Regeln war — keine Kunst! war Natur!" — Einheit der Fabel — war Einheit der Handlung, die vor i h n e n lag; die nach ihren Zeit- Vaterlands- Religions- Sittenumständen, nicht anders als solch ein Eins seyn konnte. E i n h e i t d e s O r t s — war Einheit des Orts; denn die Eine, kurze feierliche Handlung ging nur an Einem Ort, im Tempel, Pallast, gleichsam auf einem Markt des Vaterlandes vor: so wurde sie im Anfange, nur mimisch und erzählend nachgemacht und zwischengeschoben; so kamen endlich die Auftritte, die Scenen hinzu — aber alles natürlich nodi Eine Scene, wo der Chor Alles band, wo der Natur der Sache wegen Bühne nie leer bleiben konnte u. s. w. Und daß Einheit der Zeit nun hieraus folgte und natürlich mitging — welchem Kinde brauchte das bewiesen zu werden? Alle diese Dinge lagen damals in der N a t u r , daß der Dichter mit alle seiner Kunst ohne sie nichts konnte! Offenbar siehet man also auch: die Kunst der Griechischen Dichter nahm ganz den entgegen gesetzten Weg, den man uns heut zu Tage aus ihnen zuschreiet. Jene s i m p l i f i c i r t e n nicht, denke idi, sondern sie v e r v i e l f ä l t i g t e n : A e s c h y l u s den C h o r , S o p h o k l e s den A e s c h y l u s , und man darf nur die künstlichsten Stücke des letztern, und sein grosses Meisterstück, den O e d i p u s i n T h e b e gegen den P r o m e t h e u s , oder gegen die Nachrichten vom alten D i t h y r a m b halten: so wird man die erstaunliche Kunst sehen, die ihm dahinein zu bringen gelang. Aber niemals Kunst aus Vielem ein Eins zu machen, sondern eigentlich aus Einem ein Vieles, ein schönes Labyrinth von Scenen, wo seine gröste Sorge blieb, an der verwickeltsten Stelle des Labyrinths seine Zuschauer mit dem Wahn des vorigen Einen umzutauschen, den Knäuel ihrer Empfindungen so sanft und allmählich los zu winden, als ob sie ihn noch immer ganz hätten, die vorige Dithyrambische Empfindung. Dazu zierte er ihnen die Scene aus, behielt ja die Chöre bei, und machte sie zu Ruheplätzen der Handlung, erhielt Alle mit jedem Wort im Anblick des Ganzen, in Erwartung, in Wahn des Werdens, des S c h o n 77

h a b e η s , (was der lehrreiche E u r i p i d e s nachher sogleich, da die Bühne kaum gebildet war, wieder verabsäumte!) Kurz, er gab der Handlung (eine Sache, die man so erschrecklich mißverstehet) G r ö s s e . Und daß A r i s t o t e l e s diese Kunst seines Genies in ihm zu schätzen wüste, und eben in Allem, fast das Umgekehrte war, was die neuern Zeiten aus ihm zu drehen beliebt haben, miiste Jedem einleuchten, der ihn ohne Wahn und im Standpunkte seiner Zeit gelesen. Eben daß er T h e s p i s und A e s c h y l u s verließ, und sich ganz an den v i e l f a c h dichtenden S o p h o k l e s hält, daß er eben von dieser s e i n e r N e u e r u n g ausging, in sie das W e s e n der neuen Dichtgattung zu setzen, daß es sein Lieblingsgedanke ward, nun einen neuen H o m e r zu entwickeln, Und ihn so vortheilhaft mit dem Ersten zu vergleichen; daß er keinen unwesentlichen Umstand vergaß, der nur in der Vorstellung seinen Begriff der G r ö s s e h a b e n d e n Handlung unterstützen konnte — Alle das zeigt, daß der grosse Mann audi im grossen Sinn seiner Zeit philosophirte, und nichts weniger als an den verengernden kindischen Läppereien schuld ist, die man aus ihm später zum Papiergerüste der Bühne machen wollen. Er hat offenbar, in seinem vortrefliehen Kapitel vom Wesen der Fabel „keine andre Regeln gewußt und anerkannt, als den Blick des Zuschauers, Seele, Illusion!" und sagt ausdrücklich, daß sich sonst die S c h r a n k e n ihrer Länge, mithin noch weniger Art oder Zeit und Raum des Baues durch keine Regeln bestimmen laßen. O wenn Aristoteles wieder auflebte, und den falschen, widersinnigen Gebrauch seiner Regeln bei Drama's ganz andrer Art sähe! — Doch wir bleiben noch lieber bei der stillen, ruhigen Untersuchung. Wie sich Alles in der Welt ändert: so muste sich auch die Natur ändern, die eigentlich das Griechische Drama schuf. W e l t v e r f a ß u n g , Sitten, Stand der Republik e n , T r a d i t i o n d e r H e l d e n z e i t , G l a u b e , selbst M u s i k , A u s d r u c k , M a a s d e r I l l u s i o n wandelte: und natürlich schwand auch Stoff zu Fabeln, Gelegenheit zu der Bearbeitung, Anlaß zu dem Zwecke. Man konnte zwar das Uralte, oder gar von andern Nationen ein Fremdes herbei holen, und nach der gegebnen Manier bekleiden: das that Alles aber 78

nicht die Würkung: folglich war in Allem auch nicht die Seele: folglich wars auch nicht (was sollen wir mit Worten spielen?) das Ding mehr. Puppe, Nachbild, Affe, Statiie, in der nur noch der andächtigste Kopf den Dämon finden konnte, der die Statüe belebte. Laßet uns gleich (denn die Römer waren zu dumm, oder zu klug, oder zu wild und unmässig, um ein völlig gräcisirendes Theater zu errichten) zu den neuen Atheniensern Europens übergehen, und die Sache wird, dünkt mich, offenbar. Alles was Puppe des Griechischen Theaters ist, kann ohne Zweifel kaum vollkommner gedacht und gemacht werden, als es in Frankreich geworden. Ich will nicht blos an die sogenannten Theaterregeln denken, die man dem guten Aristoteles beimißt, E i n h e i t d e r Z e i t , d e s O r t s , d e r H a n d l u n g , BindungderScenen,Wahrscheinlichkeitdes B r e t t e r g e r ü s t e s u.s.w., sondern würklich fragen, ob über das gleissende, klassische Ding, was die C o r n e i l l e , R a c i n e und V o l t a i r e gegeben haben, über die Reihe schöner A u f t r i t t e , G e s p r ä c h e , V e r s e und R e i m e , mit der A b m e s s u n g , dem W o h l s t a n d e , dem G l ä n z e — etwas in der Welt möglich sey? Der Verfaßer dieses Aufsatzes zweifelt nicht bloß daran, sondern alle Verehrer V ο 11 a i r s und der Franzosen, zumal diese edlen Athenienser selbst, werden es geradezu l ä u g n e n — habens ja audi schon gnug gethan, thuns und werdens thun, „über das geht nichts! das kann nicht übertroffen werden!" Und in den Gesichtspunkt des Übereinkommnißes gestellt, die Puppe aufs Bretterngerüste gesetzt — haben sie redit, und müßens von Tag zu Tage, je mehr man sidi in das Gleissende vernarrt, und es nachäffet, in allen Ländern Europens mehr bekommen. Bei alle dem ists aber doch ein drückendes unwiderstehliches Gefühl „das ist keine Griechische Tragödie! von Zweck, Würkung, Art, Wesen kein Griechisches Drama!" und der partheiischte Verehrer der Franzosen kann, wenn er Griechen gefühlt hat, das nicht läugnen. Ich wills gar nicht einmal untersuchen, „ob sie audi ihren Aristoteles den Regeln nach so beobachten, wie sies vorgeben", wo L e ß i η g gegen die lautesten Anmaassungen neulich schreckliche Zweifel erregt hat. Das Alles aber auch zugegeben, Drama ist nicht dasselbe; warum? weil im Innern nichts von ihm Dasselbe mit Jenem ist, nicht Handlung, Sitten, Sprache, Zweck, nichts — und was hülfe also alles 79

Äussere so genau erhaltne Einerlei? Glaubt denn wohl jemand, daß Ein Held des grossen C o r n e i l l e ein Römischer oder Französischer Held sey? Spanisch-Senekasche Helden! galante Helden, abentheurlich tapfere, großmüthige, verliebte, grausame Helden, also Dramatische Fiktionen, die ausser dem Theater Narren heissen würden, und wenigstens für Frankreich schon damals halb so fremde waren, als sies jetzt bei den meisten Stücken ganz sind — das sind sie. R a c i n e spricht die Sprache der Empfindung — allerdings nach diesem Einen zugegebnen Übereinkommniße ist nichts über ihn; aber ausser dem auch — wüste ich nicht, wo Eine Empfindung so spräche? Es sind Gemälde der Empfindung von dritter fremder Hand; nie aber oder selten die unmittelbaren, ersten, ungeschminkten Regungen, wie sie Worte suchen und endlich finden. Der schöne V ο 11 ä r sehe Vers, sein Zuschnitt, Inhalt, Bilderwirthschaft, Glanz, Witz, Philosophie — ist er nicht ein schöner Vers? Allerdings! der sdiönste, den man sich vielleicht denken kann, und wenn ich ein Franzose wäre, würde ich verzweifeln, hinter Voltar Einen Vers zu machen — aber schön oder nicht schön, kein Theatervers! für Handlung, Sprache, Sitten, Leidenschaften, Zweck eines (anders als Französischen) Drama, ewige Schulchrie, Lüge und Galimathias! Endlich Z w e c k des Allen? durchaus kein Griechischer, kein tragischer Zweck! Ein schönes Stück, wenn es audi eine schöne Handlung wäre, auf die Bühne zu bringen! eine Reihe artiger, wohlgekleideter Herrn und Dames schöne Reden, auch die schönste und nützlichste Philosophie in schönen Versen vortragen zu laßen! sie allesamt auch in eine Geschichte dichten, die einen Wahn der Vorstellung gibt, und also die Aufmerksamkeit mit sich fortzieht! endlich das alles auch durch eine Anzahl wohlgeübter Herrn und Dames vorstellen laßen, die würklich viel auf Deklamation, Stelzengang der Sentenzen und Aussenwerke der Empfindung, Beifall und Wohlgefallen anwenden — das Alles können vortrefliche und die besten Zwecke zu einer lebendigen Lecture, zur Übung im Ausdruck, Stellung und Wohlstande, zum Gemälde guter oder gar Heroischer Sitten, und endlich gar eine völlige Akademie der Nationalweisheit und Decence im Leben und Sterben werden, (alle Nebenzwecke übergangen) schön! bildend! lehrreich! vortreflich! durchaus aber weder H a n d noch Fuß vom Zweck des Griechischen Theaters. 80

Und welches war der Zweck? Aristoteles hats gesagt, und man hat gnug darüber gestritten — nichts mehr und minder, als eine g e w i s s e Erschütterung des Herzens, die E r r e g u n g der Seele i n g e w i s s e m M a a ß und von g e w i s s e n S e i t e n , kurz! eine G a t t u n g l l l u s i o n , die wahrhaftig! noch kein Französisches Stück zuwege gebracht hat, oder zuwege bringen wird. Und folglich (es heisse so herrlich und nützlich, wie es wolle) Griechisches Drama ists nicht! Trauerspiel des S o p h o k l e s ists nicht. Als Puppe ihm noch so gleich; der Puppe fehlt Geist, Leben, Natur, Wahrheit — mithin alle Elemente der Rührung — mithin Zweck und Erreichung des Zwecks — ists also dasselbe Ding mehr? Hiemit würde noch nichts über Werth und Unwerth entschieden, es wäre nur blos von Verschiedenheit die Rede, die ich mit dem Vorigen ganz ausser Zweifel gesetzt glaube. Und nun gebe ichs jedem anheim, es selbst auszumachen, „ob eine Kopirung fremder Zeiten, Sitten und Handlungen in Halbwahrheit, mit dem köstlichen Zwecke, sie der zweistündigen Vorstellung auf einem Bretterngerüste fähig und ähnlich zu machen, wohl einer N a c h b i l d u n g gleich- oder übergeschätzt werden könne, die in gewißem Betracht die höchste Nationalnatur war?" ob eine Dichtung, deren Ganzes eigentlich (und da wird sich jeder Franzose winden oder vorbei singen müßen) g a r k e i n e n Z w e c k hat — das Gute ist nach dem Bekänntniß der besten Philosophen nur eine Nachlese im Detail — ob die einer L a n d e s a n s t a l t gleichgeschätzt werden kann, wo in jedem kleinen Umstände Würkung, höchste, schwerste Bildung lag? Ob endlich nicht eine Zeit kommen müste, da man, wie die meisten und künstlichsten Stücke C o r n e i l l e n s schon vergeßen sind, C r e b i 11 ο η und V o l t a i r e mit der Bewundrung ansehen wird, mit der man jetzt die A s t r ä a des Hrn. v o n U r f e , und alle C 1 e 1 i e η und A s ρ a s i e η der Ritterzeit ansieht, „voll Kopf und Weisheit! voll Erfindung und Arbeit! es wäre aus ihnen so viel! viel zu lernen — aber Schade! daß es in der A s t r ä a und C l e l i a ist." Das Ganze ihrer Kunst ist ohne Natur, ist abentheuerlich, ist e ekel! — Glücklich wenn wir im Geschmack der Wahrheit schon an der Zeit wären! Das ganze Französische Drama hätte sich in eine Sammlung schöner Verse, Sentenzen, Sentimens verwandelt — aber der grosse S o p h o k l e s s t e h e t n o c h , w i e e r i s t ! 8i 6

Rasch, Der junge Herder

Laßet uns also ein Volk setzen, das aus Umständen, die wir nicht untersuchen mögen, Lust hätte, sich statt nachzuäffen und mit der Wallnußschaale davon zu laufen, selbst lieber s e i n D r a m a z u e r f i n d e n : so ists, dünkt midi, wieder erste Frage: w e n n ? w o ? u n t e r w e l c h e n U m s t ä n d e n ? w o r a u s s o l l s d a s t h u n ? und es braucht keines Beweises, daß die Erfindung nichts als Resultat dieser Fragen seyn wird und seyn kann. Holt es sein Drama nicht aus Chor, aus Dithyramb her: so kanns auch nichts Chormässiges, Dithyrambisches haben. Läge ihm keine soldie Simplicität von Faktis der G e s c h i c h t e , T r a d i t i o n , H ä u s l i c h e n , und S t a a t s und R e l i g i o n s b e z i e h u n g e n vor — natürlich kanns nichts von Alle dem haben. — Es wird sich, wo möglich, sein Drama nach seiner Geschichte, nach Zeitgeist, Sitten, Meinungen, Sprache, Nationalvorurtheilen, Traditionen, und Liebhabereien, wenn auch aus Fastnadits- und Marionettenspiel (eben, wie die edlen Griechen aus dem Chor) e r f i n d e n — und das Erfundne wird Drama seyn, wenn es bei diesem Volk Dramatischen Zweck ereicht. Man sieht, wir sind bei den toto divisis ab orbe Britannis und ihrem grossen S h a k e s p e a r . Daß da, und zu der und vor der Zeit kein Griechenland war, wird kein pullulus Aristotelis läugnen, und hier und da also Griechisches Drama zu fodera, daß es n a t ü r l i c h (wir reden von keiner Nachäffung) entstehe, ist ärger, als daß ein Schaaf Löwen gebären solle. Es wird allein erste und letzte Frage: „wie ist der Boden? worauf ist er zubereitet? was ist in ihn gesäet? was sollte er tragen können?" — und Himmel! wie weit hier von Griechenland weg! Geschichte, Tradition, Sitten, Religion, Geist der Zeit, des Volks, der Rührung, der Sprache — wie weit von Griechenland weg! Der Leser kenne beide Zeiten viel oder wenig, so wird er dodi keinen Augenblick verwechseln, was nichts Ähnliches hat. Und wenn nun in dieser glücklich oder unglücklich veränderten Zeit, es eben Ein Alter, Ein Genie gäbe, das aus seinem Stoff so natürlich, groß, und original eine Dramatische Schöpfung zöge, als die Griechen aus dem Ihren — und diese Schöpfung eben aut den verschiedensten Wegen dieselbe Absicht erreichte, wenigstens an sich ein weit vielfach Einfältiger und Einfach vielfältiger — also (nach aller metaphysischen Definition) ein vollkommenes Ganzes wäre — 82

was für ein Thor, der nun vergliche und gar verdammte, weil dies Zweite nicht das Erste sey? Und alle sein Wesen, Tugend und Vollkommenheit beruht ja darauf, daß es nicht das Erste ist: daß aus dem Boden der Zeit, eben die andre Pflanze erwuchs. S h a k e s p e a r fand vor und um sich nichts weniger als Simplicität von Vaterlandssitten, Thaten, Neigungen und Geschichtstraditionen, die das Griechische Drama bildete, und da also nach dem Ersten metaphysischen Weisheitssatze aus Nichts Nichts wird, so wäre, Philosophen überlaßen, nicht blos kein Griechisches, sondern wenns außerdem Nichts giebt, auch gar kein Drama in der Welt mehr geworden, und hätte werden können. Da aber Genie bekanntermaassen mehr ist, als Philosophie, und Schöpfer ein ander Ding, als Zergliederer: so wars ein Sterblicher mit Götterkraft begabt, eben aus dem entgegen gesetztesten Stoff, und in der verschiedensten Bearbeitung dieselbe Würkung hervor zu rufen, F u r c h t und M i t l e i d ! und beide in einem Grade, wie jener Erste Stoff und Bearbeitung es kaum vormals hervorzubringen vermocht! — Glücklicher Göttersohn über sein Unternehmen! Eben das Neue, Erste, ganz Verschiedne zeigt die Urkraft seines Berufs. S h a k e s p e a r fand keinen Chor vor sich; aber wohl Staats- und Marionettenspiele — wohl! er bildete also aus diesen Staats- und Marionettenspielen, dem so schlechten Leim! das herrliche Geschöpf, das da vor uns steht und lebt! Er fand keinen so einfachen Volks- und Vaterlandscharakter, sondern ein Vielfaches von Ständen, Lebensarten, Gesinnungen, Völkern und Spracharten — der Gram um das Vorige wäre vergebens gewesen; er dichtete also Stände und Menschen, Völker und Spracharten, König und Narren, Narren und König zu dem herrlichen Ganzen! Er fand keinen so einfachen Geist der Geschichte, der Fabel, der Handlung: er nahm Geschichte, wie er sie fand, und setzte mit Schöpfergeist das verschiedenartigste Zeug zu einem Wunderganzen zusammen, was wir, wenn nicht H a n d l u n g im Griechischen Verstände, so A k t i o n im Sinne der mittlem, oder in der Sprache der neuern Zeiten B e g e b e n h e i t (evenement) grosses E r ä u g η i ß nennen wollen — o Aristoteles, wenn du erschienest, wie würdest du den neuen Sophokles Homerisiren! würdest so eine eigne Theorie über ihn dichten, die jetzt seine Landsleute,

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H o m e und H u r d , P o p e und J o h n s o n noch nicht gedichtet haben! Würdest dich freuen, von Jedem deiner Stücke, Handlung,Charakter,Meinungen,Ausdruck, B ü h n e wie aus zwei Punkten des Dreiecks Linien ziehen zu können, die sich oben in Einem Punkte des Zwecks, der V o l l k o m m e n h e i t begegnen! Würdest zu Sophokles sagen: mahle das heilige Blatt dieses Altars! und du o Nordisdier Barde alle Seiten und Wände dieses Tempels in dein unsterbliches Fresko! Man laße midi als Ausleger und Rhapsodisten fortfahren: denn idi bin Shakespear näher als dem Griechen. Wenn bei diesem das Eine einer H a n d l u n g herrscht: so arbeitet Jener auf das Ganze eines E r ä u g n i s s e s , einer B e g e b e n h e i t . Wenn bei Jenem E i n T o n der Charaktere herrschet, so bei diesem alle Charaktere, Stände und Lebensarten, so viel nur fähig und nöthig sind, den Hauptklang seines Concerts zu bilden. Wenn in Jenem E i n e singende feine Sprache, wie in einem höhern Äther tönet, so spricht dieser die Spardie aller Alter, Menschen und Menschenarten, ist Dollmetscher der Natur in all' ihren Zungen — und auf so verschiedenen Wegen beide Vertraute Einer Gottheit? — Und wenn Jener G r i e c h e n vorstellt und lehrt und rührt und bildet, so lehrt, rührt und bildet Shakespear Nordische M e n s c h e n ! Mir ist, wenn ich ihn lese, Theater, Akteur, Koulisse verschwunden! Lauter einzelne im Sturm der Zeiten wehende Blätter aus dem Buch der Begebenheiten, der Vorsehung, der Welt! — einzelne Gepräge der Völker, Stände, Seelen! die alle die verschiedenartigsten und abgetrenntest handelnden Maschienen, alle — was wir in der H a n d des Weltschöpfers sind — unwißende, blinde Werkzeuge zum Ganzen Eines theatralischen Bildes, Einer Größe habenden Begebenheit, die nur der Dichter überschauet. Wer kann sich einen grössern Dichter der Nordischen Menschheit und in dem Zeitalter! denken! Wie vor einem Meere von Begebenheit, wo Wogen in Wogen rausdien, so tritt vor seine Bühne. Die Auftritte der Natur rücken vor und ab; würken in einander, so Disparat sie scheinen; bringen sich hervor, und zerstören sich, damit die Absicht des Schöpfers, der alle im Plane der Trunkenheit und Unordnung gesellet zu haben schien, erfüllt werde — dunkle kleine Symbole zum Sonnenriß einer Theodicee Gottes. L e a r , der rasche, warme, edelschwache Greis, wie er da vor seiner Landdiarte 84

steht, und Kronen wegschenkt und Länder zerreißt — in der Ersten Scene der Erscheinung trägt schon allen Saamen seiner Schicksale zur Ernte der dunkelsten Zukunft in sich. Siehe! der gutherzige Verschwender, der rasche Unbarmherzige, der kindische Vater wird es bald seyn audi in den Vorhöfen seiner Töchter — bittend, betend, bettelnd, fluchend, schwärmend, segnend, — adi, Gott! und Wahnsinn ahndend. Wirds seyn bald mit blossem Scheitel unter Donner und Blitz, zur untersten Klaße von Menschen herabgestürzt, mit einem Narren und in der Hole eines tollen Bettlers Wahnsinn gleichsam pochend vom Himmel herab. — Und nun ist wie ers ist, in der ganzen leichten Majestät seines Elends und Verlassens; und nun zu sich kommend, angeglänzt vom letzten Strale der Hoffnung, damit diese auf ewig, ewig erlösche! Gefangen, die todte Wohlthäterin, Verzeiherin, Kind, Tochter auf seinen Armen! auf ihrem Leichnam sterbend, der alte Knecht dem alten Könige nachsterbend — Gott! welch ein Wechsel von Zeiten, Umständen, Stürmen, Wetter, Zeitläuften! und alle nicht blos Eine Geschichte — Helden und Staatsaktion, wenn du willt! von Einem Anfange zu Einem Ende, nach der strengsten Regel deines Aristoteles; sondern tritt näher, und fühle den M e n s c h e n g e i s t , der auch jede Person und Alter und Charakter und Nebending in das Gemälde ordnete. Zween alte Väter und alle ihre so versdiiedne Kinder! Des Einen Sohn gegen einen betrognen Vater unglücklich dankbar, der andre gegen den gutherzigsten Vater sdieuslidi undankbar und abscheulich glücklich. Der gegen seine Töchter! diese gegen ihn! ihre Gemal, Freier und alle Helfershelfer im Glück und Unglück. Der blinde Gloster am Arm seines unerkannten Sohnes, und der tolle Lear zu den Füßen seiner vertriebnen Tochter! und nun der Augenblick der Wegscheide des Glücks, da Gloster unter seinem Baume stirbt, und die Trompete rufet, alle Nebenumstände, Triebfedern, Charaktere und Situationen dahinein gedichtet — Alles im Spiel! zu Einem Ganzen sich fortwickelnd — zu einem V a t e r - und K i n d e r - , K ö n i g s - und N a r r e n - und B e t t l e r und E l e n d - G a n z e n zusammen geordnet, wo doch überall bei den Disparatsten Scenen Seele der Begebenheit athmet, wo örter, Zeiten, Umstände, selbst, möchte idi sagen, die heidnische S c h i c k s a l s - und S t e r n e n p h i l o s o p h i e , die durchweg herrschet, so zu diesem Ganzen gehören, daß idi 85

Nichts verändern, versetzen, aus andern Stücken hieher oder hieraus in andre Stücke bringen könnte. Und das wäre kein Drama? Shakespear kein Dramatischer Dichter? Der hundert Auftritte einer Weltbegebenheit mit dem Arm umfaßt, mit dem Blick ordnet, mit der Einen durchhauchenden, Alles belebenden Seele erfüllet, und nicht Aufmerksamkeit; Herz, alle Leidenschaften, die ganze Seele von Anfang bis zu Ende fortreißt — wenn nicht mehr, so soll Vater Aristoteles zeugen, „die Grösse des lebendigen Geschöpfs darf nur mit Einem Blick übersehen werden können" — und hier — Himmel! wie wird das Ganze der Begebenheit mit tiefster Seele fortgefühlt und geendet! — Eine Welt Dramatischer Geschichte, so groß und tief wie die Natur; aber der Schöpfer gibt uns Auge und Gesichtspunkt, so groß und tief zu sehen! In O t h e 11 o , dem Mohren, welche Welt! welch ein Ganzes! l e b e n d i g e G e s c h i c h t e der E n t s t e h u n g , Fortgangs, Ausbruchs, t r a u r i g e n Endes der Leid e n s c h a f t d i e s e s E d l e n U n g l ü c k s e l i g e n ! und in welcher Fülle, und Zusammenlauf der Räder zu Einem Werke! Wie dieser Jago, der Teufel in Menschengestalt, die Welt ansehn, und mit allen, die um ihn sind, spielen! und wie nun d i e Gruppe, ein Caßio und Rodrich, Othello und Desdemone in d e η Charakteren, mit d e m Zunder von Empfänglichkeiten seiner Höllenflamme, um ihn stehen muß, und jedes ihm in den Wurf kommt, und er Alles braucht, und Alles zum traurigen Ende eilet. — Wenn ein Engel der Vorsehung Menschliche Leidenschaften gegen einander abwog, und Seelen und Charaktere gruppirte, und ihnen Anläße, wo Jedes im Wahn des Freien handelt, zuführt, und er sie alle mit diesem Wahne, als mit der Kette des Schicksals zu seiner Idee leitet — so war der Menschliche Geist, der hier entwarf, sann, zeichnete, lenkte. Daß Zeit und Ort, wie Hülsen um den Kern immer mit gehen, sollte nicht einmal erinnert werden dörfen, und doch ist hierüber eben das helleste Geschrei. Fand Shakespear den Göttergriff eine ganze Welt der Disparatesten Auftritte zu Einer Begebenheit zu erfaßen; natürlich gehörte es eben zur Wahrheit seiner Begebenheiten, auch Ort und Zeit jedesmal zu idealisiren, daß sie mit zur Täuschung beitrügen. Ist wohl jemand in der Welt zu einer Kleinigkeit seines Lebens Ort und Zeit gleichgültig? und sind sies insonderheit in den Dingen, wo 86

die ganze Seele geregt, gebildet, umgebildet wird? in der Jugend, in Scenen der Leidenschaft, in allen Handlungen aufs Leben! Ists da nicht eben Ort und Zeit und Fülle der äußern Umstände, die der ganzen Geschichte H a l t u n g , D a u e r , E x s i s t e n z geben muß, und wird ein Kind, ein Jüngling, ein Verliebter, ein Mann im Felde der Thaten sidi wohl Einen Umstand des Lokals, des Wie? und Wo? und Wann? wegschneiden laßen, ohne daß die ganze Vorstellung seiner Seele litte? Da ist nun Shakespear der gröste Meister, eben weil er nur und immer Diener der Natur ist. Wenn er die Begebenheiten seines Drama dachte, im Kopf wälzte, wie wälzen sidi jedesmal ö r t e r und Zeiten so mit umher! Aus Scenen und Zeitläuften aller Welt findet sich, wie durch ein Gesetz der Fatalität, eben die hieher, die dem Gefühl der Handlung, die kräftigste, die idealste ist; wo die sonderbarsten, kühnsten Umstände am meisten den Trug der Wahrheit unterstützen, wo Zeit- und Ortwechsel, über die der Dichter schaltet, am lautesten rufen: „Hier ist kein Dichter! ist Schöpfer! ist Geschichte der Welt!" Als ζ. E. der Dichter den schrecklichen Königsmord, Trauerspiel M a c b e t h genannt, als Faktum der Schöpfung in seiner Seele wälzte — bist du, mein lieber Leser, so blöde gewesen, nun in keiner Scene, Scene und Ort mit zu fühlen — wehe Shakespear, dem verwelkten Blatte in deiner Hand. So hast du nichts von der Eröfnung durch die Zauberinnen auf der Haide unter Blitz und Donner! nichts nun vom blutigen Manne mit Macbeths Thaten zur Bothschaft des Königes an ihn, nichts wider die Scene zu brechen und den prophetischen Zaubergeist zu eröfnen, und die vorige Bothschaft nur mit diesem Grusse in seinem Haupt zu mischen — gefühlt! Nicht sein Weib mit jener Abschrift des Schicksalsbriefes in ihrem Schloße wandern sehen, die hernach wie grauerlich anders wandern wird! Nicht mit dem stillen Könige noch zu guter letzt die Abendluft so sanft gewittert, rings um das Haus, wo zwar die Schwalbe so sicher nistet, aber du, o König — das ist im unsichtbaren Werk! — dich deiner Mördergrube näherst. Das Haus in unruhiger, gastlicher Zubereitung, und Macbeth in Zubereitung zum Morde! Die bereitende Naditscene Bankos mit Fackel und Schwert! Der Dolch, der schauerliche Dolch der Vision! Glocke — kaum ists geschehen und das Podien an der Thür! — Die Entdeckung, Versammlung — man trabe alle ö r t e r und Zeiten durch, wo 87

das zu der Absicht, in der Schöpfung, anders als d a und s o geschehen könnte. Die Mordscene Bankos im Walde; das Nachtgastmal und Bankos Geist — nun wieder die Hexenhaide (denn seine erschreckliche Schicksalsthat ist zu Ende!) Nun Zauberhöle, Beschwörung, Prophezeiung, Wuth und Verzweiflung! Der Tod der Kinder Macdufs unter den Flügeln ihrer einsamen Mutter! und jene zween Vertriebne unter dem Baum, und nun die grauerliche Nachtwanderin im Schloße und die wunderbare Erfüllung der Prophezeiung — der heranziehende Wald — Macbeths Tod durch das Schwert eines Ungebohrnen — ich müßte alle, alle Scenen ausschreiben, um das idealisirte Lokal des unnennbaren Ganzen, d e r S c h i c k s a l s - , Κ ö n i g s m o r d s - und Z a u b e r w e l t zu nennen, die als Seele das Stück, bis auf den kleinsten Umstand von Zeit, Ort, selbst scheinbarer Zwischenverwirrung, belebt, Alles in der Seele zu Einem schauderhaften, unzertrennlichen Ganzen zu machen — und doch würde ich mit Allem nichts sagen. Dies I n d i v i d u e l l e jedes Stücks, jedes einzelnen Weltalls, geht mit Ort und Zeit und Schöpfung durch alle Stücke. L e ß i η g hat einige Umstände H a m l e t s in Vergleichung der Theaterkönigin S e m i r a m i s entwickelt — wie voll ist das ganze Drama dieses Lokalgeistes von Anfang zu Ende. Schloßplatz und bittre Kälte, ablösende Wache und Nachterzählungen, Unglaube und Glaube — der Stern — und nun erscheints! — Kann Jemand seyn, der nicht in jedem Wort und Umstände Bereitung und Natur ahnde! So weiter. Alles Kostüme der Geister erschöpft! der Menschen zur Erscheinung erschöpft! Hahnkräh und Pauckenschall, stummer Wink und der nahe Hügel, Wort und Unwort — welches Lokal! welches tiefe Eingraben der Wahrheit! Und wie der erschreckte König kniet, und Hamlet vorbeiirrt in seiner Mutter Kammer vor dem Bilde seines Vaters! und nun die andre Erscheinung! Er am Grabe seiner Ophelia! der rührende good Fellow in allen den Verbindungen mit H o r a z , O p h e l i a , L a e r t e s , F o r t i n b r a s ! das Jugendspiel der Handlung, was durchs Stüde fortläuft und fast bis zu Ende keine Handlung wird — wer da Einen Augenblick Bretterngerüste fühlt und sucht, und Eine Reihe gebundner artiger Gespräche auf ihm sucht, für den hat S h a k e s p e a r und S o p h o k l e s , kein wahrer Dichter der Welt gedichtet. 88

Hätte ich dodi Worte dazu, um die einzelne Hauptempfindung, die also jedes Stüde beherrscht, und wie eine Weltseele durchströmt, zu bemerken. Wie es doch in Othello würklich mit zu dem Stücke gehört, so selbst das Nachtsuchen wie die fabelhafte Wunderliebe, die Seefahrt, der Seesturm, wie die brausende Leidenschaft Othellos, die so sehr verspottete Todesart, das Entkleiden unter dem Sterbeliedchen und dem Windessausen, wie die Art der Sünde und Leidenschaft selbst — sein Eintritt, Rede ans Nachtlicht u. s. w. wäre es möglich, doch das in Worte zu faßen, wie das Alles zu Einer Welt der Trauerbegebenheit lebendig und innig gehöre — aber es ist nicht möglich. Kein elendes Farbengemälde läßt sich durch Worte beschreiben oder herstellen, und wie die Empfindung Einer lebendigen Welt in allen Scenen, Umständen und Zaubereien der Natur? Gehe, mein Leser, was du willt, L e a r und die R i c h a r d s , C ä s a r und die H e i n r i c h s , selbst Zauberstücke und Divertissements, insonderheit R o m e o , das süsse Stück der Liebe, audi Roman in jedem Zeitumstande, und Ort und Traum und Dichtung — gehe es durch, versuche Etwas der Art wegzunehmen, zu tauschen, es gar auf ein Französisches Bretterngerüste zu simplificiren — eine lebendige Welt mit allem Urkundlichen ihrer Wahrheit in dies Gerüste verwandelt — sdiöner Tausch! schöne Wandlung! Nimm dieser Pflanze ihren Boden, Saft und Kraft, und pflanze sie in die Luft: nimm diesem Menschen Ort, Zeit, individuelle Bestandheit — du hast ihm Othem und Seele genommen, und ist ein Bild vom Geschöpf. Eben da ist also S h a k e s p e a r S o p h o k l e s Bruder, wo er ihm dem Ansdiein nach so unähnlich ist, um im Innern, ganz wie Er, zu seyn. Da alle Täuschung durch dies Urkundliche, Wahre, Schöpferische der Geschichte erreicht wird, und ohne sie nicht blos nicht erreicht würde, sondern kein Element mehr (oder ich hätte umsonst geschrieben) von S h a k e s p e a r e Drama und Dramatischem Geist bliebe: so sieht man, die ganze Welt ist zu diesem grossen Geiste allein Körper: alle Auftritte der Natur an diesem Körper Glieder, wie alle Charaktere und Denkarten zu diesem Geiste Züge — und das Ganze mag jener Riesengott des Spinosa „Pan! Universum!" heissen. Sophokles blieb der Natur treu, da er Eine Handlung Eines Orts und Einer Zeit bearbeitete: S h a k e s p e a r könnt ihr allein treu bleiben, wenn er seine Weltbegebenheit und Menschenschicksal 89

durch alle die ö r t e r und Zeiten wälzte, wo sie — nun, wo sie geschehen: und Gnade Gott dem kurzweiligen Franzosen, der in Shakespears fünften Aufzug käme, um da die Rührung in der Quintessenz herunter zu schlucken. Bei manchen Französischen Stücken mag dies wohl angehen, weil da Alles nur fürs Theater versificirt und in Scenen Schaugetragen wird; aber hier geht er eben ganz leer aus. Da ist Weltbegebenheit schon vorbei: er sieht nur die letzte, schlechteste Folge, Mensdien, wie Fliegen fallen, er geht hin und höhnt: S h a k e s p e a r i s t ihm Ärgerniß und sein Drama die dummeste Thorheit. Überhaupt wäre der ganze Knäuel yon Ort- und Zeit}quästionen längst aus seinem Gewirre gekommen, wenn ein Philosophischer Kopf über das Drama sich die Mühe hätte nehmen wollen, auch hier zu fragen: „was denn O r t und Z e i t sey?" Solls das Bretterngerüste, und der Zeitraum eines Divertissements au theatre seyn: so hat niemand in der Welt Einheit des Orts, Maaß der Zeit und der Scenen, als — die Franzosen. Die Griechen — bei ihrer hohen Täuschung, von der wir fast keinen Begriff haben — bei ihren Anstalten für das öffentliche der Bühne, bei ihrer rechten Tempelandacht vor derselben, haben an nichts weniger als das je gedacht. Wie muß die Täuschung eines Menschen seyn, der hinter jedem Auftritt nach seiner Uhr sehen will, ob auch So Was in So viel Zeit habe geschehen können? und dem es sodann Hauptelement der Herzensfreude würde, daß der Dichter ihn doch ja um keinen Augenblick betrogen, sondern auf dem Gerüste nur eben so viel gezeigt hat, als er in der Zeit im Schneckengange seines Lebens sehen würde — welch ein Gesdiöpf, dem das Hauptfreude wäre! und welch ein Dichter, der darauf als Hauptzweck arbeitete, und sich denn mit dem Regelnkram brüstete: „wie artig habe idi nicht so viel und so viel schöne Spielwerke auf den engen gegebnen Raum dieser Brettergrube, theatre François genannt, und in den gegebnen Zeitraum der Visite dahin eingeklemmt und eingepaßt! die Scenen filirt und enfilirt! alles genau geflickt und geheftet" — elender Ceremonienmeister! Savoyarde des Theaters, nicht Schöpfer! Dichter! Dramatischer Gott! Als solchem schlägt dir keine Uhr auf Thurm und Tempel, sondern du hast Raum und Zeitmaasse zu schaffen, und wenn du eine Welt hervorbringen kannst, und die nicht anders, als 9°

in Raum und Zeit exsistiret, siehe, so ist da im Innern dein Maaß von Frist und Raum; dahin du alle Zuschauer zaubern, das du Allen aufdringen mußt, oder du bist — was ich gesagt habe, nur nichts weniger, als Dramatischer Dichter. Sollte es denn jemand in der Welt brauchen demonstrirt zu werden, daß Raum und Zeit eigentlich an sich nichts, daß sie die relativeste Sache auf Daseyn, Handlung, Leidenschaft, Gedankenfolge und Maaß der Aufmerksamkeit in oder ausserhalb der Seele sind? Hast du denn, gutherziger Uhrsteller des Drama, nie Zeiten in deinem Leben gehabt, wo dir Stunden zu Augenblicken und Tage zu Stunden; Gegentheils aber auch Stunden zu Tagen, und Nachtwachen zu Jahren geworden sind? Hast du keine Situationen in deinem Leben gehabt, wo deine Seele Einmal ganz ausser dir wohnte, hier in diesem Romantischen Zimmer deiner Geliebten, dort auf jener starren Leiche, hier in diesem Drückenden äusserer, beschämender Noth — jetzt wieder über Welt und Zeit hinausflog, Räume und Weltgegenden überspringet, alles um sich vergaß, und im Himmel, in der Seele, im Herzen dessen bist, dessen Exsistenz du nun empfindest? Und wenn das in deinem trägen, schläfrigen Wurm- und Baumleben möglich ist, wo dich ja Wurzeln gnug am todten Boden deiner Stelle festhalten, und jeder Kreis, den du schleppest, dir langsames Moment gnug ist, deinen Wurmgang auszumessen — nun denke dich Einen Augenblick in eine andre, eine Diditerwelt, nur in einen Traum? Hast du nie gefühlt, wie im Traum dir Ort und Zeit schwinden? was das also für unwesentliche Dinge, für Schatten gegen das, was H a n d l u n g , Würkung der Seele ist, seyn müßen? wie es blos an dieser Seele liege, sich Raum, Welt und Zeitmaaß zu schaffen, wie und wo sie will? Und hättest du das nur Einmal in deinem Leben gefühlt, wärest nach Einer Viertheilstunde erwacht, und der dunkle Rest deiner Traumhandlungen hätte dich schwören gemacht, du habest Nächte hinweg geschlafen, geträumt und gehandelt! — dürfte dir Mahomeds Traum, als Traum, noch Einen Augenblick ungereimt seyn! und wäre es nicht eben jedes Genies, jedes Dichters, und das Dramatischen Dichters insonderheit Erste und Einzige Pflicht, dich in einen solchen Traum zu setzen? Und nun denke, welche Welten du verwirrest, wenn du dem Dichter deine Taschenuhr, oder dein Visitenzimmer vorzeigest, daß er dahin und darnach dich träumen lehre? 91

Im Gange seiner Begebenheit, im ordine successivorum und simultaneorum s e i n e r Welt, da liegt sein Raum und Zeit. Wie, und wo er dich hinreisse? wenn er dich nur dahin reißt, da ist seine Welt. Wie schnell und langsam er die Zeiten folgen laße; er läßt sie folgen; er drückt dir diese Folge ein: das ist sein Zeitmaaß — und wie ist hier wieder Skakespear Meister! Langsam und schwerfällig fangen seine Begebenheiten an, in seiner Natur wie in der Natur: denn er gibt diese nur im verjüngten Maasse. Wie Mühevoll, ehe die Triebfedern in Gang kommen! je mehr aber, wie laufen die Scenen! wie kürzer die Reden und geflügelter die Seelen, die Leidenschaft, die Handlung! und wie mächtig sodenn dieses Laufen, das Hinstreuen gewisser Worte, da niemand mehr Zeit hat. Endlich zuletzt, wenn er den Leser ganz getäuscht und im Abgrunde seiner Welt und Leidenschaft verlohren sieht, wie wird er kühn, was läßt er auf einander folgen! Lear stirbt nach Cordelia, und Kent nach Lear! es ist gleichsam Ende seiner Welt, jüngster Tag da, da Alles auf einander rollet und hinstürzt, der Himmel eingewickelt und die Berge fallen; das Maaß der Zeit ist hinweg. — Freilich wieder nicht für den lustigen, muntren Κ a k 1 o g a 1 l i n i e r , der mit heiler frischer Haut in den fünften Akt käme, um an der Uhr zu messen, wie viel da in welcher Zeit sterben? Aber Gott, wenn das Kritik, Theater, Illusion seyn soll — was wäre denn Kritik? Illusion? Theater? was bedeuteten alle die leeren Wörter. Nun finge eben das Herz meiner Untersuchung an, „wie? auf welche Kunst und Schöpferweise S h a k e s p e a r eine elende Romanze, Novelle, und Fabelhistorie zu soldi einem lebendigen Ganzen habe dichten können? Was für Gesetze unsrer H i s t o r i s c h e n , P h i l o s o p h i s c h e n , D r a m a t i s c h e n K u n s t in Jedem seiner Schritte und Kunstgriffe liege?" Welche Untersuchung! wie viel für unsern Geschichtbau, Philosophie der Mensdienseelen und Drama. — Aber ich bin kein Mitglied aller unsrer Historischen, Philosophischen und schönkünstlichen Akademien, in denen man freilich an jedes Andre eher, als an so etwas denkt! Selbst S h a k e s p e a r e Landsleute denken nicht daran. Was haben ihm oft seine Kommentatoren für Historische Fehler gezeihet! der fette W a r b u r t on ζ. E. welche Historische Schönheiten 92

Schuld gegeben! und nodi der letzte Verfaßer d e s V e r s u c h s ü b e r i h n hat er wohl die Lieblingsidee, die ich bei ihm sudite: „wie hat Shakespear aus Romanzen und Novellen Drama gedichtet?" erreicht? Sie ist ihm wie dem Aristoteles dieses Brittischen Sophokles, dem Lord H o m e kaum eingefallen. Also nur einen Wink in die gewöhnlichen Claßificationen in seinen Stücken. Nodi neuerlich hat ein Schriftsteller, der gewiß seinen S h a k e s p e a r ganz gefühlt hat, den Einfall gehabt, jenen ehrlichen Fishmonger von Hofmann, mit grauem Bart und Runzelgesicht, triefenden Augen und seinem plentiful lack of wit together with weak Hams, das Kind P o l o n i u s zum Aristoteles des Dichters zu machen, und die Reihe von Als und Cals, die er in seinem Geschwätz wegsprudelt, zur ernsten Claßification aller Stücke vorzuschlagen. Ich zweifle. S h a k e s p e a r hat freilich die Tücke, leere locos communes, Moralen und Claßificationen, die auf hundert Fälle angewandt, auf alle und keinen recht passen, am liebsten Kindern und Narren in den Mund zu legen; und eines neuen Stobaei und Florilegii, oder Cornu copiae von Shakespeare Weisheit, wie die Engländer theils schon haben und wir Deutsche Gottlob! neulich audi hätten haben sollen — deren würde sich soldi ein Ρ o 1 o η i u s , und L a u n c e l o t , A r l e q u i n und N a r r , blöder R i c h a r d , oder aufgeblasner R i t t e r k ö n i g am meisten zu erfreuen haben, weil jeder ganze, gesunde Mensch bei ihm nie mehr zu sprechen hat, als er aus Hand in Mund braucht, aber dodi zweifle ich hier nodi. Polonius soll hier wahrscheinlich nur das alte Kind seyn, das Wolken für Kameele und Kameele für Baßgeigen ansieht, in seiner Jugend audi einmal den Julius Cäsar gespielt hat, und war ein guter Akteur, und ward von Brutus umgebracht, und wohl weiß why Day is Day, Night Night and Time is Time also audi hier einen Kreisel theatralischer Worte drehet — wer wollte aber darauf bauen? oder was hätte man denn nun mit der Eintheilung? Tragedy, Comedy, History, Pastoral, Tragical-Historical und Historical-Pastoral, und Pastoral-Comical und Comical-Historical-Pastoral, und wenn wir die Cals nodi hundertmal mischen, was hätten wir endlich? Kein Stück wäre dodi Griechische Tragedy, Comedy und Pastoral, und sollte es nicht seyn. Jedes Stück ist History im weitsten Verstände, die 93

sich nun freilich bald in Tragedy, Comedy, u. s. w. mehr oder weniger nuäncirt — die Farben aber schweben da so ins Unendliche hin, und am Ende bleibt dodi jedes Stück und muß bleiben, — w a s e s i s t : H i s t o r i e ! H e l d e n - u n d Staatsaktion zur Illusion mittlerer Zeiten! oder (wenige eigentliche Plays und Divertisements ausgenommen) ein völliges G r ö s s e h a b e n d e E r ä u g n i ß einer Weltbegebenheit, eines Menschlichen Schicksals. Trauriger und wichtiger wird der Gedanke, daß auch dieser grosse Schöpfer von Geschichte und Weltseele immer mehr veralte! daß da Worte und Sitten und Gattungen der Zeitalter, wie ein Herbst von Blättern welken und absinken, wir schon jetzt aus diesen grossen Trümmern der Ritternatur so weit heraus sind, daß selbst G a r r i k , der Wiedererwedcer und Schutzengel auf seinem Grabe, so viel ändern, auslaßen, verstümmeln muß, und bald vielleicht, da sich alles so sehr verwischt und anders wohin neiget, auch sein Drama der lebendigen Vorstellung ganz unfähig werden, und eine Trümmer von Kolossus, von Pyramide seyn wird, die Jeder anstaunet und keiner begreift. Glücklich, daß ich noch im Ablaufe der Zeit lebte, wo ich ihn begreifen konnte, und wo du, mein Freund, der du dich bei diesem Lesen erkennest und fühlst, und den ich vor seinem heiligen Bilde mehr als Einmal umarmet, wo du noch den süssen und deiner würdigen Traum haben kannst, sein Denkmal a u s u n s e r n R i t t e r z e i t e n in unsrer Sprache, unserm so weit abgearteten Vaterlande herzustellen. Ich beneide dir den Traum, und dein edles Deutsches Würken laß nicht nach, bis der Kranz dort oben hange. Und solltest du alsdenn auch später sehen, wie unter deinem Gebäude der Boden wankt, und der Pöbel umher still steht und gafft, oder höhnt, und die daurende Pyramide nicht alten Ägyptischen Geist wieder aufzuwecken vermag — dein Werk wird bleiben, und ein treuer Nachkomme dein Grab suchen, und mit andächtiger Hand dir schreiben, was das Leben fast aller Würdigen der Welt gewesen: Voluit! quiescit!

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8. Aus der „Abhandlung über den Ursprung der Sprache". Die Natur gibt keine Kräfte umsonst. Wenn sie also dem Menschen nicht blos Fähigkeiten gab, Sprache zu erfinden, sondern audi diese Fähigkeit zum Unterscheidungscharakter seines Wesens, und zur Triebfeder seiner vorzüglichen Richtung machte: so kam diese Kraft nicht anders als lebend, aus ihrer Hand, und so konnte sie nicht anders, als in eine Sphäre gesetzt seyn, wo sie würken muste. Laßet uns einige dieser Umstände und Anliegenheiten genauer betrachten, die sogleich den Menschen, da er mit der nächsten Anlage sich Sprache zu bilden, in die Welt trat, sogleich zur Sprache veranlaßten, und da dieser Anliegenheiten viel sind, so bringe ich sie unter gewiße H a u p t g e s e t z e seiner N a t u r und seines Geschlechts: Erstes

Naturgesetz.

DerMenschistein freidenkendes, thätiges W e s e n , d e ß e n K r ä f t e in P r o g r e ß i o n f o r t w i i r k e n ; d a r u m s e i er e i n G e s c h ö p f der Sprache ! Als nacktes, Instinktloses Thier betrachtet, ist der Mensch das elendeste der Wesen. Da ist kein dunkler, angebohrner Trieb, der ihn in sein Element, und in seinen Würkungskreis, zu seinem Unterhalt und an sein Gesdiäfte zeucht. Kein Geruch und keine Witterung, die ihn auf die Kräuter hinreiße, damit er seinen Hunger stille! Kein blinder, Mechanischer Lehrmeister, der für ihn sein Nest baue! Schwach und unterliegend, dem Zwist der Elemente, dem Hunger, allen Gefahren, den Klauen aller stärkern Thiere, einem tausendfachen Tode überlaßen, stehet Er da! einsam und Einzeln! ohne den unmittelbaren Unterricht 95

seiner Schöpferin, und ohne die sidire Leitung ihrer Hand, von allen Seiten also verlohren Dodi so lebhaft dies Bild ausgemahlt werde: so ists nicht das Bild des Menschen — es ist nur Eine Seite seiner Oberfläche und audi die stehet im falschen Licht. Wenn Verstand und Besonnenheit die Naturgabe seiner Gattung ist: so mußte diese sich so gleich äußern, da sich die schwächere Sinnlichkeit, und alle das Klägliche seiner Entbehrungen äußerte. Das Instinktlose, elende Gesdiöpf, was so verlaßen aus den Händen der Natur kam, war audi vom ersten Augenblicke an, das freithätige vernünftige Geschöpf, das sich selbst helfen sollte, und nidit anders, als konnte. Alle Mängel und Bedürfniße, als Thier, waren dringende Anläße, sich mit allen Kräften als Mensch zu zeigen: so wie diese Kräfte der Menschheit nicht etwa blos schwache Schadloshaltungen gegen die ihm versagten größern Thiervollkommenheiten waren, wie unsre neue Philosophie, die große Gönnerin der Thiere! will: sondern sie waren, ohne Vergleidiung und eigentliche Gegeneinandermeßung seine Art. Der Mittelpunkt seiner Schwere, die Hauptrichtung seiner Seelenwiirkungen fiel so auf diesen Verstand, auf Menschliche Besonnenheit hin, wie bei der Biene so gleich aufs Saugen und Bauen. Wenn es nun bewiesen ist, daß nicht d i e m i n d e s t e H a n d l u n g seines Verstandes, ohne Merkw o r t , g e s c h e h e n k o n n t e : so w a r a u c h das erste M o m e n t der B e s i n n u n g , M o m e n t zu innerer E n t s t e h u n g der Sprache. Man laße ihm zu dieser ersten deutlichen Besinnung so viel Zeit, als man will: man laße, nach B u f f o n s Manier (nur philosophischer, als er,) dies gewordne Gesdiöpf sich allmälidi sammlen: man vergeße aber nicht, daß es gleich vom Ersten Momente an kein Thier, sondern ein Mensch, zwar nodi kein Gesdiöpf von Besinnung, aber schon von Besonnenheit ins Universum erwache. Nidit wie eine große, schwerfällige, unbehülflidie Maschiene, die gehen sollte, und mit starren Gliedern nidit gehen kann: die sehen, hören, kosten sollte, und mit starren Säften im Auge, mit verhärtetem Ohr und mit versteinter Zunge nichts von alle diesem kann — Leute, die Zweifel der Art machen, sollten dodi bedenken, daß dieser Mensch nicht aus Piatons Hole, aus einem finstern Kerker, wo er von seinem 9

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ersten Augenblick des Lebens, eine Reihe von Jahren hin, ohne Licht und Bewegung sich mit offnen Augen blind, und mit gesunden Gliedern ungelenk geseßen, sondern daß er aus den Händen der Natur, im frischesten Zustande seiner Kräfte und Säfte, und mit der besten, nächsten Anlage kam, vom Ersten Augenblicke sich zu entwickeln. Über die ersten Momente der Sammlung muß freilich die schaffende Vorsicht, gewaltet haben — doch das ist nicht Werk der Philosophie, das Wunderbare in diesen Momenten zu erklären; so wenig sie seine Schöpfung erklären kann. Sie nimmt ihn im Ersten Zustande der freien Thätigkeit, im ersten vollen Gefühl seines gesunden Daseyns, und erklärt also diese Momente nur Menschlich. Nun kann idi midi auf das Vorige beziehen. Da hier keine Metaphysische Trennung der Sinne statt findet, da die ganze Maschiene empfindet, und gleich vom dunkeln Gefühl heraufarbeitet zur Besinnung, da dieser Punkt, die Empfindung des ersten deutlichen Merkmals, eben auf das Gehör, den mittlem Sinn zwischen Auge und Gefühl trift: s o i s t d i e G e n e s i s d e r S p r a c h e e i n so i n n e r e s D r i n g n i ß , w i e d e r D r a n g des E m b r y o n s z u r G e b u r t bei dem Mom e n t s e i n e r R e i f e . Die ganze Natur stürmt auf den Menschen, um seine Kräfte, um seine Sinne zu entwickeln, bis er Mensch sei. U n d w i e v o n d i e s e m Z u s t a n d e d i e S p r a c h e a n f ä n g t , so ist die g a n z e K e t t e v o n Z u s t ä n d e n in der M e n s c h l i c h e n Seele von der Art, daß jeder die Sprache f o r t b i l d e t — Dies große Gesetz der Naturordnung will idi ins Licht stellen. Thiere verbinden ihre Gedanken, dunkel, oder klar, aber nicht d e u t l i c h . So wie freilich die Gattungen, die nach Lebensart und Nervenbau dem Menschen am nächsten stehen, die Thiere des Feldes, oft viel Erinnerung, viel Gedäditniß, und in manchen Fällen ein stärkeres als der Mensch zeigen: so ists nur immer sinnliches Gedäditniß; und keines hat die Erinnerung je durch Eine Handlung bewiesen, daß es für sein ganzes Geschlecht seinen Zustand verbeßert, und Erfahrungen generalisirt hätte, um sie in der Folge zu nutzen. Der Hund kann freilich die Geberde erkennen, die ihn geschlagen, und der Fuchs den unsidiern Ort, wo ihm nachgestellt wurde, fliehen; 7

Rasch, Der junge Herder

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aber keins von Beiden sich Eine allgemeine Reflexion aufklären, wie es dieser Schlagdrohenden Geberde und dieser Hinterlist der Jäger je auf immer entgehen könnte. Es blieb also nur immer bei dem Einzelnen sinnlichen Falle hangen, und sein Gedächtniß wurde eine Reihe dieser sinnlichen Fälle, die sich produciren und reproduciren — aber nie durch Überlegung verbunden: ein Mannichfaltiges ohne deutliche Einheit: ein Traum sehr sinnlicher, klarer, lebhafter Vorstellungen, ohne ein Hauptgesetz des hellen Wachens, das diesen Traum ordne. Freilich ist unter diesen Geschlechtern und Gattungen noch ein großer Unterschied. Je enger der Kreis, je stärker die Sinnlichkeit und der Trieb, je einförmiger die Kunstfähigkeit und das Werk des Lebens ist: desto weniger ist, wenigstens für uns, die geringste Progreßion durch Erfahrung merklich. Die Biene bauet in ihrer Kindheit so, wie im hohen Alter, und wird zu Ende der Welt so bauen, als im Beginn der Schöpfung. Sie sind einzelne Punkte, leuchtende Funken aus dem Licht der Vollkommenheit Gottes, die aber immer einzeln leuchten. Ein erfahrner Fuchs hingegen unterscheidet sich schon sehr von dem ersten Lehrlinge der Jagd: er kennet schon viele Kunstgriffe voraus, und sucht ihnen zu entweichen aber woher kennt er sie? und wie sucht er ihnen zu entweichen? weil er sie voraus unmittelbar erfahren, und weil unmittelbar aus solcher Erfahrung das Gesetz dieser Handlung folget. In keinem Falle würkt deutliche Reflexion, denn werden nicht immer die klügsten Füchse noch jetzt so berückt, wie vom ersten Jäger in der Welt? Bei dem Menschen waltet offenbar e i n a n d r e s N a t u r gesetz über die S u c c e ß i o n seiner I d e e n , Bes o n n e n h e i t : sie waltet noch selbst im sinnlichsten Zustande, nur minder merklich. Das unwißendste Geschöpf, wenn er auf die Welt kommt; aber so gleich wird er Lehrling der Natur auf eine Weise wie kein Thier: Ein Tag nicht blos lehrt den andern: sondern jede Minute des Tages die andre: jeder Gedanke den andern. Der Kunstgrif ist seiner Seele wesentlich, nichts für diesen Augenblick zu lernen, sondern alles, entweder an das zu reihen, was sie schon wüste, oder für das, was sie künftig daran zu knüpfen gedenkt: sie berechnet also ihren Vorrath, den sie gesammlet, oder noch zu sammlen gedenkt: und so wird sie eine Kraft unverrückt zu sammlen. Solch eine Kette geht bis an den Tod fort: gleichsam nie der g a n z e 98

Mensch: immer in Entwicklung, im Fortgange, in Vervollkommung. Eine Wirksamkeit hebt sich durch die andre: Eine baut auf die Andre: Eine entwickelt sich aus der Andren. Es werden Lebensalter, Epochen, die wir nur nach den Stuffen der Merklichkeit benennen, die aber, weil der Mensch nie fühlt, wie er wachset, sondern nur immer wie er gewachsen ist, sich in ein Unendlichkleines theilen laßen. Wir wachsen immer aus einer Kindheit, so alt wir seyn mögen, sind immer im Gange, unruhig, ungesättigt: das Wesentliche unsres Lebens ist nie Genuß, sondern immer Progreßion, und wir sind nie Menschen gewesen, bis wir — zu Ende gelebt haben; dahingegen die Biene, Biene war, als sie ihre erste Zelle bauete. Zu allen Zeiten wiirkt freilich dies Gesetz der Vervollkommung, der Progreßion durch Besonnenheit, nicht gleich merklich: ist aber das minder Merkliche deßwegen nicht da? im Traume, im Gedankentraume, denkt der Mensch nicht so ordentlich und deutlich, als wachend: deßwegen aber denkt er noch immer als ein Mensch — als Mensch in einem Mittelzustande; nie als ein völliges Thier. Bei einem Gesunden müßen seine Träume so gut eine Regel der Verbindung haben, als seine wachenden Gedanken; nur daß es nicht dieselbe Regel seyn, oder diese so einförmig würken kann; selbst diese Ausnahmen zeugen also von der Gültigkeit des Hauptgesetzes, und die offenbaren Krankheiten und unnatürlichen Zustände, Ohnmächten, Verrückungen u. s. w. zeugen es noch mehr. Nicht jede Handlung der Seele ist unmittelbar eine Folge der Besinnung; jede aber eine Folge der Besonnenheit: keine, so wie sie beim Menschen geschiehet, könnte sich äußern, wenn der Mensch nicht Mensch wäre, und nach solchem Naturgesetz dächte. K o n n t e nun der erste Z u s t a n d der Besinn u n g des M e n s c h e n n i c h t o h n e W o r t der Seele w ü r k l i c h w e r d e n : so w e r d e n a l l e Z u s t ä n d e d e r B e s o n n e n h e i t i n i h m Sprachmäßig: seine Kette von Gedanken wird eine Kette von Worten. Will ich damit sagen, daß der Mensch jede Empfindung seines dunkelsten Gefühls zu einem Worte machen? oder sie nicht anders als mittelst eines Worts empfinden könne? — Unsinn wäre es, dies zu sagen, da gerade umgekehrt bewiesen ist: was sich blos durchs dunkle Gefühl empfinden läßt, ist keines 99 7*

Worts f ü r uns f ä h i g , weil es keines deutlichen Merkmals fähig ist. Die Basis der Menschheit ist also, wenn wir von willkührlicher Sprache reden, unausspredilich. — — Aber ist d¡;nn Basis die ganze Figur? Fußgestelle die ganze Bildsäule? Ist der Mensch seiner ganzen Natur nach denn eine blos dunkel fühlende Auster? Laßet uns also den ganzen Faden seiner Gedanken nehmen; da er von Besonnenheit gewebt ist: da sich in ihm kein Zustand findet, der im ganzen genommen, nicht selbst Besinnung sey, oder doch in Besinnung aufgeklärt werden könne: da bei ihm das Gefühl nicht h e r r s c h e t , sondern die ganze Mitte seiner Natur auf feinere Sinne, Gesicht und Gehör, fällt, und diese ihm immerfort Sprache geben: so folgt, daß im Ganzen genommen „auch kein Z u s t a n d in der M e n s c h l i c h e n Seele sey, der nicht W o r t f ä h i g oder w ü r k lich durch Worte der Seele b e s t i m m t werde." Es müste der dunkelste Schwärmer oder ein Vieh, der abstrakteste Götterseher oder eine träumende Monade seyn, der g a n z o h n e W o r t e d ä c h t e . Und in der Menschlichen Seele ist, wie wir selbst in Träumen und bei Verrückten sehen, kein solcher Zustand möglich. So kühn es klinge so ists wahr: der Mensch empfindet mit dem Verstände und spricht, indem er denket. Und indem er nun immer so fortdenket, und, wie wir gesehen, jeden Gedanken in der Stille mit dem vorigen und der Zukunft zusammenhält: so muß „jederZustand, derdurchReflexionsoverk e t t e t ist, beßer denken, mithin auch beßer s p r e c h e n." Laßet ihm den freien Gebrauch seiner Sinne: da der Mittelpunkt dieses Gebrauchs in Gesicht und Gehör fällt, wo Jenes ihm Merkmal und dieses Ton zum Merkmale gibt: so wird mit jedem leichtern, gebildetem Gebrauch dieser Sinne, ihm Sprache fortgebildet. Laßet ihm den freien Gebrauch seiner Seelenkräfte. Da der Mittelpunkt ihres Gebrauchs auf Besonnenheit fällt, mithin nicht ohne Sprache ist, so wird mit jedem leichtern, gebildetem Gebrauch der Besonnenheit, ihm Sprache mehr gebildet. Folglich wird die F o r t b i l d u n g d e r S p r a c h e d e m M e n s c h e n so n a t ü r l i c h , a l s s e i n e N a t u r selbst.

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9· Aus der Schrift „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit" . . . In der Geschichte der Menschheit wird Griechenland ewig der Platz bleiben, wo sie ihre schönste Jugend und Brautblüthe verlebt hat. Der Knabe ist Hütte und Schule entwachsen und steht da — edler Jüngling mit schönen gesalbten Gliedern, Liebling aller Grazien, und Liebhaber aller Musen, Sieger in Olympia und all' anderm Spiele, Geist und Körper zusammen nur Eine blühende Blume! Die Orakelsprüche der Kindheit und Lehrbilder der mühsamen Schule waren jetzt beinahe vergeßen; der Jüngling entwickelte sich aber daraus alles, was er zu Jugendweisheit und Tugend, zu Gesang und Freude, Lust und Leben brauchte. Die groben Arbeitkünste verachtete er, wie die blos Barbarische Pracht, und das zu einfache Hirtenleben; aber von Allem brach er die Blüthe einer neuen schönen Natur. — Handwerkerei ward durch ihn schöne Kunst: der dienstbare Landbau, freie Bürgerzunft, schwere Bedeutungsfülle des strengen Ägyptens, leichte schöne Griechische Liebhaberei in aller Art. N u n welche neue schöne Klaße von Neigungen und Fähigkeiten, von denen die frühere Zeit nichts wüste, zu denen sie aber Keim gab. Die Regimentsform, muste sie sich nicht vom Orientalischen Vaterdespotismus durch die Ägyptischen Landzünfte, und halbe Phönicische Aristokratien herabgeschwungen haben, ehe die schöne Idee einer Republik in Griechischem Sinne, „Gehorsam mit Freiheit gepaart, und mit dem Namen Vaterland umschlungen" statt haben konnte? Die Blüthe brach hervor: holdes Phänomenon der Natur! heißt „Griechische Freiheit!" Die Sitten musten sich vom Orientalischen Vater- und Ägyptischen Taglöhnersinn durch die Phönicische Reiseklugheit gemildert haben: und siehe! die neue schöne Blüthe brach hervor „Griechische Leichtigkeit, Milde, und Landesfreundschaft." Die Liebe muste ιοί

den Sdileier des Harems durdi manche Staffen verdünnen, ehe sie das schöne Spiel der Griechischen Venus, Amors und der Grazien ward. So Mythologie, Poesie, Philosophie, schöne Künste: Entwicklungen uralter Keime, die hier Jahrszeit und Ort fanden, zu blühen und in alle Welt zu duften. Griechenland ward die Wiege der Menschlichkeit, der Völkerliebe, der schönen Gesetzgebung, des Angenehmsten, in Religion, Sitten, Schreibart, Dichtung, Gebräuchen und Künsten — Alles Jugendfreude, Grazie, Spiel und Liebe! Es ist zum Theil gnug entwickelt, was für Umstände zu dieser einzigen Produktion des Menschengeschlechts beigetragen, und ich setze diese Umstände nur ins Größere der allgemeinen Verbindung von Zeitläuften und Völkern. Siehe dies schöne Griechische Klima und in ihm das wohlgebildete Menschengeschlecht mit freier Stirn und feinen Sinnen — ein rechtes Zwischenland der Kultur, wo aus zwei Enden alles zusammen flöß, was sie so leicht und edel verwandelten! Die schöne Braut wurde von zweien Knaben bedient zur Rechten und Linken, sie that nur schön idealisiren; eben die Mischung Phönicischer und Ägyptischer Denkart, deren eine der andern ihr Nationelles und ihren eckichten Eigensinn benahm, formte den Griechischen Kopf zum Ideal, zur Freiheit. Jetzt die sonderbaren Anläße ihrer Theilung und Vereinigungen von den frühesten Zeiten her: ihre Abtrennung in Völker, Republiken, Kolonien, und doch der gemeinschaftliche Geist derselben; Gefühl einer Nation, eines Vaterlands, einer Sprache! — Die besondern Gelegenheiten zu Bildung dieses Allgemeingeists, vom Zuge der Argonauten, und dem Feldzuge gegen Troja an, bis zu den Siegen gegen die Perser, und die Niederlage gegen den Macedonier, da Griechenland starb! — Ihre Einrichtungen gemeinschaftlicher Spiele und Nacheiferungen, immer mit kleinen Unterschieden und Veränderungen, bei jedem kleinsten Erdstrich und Völkchen — alles und zehnfach mehr gab Griechenland eine Einheit und Mannichfaltigkeit, die auch hier das schönste Ganze machte. Kampf und Beihülfe, Streben und Mäßigen; die Kräfte des Menschlichen Geistes kamen ins schönste Eben- und Unebenmaaß — Harmonie der Griechischen Ley er! Aber daß nun nicht eben damit unsäglich vieles von der alten frühern Stärke und Nahrung verlohren gehen muste, wer wollte das läugnen? Da den Ägyptischen Hieroglyphen ihre schwere I02

Hülle abgestreift ward, so kanns immer seyn, daß audi ein gewißes Tiefe, Bedeutungsvolle, Naturweise, was Charakter dieser Nation war, damit über See verduftete: der Griedie behielt nichts als schönes Bild, Spielwerk, Augenweide — nennts gegen jenes Schwerere wie ihr wollt; gnug er wollte nur dies! Der Religion des Morgenlandes ward ihr heiliger Schleier genommen; und natürlich, da alles auf Theater und Markt, und Tanzplatz Schau getragen wurde, wards in kurzem „Fabel, schön ausgedehnt, beschwatzet, gedichtet und neugedichtet — Jünglingstraum und Mädchensage!" die Morgenländische Weisheit, dem Vorhange der Mysterien entnommen, ein schön Geschwätz, Lehrgebäude und Zänkerei der Griechischen Schulen und Märkte. Der Ägyptischen Kunst ward ihr schweres Handwerksgewand entnommen, und so verlohr sich audi das zu genaue Mechanische und Künstlereistrenge, wornadi die Griechen nicht strebten: der Koloß erniederte sich zur Bildsäule: der Riesentempel zum Schauplatz: Ägyptische Ordnung und Sicherheit ließ in dem Vielfachen Griechenlands von selbst nach. Jener alte Priester konnte in mehr als Einem Betracht sagen „o ihr ewigen Kinder, die ihr nichts wißet, und so viel schwatzt, nichts thut, und um so viel spielet, nichts habt, und alles so schön vorzeiget," und der alte Morgenländer aus seiner Patriarchenhütte würde noch heftiger sprechen — ihnen statt Religion, Menschheit und Tugend, nur Bulerei mit alle dem Schuld geben können u. s. w. Seys. Das Menschliche Gefäß ist einmal keiner Vollkommenheit fähig: muß immer verlaßen, indem es weiter rückt. Griechenland rückte weiter: Ägyptische Industrie und Policei konnte ihnen nicht helfen, weil sie kein Ägypten und keinen Nil — Phönicische Handelsklugheit nicht helfen, weil sie keinen Libanus und kein Indien im Rücken hatten: zur Orientalischen Erziehung war die Zeit vorbei — gnug! es ward, was es war — Griechenland! Urbild und Vorbild aller Schöne, Grazie und Einfalt! Jugendblüthe des Menschlichen Geschlechts — o hätte sie ewig dauren können! Ich glaube, der Stand, in den ich Griechenland stelle, trägt audi bei, „den ewigen Streit über die Originalität der Griechen oder ihre Nachahmung fremder Nationen" etwas zu entwirren: man hätte sich wie überall, also audi hier, lange vereinigt, hätte man sich nur beßer verstanden. Daß Griechenland Samenkörner der Kultur, Sprache, Künste und Wißensdiaften anders IO}

woher erhalten, ist, dünkt midi, unläugbar, und es kann bei einigen, Bildhauerei, Baukunst, Mythologie, Litteratur offenbar gezeigt werden. Aber daß die Griechen dies alles so gut als nicht erhalten, daß sie ihm ganz neue N a t u r angeschaffen, daß in jeder A r t das „Schöne" im eigentlichen Verstände des Worts ganz gewiß ihr Werk sey — das, glaube ich, wird'aus einiger Fortleitung der Ideen eben so gewiß. Nichts Orientalisches, Phönicisches und Ägyptisches behielt seine Art mehr: es w a r d Griechisch, und in manchem Betracht waren sie fast zu sehr Originale, die alles nach ihrer Art um- und einkleideten. Von der größten Erfindung und der wichtigsten Geschichte an, bis auf Wort und Zeichen — alles ist davon voll: von Schritt zu Schritt, bei allen Nationen ists ebenfalls so — wer weiter System bauen, oder über N a m e n streiten will, streite! *

Es k a m das Mannesalter Menschlicher Kräfte und Bestrebungen — die Römer. Gegen die Griechen hat Virgil auf einmal sie geschildert, jenen schöne Künste und Jugendübungen überlaßen.

tu fe

g e r e ¡ m p e r i o populos, Romane, memento

ungefähr damit audi gegen die Nordländer ihren Zug geschildert, die es ihnen vielleicht an Barbarischer Härte, Stärke im Anfalle, und roher Tapferkeit zuvor thaten; aber — tu regere imperio populos — Römertapferkeit idealisirt: Römertugend! Römersinn! Römerstolz! D i e großmüthige Anlage der Seele, über Wohllüste, Weichlichkeit und selbst das feinere Vergnügen, hinwegzusehen, und fürs Vaterland zu würken: der gefaßte Heldenmuth, nie tollkühn zu seyn und sich in Gefahr zu stürzen, sondern zu harren, zu überlegen, zu bereiten und zu thun: es war der unersdiütterte Gang, durch nichts was Hinderniß heißt, sidi abschrecken zu laßen, eben im Unglück am größten zu seyn, und nicht zu verzweifeln: es war endlich der große immer unterhaltene Plan, mit nichts wenigem sich zu begnügen, als bis ihr Adler den Weltkreis deckte wer zu allen diesen Eigenschaften ein vielwichtiges Wort prägen, darin zugleich ihre männliche Gerechtigkeit, Klugheit, das Volle ihrer Entwürfe, Entschließungen, Ausführungen und überhaupt aller Geschäfte ihres 104

Weltbaus begreifen kann, der nenne es. — Gnug hier stand der Mann, der des Jünglings genoß und brauchte, für sich aber nur Wunder der Tapferkeit und Männlichkeit thun wollte; mit Kopf, Herz und Armen! Auf welcher Höhe hat das Römische Volk gestanden, welchen Riesentempel auf dieser Höhe erbaut! Sein Staats- und Kriegsgebäude, deßen Plan und Mittel zur Ausführung — Koloßus für alle Welt! Konnte in Rom ein Bubenstück begangen werden, ohne daß Blut in drei Erdtheilen flöß? und die großen würdigen Leute dieses Reichs wo? und wie? würkten sie hinaus! was für Glieder dieser großen Maschiene fast unwißend mit so leichten Kräften bewogen! wohin alle ihre Werkzeuge erhöht und befestigt: Senat und Kriegskunst — Gesetze und Zucht — Römerzweck und Stärke, ihn auszuführen — idi schaure! Was bei den Griechen Spiel, Jugendprobe gewesen war, ward bei ihnen ernsthafte veste Einrichtung: die Griechischen Muster auf einem kleinen Schauplatze, einer Erdenge, einer kleinen Republik, auf der Höhe und mit der Stärke aufgeführt, wurden Schauthaten der Welt. Wie man audi die Sache nehme: es war „Reife des Schicksals der alten Welt." Der Stamm des Baums zu seiner größern Höhe erwachsen, strebte, Völker und Nationen unter seinen Schatten zu nehmen, in Zweige. Mit Griechen, Phöniciern, Ägyptern und Morgenländern zu wetteifern, haben die Römer nie zu ihrer Hauptsache gemacht; aber indem sie alles was vor ihnen war, männlich anwandten — was wurde für ein Römischer Erdkreis! Der Name knüpfte Völker und Weltstriche zusammen, die sich voraus nicht dem Laut nach gekannt hatten. Römische Provinzen! in allen wandelten Römer, Römische Legionen, Gesetze, Vorbilder von Sitten, Tugenden und Lastern. Die Mauer ward zerbrochen, die Nation von Nation schied, der erste Schritt gemacht, die Nationalcharaktere aller zu zerstören, alle in eine Form zu werfen, die „Römervolk" hieß. Natürlich war der erste Schritt noch nicht das Werk: jede Nation blieb bei ihren Rechten, Freiheiten, Sitten und Religion; ja die Römer schmeichelten ihnen, eine Puppe der letzten selbst mit in ihre Stadt zu bringen. Aber die Mauer lag. Jahrhunderte von Römerherrschaft: — wie man in allen Welttheilen, wo sie gewesen sind, siehet — würkten sehr viel: Sturm, der die innersten Kammern der Nationaldenkart jedes Volks durdidrang: mit 105

der Zeit wurden die Bande immer vester, endlidi sollte das ganze Römische Reich gleichsam nur Stadt Rom werden — alle Unterthanen Bürger — bis es selbst sank. Auf keine Weise nodi von Vortheil oder Nachtheil geredet, allein von Würkung. Wenn alle Völker unter dem Römischen Joche gewißermaaße die Völker zu seyn aufhörten, die sie waren, und also über die ganze Erde eine Staatskunst, Kriegskunst und Völkerrecht eingeführt wurde, wovon voraus noch kein Beispiel gewesen war: da die Maschiene stand, und da die Maschiene fiel, und da die Trümmern alle Nationen der Römischen Erde bedeckten — gibts in aller Geschichte der Jahrhunderte einen größern Anblick! Alle Nationen von- oder auf diesen Trümmern bauend! Völlig neue Welt von Sprachen, Sitten, Neigungen und Völkern — es beginnet eine andre Zeit — Anblick, wie aufs weite offenbare Meer neuer Nationen. — Laßet uns indeßen noch vom Ufer einen Blick auf die Völker werfen, deren Geschichte wir durchlaufen sind. *

I. Niemand in der Welt fühlt die Schwäche des allgemeinen Charakterisirens mehr als ich. Man mahlet ein ganzes Volk, Zeitalter, Erdstrich — wen hat man gemahlt? Man faßet auf einander folgende Völker und Zeitläufte, in einer ewigen Abwechslung, wie Wogen des Meeres zusammen — wen hat man gemahlt? wen hat das schildernde Wort getroffen? — Endlich man faßt sie doch in Nichts, als ein allgemeines Wort zusammen, wo jeder vielleicht denkt und fühlt, was er will — unvollkommenes Mittel der Schilderung! wie kann man mißverstanden werden! — Wer bemerkt hat, was es für eine unaussprechliche Sache mit der Eigenheit eines Menschen sey, das Unterscheidende unterscheidend sagen zu können? wie Er fühlt und lebet? wie anders und eigen Ihm alle Dinge werden, nachdem sie sein Auge siehet, seine Seele mißt, sein Herz empfindet — welche Tiefe in dem Charakter nur Einer Nation liege, die, wenn man sie auch oft gnug wahrgenommen und angestaunet hat, doch so sehr das Wort fleucht, und im Worte wenigstens so selten einem jeden anerkennbar wird, daß er verstehe und mitfühle — ist das, wie? wenn man das Weltmeer ganzer Völker, Zeiten und 106

Länder übersehen, in einen Blick, ein Gefühl, ein Wort faßen soll! Mattes halbes Schattenbild von Worte! Das ganze lebendige Gemälde von Lebensart, Gewohnheiten, Bedürfnißen, Landes- und Himmelseigenheiten müste dazu kommen, oder vorhergegangen seyn; man müste erst der Nation sympathisiren, um eine einzige ihrer Neigungen und Handlungen, alle zusammen zu fühlen, Ein Wort finden, in seiner Fülle sich alles denken — oder man lieset — ein Wort. Wir glauben alle, nodi jetzt Väterliche und Häusliche und Menschliche Triebe zu haben, wie sie der Morgenländer — Treue und Künstlerfleiß haben zu können, wie sie der Ägypter besaß: Phönicische Regsamkeit, Griechische Freiheitliebe, Römische Seelenstärke — wer glaubt nicht zu dem allen Anlage zu fühlen, wenn nur Zeit, Gelegenheit und siehe! mein Leser, eben da sind wir. Der feigste Bösewicht hat ohne Zweifel zum großmüthigsten Helden noch immer entfernte Anlage und Möglichkeit — aber zwischen dieser und „dem ganzen Gefühl des Seyns, der Exsistenz in solchem Charakter" — Kluft! Fehlte es dir also auch an nichts, als an Zeit, an Gelegenheit, deine Anlagen zum Morgenländer, zum Griechen, zum Römer in Fertigkeiten und gediegne Triebe zu verwandeln — Kluft! nur von Trieben und Fertigkeiten ist die Rede. Ganze Natur der Seele, die durch Alles herrscht, die alle übrige Neigungen und Seelenkräfte nach sich modelt, noch auch die gleichgültigsten Handlungen färbet — um diese mitzufühlen, antworte nicht aus dem Worte, sondern gehe in das Zeitalter, in die Himmelsgegend, die ganze Geschichte, fühle dich in alles hinein — nun allein bist du auf dem Wege, das Wort zu verstehen; nun allein aber wird dir auch der Gedanke schwinden, „als ob alles das einzeln oder zusammen genommen auch du seyst!" Du alles zusammen genommen? Quinteßenz aller Zeiten und Völker? das zeigt schon die Thorheit! Charakter der Nationen! Allein Data ihrer Verfaßung und Geschichte müßen entscheiden. H a t nicht ein Patriarch, aber außer den Neigungen, die du ihm beimißest auch andre gehabt? haben können? ich sage zu beiden blos: Allerdings! Allerdings hatte er andre, Nebenzüge, die sich aus dem, was ich gesagt oder nicht gesagt, von selbst verstehen, die ich, und vielleicht andre mit mir, denen seine Geschichte vorschwebt, in dem Worte schon anerkennen, und noch lieber, daß er weit andres 107

haben können — auf anderm Ort, zu der Zeit, mit dem Fortschritte der Bildung, unter den andern Umständen — warum da nicht Leonidas, Cäsar und Abraham ein artiger Mann unsres Jahrhunderts? seyn können! aber wars nicht: darüber frage die Geschichte: davon ist die Rede. So madie idi midi ebenfalls auf kleinfíigige Widersprüche gefaßt, aus dem großen Detail von Völkern und Zeiten. Daß kein Volk lange geblieben und bleiben konnte, was es war, daß Jedes, wie jede Kunst und Wißenschaft, und was in der Welt nicht? seine Periode des Wachsthums, der Blüthe und der Abnahme gehabt; daß jedwede dieser Veränderungen nur das Minimum von Zeit gedauert, was ihr auf dem Rade des Menschlichen Schicksals gegeben werden konnte — daß endlich in der Welt keine zwei Augenblicke dieselben sind — daß also Ägypter, Römer und Grieche auch nicht zu allen Zeiten dieselben gewesen — ich zittre, wenn ich denke, was weise Leute, zumal Geschichtkenner, für weise Einwendungen hierüber machen können! Griechenland bestand aus vielen Ländern: Athenienser und Böotier, Spartaner und Korinthier war sich nichts minder, als gleich — Trieb man nicht auch in Asien den Ackerbau? Haben nicht Ägypter einmal eben so gut gehandelt, wie Phönicier? Waren die Macedonier nicht eben so wohl Eroberer, als die Römer? Aristoteles nicht eben so ein spekulativer Kopf als Leibniz? Übertrafen unsre Nordische Völker nicht die Römer an Tapferkeit? Waren alle Ägypter, Griechen, Römer — sind alle Ratten und Mäuse einander gleich — nein! aber sie sind doch Ratten und Mäuse! Wie verdrüßlich muß es werden, zum Publikum zu reden, wo man vom schreienden Theile, (der edler denkende Theil schweigt!) sich immer dergleichen und nodi ärgere Einwendungen, und in welchem Tone vorgetragen! versehen muß, und sidis denn zugleich versehen muß, daß der große Haufe Schaafe, der nicht weiß, was rechts und links ist, dem so gleich nachwähne! Kanns ein allgemeines Bild ohne Untereinander- und Zusammenordnung? kanns eine weite Aussicht geben, ohne Höhe? Wenn du das Angesicht dicht an dem Bilde hältst, an diesem Spane schnitzelst, an jenem Farbenklümdien klaubest: nie siehest du das ganze Bild — siehest nichts weniger als Bild! Und wenn dein Kopf von einer Gruppe, in die du dich vernarrt hast, voll ist, kann dein Blick wohl ein Ganzes so ab108

wechselnder Zeitläufte umfaßen? ordnen? sanft verfolgen? bei jeder Scene nur Hauptwürkung absondern? die Verflößungen still begleiten? und nun nennen! Kannst du aber nichts von alle dem: die Geschichte flimmert und fackelt dir vor den Augen! ein Gewirre von Scenen, Völkern, Zeitläuften — lies erst und lerne sehen! Übrigens weiß ichs, wie du, daß jedes allgemeine Bild, jeder allgemeine Begrif nur Abstraktion sey — Schöpfer allein ists, der die ganze Einheit, einer, aller Nationen, in alle ihrer Mannigfaltigkeit denkt, ohne daß ihm dadurch die Einheit schwinde. II. Also von diesen kleinfügigen Einwendungen, Zweck und Gesichtspunkt verfehlend, hinweg! hingestellt in die Absicht des großen Folgeganzen — wie elend werden „manche Modeurtheile unsres Jahrhunderts über Vorzüge, Tugenden, Glückseligkeit so entfernter, so abwechselnder Nationen, aus blos allgemeinen Begriffen der Schule!" Ist die Menschliche Natur keine im Guten selbstständige Gottheit: sie muß alles lernen, durch Fortgänge gebildet werden, im allmälichen Kampf immer weiter schreiten; natürlich wird sie also von den Seiten am meisten, oder allein gebildet, wo sie dergleichen Anläße zur Tugend, zum Kampf, zum Fortgange hat — in gewißem Betracht ist also jede Menschliche Vollkommenheit National, Säkular, und am genauesten betrachtet, Individuell. Man bildet nichts aus, als wozu Zeit, Klima, Bedürfniß, Welt, Schicksal Anlaß gibt: vom übrigen abgekehrt: die Neigungen oder Fähigkeiten, im Herzen schlummernd, können nimmer Fertigkeiten werden; die Nation kann also bei Tugenden der erhabensten Gattung von Einer Seite, von Einer andern Mängel haben, Ausnahmen machen, Wiedersprüche und Ungewißheiten zeigen, die in Erstaunen setzen; aber niemand, als der sein Idealisch Schattenbild von Tugend aus dem Kompendium seines Jahrhunderts mitbringt, und Philosophie gnug hat, um auf einem Erdenfleck die ganze Erde finden zu wollen, sonst keinen! Für jeden, der Menschliches Herz aus dem Elemente seiner Lebensumstände erkennen will, sind dergleichen Ausnahmen und Wiedersprüche vollkommen Menschlich: Proportion von Kräften und Neigungen zu einem gewißen Zwecke, der ohne jene nimmer erreicht werden könnte: also gar keine Ausnahmen, sondern Regel. 109

Seis, mein Freund, daß jene Kindlidie Orientalische Religion, jene Anhänglichkeit an das weichste Gefühl des Menschlichen Lebens auf der andern Seite Schwächen gebe, die du nach dem Muster andrer Zeiten verdammest. Ein Patriarch kann kein Römischer Held, kein Griechischer Wettläufer, kein Kaufmann von der Küste seyn; und eben so wenig, wozu ihn das Ideal deines Katheders, oder deiner Laune hinaufschraubte, um ihn falsch zu loben, oder bitter zu verdammen. Seis, daß er nach spätem Vorbildern dir furchtsam, Todsdieu, weichlich, unwißend, müßig, abergläubig, wenn du Galle im Auge hast, abscheulich vorkäme: er ist, wozu ihn Gott, Klima, Zeit und Stuffe des Weltalters bilden konnte, Patriarch! — hat also gegen alle Verluste späterer Zeiten, Unschuld, Gottesfurcht, Menschlichkeit: in denen er für jedes späte Zeitalter ewig ein Gott seyn wird! der Ägypter kriechend, sklavisch, ein Erdethier, abergläubisch und traurig, hart gegen Fremde, ein Gedankenloses Geschöpf der Gewohnheit — hier gegen den leichten, alles schön bildenden Griechen, dort gegen einen Menschenfreund im hohen Geschmack unsres Jahrhunderts, der alle Weisheit im Kopfe und alle Welt im Busen trägt — weldie Figur! Aber nun auch jenes Unverdroßenheit, Treue, starke Ruhe — kannst du die mit der Griechischen Knabenfreundschaft und Jugendbulerei um alles Schöne und Angenehme vergleichen? und wieder Griechische Leichtigkeit, Tändelei mit Religion, Mangel gewißer Liebe, Zucht und Ehrbarkeit verkennen, wenn du ein Ideal, weiß nicht weßen, nehmen wolltest? konnten aber jene Vollkommenheiten ohne diese Mängel in dem Maasse und Grade ausgebildet werden? Die Vorsehung selbst, siehest du, hats nicht gefodert, hat nur in der Abwechslung, in dem Weiterleiten durch Weckung neuer Kräfte und Ersterbung andrer, ihren Zweck erreichen wollen — Philosoph im Nordischen Erdenthal, die Kinderwaage deines Jahrhunderts in der Hand, weißt du es beßer, als sie? Machtsprüche Lobes und Tadels, die wir aus einem aufgefundenen Lieblingsvolke des Alterthums, in das wir uns vergaften, auf alle Welt schütten — welches Rechtes seid ihr! Jene Römer konnten seyn, wie keine Nation; thun, was keiner nachthut: sie waren Römer. Auf einer Welthöhe, und alles rings um sie Thal. Auf der Höhe von Jugend auf, zu dem Römersinn gebildet, handelten in ihm — was Wunder? Und was Wunder, xio

daß ein kleines Hirten- und Ackervolk in einem Thale der Erde nicht eisernes Thier war, was so handeln konnte? Und was Wunder, daß dies wieder Tugenden hatte, die der edelste Römer nicht, und der edelste Römer auf seiner Höhe, im Drange der Noth, Grausamkeiten mit kaltem Blute beschließen konnte, die der Hirte im kleinen Thale denn nun wieder nicht auf der Seele hatte. Auf dem Gipfel jener Riesenmaschiene war leider! die Aufopferung oft Kleinigkeit, oft Noth, oft (arme Menschheit, welcher Zustände bist du fähig!) oft Wohlthat. Eben die Maschiene, die weitreichende Laster möglich machte, wars, die auch Tugenden so hoch hob, Wirksamkeit so weit ausbreitete: ist die Menschheit überhaupt in Einem jetzigen Zustande reiner Vollkommenheit fähig? Gipfel gränzt an Thal. Um edle Spartaner wohnen unmenschlich behandelte Heloten. Der Römische Triumphator mit Götterröthe gefärbt ist unsichtbar auch mit Blute getüncht: Raub, Frevel und Wohllüste sind um seinen Wagen: vor ihm her Unterdrückung: Elend und Armuth zieht ihm nach. — Mangel und Tugend wohnen also auch in diesem Verstände in einer Menschlichen Hütte immer beisammen. Schöne Dichtkunst, ein Lieblingsvolk der Erde, in übermenschlichen Glanz zu zaubern — auch ist die Dichtkunst nützlich, denn der Mensch wird auch durch schöne Vorurtheile veredelt — aber wenn der Dichter ein Geschichtschreiber, ein Philosoph ist, wie es die meisten zu seyn vorgeben, und die denn nach der einen Form ihrer Zeit — oft ist sie sehr klein und schwach! — alle Jahrhunderte modeln — Hume! Voltäre! Robertsons! klaßische Gespenster der Dämmerung! was seid ihr im Lichte der Wahrheit? Eine gelehrte Gesellschaft unsrer Zeit gab, ohne Zweifel in hoher Absicht, die Frage auf: „welches in der Geschichte wohl das glücklichste Volk gewesen?" und verstehe idi die Frage recht: liegt sie nicht außer dem Horizont einer Menschlichen Beantwortung, so weiß idi nicht, als: zu gewißer Zeit und unter gewißen Umständen, traf auf jedes Volk ein solcher Zeitpunkt, oder es wars nie eines. Ist nehmlich wiederum Menschliche Natur kein Gefäß einer absoluten, unabhängigen, unwandelbaren Glückseligkeit, wie der Philosoph sie definirt: sie zieht aber überall so viel Glückseligkeit an, als sie kann: ein biegsamer Ton, sich in den verschiedensten Lagen, Bedürfnißen und III

Bedrückungen auch verschieden zu formen: selbst das Bild der Glückseligkeit wandelt mit jedem Zustande und Himmelsstriche — (denn was ist dies je anders als die Summe von „Wunschbefriedigungen, Zweckerreichungen und sanftem Uberwinden der Bedürfniße", die sich doch alle nach Land, Zeit und Ort gestalten?) im Grunde also wird alle Vergleichung mißlich. So bald sich der innerliche Sinn der Glückseligkeit, die Neigung verändert hat: so bald die äußern Gelegenheiten und Bedürfniße den andern Sinn bilden und befestigen — wer kann die verschiedene Befriedigung verschiedner Sinne in verschieden Welten vergleichen? den Hirten und Vater des Orients, den Ackermann und Künstler, den Schiffer, Wettläufer, Überwinder der Welt — wer vergleichen? Im Lorbeerkranze, oder am Anblicke der gesegneten Heerde, am Waarensdiiffe und erbeuteten Feldzeichen liegt nichts — aber an der Seele, die das brauchte, darnach strebte, das nun erreicht hat, und nichts anders als das erreichen wollte — jede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich, wie jede Kugel ihren Schwerpunkt! Gut hat auch hier die gute Mutter gesorgt. Sie legte Anlagen zu der Mannichfaltigkeit ins Herz, machte jede aber an sich selbst so wenig dringend, daß wenn nur einige befriedigt werden, sich die Seele bald aus diesen erweckten Tönen ein Koncert bildet, und die unerweckten nicht fühlet, als wiefern sie stumm und dunkel, den lautenden Gesang unterstützen. Sie legte Anlagen von Mannichfaltigkeit ins Herz, nun einen Theil der Mannichfaltigkeit im Kreise um uns, uns zu Händen: nun mäßigte sie den Menschlichen Blick, daß nach einer kleinen Zeit der Gewohnheit ihm dieser Kreis, Horizont wurde — nicht drüber zu blicken: kaum drüber zu ahnden! Alles was mit meiner Natur nodi gleichartig ist, was in sie aßimilirt werden kann, beneide idi, strebs an, mache mirs zu eigen; darüber hinaus hat mich die gütige Natur mit Fühllosigkeit, Kälte und Blindheit bewafnet; sie kann gar Verachtung und Eckel werden — hat aber nur zum Zweck, mich auf mich selbst zurückzustoßen, mir auf dem Mittelpunkt Gnüge zu geben, der midi trägt. Der Grieche macht sich so viel vom Ägypter, der Römer vom Griechen zu eigen, als er für sich braucht: er ist gesättigt, das übrige fällt zu Boden und er strebts nicht an! Oder wenn in dieser Ausbildung eigner Nationalneigungen zu eigner 112

Nationalglückseligkeit der Abstand zwischen Volk und Volk schon zu weit gediehen ist: siehe, wie der Ägypter den Hirten, den Landstreicher haßet! wie er den leichtsinnigen Griechen verachtet! So jede zwo Nationen, deren Neigungen und Kreise der Glückseligkeit sich stoßen — man nennts Vorurtheil ! Pöbelei! eingeschränkten Nationalism! Das Vorurtheil ist gut, zu seiner Zeit: denn es macht glücklich. Es drängt Völker zu ihrem Mittelpunkte zusammen, macht sie vester auf ihrem Stamme, blühender in ihrer Art, brünstiger und also auch glückseliger in ihren Neigungen und Zwecken. Die unwißendste, vorurtheilendste Nation ist in solchem Betracht oft die erste: das Zeitalter fremder Wunschwanderungen, und ausländischer Hoffnungsfahrten ist schon Krankheit, Blähung, ungesunde Fülle, Ahndung des Todes! I I I . Und der allgemeine, Philosophische, Menschenfreundliche Ton unsres Jahrhunderts gönnet jeder entfernten Nation, jedem ältesten Zeitalter der Welt, an Tugend und Glückseligkeit so gern „unser eigen Ideal?" ist so alleiniger Richter, ihre Sitten nach sich allein zu beurtheilen? zu verdammen? oder schön zu dichten? Ist nicht das Gute auf der Erde ausgestreut? Weil eine Gestalt der Menschheit und ein Erdstrich es nicht faßen konnte, wards vertheilt in tausend Gestalten, wandelt — ein ewiger Proteus! — durch alle Welttheile und Jahrhunderte hin — auch, wie er wandelt und fortwandelt, ists nicht größere Tugend oder Glückseligkeit des Einzeln, worauf er strebet, die Menschheit bleibt immer nur Menschheit — und doch wird ein Plan des Fortstrebens sichtbar — mein großes Thema! Wers bisher unternommen, den Fortgang der Jahrhunderte zu entwickeln, hat meistens die Lieblingsidee auf der Fahrt: Fortgang zu mehrerer Tugend und Glückseligkeit einzelner Menschen. Dazu hat man alsdenn Fakta erhöhet, oder erdichtet: Gegenfakta verkleinert oder verschwiegen; ganze Seiten bedeckt; Wörter für Wörter genommen, Aufklärung für Glückseligkeit, mehrere und feinere Ideen für Tugend — und so hat man „von der allgemeinfortgehenden Verbeßerung der Welt" Romane gemacht — die keiner glaubte, wenigstens nicht der wahre Schüler der Geschichte und des Menschlichen Herzens. Andre die das Leidige dieses Traums sahen, und nichts beßers wüsten — sahen Laster und Tugenden, wie Klimaten, wechseln, IIJ 8

Rascb, Der junge Herder

Vollkommenheiten, wie einen Frühling von Blättern entstehen und untergehen, Menschliche Sitten und Neigungen, wie Blätter des Schicksals fliegen, sich umschlagen — kein Plan! kein Fortgang! ewige Revolution — Weben und Aufreißen! — Penelopische Arbeit! — Sie fielen in einen Strudel, Skepticismus an aller Tugend, Glückseligkeit und Bestimmung des Menschen, in den sie alle Geschichte, Religion und Sittenlehre flochten der neueste Modeton der neuesten, insonderheit Französischen Philosophen, ist Zweifel! Zweifel in hundert Gestalten, alle aber mit dem blendenden Titel „aus der Geschichte der Welt!" Widersprüche und Meereswogen: man scheitert, oder was man von Moralität und Philosophie aus dem Schiffbruche rettet, ist kaum der Rede werth. Sollte es nicht offenbaren Fortgang und Entwicklung aber in einem höhern Sinne geben, als mans gewähnet hat? Siehest du diesen Strom fortschwimmen : wie er aus einer kleinen Quelle entsprang, wächst, dort abreißt, hier ansetzt, sich immer schlängelt und weiter und tiefer bohret — bleibt aber immer Waßer! Strom! Tropfe! immer nur Tropfe, bis er ins Meer stürzt — wenns so mit dem Menschlichen Geschledite wäre? Oder siehest du jenen wachsenden Baum! jenen emporstrebenden Menschen! er muß durch verschiedne Lebensalter hindurch! alle offenbar im Fortgange! ein Streben auf einander in Kontinuität! Zwischen jedem sind scheinbare Ruheplätze, Revolutionen! Veränderungen! und dennoch hat jedes den Mittelpunkt seiner Glückseligkeit in sich selbst! Der Jüngling ist nicht glücklicher als das unschuldige, zufriedne Kind: noch der ruhige Greis unglücklicher, als der heftigstrebende Mann: der Pendul schlägt immer mit gleicher Kraft, wenn er am weitesten ausholt und desto schneller strebt, oder wenn er am langsamsten schwanket, und sich der Ruhe nähert. Indeß ists doch ein ewiges Streben! Niemand ist in seinem Alter allein, er bauet auf das Vorige, dies wird nichts als Grundlage der Zukunft, will nichts als solche seyn — so spricht die Analogie in der Natur, das redende Vorbild Gottes in allen Werken! offenbar so imMenschengeschlechte! Der Ägypter konnte nicht ohne den Orientalier seyn, der Grieche bauete auf jene, der Römer hob sich auf den Rücken der ganzen Welt — wahrhaftig Fortgang, fortgehende Entwicklung, wenn auch kein Einzelnes dabei gewönne! Es geht ins Große! es wird, womit die Hülsengeschidite so sehr pralet, 114

und wovon sie so wenig zeigt — Schauplatz einer leitenden Absicht auf Erden! wenn wir gleich nicht die letzte Absicht sehen sollten, Schauplatz der Gottheit, wenn gleich nur durch Öffnungen und Trümmern einzelner Scenen. Wenigstens ist der Blick weiter als jene Philosophie, die unter-über mischt, nur immer hie und da, bei einzelnen Verwirrungen sich aufhält, um alles zum Ameisenspiele, zum Gestrebe einzelner Neigungen und Kräfte ohne Zweck, zum Chaos zu machen, in dem man an Tugend, Zweck und Gottheit verzweifelt! Wenns mir gelänge, die disparatsten Scenen zu binden, ohne sie zu verwirren — zu zeigen, wie sie sich auf einander beziehen, aus einander erwachsen, sich in einander verlieren, alle im Einzelnen nur Momente, durch den Fortgang allein Mittel zu Zwecken — welch ein Anblick! welch edle Anwendung der Menschlichen Geschichte! welche Aufmunterung zu hoffen, zu handeln, zu glauben, selbst wo man nichts, oder nicht alles sieht! — Ich fahre fort

Zweiter Abschnitt Auch die Römische Weltverfaßung erreichte ihr Ende, und je grösser das Gebäude, je höher es stand; mit desto grösserm Sturze fiels! die halbe Welt war Trümmer. Völker und Erdtheile hatten unter dem Baume gewohnt, und nun, da die Stimme der heiligen Wächter rief: „Haut ihn ab!" — welch eine große Leere! wie ein Riß im Faden der Weltbegebenheiten! Nichts minder, als eine neue Welt war nöthig, den Riß zu heilen. Norden wars. U n d was man auch nun über den Zustand dieser Völker für Ursprünge und Systeme ersinnen mag: das simpelste scheint das wahreste: in Ruhe warens gleichsam „Patriarchien wie sie in Norden seyn konnten". D a unter solchem Klima kein Morgenländisches Hirtenleben möglich war, schwerere Bedürfniße hier den Menschlichen Geist mehr druckten, als wo die N a t u r fast allein f ü r den Menschen würkte; eben die schwereren Bedürfniße, und die Nordluft die Menschen aber mehr härtete, als sie im warmen Aromatischen Treibhause Osts und Süds gehärtet werden konnten: natürlich blieb ihr Zustand roher, ihre kleine Gesellschaften getrennter und wilder: aber die Menschlichen Bande noch in Stärke, Menschlicher Trieb H5

und Kraft in Fülle — da konnte das Land werden, was Tacitus beschreibt. Und als dies Nordische Meer von Völkern mit allen Wogen in Bewegung gerieth, Wogen drängten Wogen, Völker andre Völker! Mauer und Damm um Rom war zerrißen: sie selbst hatten ihnen die Lücken gezeigt und sie herbeigelockt, daran zu flicken — endlich da alles brach, welche Überschwemmung des Süds, durch den Nord! und nach allen Umwälzungen und Abscheulichkeiten, welche neue Nordsüdliche Welt! Wer den Zustand der Römischen Länder (und sie waren damals das gebildete Universum!) in den letzten Jahrhunderten bemerket, wird diesen Weg der Vorsehung, einen so sonderbaren Ersatz Menschlicher Kräfte zu bereiten, anstaunen und bewundern. Alles war erschöpft, entnervt, zerrüttet: von Menschen verlaßen, von entnervten Menschen bewohnt, in Üppigkeit, Lastern, Unordnungen, Freiheit und wildem Kriegesstolz untersinkend. Die schönen Römischen Gesetze und Känntniße konnten nicht Kräfte ersetzen, die verschwunden waren, Nerven wiederherstellen, die keinen Lebensgeist fühlten, Triebfedern regen, die da lagen — also Tod! ein abgematteter, im Blute liegender Leichnam — da ward in Norden neuer Mensch gebohren. Unter frischem Himmel, in der Wüste und Wilde, wo es niemand vermuthete, reifte ein Frühling starker, nahrhafter Gewächse, die in die schönem, südlichem Länder — jetzt traurigleere Äcker! — verpflanzt neue Natur annehmen, große Ernte fürs Weltschicksal geben sollten! Gothen, Vandalen, Burgunden, Anglen, Hunnen, Herulen, Franken und Bulgaren, Sklaven und Longobarden kamen — setzten sich, und die ganze neuere Welt vom Mittelländischen zum schwarzen, vom Atlantisdien zum Nordmeer, ist ihr Werk! ihr Geschlecht! ihre Verfaßung! Nicht blos Menschenkräfte, auch welche Gesetze und Einrichtungen brachten sie damit auf den Schauplatz der Bildung der Welt! Freilich verachteten sie Künste und Wißenschaften, Üppigkeit und Feinheit — die die Menschheit verheeret hatten; aber wenn sie statt der Künste, Natur: statt der Wißenschaften, gesunden Nordischen Verstand, statt der feinen, starke und gute, obgleich wilde Sitten brachten, und das alles nun zusammen gährte — welch ein Eräugniß! Ihre Gesetze, wie athmen sie männlichen Muth, Gefühl der Ehre, Zutrauen auf Verstand, Redlichkeit und Götterverehrung! Ihre Feudaleinrichtung, wie untergrub sie das Gewühl Volkreicher, üppiger Städte, baute

das Land, beschäftigte Hände und Menschen, machte gesunde und eben damit auch vergnügte Leute. Ihr späteres Ideal über die Bedürfniße hinaus — es ging auf Keuschheit und Ehre, veredelte den besten Theil der Menschlichen Neigungen: obgleich Roman, so doch ein hoher Roman: eine wahre neue Blüthe der Menschlichen Seele . . . Indeß hatte die Vorsehung für gut befunden, zu dieser neuen Gährung Nordsüdlicher Säfte noch ein neues Ferment zu bereiten und zu zumischen — die Christliche Religion. Ich darf doch bei unserm Christlichen Jahrhunderte nicht erst um Verzeihung bitten, daß idi von ihr als einer Triebfeder der Welt rede — betrachte sie ja nur als Ferment, als Sauerteig, zu Gutem oder zu Bösem — wozu man noch will . . . Wem ists nicht erschienen, wie in jedem Jahrhunderte das sogenannte „Christenthum" völlig Gestalt oder Analogie der Verfaßung hatte, mit- oder in der es exsistirte! wie eben derselbe Gothische Geist auch in das Innere und Äussere der Kirche eindrang, Kleider und Cerimonien, Lehren und Tempel formte, den Bischoffstab zum Schwert schärfte, da alles Schwert trug, und Geistliche Pfründen, Lehne und Sklaven schuf, weils überall nur solche gab. Man denke sich von Jahrhundert zu Jahrhundert jene ungeheuren Anstalten von Geistlichen Ehrenämtern, Klöstern, Mönchsorden, endlich später gar Kreuzzügen und der offenbaren Herrschaft der Welt — ungeheures Gothisdies Gebäude! überladen, drückend, finster, Geschmacklos — die Erde scheint unter ihm zu sinken — aber wie groß! reich! überdacht! mächtig! — ich rede von einem Historischen Eräugniße! Wunder des Menschlichen Geists und gewiß der Vorsehung Werkzeug. Wenn mit seinen Gährungen und Reibungen der Gothische Körper überhaupt Kräfte regte: gewiß trug der Geist, der ihn belebte und band, das Seine bei. Wenn durch jenen eine Mischung von hohen Begriffen und Neigungen in Europa ausgebreitet wurde, in der Mischung und in dem Umfange noch nie gewürkt; allerdings war auch sie darinne webend. Und ohne mich hier auf die verschiednen Perioden des Geists der mittlem Zeiten einlaßen zu können; wir wollens Gothischen Geist, Nordisches Ritterthum im weitsten Verstände nennen — grosses Phänomenon so vieler Jahrhunderte, Länder und Situationen. " 7

Gewißermaassen noch immer „Inbegriff alle der Neigungen, die voraus einzelne Völker und Zeitläufte entwickelt hatten": sie laßen sich sogar in sie auflösen, aber das würksame Element, das alle band, und zu einer lebendigen Kreatur Gottes machte, ist in jedem Einzeln nicht mehr daßelbe. Väterliche Neigungen, und heilige Verehrung des weiblichen Geschlechts: unauslöschliche Freiheitliebe und Despotismus: Religion und Kriegerischer Geist: pünktliche Ordnung und Feierlichkeit und sonderbarer Hang zur Aventure — das flöß zusammen! Orientalische, Römische, Nordische, Saracenisdie Begriffe und Neigungen! man weiß, wenn? wo? und in welchem Maasse sie jetzt und dort zusammengefloßen sind, und sich modificirt haben. — Der Geist des Jahrhunderts durchwebte und band die verschiedensten Eigenschaften — Tapferkeit und Möncherei, Abentheuer und Galanterie, Tyrannei und Edelmuth; bands zu dem Ganzen, das uns jetzt — zwischen Römern und uns — als Gespenst, als romantisches Abentheuer dasteht; einst wars Natur, war — Wahrheit. Man hat diesen Geist „der Nordischen Ritterehre" mit den Heroischen Zeiten der Griechen verglichen — und freilich Punkte der Vergleichung gefunden — Aber an sich bleibt er in der Reihe aller Jahrhunderte, dünkt mich, Einzig! — nur sich selbst gleich! Man hat ihn, weil er, zwischen Römern und Uns— quanti viri! — Uns! steht, so schrecklich verspottet; Andre, von etwas abentheuerlichem Gehirne haben ihn so hoch über alles erhoben — mich dünkt, er ist nichts mehr und minder, als „einzelner Zustand der Welt!" keinem der vorigen zu vergleichen, wie sie mit Vorzügen und Nachtheilen: auf sie gegründet, selbst in ewiger Veränderung und Fortstrebung — ins Große. Die dunkeln Seiten dieses Zeitraums stehn in allen Büchern: jeder klaßische Schöndenker, der die Policirung unsres Jahrhunderts fürs non plus ultra der Menschheit hält, hat Gelegenheit ganze Jahrhunderte auf Barbarei, elendes Staatsrecht, Aberglauben und Dummheit, Mangel der Sitten und Abgeschmacktheit — in Schulen, in Landsitzen, in Tempeln, in Klöstern, in Rathhäusern, in Handwerkszünften, in Hütten und Häusern zu schmälen und über das Licht unsres Jahrhunderts, das ist, über seinen Leichtsinn und Ausgelaßenheit, über seine Wärme in Ideen und Kälte in Handlungen, über seine sdiein118

bare Stärke und Freiheit, und über seine würkliche Todesschwäche und Ermattung unter Unglauben, Despotismus und Üppigkeit zu Lobjauchzen. Davon sind alle Bücher unsrer Voltare und Hume, Robertsons und Iselins voll, und es wird ein so schön Gemälde, wie sie die Aufklärung und Verbeßerung der Welt aus den trüben Zeiten des Deisums und Despotismus der Seelen d. i. zu Philosophie und Ruhe herleiten — daß dabei jedem Liebhaber seiner Zeit das Herz lacht. Alle das ist wahr und nicht wahr. Wahr, wenn man, wie ein Kind, Farbe gegen Farbe hält, und ja ein helles, lidhtes Bildchen haben will — in unserm Jahrhundert ist leider! so viel Licht! — Unwahrheit, wenn man die damalige Zeit in ihrem Wesen und Zwecken, Genuß und Sitten, insonderheit als Werkzeug im Zeitlaufe betrachtet. Da lag in diesen dem Scheine nach gewaltsamen Anstalten und Verbindungen oft ein Vestes, Bindendes, Edles und Großherrliches, das wir mit unsern Gottlob! feinen Sitten, aufgelösten Zünften und dafür gebundnen Ländern, und angebohrner Klugheit und Völkerliebe bis ans Ende der Erde, fürwahr weder fühlen nodi kaum mehr fühlen können. Siehe, du spottest über die damalige Knechtschaft, über die rohen Landsitze des Adels, über die vielen kleinen Inseln und Unterabtheilungen, und was davon abhing — preisest nidits so sehr, als die Auflösung dieser Bande, und weißt kein grösseres Gut, was je der Menschheit geschehen, als da Europa und mit ihm die Welt frei wurde. Frei wurde? süsser Träumer! wenns nur das, und das nur wahr wäre! Aber nun siehe auch, wie durch den Zustand in jenen Zeiten Dinge ausgerichtet wurden, über die sonst alle Menschliche Klugheit hatte verblöden müßen: Europa bevölkert und gebauet: Geschlechter und Familien, Herr und Knecht, König und Unterthan drang stärker und näher an einander: die so genannten rohen Landsitze hinderten das üppige ungesunde Zunehmen der Städte, dieser Abgründe für die Lebenskräfte der Menschheit: der Mangel des Handels und der Feinheit verhinderte Ausgelaßenheit und erhielt simple Menschheit — Keuschheit und Fruchtbarkeit in Ehen, Armuth und Fleiß und Zusammendrang in Häusern. Die rohen Zünfte und Freiherrlichkeiten, machten Ritter- und Handwerksstolz, aber zugleich Zutrauen auf sich, Festigkeit in seinem Kreise, Mannheit auf seinem Mittelpunkte, wehrte, der ärgsten Plage der Menschheit, dem Land- und Seelenjoche, unter das 119

offenbar, seitdem alle Inseln aufgelöst sind, alles mit froh und freiem Muthe sinkt. Da konnten in etwas spätem Zeiten denn soviel Kriegerische Republiken und wehrhafte Städte werden! erst waren die Kräfte gepflanzt, genährt und durch Reiben erzogen, von denen im traurigen Reste ihr noch jetzo lebt. Hätte euch der Himmel die Barbarischen Zeiten nicht vorhergesandt und sie so lange unter so mancherlei Würfen und Stößen erhalten — armes, policirtes Europa, das seine Kinder frißt oder relegiret, wie wärest du mit alle deiner Weisheit — Wüste! „Daß es jemanden in der Welt unbegreiflich wäre, wie Licht die Menschen nicht nährt! Ruhe und Üppigkeit und so genannte Gedankenfreiheit nie allgemeine Glückseligkeit und Bestimmung seyn kann!" Aber Empfindung, Bewegung, Handlung — wenn auch in der Folge ohne Zweck, (was hat auf der Bühne der Menschheit ewigen Zweck?) wenn audi mit Stößen und Revolutionen, wenn audi mit Empfindungen, die hie und da schwärmerisch, gewaltsam, gar abscheulich werden — als Werkzeug in den Händen des Zeitlaufs, welche Macht! welche Würkung! Herz und nicht Kopf genährt! mit Neigungen und Trieben alles gebunden, nicht mit kränkelnden Gedanken! Andacht und Ritterehre, Liebeskühnheit Und Bürgerstärke — Staatsverfaßung und Gesetzgebung, Religion. — Ich will nichts weniger, als die ewigen Völkerzüge und Verwüstungen, Vasallenkriege und Befehdungen, Mönchsheere, Wallfahrten, Kreuzzüge vertheidigen: nur erklären möchte idi sie: wie in allem doch Geist hauchet! Gährung Menschlicher Kräfte. Große Kur der ganzen Gattung durch gewaltsame Bewegung, und wenn idi so kühn reden darf, das Schicksal zog, (allerdings mit grossem Getöse, und jhne daß die Gewichte da ruhig hangen konnten) die große abgelaufne Uhr auf! da raßelten also die Räder! Wie anders sehe ich die Zeiten in dem Lichte! wie viel ihnen zu vergeben, da ich sie selbst ja immer im Kampfe gegen Mängel, im Ringen zur Verbeßerung, und sie wahrhaftig mehr als eine andere, sehe! wie viel Lästerungen geradezu falsch und übertrieben, da ihr Mißbräuche entweder angedichtet werden aus fremden Hirn, oder die damals weit milder und unvermeidlicher waren, sich mit einem gegenseitigen Guten kompensirten, oder die wir schon jetzt offenbar als Werkzeuge zu grossem Guten in der Zukunft, woran sie selbst nidit dachten, wahrnehmen. Wer liest diese Geschichte, und ruft nicht oft: IZO

Neigungen und Tugenden der Ehre und Freiheit, der Liebe und Tapferkeit, der Höflichkeit und des Worts, wo seyd ihr geblieben! eure Tiefe verschlämmet! eure Veste, weicher Sandboden voll Silberkörner, wo nichts wädist! Wie es auch sei, gebt uns in manchem Betracht eure Andacht und Aberglauben, Finsterniß und Unwißenheit, Unordnung und Rohigkeit der Sitten, und nehmt unser Licht und Unglauben, unsre entnervte Kälte u n d Feinheit, unsre Philosophische Abgespanntheit und Menschliches Elend! — Übrigens aber freilich muß Berg und Thal gränzen, und das dunkle veste Gewölbe konnte — nichts anders seyn als dunkles vestes Gewölbe — G o t h i s c h ! . . . Endlich folgte, wie wir sagen, die Auflösung, die Entwickelung: lange ewige Nacht klärte sich in Morgen auf: es ward Reformation, Wiedergeburt der Künste, Wißenschaften, Sitten! . . Wenn wir in die Umstände des Ursprungs aller sogenannten Welterleuchtungen näher eindringen: die nehmliche Sache. Dort im Großen, hier im Kleinen, Zufall, Schicksal, Gottheit! Was jede Reformation anfing, waren Kleinigkeiten; die nie so gleich den großen ungeheuren Plan hatten, den sie nachher gewannen; so oft es gegentheils vorher der große, wiirklich überlegte, Menschliche Plan gewesen war: so oft mißlang er. Alle eure große Kirchen Versammlungen, ihre Kaiser! Könige! Kardinäle und Herren der Welt! werden nimmermehr nicht ändern, aber dieser unfeine, unwißende Mönch, Luther soils ausrichten! U n d das von Kleinigkeiten, wo er selbst nichts weniger, als so weit denkt! durch Mittel, wo nach der Weise unsrer Zeit, Philosophisch gesprochen, nie so was auszurichten war! meistens er selbst das wenigste ausrichtend, nur daß er andre anstieß, Reformatoren in allen andern Ländern weckte, er aufstand und sagte „ich bewege mich! darum gibts Bewegung!" Dadurch ward, was geworden ist — Veränderung der Welt! Wie oft waren solche Luthers früher aufgestanden und — untergegangen: der Mund ihnen mit Rauch und Flammen gestopft, oder ihr Wort f a n d noch keine freie Luft, wo es tönte — aber nun ist Frühling: die Erde öfnet sich, die Sonne brütet und tausend neue Gewächse gehen hervor — Mensch, du warst nur immer, fast wider deinen Willen, ein kleines blindes Werkzeug. „Warum ist nicht, ruft der sanfte Philosoph, jede solcher Reformationen lieber! ohne Revolution geschehen? Man hätte den Menschlichen Geist nur sollen seinen stillen Gang gehen 121

laßen, statt daß jetzt die Leidenschaften im Sturme des H a n delns neue Vorurtheile gebahren, und man Böses mit Bösem verwechselte" Antwort! weil so ein stiller Fortgang des Menschlichen Geistes zur Verbeßerung der Welt kaum etwas anders als Phantom unsrer Köpfe, nie Gang Gottes in der Natur ist. Dies Samenkorn fällt in die Erde! da liegts und erstarrt; aber nun kommt Sonne es zu wecken: da bridits auf: die Gefässe schwellen mit Gewalt auseinander: es durchbricht den Boden — so Blüthe, so Frudit — kaum die garstige Erdpilze wädist, wie dus träumest. Der Grund jeder Reformation war allemal eben soldi ein kleines Saamenkorn, fiel still in die Erde, kaum der Rede werth: die Menschen hattens schon lange, besahens und aditetens nicht — aber nun sollen dadurch Neigungen, Sitten, eine Welt von Gewohnheiten geändert, neugeschaffen werden — ist das ohne Revolution, ohne Leidenschaft und Bewegung möglich? Was Luther sagte, hatte man lange gewußt; aber jetzt sagte es Luther! Roger Baco, Galiläi, Cartes, Leibniz, da sie erfanden, wars stille: es war Liditstral — aber ihre Erfindungen sollten durchbrechen, Meinungen wegbringen, die Welt ändern — es ward Sturm und Flamme. Habe immer der Reformator auch Leidenschaften gehabt, die die Sadie, die Wißenschaft selbst nicht foderte, die Einführung der Sache foderte sie, und eben daß er sie hatte, gnug hatte, um jetzt durch ein Nichts zu kommen, wozu ganze Jahrhunderte durch Anstalten, Masdiienerien und Grübeleien, nicht hatten kommen können — eben das ist Kreditiv seines Berufs! . . .

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Nachwort So schwer durchschaubar, spannungsreich und widerspruchsvoll die Persönlichkeit Johann Gottfried Herders erscheint, so grenzenlos vielfältig, kaum übersehbar und jeder Formel sich versagend sein Werk uns entgegentritt: über die Genialität dieses Schriftstellers besteht kein Zweifel, und die Faszination, die insbesondere von seinen frühen Schriften in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts ausging, ihre erweckende Kraft und weitreichende geistige Wirksamkeit sind reichlich bezeugt. Unter dem Werk des j u n g e n Herder, aus dem in diesem Bändchen eine Reihe von Stücken ausgewählt und zusammengestellt ist, verstehen wir die Schriften des Jahrzehnts von 1766 bis etwa 1776. Das sind die Jahre, die Herder (1744 in dem ostpreußischen Städtchen Mohrungen geboren) in Riga verbrachte — er war dort seit 1764 Lehrer an der Domschule, später auch Prediger —, dann auf der großen Reise, die ihn 1769 über Frankreich nach Eutin und von dort aus 1770 nach Straßburg führte, und schließlich in Bückeburg, wo er 1771—76 als Pfarrer tätig war. Mit der Berufung als Oberhofprediger nach Weimar endete diese Jugendepoche. Die vorliegende Auswahl aus den Büchern und Aufsätzen, die Herder in diesen Jahren veröffentlichte, versucht, in einem Querschnitt die mannigfaltige Thematik seiner Arbeiten zu verdeutlichen, Grundbestände seiner Gedankenwelt vor Augen zu stellen und die Kraft, Bewegtheit und Farbigkeit seiner Schreibweise an Beispielen vorzuführen. Die Texte sind zum Studium bestimmt. Sie werden im genauen Wortlaut der Handschriften oder ersten Drucke wiedergegeben, mit Beibehaltung der orthographischen und sonstigen Eigentümlichkeiten, wie sie in der Ausgabe der Herderschen Werke von Bernhard Suphan abgedruckt sind. 1 Auf eine Kommentierung wird absichtlich verNur das Übermaß an Sperrungen von Wörtern und Sätzen, das in den ersten Drucken einiger dieser Texte störend auffällt, wurde nicht beibehalten. I2J

ziehtet. Die studierenden Benützer werden in der Arbeit des Seminars die sprachlichen und sachlichen Erklärungen selbst beizubringen haben. Es ist notwendig, dem lernenden Leser die Begegnung mit dem reinen und unbearbeiteten Text zu vermitteln, der auch die Sprödigkeit und Fremdheit eines jeden Textes aus lange zurückliegender Vergangenheit bewahrt. Seine Sprachform ist nicht mehr die unsere; er enthält Begriffe, Worte, Namen, Fakten und Anspielungen, die uns nicht mehr geläufig sind. „Aber auch dem Gelehrten und Denker", sagt Jacob Burckhardt, „ist die Vergangenheit in ihrer Äußerung anfangs immer fremdartig und ihre Aneignung eine Arbeit". Diese Arbeit darf nicht scheuen, wer das Lebendige und Unveraltete, das Gegenwärtige und unvermindert Wirksame dieser Herderschen Abhandlungen wahrhaft und genau sidi zueignen will. Die Mitte der ausgewählten Stücke bilden die beiden Abhandlungen aus dem berühmten, von Herder herausgegebenen Manifest „Von deutscher Art und Kunst. Einige fliegende Blätter", das 1773 bei Bode in Hamburg erschien. Die Flugschrift enthielt bekanntlich außer Herders Beiträgen Goethes Prosa-Hymnus „Von deutscher Baukunst", die Übersetzung eines kühl analysierenden „Versuchs über die Gothische Baukunst" von Paolo Frisi und Justus Mosers Aufsatz „Deutsche Geschichte", ein Stück aus der bereits 1768 gedruckten Einleitung zu Mosers „Osnabrückischer Geschichte". Herders „Auszug aus einem Briefwechsel über Oßian und die Lieder alter Völker" entstand 1771; er war im September abgeschlossen, bis auf die später zugefügte Nachschrift. Der Aufsatz über Shakespeare stammt im ersten Entwurf ebenfalls von 1771, wurde aber 1772 umgeformt und erst Anfang 1773 beendet. Beide Abhandlungen waren ursprünglich für die von W. H . Gerstenberg bei Bode herausgegebene Zeitschrift „Briefe über die Merkwürdigkeiten der Literatur" bestimmt; der Shakespeare-Aufsatz knüpfte in den ersten Entwürfen unmittelbar an Gerstenbergs Briefe über Shakespeare an. Diese beiden Abhandlungen sind hier vollständig abgedruckt, so daß sie die Einsicht in Anlage und Durchführung einer Herderschen Schrift ermöglichen. Die übrigen Beiträge sind Ausschnitte aus umfangreicheren Arbeiten Herders. Es war nicht immer tunlich, aus diesen Werken jeweils nur ein geschlossenes Teilstück auszuwählen, sondern es mußten zuweilen — so 124

fragwürdig eine solche Stückelung ist — mehrere größere oder kleinere Abschnitte zusammengestellt werden, um möglichst charakteristische und gewichtige Stellen in dieser knappen Auslese mitzuteilen. Im Text sind die Lücken durch drei Punkte markiert; das Quellenverzeichnis gibt genaue Auskunft über die ausgewählten Stellen und den Umfang der Auslassungen. Diese Angaben sind bei der Beschäftigung mit den Texten heranzuziehen, damit kein falsches Bild entsteht. Am Anfang stehen einige Abschnitte aus Herders Reisetagebuch, dem persönlichen Dokument seiner Frühzeit. Es spiegelt den chaotischen Reichtum an Ideen, Plänen und Aufgaben im Geist des fünfundzwanzigjährigen Autors, der sich von den Bindungen und einengenden Tätigkeiten in Riga freimacht und ins Ungewisse aufbricht. Das „Journal meiner Reise im Jahr 1769" entstand, nach der Landung an der nordfranzösischen Küste, im Spätsommer 1769 in Nantes und teilweise in Paris. Zu Herders Lebzeiten nicht veröffentlicht, wurde es im Zusammenhang zuerst 1846 in „Herders Lebensbild" (hg. von E. G. von Herder) gedruckt. — Die beiden folgenden Gedichte sind ebenfalls erst aus Herders Nachlaß publiziert worden. Ihnen schließen sich einige Proben aus dem ersten größeren Werk Herders an, einer literaturkritischen Schrift, die schon in der Königsberger Studienzeit unter dem Einfluß Hamanns vorbereitet und in den ersten Rigaer Jahren abgefaßt wurde. Sie erschien 1766—67 unter dem Titel: „Über die neuere Deutsche Litteratur. Fragmente, als Beilagen zu den Briefen, die neueste Litteratur betreffend." Die im Titel genannte Berliner kritische Zeitschrift, an der anfangs Lessing mitgearbeitet hatte und deren wichtigste Beiträge später von Nicolai, Mendelssohn und Abbt stammten, diente Herder als Anknüpfungspunkt zur Darlegung seiner Anschauungen über Sprache und Literatur. Besonders gern nahm er die Beiträge Thomas Abbts zum Ausgangspunkt seiner Betrachtung. Abbt starb 1766, und Herder schrieb im folgenden Jahre, im Zusammenhang mit anderen biographischen Plänen, eine Würdigung dieses Autors, dem er sich in manchem Betracht verwandt fühlt. Der 1768 begonnene zweite Teil dieser Schrift ist nie erschienen. Der erste Teil wurde 1768 in Riga anonym veröffentlicht: „Über Thomas Abbts Schriften. Der Torso von einem Denkmaal, an seinem Grabe errichtet. Erstes Stüde." Aus der grundsätzlich wichtigen Ein125

leitung, die von der Aufgabe und Methode des Biographen handelt, werden hier die ersten Seiten abgedruckt. Von den beiden nun folgenden Aufsätzen über das Volkslied und über Shakespeare war schon die Rede. Während Herder in Straßburg im Austausch mit Goethe die darin verkündeten Einsichten entwickelte, war er mit der Abfassung einer anderen Schrift beschäftigt, zu der ihn die 1769 angekündigte Preisaufgabe der Berliner Königlichen Akademie der Wissenschaften angeregt hatte. Die Frage nach dem Ursprung der Sprache betraf ein Grundthema des Herderschen Denkens. Schon auf der Reise begann er sich mit der Aufgabe zu beschäftigen. In Frankreich sind erste Entwürfe der Abhandlung entstanden, in Straßburg hat Herder 1770 dem jungen Freunde Goethe die hier entstehende Niederschrift „heftweise" mitgeteilt. Die Akademie erteilte Herder 1771 den Preis, und die Schrift wurde 1772 gedruckt. Aus dieser „Abhandlung über den Ursprung der Sprache" erscheint in unserer Auswahl der Anfang des zweiten Teils. Den Abschluß bilden einige Abschnitte aus einer der wichtigsten Bückeburger Schriften, die zu den bedeutendsten Arbeiten Herders überhaupt zählt, nämlich aus dem 1774 veröffentlichten kleinen Buch: „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Beytrag zu vielen Beyträgen des Jahrhunderts." Sprache, Dichtung, Gesdiichte, das sind die zentralen Gegenstandsbereidie im Werk des jungen Herder. Damit sie in dieser Auswahl einigermaßen genügend zur Geltung kommen konnten, mußten die Bückeburger theologischen Arbeiten zurücktreten, ebenso die erste Niederschrift zu der philosophisch-psychologischen Abhandlung „Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele", die bereits in Bückeburg entworfen, jedoch erst in der Weimarer Zeit (1778) fertiggestellt und veröffentlicht wurde. W.R.

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Quellenverzeichnis Der Text der hier ausgewählten Stücke von Herders Schriften folgt dem Wortlaut der großen kritischen Herderausgabe, Herders Sämtliche Werke, herausgegeben von Bernhard Suphan, dreiunddreißig Bände, Berlin 1877 ff. Diese Ausgabe ist hier mit „Suphan" zitiert; die römischen Ziffern bezeichnen die Bandzahl. 1. Journal meiner Reise im Jahr 1769, Suphan IV, S. 345 - 4 6 1 . Hier abgedruckt S. 345, Z. 1—19; S. 348 - S. 351, Z. 2; S. 351, Z. 22 bis S. 352, Z. 2; S. 353, Z. 1 7 - 3 1 ; S. 356, Z. 8 - S. 357, Z. 29; S. 362, Z. 15 - S. 365, Z. 9; S. 402, Z. 5 - S. 403, Z. 18. 2. Der Genius der Zukunft, Suphan XXIX, S. 322—323. 3. Meines Lebens verworrene Schattenfabel, Suphan XXIX, S. 340, Z. 13 — S. 342, Z. 18. — Die bei Suphan in Klammern vorangestellte Überschrift dieses Gedichts „Mein Schicksal" stammt nicht von Herder, sondern von Carl Redlich. 4. Über die neuere deutsche Litteratur. Eine Beilage zu den Briefen, die neueste Litteratur betreffend. 1767/68. Diese meist als „Fragmente" bezeichnete Sammlung besteht aus drei Teilen, die als erste, zwote und dritte „Sammlung von Fragmenten" benannt sind. Das gesamte Werk bei Suphan I, S. 131 —531. Die hier abgedruckten, aus der ersten und dritten Sammlung stammenden Stücke stehen S. 147, Z. 6 - S. 149, Z. 20; S. 151, Z. 23 - S. 155, Z. 17; S. 394, Z. 16 - S. 400, Z. 3. 5. Über Thomas Abbts Schriften. Der Torso von einem Denkmaal, an seinem Grabe errichtet. Erstes Stück. 1768. Suphan II, S. 249—294. Hier abgedruckt die ersten Seiten der „Einleitung, die von der Kunst redet, die Seele des andern abzubilden", S. 257—260, Z. 26. 6. Auszug aus einem Briefwechsel über Oßian und die Lieder alter Völker. Suphan V, S. 159—207. Hier vollständig abgedruckt. 7. Shakespear. Suphan V, S. 208, 231. Hier vollständig abgedruckt. 8. Abhandlung über den Ursprung der Sprache, welche den von der Königl. Academie der Wissenschaften für das Jahr 1770 gesezten Preis erhalten hat. Suphan V, S. 1 —147. Hier abgedruckt der Anfang des zweiten Teils, S. 93 — S. 101, Z. 12. 9. Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Beytrag zu vielen Beyträgen des Jahrhunderts. Suphan V, S. 4 7 5 - 5 8 6 . Hier abgedruckt S. 495, Z. 3 - S. 516, Z. 4; S. 516, Z. 2 1 - 2 7 ; S. 522, Z. 7 - S. 527, Z. 5; S. 530, Z. 1 - 4 ; S. 531, Z. 23 - S. 533, Z. 8. 127