Der internationale Richter im Spannungsfeld der Rechtskulturen: Eine rechtssoziologische Studie über die Elemente des Selbstverständnisses des Internationalen Gerichtshofs 3428033086, 9783428033089

Rev. English version published in 1979 under title: The latent power of culture and the international judge.

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German Pages 257 [258] Year 1975

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Der internationale Richter im Spannungsfeld der Rechtskulturen: Eine rechtssoziologische Studie über die Elemente des Selbstverständnisses des Internationalen Gerichtshofs
 3428033086, 9783428033089

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LYNDEL V. PROTT

Der internationale Richter im Spannungsfeld der Rechtskulturen

Tühinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht Herausgegeben von Thomae Oppermann, Tübingen

Band 2

Der internationale Richter im Spannungsfeld der Rechtskulturen Eine rechtssoziologische Studie über die Elemente des Selbstverständnisses des Internationalen Gerichtshofs

Von

Dr. Lyndel V. Prott Senior Lecturer an der Univ. Sydney

DUNCKER & HUMBLOT/BERLIN

AUe Rechte vorbehalten

© 1975 Duncker & Humblot, Berlin 41

Gedruckt 1975 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany ISBN 3 428 03308 6 D 21

Inhaltsverzeichnis Einführung

13

I. Kapitel

Die Rolle des Richters des Internationalen Gerichtshofs

17

1. 1.1. 1.2. 1.3.

Rollentheorie in der Soziologie ................................ Der Rollenträger ...................................... . ....... Rollenkonflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorzüge der Rollentheorie ............................... . ......

2. 2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5. 2.6.

Rolle und Status des Richters .................................. 20 Rollensender und Rollenkonflikt 20 Mögliche Abweichungen von Erwartungen ..................... . 22 Abschirmungsmechanismen ................................... . 23 Institutionalisierte Erwartungen an die Richterrolle ........... . 27 Status des Richters ........................................... . 28 Rollenauffassung 29

3. 3.1. 3.2. 3.2.1. 3.2.2. 3:2.3. 3.2.4. 3.2.5. 3.3.

Rollensender und Rollenkonflikt im Internationalen Gerichtshof Rollensender ................................................. , Rollenkonflikte und Abweichungen ............................ Nachgeben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Identifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Aggressivität .................................................. Zurückhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Juristischer Formalismus ...................................... Wandel der Rollensendung ....................................

30 30 32 32 33 34 34 35 36

4. 4.1. 4.2. 4.3. 4.4.

Abschirmungsmechanismen im Internationalen Gerichtshof Rollenkonflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Intersenderkonflikt ............................................ Sanktionen der Rollensender ................................ " Immanenter Berufskonflikt ....................................

37 37 38 42 43

5.

Institutionalisierte Erwartungen an den Richter des Internationalen Gerichtshofs ........................................... . Unparteilichkeit ....................................... . ..... . Juristische Qualifikation ..................................... . Würdevolles Verhalten ....................................... . Loyalität ..................................................... . Priorität der Richterrolle ................. . ........... . ... . ... . Kooperationsbereitschaft

44 44 45 45 46 47 47

5.1. 5.2. 5.3. 5.4. 5.5. 5.6.

17 17 18 19

6 5.7. 5.8. 5.9.

Inhaltsverzeichnis

5.11.

Effiziente Konfliktlösung ...................................... 48 Befriedigende Begründung .................................... 48 Einstehen für die politischen Ziele der internationalen Gesellschaft? ........................................................ 49 Eintreten für das nationale Rechtssystem? 50 Lösung der Antinomien der Erwartungen? ...................... 51

6. 6.1. 6.2. 6.3.

Erwartungen des Richters des Internationalen Gerichtshofs .... Status des IGH-Richters .......... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Sozialisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Rollenauffassung ..............................................

5.10.

51 51 52 53

LI. Kapitel

Funktions- und Gruppentheorie in bezug auf den Internationalen Gerichtshof

56

1. 1.1. 1.2. 1.3. 1.4.

Funktionstheorie Grundrisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Vorzüge der Funktionstheorie .................................. Das internationale Gesellschaftssystem ...................... " Anwendung der Funktionstheorie auf den Internationalen Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

56 56 58 59

2.

Gruppentheorie ................................................ Grundrisse ................................................... . Gruppenforschung im Süd-West-Afrika-Fall 1966 .............. Der Integrationsbetreuer ...................................... Der Aufgabenbetreuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Einfluß der individuellen Persönlichkeit in inneren Verhältnissen

61 61 63 63 66 67

2.1. 2.2.

2.2.1. · 2.2.2. 2.3. 3.

60

3.1. 3.2.

Zusammensetzung und Subgruppenentwicklung im Internationalen Gerichtshof .............................................. 69 Zusammensetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 69 Subgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 71

4. 4.1. 4.2. 4.3. 4.4.

Zusammenarbeit des IGH-Richterkollegiums .................... Bildung der Meinung .......................................... Entscheidung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Redigierung der Mehrheitsbegründung .......................... Sondervoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

74 75 76 77 79

5. 5.1. 5.1.1. 5.1.1.1. 5.1.1.2. 5.1.2. 5.2. 5.2.1.

Integrierung des IGH-Richterkollegiums ........................ Brennpunkte der Integrierung .................................. Esprit de Corps ......................................... . .... . . Prestige der einzelnen Mitglieder ........ : ..................... Gruppengeist .................................. . ............... Juristische Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Zentrifugale Triebe ............................................ Spannungen zwischen den einzelnen Mitgliedern ................

81 81 81 81 85 86 86 87

Inhaltsverzeichnis 5.2.2. 5.2.3. 5.2.4.

7

Größe der Gruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Wechselnde Mitgliedschaft ................................ , ... Mangel an gemeinsamen Werten und Normen . .... . .... . .. . . . ..

87 87 87

6. Ziel-Beziehung im Internationalen Gerichtshof .. . . . . . . . . . . . . . . 6.1. Konfliktlösung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 6.2. Therapeutische Funktion .. . ....... . .... .. .... . .. . .... .. ....... 6.3. Rechtsfortbildung . .... . .... . ....................... .. .. . ... . ... 6.4. Betonung der gemeinsamen Werte........... . ....... . .... . ..... 6.5. Ziel-Ungewißheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang A: Ausdrücke von Spender. . ... . . . .... . .. . .... . ............... Anhang B: Beispiele aus der Begründung des Süd-West-Afrika-Falls 1966 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

87 88 89 92 93 94 95 96

III. Kapitet Das gesellschaftliche Akzeptieren der dynamischen Richterrolle

97

1. 1.1. 1.2. 1.3.

Antinomien in der Richterrolle .......... . ... . .......... . ...... 97 Stabilisierende Rolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 97 Schöpferische Rolle ................. . ... . .............. . ....... 100 Kontrollelemente bei der Rechtsschöpfung .. .... . ..... ... . .. .... 101

2. 2.1. 2.2. 2.3. 2.4.

Die Antinomien in der Richterrolle im Völkerrecht . . . . .. . .... . .. Meinungsverschiedenheit und Ambivalenz .......... . ........... Rechtsfortbildung am Internationalen Gerichtshof . . .... . .. . .... Kontrollelemente im Völkerrecht .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. "Judicial legislation"

3. 3.1. 3.2.

Der Begriff und Bedeutung der Akzeptierung ..... . .. .... . . .. . . 113 Bedeutung der Akzeptierung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Bestandteile des Akzeptierens .. ....... . . .. ......... . .... . .... .. 115

4. . 4.1.

Krise der Akzeptierung des Internationalen Gerichtshofs ...... . . 117 Besonderheit des Akzeptierungsproblems beim Internationalen Gerichtshof .. . ... . .... . ... . ... .. .... . ... . .... . .... .. . . .. . ... . .. 117 Kritik des Internationalen Gerichtshofs ........... . ... . .... . ... 118

4.2. 5. 5.1. 5.2.

102 102 107 109 111

Das Akzeptieren angesichts spezifischer eigentümlicher Institutionen des Internationalen Gerichtshofs ................. . ...... 120 Der ad hoc Richter .. . . . . . .. . ... . .... . . .. ..... .. ... . .. ... .. . ... 121 Sondervoten ("separate and dissenting opinions") ........... . .. 124

IV. Kapitet Der richterliche Rechtfertigungsvorgang

129

1.

Der Zweck der Begründung . ... .. ... . ... . .... . .... . ..... . ...... 129

2.

Einsichten aus der Philosophie

130

8

Inhaltsverzeichnis

2.1. 2.2. 2.3.

Rhetorische Argumentation (Viehweg) .......................... 130 Rhetorische Argumentation (Pereiman) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 132 Nicht-systematische Argumentation (Toulmin) .................. 132

3. 3.1. 3.1.1. 3.1.2. 3.1.3. 3.1.4. 3.1.5. 3.1.6. 3.2. 3.2.1. 3.2.2. 3.3.

Rhetorische Argumentation im Internationalen Gerichtshof ...... Die spezifisch rhetorischen Argumente .......................... Argumentum ex concessis (Petitio Principii) .................... Argumentum ad hominem ...................................... Das Ins-Lächerliche-Ziehen ("ridicule") ........................ Argument: Erscheinung/Wirklichkeit .......................... Die Berechnung der Wahrscheinlichkeiten ...................... Das Argument der Autorität .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Der Aufbau der Argumentation ................................ Das Namibia-Gutachten ........................................ Der Festlandsockel-Fall ........................................ Anerkennung der nicht-systematischen Denkweise im Internationalen Gerichtshof ..............................................

4. 4.1. 4.2.

Der angesprochene Interessentenkreis ("l'auditoire") ............ 143 Bedeutung für die rhetorische Argumentation .................. 143 Elemente des Interessentenkreises .............................. 145

5. 5.1. 5.2. 5.3. 5.4. 5.5.

Das kulturelle Milieu der Begründung .......................... Ungenauigkeit konventioneller Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Ausnützung der emotionellen Töne ............................ Technische Sprache der nationalen Rechtskreise ................ Elemente der gesamten Kultur ................................ Bedeutung der Sprache für die richterliche Rechtfertigung ......

146 147 148 149 149 150

6. Der richterliche Rechtfertigungsakt in Luxemburg und Straßburg 6.1. Vergleichendes zur Stellung der Gerichtshöfe .................... 6.2. Das Akzeptieren der Richterrolle durch die Beteiligten .......... 6.3. Die Entwicklung einer gemeinsamen juristischen Kultur ........ 6.3.1. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (Luxemburg) 6.3.2. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Straßburg) .... Anhang C: Gebrauch der topischen Argumentationsweise durch den Richter Alfaro ................................................

151 151 153 153 154 156

133 133 133 134 135 135 136 136 137 137 138 141

157

v. Kapitel Das Akzeptierungsproblem beim Internationalen Gerichtshof 1. 1.1. 1.2. 1.3. 1.4. 1.4.1. 1.4.2.

Die Gesprächspartner des Internationalen Gerichtshofs .......... Die Beobachter des Ständigen Internationalen Gerichtshofs .... Die Beobachter des Internationalen Gerichtshofs ................ Entfremdung des Auditoriums: der Tempel-Fall ................ Laien und Fachleute ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Einbeziehung der Laien ........................................ Rücksicht auf die Vorstellungskraft der Nicht-Juristen ..........

161 161 161 164 167 170 171 172

Inhaltsverzeichnis 2. 2.1. 2.1.1. 2.1.2. 2.1.3. 2.2.

9

2.2.3.

Argumentation für den neuen Interessentenkreis ........... . .... Bemühung um besseren Kontakt ... . . . ........... .. .. . ... . .... Rücksicht auf Empfindlichkeiten ..... .... ..... . ............. .. Werben um Sympathie ....... . ..................... ; .......... Nicht-Verlassen auf systematische Argumentation .... .. .. . ..... Bemühung um eine internationale juristische Kultur: Die bisherigen Vorschläge ... . .............. . ......................... Zurückgehen auf allgemeine Rechtsgrundsätze? ........... ... .. Bemühung um gleichartige Benützung der Rechtsinstitutionen der verschiedenen Systeme? . ....... . ...... . ........................ Suggestion allgemeiner Wertsysteme? ................. . ........

3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.4.

Theorien des Begründungsstils ..... .... .... ... ..... ... .... .. .. Deutschland und Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Common Law: Cardozo ... ... .... ... ... . .. ... . . .. . . .. ... . .. . . .. Common Law: MacMillan ......... . . . ............ . .. . . . ..... . .. Vergleichendes Recht ... . .................... . ............ .. ...

182 183 183 186 186

4. Begründungsstil im Internationalen Gerichtshof ..... . . .... . .... 4.1. Necessaria der Begründung ......................... . .......... 4.2. Stilideale beim Internationalen Gerichtshof . . .. ... . .. . ... .. .... 4.2.1. Vollständigkeit .............. . .............. .. ........... . . . . . . 4.2.2. Klarheit ...... . ..................... . ..... .. ....... . ..... . .... 4.2.3. Kommunikationsleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 4.2.4. Maximale überzeugungskraft . ....... . ...... .. ... . .... . .... .. .. 4.2.5. Die Gesamtwirkung der einzelnen Begründung .............. .. .. 4.2.6. Funktionsgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 4.3. Beispiele schlechten Stils .... . . . ............. . ............ . .... 4.4. Bedeutung des Begründungsstils ... . . . ............ . . .. ........ Anhang D: Auszug aus der separate opinion Ammouns im Namibia-Gutachten ......................... . ........ . .............. . ..

187 188 189 189 190 191 192 192 193 193 196

2.2.1. 2.2.2.

174 174 174 175 177 178 178 180 181

196

VI. Kapitel Die Formen und Wege der Beeinflussung der IGH-Rechtsprechungdurch die richterliche Ausbildung in nationalen Rechtskreisen 1. 1.1. 1.1.1. 1.1.2. 1.1.3. 1.1.4. 1.2. 1.2.1. 1.2.2. 1.2.3. 1.2.4.

Vorverständnis .. . ..... . ...... . ....... . ...... .. ........... . . . .. Begriff des Vorverständnisses ................... . .............. Bedeutung des Vorverständnisses ..... . ................... . .... Vorverständnis und Parteilichkeit ..... ... ...... . ... . ... . .. . . . .. Zeugnisse für das Vorverständnis .... . ...... . ........ . ..... . ... Elemente des Vorverständnisses ..... . ...... . .............. .. ... Kontrolle des Vorverständnisses in der richterlichen Meinungsbildung beim Internationalen Gerichtshof ...................... Unvermeidliche Vorbeurteilungsimpulse ...... . ... ... ........ . .. Rechtfertigung vor sich selbst ......... . .. . ...... .. . . ......... . . Die Diskussion im Richterkollegium ........................ . ... Die Rechtfertigung der Entscheidung in der Begründung ... . ... .

198 198 198 198 199 200 202 205 205 207 208 209

10 2.

Inhaltsverzeichnis

2.1. 2.2. 2.3. 2.4.

Unbeabsichtigter Einfluß der jeweiligen nationalen Rechtssysteme auf die IGH-Rechtsprechung ... . ............. . .... . ........... Stil der Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Richterliche Weltanschauung . . ....... . ..... . ... . .. .. ...... . ... Auslegungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Gerichtsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

3. 3.1. 3.2.

Bewußtes Zurückgreifen auf nationale Rechtstradition . ...... . .. 218 Nationales Privatrecht . . . . .. . .... . . . .... . . . .. ... .. . .. . .. . .... . . . 218 Rechtsvergleichung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 222

4. 4.1. 4.2. 4.3. 4.4.

Die Tendenzen der verschiedenen Rechtskreise ........ . . . ...... . Deutsche StIGH- und IGH-Richter ............. . .. .. ..... . .... "Europäische" IGH-Richter ................ . ................ .. . Richter aus "neuen" Ländern ..... . .. . ... . .. . ... . .... . . . .... . .. Sowjetische Richter .......................... . ....... . ...... .. .

5.

Die Chancen einer universalen Rechtskultur durch die Judikatur des Internationalen Gerichtshofs . . ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

209 210 211 214 217

223 223 227 228 231

Schluß betrachtungen

234

Interviews

237

Fallverzeichnis

238

Literaturverzeichnis

243

Namen- und Sachwortverzeichnis

252

Abkürzungsverzeichnis A. C. AJIL Anm. Arch. VR Art. Bd. bes. BGB BRD BYIL CLR DRiZ EuCtHR EuGH EWG GH Hrsg. ICJ ICLQ IGH J. Phil.

N. NTSup. Ct. PCIJ Proceedings ASIL RGZ Rspr. St.IGH UdSSR UNGA UNO USA ZaöRVR

Appeal Cases (Uni ted Kingdom) American Journal of International Law Anmerkung Archiv für Völkerrecht Artikel Band besonders Bürgerliches Gesetzbuch Bundesrepublik Deutschland British Yearbook of International Law Commonwealth Law Reports (Australia) Deutsche Richterzeitung European Court of Human Rights Gerichtshof der europäischen Gemeinschaften Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Gerichtshof Herausgeber International Court of Justice International and Comparative Law Quarterly Internationaler Gerichtshof Journal of Philosophy Notiz Northern Territory Supreme Court (Australia) Permanent Court of International Justice Proceedings of the American Society of International Law Entscheidungen des Reichsgerichtshofs in Zivilsachen Rechtsprechung Ständiger Internationaler Gerichtshof Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken United Nations General Assembly United Nations Organization Uni ted States of America Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

Einführung "If on a correct legal reading of a given situation, certain alleged rights are found to be nonexistent, the consequences of this must be accepted. The Court cannot postulate the existence of such rights in order to avert those consequences. This would be to engage in an essentially legislative task, in the service of political ends the promotion of which, however desirable in itself, lies outside the function of a court of law ... The Court is not a legislative body. Its duty is to apply the law as it finds it, not to make it ... (Süd- West-Afrika-Fall 1966, S. 36)

Was ist die Funktion des Internationalen Gerichtshofs? In der zitierten Entscheidung wurde von der "Funktion eines Gerichts" und den "Grenzen der normalen richterlichen Tätigkeit" gesprochen. Aber gerade dieser Fall hat viel Unzufriedenheit hervorgerufen: stark von der Mehrheit abweichende Meinungen von sieben der vierzehn Richter und lebhafte Kontroversen unter Juristen und der Öffentlichkeit. Wie ein IGH-Richter die Funktion des Internationalen Gerichtshofs sieht, geht von dem Verständnis seiner eigenen Rolle aus. Das nationale Rechtssystem, in dem er als Jurist ausgebildet wurde, hat seine Rollenauffassung bedeutend, manchmal sogar entscheidend, beeinflußt. Deshalb kann die Ausbildung der IGH-Richter einen entscheidenden Einfluß auf die IGH-Rechtsprechung haben. Dieser Einfluß ist Gegenstand dieser Studie. Die Untersuchung, die zu diesem Zweck nötig ist, ist sehr diffizil, weil sie z. T. die Offenlegung der geheimen Spannungen und Motive im Gerichtshof verlangt. Drei Überlegungen ermutigen, diese schwierige Arbeit in Angriff zu nehmen: sie ist nötig, um das Funktionieren des Internationalen Gerichtshofs zu erklären; ähnliche Untersuchungen wurden schon vom großen Völkerrechtler Lauterpacht in Angriff genommen; außerdem könnte keine wissenschaftliche Untersuchung dem Gerichtshof mehr schädigen als die rücksichtslosen und befangenen Angriffe, die auf ihn schon in den Vereinten Nationen unternommen worden sind. Solche Arbeit mag daher zu einem besseren Verständnis der Probleme und Vorteile des Internationalen Gerichtshofs beitragen.

14

Einführung

Beim Versuch, den Einfluß der richterlichen Ausbildung in nationalen Rechtssystemen auf die Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs zu ermessen, habe ich es für unzureichend gehalten, isolierte Äußerungen der IGH-Richter aufzuführen, die vom nationalen Recht beeinflußt sind. Diese Einflüsse sind so subtil und zu einem großen Teil so unbewußt, daß ein Richter im Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sie als "fast aller wissenschaftlichen Forschung spottend" beschrieben hat. Aus diesem Grund habe ich mich nicht auf rein juristische Untersuchungen oder eine Fallanalyse beschränkt, sondern immer versucht, die Untersuchung auf jeder Stufe in Zusammenhang mit anderen Wissenschaftszweigen in Verbindung zu bringen. Dabei habe ich vor allem die Beantwortung der folgenden Fragen als wichtig empfunden: 1. Wie der Gerichtshof " funktioniert ", im Vergleich mit anderen menschlichen Institutionen (Kapitel I).

2. Wie die inneren Verhältnisse im Gerichtshof seine Tätigkeit beeinflussen (Kapitel II). 3. Wie der Gerichtshof seine Rolle der Umwelt gegenüber verteidigt (KapiteIIII). 4. Welche Argumentationsmethoden der Gerichtshof benützt (Kapitel IV). 5. Welche Wandlungen im Begründungstil des Gerichtshofs zu erkennen und zu erwarten sind (Kapitel V). Bei der Beantwortung dieser Fragen habe ich viele Fragen und Problemstellungen der Soziologie, Philosophie und juristischen Methodenlehre aufgegriffen. Erst in Kapitel VI setze ich mich dann mit den einzelnen Begründungen des Gerichtshofs auseinander, durch die dann der Einfluß der nationalen Rechtstraditionen ermessen werden kann. Die Probleme, die in Handlungen der richterlichen Rolle, richterlichen Gruppenarbeit, richterlichen Schöpfung und richterlichen Denkund Argumentationsmethoden vorkommen, sind sehr tief und weitreichend und die Ausführungen dazu erheben hier keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie sind nur als Hilfsmittel gedacht, um die verschiedenen Meinungen auf den Internationalen Gerichtshof anzuwenden. Für diese beschränkten Zwecke mögen sie ausreichen. Diese Arbeitsmethode bringt gewisse Überschneidungen in manchen Kapiteln mit sich. Jedoch bedeutet das keine Wiederholungen, sondern es soll die Möglichkeit genutzt werden, das Thema immer wieder von einem neuen Blickwinkel her anzupacken.

Einführung

15

Ein Rechtssystem ist immer ein komplexer Untersuchungsgegenstand. Das gilt für das Völkerrecht noch mehr als für das Privatrecht. Das zwingt zu gewissen Vereinfachungen, um die Arbeit nicht zu sehr anschwellen zu lassen. Deshalb können Schlüsse, die aus einer solchen Arbeit gezogen werden, nur provisorisch und nie endgültig sein. Sie können als nützliche Ausgangspunkte anderer Forschungen dienen. Man muß sich auch vor zu sehr vereinfachten Analogien zwischen Privat- und Völkerrecht hüten, obwohl das Privatrecht hier immer eine besondere Quelle soziologischer Beachtung darstellt. Ferner dient die Beobachtung der verschiedenen internationalen Gerichtshöfe zur Kontrolle gegenüber einer zu raschen Transponierung der privatrechtlichen Begrifflichkeiten auf die Ebene der internationalen Rechtsprechung. Obwohl die Frage des Einflusses der richterlichen Ausbildung bei allen internationalen Gerichtshöfen von höchstem Interesse ist, diktieren einfache Zeit- und Raumbeschränkungen hier die Begrenzung der Analysen auf den Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Es werden daneben z. T. der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in Luxemburg und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ins Auge gefaßt. Sie bieten interessante Vergleiche, die die Problematik weiter erhellen dürften. Als Gegenstand dieser Untersuchung weist der Internationale Gerichtshof verschiedene Vorteile gegenüber anderen internationalen Gerichtshöfen auf. Er schließt Vertreter von mehreren und verschiedeneren Rechtssystemen ein (weshalb er auch besondere Probleme der internen Zusammenarbeit kennt) und er hat eine ziemlich lange Geschichte und eine umfangreiche Rechtsprechung hinter sich. In dieser Studie ist der Ständige Internationale Gerichtshof oft erwähnt. Obwohl der neue Gerichtshof mit dem alten nicht juristisch verbunden wurde, ist er faktisch doch eine Fortsetzung jenes ersten wirklich internationalen Gerichtshofs. Bei den Untersuchungen über dieses Thema habe ich in Gesprächen mit Richtern dieser drei internationalen Gerichtshöfe wertvolle Einsichten gewonnen. Sechs Richter des Internationalen Gerichtshofs, drei Richter des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und ein Richter des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften haben freundlicherweise mit mir gesprochen. Viele ihrer Ansichten habe ich in dieser Arbeit mit verwendet und das jeweils an der entsprechenden Stelle kenntlich gemacht. Diese Richter haben alle ihre Auffassungen sehr offen dargelegt und sind dankenswerterweise sehr eingehend auf meine Fragen eingegangen. Weil ihre Bemerkungen viel von ihrer persönlich-richterlichen "Philosophie" widerspiegeln und auf Fragen

16

Einführung

der internen Verhältnisse am Gerichtshof eingehen, über die man sonst wenig Auskunft bekommt, habe ich es für richtiger gehalten, die Namen der Richter hier nicht aufzuzählen, obwohl ich ihnen großen Dank schulde.

I. KAPITEL

Die Rolle des Richters des Internationalen Gerichtshofs 1. Rollentheorie in der Soziologie 1

Aus der Einführung dürfte klar geworden sein, daß der Internationale Gerichtshof sich als Organisation in mancherlei Bedrängnis interner Art befindet. Die Probleme der schlecht funktionierenden Organisationen sind in den letzten Jahren von Soziologen erforscht worden. Die Analyse, die letztere in der allgemeinen Theorie des menschlichen HandeIns entwickelt haben, können uns auch bei der Analyse jener Probleme des Internationalen Gerichtshofs hilfreich sein. Denn einige von ihnen sind denen der anderen menschlichen Organisationen ähnlich, während andere durch die spezielle Lage des Internationalen Gerichtshofs bedingt sind. 1. 1. Der Rollenträger

Zum soziologischen Beschreiben und Analysieren des menschlichen HandeIns nehmen einige Autoren ihren Ausgangspunkt von der Situation des Handelnden (der eine Person oder eine Gruppe der Personen sein mag) in einem sozialen System. Die "Situation" in einer Gesellschaft addiert sich aus Rolle und Status2 • Die Rolle ist die Summe der Erwartungen, die dem Inhaber einer Position entgegengebracht werden. Sein Status ist die Summe der Erwartungen, die er als deren Inhaber seiner Gruppe und auch den Mitgliedern anderer Gruppen entgegenbringt oder doch entgegenbringen darf3. Beide Gesichtspunkte sind wichtig, weil alles menschliche Handeln interdependent ist und weil sich jedes Bündel von Erwartungen modifiziert unter dem Einfluß des 1 Diese kurze Skizze der soziologischen Theorie, die für den Gegenstand der Arbeit von Bedeutung ist, stützt sich auf folgende Quellen: Dahrendorj, passim; Devereux, bes. 28 - 33; H. Johnson, bes. 16 - 19, 2846; Lautmann, Rolle, passim, Soziologie, bes. 44 - 53; Parsons, System, bes. 25 - 26, 38 - 40, 236 - 238, 280 - 283, Profession, passim; Popitz, passim; Rothleuthner 11, 65 - 69; Tenbruck, passim; Wüstmann, passim. (Volle Titel im Literaturverzeichnis). Die deutsche übersetzung der Terminologie von Parsons ist meistens an Maus und Fürstenberg angepaßt. 2

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H. Johnson, 16. Parsons, System, 25.

2 Pratt

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1. Kap.: Die Rolle des Richters des IGHs

fremden Handeins und der Gegenerwartungen - nicht zuletzt auch der anderen Persönlichkeit4 • Ein Richter ist ein Rollenträger: Erwartungen sind an ihn gerichtet vonseiten des Kammervorsitzenden, der Kollegen, der Anwälte und der Parteien5• Der Rollenträger läßt in mehr oder weniger starkem Maße die Verhaltensmaßstäbe und Ideale seiner Berufsgruppe auf sich einwirken - ja er öffnet sich ihnen auch aktiv: er "introjiziert" oder "verinnerlicht" sie6 • Dieser Begriff der Introjizierung ist grundlegend für die Rollentheorie. Parsons erklärt es so: "Vom Standpunkt des Handelnden her gesehen definiert sich seine Rolle durch die normativen Erwartungen der Gruppenmitglieder, die in der sozialen Tradition zum Ausdruck kommen. Diese Erwartungen von seiten der Mitmenschen bilden ein wesentliches Merkmal der Situation, in die sich jeder Handelnde gestellt sieht .. ,. sie bilden einen Teil seiner eigenen Persönlichkeit. Im Verlauf des Sozialisierungsprozesses nimmt er ... in mehr oder weniger starkem Maße ... die Verhaltensmaßstäbe und Ideale der Gruppe in sich auf. Auf diese Weise werden sie, unabhängig von äußeren Sanktionen, zu wirksamen Motivierungskräften für sein eigenes Verhalten7." Man kann danach erklären, auf welche Weise die allzu stark vereinfachten Analysen der Schule der amerikanischen Realisten 8 ein kritisches Element der Motivierung versäumt haben: das der verinnerlichten Maßstäbe und Ideale, Teile nicht nur der allgemeinen Kulturumwelt des Richters, sondern auch der besonderen Rechtskultur. Der Handelnde hat verschiedene Rollen - er ist Richter, Mitglied der Nten Kammer, Angehöriger einer Kirche, Vater usw. Er hat daher keine einheitliche Rolle zu tragen. Er ist, wie Parsons ihn beschreibt, ein Bündel der Status und Rollen 9 • Die anderen Mitglieder dieser verschiedenen Gruppen lassen sich als seine Rollensender bezeichnen. Aus den verschiedenen Erwartungen, die an ihn gerichtet sind, bildet der Rollenträger seine eigene Rollenauffassung; insoweit diese völlig verinnerlicht ist, wird sie zu einem Teil seiner Persönlichkeit1o • 1.2. Rollenkonflikt

Es kommt nicht selten vor, daß der Rollenträger in einen Rollenkonflikt geraten ist, d. h. daß er Rollen trägt, die einigermaßen inkom4

5 6

7 8

Parsons, System, 25.

Lautmann, Soziologie, 45. Maus und Fürstenberg, 55. Maus und Fürstenberg, 55.

z. B. bes. in der Arbeit von Frank.

Parsons, System, 26. 10 Maus und Fürstenberg, 55.

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1. Rollentheorie in der Soziologie

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patibel sind, z. B. er ist Kommunist und zugleich Katholik. Solche Konflikte bilden Streß-Situationen für den Rollenträger und ergeben eine Abweichung vom etablierten Erwartungsmuster: einige Erwartungen werden (bei Komprorniß in Bezug auf beide Rollen) enttäuschtl l • Eine andere StreB-Situation stammt nicht aus den inkompatiblen Erwartungen von verschiedenen Rollen, sondern aus den inkompatiblen Erwartungen verschiedener Rollensender in Bezug auf die einzige Rolle; z. B. politische Gruppen, Studenten, Professoren hegen verschiedene Erwartungen gegenüber einem Akademiker. Der Kampf um die Kontrolle des Rollenverhaltens ist von verschiedenen Fakten beeinflußt1 2 : Abschirmung: Ein Mechanismus existiert im System selbst, um den Rollenträger von zu großem Druck zu entlasten. Ein Beispiel dürfte die Immunität der Richter über Äußerungen im Prozeß sein. Interesse: Der Grad des Interesses der Sender ist unterschiedlich. Wenn andere Fakten gleich sind, darf der Rollenträger die Erwartungen der weniger Interessierten enttäuschen. Die Machtverhältnisse: Es kann sein, daß die Rollensender einander neutralisieren. Die Strategie des Rollenträgers: Er kann die Konflikte zwischen den Sendern gegeneinander ausspielen. Der Charakter des Rollenträgers: Von ihm hängt es ab, wieweit er dem Druck gut widerstehen kann. Die Fähigkeit des Rollenträgers, allzu aggressive Mitglieder aus seinen Rollensendern auszuschließen oder zu ignorieren. Noch ein anderer Konfliktfall entsteht, wenn der Rollenträger nicht versteht, was von ihm erwartet wird, wenn ein Kommunikationsmangel eintritt oder die Rolle sich gewandelt hat. Und schließlich hängt die Fähigkeit des Rollenträgers, schnell und entschlossen zu reagieren, auch davon ab, wie tief die Ideale und Maßstäbe, die "Erwartungen" seiner Rollensender, verinnerlicht sind: ob sie einen wesentlichen Bestandteil seiner persönlichen Motivierung bilden. 1.3. Vorzüge der Rollentheorie

Die Rollentheorie erklärt das Dauermuster des Verhaltens in einer Gesellschaft, wie es trotz der Menge ihrer Mitglieder, des scheinbaren Chaos der Bestandteile ihrer Verhältnisse, und der dauernd wechselnden Mitgliedschaft noch auftritt 13 • Die Rolle des Richters in einer Ge11 12 13

H. Johnson, 35. H. Johnson, 36 - 37. Stone, Dimensions, 15.

I. Kap.: Die Rolle des Richters des IGHs

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seIlschaft, aber auch seine Erwartungen an andere in demselben sozialen System Handelnde sind institutionalisiert worden, haben einen normativen Charakter erworben und können für viele soziale Systeme verallgemeinert werden 14 • Eines der Probleme des Internationalen Gerichtshofs liegt darin, daß mit dem bloßen Gebrauch der Worte " Richter " und "Gerichtshof" schon bestimmte Erwartungen, welche Richtern und Gerichtshöfen entgegengebracht werden, und zwar Erwartungen, die an die Rollen unter diesen Namen in westlichen Gesellschaften (andere Gesellschaftssysteme kamen kaum in Frage, als der Ständige Internationale Gerichtshof 1920 gegründet wurde) auch ihm gegenüber als selbstverständlich gelten. In Wahrheit ist es ein wesentlicher Faktor, der die Richter in ganz ungewöhnlichen Situationen überhaupt agieren ließ, daß die ersten Mitglieder des Ständigen Internationalen Gerichtshofs und jeder nachfolgende neu ernannte Richter sein Amt mit einem bestimmten Muster seines Handeins antreten konnte, welches er als "geeignet" oder "vernünftig" betrachtete. Die Rollentheorie mag uns erkennen lassen, in wie breitem Rahmen die Rollenerwartungen - und sogar die ganze Struktur des Internationalen Gerichtshofs und seine Bezugsgruppen15 sich unterscheiden. Juristen mögen gegen die Einführung solcher soziologischen Begriffe in eine Analyse der Rechtssprechung protestieren, schon aus dem Grund, daß ein adäquater begrifflicher Apparat doch bereits in der juristischen Dogmatik existiere. Dagegen sprechen zwei Umstände: 1. das soziologische Unterstreichen des "Inter"handelns betont die Natur der Rechtsprechung als Kommunikationsprozeß, eine Tatsache, die in Kapitel III und IV etabliert werden soll; und 2. es ist eine These dieser Dissertation, die in Kapitel V und VI zur Geltung kommt, daß die Maßstäbe juristischer Dogmatik des westlichen Europas nicht mehr angemessen und ausreichend sind, die Arbeit des Internationalen Gerichtshofs zu beurteilen. 2. Rolle und Status des Richters 2.1. Rollensender und Rollenkonflikt

Lautmann stellt die folgenden Rollensender für den deutschen Richter fest: die Justiz, die Kollegen, Anwälte, Parteien, die weitere Juristenschaft, die Gesetzgebung, die Rechtswissenschaft, das Publikum der 14 15

Devereux, 28. Vgl. § 6.2. unten.

2. Rolle und Status des Richters

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Gerichte, die Interessenverbände, die Presse und Massenkommunikation, die obere Mittelschicht der Bevölkerung, die Familie, Freunde und Bekannte des Richters 16 • Obwohl bestimmte Erwartungen gegenüber dem deutschen Richter sich von z. B. einem englischen Richter unterscheiden mögen (besonders treten Unterschiede in den gegenseitigen Erwartungen zwischen Akademikern und Richtern und zwischen der Juristenschaft und den Richtern hervor), sind die genannten Handelnden als Rollensender für die Richter in jeder westlichen Gesellschaft vorhanden. Ihre beträchtliche Diversität zeigt, daß der Richter Intersenderkonflikten besonders stark ausgesetzt ist. Von Interrollenkonflikten ist er auch nicht frei. Es gibt aber ein noch stärkeres Element, das den Richter in eine Streßsituation bringt. Das Rechtssystem ist eines der Subsysteme in der Gesellschaft, die funktionieren, um Spannungen zu mindern und Konflikte zu lösen, welche beim Streben nach gemeinsamen Zielen unvermeidlich sind17 , und die dysfunktionell für die Gesellschaft sind 18 • Die wesentliche Funktion der Gerichte in nationalen Rechtssystemen ist Konfliktslösung; heute erkennen die Soziologen diese Funktion an als ein unentbehrliches Bedürfnis jeder stabilen Gesellschaft in der größten oder kleinsten Gruppe. So viele Interessenkollisionen und Störungen sich entwickeln, sind sie doch auf eine praktische Weise optimal zu beseitigen, wenn man sich an feste Regeln hält, die von früheren Erfahrungen in Konfliktslösung verallgemeinert wurden. Wenn diese Regeln konsequent angewandt werden, ist die Arbeit des Juristen und des Richters erleichtert: eine Lösung kann rasch gefunden werden, der Parteienstreit ist erledigt, die Parteien sind an die Gesellschaft für ihre anderen Rollen zurückgegeben und die Kräfte des Juristen und des Richters sind für andere Aufgaben frei. Viele Streitfragen kommen überhaupt nicht zum Gerichtshof, weil der Rechtsanwalt schon eine Lösung voraussagen kann. Aber um diesen Routineweg durch außergerichtliche Schlichtung und schnellere Gerichtsentscheidungen zu ermöglichen, müssen die Regeln konsequent angewandt werden. Dieser Bedarf ist, was Deve· reux 19 eine technische Anforderung ("technical imperative") nennen würde, der sich aus der bloßen Lage ergibt, in welcher der Richter sich befindet. 18

17

Lautmann, Soziologie, 46 - 47. Devereux, 61; H. Johnson, 56.

18 Die Wörter sind hier im Sinn der Soziologen benützt: Ein Prozeß oder ein Umstand ist "funktionell", wenn er zur Erhaltung oder Entwicklung des Systems beiträgt; "dysfunktionell", wenn er die Integration, die Wirksamkeit usw. beeinträchtigt. Vgl. Maus und Fürstenberg, 38; H. Johnson, 77. 19

Devereux, 46.

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I. Kap.: Die Rolle des Richters des IGHs

Jedoch muß der Richter noch einem anderen Anruf folgen: Es wird von ihm "Gerechtigkeit" erwartet. "Gerechtigkeit" ist bestimmt von den Maßstäben seiner Gesellschaft, die er selber verinnerlicht hat. Weil sich die Umwelt dauernd wandelt und mit ihr oft auch die Maßstäbe sich wandeln, bedeutet das, daß er nicht immer die technischen "Regeln" konsequent anwenden kann. Denn wenn das richterliche Handeln im Konflikt solcher Regeln das Gerechtigkeitsgefühl der Rollensender beleidigte, wäre das Ziel, die Konflikte auf Mindestmaß zu halten, nicht erreicht; es würde sogar gefährdet werden. So kommt es, daß innerhalb der Richterrolle zweierlei andere Rollen stehen; die des "Rechtsanwenders" und die des "Rechtsanpassers". Es gibt einen immanenten Konflikt in der Richterrolle. Man könnte sagen, der Konflikt wird von den Parteien der Richterbrust zugeschoben20 . (Eine alte englische Rechtsweisheit lautet: "The law exists in the breasts of her Majesty's judges".) 2.2. Mögliche Abweichungen von Erwartungen

Parsons hat eine Analyse einer analogischen Konfliktslage in der Arztrolle geschildert21 . Um seine berufliche Rolle adäquat zu leisten, muß der Arzt Zugang zu dem Körper des Patienten haben (eine technische Anforderung). Das kann aber in bestimmten Kulturen und ihren normativen Strukturen verboten sein. Haben dies Arzt und Patient beide verinnerlicht, ist der Konflikt beim Arzt unvermeidbar (Problem der kollidierenden Normen)22. Parsons betont, daß sich aus solchen Streßsituationen abweichende Verhaltens formen entwickeln, und daß im Interesse des gesellschaftlichen "Equilibrium" Mechanismen oder Institutionen geschaffen werden, um diese Abweichungen zu regulieren. In seiner Analyse des Juristenberufs erwähnt Parsons drei beobachtete Arten von Abweichungen, zu denen der Jurist als Notar oder Rechtsanwalt neigt: das Nachgeben ("expediency", Annehmen der Klientenforderungen); Identifizierung mit dem Klienten, Ursache einer sentimentalen Übertreibung der Klientenrechte; und juristischer Formalismus 23 . Vor den ersterwähnten Arten dieser Abweichungen ist der Richter einigermaßen durch die entpersonalisierte und formalisiert streitige Natur des Gerichtsprozesses geschützt. Die gefährlichste Be20 Die Spannungen in der Rolle des Juristen sind von Parsons, Profession, 376 - 377 anerkannt.

21 Devereux, 46 - 47.

22 Für viele europäische Kulturen wäre die entsprechende Konfliktslage bei einer sozial oder eugenisch indizierten Schwangerschaftsunterbrechung gegeben. 23 Parsons, Profession, 377.

2. Rolle und status des Richters

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drohung seiner guten Rollenleistung scheint die Möglichkeit von übertriebenem juristischem Formalismus zu sein. "The tendency to insist on what is conceived to be the ,letter' of the law without due regard to a ,reasonable' balance of considerations 24 ." Eine andere mögliche Reaktion des Richters ist eine gewisse Aggressivität, manchmal in seinen Äußerungen Rechtsanwälten gegenüber oder sogar gegenüber einem Zeugen. Bendix hat die Reaktion bei sich selbst anerkannt: "Ich erinnere mich aus meiner Tätigkeit als nebenamtlicher Vorsitzender in einer Hausangestellten-Kammer des Arbeitsgerichts Berlin, daß mir eine weinende Hausangestellte durch ihre Tränen auf die Nerven fiel, und daß ich mich gegen die Einwirkung dieser Tränen, die ich als Beeinträchtigung meiner Urteilstätigkeit empfand, zur Wehr setzte, indem ich sie schroff anfuhr, sie solle doch das Weinen unterlassen, das habe ja gar keinen Zweck und könne uns nicht beeinflussen. Ich hatte das lebhafte Gefühl, als wenn ein solcher Einfluß mit den Tränen beabsichtigt worden sei, und das regte mich geradezu auf, weil ich die Möglichkeit eines solchen Einflußes peinlich empfand, und mich dieser Möglichkeit durch Schroffheit zu entziehen suchte25."

Lautmann 28 erwähnt auch eine Aggressivität der Presse und Öffentlichkeit gegenüber27 • 2.3. Abschirmungsmechanismen28

Der starke Interessenkonflikt und der immanente Konflikt in der richterlichen Rolle ist von verschiedenen Mechanismen gemildert, die in allen westlichen Rechtssystemen hoch entwickelt sind. Zunächst ist der Richter so weit wie möglich von jedem Streß als mehrfacher Rollenträger (Interrollenkonflikt) durch verschiedene Mechanismen abgeschirmt. Es ist ihm ganz untersagt, eine zweite Berufsrolle zu haben, er muß sich auch von einem Fall distanzieren, der seine Interessen berühren könnte. Sein Gehalt ist gut und seine Anstellung auf Lebenszeit läßt ihn indifferent gegenüber möglichen Angeboten nach Ablauf seiner Richterzeit sein; er ist somit keinem Druck in seiner Rolle als Familienernährer ausgesetzt. Gegen den Druck des Rollenkonfliktes innerhalb seines Berufs (Intersenderkonflikt) ist er ebenfalls durch mehrere Mechanismen abgeschirmt: seine Ernennung auf Lebenszeit, sein gutes Gehalt, wie auch

Parsons, Profession, 377. Bendix, 103. 26 Lautmann, Soziologie, 59 - 6l. 27 Alle diese Reaktionen passen genau zu der Parsonschen Analyse der Abweichungen in Kapitel VII, System, bes. 257 ff. Vgl. auch Profession, 377. 28 Ich folge der Terminologie von Lautmann, Soziologie, 50 ff. 24

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1. Kap.: Die Rolle des Richters des IGHs

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die Immunität für alles, was er im Gericht tut und sagt, schirmen ihn auch von dieser Art des Drucks ab und schließen viele Druckmittel der Rollensender aus. Er ist physisch und psychisch vom Publikum durch seinen eigenen Eingang und durch die erhöhte Richterbank sowie durch das Gerichtspersonal isoliert 29 • Er ist bewußt vor aller persönlichen Kritik geschützt, und die entpersonalisierte Natur des Verfahrens, besonders in einem Richterkollegium, wo Anonymität die Regel ist, hat den gleichen Effekt. Schließlich sorgt das politische System dafür, daß der Machtkampf zwischen den Rollensendern sich in einen potentiell von jedem Einzelnen verstehbaren Auftrag durch die Gesetzgebung auflöst: der Gesetzgeber ist der Rollensender, dem allein der Richter gehorchen muß. Obwohl die Macht jedes Gesetzgebers gegenüber den Richtern beschränkt ist, wenn das Gesetz mit Anforderungen kollidiert, die von der Gesellschaft als echte oder vermeintliche Ideale verteidigt werden, also nicht nur von Interessenverbänden, sind Sanktionen vom Richter nur zu befürchten, wenn er das Gesetz als Rollensender nicht beachtet. Als Grenzfall darf man den berühmten Fall des US Supreme Court erwähnen, in dem in den letzten Vorkriegsjahren die "New Deal"-Gesetze Roosevelts zurückgewiesen wurden trotz des eindeutigen Wahlergebnisses (der Wahlkampf war genau auf dieses Programm abgestellt) und der fast völligen Zustimmung des Kongresses. Hier übte nur die Drohung, mehrere "progressive" Richter zu ernennen, die dann eine Mehrheit für die andere Meinung bilden würden, einen starken Einfluß auf den Gerichtshof zugunsten der kurz danach geänderten Rechtsprechung auf diesem Gebiet aus - obwohl diese Drohung dann nicht durchgeführt wurde. In einem ähnlichen Fall vor dem australischen High Court, dem höchsten Berufungsgericht für den Bundesstaat, war die Drohung verwirklicht worden. Der Gerichtshof hatte mehrere wichtige "New Deal"-ähnliche Gesetze als nicht gültig erkannt, wennschon mit einer knappen Mehrheit. Danach waren zwei neue, bewußt "progressive" Richter ernannt worden, die die neue Mehrheit für die Gesetze bildeten30 • Solche Fälle kommen nur außerordentlich selten vor, aber sie zeigen, daß es dem Richter in Zeiten sozialer Unruhe kaum gestattet ist, ein eindeutiges Verlangen des Gesetzgebers (d. h. die Rollensendung eines wichtigen Senders) bei entsprechender Pression zu ignorieren. Manchmal zeigen Richter bedenkliche Empfindlichkeit gegenüber kritischen Angriffen. Schubert stellt fest, daß nach beträchtlicher Kritik des rechten Flügels gegen die neue liberalisierende Tendenz des 29

30

Sawer, 93. Sawer, 101.

2. Rolle und Status des Richters

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US Supreme Court in Grundrechtsfällen, und während der Kongreß einen Gesetzentwurf über eine Anklage gegen den Chief Justice überlegte, ein merklicher Rückgang in der Zahl der Grundrechtsentscheidungen erfolgte. Die Zahl stieg aber nach 1960 wieder sehr stark an, nachdem der politische Sturm im Kongreß nachgelassen hatte. Schubert zieht den Schluß: "This suggests that the jurisdictional decision-making of the Court was even more sensitive to the external stimuli than was the substantive decision-making on the merits 31 ." Die klare Abneigung des Gerichtshofs gegen ein meritorisches Urteil, wenn die Entscheidung reelle politische Emotionen aufrufen würde, die die Funktion des Gerichts stören könnten, erlaubt einen interessanten Vergleich mit der Ablehnung des Internationalen Gerichtshofs zu einem Sachurteil im Süd-West-Ajrika-Fall von 1966, bei dem die Richter eine Entscheidung zur Sache selbst verweigerten, obwohl die Frage der Kompetenz schon 1962 im bejahenden Sinne offenkundig gelöst war. Die subtile Rückwirkung der Rollensender-Meinung auf das Gericht wurde von Higgins so geschildert: "The Court can hardly have relished the prospect of becoming embroiled in the South West African controversy; and those who contributed to its lack of confidence in the compliance of nations with its Judgments and Opinions should feel some embarrassment in chastising the Court so roundly in the South West Africa Case .... Even those nations which have been comparatively well disposed towards the concept of the judicial settlement of disputes, have made it fairly clear by their international conduct that adecision on the merits of the South West African Case would be highly embarrassing to them politically. If men send up smokesignals, they must not be surprized if they are read32." Weitere Elemente, die eine Richterabweichung kontrollieren, sind die Kritik der Juristenschaft und weiterer Kreise, z. B. der seriösen Presse. Cardozo schätzte auch den Beitrag korrigierender wissenschaftlicher Kritik für die einheitliche richterliche Rechtsfortbildung hoch ein. Ohne solche würde nach seiner Meinung in bestimmten Fragen "... the heresy, instead of dying out, [would] probably have persisted, and even spread. It would have gained new vitality with every judgment that confirmed it. Inevitably, too, the process of logic or of development by analogy would have pushed it forward into new fields. Wh at saved the day was criticism from without33 ." Eine gewisse Kontrolle leistet in nationalen Systemen auch die Hierarchie der Berufungsgerichte. Diese oberen Gerichte, die durch höhere Autorität und längere Erfahrung Rollenkonflikten besser widerstehen 31 32 33

Schubert, Mind, 278. Higgins, South West Africa, 589 - 590. Cardozo, Growth, 192. Notiz weggelassen.

I. Kap.: Die Rolle des Richters des IGHs

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können (oder zumindest sollten), sind betraut mit der Kontrolle der unteren Gerichte. Definitiv wirksam bleibt natürlich nur die Möglichkeit einer Korrektur durch Gesetzgebung, mit der auch tiefgreifende Änderungen der Justizpraxis hervorgerufen werden können. In Schweden z. B. ist der Gesetzgeber gegen den starren Formalismus von Urteilsbegründungen vorgegangen, indem er Regeln eines neuen Begründungs stils aufstell te 34 • Vor dem immanenten Konflikt seiner Rolle ist der Richter insbesondere durch zwei Mechanismen. geschützt. Der erste ist seine Autorität, immer wieder betont durch Symbole: den erhöhten Richterstuhl, die besondere Amtstracht, die formellen und traditionellen Sprachgebräuche - also das sog. "Zeremoniell" - und in England auch durch die Krone, unter der er sitzt als Vertreter der Königin. Di~se Symbole, wie die ähnlichen Symbole der Ärzte (der weiße Arztmantel, das klinische oder Sprechstundenzeremonie1l35) beeindrucken Richter und Publikum und engen den Rahmen ihrer Divergenzen individueller Erwartungen ein. Es befriedigt sie schon, daß ein Konfliktlöser die Normen konsequent anwendet, daß rechtliches Gehör garantiert, jede Verfahrensregel beachtet und Einmischung von Fremden nicht gestattet wird. Ein weiterer Mechanismus, in allen westlichen Rechtssystemen hoch entwickelt, schützt den Richter gleichfalls teilweise vom Streß seiner doppelten Rolle. Es ist der Mechanismus der Fiktion der bloßen Gesetzesanwendung, wo tatsächlich eine echte Schöpfung von neuem Recht vorliegt36 • Durch entsprechende Fiktionen und Schein-Rationalisierung kann der Richter eine Entscheidung, die tatsächlich nicht mit der Tradition vereinbar ist, für konsequent erklären. Ein wichtiges Element, das den Richter von Kritik teilweise abschirmt und Glauben an seiner Unparteilichkeit fördert ist ". " the technique of judicial argumentation which gives the decisions the appearanee of being the produets of knowledge and logie, and not of evaluation and choiee37 ." Außerdem sind die Richter, mindestens an Berufungsgerichten, schon reife Menschen, und durch ein Auswahlverfahren wird für eine innere Festigkeit gesorgt, die ihnen dem sozialen Druck standzuhalten ermöglicht. Idealtypisch jedenfalls ist hier eine so gut integrierte Persönlichkeit, daß sie auch in einer Situation dauernden Stresses leben kann. ~4 35 36 37

Wetter, 23. Devereux, 47 - 48. Devereux, 37. Eckhoff, 179.

2. Rolle und Status des Richters

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Richter sind in einer relativ gesicherten und angesehenen Berufsgruppe organisiert, die jedem Versuch widerstehen kann, sie unter psychischen Sozialdruck zu setzen. Man muß freilich zugeben, daß die sehr enge berufliche Inkorporierung der Juristenschaft in England (alle sind Mitglieder der Inns of Court und, im Gegensatz zu den Universitäten, bleibt diese Mitgliedschaft auch bei den Richtern lebendig durch das ganze Leben) ein Sonderfall ist; vielleicht kann deshalb die Rechtsprechung das relativ lockere System der Begründungen und "dissenting opinions" dulden. Die Trennungen zwischen Justiz, Rechtslehrer und Rechtsanwalt in kontinentalen Rechtssystemen brachten schon immer größere Schwächen mit sich. Daß dieser Mechanismus (z. B. daß das richterliche Ansehen nicht so hoch ist wie in anderen Ländern) in der Weimarer Republik nicht so gut entwickelt war, ließ die Richter dem Druck von verschiedenen, und besonders von politischen Richtungen, anfälliger gegenüberstehen s8 • Die traditionsgemäße Präponderanz der Exekutive in Deutschland (zumal die Machtergreifung 1933 am Anfang formal nicht verfassungswidrig war) war vielleicht weniger zu erwarten in Ländern, wo frühere Kämpfe um die Macht zwischen Richterschaft und Exekutive (z. B. in Zeiten der Stuarts in Großbritannien) der Richterrolle eine starke Aura der Unabhängigkeit verliehen hatte. Der schwächere Schutz des Weimarer Richters wirkte sich im Nachgeben aus, und zwar in solchem Maße, daß das traditionelle System scheiterte. Daß ihre Anpassung ein typischer Fall der Abweichung "Nachgeben" war, zeigt sich in folgender Beschreibung von Lautmann: "Der Nationalsozialismus fand bei den Richtern zwar kaum treue Gefolgschaft, aber auch kaum Widerstand. Die Richter sympathisierten anfangs mit dem NS-Regime; in ihrer großen Mehrzahl verhielten sie sich passivwillfähig und führten die neuen wie die alten Gesetze aus39." 2.4. Institutionalisierte Erwartungen an die Richterrolle

Die schwierige Richterrolle ist in westlichen Demokratien solchermaßen institutionalisiert, daß es möglich ist, die Netze der Verhältnisse zwischen Richter und Rollensender als ein soziales System zu bezeichnen, und die folgenden Normen als Teil seiner Kultur festzustellen: - Der Richter soll unparteilich sein: Er darf kein Interesse im vorliegenden Fall haben. Er darf keine Bestechung annehmen. 38 39

Lautmann, Rolle, 383. Lautmann, Soziologie, 80.

I. Kap.: Die Rolle des Richters des IGHs

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Er soll sich in der Verhandlung ernst und "würdevoll" verhalten:

-

Er soll möglichst keine Emotionen, Sympathien oder Abneigungen zeigen. Er soll sich nicht spöttisch oder witzig zeigen: " ... a judgment is not the appropriate vehicle for wit and pleasantry at large. To the parties concerned a litigation is no laughing matter and they may weIl complain if the judge gives the impression of treating their case too lightly 40." Seine Sprache und sein Verhalten sollen die der "Elite" seiner Gesellschaft sein. -

Er soll loyal seiner Kammer und anderen Kollegen gegenüber sein, insbesondere auch im Falle der Zurückweisung der Majoritätsmeinung durch einen höheren Gerichtshof. Bei dissenting opinions hat er sich immer höflich auszudrücken 41 , ohne eine persönliche oder scharfe Kritik zu üben.

-

Er darf keinerlei Kritik außerhalb der Gerichtskammer üben, z. B. durch literarische Publikationen oder gar Presseäußerungen. Er hat private Gespräche mit seinen Kollegen in Prozeßdingen geheim zu halten.

-

Er muß eine Lösung des vorliegenden Falls vorschlagen; er darf aber, ob sie akzeptiert wird oder nicht, keinesfalls Obstruktion oder Verärgerung zeigen.

Es gibt sicherlich noch andere Grundsätze und Maximen, aber die genannten dürften überall klar akzeptiert und unbestritten sein. 2.5. Status des Richters

Als Rollenträger richtet der Richter bestimmte Erwartungen an seine Rollensender (das ist sein "Status"). Er nimmt einen gewissen Grad von Autorität über andere Mitglieder des Rechtssubsystems (Parteien, Rechtsanwälte, Gerichtspersonal usw.) in Anspruch, welche er im Gerichtssaal durch seine Leitung der Verhandlung und - in Common Law-Ländern - auch durch seine Kompetenz zur Zulassung oder Ablehnung der Rechtsanwälte ausübt. Er erwartet ein gutes Gehalt, die oben erwähnten Privilegien und Immunitäten und einen gewissen Grad an Prestige und Hochachtung, nicht nur bei denen, mit welchen er im Gerichtssaal zu tun hat, sondern auch in der weiteren Gesellschaft, die ihn mit seinen Machtbefugnissen betraut hat 42 • Die Richter können auch die Durchsetzung aller bereits beschriebenen Abschirmungsmittel erwarten. 40

Macmillan, 491 - 499.

In englischen Gerichten ist es immer noch üblich für die Richter, andere Mitglieder des Richterkollegiums als "my learned brother", "my brethren" zu erwähnen. 42 H. Johnson, 19, nennt Autorität, Gehalt, Privilegien, Immunitäten und Prestige die Hauptbestandteile eines Status. 41

2. Rolle und Status des Richters

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2.6. Rollenauffassung

Von den Erwartungen, die von seinen Rollensendern an ihn gerichtet werden, von den Erwartungen, die er diesen entgegenbringt und aus seinen eigenen verinnerlichten Idealen, die seine persönliche Berufsanschauung bilden, schafft der Richter sich seine Rollenauffassung. Diese verinnerlichten Maßstäbe und Ideale hat er in sich durch Sozialisierung während des Durchlaufens seiner verschiedenen Rollenstadien gebildet43 • Die juristischen Berufe haben im allgemeinen lange Stadien der Sozialisierung: in allen westlichen Systemen muß der Jurist mindestens vier Jahre akademische und durchschnittlich zwei Jahre praktische Ausbildung haben. Die Sozialisierung wird auch in informeller Begegnung mit anderen Juristen, ferner auch bei Kongressen (z. B. Juristentagen) fortgesetzt. Besonders merkwürdig ist das englische System der "Inns of Court", nach dem die ganze Juristenschaft in vier Londoner Rechtsschulen verteilt ist. Die Mitglieder können (und die Studenten müssen) bestimmte Mahlzeiten in der Halle ihrer Inn einnehmen, die einen Treffpunkt für Richter, Rechtslehrer, Rechtsanwälte und Studenten darstellt und die persönliche Bekanntschaft und den beruflichen Konformismus fördert. Für den Richter bestimmt ferner jedes nationale Rechtssystem noch weitere Jahre Sozialisierung durch praktische Arbeit, bevor er in eine Dauerstelle und gar in ein Berufungsgericht kommt. Bisher habe ich über die institutionalisierte Richterrolle in den nationalen Rechtssystemen von west-europäischen Demokratien gesprochen. Es gibt natürlich Unterschiede in den Richterrollen zwischen diesen verschiedenen Gesellschaftssystemen z. B. darin, daß der englische Richter nicht nur den konkreten Konfliktfall entscheidet, sondern sehr oft durch sein Präjudiz auf die gesamte Struktur des Rechtssystems einwirkt. In Deutchsland lösen die Gerichte die konkreten Fälle, aber sie haben nur selten das letzte Wort, nach welchem Muster die Entscheidung in die bestehenden Modelle einzupassen ist. Diese Aufgabe ist weithin den Rechtswissenschaftlern überlassen - oder jedenfalls von ihnen in Anspruch genommen als eine zu ihrer Rolle gehörende Funktion. Sogar wenn das Ergebnis in einem bestimmten Fall als befriedigend anzusehen ist, mag es die Rechtsdogmatik der Akademiker noch nicht ruhen lassen, die im Einzelfall nachweist, daß die richterliche Begründung doch nicht ganz "richtig" ist. Im großen und ganzen jedoch zeigen die institutionalisierten Rollen der Mitglieder der höheren (z. B. Berufungs-)Gerichte in westlichen Demokratien solche auffallende Ähnlichkeiten in den Erwartungen, daß es zulässig ist, von einer westlichen Richterkultur zu sprechen. 43

Parsons, System, 205.

1. Kap.: Die Rolle des Richters des IGHs

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Man kann noch bemerken, daß die Richterrolle unterschiedlich gestaltet ist, abhängig davon, ob der Richter allein das Gericht bildet oder nur als Mitglied eines Richterkollegiums wirkt. Dieses letzte Thema wirft besondere Fragen auf, die im Kapitel II behandelt werden. Vorläufig möge man festhalten, daß der Gerichtshof selbst als ein Ganzes viele Rollen trägt: er ist ein Machtverwalter, ein Teil der beruflichen "Elite"-Struktur, er hat besondere Schutzbeziehungen zur politischen Ordnung und leistet die Integrierungsrolle eines Kulturführers, wenn er soziale Normen anerkennt, unterstützt oder aber verändert. 3. Rollensender und Rollenkonflikt im Internationalen Gerichtshof 3.1. Rollensender

Die Rollensender für die Richter des Internationalen Gerichtshofes sind, wie für den nationalen Richter, von vielerlei und sehr verschiedener Art. Sie schließen natürlich gleichermaßen die Kollegen, die Anwälte und die Parteien ein. Die "weitere Juristenschaft" ist nochmals geteilt in verschiedene Gruppen von Rollensendern: die juristische Elite44, die den IGH-Richter einigermaßen als Vertreter und Vorkämpfer ihrer Rechtskultur ansieht, die juristische Elite von Gesellschaftssystemen, die dem gleichen Rechtskulturkreis angehören, und die juristische Elite der internationalen Gesellschaft. Diese letzte Gruppe besteht aus Regierungsberatern und -vertretern der verschiedenen Nationen, die der Richter in internationalen Tagungen und Sitzungen kennengelernt und mit denen er oft zusammengearbeitet hat, Akademikern internationalen Rufes und spezialisierten Gruppen wie ,,1'Inde Droit international", die "International Commission of Jurists" und die International Law Association. Auch nicht juristische Eliten sind wichtige Rollensender: die berufliche Elite der internationalen Gesellschaft, Beamte der internationalen Organisationen, Diplomaten des eigenen Landes und anderer Länder, die ihre früheren und künftigen Arbeitskollegen waren oder werden, die Regierungselite ihres eigenen Landes, die sich für ihre Ernennung eingesetzt hat; das interessierte Publikum in allen Ländern. Die Größe und das Interessenniveau dieser letzten Gruppe ist sehr unterschiedlich von Land zu Land, abhängig vom Bildungsniveau. Daß diese Gruppe jedoch vom Richter ins Auge gefaßt wird, zeigen folgende Sätze von Basdevant: "The role which the principal judicial organ of the United Nations will play ... depends upon the decisions which governments and the political 44

Vgl. Merillat, 151 - 152.

3. Rollensender und Rollenkonflikt im IGH

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organs of the Uni ted Nations may take to bring a case before the Court in order to setUe their disputes by judgments, or to obtain opinions on legal questions. At the same time it is for public opinion to bring its influence to bear upon Governments in this connection 45 ." Abseits Einzelner, die ihre eigenen Meinungen vertreten bezüglich der Rolle eines internationalen Richters, haben die Sekretariate und Versammlungen der internationalen Organisationen wiederum ihre eigenen Meinungen. Um zu zeigen, wie komplex das Erwartungsmuster ist, können verschiedene Meinungen von der Vollversammlung der Vereinten Nationen, vom Sicherheitsrat, vom Sekretariat, von den einzelnen Regierungsmitgliedern der Vereinten Nationen, und von den einzelnen Personen in jeder dieser Gruppen vertreten werden. Verschiedene Rollensendungen können von nationalen Regierungen dargestellt werden, indem sie vor ihrer eigenen Bevölkerung Meinungen äußern, die im Gegensatz stehen zu den Reden ihrer Delegation in der Vollversammlung der Vereinten Nationen. Die Meinungen der nationalen Regierungen haben immer einen sehr starken Einfluß gehabt auf die Rollen, die mit der internationalen Gerichtsbarkeit verknüpft sind und wenn diese Meinungen sich ändern (z. B. im Falle der Vereinigten Staaten und der UdSSR 1945), resultiert daraus eine deutliche Auswirkung auf diese Rollen. Man möge sich erinnern, daß nationale Regierungen nicht nur als Mitglieder der internationalen Gesellschaft Meinungen haben, sondern auch als mögliche Streitparteien. Die künftigen Parteien eines internationalen Gerichtshofs interessieren sich viel mehr für die Fälle, als jene Parteien eines nationalen Gerichtshofs, bei denen ein großer Teil der Öffentlichkeit (also mögliche Parteien) als indifferent betreffs gegenwärtiger Fälle bezeichnet werden kann, die ihre Interessen nicht direkt berühren. Andere Rollensender für den internationalen Richter sind seine Landsleute, die Personen seiner eigenen Konfession, die Verfasser der förmlichen Ersuchen um ein Gutachten, sowie die Gerichtsordnung und das Statut. Nationale Gerichte und andere internationale Tribunale sind weniger Rollensender als Bezugsgruppen für die Richter des Internationalen Gerich tshofes 46 . Es kann geschehen, daß die Rollensender so unterschiedliche Begriffe von der Rolle haben, daß was immer der Rollenträger tut, einige Erwartungen verletzen muß47. Zile 48 und Günther 49 sprechen in diesem 45 48 47

48

4~

Basdevant, 503. Vgl. unten § 6. H. Johnson, 38. Zile, 387. Günther, 111.

I. Kap.: Die Rolle des Richters des IGHs

32

Sinne über die Stellung des sowjetischen Richters. Die IGH-Vorschriften haben die Erforschung der Wahrheit als Ziel, die sowjetischen Richter dagegen, die alle Mitglieder der kommunistischen Partei gewesen sind, müssen die Wahrheit ihrer dialektischen Ideologie unterwerfen. 3.2. Rollenkonflikte und Abweichungen

Man merkt sofort, daß das Netz der Rollenerwartungen, in dem der IGH-Richter steht, noch in anderer Art verwickelt ist als im Falle der "beträchtlichen Diversität" in nationalen Rechtssystemen, wie sie von Lautmann beschrieben wurde. Daraus folgt, daß der IGH-Richter noch mehr als sein Kollege im nationalen Gerichtshof unter Streß leidet. Es gibt "Intersenderkonflikt" und "Interrollenkonflikt" (weil der Richter von früheren, und vielleicht auch von künftigen Rollen nicht ganz frei ist) in einem höheren Grad. Der immanente Konflikt der Richterrolle ist auch schärfer, weil häufiger Probleme auftauchen, die nicht durch Hinweise auf schon akzeptierte Regelungen gelöst werden können. Damit liegen die Bedingungen für eine Abweichungstendenz schon vor, und Beispiele der Art, die oben (§ 2.2) beschrieben worden sind (Nachgeben, Identifizierung, Aggressivität und juristischer Formalismus), sind in den Entscheidungssammlungen zu finden. 3.2.1. Nachgeben

Beispiele gibt es hier wenige, weil in einem so großen Richterkollegium die üblichen Meinungsverschiedenheiten die Tendenz haben, sich untereinander auszugleichen. Aber einige Spuren sind doch bei den Richtern zu sehen, die am schlimmsten unter den Rollenkonflikt leiden, den ad hoc Richtern. Der ad hoc Richter Van Wyk im Süd-West-AfrikaFall 1966 versuchte z. B. in seiner separate opinion, die mehr als 159 Seiten ausfüllt, jeden Anspruch Liberias und Äthiopiens zurückzuweisen, obwohl die Mehrheit sich bemühte, sich ausschließlich an einer "preliminary" (nicht-substantiven) Frage ("legal interest") zu orientieren und viele Richter der Minderheit gegen Süd-Afrika befanden. So hat u. a. der ad hoc Richter Riphagen im Barcelona-Fall allein Belgiens Ansprüche ernst genommen, während alle anderen Richter (aus verschiedenen Gründen) gegen Belgien entschieden50 • Der ad hoc Richter Chagla schrieb im Zugangsrecht-Fall: " ... I think that the Judgment of the Court in the main vindicates the attitude taken up by India 51 ." 60 51

Riphagen, Barcetona-FaH, Diss. Op., 334 ff. Chagta, Zugangsrecht-FaH, Diss. Op., 118.

3. Rollensender und Rollenkonflikt im IGH

33

Eine solche Einstellung auf die Verteidigung oder Rechtfertigung ("vindication") der Partei ansprüche ist nicht vereinbar mit der traditionell erwarteten Unparteilichkeit des Gerichtshofes.

3.2.2. Identifizierung Der ad hoc Richter Van Wyk hat dieses Phänomen klar erkennen lassen: er hat die Hauptlinie der süd-afrikanischen Regierungspolitik in zehn Seiten völlig positiv bewertet und sich auch im Gebrauch der Terminologie dieser Regierung "White" und "Non-white" (die von allen anderen Richtern nicht benützt wurde) mit dieser Regierung identifiziert: "The Territory, vast, mostly undeveloped, and poor, needed White leadership and initiative ... The only role the natives could initially play in the money economy was by providing unskilled labour 52 ." Er hat nicht nur mit einer der Parteien sympathisiert, sondern sich auch feindlich gegenüber der anderen gezeigt: "All 1 need say about these manoeuvres is that they are not attractive, either as to their merit or their timing, and that they do not advance the Applicants' cause: they have rather the opposite effect53 ." "I do not intend to deal with these arguments, which in my opinion are, to say the least, fanciful and baseless54 ." Im Korfu-Fall beschrieb Krylov das britische Motiv "d'intimider les autorites alb an ais et de manifester la puissance navale britannique"55. Günther zeigt, daß Krylov auch Beweise stets zugunsten Albaniens verwertet hat. Er hat z. B. im Widerspruch zur Mehrheit und zu den Sachverständigen die Hörbarkeit und Sehbarkeit des Minenlegens am albanischen Ufer verneint 56 • Zu dem verdächtigen Verhalten Albaniens nach der Explosion äußerte Krylov: ,,11 ne faut pas cependant perdre de vue que le Gouvernement albanais etait en 1946 un gouvernment nouveau sans experience dans la conduite des affaires internationales et ne disposant pas d'experts dans la question du droit internationaP7."

52 van Wyk, Süd-West-Afrika-Fall1966, Sep. Op., 176. 53 van Wyk, Süd-West-Afrika-Fall1966, Sep. Op., 193. M van Wyk, Süd-West-Afrika-Fatl 1966, Sep. Op., 211. 55 Krylov, Korfu-Fall, Diss. Op., 79. 58

Günther, 118 - 121.

57 Krylov, Korfu-Fall, Diss. Op., 69. 3 Prott

34

I. Kap.: Die Rolle des Richters des IGHs

3.2.3. Aggressivität

Diese Reaktion ist nicht nur bei den ad hoc Richtern zu finden. Im Süd-West-Afrika-Fall1966 enttäuschten drei der Minderheitsrichter die normalen Erwartungen auf richterliches Verhalten und griffen die Mehrheitsentscheidung an. (Die Texte sind § 5.4 unten ausdrücklich gegeben). Noch bemerkenswerter ist die Aggressivität Van Wyks gegen die Meinung Jessups, an der er "no cogency in the reasons" findet, die Methoden für "erroneous" hält und bemängelt, daß "the learned judge appears to have lost sight of the elementary principle ... "58. 3.2.4. Zurückhaltung

Diese Art der Abweichung, die Verweigerung der Teilnahme an der aktiven Arbeit 59 , ist anscheinend selten in nationalen Gerichten anzutreffen, aber eher am Internationalen Gerichtshof zu finden, an dem es sich als Weigerung äußert, eine Begründung für eine Entscheidung zugeben. Ein Richter hat z. B. gegen die Mehrheit bestimmt, aber entweder keine oder bloß eine 3- oder 4-zeilige Erklärung abgegeben, die die wirkliche Motivation nicht enthielt: "I regret my inability to concur with the main conclusions of the majority of the Court. 1 agree with my colleagues who maintain the view that Article 6 of the Geneva Convention is the applicable international law and that as between these Parties equidistance is the rule for delimitation, which rule may even be derived from the general principles of law 6o ." "Vu que la majorite s'est reconnue competente pour juger cette affaire au fond, le juge F. I. Kojevnikov trouve necessaire de declarer qu'il ne peut pas non plus se rallier aux motifs et au dispositif de l'arret sur le 3me point, car a son avis le Portugal n'a pas possede et ne possede pas de droits souverains sur Daura et Nagar-Aveli, et qu'il n'a pas eu et n'a pas de droit de passage sur le territoire indien vers ces regions et de l'unE a l'autre61 ."

Eine solche Erklärung soll als einzelne zu keinem vorschnellen Urteil führen. Wenn aber ein Richter - wie hier - sich nur sehr selten substanziert ausdrückt, darf man die Frage stellen, ob es sich hier nicht um einen Fall der Zurückhaltung handelt. Natürlich kann man schweigen, wenn das Ergebnis oder die Gründe der Mehrheitsentscheidung van Wyk, Süd-West-Afrika-Fall1966, Sep. Op., 79. Mit "Zurückhaltung" wird der "withdrawal" von Parsons, System, 257, gemeint. 58

59

60

61

Bengzon, Festlandsockel-Fall, 56. Zugangsrecht-Fall, 52.

3. Rollensender und Rollenkonflikt im IGH

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nicht mit der eigenen Rechtsansicht vereinbar sind - diese Tradition ist im französischen und in anderen Rechtssystemen gebilligt und in der Gerichtsordnung genehmigt (Artikel 79(2». Aber Kozevnikov hat alle seine sieben Sondervoten ausschließlich in der Form bloßer Feststellungen abgegeben. Außerdem haben sich die sowjetischen Richter immer weniger geäußert als die anderen Richter62 . Schweigen kann ein Mittel sein, die Lösung eines Rollenkonflikts zu vermeiden.

3.2.5. Juristischer Formalismus Diese ist wahrscheinlich die häufigste Art für eine Abweichung von Erwartungen im Internationalen Gerichtshof. De Visscher nennt Formalismus "l'un des plus serieux dangers auxquels reste exposee la doctrine du droit international"63, und Friedmann glaubt, daß im SüdWest-Afrika-Fall 1966 "The damage done to the stature of the Court by the strained 'and escapist reasoning of the majority is almost certainly greater than any substantive decision could have caused&4." Jedoch ist hier Vorsicht zu beobachten. Parsons sagt zu Recht, daß Formalismus auch als Technik benützt werden kann 65 . Sein Gebrauch kann einen Ausweg aus einem zu schweren Rollenkonflikt ermöglichen. Das beste Beispiel dafür ist der übertriebene Formalismus der Mehrheitsentscheidung im Süd-West-Afrika-Fall 1966. Verzijl beurteilt die Einführung des Begriffs "legal interest" als "nothing more than an after-thought or after-wit, having presented itself to the defeated minority of 1962 as the only possible remaining escape from the otherwise ineluctable obligation to adjudicate upon the real merits of the dispute ... "86. und Higgins hält es für "an attempt to dodge uncomfortable questions" 67 • Die Begründung wurde überall als höchst technisch und formalistisch kritisiert: "a highly artificial juristic construction ex post" 68 , "a judgment which distorted legal reasoning beyond the limits of generally accepted doubts of construction" 69 , 62 63

64 65

66

67 88 69



Günther, 70.

de Visscher, Theories, 170. Friedmann, Evolution, 320. Parsons, Profession, 377. Verzijl,91. Higgins, South West Africa, 593. Verzijl,91. Friedmann, Southwest Africa, 14.

I. Kap.: Die Rolle des Richters des IGHs

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"written in tortured prose, dweIls upon hypertechnical elaborations of its basic conclusions, and seems utterley unconvincing in its main argument"70. Der Konsens wissenschaftlicher Meinung erlaubt, diese Mehrheitsentscheidung als eine Abweichung von der Erfüllung normaler Erwartungen einzustufen. 3.3. Wandel der Rollensendung

Noch eine andere Quelle, die ernstlichen Streß verursacht, unterscheidet den IGH-Richter vom Richter am nationalen Gericht. In Zeiten sozialer Umwälzungen wird die Rolle sich selbst wandeln: entweder weil sich die Machtverhältnisse unter den verschiedenen Rollensendern geändert haben oder weil die Erwartungen (Ideale, Maßstäbe) der existierenden Rollensender durch die Umwälzung geändert sind. Es mag sein, daß gewisse Rollenträger sich den neuen Erwartungen nicht anpassen können und ausgeschlossen werden müssen. Beispiele können aus der nationalen Geschichte angebracht werden. In Großbritannien hat die Restauration der Stuarts zu einem Wandel auf der Richterbank geführt 71 • In Deutschland legten einige Richter ihr Amt nach der Gründung der Weimarer Republik freiwillig nieder und mehrere nach dem Zweiten Weltkrieg 72 • Die Beispiele, oben gegeben, von Drohungen, in Zeit sozialer Umwälzungen, die Verhältnisse auf der Richterbank durch Ernennung neuer Richter zu ändern, sind auch hier von Bedeutung 73 • Nach der Unzufriedenheit mit der Entscheidung im Süd-WestAfrika-Fall 1966 wurde vorgeschlagen, daß eine neue Methode der Richterwahl eingeführt werden sollte. Andere haben befürwortet, daß die Zahl der Richter vermehrt werden sollte, damit vor allem die Teilnahme afro-asiatischer Richter vermehrt werden sollte. Dagegen wurde empfohlen, daß das Gericht weiterhin nur aus fünfzehn Richtern bestehen sollte, aber die Zahl der afro-asiatischen Richter im Kollegium vermehrt werden sollte74 • In diesem Zusammenhang zumindest ist die Emeritierung von fünf Richtern alle drei Jahre wahrscheinlich ein funktioneller Mechanismus für die Anpassung des Gerichts an sozialen Wandel. Seit dem letzten Weltkrieg haben sich die Macht, das Interesse, und wahrscheinlich auch die Ideale und Maßstäbe existierender Rollensender gewandelt, und daran hat sich das Gericht nicht ganz angepaßt. Dieser Fragenkreis wird in Kapitel V weiter erörtert. 70 FaLIe,7. 71

72

73 74

Holdsworth, Bd. VI, 499. Vgl. Bendix, 105 - 107. § 2.3.

UNGA Official Records, 21st Session, Item 66 (Provision al Agenda). konnte 1967 58 Reform-Vorschläge der letzten Zeit wiedergeben.

Dalten

4. Abschirmungsmechanismen im IGH

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4. Abschirmungsmechanismen im Internationalen Gerichtshof

Es wurde anfangs dargelegt, wie institutionalisierte Rollen, die starkem Druck unterworfen sind, z. B. die Rollen des Rechtsanwalts und des Arzts, besondere entlastende Mechanismen entwickeln. Diese Mechanismen sind besonders hoch entwickelt im Fall des nationalen Richters, viel schwächer dagegen bei den Richtern des Internationalen Gerichtshofs. 4.1. Rollenkonflikt

Der Richter des Internationalen Gerichtshofs muß augenscheinlich mehr Rollen ·gleichzeitig tragen als der nationale Richter mit dem Richteramt. Andererseits ist es ihm verboten, gewisse Rollen zu übernehmen. Das Statut des Internationalen Gerichtshofs schreibt vor: Art. 16 (1) "No member of the Court may exercise any political or administrative function, or engage in any other occupation of a professional nature." Auch bestimmte private Berufe sind ausgeschlossen; auf Vorschlag des Präsidenten hat Sir Percy Spender am Anfang seiner Richterzeit seine Mitgliedschaft verschiedener Vorstände allgemeiner privater Gesellschaften aufgegeben75 • Natürlich darf kein Richter in einer Sache entscheiden, in der er früher in einer anderen Eigenschaft tätig war 76 : das Beispiel ZafruUah Khans im Süd-West-Afrika-FaU 1966 ist hier aufschlußreich. SüdAfrika hatte einen Antrag auf Disqualifizierung eines bestimmten (nichtgenannten) Richters gestellt, aber der Antrag wurde zurückgewiesen 77 • Dennoch hat Sir Zafrullah sich der Mitwirkung enthalten, obgleich er sich nicht wirklich als befangen betrachtete: ,,1 never disqualified myself. There were no grounds for disqualifying me. The President of the Court (Sir Percy Spender) was of the view that it would be improper for me to sit, as I had at one time been nominated Judge ad hoc ... 1 disagreed entirely with that view and gave the President my reasons which 1 still consider were good reasons. But he told me that a large majority of the judges agreed with hirn that I should not sit. So I had no option78." Eine ähnliche Frage hat sich in den Verhandlungen über das NamibiaGutachten ergeben. Eine Minderheit von Richtern stimmte mit der Ablehnung des Disqualifizierungsantrags nicht überein.

Rosenne, World Court, 62 und Anm. 11. Statut, Art. 17. 77 South West Africa, Order of 18 March, 1965, ICJ Reports, 1965,3. 78 Erklärung Zafrullah Khans zu der Londoner Zeitung "The Observer". Von Hidayatullah, 83, zitiert. 75

76

38

I. Kap.: Die Rolle des Richters des IGHs

Immerhin darf ein ständiger Richter auch in einem Fall mitwirken, der sein eigenes Land betrifft. Man kann sich gut vorstellen, daß hier ein gewisser Rollenkonflikt auftaucht. Die besondere Lage des ad hoc Richters ist noch schlimmer79 • Daß der "nationale Richter" diesen Konflikt überwinden kann, zeigen die Beispiele McNairs in den Korfu- und Anglo-Iranian-Oil-Fällen und Basdevants im Minquiers und Ecrehos-Fall. Für diese besondere Konfliktlage eine Lösung zu finden ist schwer. Wenn der Richter von einem Fall, der sein Land betrifft, ausgeschlossen wäre, müßte das Gericht auf eines seiner erfahrensten und fähigsten Mitglieder für diesen Fall verzichten, und es würden die regulären Verhältnisse in der Richtergruppe gestört. Es sind in der Tat bestimmte Länder recht häufige Klienten des Gerichts; französische und englische Richter müßten sich dann oft zurückziehen, wäre die Nichtteilnahme des "nationalen Richters" die Regel. Diese Quelle des Rollenstresses wird sich wahrscheinlich nie vermeiden lassen8o • Ein gewisser Rollendruck ergibt sich auch daraus, daß IGH-Richter nur für 9 Jahre, aber nicht lebenslang ernannt sind. Abgesehen von der unmittelbaren Belastung durch Erwerbsminderung schafft auch schon die Sorge, im Heimatstaat künftige Stellen durch die Freundlichkeit gewisser Rollensender (der Elite seines eigenen Landes oder der internationalen Gesellschaft) erlangen zu müssen, einen Druck. Von ihm ist er nur teilweise durch die gute Honorierung und Versorgung nach Ablauf seiner Richterlaufbahn befreit. Noch tiefer reicht die Angst vor Prestigeverlust. Diese potenziert sich durch die vielen Rollen, die ein IGH-Richter schon im Heimatstaat getragen hat, und die er erneut einnehmen möchte. Diese Chance glaubt er zu verschlechtern, wenn er die Erwartungen der Rollensender, die auch für 'seine früheren oder möglichen neuen Rollen maßgebend sind, enttäuschen müßte. 4.2. Intersenderkonflikt

Die Privilegien und Immunitäten des IGH-Richters sind ähnlich denen des nationalen Richters, aber sie bilden keinen entsprechenden Schutz gegen die Gruppen seines eigenen Landes wie gegen die anderen: sozialer Druck (gesellschaftliche Diskriminierung) und Ablehnung der Wiederernennung als Kandidat bei der Richterwahl sind nur zwei der möglichen Methoden, Druck auszuüben. 79 Weil der gewisse "politische" Charakter der IGH-Urteile von ihm noch stärker gespürt wird. Vgl. Kapitel III, § 5.1. 80 Trotz der Vorschläge von Morley zur Vermeidung mehrerer Konflikte der IGH-Richter, 326 - 327.

4. Abschirmungsmechanismen im 1GH

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Die Abschirmungsmechanismen, die das Wesen der Richterrolle in nationalen Rechtssystemen symbolisch unterstreichen, sind vom Ständigen Internationalen Gerichtshof übernommen und vom Internationalen Gerichtshof fortgesetzt worden. Die Richterbank ist erhöht, die Richter haben ihren eigenen Eingang, sie tragen die Robe, die Einrichtung des Gerichtssaals sichert eine gewisse Distanz zwischen Richter und Publikum. Leider ist die persönliche Kritik im Gerichtssaal selbst nicht die gefürchtetste. Die Massenmedien erlauben ein ungleich breiteres Forum dafür. Obwohl sie Kritik an Richtern beim Internationalen Gerichtshof nicht oft üben - im "Ernstfall" wird sie zuweilen doch scharf geäußert. Man darf hier nicht nur an die emotionellen Ausbrüche in der UNOVollversammlung81 und im literarischen Schrifttum denken - obwohl gerade letztere "tödlich" für ein Richteransehen sein können. Dabei kann der Tadel gerade durch "Understatement" in der Ausdrucksweise besonders "objektiv" und damit hart sein.

Schwarzenberger schreibt über den Richter Alvarez: " ... issue must be joined with Judge Alvarez's somewhat peculiar interpretation of the facts of post-1945 international life. It appears to suffer from three minor deficiencies: a debatable historical perspective, a remarkable preoccupation with the ideologies of Lake Success as distinct from the realities of contemporary world politics, and a firm resolve to obliterate the distinction between ,1s' and ,Ought'82."

Green sagt in einem scharfen Angriff auf die gemeinsame dissenting opinion von Spender und Fitzmaurice im Süd-West-Afrika-Fall1962, "that the two judges '" for her"8S.

show a willingness to make South Africa's case

und sagt weiter über die Mehrheitsentscheidung im Süd-West-Afrika. Fall 1966: "this almost suggests that the Judges responsible for drafting the judgment did so while visiting Wonderland"84.

Günther kritisiert den sowjetischen Richter Krylov: "Es wird offensichtlich, daß Krylovs These von Rechtsrnißbrauch in diesem Fall keineswegs der materiellen Gerechtigkeit, sondern allenfalls der Verwirklichung eines für nur eine Partei günstigen politischen Tatbestandes zugute kommt85 ."

Er meint auch, daß der Gebrauch des Souveränitätsprinzips von sowjetischen Richtern dazu geeignet ist, 81 UNGA Official Records, 21st Session, Item 66 (Provision al Agenda). Schwarzenberger, Trends, 7.

82

Green, 513. Green, 515. 85 Günther, 87. 83

84

1. Kap.: Die Rolle des Richters des IGHs

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"gerade wünschenswerte Interessen dahinter zu verbergen, außenpolitische Schachzüge zu begründen und ihnen den Anschein der Legitimität zu verleihen "86. Die Richter nationaler Gerichte werden auch kritisiert (z. B. in Strafsachen), aber kaum so tödlich. Auch ist der IGH-Richter nicht durch weitgehende Anonymität, wie in vielen nationalen Systemen, geschützt: in den meisten Fällen ist es möglich, festzustellen, wie ein Richter gestimmt hat. IGH-Richter sind aber noch empfindlicher gegenüber einem Verhaltenstadel, als die Richter in nationalen Gerichten. Im Barcelona-Fall wurde die Abträglichkeit für das Ansehen des Internationalen Gerichtshofs ernst genommen, und zwar sowohl in der Mehrheitsbegründung selbst87, als durch Jessup 88 und Fitzmaurice. Letztere rügten die Verschleppung durch die Parteien (Grund der vielen Kritik des Gerichtshofs) in diesem Verfahren und Fitzmaurice fügte hinzu: "Nor is this by any means the only way in which the Court has been misrepresented in a mann er detriment al to the dignity and good order of its functioning as an independent judicial institution89 ." Daß die Richter die Kritik der Rechtswissenschaft durchaus registrieren, zeigt sich in einer Äußerung von Koretsky über die weite Kritik des Süd-West-Afrika-Falls 1962 in juristischen Zeitschriften90 • Die Prozeßordnung des Internationalen Gerichtshofs versucht emo· tionelle Argumente auszuschließen, aber anscheinend nicht immer mit Erfolg, wie man an den Beispielen oben der Identifizierung sieht. Die schwächere Abschirmung des IGH-Richters ist ebenso durch das Fehlen einer starken organisierten Berufsgruppe, die seine Interessen vertreten könnte, wie durch die offizielle Distanzierung seiner Heimatbehörden begründet. Die Institute of International Law hat einige die· ser Probleme des Internationalen Gerichtshofs erforscht91 • Freilich: politische Loyalitätsgefühle wirken auch in solchen Instituten und ihren Meinungen mit. Es wird wohl kaum einen Fall geben, bei dem nicht ähnlicher Druck, wie er auf den Internationalen Gerichtshof selbst ausgeübt werden kann, sich letztlich auch gegen diese Institute und Gruppen bemerkbar macht. Man muß eben auf die vom Politikwissenschaftler Galtung vorgesehene Entwicklung vertrauen, daß eine ge86

87 88 89 90

91

Günther, 95. Barcelona-Fall, 30 - 31. Jessup, Barcelona-Fall, Sep. Op., 221, Anm. Fitzmaurice, Barcelona-Fall, Sep. Op. 113. Koretsky, Süd-West-Afrika-Fall1966, Diss. Op., 242. Rosenne, International Court, 189.

4. Abschirmungsmechanismen im IGH

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schlossene berufliche Organisation von internationalen "Friedensspezialisten", Fachmännern, die schwerem Druck von der Umwelt (besonders wenn sie sich nationaler Loyalitäten enthalten) unterworfen sind, ins Leben gerufen wird 92 • Ein gewisser Schutz gegen Intersenderkonflikt ist der Standort des Gerichtshofes in Den Haag; der IGH-Richter ist dort weniger den Einflüssen seiner nationalen Gesellschaft unterworfen. Er ist aber in einer anderen Umgebung: einer spezifisch europäischen, die er annehmen kann oder gegen die er negativ reagieren kann. Die relative Isolierung dieser niederländischen Stadt von den Zentren internationaler politischer Arbeit, z. B. New York und Genf, ist ein weiterer Vorteil; sie hat aber auch den Nachteil, daß sie von der Kommunikation der Entwicklungen in den Erwartungen der wichtigen Rollensender abgeschnitten ist. In dieser Beziehung ist es interessant, die im Jahre 1967 (gerade nach dem Süd-West-Afrika-Fall 1966) erfolgte Errichtung eines "Committee on Relations" (bis Februar 1972 Richter Lachs, Onyeama und Dillard; jetzt Richter Onyeama, Morozov, Nagendra Singh und Ruda) zu bemerken, dessen Aufgabe z. T. ist "die Entwicklung ... der Beziehungen mit anderen Organisationen der Vereinten Nationen und anderen internationalen Organisationen und Gruppen" zu verfolgen93 • Der vergleichsweise isolierte Sitz des Internationalen Gerichtshofs (Nationale obere Gerichte befinden sich meistens in der Hauptstadt eines bedeutenden Zentrums der neueren sozialen Entwicklung. Die B. R. D. ist hier eine Ausnahme) behindert die Richter wohl auch, die Zahl, die Interessen und die wachsende Bedeutsamkeit der neuen Rollensender aus Afrika und Asien in der richtigen Proportion zu sehen. Vielleicht ist die schlimmste funktionale Schwäche des Internationalen Gerichtshofs das Fehlen eines Instruments, das die Richter von Intersenderkonflikten isoliert, bis die verschiedenen Erwartungen in sich versöhnt und in einer rationalen Sendungsformel gelöst sind. In nationalen Rechtssystemen leistet im Krisenfall die Gesetzgebung diese Aufgabe. Das Statut und die Gerichtsordnung des Internationalen Gerichtshofs bieten nur formale Legitimation und sehr unscharfe Richtlinien, deren Auswirkung notwendig kontrovers ist, wie z. B. die Priorität der Rechtsquellen (Artikel 38). Andere internationale "Gesetze" sind unzureichend, und wo sogar von den Parteien eine "vereinigte Sendung" vorliegt, z. B. in einem Gutachtenersuchen, kann die Sendung für den Gerichtshof undeutlich bleiben, weil schon die Formulierung des Antrags ein unbefriedigender Kompromiß ist 94 • Nach Rosenne haben die Politiker manchmal vor 92

Galtung, Future, 316.

93

ICJ Yearbook 1971 - 1972, 99; ICJ Yearbook 1972 - 1973, 97.

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1. Kap.: Die Rolle des Richters des IGHs

no more than to shelve the substantive issue for the time being, in the hope that the dispositif of the Advisory Opinion (or perhaps some particularly articulate individual opinion), rather than the actual reasons, would lay the basis for the next steps. Experience in the United Nations ... shows many examples in which this was precisely the intention of the General Assembly ...95." Ein Gutachtenersuchen, das unter solchen Umständen zum Gerichtshof kommt, wird kaum als eine eindeutige Sendung zu verstehen sein. Ein solcher Fall war das Ersuchen um ein Gutachten über Namibia. Die Frage war so gestellt: "What are the legal consequences for States of the continued presence of South Africa in Namibia, notwithstanding Security Council resolution 276 (1970)96?" Eine umstrittene Frage in den Vereinten Nationen war gerade, ob die Mandatsentziehung durch diese Resolution gültig war0 7 • Die Formulierung des Ersuchens hat es unklar gelassen, ob der Gerichtshof zu dieser, sehr bedeutsamen Frage Stellung nehmen sollte. Das Gericht befand sich deswegen in großen Schwierigkeiten. 4.3. Sanktionen der Rollensender

Die Sanktionen der IGH-Rollensender können ganz hart sein: sie können den Gerichtshof machtlos machen, z. B. bei der Weigerung der Parteien, zu verhandeln. Gegen einen Richter ihrer eigenen Staatsangehörigkeit können Gruppen einen subtilen, aber äußerst wirksamen Einfluß ausüben, z. B. durch die Ablehnung der Wiederernennung für eine zweite Amtsperiode. Dieses Element soll nicht überbetont werden, weil die meisten Richter auf keinen Fall eine zweite Amtszeit ausüben, was vielleicht das Ergebnis einer gewissen Tendenz der internationalen Gesellschaft ist, die Teilnahme für so viele Senderstaaten wie möglich zu ermöglichen. De Visscher (Belgien) im Jahre 1949, Klaestad (Norwegen) im Jahre 1961 und MoreHi (Italien) im Jahre 1970 wurden durch Richter anderer Länder ersetzt. Ähnliche Fälle im EWG-Gerichtshof werden von Feld genannt08 • Immerhin kommen Wiederernennungen im Internationalen Gerichtshof vor, wie z. B. bei Zafrullah Khan (1954 - 1972), Badawi (1946 - 1965), Forster (1964, 1972 wiedergewählt). 94 Im Prinzip ist das bei manchen legislativen Formulierungen genauso. Aber hier besteht eine Hierarchie der Justiz mit relativ gefestigter Dogmatik und/oder Tradition. 95 Rosenne, Lauterpacht, 859. 96 Namibia-Gutachten, 16. 97 UN Security Council, Official Records, 1550th Meeting, 29.7.1970, Vertreter Frankreichs und Großbritanniens. 98 Feld, 19 - 21.

4. Abschirmungsmechanismen im IGH

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Die Frage einer zweiten Ernennung kann sich auch stellen, wenn ein Richter an die Stelle eines während seiner Amtszeits verstorbenen Kollegen tritt. Dies war der Fall bei Fitzmaurice, der die Amtszeit Lauterpachts 1960 - 1964 fortgesetzt hat und im Jahre 1964 wiedergewählt wurde und bei Ammoun, der die Amtszeit von Badawi 1965 - 1967 fortgesetzt hat und 1967 wiederernannt wurde. Bewußter Druck kann auf einen nationalen Richter von seiner Landeselite aus kaum mit Erfolg ausgeübt werden, wenn das soziale System dieser Gesellschaft eine lange juristische Tradition der richterlichen Unabhängigkeit hat und ein Richter, der gegen die Ansprüche seines eigenen Landes stimmt, gewissermaßen bewundert wird, wie im Fall von McNair im Korfu-Fall und Anglo-Iranian-Oil-Fall und von Basdevant im Minquiers und Ecrehos-Fall. Die Sanktionen, die man gegen einen Richter anderer Staatsangehörigkeit ausüben kann, müssen stets mittelbar sein. Sie sind praktisch in politischen Manövern in den Vereinten Nationen zu finden und können erfolgreich sein: so 1966 das Fallenlassen des Australiers Sir Kenneth Bailey, früher als Nachfolger des australischen Richters Sir Percy Spenders gedacht99 , das sich als bewußte Rache für Spenders entscheidende Stimme im Süd- WestAfrika-Fall 1966 darstellt und den Erfolg dieser Methoden beweist. Dies war freilich ein ungewöhnlicher Fall: meistens wird das "bargaining" der Block-Politik solche Einflüsse beiderseits ausgleichen. Im allgemeinen muß jeder Block die Wahl der ihm nicht genehmen Personen dulden, um die Wahl seiner eigenen Kandidaten zu sichern. 4.4. Immanenter Berufskonflikt

Von dem der Richterrolle immanenten Konflikt ist der internationale Richter noch weniger als der Richter eines nationalen Gerichts geschützt. Denn der Mechanismus der "Rationalisierung" - eine Entscheidung konsequent aus einem schon bejahten Grundsatz zu begründen - ist viel schwieriger, weil wenige Grundsätze von allen Rollensendern angenommen worden sind, und weil sie verschiedene Arten der Rationalisierung erwarten. Eine Begründung in einer pseudo-Iogischen Form, die die Rollensender des Cour de Cassation befriedigen mag, würde die Erwartungen von allen außer einem geringen Bruchteil der IGH-Rollensender enttäuschen. Obwohl der Gerichtshof auf dem Suchen nach seinem eigenen Begründungsstil etwas zur Lösung dieses Problems getan hat, hat er sicherlich keine ganze Lösung gefunden. Die Notwendigkeit, die fähigsten Männer, die dem dauernden und verschiedenartigen Druck widerstehen können, mit dem Richteramt zu 90

Green, 521.

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I. Kap.: Die Rolle des Richters des IGHs

bekleiden, ist im Statut des Gerichtshofs anerkannt. Es verlangt, daß die Kandidaten "of high moral character" sein müssen (Statut, Art. 2). Immerhin ermöglicht der Auslesemodus den nationalen Regierungen, jemanden zu finden, der ihrem Druck gegenüber nicht unbedingt so widerstandsfähig ist. Dieser Verdacht wurde schon von Zile ausgedrückt: "Can a Soviet judge of the International Court of Justice be an ,independent' judge? Can his solemn declaration to perform his duties as a judge ,impartially' be taken seriously? ... By ,independence' of a person we ordinarily mean that he does not act on instructions from superior authorities and that he is not accountable to them. We do not, of course, me an ideal independence, implying absence of any environmental influence. We should insist, however, that this influence stop short of destroying the individual's ability or willingness, or both, to search for facts, to question dogma, and to articulate his thoughts 100 •" Im Rahmen dieser Darstellung verbietet sich den Vorschlag, daß der Richter diesem Druck nachgibt. Aber es ist unmöglich sein Verhalten zu verstehen, ohne Kenntnis der Situation, in der er steht. Und daß dieser Druck manchmal den Richter zu sichtlichen Abweichungen führt, ist aus den oben beschriebenen Beispielen zu entnehmen. Die relativ schwierigere Lage des IGH-Richters und die weniger entwickelten Abschirmungsmechanismen führen aber zu der Frage, wie es dem Gerichtshof bis jetzt gelungen ist, seine Aufgaben zu erfüllen und ob es ihm gelingen kann, weiter diese Aufgaben ohne tiefgreifende Änderungen zu leisten. Diese Fragen sollen in Kapiteln V und VI erörtert werden. 5. Institutionalisierte Erwartungen an den Richter des Internationalen Gerichtshofs Man kann grundsätzlich feststellen, daß bestimmte Erwartungen in Bezug auf den Internationalen Gerichtshof institutionalisiert worden sind. Manche stimmen mit den Erwartungen bezüglich eines nationalen Gerichts überein. 5.1. Unparteilichkeit

Die Unparteilichkeit der IGH-Richter ist ein durchgreifendes Thema aller bedeutenden Wissenschaftler, die sich mit dem Internationalen Gerichtshof beschäftigt haben, u. a. Lauterpacht101 , Rosenne102 , Stone 103 • Die Besorgnis der Regierungen in diesem Punkte war ein wichtiges 100 101 102 103

Zile, 381 - 382.

Lauterpacht, Function, 202 - 241. Rosenne, World Court, 61 - 62. Stone, Crisis, passim.

5. Institutionalisierte Erwartungen am IGH-Richter

45

Motiv für den Anspruch jener Staaten, die nicht wie die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats einen dauernden Richter am Internationalen Gerichtshof stellen können, einen ihnen genehmen ad hoc Richter vorschlagen zu dürfen. Auch die Richter selbst haben diese wesentliche Pflicht betont, z. B. Lauterpacht 104 und Tanaka 106 • 5.2. Juristische Qualifikation

Der Richter hat sich durch ausgezeichnete juristische Fähigkeiten zu qualifizieren. Das Statut sagt nur: Art. 2: "The Court shall be composed of a body of independent judges, elected regardless of their nationality from among persons of high moral character, who possess the qualifications required in their respective countries for appointment to the highest judicial office, or are jurisconsults of recognized competence in internationallaw."

Die Frage ist, wie diese Kapazität zu ermessen sei. Teilweise ist es aus Schriften zu ersehen (Lauterpacht, Fitzmaurice, Gros, Jimenez de Arechaga), teilweise aus früherer Tätigkeit als ad hoc Richter (Nagendra Singh, ad hoc Richter im ICAO-Rat-FaU; de Castro, ad hoc Richter im Barcelona-FaU), teilweise aus der Tätigkeit an einem nationalen Gericht (Onyeama, Forster) oder aus einer Universitätskarriere (Bengzon, Dillard). Dreiviertel aller IGH-Richter haben ihrem eigenen Lande gedient106 • Manche Richter, z. B. Lachs, haben Erfahrung in jedem Gebiet. Man muß sich aber fragen, ob Regierungserfahrung allein genügt. Manche Richter haben sich, obwohl sie früh in ihrem Leben Jura studiert haben, und später als Minister oder Botschafter für ihre Regierung tätig waren, nie besonders auf Völkerrecht konzentriert (Spender, Morozov, Bengzon). In diesen letzten Fällen wurde die Erwartung nicht erfüllt, daß ein IGH-Richter schon bei Ernennung einen internationalen Ruf als Völkerrechtler haben soll. 5.3. Würdevolles Verhalten

Der IGH-Richter soll "sich ernst und würdevoll verhalten". Die Mitglieder des IGH-Richterkollegiums richten sich (und haben das seit der Gründung des Ständigen Internationalen Gerichtshofs immer getan) nach dem Standard der sog. beruflichen Elite.

104 105 106

Lauterpacht, Function, 202 - 241. Tanaka, World Law, 11 - 12. Beckman, 594.

1. Kap.: Die Rolle des Richters des IGHs

46

5.4. Loyalität

Der Richter soll sich loyal gegenüber dem Gerichtshof verhalten. Zafrullah Khan wurde kritisiert wegen seines Interviews mit dem Lon-

doner "Observer", in dem er den Inhalt privater Gespräche mit dem Präsidenten erkennen ließ. In Beachtung dieser Pflicht haben Richter, die vor ihrer Amtszeit oft über den Gerichtshof geschrieben haben (z. B. Lauterpacht und Fitzmaurice), sich nicht mehr zu diesem Thema während ihrer Richterzeit geäußert. Krylov wurde kritisiert wegen kritischer Äußerungen über den Gerichtshof107 • Der Gebrauch eines Decknamens war vielleicht seinerseits eine gewisse Anerkennung der Loyalitätsforderung. Bis 1966 waren die dissenting opinions mit wenigen Ausnahmen am Internationalen Gerichtshof immer zurückhaltend und höflich der Mehrheit gegenüber vertreten worden. Typische Ausdrücke waren: "To my great regret, I am unable to concur in the Court's judgment ...108." "In spite of my great respect for the Court, I am unable, to my deep regret, to share the views of the Court ... 109." ,,1 regret I find myself unable ... to agree with those conclusions and the motivation behind them." ,,1 feel rather unhappy about the Court's analysis of the mandates system 110 ." Der Akzent mancher isolierter Sondervoten war dagegen schon nicht mehr ganz so höflich: ,,1 cannot align myself with the opinion of the majority ...111." Die Tradition eines zurückhaltenden Ausdrucks von Kritik in abweichenden Meinungsäußerungen hat einen heftigen Angriff von Jessup erfahren: "Having very great respect for the Court, it is for me a matter of profound regret to find it necessary to record the fact that I consider the Judgment which the Court has just rendered ... completely unfounded in law112." Andere Minderheitsrichter folgten dem Beispiel: ,,1 voted against the decision of the Court ... to which I am in fundamental dis agreement ... The Court, in my view, has been able to do that from an unwarranted assumption of the presumed intentions of the framers of the Covenant and mandates system11S ." 107 108 109 110 111

112 113

Zile, 386. Koretsky, Festlandsockel-FaU, Diss. Op., 155. Tanaka, Festlandsockel-Fall, Diss. Op., 172. Mbanefo, Süd-West-Afrika-Fall 1966, Diss. Op., 482, 488. Krylov, Korfu-Fall, Diss. Op., 73. Jessup, Süd- West-Afrika-Fall 1966, Diss. Op., 323. Padilla Nervo, Süd- West-Afrika-FaU 1966, Diss. Op., 441.

5. Institutionalisierte Erwartungen am IGH-Richter

47

"Si savamment motive que puisse etre l'arret ren du par la majorite de la Cour ... ne je peux y souscrire I14." Bei meinen Unterhaltungen mit einigen Richtern in Den Haag empfing ich den Eindruck, daß man einen Rückgang dieses Standards beklagte. Früher bemühte sich der Präsident um eine Aussprache mit einem Richter, der offenbar zu einer heftigen Kritik ansetzte. Seine Vorschläge zu einer Milderung wurden meist angenommen. Eine gewisse Sehnsucht nach den alten Tagen der Höflichkeit war schon in den Äußerungen eines Richters über den Jessupangriff, "C'etait un scandale" spürbar. Und Tanaka erwähnte in einem späteren Fall die Grenzen für eine abweichende Meinungsäußerung als "considerations of decency"115. 5.5. Priorität der Richterrolle

Die Richterrolle muß innerhalb des Richterauftrags unter allen Rollen Priorität genießen, soweit nicht jeder vom Rollenkonflikt abgeschirmt wird. Wegen der nur bescheidenen Teilnahme der sowjetischen Richter mag es eine Ambivalenz in der UdSSR geben: vielleicht wird dort erwartet, daß die Rolle eines Mitglieds der kommunistischen Elite Priorität haben soll. Das würde die doppelte Rolle Krylovs erklären116. 5.6. Kooperationsbereitschaft

Der Richter hat in den Verhandlungen mit den Parteien einen gewissen Grad von Kooperation zu praestieren. Ohne die Kooperation zwischen Richter und Parteien wäre es kaum möglich, einen Konflikt sachgerecht zu entscheiden 1l7 ; freilich müssen die Parteien mit dieser Art Verhandlungsführung einverstanden sein. Auf der anderen Seite dürfen sie erwarten, daß das Gericht erkennen läßt, welche Fragen es weiter erörtert haben möchte. Fitzmaurice hat diese Erwartung ausgedrückt: " ... the parties must be able to feel that a court of law will not go off at a tangent and decide the case on some wholly new footing thought up by itself and not discussed in the course of the argument. This objection is justified in the sense that although the jurisprudence of the International Court firmly establishes its right to raise points, and decide on the basis of them proprio motu, it should at least raise them before deciding them, and this not merely in its private deliberations but at the

114

115 116

117

Forster, Süd-West-Afrika-Fall 1966, Diss. Op., 472. Tanaka, Barcelona-Fall, Sep. Op., 115. § 5.4 oben.

Von den deutschen "Demonstrantenprozessen" demonstriert, vgl. Laut-

mann, Soziologie, 84 - 92.

I. Kap.: Die Rolle des Richters des IGHs

48

public hearing, so that the parties may have an adequate opportunity of arguing them118."

Eine scharfe Kritik gegen die Mehrheitsentscheidung im Süd-WestAfrika-Fall 1966 war, daß die Frage des "legal interest", von dem die Entscheidung letztlich abhing, von den Parteien gar nicht erörtert und vom Gericht auch nicht erwähnt worden war. Dieser Mangel an guter Verhandlungsleitung wurde von Jessup in seiner dissenting opinion erwähnt119 und auch von verschiedenen Kommentatoren, z. B. Higgins 120 , FaZk 121 und Friedmann 122 , bedauert. Dieser Fall mußte Ärger besonders deshalb erregen, weil der Gerichtshof durch seine Entscheidung über seine Kompetenz 1962 die Erwartung auf eine sorgfältige Entscheidung in der Sache selbst verstärkt hatte. 5.7. Effiziente Konfliktlösung

Der Richter muß eine definitive Lösung des ihm vorliegenden Falles geben123 • Die Reaktion nach dem Süd-West-Afrika-FalL 1966 zeigt, wie tief diese Erwartung begründet ist und wie ihre Enttäuschung als Hauptgrund der Kritik wirkt. Nach der Meinung Jessups war der Gerichtshof "not legally justified in stopping at the threshhold of the case, avoiding adecision on the fundamental question ... "124.

Das war auch in der Kritik von Higgins 125 , Falk 126 und HidayatulLah 127 bemerkt worden. 5.8. Befriedigende Begründung

Der Richter hat eine vernünftige Begründung seiner Entscheidung zu geben. Lauterpacht schrieb: "In a tribunal which, by reason of the circumstances encompassing its activity, is exposed to imputations of influence of extraneous considerations, a system such as that actually adopted in the Statute of the Court in the matter of Dissenting Opinions and fully operative in the practice of the Court, constitutes a powerful safeguard. It precludes any charge of 118 119

Fitzmaurice, Innovation, 26. Notiz weggelassen. Süd-West-Afrika-Fall 1966, 327 - 328. Diese Kritik wurde vom Ver-

treter Athiopiens in der UNO-Vollversammlung aufgenommen, UNGA Official Records, 21st Session, Item 66 (Provision al Agenda) 1414. 120 Higgins, South West Africa, 579. 121 122 123 124

125 126

127

Falk, 6. Friedmann, Southwest Africa, 10. Rosenne, International Court, 98; Fitzmaurice, Lauterpacht I, 14 - 15. Jessup, Süd-West-Afrika-Fall1966, Diss. Op., 325. Higgins, South West Africa, 593. Falk, 13. Hidayatullah, 84 - 85.

5. Institutionalisierte Erwartungen am IGH-Richter

49

reliance on me re alignment of voting and lifts the pronouncements of the Court to the level of the inherent power of legal reason and reasoning I28 ." Die Verweigerung von detaillierten Begründungen seitens sowjetischer Richter ist von Günther 129 und Zile 130 kritisiert worden. Es gibt bestimmte andere Erwartungen gegenüber dem Internationalen Gerichtshof, die man nicht als institutionalisiert bezeichnen kann, aber die von einem beträchtlichen Teil der Rollensender eingehalten werden. 5.9. Einstehen für die politischen Ziele der internationalen Gesellschaft?

Nach bisweilen geäußerten Auffassungen soll der Richter eine Entscheidung treffen, die die "policies" der internationalen Gesellschaft verwirklicht. Diese Ansicht wird besonders von Ammoun vertreten: ". .. les principes et les buts des Nations Unies s'imposent a tous les organes de ceHe-ci; a l'Assemblee, au Conseil de securite et, tout autant, a la Cour internationale de Justice, comme aussi a chacun des Etats membres I31 ." Doeker erwähnt die funktionelle Stellung des Gerichtshofs als ein Hauptorgan der UNO. "according to which the court ought to strive to give effect to the decisions of other principal organs"

und er zitiert zur Begründung für seine Behauptung die Mehrheitsentscheidung im Korfu-Fall, in dem das Gericht seine Entscheidung über die Kompetenz teilweise mit der Notwendigkeit die volle Wirkung einer Sicherheitsrat-Resolution zu sichern begründet hat1 32 (diese Äußerung des Gerichtshofs kann auch anders ausgelegt werden). Ein anderer Kommentator schreibt: "In view of the fact that the Court is the principal judicial organ of the United Nations, it might weH be asked wh ether it is not encumbent upon the judges to give effect to the purposes of the United Nations I33 ." Eine ähnliche Erwartung war in den Äußerungen Äthiopiens und Liberias gegenüber dem Gerichtshof und in einigen Kritiken an der Mehrheitsentscheidung, daß das Gericht die Meinungen ("policies") der internationalen Gesellschaft (welche auch immer diese sein mögen!) 128

129 130 131

132 133

Lauterpacht, Development, Günther, 137.

68 - 69.

Zile, 384 - 385. Ammoun, Namibia-Gutachten, Sep. Op., 71. Doeker, 774. Green, 512.

4 Prott

1. Kap.: Die Rolle des Richters des IGHs

50

durchführen solle134 • Falk stützt sich auf den Süd-West-Afrika-FaH 1966, um die Pflicht des Internationalen Gerichtshofs "as the judicial arm of the organized international community" zu betonen, Hilfe zur Erfüllung der Aufgaben der internationalen Gesellschaft zu leisten135 • Der Vertreter Ghanas an der achten Konferenz des "Asian-African Legal Consultative Committee" behauptete: "It is the unspeakable irony of our time that an institution of the order

of the International Court of Justice, forged out of contemporary norms and principles, should be used to frustrate and stultify the implementation and furtherance of these ideals136 ."

Diese Ansicht wurde von den Richtern Spender und Fitzmaurice in ihrer gemeinsamen dissenting opinion im Süd-West-Afrika-FaH 1962 scharf abgelehnt: "A number of ... arguments we will not deal with, partly for reasons of space, but mainly because they do not seem to us to be legal arguments at all. They are no more than motives or reasons for urging that it is politically desirable that the Applicants should be allowed to invoke Article 7, and that the Court should assume jurisdiction. This feeling, understandable though it may be, cannot have any bearing on the legal issues involved, and these must be our sole concern 137 ." Aber obwohl diese Meinung übertrieben werden kann und auf eine Weise, die nicht akzeptierbar ist für die, die in der Tradition juristischen Positivismus aufgewachsen sind, steht viel Realismus dahinter, kein ähnlicher Realismus dagegen in ihrer Ablehnung, weil Gerichte besonders in Zeiten dynamischen sozialen Wandels oder Störung - die Meinungen der breiteren Gesellschaft nicht ignorieren dürfen. Wenn sie es täten, würden Sanktionen angewandt werden, wie die vorher gegebenen Beispiele in dem US Supreme Court und australischem High Court zeigen. Nationale Gerichte berücksichtigen solche Meinungen: durch den Begriff "public policy" im englischen Recht, Ausdrücke wie "gute Sitten" und "verkehrsgerechte Auffassung" im deutschen Rechtssystem. Es stimmt nicht, daß solche Elemente für eine juristische Entscheidung irrelevant sind. 5.10. Eintreten für das nationale Rechtssystem?

Andere drücken die Meinung aus, daß der Richter die Werte seines nationalen Rechtssystems vertreten und manchmal dafür sogar kämp134 ICJ Pleadings, Oral Arguments, Documents 1966, South West Africa, Bd. IX, bes. 64, 255, 328 und 353 - 354. 135

Falk, 14.

Report of the Eighth Session of the Asian-African Legal Consultative Committee, 1966, Bangkok, Vertreter von Ghana, 85. 137 Süd-West-Afrika-Fall1962, Joint Diss. Op., 515. 136

6. Erwartungen des IGH-Richters

51

fen muß. Das sei impliziert durch das Postulat der Repräsentierung der wichtigsten Rechtssystemen der Welt (Statut, Art. 9) und wird von einzelnen Richtern wörtlich in Bezug genommen. Anzilotti behauptete: "What Lord Finlay truly represented in this court, as it was his duty to do, was the legal system in which he was brought Up138." Im Schiedsspruch-Fall andeutete sich der Richter Moreno Quintana "as a representative on this Court of a Spanish-American legal system"139. Andere Autoren wie Rosenne unterstreichen, daß die Richter vielmehr nach Völkerrecht entscheiden müssen und daß sie als Völkerrechtler und nicht als Vertreter eines nationalen Rechtssystems gewählt werden sollen140. 5.11. Lösung der Antinomien der Erwartungen?

Es wird auch von manchen behauptet, daß das Gericht Konflikte zwischen den Rollensendungen zu beenden hat. Anstatt wie in nationalen Rechtssystemen die Erwartungskonflikte in einem Parlament und seiner Sendung aufzulösen, die der des Gerichts vorangeht, wird hier der Konflikt oft gerade deshalb zum Gerichtshof gebracht, um seinem großen Prestige den Vortritt bei der Rechtsfortbildung der internationalen Gesellschaft zu lassen. Ein Grund für einen Gutachtenantrag mag freilich auch die Absicht sein, frische Munition für den weiteren Kampf zu bekommen, nämlich eine Entscheidung, welche Normen anzuwend~n seien: "... a judicial pronouncement in the setting of the South West Africa Cases would have been an important additional lever available to those countries seeking to mobilize political support for their objectives in South West Africa and elsewhere in southern Africa l41 ." Ein Konflikt, der die internationale Gesellschaft zerspaltet, wird wahrscheinlich aber auch die IGH-Richter spalten, da der einzelne zusätzliche Mechanismus, über den das Gericht verfügt - der juristische Denkstil- in diesem Forum relativ schwach ist. 6. Erwartungen des Richters des Internationalen Gerichtshofs 6.1. Status des IGH-Richters

Wie der Richter eines nationalen Gerichtshofs, richtet der IGH-Richter bestimmte Erwartungen an seinen Rollensender. Er erwartet einen 138 First Public Sitting of XVI (extraordinary) Session on May 15, 1929, P. C.I.J. Series E, No. 5, 22 - 23; von Lauterpacht, Schools, 48, zitiert. 139 Moreno Quintana, Schiedsspruch-Fall, Sep. Op., 218. 140 Rosenne, International Court, 167. 141

Falk, 21.

1. Kap.: Die Rolle des Richters des IGHs

52

gewissen Grad an Autorität über Parteien, Rechtsanwälte und Gerichtspersonal, Immunitäten und Privilegien und viel Prestige. Man muß aber sagen, daß das Prestige der einzelnen IGH-Richter sehr unterschiedlich ist, und sehr von ihrer persönlichen Leistung (auch vor ihrer Ernennung) abhängt. Das wird in vielen Abhandlungen bewiesen. Der IGH-Richter erwartet auch die Durchführung der oben beschriebenen Abschirmungsprozesse (§ 2.3.). Es scheint, als ob der IGH-Richter auch Prestige und eine gute Position in seiner nationalen Gesellschaft nach dem Ablauf seiner Amtszeit erwartet. Seine Leistung als Richter ist ein Element seines persönlichen Ansehens, und seine Veröffentlichungen sind wegen seiner besonderen Erfahrungen sehr geschätzt wie z. B. die Bücher des früheren belgischen IGH-Richters de Visschers. Nach der Richterzeit kehren die Richter in ihre nationalen Eliten mit erhöhtem Ansehen zurück. 6.2. Sozialisation

Die Sozialisation als Richter im Internationalen Rechtssystem liegt weit unter der des nationalen Richters. Der junge Jurist, der ein guter Völkerrechtler zu werden strebt, hat keine Gruppe, mit der er sich "solidarisieren" kann: es gibt keine "Inns of Court" im Völkerrecht. Ob er seine Karriere im Regierungsdienst, an der Universität oder in der Diplomatie fortsetzt, ist er meistens von seinen "völkerrechtlichen" Kollegen weit entfernt: höchstens ab und zu trifft er sie auf internationalen Kongressen. Man möchte annehmen, daß eine bessere Sozialisationsmöglichkeit an spezialisierten Instituten für Völkerrecht, wie l'Institut Universitaire des Hautes Etudes Internationales in Genf bestehe: so ist es sicher - aber keiner der jetzigen fünfzehn Richter in Den Haag war dort. Man muß indessen solche Schulen grundsätzlich als ein sehr wichtiges Element für den Aufbau einer gemeinsamen Rech tskultur betrachten142. Schon 1932 hat man die Schöpfung einer ständigen Anwaltschaft als vorteilhaft vorgeschlagen: "If such a Bar could be created in connection with the Permanent Court, it would lead to a School of International Law, viz., International Law taught from an international standpoint and not - as it is at present seen through national spectacles143 ." Trotz dieser bislang mangelhaften Sozialisation haben viele IGHRichter ihre Rolle als Völkerrechtler (vor ihrer Ernennung zum Richter) und ihre Rolle als IGH-Richter danach als ihre Hauptrolle empfun142 143

Dupuy, 42.

Anmerkung des Dr. Bissehops zu dem Vortrag Caloyanis, 99.

6. Erwartungen des IGH-Richters

53

den, von der die meisten Normen tief verinnerlicht wurden. Hier kann als Beispiel Lauterpacht gelten, der dreißig Jahre lang immer wieder die Funktionen des internationalen Richters betonte. Immerhin liegt der wichtigste Teil des Sozialisationsprozesses in der IGH-Tätigkeit selbst. Wie wichtig hier eine weiterführende Erziehung ist, erfuhr ich in Interviews mit sechs Richtern in Den Haag. Alle betonten, daß ihre Methoden - wenn nicht die Substanz - sich erst durch diese Tätigkeit selbst geformt und gewandelt hätten. Die Beispiele, die sie dafür gaben, lagen alle in die Richtung größerer Flexibilität, der Einbeziehung mehrerer Randelemente. Einer der meist erfahrenen Richter am Internationalen Gerichtshof (12 Jahre) sagte, am Anfang seiner IGH-Arbeit habe er geglaubt, daß er die Grundmodelle für jeden Fall kenne, weil er Jahrzehnte ständig als Rechtsberater seiner Regierung gearbeitet habe. Je länger er im Internationalen Gerichtshof sei, desto mehr habe er erfahren, daß ein Fall gewisse unerwartete und überraschende Elemente haben könne, die man am Anfang nicht gesehen habe. Ein anderer Richter sagte, obwohl er immer noch glaube, es sei nicht richtig, sich auf soziologische und ökonomische Gründe zu stützen, müsse er nach seiner Zusammenarbeit mit anderen Richtern am Internationalen Gerichtshof diese Elemente einbeziehen. Ein sehr erfahrener Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sagte, daß man, besonders unter den jüngeren Richtern, oft bemerkenswerte Entwicklungen sehen könne. 6.3. Rollenauffassung

Der Stoff, aus dem der Richter seine Rollenauffassung bildet, besteht aus jenen Erwartungen seiner Rollensender, die er wahrnimmt und die teilweise verinnerlicht sind. Diese Bildung ist für den IGH-Richter besonders schwierig: zunächst, weil die Erwartungen so sehr verschieden sind, und zweitens, weil der Sozialisationsprozeß bei ihm wahrscheinlich weniger konsequent ist als beim Richter eines nationalen Gerichtshofs. Statt des langen Sozialisationsprozesses des Richters im nationalen Rechtssystem, wird der Richter zuerst für die Berufsgruppe seines eigenen Landes sozialisiert. Danach wird er nur ausnahmsweise als "Richter" sozialisiert: meistens nur als Fachmann im Völkerrecht. Diese weitere Ausbildung kann zum Rechtsberater der Regierung (Fitzmaurice, Gros, Lachs), zum Akademiker (Winiarski, Tanaka, Dillard) oder zum Diplomaten (Wellington Koo, Spender, Badawi) sein. In allen Berufszweigen wird er aber gleichzeitig als Mitglied einer nationalen Elite sozialisiert, und dies mag die Verinnerlichung mancher Normen, die zum Völkerrechtler gehören, aber mit den Normen der Elite nicht ganz vereinbar sind, verhindern. Es kann auch sein, daß

54

I. Kap.: Die Rolle des Richters des IGHs

seine spätere Sozialisation -in die neue Berufsrolle in einem Milieu erfolgt, das sehr weit von denen der anderen Völkerrechtler liegt. Bei der "diplomatischen" Vorbildung ist das schon vorgekommen: Spender war nach fünfzehn Jahren als Rechtsanwalt siebenundzwanzig Jahre in nationalen politischen Aufgaben- und Personen-Kreisen tätig. Wie kann dann der IGH-Richter überhaupt seine eigene Rollenauffassung bilden? Um das richtig zu begreifen, muß man den soziologischen Begriff der "Bezugsgruppe" studieren. Für die Mitglieder einer bestimmten Gruppe ist eine andere Gruppe eine Bezugsgruppe, wenn die Mitglieder der ersten Gruppe ihre eigene Gruppe oder sich selbst gegen die Bezugsgruppe oder ihre Mitglieder als Vergleichsmaßstab abschätzen144 • Der Bezug auf eine solche Gruppe und ihre Normen mag ein Wegweiser sein für eine Gruppe, deren eigene Rollen unsicher sind. Der Gebrauch der Wörter "Gerichtshof" und "Richter" im Statut des Internationalen Gerichtshofs hat schon 1920 eine Bezugsgruppe für die neue bis dahin nicht institutionalisierte Gruppe bereitgestellt: diese Bezugsgruppe bestand aus den höchsten Gerichten in den Staaten, deren Vertreter das Statut entworfen hatten. Daß diese Gerichte in etwa als Vorbild gedacht waren, beweisen die Bestimmungen über die Qualifizierung der Richter (Statut, Art. 2: "highest judicial offices"). Wo der IGH-Richter Lücken oder Konflikte in den Rollensendungen fand, hatte er immer eine Bezugsgruppe, auf die er verweisen konnte. Die Richter haben es nicht ausdrücklich getan, wahrscheinlich selten bewußt getan. Manche IGH-Richter waren früher Richter ihres höchsten nationalen Gerichtshofs: Zafrullah Khan, Ammoun, Forster, Bengzon, Petren, Onyeama. Außerdem war für bestimmte richterliche Aufgaben kein anderes Vorbild vorhanden: die Prozeßmethoden, die Begründungsmethoden mußten von den verschiedenen internationalen Erfahrungen ausgehen, bis die neue Institution ihre eigenen Erfahrungen gemacht hatte. Bis dahin hatten sich die Arbeitsmethoden der nationalen Gerichtshöfe dem Internationalen Gerichtshof tief eingeprägt, und sie bleiben immer Maßstab und Vergleichsbild für die heutige Praxis des Internationalen Gerichtshofs, teilweise unbewußt. Die Rollensender des Internationalen Gerichtshofs beachten ihre eigenen nationalen Gerichte als eine Bezugsgruppe, um die Leistung des IGH-Richters zu bewerten, besonders in den westlichen Gesellschaften, in denen gerade ähnliche Bezeichnungen ganz wichtige Funktionsunterschiede verbergen. Die großen Unterschiede zwischen natio144 H. Johnson, 40. Diese ist nur eine der Arten der Bezugsgruppen, aber es ist die wesentliche zum Zweck dieser Analyse.

6. Erwartungen des IGH-Richters

55

nalen Gerichten in westlichen Gesellschaften und denen in asiatischen, afrikanischen und kommunistischen Gesellschaften ist eine Erklärung, warum die Erwartungen gegenüber dem Internationalen Gerichtshof, die auf diese sehr verschiedenen Bezugsgruppen gerichtet sind, so verschiedenartig sind. Wie nationale Gerichte, trägt auch der Internationale Gerichtshof selber viele Rollen, die auf die Rollenauffassung einwirken: er ist weniger Machtbesitzer als die Mehrheit staatlicher Gerichtshöfe, er ist Teil der Struktur der internationalen beruflichen Elite (viele Richter waren vorher in anderen internationalen beruflichen Elitepositionen) und hat besondere Beziehungen - durch persönliche (nicht gleichzeitige) Mitgliedschaft und durch allgemeine juristische Kultur - zu bestimmten Gruppen in dem sich entwickelnden internationalen Gesellschaftssystem (Sechster Ausschuß der UNO, Entwurfskonferenzen, International Law Commission, Institut de droit international usw.) und manchmal spielt er auch für die internationale Gesellschaft die Rolle des Integrationsbildners, wenn er Normen ausspricht, die die verschiedenen Völker vereinigen sollen.

H. KAPITEL

Funktions- und Gruppentheorie in Bezug auf den Internationalen Gerichtshof 1. Funktionstheorie 1.1. Grundrisse

Der Grundsatz der Funktionsanalyse von Parsons ist, daß jeder Handelnde in irgendwelcher Situation in der Gesellschaft vier funktionelle Probleme zu lösen hat. Es sind jene der Ziel-Beziehung ("goal attainment") und der Anpassung ("adaptation") - dies sind die instrumentalen Funktionen - der Integrierung, d. h. der Verstärkung der Harmonie zwischen den einzelnen Elementen und der Solidarität bzw. der Latenz. Die letzten enthalten zwei Problemkreise: Die Mustererhaltung ("pattern maintenance"), d. h. die ideale Versöhnung durch den Handelnden mit den verschiedenen Erwartungen infolge seiner Teilnahme an diesem einen und jenen anderen Systemen, und die Spannungskontrolle (" tension management"), d. h. die Erhaltung jedes Bestandteils des Handeins an dem Soll-Niveau der Leistung und der Motivation!. Int,egrierung und Latenz hat man die sozial-emotionalen Funktionen genannt. Im Bezug auf den Internationalen Gerichtshof sehen diese vier Funktionen so aus: das Ziel des Internationalen Gerichtshofs ist die Lösung jener Streitfragen, die ihm überwiesen werden2 ; die Anpassung zu seiner Umwelt schließt die Beschaffung des Personals, der adäquaten Gebäude und der übrigen sachlichen Bedürfnisse ein. Es liegt auf der Hand, daß diese letzte Aufgabe einigermaßen komplizierter Bemühungen bedarf: die Beschaffung eines größeren Haushalts, entsprechender Richter oder sogar der Hilfsarbeiter (z. B. der Attaches, wie sie im Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften zu finden sind) schafft delikate Probleme mit weiteren Subsystemen innerhalb des internationalen Gesellschaftssystems. Probleme der Integration entstehen daraus, daß alle Abteilungen des Gerichtshofs gleichmäßig motiviert sein müs1

Devereux, 54 - 57; H.

Johnson, 53 - 54.

Für unsere mehr einführenden Zwecke machen wir bestimmte Vereinfachungen; die Aufgaben des Internationalen Gerichtshofs sind etwas umstritten. Vgl. § 6 unten. 2

1. Funktionstheorie

57

sen im Hinblick auf ihre Zielsetzung: Mustererhaltung und Spannungskontrolle betreffen Verhältnisse zwischen den verschiedenen Abteilungen des Gerichtshofs, z. B. zwischen der Richterbank und dem Gerichtsschreiberamt (Greffier) und das Erhalten aller Teile in arbeitsfähigem Zustand. Nach einem langwierigen anstrengenden Fall z. B. können die Richter und das Gerichtsschreiberpersonal (Dolmetscher usw.) überbeansprucht sein und eine Pause brauchen, bis sie weiter arbeiten können. Hinzu kommt die Aufgabe der Ersetzung der Richter, die während ihrer Amtszeit gestorben sind. Diese Analyse kann auf verschiedener Ebene getrieben werden. Man kann den Gerichtshof als Handelnden in der internationalen Gesellschaft analysieren, wie im letzten Absatz, oder das Richterkollegium als Handelnde im Subsystem des Internationalen Gerichtshofes (der als Ganzes auch den Gerichtsschreiber und sein Personal einschließt) oder sogar die einzelnen Richter als Handelnde im Subsubsystem des IGHRichterkollegiums. Jede kleinere Einheit innerhalb des größeren Systems hat dieselben vier funktionalen Probleme auf seiner eigenen Stufe zu lösen: der einzelne Richter hat sein persönliches Ziel durch seine Arbeit zu erreichen; er muß sich materielle Sicherheit und Komfort sichern; er muß die verschiedenen Ziele und Ideale, die seine verschiedenen Rollen mit sich bringen, vereinen können; und er muß sich entspannen können, um immer seine beste Arbeit leisten zu könnens. Obwohl jede Stufe der Struktur der Gegenstand einer Analyse werden kann, ist jede dem Einfluß der anderen Stufen unterworfen. Das Hauptsystem mag einige Funktionen einem Subsystem zuteilen: in westlichen Gesellschaftssystemen z. B. ist die Aufgabe der Abweichungskontrolle (eine Art der Integrationsfunktion) teilweise4 dem juristischen Subsystem zugeteilt. Was immer diese spezialisierte Funktion für das Hauptsystem sein mag, es haben solche Subsysteme doch ihre eigenen vier funktionellen Probleme, die noch weiter Subsystemen delegiert werden können. Im Falle des juristischen Subsystems z. B. sind die Gerichtshöfe hauptsächlich auf Ziel-Beziehung gerichtet, das Justizministerium sorgt für die Einrichtungen hinsichtlich dieser Aufgabe und für die Organisation des ganzen Gerichtssystems (Anpassung), der Gesetzgeber, die juristische Tradition und Rechtskultur sorgen für die Integration der verschiedenen Einheiten der juristischen Subsysteme. Mustererhaltung und Spannungskontrolle sind die Aufgabe der verschiedenen Subsubsysteme: hoch entwickelte Mechanismen wie Rechtsmittel (Lösung der Konflikte unter den Gerichtshöfen), Justiz3

Devereux, 58 - 59.

Es gibt auch andere Mittel z. B. Kirchen, Sozialhilfe, ErziehungsinstituHonen usw. 4

58

H. Kap.: Funktions- und Gruppentheorie

ministerium und Justizverwaltung benützen verschiedene Mittel (die Regulierung der Prozeßliste, die Ernennung mehrerer Richter), um eine zu harte Arbeitslast zu erleichtern; Gerichtsferien ermöglichen das reibungslose Fortarbeiten des ganzen Gerichtssystems, weil Richter, Rechtsanwälte, Prokuratoren pausieren und sich für die nächste aktive Periode wieder instand setzen können. Kurz, das Gesellschaftssystem teilt eine Aufgabe dem Subsystem zu (den "input") und wenn das Ziel vom Subsystem erreicht ist, (einschließlich der Abweichungskontrolle und Konfliktlösung als Integrationsmittel) wird es als "output" dem System zurückgegeben5• Ein Kommentator dieser "Input-Output"-Analyse von Parsons beschreibt das Ergebnis als "eine lange Serie der Systeme, die in Systemen nisten, die in Systemen nisten, wie ein Satz der russischen Ostereier"6. 1.2. Vorzüge der Funktionstheorie

Der Vorteil dieser Art Analyse ergibt sich daraus, daß man damit das Übersehen der Faktoren vermeidet, die die Leistung einer Organisation auf vielen verschiedenen Stufen beeinträchtigen könnte. Im Falle des Internationalen Gerichtshofs beginnt man mit den folgenden Fragen: Ist die Aufgabe überhaupt durchführbar, die von dem internationalen Gesellschaftssystem dem noch embryohaften internationalen Rechtssystem zugeteilt wird? Ist dieses internationale Rechtssystem, das sich aus dem Internationalen Gerichtshof, verschiedenen anderen regionalen und ad hoc-Tribunalen oder auch noch kaum entwickelten anderen Organisationen zusammensetzt, adäquat für diese Aufgabe? Was ist die Aufgabe des Internationalen Gerichtshofs - schließt sie z. B. die Entwicklung des Völkerrechts ein7 ? Sind zunächst der Internationale Gerichtshof und zweitens das Richterkollegium so organisiert, daß sie ihre eigenen funktionalen Probleme lösen können? Wenn man Zeit dafür hätte und die volle Untersuchung aller Faktoren möglich wäre, sollte man auch überlegen, ob jeder einzelne Richter in der Lage ist, seine funktionalen Probleme zu lösen auf solche Weise, daß seine optimale Mitwirkung an der Zusammenarbeit im Richterkollegium ermöglicht wird. Eine solche Untersuchung würde gewiß viel grundsätzliches Interesse erwecken; ob sie den Interessen des Internationalen Gerichtshofs dienlich wäre, ist nicht so sicher. Das gute Funktionieren des Internationalen Gerichtshofs hängt stark von seiner Autorität ab; eine Analyse der

5 6

7

Diese Analyse beruht auf der Darstellung bei Devereux, 61 - 6? Devereux, 62. Vgl. § 6 unten.

1. Funktionstheorie

59

Schwächen des Internationalen Gerichtshofs könnte sein Prestige vermindern. Dieses Problem besteht übrigens für alle Gerichtshöfe. Bickel z. B. in seiner Enthüllung der persönlichen Verhältnisse zwischen den Richtern des US Supreme Court in der ersten Amtszeit des Richters Brandeis hat Konflikte aufgewühlt, die vor dreißig Jahren schon gelöst worden waren und über welche die damals engagierten Richter schon alle gestorben waren 8 . Die Richter selbst sind auf diesem Gebiet empfindlich. In einem Nachruf für Schücking sagte van Eysinga, daß "Die Bedeutung eines Mitglieds eines richterlichen Kollegiums, wie es der Haager Gerichtshof darstellt, eigentlich nur im Beratungszimmer in Erscheinung tritt, dessen Besprechungen der Öffentlichkeit entziehen. Dieser Umstand hat zur notwendigen Folge, daß '" Ausführungen sehr allgemein gehalten werden mußten9 ." Verfasser wie Zile und Günther sind nicht so umsichtig. In den folgenden Seiten wird versucht, Tatsachen und Vermutungen zu formulieren, die das Funktionieren aufhellen mag, ohne so tief in die richterliche Intimsphäre einzudringen, daß das Prestige des Gerichtshofs damit beschädigt wird. Eine soziologische Grundlegung für ein Studium des Internationalen Gerichtshofs hat u. a. den Vorteil, daß sie Lösungen andeuten kann, die aus Vergleichen mit anderen früher nicht als relevant angesehenen Organisationen entstammen. Wenn alle menschlichen Organisationen funktionale Probleme dieser Art haben, und manche sie gelöst haben, können ähnliche Lösungen dann für den Internationalen Gerichtshof verheißungsvoll sein? Die meisten Studien über den Gerichtshof wurden von Juristen gemacht. Deshalb neigen sie dazu, Vergleiche nur init anderen juristischen Organisationen zu machen, besonders Vergleiche mit anderen Gerichten, die aus einem Richterkollegium bestehen. Aber solche Gerichte mögen in einer ganz anderen Umwelt handeln: es könnte sein, daß fruchtbare Vergleiche besser zwischen dem Internationalen Gerichtshof und anderen Subsystemen der schlecht integrierten internationalen Gesellschaft wie der UNO selbst (VermittlersteIle der Eliten) und des Sechsten Ausschusses oder der International Law Commission ("bargaining" in der Kodifizierung des Rechts) gezogen werden sollten. 1.3. Das internationale Gesellschaftssystem

Gibt es ein internationales Gesellschaftssystem? Man hat bisher über "Rollen", "Funktionen" und "Handelnde" gesprochen, die in v~rschie­ denen Systemen zu analysieren sind. Kann man überhaupt von einem B 9

Bickel, viii. van Eysinga, 213.

II. Kap.: Funktions- und Gruppentheorle

60

internationalen Gesellschaftssystem sprechen? Nach Parsons ist es davon abhängig, welcher Grad und welche Stufe der Integration erreicht ist: eine nationale Gesellschaft ist relativ hoch integriert, aber ein supranationales Gesellschaftssystem hat noch nicht diesen Stand der Integration erreicht. Deshalb kann man die Probleme der Integrierung als empirische Probleme ansehen, nicht als Probleme der Definition1o . Zum Zweck dieser Analyse kann man sich zwar dieser Methode bedienen, obwohl sie bei der Erörterung der "Aufgabe", die vom IGH erwartet wird, zu Schwierigkeiten führt (§ 5 unten). Wenn man dann aber die Aussichten einer besseren Integration zu bewerten versucht, (Kapitel V), muß man deshalb die zentrifugalen Tendenzen dieses Embryo-Systems beachten. Diese methodologische Entscheidung soll nicht verschleiern, daß viele Autoren meinen, daß das internationale Gesellschaftssystem nie einen derartigen Stand der Integration erreichen wird. Kaplan, Katzenbach ll und Corbett 12 bewerten dieses höchstens als ein "werdendes" Gesellschaftssystem auf einer Grundlage funktionaler Notwendigkeiten und gemeinsamer Interessen. Andere wie Jessup13, Jenks 14 , de Visscher 15 , Tanaka 16 und Friedmann 17 betonen die integrierenden Elemente, die schon vorhanden sind. Stone trifft seine Entscheidung, wie Parsons, funktional: die Anerkennung der Normen als internationales Recht setzt die Annahme eines internationalen Gesellschaftssystems voraus18 • Wenn also vom "internationalen Gesellschaftssystem" gesprochen wird, sollte man immer die mangelhafte Integration dieses im Entstehen begriffenen Systems im Auge behalten. 1.4. Anwendung der Funktionstheorie auf den Internationalen Gerichtshof

Es scheint, als ob Probleme in jeder funktionalen Stufe für den Internationalen Gerichtshof existieren. In der ersten Stufe, wenn man das internationale Gesellschaftssystem überhaupt als das breiteste System ansieht, ist es ganz klar, daß der "input" (die Aufgabe, die dem internationalen Rechtssystem zugeteilt wird) nur provisorisch, zaudernd und nicht gut definiert wird. 10 11

12 13 14

15 16

17

18

Parsons, International Social System, 292 - 298. Kaplan und Katzenbach, 267. Corbett, 40 - 42. Jessup, Transnational Law, bes. 96 - 97, 108 - 109. Jenks, Common Law, passim. de Visscher, Theories, 110 ff. Tanaka, Droit Mondial, 548. Friedmann, Evolution, passim.

Sociological Enquiries, 129.

2. Gruppentheorie

61

Wenn man das internationale Rechtssystem als das nächste "Ei" betrachtet, sieht man nur Elemente eines Systems, die noch schlecht integriert sind, und in dem der Internationale Gerichtshof nur eine unsichere Rolle spielt. Auf der Stufe des Internationalen Gerichtshofs selber werden manche Probleme befriedigend geregelt - Anpassungsprobleme scheinen nicht von zu großer Bedeutung zu sein -, aber die Zielbeziehung ist sehr von der Ungewißheit der Aufgabe und von den meist ungelösten Problemen der Integrierung beeinträchtigt wie die der Mustererhaltung und Spannungskontrolle. Diese Probleme werden sehr wesentlich auf der Stufe des Richterkollegiums. Und schließlich mag die schwächere Leistung einzelner Mitglieder im Richterkollegium, z. B. wiederholt bloße Feststellungen ohne Begründung, von der Unfähigkeit abhängen, widersprechende Erwartungen mit der Richterrolle aussöhnen zu können, bzw. von der Unsicherheit, worin diese Rolle überhaupt besteht. 2. Gruppentheorie 2.1. Grundrisse

Der Handelnde oder Rollenträger kann eine Person oder eine Gruppe sein. Wenn er eine Person ist, bestehen die Probleme, z. B. der Mustererhaltung und Spannungskontrolle, aus der Introjizierung der Systemziele und -muster und der motivierenden Verbindung ("motivational commitment") hierzu. Dies bedeutet für den Richter: Aussöhnung der Ziele und Maßstäbe dieses Systems, nämlich die des Richterkollegiums mit seinen anderen Rollen als Mitglied einer nationalen Elite oder als Bürger in einer bestimmten nationalen Gesellschaft. Spannungskontrolle bedeutet hier die Lösung der Probleme, die als Ergebnis des dauernden Wandels innerhalb des Organismus und der Persönlichkeit auftauchen: wenn er arbeitet, wird er müde; er muß persönliche Sorgen, Krankheiten, Familienprobleme usw. überwinden. Der Erfolg bei der Lösung und Kontrolle dieser Spannungen, die Bildung einer ausgeglichenen Persönlichkeit und die Erhaltung der psychischen Gesundheit haben entscheidenden Einfluß auf seinen Beitrag zum System19 • Wenn der Handelnde eine Gruppe ist, sind die Funktionen zwischen den verschiedenen Mitgliedern sehr oft verteilt. In seiner grundlegenden Arbeit entdeckte Bales 20 , daß innerhalb einer Gruppe fortwährend Unterschiede zwischen den von verschiedenen Gruppenmitgliedern getragenen Rollen auftauchen. Diese Unterschiede verfestigen sich von Sitzung zu Sitzung. In vielen Gruppen gab es klare Beweise für ein 19 20

Nach Devereux, 58 - 59. Eine kurze Zusammenfassung der Arbeit von Bales in Devereux, 54 - 56.

11. Kap.: Funktions- und Gruppentheorie

62

"Two-Leader-Pattern" (Zwei-Führungsmänner-Modell): eine Person übernimmt die Rolle des Aufgabenbetreuers, die andere die Rolle des sozial-emotionalen Führungsmannes der Gruppe21 • Ein Studium des internen Gruppenhandelns ist am Beispiel des US Supreme Court von Schubert durchgeführt 22 worden. Schubert wendet die Spieltheorie an, nach der jeder Richter ("Spieler") eine innergerichtliche Einflußmaximierung sucht. Wer am häufigsten die entscheidende Stimme abgibt, hat (nach der gegebenen Definition des Spiels) die größte Macht23 • Es wird hier nicht versucht, diese Spieltheorie auf das IGH-Richterkollegium anzuwenden. Es ergeben sich nämlich technische Schwierigkeiten, da das Gericht aus fünfzehn Richtern besteht, und da sich die Zusammensetzung alle drei Jahre, manchmal sogar mit der Ernennung der ad hoc Richter von Fall zu Fall verändert. Festzuhalten ist dagegen die überlegung, daß eine solche Theorie nur eine sehr vereinfachte Erklärung der Motivierung sei. Denn auf jeden Fall am Internationalen Gerichtshof, wahrscheinlich auch bei anderen Gerichtshöfen, sind die Richter Teilnehmer an mehr als einem "Spiel". Die Sorge eines Richters, daß seine Entscheidungen als konsequent konstruiert angesehen werden, daß bestimmte introjizierte Werte gelten, daß er keine Entscheidung abgibt, die der Elite seines Heimatstaates nicht gerecht würde, daß die inneren Verhältnisse des Richterkollegiums durch eine Entscheidung, die nicht als wesentlich angesehen wird, nicht verschlechtert werden, sind alle wirkungsvollen Motivierungen, die wichtige Elemente der gesamten Spielerei werden können. Bickel hat gezeigt, daß diese letzte überlegung einen so großen Richter wie Brandeis mehrmals bewegt hat, seine Stimme mit der Mehrheit abzugeben, obwohl er tatsächlich anderer Meinung war24 • Schuberts Analyse betrifft auch nicht die Beziehung der Justiz zur Umwelt: überlegungen, ob die gesamte richterliche Macht durch eine überzeugendere Mehrheitsentscheidung (d. h. mit der Zustimmung mehrerer Richter) gesteigert werden würde 25 , ob eine Sachentscheidung den Gerichtshof in eine schwierige politische Lage bringen könnte, könnten Einfluß auf das Votum haben26 •

Devereux, 55. Eine Zusammenfassung des heutigen Stadiums der Gruppenforschung in der Rechtswissenschaft und Kritik darüber in Rothleuthner II, 61 - 65. 23 Rothleuthner II, 6I. 24 Bickel, 18. 25 Rothleuthner II, 62. 26 Eikenberg, 376. 21

22

2.

Gruppentheorie

63

2.2. Gruppenforschung im Süd-West-Afrika-Fa1l1966

Manche Erkenntnisse der Gruppenforschung können mit Erfolg auf den Internationalen Gerichtshof angewandt werden. Was innerhalb einer Gruppe geschieht, ist sehr wichtig für die Rollenleistung der Gruppe. Wo die inneren Verhältnisse nicht in Ordnung sind, wird die Leistung der Gruppe deutlich absinken. Der Internationale Gerichtshof hat diese Probleme genau wie jede andere menschliche Gruppe. Aber seine Probleme auf diesem Gebiet sind nicht dieselben wie in anderen Richterkollegien: kaum ein nationales Gericht verfügt über ein derartiges Potential an Richtern für die Entscheidung eines Falles; obwohl z. B. der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte achtzehn Mitglieder hat, wird fast jeder Fall von einer Kammer mit nur sieben Richtern entRchieden - die Fragen der -Beratung und der fortdauernden Kleinblocks sind deshalb bei ihm ganz anders anzusehen. Wenngleich die Erforschung der inneren Verhältnisse gerechtfertigt ist, weil durch diese die Leistung des Gerichtshofs beeinflußt werden, muß man hier mit Bedacht vorgehen. Es soll an dieser Stelle keine Kritik geübt und auch nicht das Ansehen des Gerichtshofs angetastet werden. Da die richterlichen Beratungen geheim sind, muß man sich davor hüten, allzu rasch Schlüsse aus Nebensächlichkeiten zu ziehen. In der folgenden Analyse sind deswegen als Beweis nur die Äußerungen angeführt worden, die in den Begründungen oder anderen Stellungnahmen der IGH-Mitglieder nachweisbar sind, oder die die IGIfRichter in Interviews von sich gaben. Als Untersuchungsobjekt dient der Süd-West-Afrika-Fall 1966, weil an diesem Beispiel sich viele der inneren Spannungen nachweisen lassen.

Eine Analyse der Arbeitsweise des US Supreme Court hat versucht, fortlaufend die Personen des Aufgabenbetreuers ("task-Ieader"), der sich mit Ziel-Beziehung und Anpassung befaßt, und des Integrationsbetreuers ("social-emotional leader"), der sich um die Harmonie der Gruppe bemüht, festzustellen 27 • Ist eine solche Identifizierung auch beim IGH-Richterkollegium möglich? 2.2.1. Der Integrationsbetreuer

Der Aufgabenbetreuer des IGH-Richterkollegiums im Süd-WestAfrika-Fall 1966 war Sir Percy Spender - als Präsident wurde er mit dieser Rolle öffentlich betraut. Jedoch gibt es manche Beweise dafür, daß er nicht der Integrationsbildner des Richterkollegiums war. Man 21

Danelski, 497 - 508.

11. Kap.: Funktions- und Gruppentheorie

64

schließt dieses aus Äußerungen anderer Mitglieder, die auf ein gespanntes Verhältnis mit dem Präsidenten schließen ließen. (Es ist selbstverständlich, daß man anderer Meinung sein kann, ohne innere Gruppenspannungen zu verursachen. Die hier aufgeführten Beispiele beweisen aber solche Spannungen.) (a) Die Unzufriedenheit Zafrullah Khans wegen seiner Ausschließung vom Fall wurde schon früher zitiert (Kapitel I, § 4.1). (b) Die Unzufriedenheit PadiZZa Nervos über Spenders Gebrauch der "entscheidenden" Stimme des Präsidenten ist in seiner dissenting opinion zum Ausdruck gekommen. ". .. The present decision of the Court, to which I am in fundamental disagreement, rests on a technical or statutory majority, resulting from the exercise by the President of his prevailing vote .. }8." (c) Das Verhalten anderer Richter wurde von Spender kritisiert. In der Erklärung, die er allein abgegeben hat, behauptete er, die abweichenden Richter hätten kein Recht, sich zur Substanz der Frage zu äußern. Eine solche Kritik war zumindest taktlos und für die anderen Richter ärgerlich. "It would seem inconceivable that a judge who concurs in the dispositif should in aseparate opinion be free to go beyond considerations germane to the actual decision made by the Court and its motivations ... There is however no warrant to be found in ... the Court's statute which would leave it free for a dissenting judge to do this ...29." (In der Tat hatte Spender das "Unvorstellbare" in seiner separate

opinion im Interhandel-Fall schon selber getan.) Es ist merkwürdig, daß, obwohl mindestens zwei Mehrheitsrichter derselben Meinung waren, keiner mit dieser Erklärung einverstanden war. Der Richter Gros hatte im Barcelona-Fall ähnliches gesagt30 • Ein anderer Richter, der mit der Mehrheit stimmte, sagte in einem Interview, er wäre auch der Meinung Spenders. Wahrscheinlich haben diese beiden sich der Erklärung Spenders deswegen nicht angeschlossen, um die inneren Verhältnisse der Gruppe nicht unnötig weiter zu verschlechtern. Daß die Meinungsverschiedenheit über diese Frage Emotionen geweckt hat, läßt sich aus den späteren Äußerungen Tanakas im Barcelona-Fall schließen, in dem er nämlich die konträren Argumente im Süd- W estAfrika-Fall 1966 als "noch lebhaft in Erinnerung" erwähnte31 • Der ad hoc Richter van Wyk, obwohl er mit der Erklärung Spenders einverstanden war, ist trotzdem auf die Substanz eingegangen: eine Tat28 29 30 31

Padilla Nervo, Süd-West-Afrika-Fall1966, Diss. üp., Spender, Süd-West-Afrika-Fall1966, Erklärung, 56. Gros, Barcelona-Fall, Sep. üp., 284. Tanaka, Barcelona-Fall, Sep. üp., 115.

439.

2. Gruppentheorie

65

sache, die erkennen läßt, daß die sozial-emotionale Führung nicht sehr effektiv war. (d) Der Ton der Sondervoten war schärfer als je zuvor. Wie schon früher dargelegt, war es anfangs üblich, daß der Präsident eine Milderung der zu scharfen Worte vorschlug. Dieser Versuch, sofern er in diesem Fall gemacht wurde, ist offensichtlich gescheitert. (e) Sogar die Arbeitsführung des Falles wurde von einem Minderheitsrichter kritisiert, eine Kritik, die sich unmittelbar an den Präsidenten richtet32 • (f) Auch innerhalb der Mehrheitsgruppe hat Spender seine Kollegen nicht überzeugen können (vgl. (c) oben). Der ad hoc Richter van Wyk hat in seiner separate opinion die ganze Grundlage der Mehrheitsbegründung verneint: die Mehrheit hätte sorgfältig begründen müssen, warum das Ergebnis nicht im Widerspruch mit der Entscheidung des Gerichtshofs von 1962 stünde. Van Wyk hat klip und klar gesagt: ". " a great deal of the reasoning of the present Judgment is in conflict with the reasoning of the 1962 Judgment ... - so much so that the inescapable inference is that in 1962 the Court assumed a jurisdiction it does not possess '" The Court is not bound to perpetuate faulty reasoning 33• " Es gibt Anzeichen dafür, daß das Verhältnis van Wyks zu verschiedenen anderen Richtern getrübt war. Die daraus entstehenden Spannungen waren vielleicht von niemandem zu lösen. Die so eindeutige Verneinung der Grundprinzipien der Mehrheitsargumentation zeigt sehr wenig Gruppengefühl in van Wyk. (g) Zeugnisse über Spender aus seiner gesamten Tätigkeit als IGHRichter stehen nicht im Widerspruch zum Schlußergebnis, daß er im Süd-West-Ajrika-Fall 1966 keine sozial-emotionale Führung unternommen hat. Man weiß, daß er Wert auf Sondervoten legte. Während seiner neun Jahre am Internationalen Gerichtshof hat der Gerichtshof Entscheidungen in vierzehn Fällen verkündet; an allen hatte Spender teilgenommen. In sechs Fällen hatte er eine separate opinion abgegeben, in zwei Fällen eine Erklärung im Sinne der Mehrheit, in zwei weiteren Fällen eine gemeinsame dissenting opinion (mit Lauterpacht und Wellington Koo im Flugzeug-Fall 1959 und mit Fitzmaurice im Süd-West-Ajrika-Fall 1962). Nur in zwei dieser vierzehn Fälle gab er kein Sondervotum ab. Im Schiedsspruch-Fall war er der einzige der fünfzehn Mehrheitsrichter, der ein Sondervotum abgab, dessen Sprache schärfer und weit weniger versöhnlich war als die der Mehrheitsbe-

32 33

J essup, Süd- West-Atrika-Fall 1966, Diss. Op., 325 - 328. van Wyk, Süd-West-Atrika-Fall1966, Sep. Op., 65.

5 Prott

11. Kap.:

66

Funktions- und Gruppentheorie

gründung. Er war nicht der Mensch, der Kompromisse nur deswegen schloß, um sich einer größeren Gruppenentscheidung unterzuordnen.

Spenders Sondervoten beweisen eine fast peinliche Achtsamkeit auf Einzelheiten und sehr viel Kleinarbeit. Einige sind bemerkenswerte Beiträge, z. B. im Interhandel-Fall, Nord-Kamerun-Fall und (mit Fitzmaurice) Süd-West-Afrika-Fall 1962. Der Ton seiner Sondervoten ist sehr oft unbeugsam und unversöhnlich - Beispiele davon sind im Anhang A wiedergegeben. Solche verbale Heftigkeit steht im Gegensatz z. B. zu den freundlichen und abgewogenen, aber nicht weniger überzeugenden Sondervoten jener anderen berühmten Einzelgänger des Internationalen Gerichtshofs, Lauterpacht und Tanaka. In zwei Fällen betonte Spender die persönliche und individuelle Natur der richterlichen Entscheidung34 • Alle diese Fakten lassen vermuten, daß, wenn es überhaupt einen Integrationsbetreuer in diesem Fall gegeben hat, es nicht Spender war. Gab es ihn überhaupt? Die Zersplitterung der Meinungen und die Bitterkeit einiger Ausdrücke beweisen, daß es für die Gruppe als Ganzes um die sozial-emotionale Führung schlecht bestellt war. Aber es könnte sein, daß es eine derartige Person in der Mehrheitssubgruppe gab: sie konnten immerhin eine gemeinsame Begründung schreiben. Wer es war, ist aus den vorhandenen Materialien nicht herauszufinden. Wenn Spender es nicht war, war es sicherlich auch nicht van Wyk. Es hätte Gros sein können - er hatte mehr Takt gegenüber seinen Kollegen gezeigt, sich nicht der Erklärung Spenders anzuschließen. Es ist möglich, daß es einer der anderen Richter war, von denen kaum Äußerungen vorliegen, aus denen man einen Schluß ziehen könnte, wie Winiarski, die einen sehr wertvollen Einfluß jahrelang hinter der Bühne ausgeübt haben. Es mag auch sein, daß die sozial-emotionale Führung zwischen verschiedenen Richtern verteilt war, daß zwei oder drei stets wohltuend zusammengewirkt haben, um Reibungen taktvoll zu vermeiden.

2.2.2. Der Aufgabenbetreuer Als zweiten Punkt kann man die Leistung Spenders als Aufgabenbetreuer untersuchen. Es ist wahr, daß nicht nur Spannungen, sondern auch heftige Meinungsverschiedenheiten den "output" des Gerichtshofs beeinträchtigt haben: eine so heftige Zersplitterung der Meinungen und zehn verschiedene Äußerungen können kaum als befriedigende Leistung angesehen werden. Immerhin haben aber sieben Richter 34

Spender, Tempel-Fall,

Op., 184.

Diss. Op., 101; UNO-Ausgaben-Gutachten, Sep.

2. Gruppentheorie

67

unter der Führung Spenders eine gemeinsame Begründung verfaßt. Daß sein Teil in der Mehrheitsentscheidung wesentlich war, zeigt die folgende Tatsache: als Präsident war er ex officio Mitglied des Redigierungsausschusses und mußte daher zwangsläufig eine bedeutende Rolle bei der Abfassung der Begründung gespielt haben. Die Entscheidung ist in Englisch abgefaßt, in einer Sprache also, die Spender Gelegenheit gab, seine Muttersprache anzuwenden (die normale Arbeitssprache von Winiarski, Gros, Morelli und Spiropoulos, vier der fünf anderen ständigen Mehrheitsrichter, war Französisch) und demzufolge Merkmale seines Stiles enthielt: z. B. einige scharfe Ausdrücke, die im Anhang B ausgeführt sind. Die Argumente, begriffliche Struktur und Rechtsphilosophie der Begründung tauchen schon (wo sie noch schärfer ausgedrückt wurden) in der gemeinsamen dissenting opinion V(ln Spender und Fitzmaurice im Süd-West-Afrika-Fall 1962 auf. Die Eigenschaften, die Spender während seiner ganzen Amtszeit auszeichneten, und die zweifellos Gründe für seine Wahl zum Präsidenten waren - Tüchtigkeit, Energie, Sorgfalt in Meinungsäußerungen - stützen die Behauptung, daß er seine Rolle als aufgabeführende Person sehr ernst nahm. 2.3. Einfluß der individuellen Persönlichkeit in inneren Verhältnissen

Es ist immer wichtig, welche Person eine bestimmte soziale Position einnimmt. Jeder ist in seiner natürlichen Begabung und den entwickelten Fähigkeiten ohne Beispiel. Das normative System selbst, das aus den einzelnen Erwartungen in Bezug auf Qualität und Natur der Rollenleistung besteht, ist auf eine subtile Weise von der einmaligen Persönlichkeit des Rollenträgers betroffen35 • Je höher qualifiziert man ist, desto mehr ist man einmalig. Man kann sich leicht vorstellen, daß die höchstqualifizierten Richter des Internationalen Gerichtshofes große Persönlichkeiten sind. Dies wurde auch von einem IGH-Richter bestätigt: "Alle Richter sind wie Primadonnen. Jeder denkt, daß er am besten singt!" Die IGH-Richter, mit denen die Verfasserin selbst gesprochen hat, haben auch bekräftigt, daß ein wesentliches Merkmal der Zusammenarbeit nicht Sprachschwierigkeiten, die Einflüsse verschiedener Rechtsausbildungen usw. seien, sondern der Einfluß, den der einzelne auf Grund seines persönlichen Charakters ausübt. Der persönliche Einfluß eines Richters jedoch hängt von seinen Erfahrungen ab. Auch die Straßburger Richter haben einen besonderen Einfluß bestimmter Mitglieder bestätigt. Die sozialemotionale Führung in einer solchen Gruppe ist von höchster Bedeutung. 35

H. Johnson, 629.

11. Kap.: Funktions- und Gruppentheorie

68

Der Präsident des Gerichtshofs hat sicherlich eine einflußreiche Stelle und ist von seinen Kollegen geachtet - sie haben ihn ja als Präsidenten gewählt36 • Die Richter, die am längsten im Kollegium sind, erwerben auch durch ihre Kenntnis des Gerichtshofs und seines Verfahrens einen vielfältigen Einfluß. Man denkt hier an Winiarski (21 Jahre am Internationalen Gerichtshof und früher auch am Ständigen Internationalen Gerichtshof), Fitzmaurice (12 Jahre), Forster und Gros (beide schon neun Jahre am Gerichtshof, 1972 neugewählt). Die Erfahrung des ältesten Mitglieds des Kollegiums steht auch in hohem Ansehen: Sir Muhammad Zafrullah Khan als Präsident war 80 Jahre alt. Hier sei auf das fortgeschrittene Alter vieler internationaler Richter hingewiesen: am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte z. B. waren gleichzeitig Cassin (87), Verdross (83) und Rolin (78) (der letzte ist im April 1973 gestorben). Auf einer niedrigeren Stufe stehen neue Mitglieder und ad hoc Richter, deren Stellung von Hammarskjöld, dem ersten Gerichtsschreiber des Ständigen Internationalen Gerichtshofs, so geschildert wurde: "Die Stelle eines solchen ist immer schwierig: er tritt als Fremder in einen Kreis von Männern ein, die sich bereits gut kennen, denen die Denkart, die Methode der Kollegen nicht unbekannt ist und die die volle äußere Unabhängigkeit eines Berufsrichters besitzen37 ."

Andere Tatsachen sind auch von Bedeutung. Persönliches Ansehen vor dem Amtseintritt ist ein wichtiges Element: Lauterpacht z. B. war zuvor ein berühm,ter Völkerrechtler, ehe er zum Richteramt kam. Rhetorische Fähigkeiten spielen ebenfalls eine Rolle. Wenn Lauterpacht so überzeugend in der Rede war, wie es seine Schriften sind, hat er sicher oft seine Kollegen beeinflußt. Überzeugungs kraft hängt aber sehr mit der Sprachbeherrschung zusammen 38 ; wer Englisch oder Französisch zur Muttersprache hat, ist im Vorteil. Am schlimmsten steht es in diesem Punkt für die russischen und asiatischen Richter, für die eine europäische Sprache nur schwer beherrschbar ist. Es gibt Beispiele anderer Richter, die eine Amtsprache, obwohl nicht Muttersprache, völlig beherrschen (Petren - Französisch; Onyeama - Englisch). Es scheint, als ob Wellington Koo und Tanaka keine der beiden Amtssprachen so fließend gesprochen haben. Wenn das der Fall ist, kann man sich schwerer in lebhaften Gruppen eindrucksvoll verständlich machen und seinen Standpunkt darlegen. Diese Vermutung wurde in Interviews mit IGH- und Straßburger Richtern bestätigt. Interpersönlicher Einfluß kann auch auf andere Weise ausgeübt werden: wir wissen z. B., daß Schücking wegen seines Sinns für Humor 36

37 38

Vgl. Danelski, passim. Hammarskjöld, 214 - 215. Riese, 272; Bächle, 52 - 53.

3. Zusammensetzung und Subgruppenentwicklung im IGH

69

von seinen Kollegen am Ständigen Internationalen Gerichtshof sehr geschätzt wurde 39 • Lord Finlay war ein begabter Linguist und es wird von ihm erzählt, daß er einmal einen Auszug aus "La Divina Comedia" ohne Fehler Anzilotti gegenüber erzählte und Goethe gleich gut zitieren konnte 4o • Eine solche Vertrautheit mit der Kultur eines Landes muß die Sympathie seines Kollegen aus dem betreffenden Lande wecken. Sehr interessant für die inneren Verhältnisse des IGH-Richterkollegiums waren die folgenden in einem Interview von einem Mitglied zum Ausdruck gebrachten Ansichten: fünfzehn Richter seien zu viel; und es gäbe einige beherrschende Persönlichkeiten. Es wurde weiter gesagt, daß sich manche Richter nur auf die Wiedergabe ihrer Meinung beschränkten, aber daß andere schwer kämpfen, damit ihre Meinung akzeptiert und angenommen wird. Manche, sagte er, sagen viel und haben viel zu sagen. (Bedeutet das, daß andere viel reden, aber wenig zu sagen haben?) Der Einfluß der Persönlichkeiten auf die Arbeit des Internationalen Gerichtshofs faßte Hambro auf diese Weise zusammen: ". .. a nucleus of first class people is necessary and also sufficient. They will pull the rest with them, and will give confidence in the judgments of the Court. Without such a nucleus no court can work41 ." 3. Zusammensetzung und Subgruppenentwicklung im Internationalen Gerichtshof

3.1. Zusammensetzung Das Gericht besteht aus fünfzehn Richtern. An der Zeit der Interviews amtierten Präsident Zafrullah Khan (seit Februar 1973 Lachs), aus Pakistan, Vize-Präsident Ammoun und Richter Sir Gerald Fitzmaurice, Padilla Nervo, Forster, Gros, Bengzon, Petren, Lachs, Onyeama, Dillard, Ignacio-Pinto, de Castro, Morozov und Jimenez de Arechaga42 • Bei der Wahl 1972 wurden Forster und Gros auf weitere neun Jahre ernannt. Die drei neuen Mitglieder sind Nagendra Singh (Indien), Sir Humphrey Waldock (Groß Britannien) und Ruda (Argentinien). Zafrullah Khan, Fitzmaurice und Padilla Nervo traten im Februar 1973 aus dem Kollegium aus.

41

van Eysinga, 214; HammarskjöLd, 216. D. H. N. Johnson, 421. Hambro, Membership, 143.

42

ICJ Yearbook 1971 - 1972.

39 40

70

II. Kap.: Funktions- und Gruppentheorie

Dieser Gerichtshof besteht aus sehr verschiedenen Elementen. Bei Einteilung nach Rechtssystemen stammen: 3 aus kontinentalen Rechtskreisen (Gros - Frankreich, Petren - Schweden und de Castro -

Spanien);

2 aus echten Common Law Systemen (Fitzmaurice (ab 1973 Waldock) - Groß Britannien, Dillard einigten Staaten);

Ver-

2 aus kommunistischen Rechtssystemen (Morozov - UdSSR, Lachs - Polen); 2 aus gemischten islamisch-europäischen Rechtssystemen (Zafrullah Khan - Pakistan (bis 1973), Ammoun - Libanon); 3 aus gemischten afrikanisch-europäischen Rechtssystemen (Onyeama - Nigeria, Forster - Senegal, Ignacio-Pinto 2 aus südamerikanischen Rechtskreisen (padilla Nervo - Mexico (ab 1973 Ruda Arechaga - Uruguay);

Dahomey);

Argentinien), Jimenez de

1 aus einem völlig gemischten Rechtssystem (Bengzon aus den Philippinen). Diese Aufgliederung kann zu falschen Folgerungen Anlaß geben. Es gibt nämlich tatsächlich mehr als nur zwei Common Lawyers im Richterkollegium, weil der Pakistani Zafrullah Khan (ab 1973 der Indier Nagendra Singh) und der Nigerianer Onyeama stark im Common Law verwurzelt sind, was sich in ihren Meinungen zeigt. Andererseits sind Ammoun, Ignacio-Pinto und Forster auf das französische Recht angewiesen (Beispiele aus der Rechtsprechung in Kapitel VL). Und unter den "echten" Common Lawyers gibt es welche, die der breiteren Rechtsphilosophie des amerikanischen Rechtsdenkens näher stehen und andere, die die altmodische engere Auslegung der Richterfunktion eines englischen Richters, zumindest wie sie von Fitzmaurice und Spender verstanden wird, vertreten. Die "breitere" Fassung der Richterfunktion bringt manche amerikanischen Richter näher zu anderen IGH-Richtern aus neuen Ländern; die engere Fassung der englischen Richter ähnelt eher der Meinung von manchen Richtern aus Rechtskreisen mit kodifizierten Systemen. Und tatsächlich genau dieses geschah im Süd-West-Afrika-Fall 1966, zu dem Fitzmaurice mit der "konservativen" Mehrheit, Jessup mit der "progressiven" Minderheit die Stimme abgegeben haben. Man mag auch zweifeln, ob der Gerichtshof wirklich die wichtigsten Formen der Zivilisation und die grundlegendsten Rechtssysteme der Welt vertritt (Statut, Art. 9). Der ganze ostasiatische Rechtskreis ist nur

3. Zusammensetzung und Subgruppenentwicklung im IGH

71

durch einen Richter vertreten (Bengzon), obwohl es früher zwei Richter aus diesem Gebiet (Wellington Koo - China; Tanaka - Japan) gegeben hat, die beide einen großen Beitrag zu der Arbeit des Gerichtshofs geleistet haben. Noch mehr: ein ganz wichtiges Rechtssystem ist gar nicht vertreten. Aus historischen Gründen hat die deutsche Rechtswissenschaft an der internationalen Rechtsprechung wenig teilgenommen. Schücking und Rabel waren ad hoc Richter für Deutschland im Ständigen Internationalen Gerichtshof - Schücking später ein ständiges Mitglied. Bruns war dreimal als ad hoc Richter für Danzig tätig. Es ist bedauerlich, daß seit dem Zweiten Weltkrieg nur ein Richter, der Japaner Tanaka, die deutsche Rechtswissenschaft vertreten hat. Richter aus anderen Ländern der deutschen Sprache hätten Zugang zur deutschen Lehre (Österreich, die Schweiz), und andere Rechtssysteme sind vom deutschen Recht stark beeinflußt worden (z. B. die Türkei, Korea, Griechenland). Aber diese Länder haben auch keinen Richter auf der internationalen Richterbank. Eine Ausnahme war der Grieche Spiropoulos, aber in seinen seltenen Äußerungen erwähnte er, im Gegensatz zu Tanaka, die deutsche Wissenschaft nie. Obwohl Mosler ad hoc Richter für Deutschland im Festlandsockel-Fall war, hat er kein Sondervotum abgegeben - man kann deshalb seinen Beitrag zur Arbeit des Gerichtshofs in diesem Fall nicht bemessen. 3.2. Subgruppen

In einer so großen Gruppe ist zu erwarten, daß sich Subgruppen entwickeln43 • Ist es möglich, sie zu identifizieren? Von einer Subgruppe kann nur gesprochen werden, wenn der Zusammenhalt der Mitglieder über mehrere Fälle dauert. Dabei scheinen die Rechtssysteme nicht die Orientierungspunkte der Subgruppen zu sein. In fast jedem Fall, wo es einen wesentlichen Meinungsunterschied gab, standen z. B. Common Law-Richter und Richter aus kodifizierten Rechtssystemen auf beiden Seiten. Gewisse Subgruppen sind zu entdecken. Manche IGH-Richter erkannten als Merkmal ihre Bildung an: einer sagte, man wüßte manchmal schon vom Lesen der Dokumente, was für eine Meinung bestimmte Kollegen vertreten würden. Ein anderer sagte, er kenne keine Subgruppen: in fast jedem Fall ergäbe sich eine andere Verteilung. (Er selbst konnte durch die folgende Analyse unter keiner Subgruppe eingeordnet werden.) Spender - Wellington Koo: Diese beiden Richter waren zur gleichen Zeit und gleich lang tätig (1958 - 1967). Mit Ausnahme des IMCO-Sicherheitsrat-Falls, in dem das 43

Auf Fragen der Blockanalyse vgl. Eikenberg, 372 - 376.

72

II. Kap.: Funktions- und Gruppentheorie

Votummuster nicht erkennbar ist, waren sie in nur 3 Fällen verschiedener Meinung - alles Fälle mit einer starken "anti-kolonialistischen" Tendenz: die zwei Süd-West-Afrika-Fälle und der Zugangsrecht-Fall. Sie haben gemeinsam mit Lauterpacht eine eindrucksvolle dissenting opinion im Flugzeug-Fall 1959 geäußert.

Spender - Wellington Koo - Fitzmaurice: Im Jahre 1961 nahm Fitzmaurice den Sitz von Lauterpacht ein und in den 7 Fällen, an denen er und Spender teilnahmen, gaben sie gegenteilige Voten nur in einem Fall ab (Tempel-Fall). In dieser Entscheidung stimmten Spender und Koo gleichlautend ab. Spender und Fitzmaurice schrieben (gemeinsam) eine sehr wichtige dissenting opinion im Süd-West-Afrika-Fall1962.

Jessup - Fitzmaurice: Jessup stimmte, wie Spender und Fitzmaurice, mit der Mehrheit im UNO-Ausgaben-Gutachten 1962 und im Nord-Kamerun-Fall 1963. Inzwischen kam der Süd-West-Afrika-Fall 1962, in dem Jessup mit der Mehrheit stimmte; Fitzmaurice und Spender stimmten dagegen. Im Süd-West-Afrika-Fall 1966 traten klar Spannungen zwischen Spender und Jessup hervor (über die Frage, ob ein Minderheitsrichter weitere Themen als die Mehrheit behandeln könne). Aber das innere Verhältnis in dem Kollegium besserte sich, nachdem Spender das IGH-Richterkollegium verlassen hatte, denn nicht nur im Festlandsockel-Fall 1969 stimmten Fitzmaurice und Jessup zusammen, sondern auch in ihren individuellen Meinungsäußerungen im Barcelona-Fall 1970 erwähnte jeder die Meinung des anderen. Fitzmaurice - Gros: Petren - Onyeama: Ein stabiles Arbeitsverhältnis scheint sich zwischen Gros und Fitzmaurice entwickelt zu haben. Sie haben an sieben Fällen gemeinsam teilgenommen. Im ersten Fall (Barcelona (Aufschiebende Einreden)Fall 1964) ist das gen aue Abstimmungsergebnis nicht erkennbar, aber in den sechs folgenden Fällen haben sie jedesmal die Stimme für dieselbe Meinung abgegeben: mit der Mehrheit im Süd-West-Afrika-Fall 1966, Festlandsockel-Fall 1969 und leAO-Rat-Fall 1972; auch im Barcelona-Fall 1970, wo jeder eine separate opinion abgab, bei der die separate opinion des anderen erwähnt wurde; im Namibia-Gutachten, wo sie die einzigen Richter waren, die dissenting opinions äußerten.

Petren und Onyeama, deren erster Fall der Festlandsockel-Fall 1969 war, haben mit Gros und Fitzmaurice gestimmt, aber scheinen noch näher zueinander zu stehen als zu diesen zwei anderen Richtern: sie haben eine gemeinsame Erklärung im Barcelona-Fall abgegeben. Im

3. Zusammensetzung und Subgruppenentwicklung im IGH

73

Namibia-Gutachten haben sie ihre Zweifel in separate opinions ausgedrückt, die aber nicht soweit wie die dissenting opinions von Gros und Fitzmaurice gingen. In diesem Fall bestätigen die Voten über die präliminären Fragen auch diese Analyse: Fitzmaurice, Gros und Petren stimmten für die Befangenheit Morozovs; mit Onyeama und Dillard auch für den Antrag Süd-Afrikas auf einen ad hoc Richter. Diese fünf Richter stimmten nochmal in demselben Sinne im ICAO-Rat-Fall 1972. Padilla Nervo - Ammoun - Forster: Es scheint kein Fall zu geben, in dem diese Richter nicht zusammen ihre Stimmen für die gleiche Entscheidung abgegeben haben. Padilla Nervo und Ammoun äußerten im Festlandsockel-Fall, Barcelona-Fall und Namibia-Gutachten starke "anti-kolonialistische" Sondervoten. Im einzigen Fall, zu dem Forster sich geäußert hat (Süd-West-Ajrika-Fall 1966) ging seine dissenting opinion auch sehr stark in diese Richtung.

Koretsky - Lachs; Lachs - Morozov: Diese Richter haben fast immer dieselbe Meinung vertreten. Das ist nicht selbstverständlich: der frühere polnische Richter Winiarski hatte vielmals anders gestimmt als der sowjetische Richter - am bedeutendsten in beiden Süd- W est-Ajrika-Fällen. Während die sowjetischen Richter aber sehr zurückhaltend sind (Koretsky gab meistens nur bloße Feststellungen ab, Morozov hat bis jetzt ein einziges Sondervotum im ICAO-Rat-Fall 1972 geschrieben) ist Lachs ein Richter, der viel zu sagen weiß; in seinem ersten Fall z. B. (Festlandsockel-Fall) hat er eine sehr interessante dissenting opinion geschrieben. Im ICAO-Rat-Fall haben Lachs mit der Mehrheit und Morozov in unterschiedlichem Sinne gestimmt. Aus dieser sehr kurzen Analyse kann man schon einige Schlüsse ziehen. Subgruppen bilden sich nicht auf Grund der verschiedenen Rechtssysteme - es gibt keine Spur einer Gros - Ammoun - Forster-Achse. Die Common Law Erfahrung ist auch nicht sehr bedeutsam. Höchstens könnte man, seit Lachs dem richterlichen Kollegium beitrat, eine "sozialistische" Subgruppe sehen. Weil ihre Voten, soweit sie überhaupt begründet sind, nichts über sozialistisches Recht sagen, kann bemerkt werden, daß hier andere Fakten wahrscheinlich im Spiel sind. Rechtsphilosophie (Fitzmaurice - Spender - Gros; Onyeama - Petren) und nationale Erfahrung - "anti-kolonialistisch" (Forster - AmmounPadilla Nervo) oder "sozialistisch" (Koretsky - Lachs, Lachs - Morozov) - scheinen wichtiger zu sein. Persönliche Bekanntschaften und Freundschaft sind sehr bedeutsam. Mindestens drei der IGH-Richter haben dieses Element in der Entwick-

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II. Kap.: Funktions- und Gruppentheorie

lung der Subgruppen erwähnt, obwohl einer hinzufügte, daß sehr starke Meinungsunterschiede über juristische Fragen zwischen guten Freunden vorkommen können (Fitzmaurice - Jessup im Süd-WestAfrika-Fall 1966?). Die Bedeutung persönlicher Freundschaften scheint das Verhältnis Fitzmaurice - Gros zu bestätigen. Diese bei den waren gleichzeitig Rechtsberater ihrer Regierungen, haben sich sehr oft in internationalen Kongressen getroffen und kennen sich seit mehr als 30 Jahren. Ähnliche Berufserfahrungen scheinen eine Grundlage für Subgruppenentwicklung zu sein, z. B. Rechtsberater (Fitzmaurice - Gros), Berufsrichter (Onyeama - Petren), Politiker (Padilla Nervo - AmmounForster)44. Vielleicht die interessanteste Tatsache ist, daß solche Subgruppen dazu neigen, sich um eine starke Persönlichkeit zu gruppieren - z. B. um Spender und Fitzmaurice. Man muß aber dazu bemerken, daß manche großen Richter nicht in eine Subgruppe eingeteilt werden können, wie z. B. Lauterpacht und Tanaka: ihre Voten lassen keine Klassifizierung zu. Die Bedeutung solcher Subgruppen ist nicht zu unterschätzen. Schubert ist der Ansicht, daß das Studium der Subgruppen am US Supreme Court eher ein Schlüssel zum Verständnis der Meinungen und Ideologien des Gerichtshofes sei als es ein Studium der Richter oder des Gerichtshofs als Ganzes darstelle 45 • Diese Bedeutung darf aber nicht überschätzt werden. Der Wechsel der Mitglieder am Internationalen Gerichtshof löst stets die Subgruppen auf. Die Subgruppen in einer so großen Gruppe (15 gegenüber 9 am US Supreme Court) ergeben auch viel mehr Möglichkeiten in der Zusammensetzung. 4. Zusammenarbeit des IGH-Richterkollegiums Bei der Einschätzung der Zusammenarbeit desIGH-Richterkollegiums denkt man natürlich an Fälle wie den Süd-West-Afrika-Fall 1966, in dem zehn verschiedene Meinungen veröffentlicht wurden, und die Gruppenmoral so niedrig war, daß sogar Richter, die normalerweise keine Sondervoten schreiben, z. B. Koretsky und Forster, es für nötig fanden, ihre Meinungen niederzuschreiben und sich von der Mehrheitsentscheidung zu distanzieren. Dieser Fall war ein gutes Beispiel für mangelnde Zusammenarbeit. In anderen Entscheidungen (Süd- W estAfrika-Fall 1962, 8 gegen 7; am Ständigen Internationalen Gerichtshof im Zoll-Union-Fall, 8 gegen 7) konnten sich einige der Minderheitsrichter auf eine gemeinsame dissenting opinion einigen. Nur im Lotus-Fall 44 45

ICJ Yearbook 1971 - 1972, 21 - 23, 25, 27. Schubert, Mind, 277.

4. Zusammenarbeit des IGH-Richterkollegiums

75

(7 gegen 7) gab es einen ähnlichen Fall mit fünf dissenting opinions und einer Erklärung zusätzlich' zu der Mehrheitsbegründung. Sogar in diesem Fall aber war die Kritik der Minderheitsrichter nicht so verbittert wie 1966. Auf der anderen Seite aber soll man nicht die Fälle außer acht lassen, in denen der Gerichtshof fast einstimmig entschied, z. B. den Schiedsspruch-Fall, in dem nur der ad hoc Richter Holquin gegen die Mehrheit stimmte und eine dissenting opinion abgab, und es nur eine einzige separate opinion gab (Spender). Der Tempel (Aufschiebende Einwände)-Fall 1961 wurde ebenfalls einstimmig entschieden; drei Erklärungen wurden abgegeben (Alfaro, Wellington Koo und eine gemeinsam von Fitzmaurice und Tanaka) und eine separate opinion (Spender). Die Entscheidung war auch einstimmig im Barcelona-Fall mit Ausnahme des ad hoc Richters Riphagen; zwei Erklärungen (Lachs und die gemeinsame von Petren und Onyeama) wurden abgegeben und sieben separate opinions - diese zeigten zum größten Teil keine grundlegenden Abweichungen von der Mehrheitsbegründung, sondern behandelten weitere Punkte und gehen ungefähr in dieselbe Richtung (Fitzmaurice - Jessup - Gros; Padilla Nervo - Ammoun). Dieser Fall, das folgende Namibia-Gutachten, in dem 13 gegen 2 Stimmen auf die eine Frage, 11 gegen 4 auf die andere entfielen, und der ICAO-Rat-Fall 1972 (13 gegen 3 auf die eine Frage; 14 gegen 2 auf die andere) zeigen, daß der Gerichtshof nach der Zersplitterung des Süd-West-Afrika-Falls 1966 die Kraft zur Erneuerung seiner Gruppenmoral fand. 4.1. Bildung der Meinung

Bei der Bildung seiner Meinung ist der IGH-Richter nicht zu enger Zusammenarbeit mit seinen Kollegen zu bringen. Die schriftlichen Plädoyers werden den Richtern zugeleitet. Sie sind in den meisten Fällen lang und legen verschiedene Argumente dar. Es könnte deshalb sein, daß die Richter ihre ersten Eindrücke über den Fall und die ersten Gedanken allein in ihren Arbeitszimmern konzipieren, während der Wochen, die nötig sind, um die vielen Dokumentationen zu lesen. Das kann gefährliche Auswirkungen für die weitere Zusammenarbeit haben, da die ersten formlosen Teilergebnisse nun Gelegenheit haben, sich herauszukristallisieren, bevor der Richter die Meinungen der anderen kennt und abgewogen hat. Einen Gegensatz dazu bilden etwa die englischen Gerichte, in denen die Plädoyers alle mündlich sind. Da sitzen die Richter im Kollegium und erfahren zusammen die Argumente der Parteien. Sie nehmen bewußt teil an der Entwicklung der Meinungen jedes einzelnen Mitgliedes und werden so auf Punkte aufmerksam gemacht, die sie sonst vielleicht übersehen hätten.

76

11.

Kap.: Funktions- und Gruppentheorie

Eine Einrichtung vermindert die oben erwähnte nachteilige Auswirkung beim Internationalen Gerichtshof. Bevor das mündliche Verfahren beginnt, treffen sich die Richter in Den Haag. Dort fangen sie an, den Fall durchzugehen, zu überlegen, ob alle Punkte im Schrifttum klar sind, oder ob etwa der Gerichtshof von den Parteien nähere Aufklärung erbitten soll, oder ob Fragen zu einem bestimmten Punkt zu stellen sind. Bei dieser Beratung stellen die Richter fest, in welche Richtung die Meinung ihrer Kollegen tendiert. Das kann ihre eigenen Gedankengänge beeinflussen. Weiter erkennen sie, mit welchen Richtern sie sich in Verbindung setzen müssen, um deren Argumente besser zu verstehen und um die Argumente beider Seiten einander näher zu bringen. Ein Richter des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sprach noch von einem anderen Vorteil. Es käme vor, sagte er, besonders in größeren Richterkollegien, daß manche Richter die Dokumente nicht sorgfältig gelesen hätten. (Diese Ansicht stimmt mit der Bemerkung eines früheren Mitglieds des Internationalen Gerichtshofs überein, daß ein geschriebenes Verfahren anstatt eines mündlichen sehr mühsam ist.) Dieses allgemeine Gespräch führt zu einer sorgfältigen Vorbereitung des mündlichen Verfahrens. Man muß sich dabei ins Gedächtnis rufen, daß die Straßburger Richter andere Positionen gleichzeitig bekleiden und deshalb weniger Zeit zur Vorbereitung haben. In der Zeit vor dem mündlichen Verfahren können informelle soziale Treffen zwischen den Richtern die Vorbereitung der Verhandlung vertiefen. 4.2. Entscheidung

In vielen Bestimmungen der Gerichtsordnung steht einfach "The Court will decide ... ". Hier folgt das Gericht der alten Methode der Mehrheitsabstimmungen (Statut, Art. 55 (1». Die Verantwortung liegt bei dem Gerichtshof als Ganzem und nicht allein beim Präsidenten, es sei denn, außerhalb der Sitzungsperiode. Dies bedeutet, daß jeder Richter in jede Phase der Entscheidung einbezogen wird. Die Mehrheitsentscheidung ist ein alter vertrauter Mechanismus, eine Meinungsverschiedenheit zu beseitigen, wenn man sie real nicht lösen kann. Weniger effektiv ist ein anderer Mechanismus, der vom Internationalen Gerichtshof benutzt wird: die "entscheidende Stimme" des Präsidenten im Falle von Stimmengleichheit (Statut, Art. 55 (2». Eine solche Entscheidung wird weniger als eine Entscheidung "des Gerichtshofs" angesehen und stellt deshalb eine schwere Belastung für den Präsidenten dar. Diese Möglichkeit der Konfliktlösung wurde im Lotus-Fall 1927 und im Süd-West-Afrika-Fall 1966 angewandt: beide

4. Zusammenarbeit des IGH-Richterkollegiums

77

Entscheidungen wurden scharf kritisiert und die beiden Präsidenten wurden kritisch beurteilt46 • Man muß zugeben, daß ein solcher künstlicher Mechanismus, wenn er bei entscheidenden Fällen angewandt wird, kaum befriedigend ist. 4.3. Redigierung der Mehrheitsbegründung

Eine Zusammenarbeit im Richterkollegium ist am nötigsten bei der Redigierung der Mehrheitsentscheidung. Ein Blick in die Gerichtsordnung und Gespräche mit den Richtern decken den Verlauf dieser Arbeit auf47 • Der Fall wird nach Ablauf der mündlichen Verhandlungen in der Beratungskammer besprochen und alle wesentlichen Fragen werden erwähnt. Ein Redigierungsausschuß wird ernannt, der den ersten Entwurf der Begründung schreibt. Dieser Entwurf wird allen Richtern zugestellt. Hierüber findet eine zwang- und formlose Aussprache statt. Danach werden zusätzliche Bemerkungen oder Änderungen vorgeschlagen. Manchmal treten ganz erhebliche Änderungen ein, bevor der gesamten Begründung zugestimmt wird. Eine gewisse Zwanglosigkeit ist sehr wichtig für die Anpassung der Meinungen in einer Gruppe. Früher hatte der Gerichtshof eine ziemlich formelle Beratungsmethode: jeder Richter mußte in der Beratungskammer seine Meinung über die Hauptthemen kundtun. Die Abgabe erfolgte gemäß dem Dienstalter, also der älteste zuerst48 • Das hatte zwei Konsequenzen: die jüngeren Richter konnten von den Meinungen erfahrener Richter beeinflußt werden, und die formelle Äußerung der Meinung hatte eine Verhärtung der Positionen zur Folge, was gleichzeitig die Aussichten auf einen Kompromiß verringerte. Die neue Gerichtsordnung dagegen hat zum Ziel, den Meinungsaustausch49 zwischen den einzelnen Richtern zu fördern. Nach den neuen Regeln findet eine Sitzung am Ende des Gerichtsverfahrens statt, bei der die Richter gefragt werden, welche Punkte sie als bedeutsam empfinden. Dies soll einen allgemeinen Meinungsaustausch fördern, der dem Richter Gelegenheit zum Nachdenken gibt. Danach gibt jeder Richter seine Meinung kurz zusammengefaßt ab. Ein Richter des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sagte, daß ihre Meinungsbildung in informellen Zusammenkünften stattfinde,

48

z. B. Hidayatullah, 84. Vgl. Hambro, Reasons, 220 - 222; Drafting, passim. Hambro, Drafting, 41.

49

Guyomar, 336 - 338.

48

47

11. Kap.: Funktions- und Gruppentheorie

78

daher viel lockerer als am Internationalen Gerichtshof vor sich gehe, und daß dies für das Verfahren vorteilhafter sei. Die Beratung zwischen der Beendigung der mündlichen Verhandlung und der Entscheidung wird von den Richtern selbst sehr geschätzt: "Es ist möglich und kommt vor, daß politische, religiöse oder andere überzeugungen das Urteil eines Richters beeinflussen, auch wenn er selbst dessen nicht bewußt ist; seinen Mitarbeitern wird freilich diese Tatsache so leicht nicht entgehen50 ." " - ... although I shall be expressing a judicial view ... on some points of fact, I do not wish to be understood (even though I may use the language of it) as making judicial pronouncements or findings upon them. These were matters which, although the Court considered them, it did not need for the particular purposes of the Judgment to go into fully. Had a more ample collegiate discussion taken place I might have been led to form a different opinion on some points, and therefore it is by way of analysis I now give my views 51 ." Im Interview sagte ein IGH-Richter, solche informellen Gespräche wären "von höchster Bedeutung". Ein anderer Richter sagte, er würde von einer bestimmten Entscheidung gequält und wüßte bis zum letzten Tag nicht, welcher Seite er seine Stimme geben solle. Das ist ein klarer Beweis, daß der Meinungsaustausch eine ganz wesentliche Rolle in der Arbeit des Gerichtshofs spielt. In dieser Kristallisierung der Meinungen ist die genaue Ausdrucksweise der entworfenen Begründung wesentlich. In Gesprächen mit IGH-Richtern kann man feststellen, daß ein gewisses "bargaining" über bestimmte Absätze stattfindet. Dies kann zu einer Veränderung der Meinung eines Richters führen. In ihrer gemeinsamen dissenting opinion im Flugzeug-Fall 1959 schrieben Lauterpacht, Wellington Koo und Spender, daß das Süd-West-AfrikaGutachten 1950 entschieden hat, daß das süd-west-afrikanische Mandat die Auflösung des Völkerbunds überdauert habe, und daß diese Entscheidung richtig gewesen sei. In zwei späteren gemeinsamen Meinungsäußerungen in den zwei Süd-West-Afrika-Fällen 1962 und 1966 hat Spender an diesen zwei Sätzen gezweifelt. Wahrscheinlich wurde die Meinung Spenders zumindest in einer von diesen Voten durch die Zusammenarbeit mit den anderen Richtern verändert, wenn nicht sogar in das Gegenteil verkehrt. Die Übereinstimmung wird dem einzelnen Richter dadurch erleichtert, daß er die Gelegenheit hat, ein Sondervotum zu schreiben. Wenn eine zu scharfe Formulierung eines Grundsatzes gestrichen werden muß, um die Stimme eines oder mehrerer Richter überhaupt zu erhalten, kann diese schärfere Formulierung doch noch in einer separate 50 51

van Eysinga, 214, von Reut-Nicolussi, 244 zitiert. Fitzmaurice, Barcelona-Fall, Sep. Op., 86.

4. Zusammenarbeit des IGH-Richterkollegiums

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opinion eines der Mehrheitsrichter Platz finden. Ammoun sagte in der Einführung seiner separate opinion im Namibia-Gutachten: " ... les motifs et l'enonce du dispositif ne me semblent pas suffisamment explicites et concluants quant a la definition juridique de la presence sudafricaine ... et aux obligations qui en decoulent pour les Etats 52 • "

und er ging auf beide dieser Gebiete weiter ein. Der Richter und VizePräsident Alfaro hat seine separate opinion im Tempel-Fall völlig auf die Auslegung der "Estoppel"-Doktrin abgestellt. Dieses Prinzip konnte auch aus der Begründung der Mehrheit gelesen werden, aber es kam dort nicht so klar zum Vorschein. Ein sehr erfahrenes Mitglied des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sagte, daß er sich mancher schwer erstrittenen Begründungen erinnern könnte, in denen bestimmte Ausdrücke mehrere Male umgearbeitet wurden. Jedoch stimmte er in allen Fällen für eine präzise Formulierung, wobei er lieber eine geringe Mehrheit in Kauf nahm, statt durch einen weiteren Begriff alle Meinungen der beteiligten Richter zu decken. Ein anderer Straßburger Richter stimmte mit ihm darin überein, daß es manchmal sehr große Unterschiede zwischen dem ersten Entwurf und der endgültigen Begründung gäbe. Wegen dieses "bargaining"-Prozesses, sagte er, kann die Begründung nicht immer präzis sein - sie muß aber auf jeden Fall "juristisch einwandfrei" sein. Man kann einen Vergleich mit dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in Luxemburg ziehen, dessen Verfahrensordnung Sondervoten nicht zuläßt. Ein Richter muß mit der Mehrheit stimmen, um nach Beendigung seiner Amtszeit sagen zu können, daß durch seine Mitarbeit dies oder jenes in die Rechtsprechung eingegangen ist. Mit nur sechs Richtern (bis 1972) dürfte dieses System kein wesentliches Hindernis darstellen, eine neutrale, anpassende Begründung zu finden; mit mehr Richtern könnte es schwierig werden. Bei fünfzehn Richtern, wie am Internationalen Gerichtshof, unter denen viele starke Persönlichkeiten und begabte Juristen sind, könnte diese Methode fast unmöglich werden. 4.4. Sondervoten

Schließlich kann der Grad der Zusammenarbeit im Gerichtshof aus den Begründungen, einschließlich Sondervoten, deutlich abgelesen werden. Ein in sich schlüssiges Ergebnis zeigt, daß sich die fünfzehn Richter zu einem Votum entschließen konnten, daß es also als das Werk einer geschlossenen Gruppe nach außen in Erscheinung tritt: die Argu52

Ammoun, Namibia-Gutachten, Sep. Op., 67.

11. Kap.: Funktions- und Gruppentheorie

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mente der Minderheitsrichter sind in der Mehrheitsbegründung beantwortet, die Stellungnahmen beider Seiten sind klar und das Für und Wider aller Probleme ist mit den besten aller juristischen Argumente abgewogen. Bei einem derartigen Arbeitsergebnis des Gerichtshofs braucht sich der Leser bei der Durcharbeitung der Entscheidungen nicht zu fragen, warum etwa dieses oder jenes Argument der Minderheitsrichter nicht beachtet wurde, weil alle Fragen beantwortet werden. Bei mangelnder Zusammenarbeit dagegen bestehen oft solche Lücken (vgl. Kapitel V, § 4.2.5). Ob man ein Sondervotum schreibt oder nicht, hängt auch von den taktischen Absichten eines Richters ab. Es kann sein, daß die Tendenzen und Konsequenzen einer Entscheidung nicht so klar aus der Begründung wie aus der abweichenden Meinung abzulesen sind. Es kann deshalb besser sein zu schweigen, als alle die Folgen der neuen Doktrin klar aufzuzeigen 53 • Das Namibia-Gutachten ist hierfür ein Beispiel. Die dissenting opinions drücken klar die Sorge aus, daß die Gültigkeit der UNO-Resolution, deren Konsequenzen der Gerichtshof auslegen sollte, in Frage stünde. Wenn dies nicht aus den Sondervoten abzulesen wäre, hätten spätere Kommentatoren und der Gerichtshof versucht sein können, die Mehrheitsentscheidung so auszulegen, als ob dieses Problem vom Gericht nicht erkannt und behandelt worden wäre. Jetzt dagegen kann man meinen, daß der Gerichtshof entschieden hat, die Prüfung der Gültigkeit eines juristischen Aktes sei nicht unbedingt vor der Erörterung der Konsequenzen dieses Aktes zu untersuchen. Fragen über die Taktik derjenigen, die Sondervoten abgeben, wurden von Spender in seiner Erklärung im Süd-West-Afrika-Fall 1966 behandelt: "However I might agree or disagree with the views expressed by any individual in aseparate opinion in relation to the complex of questions both of law and fact centering around Articles 2 and 6 of the Mandate and certain other articles thereof, I would not, in my considered view, be entitled to express any opinion thereon. Were I to do so I would be expressing purely personal and extra-judicial views contrary to what I think is the object and purpose of Article 57 of the Statute, and contrary, in my view, to the best interests of the Court54 ." Diese Vermutung wird in etwa durch die Bemerkung eines Richters am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bestätigt, der sagte, daß er das Recht auf Sondervoten nie ausgenützt habe, weil er bis jetzt immer erreicht habe, daß die Punkte, die er für wesentlich hielt, in die Begründung aufgenommen worden sind.

53 54

Bickel, 29 - 30. Spender, Süd-West-Afrika-FaH

1966, Erklärung, 57.

5. Integrierung des IGH-Richterkollegiums

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Die Verteilung der Entwürfe der dissenting opinions kann manchmal einen bedeutsamen Einfluß auf die Mehrheitsrichter gewinnen. Bickel zeigt, wie das Studium eines Entwurfs von Brandeis in manchen Fällen, bevor der Mehrheitsentwurf fertig war, andere Stimmen für die Brandeis-Meinung gewonnen hat, und so eine veränderte Begründung der Mehrheit verursacht hat 55 • Daß ähnliche Ergebnisse im Internationalen Gerichtshof zu erwarten sind, ist aus der Fallsammlung abzulesen. Im Süd-West-Afrika-Fall 1966 z. B. haben die Richter der Mehrheitsentscheidung alle Vorwürfe der Minderheitsrichter mit Sorgfalt beantwortet. 5. Integrierung des IGH-Richterkollegiums

Aus so verschiedenen Bestandteilen ist das IGH-Richterkollegium gebildet, daß das funktionale Problem der Integration ein Hauptproblem ist. Integration bedeutet die Verbesserung der Verhältnisse der Mitglieder eines Systems zueinander und die Schaffung und Erhaltung einer gewissen Solidarität und eines Zusammenhalts der Mitglieder, damit das System funktionieren kann56 • 5.1. Brennpunkte der Integrierung

5.1.1. Esprit de Corps Der Grad von Esprit de Corps ist entscheidend für den Integrationserfolg. Verschiedene Tatsachen beeinflussen diesen Grad. 5.1.1.1. Ein sehr wichtiges Element ist das Prestige des Gerichtshofs. Dies ist von der Aktion der Außenstehenden abhängig.

Prestige der einzelnen Mitglieder: Der Ruf solcher Richter wie Anzilotti und Huber hatte dem Ständigen Internationalen Gerichtshof einen besonderen Glanz verliehen. Von den neueren Richtern könnte man vergleichsweise Gros, Fitzmaurice und Lachs nennen. Der neugewählte Sir Humphrey Waldock ist z. B. ein berühmter Völkerrechtler. Lauterpacht hatte sein schon bestehendes Prestige auf den Internationalen Gerichtshof übertragen. Es gibt aber auch Mitglieder des Internationalen Gerichtshofs, die überhaupt keinen Ruf als Völkerrechtler genossen haben und deren Wahl das Prestige des Gerichtshofs eher gemindert hat. Rosenne behauptet, der Wert der Aussagen des Gerichtshofs und das Gewicht seiner Autorität ständen in unmittelbarem Verhältnis zu den anerkann55 56

Bickel, 31 ff., 66 ff. Nach Devereux, 57.

6 Prott

82

11. Kap.: Funktions- und Gruppentheorie

ten und berühmten Richtern, die die Mehrheit im Kollegium bilden sollten67 • Autorität des Gerichtshofs: Das Prestige des Gerichtshofs hängt auch davon ab, wieviel Autorität er gegenüber anderen Einheiten des internationalen Gesellschaftssystems besitzt. Das BundesverfassungsgerichtS8, das House of Lords und der High Court of Australia haben sicherlich sehr viel Ansehen auf Grund ihrer Befugnis, ein Gesetz für ungültig zu erklären, d. h. die Wünsche eines anderen Machthabers des Systems unterdrücken zu können. Macht gibt Ansehen. In Bezug darauf ist der Internationale Gerichtshof ziemlich schlecht daran. Seine Geschichte ist voller Beispiele der Mißachtung seiner Urteile und Gutachten durch die verschiedenen Nationen, z. B. UNO-Ausgaben-Gutachten (Frankreich und Rußland), Korfu-Fall (Albanien) und die Süd-West-Afrika- und NamibiaGutachten (Süd-Afrika). Alter und Tradition: Mit der Zeit erwirbt eine Institution Prestige auf Grund ihrer geschichtlichen Entwicklung, wozu auch das Ansehen der früheren Mitglieder und die berühmten Fälle, die in die allgemeine kulturelle Tradition eingegangen sind, beitragen. Während seiner fünfzigjährigen Geschichte hat der Internationale Gerichtshof Ansehen erworben, z. B. durch die Erinnerung an große Juristen wie Finlay, Anzilotti und Huber, durch die sorgfältige und faire Arbeit über die Minderheitsverträge, den Beitrag zu den Auswirkungen des Nachkriegsidealismus, der, wie mangelhaft er auch in der Praxis sein mag, der menschlichen Geschichte doch wertvolle neue Orientierungen gebracht hat. Die Geschichte des Gerichtshofs weist aber auch Richter auf, die nicht so begabte Juristen waren und zweifelhafte Fälle wie etwa den Zollunion-Fall und den Lotus-Fall. Der Ständige Internationale Gerichtshof hat auch unter der allgemeinen Enttäuschung gelitten, daß er den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nicht verhindern konnte. Eine gewisse Skepsis bleibt beim Internationalen Gerichtshof und seine kurze Geschichte hat erfolgreiche (Korfu-Fall, Schadensersatz-Fall, Festlandsockel-Fall) und weniger erfolgreiche Beispiele (Tempel-Fall, SüdWest-Afrika-Fall1966) vorzuzeigen. Die Traditionen bestimmter Organisationen in einem Gesellschaftssystem werden auf verschiedene Weise betont. Eine Möglichkeit ist etwa das Feiern eines Jahrestags, wie z. B. des Tages der Erstürmung der Bastille, des Unabhängigkeitstags usw. Denn ein nationaler Feiertag 57

58

Rosenne, International Court, 167. Oppermann, Verfassungsrecht, 450.

5. Integrierung des IGH-Richterkollegiums

83

ist sehr oft ein Gedenktag irgendeines geschichtlichen Ereignisses, das sehr wichtig für die Kultur der Gesellschaft war. Der Internationale Gerichtshof hat am 27. April 1972 seinen fünfzigsten Jahrestag gefeiert. Der Präsident hat in seiner Rede s9 die Geschichte des Ständigen Internationalen Gerichtshofs und seines Nachfolgers geschildert; er hat die Werte genannt, für die sie gekämpft hatten ("Gerechtigkeit und Menschenwürde") und die wesentliche Funktion, die der Gerichtshof leistet, wurde betont. Auf die Gefahr einer Mißachtung seiner Rolle wurde hingewiesen. Das klingt alles sehr schön, aber Sir Muhammad Zajrullah Khan hat es auch für nötig befunden, auf ungerechtfertigte Kritik am Gerichtshof zu antworten, einen Rückgang der Fälle anzumerken und Mißverständnisse über den Gerichtshof aufzuklären. Die nicht gefestigte Tradition des Internationalen Gerichtshofs könnte nicht klarer zum Ausdruck gebracht werden, als in der Namensgebung des Tages als "Fünfzigster Feiertag der Internationalen Gerichtsbarkeit". Diese ungenaue Kompromißformel hat eine unmittelbare Identifizierung mit dem Ständigen und dem heutigen Gerichtshof vermieden: etwas, worüber die Richter unter sich nicht übereinstimmen konnten!

Rollenleistung: Die Beurteilung, ob ein Gerichtshof in seiner Rolle effizient war, hängt wesentlich von der Überzeugungskraft seiner Begründungen ab. Wenn eine Begründung so heftig kritisiert wird wie die Begründung im Lotus-Fall und im Süd-West-Ajrika-Fall 1966, wird das Prestige des Gerichtshofs angeschlagen.

Die Haltung anderer Machthaber: Die anderen Machthaber im Internationalen Gesellschaftssystem sind die Staaten und, zum kleineren Teil, die internationalen Organisationen60 • Die Staaten Westeuropas haben den Internationalen Gerichtshof geschaffen. Besonders England und Frankreich haben in der Geschichte des Internationalen Gerichtshofs eine bedeutende Rolle gespielt. Die Herrschaft des Rechts ist ein wichtiges Element ihrer nationalen Ideologien. Sie haben immer einen Richter im Richterkollegium gehabt und an vielen Fällen teilgenommen. Deutschland hat nur eine kleinere Rolle gespielt. Am Anfang war der Gerichtshof zu eng an die ungeliebten Friedensverträge gebunden, die der Gerichtshof in vielen ICJ Yearbook 1971 - 1972, 128. Es gibt hier keinen Platz für eine Untersuchung der Gründe für die gegenwärtige Zurückhaltung. Vgl. Rosenne, International Court, 102 ff.; S0rensen, 272 - 275; Friedmann, Evolution, 312; Castaneda, 38 - 42; Stone, Crisis, 34 - 42; Dalten, 220 ff.; Sinha, passim; Francois, 73 - 74; Dupuy, 2940; Queneudec, passim. Vgl. auch Kapitel V, § 1.2. 59

60

11. Kap.: Funktions- und Gruppentheorie

84

Fällen Deutschland gegenüber anzuwenden hatte. Viele Entscheidungen haben Deutschland Recht gegeben (besonders in den polnisch-deutschen Minderheitsfragen). Der Wimbledon-Fall und der Zollunion-Fall jedoch verursachten die Fortdauer einer gewissen Zurückhaltung61 • Das heutige Gericht hat den Respekt aller westlichen Staaten; ohne die Fälle, die sie vor den Gerichtshof gebracht haben, wäre die Gesamtzahl viel geringer gewesen. Nur in einem Fall hat ein Staat dieser Gruppe die Durchführung einer Entscheidung verhindert (Frankreich nach dem UNO-Ausgaben-Gutachten)62.

Die Vereinigten Staaten haben sich gegenüber dem Gerichtshof reserviert verhalten. Sie haben seine Kompetenz bis 1945 nicht anerkannt und haben mit der "Connally reservation" die Akzeptierung dieser Kompetenz fast bedeutungslos gemacht. Neue Bestrebungen des Präsidenten, die Stellung des Gerichtshofs im internationalen System zu verbessern63 , sind ohne Folgen geblieben. Die UdSSR hat sich nur 1945 für den Gerichtshof interessiert. Sie hat nie die Fakultativklausel angenommen und hat an keinem Fall teilgenommen. Auch sie hat das UNO-Ausgaben-Gutachten nicht ausgeführt. Die anderen kommunistischen Länder sind gleichermaßen zurückhaltend und Albanien hat das Urteil im Korfu-Fall nicht anerkannt. Lehrbücher in kommunistischen Ländern beklagen sich über den Mißbrauch der Gerichtsprozesse 64 • ". .. the Communist theory is still that the Court essentially reflects a bourgeois and capitalist system of international law - an attitude developed in the early 20's before the U. S. S. R. joined the Court, but little modified since, despite its participation ...65." Zile beschuldigt sowjetische Theoretiker dieser Praxis: "It is ... from the Soviet side that calculated blows have been delivered against the prestige of the International Court of Justice and against the integrity of its personne1 66."

Die Untersuchungen von Hungdah Chiu und Hsiung lassen vermuten, daß die chinesischen Kommunisten wahrscheinlich noch weniger Achtung dem Gerichtshof erweisen werden67 • Die süd-amerikanischen Länder haben lange ein Interesse am Gerichtshof gehabt und Richter aus diesem Gebiet sind in jedem Richter61

62 63

64 65

IGH, 20. Jetzt aber auch nach dem Atom-Test-FalL 1973. Proceedings ASIL, Bd. 64 (1970), 287 ff. Lewin und Kaljushnaja, 390. Friedmann, Evolution, 313. Wehberg,

66

Zile, 386.

61

Hungdah Chiu,

266 - 267; Hsiung, 78, 310.

5. Integrierung des IGH-Richterkollegiums

85

kollegium gewesen. Die Staaten haben jedoch nur an wenigen Fällen teilgenommen - der Asyl-Fall und der Schiedsspruch-Fall sind Ausnahmen. Die afro-asiatischen Länder haben als Parteien an einem Verfahren vor dem Gerichtshof kaum teilgenommen. Der Tempel-Fall und der ICAO-Rat-Fall 1972 sind die einzigen Fälle zwischen neu entstandenen Staaten. Die Äußerungen der Vertreter dieser Staaten nach dem Zugangsrecht-Fall und dem Süd-West-Afrika-Fall 1966 zeigten sehr wenig Respekt vor dem Gerichtshof. Zusammenfassend kann man sagen, daß nur von sehr wenigen Staaten dem Gerichtshof Ansehen entgegengebracht wird. Diese Geringschätzung wirkt sich nachteilig auf das Prestige des Gerichtshofs aus. Dennoch hat der Gerichtshof, trotz der Haltung der Nationen und trotz des Mangels an Autorität, durch seine Richter, Tradition und eigene Arbeit viel Ansehen gewonnen. Er kann dies weiter fördern durch eigene Aktivitäten: man kann die Öffentlichkeit an die Existenz und die Aufgaben des Internationalen Gerichtshofs erinnern und mehr Unterstützung bei ihr suchen68 • Die Gründung des "Committee on Relations" im Jahre 1967, die zum Ziel hat, eine bessere Verbreitung der Berichte über die Arbeit des Gerichtshofs zu erreichen, und die Veröffentlichung der "Bulletin of the International Court of Justice" zum zweiten Mal 1969 gehen in dieser Richtung 69 • 5.1.1.2. Nicht nur Prestige, d. h. das äußere Ansehen, ist der Moral dienlich, sondern auch der eigene Gruppengeist ("esprit de corps"). Die persönliche Motivation der Richter, ob einer die Stelle als eine Ehrenstelle ernsthaft übernommen oder ob seine Landeselite ihn dazu überredet hat, eine angenehme Stelle außerhalb des nationalen politischen Lebens zu finden, sind von entscheidender Bedeutung. Teilt der Richter vielleicht die geringschätzige Meinung seiner Landeselite über den Gerichtshof, ist er weniger bereit, seine volle Arbeitskraft dem Gerichtshof zu widmen und sich in das Team einzufügen.

Manche Richter zeigen in ihren Äußerungen den "esprit de corps": "It is not out of disrespect for the Court, but out of respect for one of its great and important traditions, that, when necessary, I express my disagreement with its conclusions. It is the first time since I have been a member of the Court that I have found it necessary to dissent70 ."

88 80

70

H. Johnson, 310. ICJ Yearbook 1971 - 1972, 99, 104. Jessup, Süd- West-Afrika-Fall 1966, Diss. Op., 326.

Ir. Kap.: Funktions- und Gruppentheorie

86

Ein anderer Richter verteidigt das Gericht vor kritischen Angriffen: "Nor is this by any means the only way in which the Court has been misrepresented in a manner detriment al to the dignity and good order of its functioning as an independent judicial institution71 ." Die Mitglieder einer Gruppe haben dann eine hohe Moral, wenn sie sich als Gruppe und nicht mehr nur als mehrere Einzelne ansehen, so wie es etwa Jessup ausdrückt: "In my view, whenever the Court renders judgment in accordance with its statute, the judgment is the judgment of the Court and not merely a bundle of opinions .of individual judges. This is equally true, when in accordance with Artic1e 55 of the Statute, the judgment results from the casting vote of the President. I do not consider it justifiable or proper to disparage opinions or judgments of the Court by stressing the size of the majority72." Andererseits ist ein Optimum nicht zu erreichen, wenn die Richter vom Inhalt ihrer Rolle nicht überzeugt sind. Eine gute Moral ist nicht möglich, wenn die Ziele schlecht definiert sind, sich widersprechen oder wenn sie nicht erreichbar scheinen73 •

5.1.2. Juristische Kultur Eine gemeinsame Kultur ist ein wichtiger Integrationsfaktor. Die Richter sind alle Juristen, sie sollen alle, wie Llewellyn sagt74, durch "eine juristische Brille" sehen. Es wurde in Kapitel I behauptet, daß manche Erwartungen, die an die Richter in westlichen nationalen Rechtssystemen gestellt werden, verallgemeinert auch an die IGHRichter gestellt werden. Ob dies genügt, eine gemeinsame juristische Kultur zu begründen, ist zweifelhaft. Manche Begriffe der nationalen Rechtssysteme sind vom Internationalen Gerichtshof übernommen und Teil eines gemeinsamen Begriffssystems geworden, z. B. "guter Glaube", "estoppeI" usw. Jedoch kann die Fortentwicklung dieses Kultursystems durch das richterliche Vorverständnis verhindert werden. Die Auswirkung auf die Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs wird in Kapitel VI behandelt. 5.2. Zentrifugale Triebe

Es gibt viele Fakten, die leider gegen die Integration des Richterkollegiums wirken.

71

72

73 74

Fitzmaurice, BarceLona-Fall, Sep. Op., 113. Jessup, Süd-West-Afrika-FaH 1966, Diss. Op., H. Johnson, 462. LleweHyn, Tradition, 19 - 20.

Anmerkung an 325.

6. Ziel-Beziehung im IGH

87

5.2.1. Spannungen zwischen den einzelnen Mitgliedern können die Integration verhindern. Sie sind nicht ganz zu vermeiden bei fünfzehn Personen, die gewohnt sind, führende Positionen innezuhaben. 5.2.2. Die Größe der Gruppe ist auch ein Element, das die Integration verhindert. Es ist normal, daß Subgruppen sich bilden, die möglicherweise die Treue zur Gesamtgruppe auf sich, und damit weg von der Einheit, lenken können. 5.2.3. Die dauernd wechselnde Mitgliedschaft ist ebenfalls ein störendes Element. Die Richter in Den Haag, mit denen die Verfasserin gesprochen hat, haben zugegeben, daß es eine gewisse Zeit nach jeder Neuwahl dauert, bis das Gericht als Einheit wieder maximal arbeitet. Ein Richter sagte, es nehme mindestens ein Jahr in Anspruch. Neuwahlen finden aber alle drei Jahre statt und man kann damit rechnen, daß während eines Drittels seiner Zeit das Gericht unter seinem besten Integrationsniveau arbeitet. Die stabilisierten Verhaltensmuster, die von Zeit zu Zeit vorkommen, werden durch die Versetzung der Mitglieder oft gestört. Die persönliche Leistung des einzelnen Richters leidet auch darunter. Brandeis, Richter des US Supreme Court hat bemerkt, "Es nimmt 3 bis 4 Jahre in Anspruch, sich in die Bewegungen des Gerichtshofs hineinzufinden"75. Ein IGH-Richter hat im Interview bemerkt, daß die Kohäsion der Gruppe sich viel schneller entwickeln würde, hätte der Gerichtshof mehr Gelegenheit, als Gruppe zu funktionieren, d. h. mehr Arbeit zu tun.

In der Tat findet man, daß auch die IGH-Richter zu Schweigsamkeit in ihren ersten Fällen neigen. Einige (Spender, Ammoun) haben aber eine separate opinion oder eine Erklärung (Fitzmaurice, Tanaka) abgegeben. Die meisten (Jessup, Morelli, Bustamante, Forster, Padilla Nervo) haben sich zu ihrem ersten Fall nicht geäußert, obwohl sie später stark abweichende Sondervoten geschrieben haben. 5.2.4. Integration hängt auch von gemeinsamen Normen und Werten ab78, auf die man sich berufen kann, wenn der Gruppe Spannungen drohen. Diese sind weit weniger am Internationalen Gerichtshof vorhanden als in vielen anderen Organisationen. Die allgemeine Trennung zwischen Ost und West, Alt- und Neuwelt, tritt auch hier hervor.

6. Ziel-Beziehung im Internationalen Gerichtshof

Ein Rechtssystem gehört zu den integrierenden Funktionen einer Gesellschaft: es kontrolliert Abweichungen von den akzeptierten Nor75 78

Bickel, 113 (übersetzung der Autorin). H. Johnson, 459.

88

H. Kap.: Funktions- und Gruppentheorie

men des Gesellschaftssystems. Es tut es durch die nachträgliche Lösung schon entstandener Konflikte, durch eine therapeutische Funktion, die den Streit möglichst mildern soll, und durch Vorbeugen. Dieses Vorbeugen stützt sich auf zwei Mechanismen: die Fortbildung des Rechts sowie die Entwicklung und Unterstützung der allgemeinen Werte und Normen. Das, was das größere Gesellschaftssystem als Aufgabe einer Organisation ("input") zuteilt, wird das Ziel oder angestrebte "output" dieses Subsystems. Die verschiedenartigen Funktionen, die dem Internationalen Gerichtshof zugeteilt sind, ergeben für den Internationalen Gerichtshof eine Verschiedenartigkeit der Ziele77 • 6.1. Konfliktlösung

Die Lösung eines konkreten Falles ist laut Statut des Internationalen Gerichtshofs (Art. 38) als die Hauptaufgabe des Gerichtshofs anzusehen. Das Gericht hat diese Pflicht selbst betont. "The function of the Court is to state the law, but it may pronounce judgment only in connection with concrete cases where there exists at the time of the adjudication an actual controversy involving a conflict of legal interests between the parties. The Court's judgment must have some practical consequence in the sense that it can affect existing legal rights or obligations of the parties, thus removing uncertainty from their legal relations. No judgment on the merits in this ca se could satisfy these essentials of the judicial function78 ." Die Philosophie dieser Äußerung ist gezeichnet von der Sorge des Gerichtshofs, seine Autorität und sein Prestige nicht in den Fällen aufs Spiel zu setzen, die schon auf eine andere Weise gelöst worden sind. Warum sollte er das Risiko auf sich nehmen, Unzufriedenheit und Mißtrauen hervorzurufen, die zu einer Mißachtung seiner Rolle in anderen, nur vom Gerichtshof zu lösenden Konflikten, führen könnte? Dieser Gedanke kommt auch in den Worten von Fitzmaurice zum Ausdruck: ". " courts of law are not there to make legal pronouncements in abstracto, however great their scientific value as such. They are there to protect existing and current legal rights, to secure compliance with existing and current legal obligations, to afford concrete reparation if a wrong has been committed, or to give rulings in relation to existing and continuing legal situations. Any legal pronouncements that emerge are necessarily in the course, and for the purpose, of doing one or more of these things. Otherwise they serve no purpose falling within or engaging the proper function of courts of law as a judicial institution 79." 77

78 79

Lauterpacht, Development, 5 ff. Nord-Kamerun-Fall, 33 - 34. Fitzmaurice, Nord-Kamerun-Fall, Sep. Op., 98 - 99.

6. Ziel-Beziehung im IGH

89

6.2. Therapeutische Funktion

Wie alle Gerichte in einem Gesellschaftssystem hat auch der Internationale Gerichtshof eine therapeutische Funktion. Das Gerichtsverfahren gewährt den Parteien eine "Abkühlungsperiode". Die Zeit, die vergeht, bevor eine Entscheidung verkündet wird, dient zur Beruhigung der Parteien, was Tanaka 80 und Lachs81 anerkannt haben. Die Benützung einer nüchternen, angemessenen Sprache82 dient ebenfalls diesem Zweck. Der ad hoc Richter ist auch ein nützlicher Mechanismus in diesem Zusammenhang. Es kann sein, daß eine Begründung Emotionen verstärkt und Bitterkeit hinterläßt, die in späteren Zeiten zu neuen Konflikten führen. Das Bewußtsein dieses Elements ist in der Rede des Präsidenten zu lesen, die Parteien seien nicht verpflichtet, den Fall bis zur Entscheidung voranzutreiben, wenn sie den Konflikt selbst durch Vereinbarung lösen können. "The Court has in the past been sympathetic to applications for suspension of proceedings where negotiations appear to be on the point of producing settlement. The only concern of the Court is that disputes brought before it shall be settled in accordance with law and with expedition, and as amicably as possible83." In noch einem Fall hat das Gericht versucht, Unzufriedenheit zu vermeiden: "The Court is quite conscious of the Applicant's deeply feIt concern over events referred to in its pleadings and if there were no other reason which in its opinion would prevent it from examining the case on the merits, it would not refuse to proceed because of the lack of what the Permanent Court in the case of the Interpretation of the Statute of the Memel Territory, called a ,convenient and appropriate method in which to bring the difference of opinion before the Court'84." Der Internationale Gerichtshof hat seine Arbeit in versöhnlicher Absicht getan. Der Korfu-Fan ist hierfür ein gutes Beispiel. Dies war ein Fall, der viel Aufsehen erregte: 44 Menschen waren durch eine rechtswidrige Minenanlage in albanischen Gewässern ums Leben gekommen. Obwohl das Gericht mit einer großen Mehrheit Albanien verurteilt hat, war es bestrebt, die Lage nicht weiter zu verschlechtern. Sorgfältig hat es alle Beweise abgewogen. Obwohl geklärt wurde, daß die Minen ohne Kenntnis Albaniens nicht hätten verlegt werden kön80 Tanaka, World Law, 8. 81

Lachs, 14.

82 Beispiele in Kapitel IV, §§ 5, 6. 83 Zafrullah Khan, Rede, ICJ Yearbook 1971 - 1972, 137. 84 Nord-Kamerun-Fall,28.

11. Kap.: Funktions- und Gruppentheorie

90

nen, wurde nicht als erwiesen angesehen (was in der Tat zu keinem anderen Urteil hätte führen können und was die Verhältnisse zwischen Ost und West sicher verschlimmert hätte), daß Albanien selbst die Minen verlegen ließ. Dies war aber die Behauptung Großbritanniens. Der Gerichtshof hat auch Großbritannien für seine "Operation Retail" getadelt, die Beweise (Minen) gesichert hat. Das Gericht sprach nur von der "internationalen Haftung" Albaniens und trotz des durch nichts gerechtfertigten Verhaltens Albaniens, beschuldigte das Gericht Albanien nur einer groben Unterlassung seiner Pflicht, die Minenanlage bekanntzugeben. Wenn man die mühsame und feinfühlige Arbeit des Gerichts hier betrachtet, muß man bedauern, daß es so wenig Erfolg hatte: Albanien hat den Schadensersatz nie bezahlt und hat bis heute keine diplomatischen Beziehungen mit Großbritannien. Ein besseres Ergebnis ergab sich im Festlandsockel-Fall, in dem das Gericht eine ähnliche versöhnliche Arbeit getan hat (vgl. Kapitel IV, § 3.2.2.). Die Parteien einigten sich auf eine Abgrenzung des Festlandsockels angesichts der vom Gerichtshof verkündigten Billigkeitsprinzipien85 • Auf der anderen Seite kann eine übertriebene Feinfühligkeit den Gerichtshof verleiten, auf die Substanz überhaupt nicht einzugehen. Die Frage im Zugangsrecht-Fall war, ob Portugal das Recht des Zugangs über indisches Gebiet zu zwei Enklaven habe. Als der Fall vor das Gericht kam, waren die zwei Enklaven bereits aus der Souveränität Portugals durch Gewalt ausgeschieden. Das Gericht entschied, daß Portugal ein Zugangsrecht gehabt hatte, aber daß Indien nicht rechtswidrig gehandelt hat, dies in einer Zeit der Spannung zu verhindern. Es hat daher die Frage Portugals unbeantwortet gelassen, wie das Zugangsrecht wiederherzustellen wäre. In der Tat konnte Portugal weder seine Souveränität noch das Zugangsrecht verwirklichen. Im Nord-Kamerun-Fall hat der Gerichtshof auch eine Entscheidung der Substanz verweigert. "Whether or not at the moment the Application was filed there was jurisdiction in the Court to adjudicate upon the dispute submitted to it, circumstances that have since arisen render any adjudication devoid of purpose. Under these conditions, for the Court to proceed further in the case would not, in its opinion. be a proper dis charge of its duties88." Eine ähnliche Entscheidung fand auch am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte statt. Auf Antrag der belgischen Regierung hat der Gerichtshof den de Becker-Fall aus der Liste gestrichen, weil das in Frage stehende Gesetz inzwischen abgeändert worden war.

85 88

ICJ Yearbook 1971 - 1972, 142. Nord-Kamerun-Fall,38.

6. Ziel-Beziehung im IGH

91

Im Süd-West-Afrika-Fall 1966 war es ganz klar, daß ein Urteil über die Substanz der Klagen, ob für oder gegen Süd-Afrika, die Streitlage verschlechtern würde. Dies war wahrscheinlich ein bedeutendes Hintergrund-Faktum in den Überlegungen der Mehrheit, die entschieden hat, daß die Kläger kein "legal interest" hattens7 • Es soll nicht vergessen werden, daß die aufgezeigte Problematik ein spezielles Problem eines internationalen Gerichts ist. Ein nationaler Gerichtshof kann, wenn er ein Urteil abgeben muß, das sicher den Konflikt nicht beenden wird, immer den Gesetzgeber anrufen, eine Lösung zu finden. Ein Fall mit interessanten Vergleichspunkten zum Völkerrecht ereignete sich vor kurzem in Australien, der hier als Beispiel dient. Es handelte sich um die Klagen einiger Eingeborener ("aborigines") gegen eine Bergwerksgesellschaft, die Grundstücke von der Bundesregierung gepachtet hatte. Die Kläger, die Nachfahren uralter nomadischer Sippen waren, machten Anspruch auf gewisse Grundstücke geltend, die ihrem Volksglauben nach heilig waren ss• Der Fall erregte viel Aufsehen, bevor er zur Verhandlung gelangte. In der Natur der Rechtsfragen, in dem ethischen Hintergrund und auf Grund des besonderen öffentlichen Interesses hat der Fall gewisse Ähnlichkeiten mit dem Süd-West-Afrika-Fall 1966. Auch hier war es höchst unwahrscheinlich, daß ein Urteil über die Substanz den Konflikt beenden würde. Der Richter Blackburn hat die Klage zurückgewiesen; er könne die außerordentlichen und schwer verstehbaren Bestimmungen des Sippen-"Rechts" mit dem herrschenden Common Law-Sachenrecht nicht in Einklang bringen. Er hat aber klar gemacht, daß das Eigentum einer Gemeinschaft an Grundstücken vom Gesetzgeber anerkannt werden könntes9 . Auf diese Weise konnte er den nächsten Schritt für die enttäuschten Kläger vorzeichnen. Eine solche nützliche Alternative hat der internationale Richter nicht zur Hand. Es ist deshalb nicht erstaunlich, daß es ihm sehr unangenehm ist, ein Urteil in Bezug auf die Substanz abgeben zu müssen, bei dem er erkennt, daß es keine Lösung des Konflikts bedeutet. Das Bewußtsein, daß Süd-Afrika das Namibia-Gutachten ziemlich sicher ignorieren würde, hat den Präsidenten Zafrullah Khan dazu bewegt, eine eigene Erklärung abzugeben, in der er Süd-Afrika aufrief, das Mandatsgebiet im Einvernehmen mit der UNO zu verlassen, damit die Störungen auf ein Minimum reduziert würden; ferner schlug er eine Volksabstimmung vor90 • 81 88 89

90

Higgins, South West Africa, 589 und vgl. Kapitel I, § 2.3. MUirrpum-FaH, 141. Milirrpum-FaH, 198, 262. ZafruHah Khan, Namibia-Gutachten, Erklärung, 64 - 66.

92

II. Kap.: Funktions- und Gruppentheorie 6.3. Rechtsfortbildung

Neben diesen zwei Funktionen besteht die Möglichkeit, Völkerrecht fortzubilden. Es ist umstritten, ob diese Funktion so wesentlich zur Konfliktlösung dienlich sei, ob es jener Funktion untergeordnet werden soll oder ob es nur zufällig ein Nebenprodukt der Konfliktlösung sei. Der Meinungsunterschied wurde von Fitzmaurice gut beschrieben: "There are broadly two main possible approach es to the task of a judge, whether in the international field or elsewhere. There is the approach which conceives it to be the primary, if not the sole duty of the judge to decide the case in hand, with the minimum of verbiage necessary for this purpose and to confine himself to that. The other approach conceives it to be the proper function of the judge, while duly deciding the case in hand, with the necessary supporting reasoning, and while not unduly straying outside the four corners of the case, to utilize those aspects of it which have a wider interest or connotation, in order to make general pronouncements of law and principle that may enrich and develop the law91 ." Sir Gerald bemerkte, daß internationale Gerichtshöfe Rechtsfortbildung als ein wesentlicher Teil ihrer Funktion anerkannt haben. Im Kapitel I (§ 5.9) wurde beschrieben, wie Rechtsfortbildung eine Erwartung ist, die an den Internationalen Gerichtshof von vielen Rollensendern gerichtet wird. In Interviews mit IGH-Richtern sind die verschiedenen Meinungen hervorgetreten: mehrere haben die "breitere" der "engeren" Auslegung der richterlichen Funktion vorgezogen. Lauterpacht hat in seinen Schriften92 dafür plädoyiert und hat diese Ansicht im Norwegische-Anleihen-Fall ausgedrückt: "There may be force and attraction in the view that among a number of possible solutions a court of law ought to select that which is most simple, most concise and most expeditious. However in my opinion such considerations are not, for this court, the only legitimate factor in the situation93 • " Auf jeden Fall scheint es nötig, diese Aufgabe mindestens teilweise der internationalen Gerichtsbarkeit zuzuteilen, weil andere mögliche funktions ausfüllende Institutionen nicht vorhanden sind. Fitzmaurice hat seine weitere Bemerkung im Barcelona-Fall darauf begründet: ". .. there are a number of particular matters, not dealt with or only touched upon in the Judgment of the Court, which I should like to comment on. Although these comments can only be in the nature of obiter dicta, and cannot have the authority of a judgment, yet since specific legislative action with direct binding effect is not at present Fitzmaurice, Lauterpacht I, 14 - 15. Lauterpacht, Development, bes. 55 ff.; Function, 248 ff.; vgl. auch Dillard, passim. 93 Lauterpacht, Norwegische-AnLeihen-Fall, Sep. Op., 36. 91 92

6. Ziel-Beziehung im IGH

93

possible in the international legal field, judicial pronouncements of one kind or another constitute the principal method by which the law can find some concrete measure of clarification and development94 ." 6.4. Betonung der gemeinsamen Werte

Ein Gericht hat auch eine Rolle bei der Stärkung und Unterstützung eines neuen Gemeinsamkeitsgefühls und bei der Schöpfung einer allgemeinen Rechtskultur. Die Betonung der gemeinsamen Werte ist ein wichtiges Gegengewicht zu den Spannungen, die aus Interessenkonflikten entstehen. Die führenden Personen eines Wertsystems ("cultleaders")9S, gleich, ob einer Ideologie oder einer Religion, unterstreichen Solidarität oder Interessen, die den Konflikt überschreiten96 . In einem nationalen Gesellschaftssystem wird diese Rolle vom Staatsoberhaupt (Präsident, König), religiösen Führern, Theoretikern der Ideologie (z. B. der kommunistischen Partei), manchmal von politischen Parteien (wenn sie eine breite Basis haben) und auch von Gerichten übernommen. Fast alle diese möglichen meinungsbestimmenden Personen fehlen in der internationalen Gesellschaft. Keine Figur oder Gruppe steht an der obersten Stelle; keine Ideologie hat eine Basis, die breit genug ist, um alle streitenden Parteien in sich zu vereinen. Nach Schachter hat HammarskjöZd als UNO-General-Sekretär einige Merkmale eines Gruppenführers gezeigt: er hat sich in Konfliktfällen auf die Grundsätze der UNO-Charta berufen, weil er glaubte, daß diese die grundlegenden Werte der Mehrheit der Menschheit manifestiere und sowohl die ethischen als auch die juristischen Normen des internationalen Lebens ausdrücke 97 . Eine ähnliche Arbeit kann auch vom Internationalen Gerichtshof geleistet werden. In seiner Arbeit bezieht sich das Gericht auch auf Fakten, die die Parteien versöhnen können. Im Korfu-FalZ hat der Gerichtshof allgemeine Normen verkündigt, die für beide Parteien annehmbar waren und erneute Konflikte vermeiden sollten: "Les obligations qui incombaient aux autorites albanaises consistaient a faire connaitre, dans l'interet de la navigation en general, l'existence d'un champ de mines dans les eaux territoriales albanaises et a avertir les navires de guerre britanniques, au moment ou Hs s'approchaient, du danger imminent auquel les exposait ce champ de mines. Ces obligations sont fondees non pas sur la Convention VIII de la Haye de 1907, qui est applicable en temps de guerre, mais sur certains principes generaux et bien reconnus, tels que des considerations elementaires d'humanite, plus absolues encore en temps de paix qu'en temps de guerre, le principe de la 94 95

96 97

Fitzmaurice, Barcelona-Fall, Parsons, System, 149 ff. H. Johnson, 55 - 56.

Schachter, 3.

Sep. Op., 64.

94

II. Kap.: Funktions- und Gruppentheorie

liberte des communications maritimes et l'obligation, pour tout Etat, de ne pas laisser utiliser son territoire aux fins d'actes contraires aux droits d'autres Etats 98 ." Ein anderes Beispiel dieser Tätigkeit war die Betonung der Billigkeitsprinzipien im Festlandsockel-Fall, in dem der Gerichtshof seine Vorschläge für die Verteilung des Festlandsockels zwischen den drei Ländern unmittelbar auf die Gerechtigkeit zurückführte oo •

Fitzmaurice behauptet, daß der Gerichtshof in erster Linie zur Sachentscheidung berufen sei, und daß die Förderung eines Gemeinschaftsgefühls neben dieser Aufgabe zweitrangig sei. "Evidently a judgment of the Court, even if not capable of effective legal application, could have other uses. It could afford a moral satisfaction. It could act as an assurance to the public opinion of one or other of the parties that something had been done or at least attempted. There might also be political uses to which it could be put. Are these objects of a kind which a judgment of the Court ought to serve? The answer must, I think, be in the negative, if they are the only objects which would be served that is, if the judgment neither would nor could have any effective sphere of legal application tOo ." Andere Juristen, z. B. Falk, sind anderer Meinung 101 • 6.5. Ziel-Ungewißhcit

Im letzten Kapitel hat die Analyse der heutigen Erwartungen gegenüber dem Internationalen Gerichtshof eine gewisse Unsicherheit über die Aufgaben des Gerichtshofs enthüllt. Wie unsicher die Rolle des Internationalen Gerichtshofs ist, zeigt der Punkt "Review of the Role of the International Court" aus der Tagesordnung der UNO-Vollversammlung 1970, 1971, 1972 und 1973102 • Alle IGH-Richter scheinen die Funktion der Konfliktlösung anzuerkennen103 • Die anderen drei Funktionen des Internationalen Gerichtshofs sind umstritten. Niemand kann leugnen, daß der Gerichtshof durch seine Arbeit eine therapeutische Funktion innehat, die Fortbildung des Rechts fördert und die gemeinsamen Werte betont. Aber sind diese letzten drei Tätigkeiten echte "Aufgaben" des Gerichtshofs oder sind sie nur als Nebenprodukte der Konfliktlösung zu werten? In diesem Punkt sind die Mitglieder des Internationalen Gerichtshofs geteilter Meinungen. Korfu-Fall, 22. Festlandsockel-Fall, 48, Abs. 88. 100 Fitzmaurice, Nord-Kamerun-Fall, Sep. Op., 107. 101 Falk, 21. 102 ICJ Yearbook 1972 - 1973, 143 - 144. 98

99

103 Obwohl die Äußerungen der russischen Richter zu selten sind, um ihre Meinungen klar herauszufinden.

Anhang A

95

AnhangA Ausdrücke von Spender "I do not agree either with the proposition on which the Court bases its reasoning or with its reasoning." Tempel-Fall, Diss. Op., 133. "I cannot accept this as accurate." Interhandel-FaH, Sep. Op., 66. " ... it is not permissible to treat this objection ... " Interhandel-FaH, Sep. Op., 72. "To do so leads to error. Such an approach to this objection mistakes form for substance." Interhandel-FaH, Sep. Op., 72. "no warrant in law." Interhandel-FaH, Sep. Op., 57. "In my opinion there is no room whatever for construing the ... reservation by implying into it a concept that the determination must be reasonable or that it must not be unreasonable." Interhandel-FaH, Sep. Op., 58. "This line of reasoning is inadmissible." Nord-Kamerun-FaH, Sep. Op., 72. "There is not ... the slightest reliable evidence ... to support this assertion." Nord-Kamerun-FaH,83.

"It is indisputable ... " Nord-Kamerun-FaH,90.

"The inescapable truth of the matter ... " Nord-Kamerun-FaH,96.

"It would hardly seem necessary to insist on such an elementary point. Yet ins ist we must, since in our view it has in substance been ignored by the Court." Süd-West-Afrika-FaH 1962, Joint Diss. Op., 510. "I am not persuaded that the views I have expressed are in any sense invalidated if it be that on one or two occasions this or that judge has, in some manner, not acted in conformity therewith. Action which is impermissible does not become permissible because it may have been overlooked at the time or no objection taken. The correct path to follow remains the correct path even though there may have been occasional straying from it." Süd-West-Afrika-FaH 1966, Erklärung, Abs. 34, 57. "These views must dictate my own action." Süd-West-Afrika-FaH 1966, Erklärung, Abs. 35, 57. "impermissible and improper." Süd-West-Afrika-FaH 1966, Erklärung, Abs. 36, 57.

96

II. Kap.: Funktions- und Gruppentheorie

AnhangB Beispiele für die Sprache der Begründung im Süd-West-Afrika-FaH 1966 "There is ... no principle of law which would warrant such a conclusion." (35, Abs. 55) " ... the Court thinks the inference sought to be drawn ... is inadmissible." (36, Abs. 57) "This view is not well-founded."

(37, Abs. 60)

"The theory ... constitutes an essentially improbable supposition for which the relevant texts afford no warrant... (31 - 32, Abs. 42)

"It is evident on the face of it how misconceived such an argument must be ... " (46, Abs. 86) "the erroneous assumption."

(49, Abs. 95)

" ... the whole argument is misconceived."

(50, Abs. 98)

III. KAPITEL

Das gesellschaftliche Akzeptieren der dynamischen Richterrolle Die soziologische Analyse in den letzten beiden Kapiteln ist von wesentlicher Bedeutung für ein Hauptproblem des Völkerrechts: die Akzeptierung der Rolle des Internationalen Gerichtshofs. Diese Institution ist von ganz eigenständiger und besonderer Wesensart, auf die wir in Kapitel V grundsätzlich eingehen müssen. Zunächst wird es aber nützlich sein, die theoretische Grundlagen dieser Problematik zu untersuchen, besonders ihre Auswirkung auf die Rolle des Richters. Das Bindeglied zwischen Akzeptierung und der Richterrolle ist die richterliche Rechtfertigung: bis dieser Vorgang sorgfältig in Kapitel IV untersucht wird, müssen wir unsere Schlüsse über die Akzeptierung des Internationalen Gerichtshofs allgemein halten. Erst mit Verständnis des wesentlichen und komplizierten Rechtfertigungsvorgang ("justificatory process") können wir Gründe und Heilmittel vorschlagen (Kapitel V und VI). 1. Antinomien in der Richterrolle

"In den gegenläufigen Anforderungen des positiven Rechts an geschlos-

sene Erhaltung und offene Erneuerung wurzeln zwei entsprechend gegenteilige Aspekte der Rechtsprechung: als Rechtspflege im Sinne der Rechtsverwaltung ... und als Rechtsschöpfung 1 ."

Im ersten Kapitel wurde einiges über die zweifache Natur der richterlichen Rolle als "Regelanwender" und "Regelanpasser" und über den daraus ergebenden immanenten Konflikt in der Richterrolle gesagt. Man muß hier etwas tiefer in dieses Gebiet eindringen, um die besondere Probleme, welche dieser Konflikt für den IGH-Richter mit sich bringt, zu verstehen. 1.1. Stabilisierende Rolle

Es wurde schon im Kapitel I erörtert, daß die Entwicklung von Regeln, die danach konsequent anzuwenden sind, dem menschlichen Wunsch nach Sicherheit in einer komplizierten Gesellschaft entspringt. Auf diese Weise werden die Erwartungen über das Handeln der ande1

Esser, Vorverständnis, 16.

7 Pratt

98

III. Kap.: Das Akzeptieren der dynamischen Richterrolle

ren, mit denen man nur vorübergehend handelt, klar gestellt. Der Richter als Rechtsanwender hat einen stabilisierenden Einfluß: mittels Gesetzanwendung kann er viele spannungschaffende Konflikte rasch lösen, und Menschen, die vorläufig von ihrer normalen Rollenleistung in der Gesellschaft wegen des Konfliktes abgelenkt sind, mit einem Minimum an Zeitverlust und Störung wieder in die Gesellschaft entlassen. Der amerikanische Richter Cardozo bemerkte: "Law is the expression of a principle of order to which men must conform in their conduct and relations as members of society, if friction and waste are to be avoided2 ."

Die Folgerichtigkeit und Sicherheit des Rechts basiert auf einem psychologischen Bedarf des Menschens an Sicherheit in seinen sozialen Beziehungen. Diese stabilisierende Seite der richterlichen Rolle wurde häufig als höchste Pflicht angesehen. Die Tradition beginnt in westlichen Rechtssystemen mit Montesquieu: ". .. si les Tribunaux ne doivent pas etre fixes, les Jugements doivent l'etre a un tel point, qu'ils ne soient jamais qu'un texte precis de la loi. S'ils etoient une opinion particuliere du juge, on vivroit dans la societe, sans savoir precisement les engagements que l'on y contracte . ... les juges de la Nation ne sont ... que la bouche qui prononce les paroies de la Loi, des f:tres' inanimes qui n'en peuvent moderer ni la force ni la rigeur3 ."

Das übertriebene Unterstreichen des stabilisierenden Elements führte zu einer Reaktion, die in Frankreich von Geny eingeleitet wurde4 • Eine ähnliche Situation stellte sich in Deutschland dar. Der Einfluß der "bouche de la loi"-Theorie ist in der folgenden Resolution des Zweiten Deutschen Richtertags 1911 zu ersehen: ,,1. Die richterliche Gewalt ist dem Gesetz unterworfen. Der Richter hat

deshalb niemals die Befugnis, vom Gesetz abzuweichen.

2. Die Zweifelhaftigkeit des Gesetzesinhalts berechtigt nicht, nach seinem Ermessen zu entscheiden, vielmehr ist der Zweifel durch Auslegung des Gesetzes nach Sinn und Zweck und zutreffendenfalls durch Analogie zu lösen. 3. Ist ein Gesetz verschiedener Auslegung fähig, so hat der Richter derjenigen Auslegung, welche dem Rechtsbewußtsein und den Verkehrsbedürfnissen am besten entspricht, den Vorzug zu geben 5."

Nach Bendix wurde diese Resolution schon beim Dritten Deutschen Richtertag 1913 unter dem Einfluß der Freirechtsschule fallen gelas2

8 f

5

Cardozo, Growth, 248.

Montesquieu, Bd. 11, Kapitel VI.

Titel im Literaturverzeichnis. D Ri Z 1911, 790, von Bendix, 107, N. 88 zitiert.

1. Antinomien in der Richterrolle

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senS. Die Freirechtsschule entwickelte die rechtspolitische Auffassung, der Richter sei zur Abweichung vom Gesetz immer schon dann verpflichtet, wenn die Anwendung in gegebenen Fall unrichtig oder auch nur unzweckmäßig seF. Auch im Common Law sind diese beiden theoretischen Tendenzen zu sehen; Das Ambivalenz zwischen der Widmung zur Tradition und Schöpfung wurde von Stone an der Arbeit des Chief Justice Cokes (1552 - 1634) und des Chancellor Mansfields (1704 - 1793) klar dargestellt8 • Die scheinbare Gesetzfreiheit der englischen Richter wurde von einem anderen wesentlichen Strom der Tradition kontrolliert: die frühmittelalterliche Vorstellung, daß das Recht etwas überkommenes ist, das durch den Richter gefunden wird. Eine zu weit gehende Reaktion auf die "bouche de la loi"-Denkweise, etwa der Extremisten der amerikanischen Realisten, die die Entscheidungen des Richters auf seine persönliche Psychologie zurückführten, oder die Doktrin, der Richter solle mit dem Zeitgeist gehen9 , wird so charakterisiert, daß der Richter mit freiem Gewissen aus seinem Rechtsgefühl schöpfen darf, und sich nicht an traditionelle Methoden und Gesetzes-"Auslegung" oder -"Anwendung" gebunden zu fühlen braucht. Eine solche Auffassung ignoriert das soziologische und psychologische Bedürfnis eines Systems. Nach Cardozo werden immerhin 90 % der Berufungsfälle (sicherlich noch mehr in erster Instanz) nach den normalen schon etablierten Regeln eines Rechtssystemes gelöst10 • Denn es bleibt als grundlegende Wahrheit in allen Aussagen, daß der Richter nur das Gesetz anwenden oder das Recht finden soll: sie basiert auf der Angst, daß zu viele oder zu plötzliche Innovationen der bekannten und angenommenen Regeln, die jetzt die Grundlage der Erwartungen sind und auf die sich die Handelnden bewußt oder unbewußt verlassen, ein wesentliches Muster in der Gesellschaft stören würden l l . Luhmann spricht von einem eigentümlichen Ordnungsbedarf, der durch Recht befriedigt wird 12 und Schubert schreibt Bendix, 107. Wieacker, 579 - 581. B Stone, System, 237 - 239. 9 z. B. von Wassermann vertreten. 10 Cardozo, Growth, 213. 11 Nach der "demokratischen" Theorie, die besonders stark in Frankreich ist, wird behauptet, daß die Bevölkerung erwartet, daß ihre gewählten Vertreter (das Parlament) ihren Erwartungen durch Gesetze am besten entsprechen werden, und daß richterliche Innovierungen aus diesem Grund zu begrenzen sind. 12 Luhmann, Soziologie, 30. 6

7

100

Ur. Kap.: Das Akzeptieren der dynamischen Richterrolle

"... psychologically speaking, a basic function of law is to meet the need of man for a feeling of stability in the flux of life13 ." Der deutsche Richter, der bei der Beratung das Ergebnis seiner Kollegen zu einem Fall akzeptiert, sofern "es konstruierbar bleibt", bringt damit deutlich zum Ausdruck, daß die Entscheidung, die er intuitiv als richtig erachtet, in ein bestimmtes Muster passen muß, damit es von seinen Adressaten akzeptiert wird 14 • 1.2. Schöpferische Rolle

Die Gegenposition, daß nämlich der Richter nur das Gesetz anzuwenden hat, und nicht das Recht fortbilden darf, hat ernste Konsequenzen. Denn die 10 0J0 der Fälle, die danach nicht entschieden werden können, sind gerade die Wegbereiter des Rechts und die Mittel, mit denen sich das System den neuen Entwicklungen anpaßt. Die schädlichen Ergebnisse einer solchen Verkennung der Richterrolle führen, wie der Common Law Rechtstheoretiker Stone sagt, "to unjust or socially inapt decisions, made often with a reluctant sense of inevitability" und "inadvertence to ,the judicial duty of choice"'15. Ähnliche bedauerliche Ergebnisse im deutschen Rechtssystem werden von Esser erwähnt: "Es gehört zum Stil unserer juristischen Methodenlehre, daß man die Wertungsproblematik und die damit angesprochene Frage nach Herkunft und Kontrolle des Vorverständnisses ausklammert, als ob,die Hermeneutik diese Fragen noch nicht entdeckt hätte. Es wird auch nach wie vor unterschieden zwischen Rechtsanwendung im engeren Sinne, die nur eine richtige Lösung als denkbar erscheinen läßt, und Interpretationsmöglichkeiten unter den verschiedenen ... Kriterien, und bei des wird wieder in Gegensatz gestellt zu eigentlicher rechtspolitischer Entscheidung, wie sie bei der Rechtsfortbildung unvermeidlich istt 6 ." Nach Llewellyn macht der Glaube an "eine einzige richtige Lösung" in schwer zu entscheidenden Fällen die Endlösung unvorhersehbar ("unpredictable"), während eine zwar langwierige, doch intensive Untersuchung, welche der erkannten Möglichkeiten die beste sei, das Moment der Unberechenbarkeit weitestgehend ausschließt17 • 13 Schubert, Decision-Making, 101. 14 Anekdote, von einem anderen Mitglied des Richterkollegiums erzählt, in einem Seminar an der Universität Tübingen 1972. 15 Stone, System, 292. 18 Esser, Vorverständnis, 8. 17 Llewellyn, Tradition, 25.

1.

Antinomien in der Richterrolle

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1.3. Kontrollelemente bei der Rechtsschöpfung

Übrigens werden die schöpferischen Impulse von verschiedenen Elementen kontrolliert. Wasserstrom betont, wenn gesagt wird, daß eine Entscheidung nicht systematisch begründet werde, daß das nicht bedeute, die Entscheidung sei durch die Anwendung von Gefühlen, unanalysierten persönlichen Vorurteilen oder Emotionen getragen18. Der amerikanische Rechtstheoretiker Llewellyn schildert in seinem Buch "The Common Law Tradition"19 vierzehn kontrollierende Elemente ("steadying factors") bei den Berufungsgerichten des Common Law: (1) die juristische Denkweise (2) die spezifischen Doktrinen des Rechtssystems (3) die traditionellen ("correct") Techniken (4) der Trieb nach Gerechtigkeit (5) der Glaube an eine einzige "richtige" Lösung (6) die Vorbereitung der Begründung (und hier könnte man den Stil dieser Begründung hinzusetzen20 ) (7) die Eingrenzung der strittigen Fragen durch die Plädoyers (8) und durch die Protokolle der unteren Instanz (9) die Gegenargumentation der Rechtsanwälte (10) die Gruppenarbeit des Richterkollegiums (11) richterliche Sicherheit und Ehrlichkeit (12) eine bekannte Richterschaft (13) die nationale Rechtstradition und (14) die Berufstradition der Richter. Manche dieser Fakten existieren nicht für den Internationalen Gerichtshof (8) oder sind zweifelhaft ((1), (3), (5), (12), (13), (14)). Jedoch sind genügend Kontrollelemente vorhanden, wie später (§ 2.3.) gezeigt werden wird. In der Praxis der Gerichtshöfe kann man die stabilisierende und die schöpferische Rolle klar herausfinden, obwohl die letztere oberflächlich betrachtet übersehen werden könnte, wegen des Gebrauchs von "devices permitting a secret and even unconscious exercise by courts of what in the ultimate analysis is a creative choice"21. "Ganz unverkennbar ist es, daß das Problem des ,Verstehens' der Gesetztexte hierbei keineswegs im Vordergrund steht und ganz sicher nicht in der schulmäßigen Form von grammatischen, systematischen, historischen usf. Interpretations,methoden' angegangen oder gar gelöst wird 22 ." Die Stichwörter "stare decisis" im Common Law und "Systemdenken" im deutschen Recht suggerieren eine Stetigkeit, um welche die schöpferischen Ströme dauernd herumwirbeln.

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19 20

21 22

Wasserstrom, 24. LleweHyn, Tradition, 19 - 160. Wetter, 45. Stone, System, 241. Esser, Vorverständnis, 8.

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III. Kap.: Das Akzeptieren der dynamiscIlen Richterrolle

2. Die Antinomien in der Richterrolle im Völkerrecht 2.1. Meinungsverschiedenheit und Ambivalenz

Die verschiedenartigen Meinungen sind auch im Völkerrecht vertreten. Auf der einen Seite stehen z. B. Akademiker wie Schwarzenberger und sein Schüler Bin Cheng, die die Rolle eines internationalen Richters in der Rechts-"findung" und Vertrags-"anwendung" begrenzt sehen wollen 23 • Schwarzenberger hat schon die nur mäßige Rechtsfortbildung im Süd-West-Afrika-Gutachten 1950 als "die Grenze zwischen ,lex lata' und ,lex ferenda' überschreitend" verurteilt 24 • Schindler hatte früher behauptet, daß der Ständige Internationale Gerichtshof ein Urteil im Zollunion-Fall 1931 hätte verweigern müssen, weil eine adäquate juristische Grundlage für die Entscheidung der Frage fehlte, ob die deutsch-österreichische Zollunion mit dem Versailler Friedensvertrag vereinbar sei25 • Die schärfste Formulierung dieser Lehre wurde von Reut-Nicolussi verfaßt: "Es ist wichtig zu wiederholen, daß die Rechtsfindung theoretisch dem Richter keine Wahl läßt, daß es theoretisch nur eine Lösung des dem Richter vorgelegten Problems gibt, weil diese Lösung als logische Notwendigkeit nur einen Schlußsatz kennt und im Interesse der Rechtssicherheit als vQrhersehbar geIten muß26." Auf der anderen Seite gibt es Kämpfer, die eine Pflicht des internationalen Richters, schöpferisch zu entscheiden, bejahen, wie Lauterpacht, der 1933 schrieb, "Judicial law-making is a general legal phenomenon in societies where justice is administered by judicial tribunals ... In international law the scope of this aspect of judicial activity is much wider; for, in international society, conscious law making by legislation is in a rudimentary stage, the creation of customary law is slow and difficuIt of ascertainment, judicial precedent is relatively rare and of controversial authority, and, in consequence, the field of detailed concrete regulation is small, and that of general principles of law wide and elastic. Accordingly, in international Jaw judiciallaw-making is of special importance ... 27." Die Anerkennung der potentiell schöpferischen Rolle eines internationalen Gerichtshofs wurde schon 1932 von Vaughan Williams K. C. sehr eindrucksvoll geschildert: "With regard to the question of substantive law, I think that we look to the Court of make its own law. It has no legislative functions but it can make law like so many of our own courts '" I look to a court like Bes. Inductive Approach (Schwarzenberger), Principles (Bin Cheng). Schwarzenberger, Trends, 10. 25 Schindler, 254. 26 Reut-Nicolussi, 216. 27 Lauterpacht, Function, 255 - 256. 28

24

2. Die Antinomien in der Richterrolle im Völkerrecht

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the International Court to ... invent a kind of international common law. I think we shall all be disappointed if the International Court does not do something of that kind for itseIf ... It need not advertise it, but I hope it will do it 28 ." Selten findet man so eine klare Darstellung des Wunsches nach richterlicher Rechtsschöpfung, und gleichzeitig einen so eindeutigen Hinweis, daß solche Rechtsschöpfung sich am besten mehr oder weniger im Verborgenen vollziehen sollte. Unter den Theoretikern, die sich für eine Anerkennung der schöpferischen Rolle des internationalen Richters eingesetzt haben, sind Hambro 29 , de Visscher 30 , Friedmann 31 , Stone 32 , Brownlie 33 und Jenks 34 zu nennen. Dillard (jetzt IGH-Richter) anerkannte ausdrücklich die schöpferische Tätigkeit des Internationalen Gerichtshofs in seinen Vorträgen 3S 1959 in Den Haag. Natürlich ist, wie im Privatrecht, ein gewisses Übermaß an richterlicher Freiheit auch im Völkerrecht zu finden. Die sehr weitgehenden Äußerungen des Richters Alvarezs z. B. haben die Rechtspositivisten aufgeschreckt 36 • "J'estime qu'a cet egard Ia Cour a pI eine liberte pour donner passage a l'esprit nouveau qui progresse au contact des conditions nouvelles de la vie internationale: au renouvellement de cette vie doit correspondre un renouvellement du droit des gens 37 ." "Ce serait une erreur manifeste de vouloir confiner ce tribunal a l'examen des questions sous leur seul aspect juridique, en excluant les autres; ce serait contredire aux realites de la vie internationale38 ." Die "tiefe Ambivalenz" in der Common Law-Tradition, von Stone beschrieben, ist gleichermaßen in den Reden mancher Praktiker im Völkerrecht zu ersehen. Nehmen wir z. B. die Worte Ammouns: "La Cour ne Iegifere pas. Elle dit Ie droit. Mais un droit qui se degage du progres humain, et non un droit revolu, vestige des inegalites humaines de la domination et du colonialisme qui ont sevi dans les rapports internationaux jusqu'au debut du siecle, et qui disparaissent, gräce a la lutte 28 Transactions of the Grotius Society, Bd. 17 (1932), 106. (Unterstreichung von Autorin). 29 Hambro, Reasons, 214 - 215. 30 de Visscher, Theories, 409. 31 Friedmann, South West Africa, 4 ff.; Evolution, 317 ff. 32 Stone, Crisis, 40.

33

34

35 36 37 38

Brownlie, 137 - 138. J enks, Prospects, passim. Dillard, 492. Schwarzenberger, Trends, 6 - 8. ALvarez, UNO-Aufnahme-Gutachten, ALvarez, UNO-Aufnahme-Gutachten,

Sep. Op., 67. Sep. Op., 70.

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III. Kap.: Das Akzeptieren der dynamischen Richterrolle \

des peuples et a l'extension, jusqu'aux confins du globe, de la communaute humaine universelle 39 ." "Le droit est un acte vivant, non un palmares glorieux des auteurs du passe, dont l'oeuvre impose certes le respect, mais auxquels on ne peut supposer, de grands esprits exceptes, une vision de l'avenir telle qu'il leur soit possible de voir toujours au-dela de leur temps 40." Andere IGH-Richter haben sich in ähnlicher Weise geäußert: "The Court must apply the law and cannot change it; but in applying the law the Court must interpret it and also take note of changes and developments in the law. This process is a powerful factor of progress 41 ." Dieses Dilemma, dieses Hin und Her zwischen Stabilität und Wandel wurde von Fitzmaurice in einem Artikel mit dem bedeutungsvollen Titel "Judicial Innovation - Its Uses and its Perils ... " behandelt. Er erkannte die Notwendigkeit der Rechtsanpassung an, betonte aber gleichzeitig, daß die Grundlage einer Entscheidung in gewissem Umfange vorhersehbar sein muß. Fitzmaurice wies ferner auf die wichtige Rolle des Internationalen Gerichtshofs hin, die nötigen Elemente der Innovation für das Rechtssystem zu schaffen, weil andere Quellen der Rechtsschöpfung auf der internationalen Ebene fehlen. "In short, a court situated as the International Court is, must steer a middle course between being over-conservative and ultra-progressive. This it seems to have been reasonably successful in doing (the task is not an easy one). It has to be tolerated that not all innovations are good ones, in the sense of being adequately sustainable as a matter of law; but the paradox is that some innovations may be ,bad' in this sense, and yet ,desirable' on broader grounds - sometimes a sound innovation is based on dubious legal grounds, when better and legally sustainable grounds were available. This is always a pity - yet it should not be allowed to obscure the essential desirability of the innovation, if it seems to be so, provided it does not run contrary to basic legal principle and remains capable of some justification in acceptable legal terms, even if other than those relied on42 ." Trotz dieser klaren Aussage kann man aus den Beispielen, die er anführt, ersehen, daß er diese Innovation in ziemlich engen Grenzen halten will. Und ein Jahr nach diesem Artikel kam der bedeutende SüdWest-Atrika-Fall 1966, der so viele Kontroversen weckte, und in dem Fitzmaurice zusammen mit der konservativen Mehrheit seine Stimme abgegeben hat. In dem Artikel aber hat er gezeigt, daß die Ungewißheit wie weit der Gerichtshof ein Recht auf Rechtsschöpfung habe, zu unbefriedigenden "juristischen" Begründungen der Entscheidungen geführt 39 40 41

Ammoun, Namibia-Gutachten, Sep. Op., 72. Ammoun, Namibia-Gutachten, Sep. Op., 75. Zafrullah Khan, Rede am 50tn Jahrestag der Einrichtung der inter-

nationalen Gerichtsbarkeit, ICJ Yearbook 1971 - 1972, 138. 42 Fitzmaurice, Innovation, 26. Notizen weggelassen.

2. Die Antinomien in der RichterroHe im Völkerrecht

105

hat, zu denen in Wahrheit andere Gründe geführt haben. (Beispiele in Kapitel V, § 4.2.2. gegeben.) Der Widerstreit der Meinungen mag einen angemessenen Ausgleich in Privatrecht erreicht haben - zumindest in der Rechtstheorie des anglo-amerikanischen Rechtskreises. Es gibt immer eine bedauerliche Verzögerung zwischen dem Zeitpunkt, an dem die Rechtstheorie ihre neuesten Erkenntnisse kundtut, und dem Akzeptieren und der Anwendung neuer Begriffe durch den Richter - wahrscheinlich weil die Rechtstheorie, über die die Richter verfügen, in ihren Studententagen, also rund 20 bis 30 Jahre vorher, entwickelt wurde. Nur wenige haben die Zeit (und vielleicht auch die Lust), sich mit den neuesten Theorien vertraut zu machen und mit der Entwicklung Schritt zu halten. Ein Bewußtsein der Antinomien in der Richterrolle wurde von dem früheren EWG-Richter Donner so ausgedrückt: "... la justice doit vieiller d'une part a ce que la coexistence de forces et d'interets opposes soit soumise a une regle commune et d'autre part a ce que la regle commune soit appliquee conformement a l'evolution de la societe et de la conscience sociale. C'est ainsi que l'on obtient cette combinaison de stabilite et d'adaptabilite qui est l'essence de tout ordre permanent 43 • " Die unterschiedlichen Meinungen kamen klar zum Ausdruck im

Süd-West-Afrika-Fall1966. Die Mehrheit war der engeren Ansicht:

"... the Court is not a legislative body. Its duty is to apply the law as it finds it, not to make it44 ." Die Richter Tanaka und Jessup dagegen haben die Notwendigkeit breiterer Überlegungen anerkannt: "We, therefore, must recognize that social and individual necessity constitutes one of the guiding factors for the development of law by the way of interpretation as weH as legislation ... These kinds of activities of judges are not very far from those of legislators 45 ." "The law can never be oblivious to the changes in life, circumstance and community standards in which it functions. Treaties - especially multipartite treaties of a constitutional or legislative character - can not have an absolutely immutable character46 ." Die in diesen Äußerungen enthaltene Philosophie hat sich unmittelbar auf die Entscheidung ausgewirkt. Die Mehrheit hat teleologische Methoden abgelehnt: "It may be urged that the Court is entitled to engage in a process of ,filling in the gaps', in the application of a teleological principle of 43 44 45 46

Donner, Justice, 68. Süd-West-Afrika-FalL 1966, 48. Tanaka, Süd-West-Afrika-FalL 1966, Diss. Op., 277 - 278. Jessup, Süd-West-Afrika-FalL 1966, Diss. Op., 439.

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111. Kap.: Das Akzeptieren der dynamischen Richterrolle

interpretation ... The Court need not here enquire into the scope of a principle the exact bearing of which is highly controversial, for it is clear that it can have no application in circumstances in which the Court would have to go beyond what can reasonably be regarded as being a process of interpretation, and would have to engage in a process of rectification or revision. Rights cannot be presumed to exist merely because it might seem desirable that they should ... the Court cannot remedy a deficiency if, in order to do so, it has to exceed the bounds of normal judicial action 47." Die fast wörtliche Übereinstimmung mit dem, was der Schweizer Schindler dreißig Jahre früher gesagt hatte, zeigt, daß konservative Tendenzen nicht an einen bestimmten Zeitgeist oder ein bestimmtes System gebunden sind. Eine ausgeglichene Auffassung äußerte Tanaka: "Undoubtedly a court of law declares wh at is the law, but does not legislate. In reality, however, where the borderline can be drawn is a very delicate and difficult matter. Of course, judges declare the law, but they do not function automatically. We cannot deny the possibility of some degree of creative element in their judicial activities. What is not permitted to judges, is to establish law independently of an existing legal system, institution or norm. What is permitted to them is to declare what can be logically inferred from the raison d'etre of a legal system, legal institution or norm. In the latter case the lacuna in the intent of legislation or parties can be filled 48 ." Tanaka erkennt zwar die' schöpferische Rolle des Richters an, ist sich aber der Kontrollelemente bewußt. Er hat seine Argumentation unmittelbar an die traditionellen Theorien der Rechtsfortbildung angeknüpft: "Such attitude of interpretation has been known as a method of ,libre recherche scientifique' or ,Freirecht', mainly in civil law countries for three-quarters of a century as emancipating judges from the rigid interpretation of written laws and emphasizing the creative role in their judicial activities 49 ." Der Unterschied in der Rechtsphilosophie der Mehrheit und in der der abweichenden Richter in diesem Fall wurde von verschiedenen Kommentatoren 50 erwähnt, aber niemand hat die Kritik an der Philosophie der Mehrheitsmeinung besser als Friedmann zusammengefaßt: "The implication is clearly that the Court's approach is a truly juridical one because it is directed to the ,interpretation' as distinct from the ,rectification or revision' of the relevant provisions and documents. Any student of jurisprudence is familiar with this approach, the heritage of 47 48

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50

Süd-West-Afrika-FaH 1966, 48. Tanaka, Süd-West-Afrika-FaH 1966, Diss. Op., 277. Tanaka, Süd- West-Afrika-Fan 1966, Diss. Op., 278. z. B. Falk, 7 - 8, 13 - 16; Green, 512.

2. Die Antinomien in der Richterrolle im Völkerrecht

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the age of analytieal positivism, as represented in the eommon law world by Austin and his sueeessors, and on the Continent by the Nineteenth Century exponents of astriet division between ,iso and ,ought' in Germany, Franee and other eountries. It is diffieult to think of any eontemporary jurisprudential treatise, many of them the work of eminent judges, and partieularly of any modern study of the judicial proeess which has not rejeeted this approach as untenable in logic and disproved by experienee. Contemporary analytieal jurists have analysed the ambiguity of the meaning of statutory words, and the openness of their interpretation. The almost limitless possibilities of overeoming the bin ding nature of stare deeisis have been analysed by virtually every eontemporary writer on the problems of judieiallaw-making51 ." Trotz der in diesem Jahrhundert anerkannten richterlichen Rechtsfortbildung im angelsächsischen Rechtskreis, kann ein Kommentator unter Bezugnahme auf diesen Fall ausführen " ... an apparently fairly widely-held lay assumption which has eome to light in the wake of this ease: namely, that if a group of lawyers are indeed impartial and free from undue pressure, they should therefore neeessarily eome up with the same legal eonclusions in a given ease 52 ." Es zeigt sich, daß nicht nur Laien, sondern auch Juristen, besonders die, die einem Rechtssystem mit einer strengen dogmatischen Tendenz stammen, diese Ansicht (vielleicht auch noch heute) teilen. Mit einer Betonung der Pflicht zur Rechtsschöpfung des internationalen Richters vermindert man nicht das Wesen der stabilisierenden Rolle. S"rensen, ad hoc Richter im Festlandsockel-Fall, hat es klar beschrieben: "The delimitation of maritime areas between neighbouring states is a matter which may quite often eause dis agreement and give rise to international disputes. In accordance with the function of law in the international eommunity, the rules of international law should be so framed and eonstrued as to reduee such eauses of dis agreement and dispute to a minimum. The clearer the rule, and the more automatie its applieation, the less seed of diseord is sown 53." 2.2. Rechtsfortbildung am Internationalen Gerichtshof

Die besondere Art der Fälle im Völkerrecht, wo richterlicher Mut zur Lösung erforderlich ist, kann man sich leicht vorstellen, aber ein Beispiel mag dies verdeutlichen. Eines der Gebiete, auf dem schon lange viele Einzelheiten geregelt sind, ist der Erwerb von Territorium. Die Regeln hierfür sind in Konfliktfällen mit komplizierter Tatsachenlage schon angewandt worden, z. B. im Minquiers und Ecrehos-Fall. Aber 51 52 •3

Friedmann, South West Africa, 4 - 5. Notizen weggelassen. Higgins, South West Afriea, 586 . Sf1rensen, Festlandsockel-Fall, Diss. Op., 256.

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III. Kap.: Das Akzeptieren der dynamischen Richterrolle

es ist anzuzweifeln, ob solche Regeln, die aus alten, von den früheren Kolonialmächten geschlossenen Verträgen stammen, und die heute auf Streitfälle zwischen neu entstandenen Staaten angewandt werden, in solchen Fällen zur Lösung des Konflikts beitragen, wie z. B. die von den Briten festgelegte indische Grenze, die später zum Stein des Anstoßes zwischen Indien und China wurde und damit die Ursache für den Grenzkrieg war. Ferner der kambodschanische-thailändische Streit über den Tempel Preah Vihear 54 • Ein weiteres Beispiel ist das "Mandat", eine Einrichtung, die 1922 vom Völkerbund geschaffen wurde. Die damit verbundenen Absichten und die für diese Institution entwickelten Regeln lassen sich nicht ohne Veränderung auf die Verhältnisse des Jahres 1966 (Süd-West-Ajrika-Fälle) übertragen. Daß der Internationale Gerichtshof neues Recht geschöpft hat, zeigt sich an verschiedenen Fällen. Im Schadensersatz-Fall hat er zum ersten Mal die juristische Persönlichkeit der internationalen Organisationen anerkannt, ein neuer Schritt im Völkerrecht, den man mit der ersten Anerkennung der juristischen Person (AG) durch englische Richter im Salomon-Fall 1897 vergleichen kann. "The subjects of law in any legal system are not necessarily identical in their nature or in the extent of their rights, and their nature depends upon the needs of the community. Throughout its history the development of international law has been influenced by the requirements of international life, and the progressive increase in the collective activities of States has already given rise to instances of action upon the international plane by certain entities which are not States. This development culminated in the establishment ... of an international organisation whose purposes and principles are specified in the Charter of the Uni ted Nations. But to achieve these ends the attribution of international personality is indispensable55." Ein anderes Beispiel der Rechtsfortbildung war das VölkermordKonvention-Gutachten. Im Bezug auf den Grundsatz "Kein Vorbehalt ohne Zustimmung der anderen Parteien" äußerte sich das Gericht: "Cette conception, directement inspiree de la notion du contrat, conserve une valeur de principe indeniable. En ce qui concerne la Convention sur le genocide, il y a lieu, toutefois, de faire etat d'un ensemble de circonstances, qui ont pour resultat d'en assouplir les applications 56 ." Das Gericht hat hier verschiedene Tatsachen der internationalen Praxis vorgeführt und sagte weiter: ". .. ce sont la autant de manifestations d'un besoin nouveau d'assouplissement dans le jeu des conventions multilaterales57." 54 55 56

57

Vgl. Artikel von KeHy, passim und Kapitel V, § 1.3. Schadensersatz-Fall, 178. Völkermord-Konvention-Gutachten, 21 - 22. Völkermord-Konvention-Gutachten, 22.

2. Die Antinomien in der Richterrolle im Völkerrecht

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Das "neue Bedürfnis nach Flexibilität" ist hier bewußt höher bewertet worden, als der Grundsatz, den das Gericht gerade sorgfältig geklärt hatte. Wenn man die Fälle der richterlichen Fortbildung am Internationalen Gerichtshof durcharbeitet, muß man aber Fitzmaurice zustimmen, daß manchmal eine eindeutige Rechtfertigung der Innovation aus der Begründung nicht abzulesen ist 58 • Fitzmaurice deutete an, daß es von der Art und Weise der Begründung abhängen kann, ob eine Innovation zulässig ist oder nicht. Dieser Gedanke wird im nächsten Kapitel behandelt werden. 2.3. Kontrollelemente im Völkerrecht

Welches sind die Kontrollelemente, die die Schöpfung neuen Rechts durch einen internationalen Richter eingrenzen? Völkerrecht hat zwischen allen menschlichen Gruppen schon in grauer Vorzeit existiert, aber in seiner heutigen Bedeutung, dem Umfang und Dynamismus ist es eine Schöpfung der letzten vier Jahrhunderte und stellt die nötige Antwort zum sozialen Konflikt dar, der sich aus dem zunehmenden internationalen Verkehr der Staaten untereinander entwickelte. Der Internationale Gerichtshof ist erst 50 Jahre alt. Gerade weil er im Vergleich zu anderen Institutionen erst kurze Zeit besteht, könnte sein Bestehen in Frage gestellt werden, es sei denn man könnte ein Mittel finden, seine Kontinuität, seine stabilisierende und ordnungsschaffende Rolle besonders zu betonen.

Lauterpacht, der große Vorkämpfer auf dem Gebiet der Rechtsfortbildung, der eine Pflicht des internationalen Richters hierzu betonte, hat gesagt, daß eine schöpferische Entscheidung "need not necessarily be the result of a purely subjective discretion and individual idiosyncrasy; it may, when regard is had to the entirety of legal and social relationships within the community, be described as fulfilling what the legislator would have intended if he could have fore seen the changes occurring in the life of the community 59."

Wodurch werden die Stabilitätselemente "stare decisis" und "Systemdenken" am Internationalen Gerichtshof ersetzt? Eine Betonung der Geschichte des Völkerrechts unter Einbeziehung der Väter dieser Disziplin - Grotius, Bynkershoek, Vattel, Vitoria, Pufendorff usw. beeinflußt den europäischen Völkerrechtler über seine Sensibilität für reiche und fortdauernde Tradition. Ähnlich verhält es sich bei den asiatischen Völkern, denn eine Untersuchung der Geschichte dieser 58 59

Fitzmaurice, Innovation, Beispiele an 32, 35, 40. Lauterpacht, Function, 80.

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III. Kap.: Das Akzeptieren der dynamischen Richterrolle

Völker, die in den letzten Jahren erfolgte, hat auch hier eine völkerrechtliche Tradition in gewissem Umfange aufgezeigt6o • Der Drang nach Gerechtigkeit, die Zusammenarbeit des Richterkollegiums, die Gegenargumentation der Parteien, die Eingrenzung der Fragen durch die Plädoyers, der Einfluß der traditionellen Techniken aller Rechtssysteme, engen die Möglichkeiten der Entscheidungen ein, die zu weit von den Erwartungen abweichen würden. Eine Verfälschung der Tatsachen oder eine fehlende Bereitschaft, die Wahrheit zu erforschen, überschritte jedenfalls eindeutig die Toleranzgrenzen der richterlichen Entscheidung 61 • Obwohl Präzidenzfälle für den Internationalen Gerichtshof nicht dieselbe Rolle spielen wie für Gerichte, die das Common Law anwenden, können sie doch nicht ganz außer acht gelassen werden62 • Weitere Grenzen zeigt Artikel 38 des Statuts auf: die allgemeinen Grundsätze, die Rechtsprechung und die Lehre der anerkanntesten Autoren. Artikel 38 Abs. 1 lit. c des Status hat hier eine besondere Bedeutung: er ist die Umschreibung für den Auftrag an den Gerichtshof, neues Recht zu bilden: "Angesichts der Bedenken des Comite der SDN, der Cour volle judicial legislation im Stil von reinem judgemade law zu geben (Root und Ld. Phillimore) entschloß man sich, die authority des Einzelspruchs auf die Rechtskraftwirkung zu begrenzen und die unentbehrliche richterliche Rechtsfortbildung durch die Bindung an die allgemeinen anerkannten Rechtsgrundsätze auf den Modus zu bringen, der allenthalben auch in den kodifizierten Rechtskreisen, geübt wird 63 ."

Die Aufführung der Rechtsquellen in Artikel 38 zeigt dem Gerichtshof den Weg, Innovationen an die bestehenden Rechtstradition anzuknüpfen. Die Endkontrolle für diesen Vorgang ist die Begründung: das Gericht muß diese Verbindung bestehen lassen, was in der Begründung zum Ausdruck kommen muß. Die Richter, die eine flexible und "progressive" Rolle des Internationalen Gerichtshofs anerkennen, haben die kontrollierenden Elemente anerkannt: "It is not justifiable to create an ad hoc rule in disregard of existing and generally accepted ones to fit a particular case which could and should be decided by the application of the rules of general international law governing the matter 64 ."

63

z. B. Alexandrowicz. Günther, 111. Lauterpacht, Development, 14. Esser, Grundsatz, 140.

64

PadiHa Nervo, Barcelona-Fall, Sep. Op., 262.

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61 62

2. Die Antinomien in der Richterrolle im Völkerrecht

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"We cannot deny the possibility of some degree of creative element in ... judicial activities. Wh at is not permitted to judges, is to establish law independently of an existing legal system, institution or norm. What is permitted to them is to declare wh at can be logically inferred from the raison d'etre of a legal system, legal institution or norm 65 ." 2.4. "Judicial legislation"

Die Gegner einer Anerkennung der freien Schöpfungs kraft des Richters haben oft den Ausdruck "judicial legislation" benützt, z. B. McNair in seiner separate opinion im Süd-West-Afrika-Gutachten 195066 und Spender und Fitzmaurice in ihrer gemeinsamen dissenting opinion im Süd-West-Afrika-FaH 1962 67 • Er wird auch als Kritik einer Entscheidung benützt, z. B. in den Aufsätzen von van Wyk und Fitzmaurice 68 • Selten wird der Ausdruck zur Beschreibung einer zulässigen richterlichen Haltung gebraucht, wie Lauterpacht es tat: "Judicial legislation, so long as it does not assume the form of a deliberate disregard of the existing law, is a phenomenon both healthy and unavoidable6D • " Dieser Begriff geht auf Montesquieu zurück und auf seine Vorstellungen von einer Gewaltenteilung im Staate, eine Auffassung die, nebenbei bemerkt, auf einem Mißverständnis der englischen Verfassung beruht, denn hier ist die Gewalt nur partiell geteilt. Die gegenseitige Durchdringung der Legislative, Exekutive und Judikative in Großbritannien wird durch die Theorie der "checks and. balances" besser erklärt7o• Die Erfahrung läßt schließen, daß der beste Schutz der Rechte des Einzelnen die gegenseitige Kontrolle der verschiedenen Gewalten über einander ist. Die sog. "demokratische" Theorie, daß das Parlament die Vertretung des Volkes ist und daß die Richter nicht berechtigt sind, ihre Meinung gegen den parlamentarischen Willen durchzusetzen, ignoriert, daß auch das Parlament die Interessen und Rechte des Einzelnen verletzen kann. Kaplan und Katzenbach sehen den wesentlichen Unterschied zwischen richterlicher und legislativer Rechtsfortbildung in der Technik71 • Aber sicherlich ist der einzige Weg, diese Kontroverse endgültig zu lösen, eine Analyse, in welchen Bereichen das Parlament Gesetze er65

66 61

512. 68

69 70

71

Tanaka, Süd-West-Afrika-FaH 1966, Diss. Op., 277. McNair, Süd-West-Afrika-Gutachten 1950, Sep. Op., 162. Spender und Fitzmaurice, Süd-West-Afrika-FaH 1962, Joint Diss. Op., van Wyk, 201; Fitzmaurice, Law and Procedure, 208. Lauterpacht, Development, 156. Dicey, 337 - 338; Hood PhiUips, 16 - 18. Kaplan und Katzenbach, 13.

112

II!. Kap.: Das Akzeptieren der dynamischen Richterrolle

lassen, die Exekutive Verordnungen erlassen und die Gerichte Recht sprechen können (richterliche Fortbildung). Es gibt manche Überschneidungen und eine dauernde Wechselwirkung zwischen diesen Rechtsquellen: Juristen, die alle die gleiche Ausbildung besitzen, sind in allen drei Bereichen tätig: sie stützen sich auf dieselbe juristische Tradition, gleichgültig, ob sie Gesetze entwerfen, Verwaltungsaufgaben lösen oder Recht sprechen. In der Gesetzgebung spielt die Rechtsprechung manchmal eine entscheidende Rolle, nämlich dann, wenn der Gesetzgeber sie entweder akzeptiert oder ablehnt. Der Gesetzgeber in Ländern mit dem Common-Law-System hat oft sogar den Wortlaut der Rechtsprechung in sein Gesetzgebungswerk übernommen. Eine klare Anerkennung der überschneidenden Rolle des Richters steht auch im Artikel 3 des Schweizerischen Gesetzbuchs: "Kann dem Gesetz keine Vorschrift entnommen werden, so soll der Richter nach Gewohnheitsrecht und, wo auch ein solches fehlt, nach der Regel entscheiden, die er als Gesetzgeber aufstellen würde." Eine ähnliche Norm existiert in japanischem Recht und in verschiedenen anderen Rechtssystemen 72 • Es ist also für die Diskussion fruchtlos, die richterliche Fortbildung als "judiciallegislation" zu kritisieren. Der Gebrauch dieses Ausdrucks, der implizit die richterliche Fortbildung abschätzig beurteilt, läßt nur Verwirrung entstehen. Etwas anderes ist es, wenn von "einem richterlichen Eingriff in die Legislative"73 gesprochen wird, d. h. wenn ein klarer Mißbrauch des Rechts der richterlichen Fortbildung durch Überschreiten der Kompetenzen vorliegt. Aber auch in diesem Falle ist der Ausdruck "judicial legislation" fehl am Platze. Denn richterliche Fortbildung ist nie Gesetzgebung: beides sind Rechtsschöpfung, aber die Rechtsfortbildung innerhalb bestimmter Grenzen war immer erlaubt. Ob eine bestimmte richterliche Fortbildung eine zu weitgehende Rechtschöpfung ist, ist eine andere Frage, die nicht durch ungeeigneten Beinamen zu beantworten ist. Die Einstellung desjenigen, der den Begriff in negativer Weise und nicht so wie Lauterpacht gebraucht, ist, daß alle richterliche Rechtsschöpfung unerlaubt ist. Das ist sicher eine Theorie, die im gegenwärtigen Stadium der Erforschung der Entwicklung der Rechtssysteme nicht zu verteidigen ist. Die Aussöhnung der zweifachen Rolle des Richters ist eine Belastung des Richters: "The victory is not for the partisans of an inflexible logic nor yet for the levellers of all rule and an precedent but the victory is for those who 72 73

World Law, 20. Esser, Vorverständnis, 53.

Tanaka,

3. Begriff und Bedeutung der Akzeptierung

113

shall know how to fuse these two tendencies together in an adaptation to an end as yet imperfectly discerned74 ."

Nachdem der Richter diese Antinomie für sich selbst durch einen Ausgleich beseitigt hat, muß er weiter diese doppelte Rolle dem Publikum gegenüber rechtfertigen; er muß das Akzeptieren seiner zweifachen Tätigkeit sichern. 3. Der Begriff und Bedeutung der Akzeptierung

"Akzeptieren" bedeutet nach Luhmann, "eine generalisierte Bereitschaft inhaltlich noch unbestimmte Entscheidungen innerhalb Toleranzgrenzen hinzunehmen"7s. 3.1. Bedeutung der Akzeptierung

Eine Institution wird dann zu relativ fester Institution in einem sozialen System, wenn ihr Handeln akzeptiert wird, und ihre Mitglieder und andere Rollenträger des sozialen Systems, mit denen sie Kontakt hat, wissen, was sie zu erwarten haben und was von ihnen erwartet wird. Bis diese stabilen Muster von Erwartungen, und Erwartungen von Erwartungen, sich verfestigt haben, besteht immer die Gefahr, daß die Institution entbehrlich werden könnte, und irgendein anderes Mittel entwickelt wird, um ihre funktionelle Aufgabe wahrzunehmen76 . Ein gutes Beispiel dafür ist der "Military Staff Committee" des UNOCharta (Art. 47). Dieser Ausschuß bestand aus den militärischen Chiefs of Staff der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats. Er war (was nicht erstaunlich ist) schon bald handlungsunfähig, und seine Funktion, die Verteilung der militärischen Macht, wurde von dem Blockbündnissystem übernommen. Solche abgewerteten Institutionen können zwar auf Papier weiterexistieren, aber man erwartet nicht mehr, daß sie die Funktionen leisten, für die sie ins Leben gerufen wurden. Es würde sich wahrscheinlich sogar erheblicher Widerstand gegen die Bestrebungen der Institution ergeben, wenn sie ihre alten Funktionen wieder wahrnehmen wollte. Das trifft zum Beispiel auf die Zweite Kammer in Systemen zu, die der britischen Verfassung nachgebildet sind. Man kann hier die Zweite Kammer vieler australischer Bundesländer anführen, deren eigentliche Aufgabe, nämlich die Nachprüfung von Gesetzen, nach Inkrafttreten der Bundesverfassung weitgehend obsolet geworden ist. 74 75 76

Cardozo, Growth, 249. Luhmann, Legitimation, 28. H. Johnson, 304.

8 Prott

114

III. Kap.: Das Akzeptieren der dynamischen Richterrolle

Die Sorge, daß ein ähnliches Schicksal dem Internationalen Gerichtshof bereitet werden könnte, wurde in der Sicherheitsrat-Debatte über den Ersuchensantrag für ein Gutachten über Namibia ausgedrückt: ,,[The Court] is one of the principal organs of the United Nations and the highest international authority on law. We in Finland consider that its role is essential for. the development of a peaceful international order. We are therefore very much concerned about the present state of affairs. An organ which is left unused is in danger of atrophy. The decline in the authority of the Court is damaging to the interests of the UN system as a whole and to the structure of international law. The request for an advisory opinion on a question of great interest to the international community would reactivate the Court at a particularly difficult time in its existence77... Es ist eine Voraussetzung dieser Studie, daß der Internationale Gerichtshof eine wesentliche Position in der internationalen Gesellschaft innehat, und daß er unentbehrlich ist; daß adäquate andere Institutionen für seine Aufgaben noch nicht existieren, und daß die Sicherung seiner Stellung in der internationalen Gesellschaft ein erstrebenswertes Ziel ist. Es sollte nicht vergessen werden, daß funktionelle Alternativen noch weniger befriedigend sein können als die, die sie ersetzen, und daß sie eine lange Zeit benötigen, um sich voll zu entwickeln. Während dieser Zeit besteht dann die Gefahr, daß die funktionellen Probleme vernachlässigt werden könnten. Sogar wenn die Ziele und Methoden einer Institution weitgehendst akzeptiert werden, darf dauernde Unterstützung nicht als selbstverständlich hingenommen werden. Jede Organisation muß immer wieder ihre Existenz in einer Weise rechtfertigen, die entweder breit akzeptiert wird, oder, wenn dies nicht der Fall, doch von einem größeren Teil der Öffentlichkeit7 8 • Das Akzeptieren einer Institution ist noch wichtiger, wenn es eine, wie es die Soziologen nennen, "Behandlungsorganisation" ist. Solche Organisationen haben " Klienten" anstatt "Kunden", d. h. "Mitwirkende" (oft zwangsweise), nicht bloße Benützer. Solche Organisationen sind etwa Krankenhäuser, Schulen, Kirchen und Gerichte. "Jede Behandlungsorganisation ist auf ein gewisses Maß an loyaler Mitwirkung ihrer Klienten angewiesen; wenn diese ihre Behandeltenrolle nicht akzeptieren und mit den Behandlern nicht kooperieren, dann kann die Behandlung nicht stattfinden ... Rollenverweigern wirkt wie jeder andere Boykott und Streik lähmend auf das betroffene Interaktionssystem 79 ." 77 Vertreter Finlands, UN Security Council, Official Records, 1550th Meeting 29. 7. 1970, Abs. 42. 78

79

H. Johnson, 310. Lautmann, Soziologie, 94.

3. Begriff und Bedeutung der Akzeptierung

115

Der Internationale Gerichtshof ist ebenfalls eine solche Organisation. Die Teilnahme seiner "Klienten" (Ablehnung der fakultativen Klausel) läßt schon seit langem zu wünschen übrig. Es zeigt sich, daß dieser Fragenkreis schon unter dem Stichwort "Vertrauen" behandelt worden ist. Es gibt einen guten Grund, hier diese Terminologie zu vermeiden, weil sie sehr oft mit einer einseitigen Untersuchung darüber verbunden wird, warum bestimmte Länder wenig Zutrauen zum Gerichtshof haben. Mit der Einsicht der Soziologie jedoch, daß alles Handeln Interaktion ist, und daß das Handeln jeder Seite auf das Handeln der anderen Seite zurückwirkt, wird versucht, den Fragenkreis zu untersuchen und festzustellen, was der Internationale Gerichtshof zu tun hat, damit ihm mehr Vertrauen entgegengebracht wird. Mit "Akzeptieren" geht einher das "Akzeptabelmachen"; das eine sollte nicht vom anderen geschieden werden. 3.2. Bestandteile des Akzeptierens

Das Akzeptieren eines Gerichts als dynamische Einheit ist das Gegenteil zum bloßen Überleben, unter dem der Internationale Gerichtshof leiden könnte, wenn ihm keine Fälle mehr zur Entscheidung vorgelegt würden. Das Akzeptieren als "Handelnder" scheint von zwei Fakten abzuhängen. Das eine ist das Ansehen, das das Gericht hat. Dieses basiert wiederum auf verschiedenen Tatsachen: dem Ansehen seiner einzelnen Mitglieder, seiner Autorität im Verhältnis zu anderen Einheiten in demselben System (dem Gesetzgeber, der Exekutive im Staat) und seiner Erfahrung: je länger der Gerichtshof existiert, desto mehr Gelegenheit hat er gehabt, seine Überzeugungskraft auszuüben und nachzuweisen, daß er des in ihn gesetzten Vertrauens würdig ist. Nach einiger Zeit ist auch er ein Bestandteil der allgemeinen kulturellen Tradition. Diese Elemente wurden schon in Kapitel II erörtert (§ 5.1.1.1). Das zweite Element, das entscheidend ist, um als "Handelnder" akzeptiert zu werden, ist die Leistung. Die Öffentlichkeit bildet sich ihre Meinung über die Leistung durch die Beobachtung einzelner Fälle. Wie kann man feststellen, ob der Gerichtshof die Erwartungen erfüllt, die an ihn als Regelanwender und Gerechtigkeitsgeber gestellt werden, wenn in einem Bruchteil der Fälle diese verbundenen Rollen nicht zueinander passen? Man beurteilt die Leistung von der Begründung der Entscheidung aus. Das Gericht versucht jede Entscheidung akzeptabel zu machen und die Zuhörer zu überzeugen, daß eine neue Entscheidung entweder (a) nicht neu ist (sie folgt einem Präzedenz-Fall, sie ist die logische Fortsetzung existierender Prinzipien usw.) oder

116

IH. Kap.: Das Akzeptieren der dynamischen Richterrolle

(b) aus anderen Gründen (hauptsächlich Gerechtigkeit) wünschenswert ist. Der Bundesgerichtshof z. B. hat im Lues-Fall die Rechtsfähigkeit eines Kindes bejaht, das einen Anspruch aus Schadensersatz für Schädigungen geltend macht, deren Ursache vor der Empfängnis des Kindes liegen (eine Frage, die im BGB nicht geregelt ist). Diese Entscheidung wurde folgendermaßen gerechtfertigt: "Die Rechtsordnung ist in dieser Hinsicht an das Phänomen der Natur gebunden. Sie kann und darf nicht an dieser Naturverbundenheit vorbeigehen. Was danach eine Verletzung oder Beeinträchtigung der Gesundheit ist, kann nicht mit logischen Begriffen der Rechtstechnik bestimmt werden, sondern ist, wie das Lebensgut der Gesundheit selbst, von Schöpfung und Natur vorausgegeben und muß von der Rechtsordnung, wenn sie daran Rechtsfolgen knüpft, als eine natürliche Wirksamkeit anerkannt werden 80 ." Lord Atkin rechtfertigte einen neuen Grundsatz im englischen Fall Donoghue v. Stevenson so: ,,1 do not think so ill of our jurisprudence as to suppose that its principles are so remote from the ordinary needs of civilized society and the ordinary claims it makes upon its members as to deny a legal remedy where there is so obviously a social wrong81 ." Welcher dieser Mechanismen vom Gerichtshof benützt wird, hängt sehr von der jeweiligen Gesellschaft ab, und kann sich von Zeit zu Zeit innerhalb dieser Gesellschaft ändern. Die erste Alternative aber wird in einer Zeit raschen Wandels immer unhaltbarer. Denn die Darstellung einer Reihe von Entscheidungen, die einen revolutionierenden Einfluß auf vorhandene Regeln haben, als lediglich einer weiteren Anwendung bereits vorhandener Regeln kann deren Glaubwürdigkeit erschüttern. Aber ausschließlich auf die zweite Art der Rechtfertigung zu bauen, würde zu noch mehr Unsicherheit führen. Nur ein Gericht, das allerhöchstes Ansehen genießt, könnte davon des öfteren Gebrauch machen. Gewöhnlich greift ein Gericht auf beide Methoden zurück wo zur Rechtfertigung Rechtsfortbildung erfolgt, ist die Darstellung und Sprache der Begründung innerhalb der traditionellen richterlichen Äußerungsweise festgelegt. Wie der Gerichtshof dies handhabt, ist in Kapitel IV beschrieben (§ 3.2). Das Ansehen und die Kraft der Überzeugung sind untrennbar verknüpft: "... la decision bien motivee apporte a ses auteurs un climat d'approbation de l'opinion, elle fait naUre la confiance82 ." Wenn ein Gerichtshof es versteht, die Parteien und die Öffentlichkeit zu überzeugen, dann genießt er ein höheres Ansehen als ein Gericht, 80 81 82

Luesfall, 247 - 248. Donoghue v. Stevenson, 583. Juret, 520.

4. Krise der Akzeptierung des IGHs

117

dem es an dieser Fähigkeit mangelt. Und der Verlust des Ansehens ist unumgänglich, wenn die Rechtfertigung und die Begründung der Entscheidung in wiederholten Fällen nicht zu überzeugen vermögen. Es lohnt sich, die Überzeugungskraft des Gerichtshofs zu untersuchen. Viele Fakten, die zum Prestige des Gerichtshofs beitragen, liegen außerhalb der Einflußsphäre von Juristen: das Personal wird von Politikern gewählt. Das mangelnde Ansehen des Gerichtshofs kann nur durch den Lauf der Zeit verbessert werden. Sich auf die richterliche Technik des Überzeugens zu konzentrieren, kann wesentlich dazu beitragen: die Analyse ihres Gebrauchs ist ganz besonders eine Aufgabe für Juristen; diese Technik ist selbst ein ganz wesentliches Element des Akzeptierens und wirkt auch auf das Element des Prestiges zurück:. 4. Krise der Akzeptierung des Internationalen Gerichtshofs

Aus den vorhergehenden Bemerkungen kann man schon entnehmen, daß die Technik der richterlichen Rechtfertigung zum reibungslosen Funktionieren jedes Gerichtshofs von entscheidender Bedeutung ist. Auf diese Weise teilt er seiner Zuhörerschaft (den Rollensendern) mit, wie eine Entscheidung sich dem bestehenden Regelmuster anpaßt und nimmt die Angst, daß die Rechtssicherheit gestört wird. Mit anderen Worten heißt das: die Spannungen, die aus der gelegentlich notwendigen schöpferischen (und deshalb sicherheitsstörenden) Rolle des Richters herrühren, werden gemildert, die Innovationen selber werden durch die besondere Technik der Rechtfertigung akzeptabel gemacht (womit diese Innovationen mit der bestehenden Tradition der Rechtskultur zusammengefügt werden) und die Betroffenen in der Gesellschaft sind überzeugt, daß die nötige schöpferische Tendenz in Grenzen gehalten worden ist. 4.1. Besonderheit des Akzeptierungsproblems beim Internationalen Gerichtshof

Die Probleme der zweifachen Richterrolle und der Aussöhnung der Rollenantinomien für den Richter selbst, und die Probleme, die sich daraus ergeben, daß man die Öffentlichkeit überzeugen muß, damit sie diese doppelte Tätigkeit akzeptiert, sind Kernprobleme für den Internationalen Gerichtshof. Obwohl derselbe psychologische Bedarf an Rechtssicherheit besteht, muß der IGH-Richter öfter eine schöpferische Rolle übernehmen83 , weil er häufig "aux confins du droit"84 ar83 84

Lauterpacht, Function, 110 ff.; de Visscher, Theories, 409 ff. de Visscher, Theories, 84.

118

IH. Kap.: Das Akzeptieren der dynamischen Richterrolle

beitet. Die kürzere Tradition des Internationalen Gerichtshofs bedeutet, daß die Kontrollelemente noch nicht gefestigt sind. Und die Geschwindigkeit des Umweltswandels und der Entwicklung der neuen Arten des internationalen Kontaktes bewirken bedeutend schneller einen Wandel als in einem nationalen Gesellschaftssystem und werfen deshalb Probleme auf, an die man vor einem Jahrzehnt noch nicht gedacht hat; so haben z. B. technische Entwicklungen ganz neue Fragen aufgeworfen (Festlandsockel, Raumflüge usw.); der immer enger werdende Kontakt der Völker und die Ausbeutung der Umwelt setzen neue Maßstäbe (kanadische Maßnahmen gegen Umweltverschmutzung der gefrorenen Nordzonen von fremden Schiffen, australische Maßnahmen gegen die Störung des biologischen Ausgleichs auf dem großen Korallenriff (Great Barrier Reef) durch fremde Fischer). Während der richterliche Entscheidungsprozeß in den meisten nationalen Systemen gründlich untersucht ist, ist er im Völkerrecht ziemlich vernachlässigt. Lauterpacht85 , de Visscher 86 und Fitzmaurice 87 haben etwas darüber geschrieben. Der Zeitraum, der zwischen der Erkenntnis der Rechtstheorie und deren Anwendung durch den Richter liegt, ist am Internationalen Gerichtshof noch größer als bei nationalen Gerichten; denn die Richter haben oft noch andere Positionen innegehabt, die ihrer Fortbildung auf diesem Gebiet hinderlich waren. Ein Botschafter oder Regierungsminister z. B. findet kaum die Zeit, über neue Richtungen der Rechtsphilosophie nachzudenken. 4.2. Kritik des Internationalen Gerichtshofs

Die Verkündigung der Entscheidung im Süd-West-Afrika-Fall 1966 hat eine Krise des Akzeptierens des Internationalen Gerichtshofs hervorgerufen. Es wurde derart massive Kritik am Internationalen Gerichtshof laut, daß es eine Zeitlang aussah, als ob das Fortbestehen des Gerichtshofs als funktionierende Organisation gefährdet sei. Kritik wurde geäußert über -

die ganze Durchführung des Falles durch das Gericht88 ; die Methode, die zur Lösung des Falls angewendet wurde 89 ; die Begründung der Mehrheitsentscheidung90 ;

Lauterpacht, Function, passim, Development, passim. de Visscher, Interpretation, bes. 9 - 44. 87 Fitzmaurice, Innovation, passim, Lauterpacht I, 14 - 23. 88 Jessup, Süd-West-Afrika-Fall 1966, Diss. Op., 323; Forster, Süd-WestAfrika-FalL 1966, Diss. Op., 482; HidayatulLah, 84 - 85. 89 Jessup, Süd- West-Afrika-Fall 1966, Diss. Op., 323. 90 Higgins, South West Africa, 579 ff.; Verzijl, 91 ff.; Friedmann, South West Africa, 3 ff.; Green, 514 ff. 85

86

4. Krise der Akzeptierung des IGHs

119

die persönliche Fähigkeit mancher Richter 91 ; -

die richterliche Philosophie einiger Mitglieder des Gerichtshofs 92 ;

und es wurden sogar Vorurteile und Parteinahme einigen Richtern unterstellt9s . Man muß zugeben, daß dies ein außerordentlich provozierender Fall war, weil es sich um eine brennende Frage handelte, nämlich um die Apartheid-Politik im Mandatsgebiet Süd-West-Afrika. Da der Gerichtshof schon vier Jahre zuvor entschieden hatte, er hätte die Kompetenz, die Substanz zu beurteilen, und er jetzt (1966) entschieden hat, daß dieselben Antragsteller sich auf diese Kompetenz nicht berufen könnten, und daß die Entscheidung nur mit der entscheidenden Stimme (7 für, 7 gegen) des Präsidenten bestimmt werden könnte, bietet der Fall naturgemäß viel Anlaß zur Kritik. Aber der Sache nach gibt es immer schwierige Fälle. Sawer zitiert einen englischen Fall, wo fünf angesehene Richter dafür, vier dagegen gestimmt hatten (wenn man die Entscheidungen des englischen Court of Appeals und der House of Lords zusammenfaßte)94. Auch das Berufungssystem hat eine Meinungsverschiedenheit nicht verhindern können. Jedoch hat der Fall weder das öffentliche Vertrauen in die beiden Gerichte erschüttert, noch die Qualifizierung und Motivation der Richter in Frage gestellt. Daß der Ständige Internationale Gerichtshof seine Akzeptierung besser als der jetzige Gerichtshof durchgesetzt hatte, zeigt sich aus der Bemerkung Rosennes über "the widely held satisfaction at its existence" . "It was never seriously suggested that the Court was unnecessary, or that it failed in its primary mission, or that its organization was fundamentally faulty, even in quarters which ... are critical of its decisions, or of the manner in which States sometimes invoke the judicial function 95." Derartiges wird über den Internationalen Gerichtshof gesagt96. Sogar der Präsident des Gerichtshofs hat zugegeben, daß "... in many quarters the question has been canvassed: ,What is wrong with the Court?'87." 91 UNGA Official Records, 21st Session, Item 66 (Provisional Agenda), Vertreter von Ghana, 1419. 92 Verzijl, 91 - 93; Green, 511 ff.; Friedmann, South West Africa, 4 - 5. &3 UNGA Official Records, 21st Session, !tem 66 (Provisional Agenda), von Vertretern von Guinea (1414); Upper Volta, UdSSR (1425); Iran (1427); Mali (1433). 94 Sawer, 104 - 105; Ridge v. Baldwin. 95 Rosenne, International Court, 13. 96 UNGA Official Records, 21st Session, Item 66 (Provision al Agenda), Vertreter von Haiti (1419), Upper Volta (1425), Tschechoslovakei (1425), Central African Republic (1427), Norwegen (1429).

120

III. Kap.: Das Akzeptieren der dynamischen Richterrolle

there is nothing sacrosanct about the International Court of Justice itself in its present form and structure ... the full potentialities of the present Court have perhaps not been explored, but if nonetheless it were felt that developments since 1922 require a different type of court, then it is up to the United Nations Organization to take the necessary steps to bring it into being98 ." Warum ist die Akzeptierung des Internationalen Gerichtshofs nur provisorisch? Ein Element dieses Faktums - das des allgemeinen An~ sehens - wurde in Kapitel II behandelt. Man muß jedoch einsehen, daß ein wesentlicher Grund dafür ist, daß die Rechtfertigungen des Internationalen Gerichtshofs nicht ausreichend überzeugen - nicht die ganze betroffene Gesellschaft überzeugen. Der Interessentenkreis hat sich geändert (Kapitel V). Um zu verstehen, wie der Gerichtshof auf die Erwartungen dieser neuen Rollensender reagieren wird, muß man auf das Verfahren richterlicher Rechtfertigung eingehen (Kapitel IV). Man muß feststellen, wie es funktioniert und warum es in nationalen Gesellschaftssystemen erfolgreich ist. Von besonderem Interesse sind in diesem Zusammenhang andere internationale Gerichtshöfe, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg und der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in Luxemburg.

5. Das Akzeptieren angesichts spezifischer eigentümlicher Institutionen des Internationalen Gerichtshofs Zusätzlich zu den erwähnten Elementen, die die Richterrolle im Internationalen Gerichtshof erschweren (mehrere Fälle, die eine präzise Rechtfertigung benötigen; Kontrollelemente, die nicht in einer langen Tradition gefestigt sind; rasche Entwicklung ganz neuer Probleme) muß man die zusätzlichen Schwierigkeiten der Kommunikation erwähnen: die Sprache und der Mangel an einer allgemeinen juristischen Kultur. Tatsächlich ist der Internationale Gerichtshof wegen des Mangels an allgemeiner internationaler Kultur in seiner Arbeit gehemmt; die Anzahl der Begriffe, die allen seinen Zuhörern gemeinsam ist, ist bedeutend geringer als. diejenige, die ein Richter eines nationalen Gerichts verwenden kann. Im Internationalen Gerichtshof existieren allerdings zwei besondere Mechanismen, die dieses Problem abschwächen. Es sind der ad hoc Richter und die Sondervoten (separate and dissenting opinions).

97 Rede des Präsidenten am 50. Jahrestag der internationalen Gerichtsbarkeit, ICJ Yearbook 1971 - 1972, 138. 98 Rede N. 97 oben zitiert, 139 - 140.

5. Ad hoc Richter und Sondervoten

121

5.1. Der ad hoc Richter

Wenn kein Mitglied des Richterkollegiums die Staatsangehörigkeit einer Partei hat, darf diese Partei einen ad hoc Richter ernennen (Statut, Art. 31). Viel ist über den ad hoc Richter am Internationalen Gerichtshof geschrieben worden 99 • In diesem Zusammenhang wird die Eigenart dieser Institution nur für den Bereich des Akzeptierens untersucht. Es ist als ein Phänomen in der Soziologie bekannt, daß scheinbar widersprüchliche Ansichten und Meinungen in ein und derselben Gesellschaft friedlich nebeneinander existieren können. Verschiedene Mechanismen sind entwickelt worden, um den unmittelbaren Kontakt zwischen den Gruppen zu vermeiden, die diese gegensätzlichen Meinungen vertreten. Einer dieser Mechanismen ist der "Mittelmann", dessen Meinung und Kultur flexibler ist und der deswegen mit jeder Gruppe gut auskommen kann 1oo • Dies scheint auch die Position des ad hoc Richters zu sein. Er ist von seinen Landsleuten ausgewählt worden, weil sie glauben, daß er auch ihre Werte und Normen vertritt. Gleicherweise ist er Jurist und soll Werte und Normen mit dem ständigen IGH-Richterkollegium teilen. Er muß dieselben Bedingungen erfüllen wie die übrigen Richter (Art. 31 (6». Der ad hoc Richter kann deshalb gut eine Vermittlerrolle spielen und eine Entscheidung für seine Landsleute akzeptabler machen als das Gericht es könnte101 • Das wäre sicherlich der Fall, wenn er gegen seinen Heimatstaat die Stimme abgegeben hat. Basdevant z. B. machte eine individuelle Meinungsäußerung im Minquiers und Ecrehos-Fall. Er hat mit der Mehrheit gegen die Behauptungen Frankreichs gestimmt. Er war hier kein ad hoc Richter, sondern ständiges Mitglied des Internationalen Gerichtshofs ("nationaler Richter"): jedoch zeigt sein Beispiel die wesentliche Rolle, die ein ad hoc Richter spielen könnte. Im umgekehrten Fall, d. h. wenn der ad hoc Richter für seinen Heimatstaat gestimmt hat, kann er auch diese Rolle spielen. Wenn er gegen die Mehrheit ist, hat er Gelegenheit, der Argumentation mit einer anderen Argumentation rein fachlich zu begegnen. Die Bedeutung des ad hoc Richters für das Akzeptieren wurde von Dillard anerkannt: ". " should the Opinion of the Court have been unfavourable to the interests of South Africa, the presence on the Court of a judge ad hoc, even in a dissenting capacity, would have added rather than detracted from the probative value of the Opinion 102 ." 99 Samore, Impartiality, 628 ff., National Origins, 206 ff.; Hin, passim; n Roh Suh, passim; Report of the Interallied Commission 1946, AJIL Bd. 39 (1945) Supplementary Section on Documents; Rosenne, International Court,

202 - 210. 100 101

N.2.

H. Johnson, 97.

Lauterpacht findet dieses Argument nicht überzeugend: Function, 235,

122

III. Kap.: Das Akzeptieren der dynamischen Richterrolle

Eine solche dissenting opinion mag im gegebenen Fall die Akzeptierbarkeit dieser Entscheidung nicht sehr fördern (obwohl es sein kann, daß der Verlierer zufrieden ist, seine Auffassung vertreten zu sehen und deshalb diese Entscheidung eher akzeptiert), aber zur Akzeptierbarkeit der gesamten Gerichtstätigkeit ist es sehr wichtig, daß die Partei weiß, daß jetzt die richterliche Alternative klar neben der Mehrheitsentscheidung dargestellt ist: ein Symbol, daß ihre Ansicht doch eine mögliche (obwohl hier abgewiesene) Rechtfertigung gewesen wäre, und sich eine Gelegenheit für die internationale Gesellschaft bietet, auf diese Meinung zurückzugreifen, wenn später die Mehrheitsbegründung nicht als befriedigend empfunden wird - eine Art ex post facta Rechtfertigung. Es ist deswegen ein Fehler der Mehrheit, die Argumentation einer abweichenden Meinungsäußerung des ad hoc Richters nicht zu beantworten. Solche Begründungen für eine andere Entscheidung wurden z. B. von Mbanefo im Süd-West-Afrika-Fall 1966 und von S"rensen im Festlandsockel-Fall abgegeben. Deshalb ist es für die weitere Diskussion förderlich, daß man jetzt die juristische Grundlage der Ansicht Süd-Afrikas, wie van Wyk, der sie seiner Meinung nach am besten präzisiert hat, gegen die anderen Meinungen in beiden Süd-West-Afrika-Fällen abwägen kann. Es ist schon passiert, daß der ad hoc Richter die einzige Stimme für die Ansprüche seines Heimatlandes abgegeben hat, z. B. Beb A Don im Nord-Kamerun-Fall, Holquin im Schiedsspruch-Fall. Aber wie Dubisson es ausdrückt:

" ... l'institution du juge ad hoc ... donne a cet Etat la certitude, s'il perd son proces devant la Cour, qu'il se trouvera au moins un juge pour exprimer, dans une opinion dissidente, les motifs juridiques qui auraient permis a la Cour de se prononcer dans un sens different. En d'autres termes, l'institution du juge ad hoc est un moyen pour les Etats plaidant devant la Cour de ne pas perdre la face 103 ."

Ein Weg, das Gesicht nicht zu verlieren, erhöht die Akzeptierbarkeit des Gerichtshofs. In jenen Fällen, wo der ad hoc Richter mit der Mehrheit für die Ansprüche seines Landes und ohne individuelle Meinungsäußerung stimmte, z. B. Mosler im Festlandsockel-Fall, kann er einen bedeutsamen Einfluß auf die Formulierung der Begründung gehabt haben. Wenn die Entscheidung jedoch auf anderen Gründen beruht, als diejenigen welche die Partei vorgetragen hat, dann macht die Zustimmung des ad hoc Richters diese Gründe akzeptabel. Wenn er ein Sondervotum abgibt, kann er unbeachtet gebliebene Gründe der Partei als 102 103

Dillard, Namibia-Gutachten, Sep. Op., 153. Dubisson, 65.

5. Ad hoc Richter und Sondervoten

123

alternative Begründung vertreten. Dies geschah z. B. im Süd-W estAfrika-Fall 1966. Der ad hoc Richter van Wyk war nicht zufrieden mit der Zurückweisung der Ansprüche Äthiopiens und Liberias gegen SüdAfrika durch die Mehrheit, mit der er stimmte, aufgrund des mangelnden "legal interest" der Kläger. Er gab eine separate opinion ab, in der er Süd-Afrika in der Substanz vollkommen zu rechtfertigen versuchte. Viele erfahrene Völkerrechtler, z. B. Lauterpacht104, Tanaka 105 , Hambro 106 und andere Autoren wie Samore 107 und Fasching 108 haben die Abschaffung des ad hoc Richters empfohlen. Andere Völkerrechtler haben eine vermittelnde Stellung gegenüber der Institution des ad hoc Richters eingenommen, obwohl sie die "broader considerations ... of a psychological character"109 nicht übersehen haben. Solche Entschuldigungen sind fehl am Platze, wenn man die Funktionen dieses Mechanismus analysiert. Er fördert die Akzeptierbarkeit der IGH-Arbeit, und wegen der schon geschilderten Elemente, die diese Arbeit im Vergleich zu nationalen Gerichten erschweren, ist die Hoffnung auf die Eliminierung dieser RichtersteIle nicht nur unrealistisch, sondern auch gefährlich. Dies ist eine der Stellen, wo eine funktionale Analyse viel bedeutsamer ist, als ein Zurückgreifen auf juristische Begriffe, die in nationalen Rechtssystemen entwickelt worden sind. Huber z. B., obwohl er "eine vernünftige Zurückhaltung" zu diesem Thema empfiehlt, schrieb "Il est incontestable que le systeme des juges ad hoc est contraire a la conception de la magistrature teIle qu'elle est con~ue depuis Montesquieu et surtout depuis l'avenement de l'etat constitutionel, liberal ou democratique du XIXme siec1e l1O ."

Die Funktionen der Gerichtsbarkeit zu Zeiten Montesquieus oder im 19. Jahrhundert waren ganz anders als die des Internationalen Gerichtshofs. Die Leistung der verschiedenen ad hoc Richter ist sehr unterschiedlich. Dies läßt sich aufgrund ihrer Sondervoten sagen. Auch in den inneren Verhältnissen des Richterkollegiums ist ihre Stellung nicht fest, wie von einem IGH-Richter bestätigt wurde: manche haben einen wesentlichen Beitrag zur Zusammenarbeit geleistet; andere dagegen haben sie sogar behindert. Es hängt sehr von der einzelnen Person ab, 104 105 106

107 108

Lauterpacht, Function, 233. Tanaka, World Law, 13. Hambro, Opinions - ICJ, 240, N. Samore, Impartiality, National Origins, passim. Fasching, 188 - 9.

Rosenne, International Court, 202. Report to the Institute of International Law de Droit International 45, Bd. I (1954), 428. 109

110

Annuaire de l'Institut

124

III. Kap.: Das Akzeptieren der dynamischen Richterrolle

was aus dieser Rolle gemacht wird. Es wird von Schücking in Bezug auf seine Arbeit als ad hoc Richter im WimMedon-Fall gesagt: "Schücking hat es ... verstanden, dem Amt des ,nationalen' Richters, das er als erster bekleidete, ... sogleich ein Ansehen, eine Würde zu verleihen, die es später nie wieder verloren hat111 ." Ein "Mittelmann" wird sich von beiden Seiten unter Druck gesetzt fühlen: er braucht von Anfang an eine geistige Flexibilität und Komprornißbereitschaft, die nicht immer zu finden ist. Die unterschiedliche Leistung der ad hoc Richter spiegelt die Ungewißheit dieser präzedentlosen Rolle wider und ist ein klares Indiz, daß viele ad hoc Richter nicht wissen, was von ihnen erwartet wird. Dies wurde bestätigt in einem Interview mit einem bekannten Völkerrechtler, der sagte, er hätte die Ernennung als ad hoc Richter abgelehnt: er glaube, es würde erwartet, daß der ad hoc Richter die Ansichten seines Staates vertrete, und das schiene ihm nur schwer vereinbar mit dem Richteramt. Ein IGH-Richter sagte in einem Interview, er hätte erlebt, daß ein ad hoc Richter, der in der Tat mit der Mehrheit stimmte, sich angestrengt hat, Gründe für eine abweichende Meinung zu finden. Es wäre sicher möglich, manche Nachteile dieser Institution durch eine bessere Auswahlsmethode zu vermeiden112 • Abschließend sei bemerkt, daß in keinem einzigen Fall der ad hoc Richter das Resultat verändert hat 113 • 5.2. Sondervoten ("separate and dissenting opinions")

Vom Gesichtspunkt des Akzeptierens aus hat auch das Sondervotum eine besondere Bedeutungl14 • Befindet sich ein Rechtssystem in einer Zeit großen Wandels, dann stellen Sondervoten legitime Alternativen dar, auf die man später zurückgreifen kann, wenn die von der Mehrheit vorgezogene Entscheidung später nicht mehr die richtige erscheint. Das Sondervotum ist so tief im Denken der amerikanischen Juristen verwurzelt, daß sie sich kaum ein internationales Rechtssystem ohne dies vorstellen können: sie haben zu oft erlebt, daß die gestern noch abweichende Meinung bereits das heutige Recht darstellt. Bei Gerichtshöfen, in denen die Fragenkreise von sozialen und wirtschaftlichen Elementen stark beeinflußt werden (z. B. Verfassungs recht) , 111

Hammarskjöld, 215. n Roh Suh, 231; Lauterpacht, Function, Lauterpacht, Function, 237; n Roh Suh,

235. 232 - 234. 114 Viel wurde über die Sondervoten am Internationalen Gerichtshof geschrieben. Wichtige Stellen sind Lauterpacht, Development, 66 ff.; Rosenne, International Court, 596 ff.; Hambro, Opinions - ICJ, Opinions dissidentes; Grieves, passim; Jenks, Common Law, 439 - 441. 112

113

5. Ad hoc Richter und Sondervoten

125

kann die abweichende Meinung eine Stabilitätsfunktion haben: sie ermöglicht eine noch nicht akzeptierte Innovation, die dennoch in späteren Fällen an eine Tradition anknüpfen kann. Das Völkerrecht befindet sich in einem Stadium der Entwicklung. Neue Interessen verlangen nach Beachtung: viele Rollensender erwarten, daß der Internationale Gerichtshof Fälle mit mehr sozialen und ethischen Elementen behandelt. Obwohl keine Bestimmung in der Gerichtsordnung enthalten ist, wurde z. B. das Recht auf Sondervoten in den Nürnberg- und Tokyo-Prozessen ausgeübt. Es existiert am Internationalen Gerichtshof (Statut, Art. 57) und am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, nicht aber am Gerichtshof der Europäischen Wirtschafts gemeinschaft. In den ersten vier Fällen waren oder haben die Gerichte auf das Akzeptieren durch die Öffentlichkeit gebaut: die Nürnberg-, Tokyo- und möglicherweise auch die Den Haager Gerichtshöfe, weil sie ziemlich radikale Innovationen ins Recht einfül.ren mußten, die sogar den Widerstand der juristischen Elite hätten wecken können; die Gerichte in Den Haag und Straßburg, weil sie manchmal die Unterstützung der Öffentlichkeit gegen ihre eigene Regierungen aufrufen wollen. Der Den Haager Gerichtshof hat noch weniger Autorität, die auf einer zwangsweisen Durchsetzung seiner Entscheidung beruht, als die drei übrigen Gerichte. Im Gegenteil, der Luxemburgische Gerichtshof braucht weniger die breite Öffentlichkeit zu überzeugen, weil er die Unterstützung der staatlichen Gewalt und der Juristen hat, die Fachmänner in einem hoch entwickelten Rechtssystem sind. Es ist deshalb nicht so wichtig, verschiedene Argumente anzuführen, um eine heterogene Zuhörerschaft zu erreichen. Ein Beweis, daß Sondervoten die Akzeptierbarkeit der allgemeinen Tätigkeit des Gerichtshofs fördern, ergibt sich daraus, daß die Vertreter der Regierungen sehr oft zum Nachweis ihrer eigenen juristischen Begründung die Meinung eines Sondervotums aufnehmen. In der Debatte 1966 über Süd-West-Afrika in der UNO-Vollversammlung hat z. B. der Vertreter Japans die Meinung Tanakas zitiert, der Vertreter von Chile eine frühere Meinung von Alvarez und der Vertreter Chinas die Meinung Wellington KOOS115. Die Gegner des Systems der Sondervoten kommen meistens aus kontinentalen Rechtskreisen, besonders aus Frankreich und aus Systemen, die von Frankreich stark beeinflußt sind, wie das niederländische und früher das schwedische Rechtssystem. Der Hauptgrund dieses Widerstands ist der Glaube, daß Sondervoten die Autorität des Gerichts115

1427.

UNGA Official Records, 21st Session, Item 66 (Provisional Agenda),

126

IH. Kap.: Das Akzeptieren der dynamischen Richterrolle

hofs beeinträchtigen116• Es muß aber betont werden, daß in diesen Ländern die Richter immer die juristischen Adressaten ansprechen. Die Interaktion zwischen Umwelt und Gerichtshof hat sich anders entwikkelt. Der Internationale Gerichtshof braucht das Akzeptieren eines viel breiteren Publikums. Es kann sein, daß Sondervoten, die raschere Entwicklung von Innovationen ermöglichen und eine bessere Stimmung für das Akzeptieren vorbereiten, keinen dauernden Schaden der Autorität des Gerichtshofs zufügenl17 • Man könnte sogar z. B. die Sondervoten der Minderheitsrichter im Süd-West-Ajrika-FaH 1966 als eine Rettung der Autorität des Gerichtshofs in den Augen vieler Rollensender ansehen. Es läßt sich die Tendenz feststellen, daß Richter aus dem französischen Rechtskreis selten ihre eigene Meinung äußern. In Gesprächen mit vier solcher Richter an drei verschiedenen internationalen Gerichtshöfen hat einer das Sondervotum ausdrücklich abgelehnt. Zwei, die am selben Gerichtshof tätig sind, sagten, sie würden dieses Recht nicht ausüben, obwohl sie einige Vorteile darin sähen; einer von ihnen sagte, er würde das Recht auf ein Sondervotum nie benützen, auch in den Fällen, in denen er eine andere Meinung für sehr wichtig hielte, was schon einmal geschehen sei. Der vierte Richter sagte, er hätte sich als Völkerrechtler so daran gewöhnt, er fände kein Problem darin und hätte selbst einige abweichende Meinungen geschrieben. Er würde diese Institution aber lieber nicht benützen, und würde ein Sondervotum nur dann schreiben, wenn er etwas für sehr wesentlich hielte. Diese Meinungen stehen im klaren Gegensatz zu der Stellungnahme eines Richters aus dem Common-Law-Rechtskreis, wie z. B. Spender. In den letzten Jahren gibt es Zeichen, daß auch Juristen aus Ländern mit kodifizierten Rechtssystemen die besonderen (und anderen) Funktionen des Sondervotums im Völkerrecht anerkennen und schätzen. Dubisson schreibt:

"Le systeme des opinions individuelles ou dissidentes ouvre, en effet, a l'Etat qui a accepte la juridiction de la Cour et qui perd le proces, la possibilite de voir la decision de la majorite mise en cause par un juge au moins I18 ."

Der spanische IGH-Richter de Castro hat diese neue Ansicht weiterentwickelt: "Les opinions dissidentes et individuelles sont critiquees, surtout dans les pays de systeme latin, parce qu'elles affaiblissent l'autorite des arrets: ce n'est pas la Cour, dit-on, mais une majorite minime qui decide; en outre, dans les opinions individuelles, certains des arguments sur lesquels

116

117 118

Fasching, 187 - 188. Lauterpacht, Development, 66. Dubisson, 245.

5. Ad hoc Richter und Sondervoten

127

repose l'arret sont mis en doute par des membres de la majorite. D'un autre cöte, les opinions montrent la vie, l'evolution de la doctrine juridique. Des opinions dissidentes sont le droit de l'avenir, d'autres traduisent la resistance des idees anciennes. Pour ma part, je crois a l' utilite des opinions individuelles; elles donnent la possibilite aux juges d'expliquer les raisons de leur vote. La red action de l'arret est une täche tres delicate car il doit refleter avec beaucoup de prudence le consensus de la majorite, et cela avec clarte, simplicite et sans equivoque. Dans ces conditions, si les raisonnements qu'un juge considere comme decisifs ne trouvent pas leur expression dans l'arret, 1'opinion individuelle permet de les indiquer. Elle offre un moyen de connaitre les raisons du vote des membres de la majorite et cela peut etre utile pour les etudes critiques des commentateurs119 ."

Der Internationale Gerichtshof kann sich nicht, wie ein nationales Gericht, nur auf seine Autorität verlassen. Er kann die Durchführung seiner Entscheidungen nicht erzwingen, er muß die Parteien überzeugen. Die Sondervoten können dazu helfen, wie Wellington Koo in einem Fall anerkannt hat: "I concur in the final conclusion reached by the majority of the Court in the case ... But I have arrived at it generally by a different line of reasoning. In my view it is also important that fuller consideration should have been given to the more pertinent submissions of the Parties so as to deduce additional reasons in support of the conclusion, thereby broadening and strengthening the basis of the Judgment1 20 ."

Dies ist auch die Meinung von Günther: "Dem betroffenen Staat ... kann - außen- wie innenpolitisch - die Befolgung einer Entscheidung mitunter bedeutend leichter fallen, wenn die Voten erkennen lassen, daß jedes auch noch so schwache, aber für ihn sprechende Argument von Richtern zumindest erwogen und zur Sprache gebracht worden ist, wenngleich es auch im Mehrheitsvotum weder positiv noch negativ Erwähnung fand I21 ."

Eine andere Funktion der Sondervoten ist die Schaffung einer Stimmung, die vielleicht noch nicht für das Akzeptieren wesentlich ist, aber es später sein kann. Ganz radikale Vorschläge, obwohl nie angenommen, können auf diese Weise einen nützlichen Einfluß haben. Hambro schätzt die Sondervoten von Alvarez: "Des idees comme la solidarite internationale et l'interdependence des peuples sont plus profondement enracinees dans le monde actuel a cause de son travail. On cite souvent ses idees sans se rendre compte que leur pere a ete le jeune enthousiaste de quatre-vingt ans. Beaucoup de ses idees et de ses express ions sont devenus notre propriete commune I22 ."

119 120 121 122

de Castro, ICAO-Rat-FaU 1972, Sep. Op., 116. WeUington Koo, Nord-Kamerun-FaU, Sep. Op., 41. Günther, 25. Hambro, Opinions dissidentes, 192.

128

IU. Kap.: Das Akzeptieren der dynamischen Richterrolle

Ein anderes gutes Beispiel ist die Arbeit Lauterpachts. Seine dissenting opinion im Interhandel-Fall hat den Vorbehalt "nationaler Kompetenz" (Connally reservation) zur Fakultativklausel kritisiert und behauptet, daß solche Vorbehalte die ganze Unterwerfungserklärung nichtig machten. Die Parteien, da alle Staaten auf diese Frage äußerst empfindlich reagierten und noch reagieren, hatten diese Frage gar nicht erörtert. Der Gerichtshof hat sie in seiner Begründung auch nicht behandelt. Jedoch hat die von Lauterpacht in Gang gesetzte Debatte zwischen den Juristen ein neues Element geschaffen, das später der Mehrheit Mut machen könnte, eine ähnliche strenge Meinung gegenüber der Praxis zu äußern. Diese kurze Skizze versucht nicht alle interessanten Fragen, die sich aus der Einrichtung des Sondervotums ergeben, zu erforschen. Wenn man jedoch versucht, neue Methoden am Internationalen Gerichtshof einzuführen, muß man vorher untersuchen, wie die abzuschaffenden Methoden in der Praxis funktioniert haben. Sondervoten abzuschaffen, wie es von Grieves vorgeschlagen wird, könnte eine Einbuße des Akzeptierens des Internationalen Gerichtshofs zur Folge haben, wenn sie nicht durch andere Mittel ersetzt werden.

IV. KAPITEL

Der richterliche Rechtfertigungsvorgang 1. Der Zweck der Begründung

Wie aus dem vorangegangenen Kapitel zu ersehen ist, ist die richterliche Begründung von Entscheidungen wesentlich, damit eine Judikatur akzeptiert wird. An ihr stellen die Rollensender grundsätzlich fest, ob ihren Rollenerwartungen entsprochen wird. Diese Überzeugungsfunktion der Begründung wurde schon von Theoretikern des Privatrechts anerkannt. Nach der neuesten Ausgabe von Sattelmacher sollen die Urteilsgründe den Leser überzeugen1 . "Die richterlichen überlegungen und Bemühungen in der Findung wie auch in der Begründung der Entscheidung gehen zu einem überragend großen Teil dahin, die letztere nicht nur durch ihre juristische Einkleidung abzusichern, sondern sie auch sachlich überzeugend oder doch akzeptabel und in ihrem konkreten Gerechtigkeitsgehalt plausibel zu machen 2 ."

Auch Luhmann sieht letztlich die Kommunikationsbereitschaft des Gerichtshofs als notwendigen Teil der Legitimation des Verfahrens an 3 •

Ob die Rolle des Internationalen Gerichtshofs akzeptiert wird, hängt zum größten Teil von der Überzeugungskraft seiner Begründungen ab. Deshalb beeinträchtigen die Benützung der Erklärungen oder bloße Stellungnahmen ohne Begründung die Autorität des Gerichtshofs 4 • Dies folgt auch aus dem Text der Gerichtsordnung (Art. 79 (2)). Die Richter spüren diese Notwendigkeit nicht immer. "I do not share the view of the Court. I consider that the Application of the Republic of Cameroon is admissible and that the Court has jurisdiction to examine the merits of the dispute of which it is seized 5 ."

Bei solcher Erklärung wird die interne Meinungsverschiedenheit über die Entscheidung deutlich, ohne daß die Gründe des Dissenses enthüllt werden. 1 2

3 4

5

Sattelmacher, 202. Esser, Vorverständnis, 8. Luhmann, Legitimation, 121 - 125. Hambro, Opinions dissidentes, 187. Spiropoulos, Nord-Kamerun-FaH, Erklärung, 39.

9 Prott

130

IV. Kap.: Der richterliche Rechtfertigungsvorgang

Aus der Begründung ersieht man nicht nur, ob der Richter die Haupterwartungen seiner Rolle erfüllt hat (die Unterstützung der Rechtssicherheit und die Förderung der Gerechtigkeit), sondern auch, ob andere Erwartungen zutreffen. z. B. ob er unparteilich verfahren ist. Wasserstrom bemerkt, wenn ein Richter Vorurteile habe oder einfach unfähig oder auch nur unaufrichtig sei, so könne und müsse er gleichwohl seine Gründe in annehmbarer Form vortragen. Stets wird von ihm verlangt, daß er die Gründe anführt, die dann zu einer offenen Diskussion und unparteiischen Kritik führen können 6 • Ein Richter, der gewissenhaft seine Rolle erfüllen will, wird sich bemühen, sein Publikum durch seine Begründung zu überzeugen. Die Begründung ist ein Teil menschlicher Interaktion, und die Reaktion der Adressaten der richterlichen Kommunikation wirken auf die Richter zurück. Obwohl die oft souverän klingenden Äußerungen der Richter dem naiven Beobachter den Eindruck geben können, daß sie sich um die Reaktion der Zuhörerschaft nicht viel kümmern, wird dieser Eindruck durch eine Untersuchung der richterlichen Empfindlichkeit auf Kritik (Kapitel I, § 4.2) widerlegt. Nicht zuletzt wissen die Richter auch, daß die Adressaten sogar gewisse Sanktionen anwenden könnten. Zumindest wird eine Entscheidung, deren Begründung nicht sachlich überzeugen kann oder nicht wenigstens akzeptabel oder plausibel erscheint, kritisiert werden. Diese Kritik wirkt auf die Richter zurück und beeinflußt den Rechtfertigungsprozeß in den späteren Sachentscheidungen ähnlicher Art. 2. Einsichten aus der Philosophie

Man hat die hier geschilderten Theorien der Argumentation wohl schon auf nationale Gerichte angewandt7, nicht aber auch die Tätigkeit des Internationalen Gerichtshofs. Diese Anwendung ist aber offensichtlich um so nötiger, als das internationale Recht weniger systematisch ist und mehr Lücken als ein nationales Rechtssystem aufweist. Der IGH-Richter kann sich daher weit weniger auf eine rein juristische system immanente Einsichtigkeit seines Spruches verlassen, als ein Richter eines nationalen Gerichts. 2.1. Rhetorische Argumentation (Viehweg)

Die Verschiedenartigkeit der richterlichen Argumentationsmethoden wurde von Viehweg auf die Tradition der rhetorischen Argumentation zurückgeführt. Der Schlüsselbegriff Viehwegs ist "Topik". Er legt die 6

7

Wasserstrom, 160.

z. B. auf das Common Law - System von Stone, System, 325 ff.

2. Einsichten aus der Philosophie

131

Geschichte dieser sehr alten Bildungsform des griechisch-römischen Kulturkreises dar, das durch Aristoteles und Cicero in die mittelalterliche Kultur tradiert wurde. Topik ist für Viehweg eine problemgebundene Denkweise8 • Mit Problem meint er jede Frage, die anscheinend mehr als eine Antwort zuläßt. Man muß deshalb einen Topos finden, auf den man sich einigen kann, um die Ebene der Erörterung herzustellen, auf der man zu einer akzeptablen Lösung finden kann 9 • Die Relevanz der Topik für die richterliche Begründungsargumentation liegt auf der Hand. Es gibt Topoi, die allgemein nützlich sind, und Topoi, die nur für einen bestimmten Fragenkreis geeignet sind10 • Überall ist die Kunst des Topikdenkens die eines prämissensuchenden Verfahrens l l . Diese Denkart ist daher besonders dort wichtig, wo ein bestehendes System fortentwickelt werden muß. So sagt Viehweg über das Streben der mittelalterlichen Glossatoren, das römische Recht einer ganz anderen Gesellschaft anzupassen: " ... auf diese Weise wird die Kontinuität und die Fortentwicklung einer rechtlichen Formenwelt ermöglicht. Nur so konnte die mittelalterliche Jurisprudenz das römische Recht fortentwickeln und ein gemeines römisches Recht vorbereiten. Das ist ein Verdienst der Topik. Die Systematisierung hätte wie eine Blockade gewirkt1 2." Die Notwendigkeit der Fortentwicklung des Völkerrechts zeigt, daß topisches Denken gerade in diesem Gebiet für die Argumentation geeignet ist.

Viehweg hat das Arsenal des topischen Instrumentariums geschildert. Er unterscheidet z. B.: die Sache als Ganzes betrachten (Definition, Zerlegung oder Bezeichnung) oder nur in bestimmten Relationen: Gattung, Art, Ähnlichkeit, Verschiedenheit, Entgegengesetztes, begleitende Umstände (Vorangehendes, Folgendes, Widersprechendes), Hintergründe, Wirkungen, Vergleichung l3 • Ein ausgezeichnetes Beispiel des Gebrauchs dieser Kategorien der Argumentation ist die Erörterung Altaros über den Begriff "EstoppeI" in seiner separate opinion im Tempel-FalZ, wo er mehrere dieser Topoi nacheinander benützte. Eine ausführliche Analyse dieser Argumentation befindet sich im Anhang "C".

Topoi können sich als Sätze oder als Begriffe offenbarenl4 • Ein typischer Topos für das Zivilrecht ist der Interessenbegriffl5 . Für das ComViehweg, 15. Viehweg, 16 ff. 10 Viehweg, 19. 11 Viehweg, 22. 12 Viehweg, 45. 13 Viehweg, 12. 8 9

9"

132

IV. Kap.: Der richterliche Rechtfertigungsvorgang

mon Law könnte man jeden Präzedenz-Fall als ein Topos betrachten. Es ist zu bemerken, daß Begriffe, die im nationalen System eine relativ feste Kategorie darstellen, im Völkerrecht als Topoi ein neues Leben gewonnen haben: z. B. Mandat, Verjährung, "trust", "estoppel". 2.2. Rhetorische Argumentation (PereIman)

Der belgische Philosoph Perelman hat gleichfalls über die rhetorische Argumentation geschrieben. Er griff damit eine berühmte Tradition wieder auf, die bis zu Aristoteles zurückreicht, aber seit Descartes im Abendland in den Hintergrund getreten ist. Die Theorie der Argumentation, die Kunst des Überzeugens und jener Teil der menschlichen Argumentation, der auf die strenge Folgerichtigkeit der Logik verzichtet, aber trotzdem seine Hörer überzeugt, wurde schlicht als "Rhetorik" verstanden. Erst der moderne Rechtsphilosoph, vor allem Perelman, sieht in diesen Techniken die "moyens de preuve utilises pour obtenir l'adhesion"16. Das heißt, es handelt sich hier um den bereits in Kapitel III behandelten Begriff des Akzeptierens. Die Techniken, die in dieser Art von Argumentation benützt werden, finden sich auf jeder Ebene: sowohl in der Unterhaltung am Familientisch als auch in einer Debatte unter Fachleuten. Als Beispiel dieser Art von Argumentation nennt Perelman die juristische Argumentation11. 2.3. Nicht-systematische Argumentation (Toulmin)

Die Ähnlichkeit zwischen den Thesen Viehwegs und Perelmans ist groß, und tatsächlich haben beide Autoren auf dieselbe klassische rhetorische Tradition zurückgegriffen. Ein anderer Autor, der britische Philosoph Toulmin, hat über die nicht-formelle Argumentation geschrieben. Seine Arbeit benützt andere Quellen als die rhetorische Argumentation. Er behauptet, daß in Wirklichkeit wenig systematisch gedacht wird. Im täglichen Leben versucht man zu bestimmen, ob ein Schluß gerechtfertigt ist, nicht ob er deduktiv unentrinnbar ist1 8 • Die Ähnlichkeit zu Viehwegs Theorie der topischen Argumentation, nach der Schlüsse "relevant", "irrelevant", "zulässig", " unzulässig " , " annehmbar", "unannehmbar", "vertretbar", "unvertretbar", "kaum

14 15 16

11 18

Viehweg, 20. Viehweg, 64. Perelman und Olbrechts-Tyteca, 1. Perelman und Olbrechts-Tyteca, 13. Toulmin, 7 - 8.

3. Rhetorische Argumentation im IGH

133

vertretbar", "noch vertretbar"19 sind und zu Perelmans "domaine ... du vraisemblable, du plausible, du probable"20 wird hier deutlich. 3. Rhetorische Argumentation im Internationalen Gerichtshof Die richterliche Argumentation ist ein gutes Beispiel dieser rhetorischen Tradition. Alle drei vorerwähnten Autoren haben sich auf Beispiele aus dem Privatrecht beschränkt. An ähnlichen Beispielen fehlt es indessen auch im Völkerrecht nicht. 3.1. Die spezifisch rhetorischen Argumente

Ein Merkmal der nicht-systematischen Argumentation ist die Benützung verschiedener Argumente, von denen kein einziges allein überzeugen könnte, sondern nur die Gesamtheit den Adressaten überzeugt. Die Stärke der Argumentation entstammt dieser Gesamtheit: die verschiedenen Argumente verstärken die Gesamtwirkung wie "die Beine eines Stuhls"21 oder "die Fäden eines Stoffes"22. Eine Anerkennung der Breite der topischen Argumentationswirkungen liegt in den Worten Tanakas:

"To reach a conclusion there may be found many concurrent reasons upon which adecision of the Court can be based. Some of them may be more immediate, essential and straightforward than others which are of indirect and subsidiary importance and serve simply to corroborate the principle reasons 23 ." 3.1.1. Argumentum ex concessis (Petitio PrincipiiJ24

Diese Technik besteht daraus, daß man den Gegner in Widerspruch zu seiner eigenen Aussage oder seinem Verhalten setzt. Dies ist eine zentrale Technik der juristischen Argumentation: im englischen Recht als "promissory estoppel" bekannt, und ein ähnliches Ergebnis wird im deutschen Recht teilweise durch die Doktrin "venire contra factum proprium" erreicht 25 • Im Prozeßrecht ist ein widersprüchliches Vorbringen nicht "schlüssig". Auch der Internationale Gerichtshof benützt diese Technik. "Thus, by South Africa's own admission, supervision and accountability were the essence of the Mandate ...28." 19 Viehweg, 24. Perelman und Olbrechts-Tyteca, 1.

20 21 22

23 24

25 26

Wisdom, 194. Perelman, 122. Tanaka, Barcelona (Aufschiebende Einrede)-Fall, Sep. Op., 65. Perelman und Olbrechts-Tyteca, 150. Esser, Schuldrecht Bd. I, 37. Namibia-Gutachten, 42, Abs. 81.

134

IV. Kap.: Der richterliche Rechtfertigungsvorgang

there are ... grounds upon which it can be maintained that the corporate veil must be lifted ... It would certainly seem that whoever else can adopt such an attitude it cannot be Spain - that Spain is indeed precluded from doing so, - because it is precisely Spain which in relation to the Barcelona Traction Company maintains that the Canadian nationality of the Company by incorporation is conclusive, and that its corporate veil cannot be lifted in order to take ac count of the non-Canadian shareholders lying behind it. Yet, paradoxically, that is just what Spain has sought to maintain in relation to Sidro-Sofina, - but not Barcelona27 • "

Der Richter Alfaro sah diese Technik als ein festes Prinzip des Völkerrechts an: "This principle, as I understand it, is that aState Party to an international litigation is bound by its previous acts or attitudes when they are in contradiction with its claims in the litigation 28 ."

3.1.2. Argumentum ad hominem29

Diese Technik besteht daraus, daß der Rhetor ein Argument benützt, das für einen bestimmten Kreis der Zuhörerschaft überzeugend ist, obwohl er weiß, daß es auf die gesamte Zuhörerschaft nicht überzeugend wirkt30• "If the view expressed in the Judgment was wh at the Principle Allied

and Associated Powers had in mind when they set up the mandates system and agreed to Article 7 (2) of the Mandate for South West Africa then the operation would appear to look like a form of chicanery practised on mankind in the name of civilization, a subterfuge ,intended to avoid, through its operation, the appearance of taking enemy territory as spoils of war'. I do not, however, believe that that was so and for that reason, I feel I cannot associate mys elf with the Court's interpretation of the Mandate31 ." "It would be incompatible with the principle of good faith to suppose that the mandatory Powers (including the Respondent) having voluntarily accepted the system did not intend really to co-operate for its complete success by respecting the principle of judical protection embodied in it3 2 ."

Wie erstaunlich passend sind doch diese beiden Argumentationen ausgewählt, um die europäische Zuhörerschaft zu treffen! Man kann sich vorstellen, daß die "Dritte Welt" als Zuhörer solche Unaufrichtigkeiten, wie sie Mbanefo und Wellington Koo andeuten, ohne Schwierigkeit glauben würde. 27 28 29 30

31 32

Fitzmaurice, BarceLona-FaU, Sep. Op., 91, Abs. 45. ALfaro, TempeL-FaU, Sep. Op., 39. PereLman und OLbrechts-Tyteca, 148. Vgl. § 4.2 unten. Mbanefo, Süd-West-Afrika-FaU 1966, Diss. Op., 491 - 492. WeHington KOD, Süd-West-Afrika-FaU 1966, Diss. Op., 226.

3. Rhetorische Argumentation im IGH

135

3.1.3. Das Ins-Lächerliche-Ziehen ("ridicule"J33 Dies ist eine Technik, die nur mit Vorsicht an internationalen Gerichtshöfen benützt werden darf. Sie kann aber sehr wirkungsvoll sein. "In particular it is true that one cannot understand or analyse the proceedings of a great international conference like those at Paris or San Francisco if one regards it as essentially the same as a meeting between John Doe and Richard Roe for the purpose of signing a contract for the sale of bricks 34 ." "I am not impressed by the argument that there was in 1939 no word for "territorial waters" in the language of Abu Dhabi, or that the Sheikh was quite unfamiliar with that conception ... Every State is owner and sovereign in respect of its territorial waters, their bed and subsoil, whether the Ruler has read the works of Bynkershoek or not. The extent of the Ruler's dominion cannot depend on his accomplishments as an international jurist35 ." In diesem letzten Beispiel ist zu bemerken, daß Lord Asquith das Prinzip allein schon im letzten Satz hätte bestätigen können. Um so wirkungsvoller ist die sarkastische Übertreibung, die vorangeht und den Grund legt für die ruhige Hinnahme dieses Prinzips bei den Adressaten.

3.1.4. Argument: Erscheinung / Wirklichkeit 36 Diese Technik ist ein Mittel der Ausschließung. " ... It is not in my opinion possible to regard instruments drawn up in emergency circumstances, for the protection of property in contemplation of war, and of a singularly predatory enemy (I am of course speaking of the nazified Reich, not of Germany or Germans under any normal circumstances) in the same light as instruments entered into at other times and in the ordinary way of business ... Outside of a mediaeval disputation, if ever there was a case for having regard to the reality rather than the form, this is surely it37."

"International law, being primarily based upon the general principles of law and justice, is unfettered by technicalities and formalistic considerations which are often given importance in municipal law ... It is the reality which counts more than the appearance. It is the equitable interest which matters rather than the legal interest. In other words it is the substance which carries weight on the international plane rather than the form 38." 33 34

35 36

37

Perelman und Olbrechts-Tyteca, 276. Jessup, Süd-West-Afrika-FaH 1966, Diss. Op., 353. Lord Asquith of Bishopstone, Abu Dhabi-Schiedsspruch, 253. Perelman und Olbrechts-Tyteca, 556 - 56!. Fitzmaurice, Barcelona-Fau, Sep. Op., 99.

136

IV. Kap.: Der richterliche Rechtfertigungsvorgang

3.1.5. Die Berechnung der Wahrscheinlichkeiten 39

Hier haben wir eine Kerntechnik aller Gerichtshöfe vor uns: sie kommt in der Beweiswürdigung häufig vor. Ein Beispiel ist die richterliche Leitung einer englischen Jury in Kriminalfällen, wenn sie überlegen muß, ob die Schuld "beyond reasonable doubt" festgestellt ist. Ein ähnliches Abwägen wurde vom Internationalen Gerichtshof im Korfu-Fall unternommen. "Une telle hypothese est trop invraisemblable pour pouvoir etre retenue 40 ." "Les Parties etant d'accord pour reconnaitre que le champ de mines avait ete mouille recemment, il faut en conclure que l'operation de mouillage a ete effectue au cours de la periode d'etroite surveillance dont ce secteur a ete l'objet de la part des autorites albanaises. Cette constatation rend apriori assez peu vraisemblable l'allegation d'ignorance chez le Gouvernment albanais 41 ."

Noch ein weiteres deutliches Beispiel zeigen die Überlegungen Fitzmaurices: "This brings me to the inherent probabilities affecting this matter, namely that the Trust Deeds would (as Belgium asserts they did) have contained a clause providing for the termination of the situation they created, so soon as an agreed period after the end of the war had elapsed, - for it is hardly credible that Sidro (Sofina) would, even to avoid enemy seizure, have signed away all future control over their shares without some such guarantee of eventual retrocession ... It has to be admitted that in the absence of the relevant instruments, the foregoing conclusion can only be conjectured. But it is I believe a reasonable conjecture, warranted by those facts which are known, and by the probabilities involved 42 ."

3.1.6. Das Argument der Autorität43

Dieses Argument besteht aus dem Gebrauch der Meinung einer Person oder einer Gruppe von Personen als Beweis. Auch dies ist eine klassische Technik aller Rechtssysteme, wenn man sich nämlich auf einen berühmten Juristen beruft (römisches Recht vor Justinian), auf ein Gesetzbuch (Corpus Juris im Mittelalter und moderne Gesetzbücher), auf bestimmte Kommentatoren (Glossatoren im Mittelalter, wissenschaftliche Meinung im deutschen Rechtssystem) oder auf Präzedenzfälle (Common Law). Der Mechanismus ist jeweils derselbe.

38 39 40

41 42

43

Wellington Koo, Barcelona (Aufschiebende Einrede)-Fall, Sep.Op., 62 - 63. Perelman und Olbrechts-Tyteca, 344. Korfu-Fall, 15. Korfu-Fall, 19. Fitzmaurice, Barcelona-Fall, Sep. Op., 98. Perelman und Olbrechts-Tyteca, 410.

3. Rhetorische Argumentation im IGH

137

Die Richter des Internationalen Gerichtshofs benützen diese Technik auch. Sie zeigt sich in der Rücksicht auf Präzedenzfälle, was für viele Streitfälle zu beweisen ist. Die Technik sollte aber nicht übertrieben werden. Wenn diese Methode alle anderen rhetorischen Argumente überwiegt, wirkt die Begründung weniger überzeugend und stilistisch abstoßend 44 : z. B. die Argumentation von van Wyk im Süd-WestAfrika-FalZ 1962, in dem er zwölf Auszüge von Entscheidungen und Verfassern zitiert und dreizehn andere Quellen erwähnt45 • Man könnte noch andere Argumente aus der von Perelman dargestellten Fundgrube hinzufügen: Analogie, die angebliche Konsequenz, Reductio ad absurdam, der Effektivität usf. Die obengenannten Beispiele reichen aus, die hier aufgestellte These des rhetorischen Charakters der IGH-Argumentation zu bestätigen. 3.2. Der Aufbau der Argumentation

Der vorangehende Abschnitt zeigte an Hand von Beispielen die verschiedenen Techniken der Rhetorik, wie sie auch vom Internationalen Gerichtshof angewendet werden. Noch interessanter ist aber der Aufbau der gesamten Argumentation. Alles andere als gemessenes Fortschreiten von Satz zu Satz und von Syllogismus zu Syllogismus, ist es ein kompliziertes Gewebe der Rechtfertigung, das bei den besten Beispielen zu fast jeder Waffe greift, die dem Richter verfügbar ist. Welche Waffen verfügbar sind, wird von der Rechtstradition bestimmt: diese schließt z. B. Beleidigung und argumentum ad person am aus, wenn es sich nicht gerade auf die aktenkundigen Tatsachen bezieht. Die Argumentation des Internationalen Gerichtshofes neigt zu Länge und Komplexität: zwei Muster für ihren Aufbau mögen genügen. Es gibt kaum ein Beispiel, wo eine Entscheidung des Internationalen Gerichtshofes auf ein einzelnes Argument gestützt worden ist. Meistens ergibt sich die Entscheidung aus einer ganzen Reihe von Argumenten, deren jedes den Schluß unterstützt, aber keines allein diesen befriedigend bestätigen könnte. Die Struktur der Argumentation gleicht eher einem Gebäude als einer Kette. 3.2.1. Das Namibia-Gutachten

Eine Aufgliederung und Untersuchung der Argumente für das Fortbestehen des Aufsichtsrechts des Süd-West-Afrika-Mandats soll den typischen Gesamtaufbau eines IGH-Urteils verdeutlichen46 • Die Be44 45 46

Cardozo, Literature, 352 ff. van Wyk, Süd-West-Afrika-Fall1962, Sep. Op., 577 - 579. Namibia-Gutachten, 28 - 32.

138

IV. Kap.: Der richterliche Rechtfertigungsvorgang

gründung zitiert (Absatz 45) Artikel 22 des Mandatsinstruments und sagt dann: "Thus the reply to the question, qui custodiet ipsos custodes, was given in terms of the mandatory's accountability to international organs."

Aber warum war dies die zentrale Frage unter all den wesentlichen Fragen, die die neue Institution des Mandats im Völkerrecht aufgeworfen hat? Es ist interessant zu sehen, wie der Gerichtshof versucht, die Parteien zu überzeugen. Absatz 43--47 Zunächst wird der Boden vorbereitet: Auszüge aus dem Gutachten 1950 werden zitiert, die dieses Prinzip bestätigen und Auszüge der Mandatsbestimmungen wiedergegeben, die (so der Gerichtshof) das Prinzip erläutern. Das bedeutet eine Berufung auf eine Autorität. 48

Das Prinzip selbst, als allgemeines Prinzip auf latein dargestellt, ist eine andere Art der Berufung auf eine Autorität.

50

Das Argument Südafrikas, daß das Wesen der Aufsichtspflichten im Widerspruch zu dem Vorhaben der Parteien steht, wird zurückgewiesen. "It cannot tenably be argued that the c1ear meaning of the mandate institution could be ignored by placing upon the explicit provisions embodying its principles a construction at variance with its object and purpose. " Es ist sicher kaum nötig zu bemerken, daß dies nach strenger Logik ein Zirkelschluß ist, denn "Zweck und Ziel" des Mandats ist gerade der in Frage stehende Begriff. Die spätere Entwicklung des Völkerrechts zu abhängigen Gebieten wird geschildert, d. h. ein neues Argument wird eingeführt, gewissermaßen eine halb verhüllte Anspielung zugunsten des Fortschritts (ein oft benutztes rhetorisches Argument).

52

53

Der Inhalt des Mandats sei nicht statisch, sondern entwicklungsbedürftig - ein weiterer Hinweis auf den Fortschritt.

54

Schließlich wird das Prinzip wiedergegeben und wird noch durch ein anderes Zitat aus der Entscheidung von 1962 unterstützt. (Noch eine Berufung auf die Autorität.)

Wie man sieht, stellt das Gericht das Prinzip nicht mittels einer Demonstration seiner logischen Unentbehrlichkeit fest, sondern mit verschiedenen Argumenten verschiedener Arten. 3.2.2. Der Festlandsockel-Fall

Die Komplexität einer Gesamt-Begründung wird im FestlandsockelFall gut aufgezeigt. Die Argumentation der Mehrheit ist so gestaltet: Absatz 12 Die Tatsachen werden dargelegt.

3. Rhetorische Argumentation im IGH

139

13-14 Die Behauptungen Dänemarks und der Niederlande werden ohne

Bemerkung wiedergegeben. 15

Deutschlands zwei Hauptargumente werden festgestellt: (i)

zum einen ist es zu einem "just and equitable share" berechtigt,

(ii) zum anderen gibt es hier auf jeden Fall besondere Umstände,

warum eine Abweichung von der Gleichabstandsregel ("equidistance rule") erlaubt ist. 16

Deutschlands Argument (i) wird zurückgewiesen.

21

Die dänisch-niederländische Behauptung, daß die Gleichabstand-besondere-Umstände-Regel auf jeden Fall Deutschland verpflichte, wird durch folgende Gründe zurückgewiesen:

23-24 Bequemlichkeit bedeutet nicht Verbindlichkeit 25

Deutschland hat die Regel der Genfer Konvention nicht angenommen

26

• Deutschland war keine Partei

27

• Die Regel ist nicht Gewohnheitsrecht geworden

29

• Deutschland hat sie durch sein Verhalten nicht angenommen

29

• Deutschland hätte einen Vorbehalt zu der Konvention eintragen

lassen können. 34-36 Die existierende dänisch-niederländische Abgrenzung des Festland-

sockels muß deshalb auf irgendeine andere Weise gesucht werden. 37

Die Behauptung, daß die Gleichabstands-Regel jetzt ein Teil des positiven Rechts sei, wird zurückgewiesen:

38

A: sie ist nicht immanent dem Begriff "Festlandsockel".

39

Argument der "proximity"

40

• möge manche Kraft haben, aber folge nicht unerläßlich vom Festlandsockelprinzip ; • sei nicht von der Bedeutung heutiger Terminologie impliziert.

41-42 43

Argument der "natürlichen Prolongation"

44

• weder wie von Dänemark/Niederlande • noch wie von Deutschland geschildert, wird es vom Gerichtshof akzeptiert.

45-46 -

Die Praxis beweise, daß dieses Prinzip nicht im Festlandsockel innewohne.

47-54 -

Die Geschichte des Ursprungs und der Entwicklung des Gleichabstandsprinzips wird dargestellt.

55

-

Das Prinzip sei zu keiner Zeit als unentbehrlich aus dem Festlandsockelbegriff abzuleiten.

57-58 -

Die verwirrende Wirkung der Gleichabstandslinien wird bemerkt.

60

B: sie ist nicht im positiven Recht geregelt.

61-64 -

weder vor der Genfer Konferenz;

65-69 -

noch in der Genfer Konvention;

140

IV. Kap.: Der richterliche Rechtfertigungsvorgang

70-81 -

82

noch seit der Konvention.

Kurzum sei die Gleichabstands-besondere-Umstände-Regel weder durch Logik (A) noch durch positives Recht (B) verbindlich geworden. Deshalb brauche man das Argument "besondere Umstände" nicht zu prüfen.

83-89 Die Schritte werden dargestellt, die die Parteien in der Festlandsockelabgrenzung ergreifen sollen.

100

Eine Bemerkung über die gesamte Denkweise des Gerichts wird gemacht.

Der ganze Aufbau dieser Argumentation läßt ganz wesentliche Eigenarten erkennen: Zunächst kommt die Darstellung der Tatsachen. Die präzise und affektlose Wiedergabe der Lage zeigt die Ausgewogenheit und die der Entscheidung innewohnende Sachlichkeit. Dann, obwohl die Grundlage der Entscheidung die Zurückweisung der Ansprüche Dänemarks und der Niederlande ist, fängt das Gericht mit der Zurückweisung eines deutschen Argumentes an. Dieses Verfahren bestärkt den Eindruck, daß der Gerichtshof bestrebt war, die sich widersprechenden Ansprüche neutral abzuwägen. Als nächstes kommen die Sachargumente, wobei jede Zurückweisung auf zwei, drei oder vier Gründe gestützt ist. Sogar das Argument der logischen Unentbehrlichkeit - daß die Gleichabstandsregel apriori im Festlandsockelbegriff notwendigerweise impliziert sei - wird nicht mit den Waffen reiner Logik zurückgewiesen: der Gerichtshof bemüht sich, die Unklarheiten und Randnuancen der Worte zu klären (Absätze 41- 42). Obwohl das Argument alles andere als ein formelles logisches Argument ist, bemüht sich der Gerichtshof am Ende seiner verschiedenen Argumente, auch die Erwartungen der Zuhörerschaft zu befriedigen, daß die Entscheidung systematisch-logisch sein soll: "In these circumstances, it seems to the Court that the inherency contention as now put forward by Denmark and the Netherlands inverts the true order of things in point of time and that, so far from an equidistance rule having been genera ted from an antecedent principle of proximity inherent in the whole concept of continental sheIf appurtenance, the latter is rather a rationalization of the former - an ex post facto construct directed to providing a logical juristic basis for a method of delimitation propounded largely for different reasons, cartographical and other. Given also that for the reasons already set out (paras 40--46) the theory cannot be said to be endowed with any quality of logical necessity either, the Court is unable to accept it 47."

41

Festlandsockel-Fall, 36, Abs. 56.

3. Rhetorische Argumentation im IGH

141

Wenngleich das Gericht seine Argumente nicht auf deduktive Logik gründet, fühlt es sich verpflichtet, ein Argument, das nur auf formeller Logik gegründet ist, in logischer Terminologie zu beantworten. Jeder Schluß wird von einer Wiederholung am Ende des Abschnittes bekräftigt, der ihn behandelt. Dies ist eine wichtige Technik, wenn die Argumentation so lang und ver~ickelt ist, wie im vorliegenden Fall. Schließlich versucht der Gerichtshof in Absatz 83 ff., die Parteien zu beraten, zu trösten und zu beruhigen und schlägt Mittel und Wege vor, solche Konflikte in Zukunft zu vermeiden (lange Analyse der Billigkeitsprinzipien). Diese Prinzipien sollen die endgültige Lösung dieses Konfliktes herbeiführen. Man kann diese Begründung schlechthin als Modell der besten Tradition westlicher richterlicher Argumentation bezeichnen. Während des sorgfältigen Abwägens der widersprechenden Behauptungen der Parteien, das mit allen möglichen rhetorischen Techniken durchgeführt wird, benützt das Gericht, gemäß der Tradition westlichen Denkens, die Worte der Logik oder Pseudo-Logik wie "validity", "validate" (Abs. 36), "no valid conclusions can be drawn" (Abs. 68), "a priori logical necessity" (Abs. 38), "inference" (Abs. 39) usw. Beispiele hierfür stehen in fast jedem Absatz, obwohl nicht versucht wird, die ganze Entscheidung in streng systematische Form zu kleiden oder vorzutäuschen, daß der Gerichtshof nur ein Rechtsprinzip anwendet. Im Gegenteil, der letzte Absatz drückt sehr realistisch aus: "As the Court has recalled in the first part of its Judgment, it was the Truman Proclamation of 28 September 1945 which was at the origin of the theory, whose special features reflect that origin. It would therefore not be in harmony with this history to oversystematize a pragmatic construct the developments of which have occurred within a relatively short space of time48 ." 3.3. Anerkennung der nicht-systematischen Denkweise im Internationalen Gerichtshof

Obwohl der Internationale Gerichtshof logische Terminologie als eine der Techniken der Überzeugung benützt, bedient er sich manchmal bewußt der nicht-systematischen Denkweise. Das letzte Zitat ist ein Beispiel dafür. Noch ein anderes findet sich in dem gleichen Fall, in dem das Gericht eine Tatsache anerkennt als "not in itself conclusive, but to be noted ... which at least adds to the difficulties involved by the Danish-Netherlands contention" (Absatz 26). Als letztes Beispiel darf man das bewußte Inkaufnehmen eines klaren logischen Widerspruchs zitieren, bei dem man auf jede Apologetik verzichtet: 48

FestLandsockel-Fall, 53, Abs. 100.

142

IV. Kap.: Der richterliche Rechtfertigungsvorgang

"In general, the non-recognition of South Africa's administration of the territory should not result in depriving the people of Namibia of any advantages derived from international co-operation. In particular, while official acts performed by the. Government of South Africa on behalf of or concerning Namibia after the termination of the Mandate are illegal and invalid, this invalidity cannot be extended to those acts, such as, for instance, the registration of births, deaths and marriages, the effects of which can be ignored only to the detriment of the inhabitants of the Terri tory49. "

Ein solches Selbstbewußtsein kann nur auf die Erkenntnis zurückgeleitet werden, daß systematisches Denken anderen wertenden Überlegungen (in diesem Fall zugunsten menschlicher Erleichterungen) Platz machen muß. De Visscher spricht von lIdes operations mentales dont l'infinie diversite et la souplesse defient toute systematisation ... les criteres traditionnels d'interpretation n'en sont moins l'un des aspects de l'armature logique que revet le raisonnement au service de la raison et de la bonne foi so ."

Man ist versucht zu fragen, wieso man je geglaubt hat, daß systematisches Denken eine Entscheidung beherrscht, wenn die rhetorische und offene Argumentation in ihr so klar hervortritt. Der amerikanische Rechtsphilosoph Wasserstrom erklärt die Lage im Common Law: "If one were to look no further than the opinions that judges write to accompany their decisions, it would not occur to one that the decision process could be anything but deductive. For it is one of the curious features of Anglo-American case law that regardless of the way in which a given decision is actually reached, the judge apparently feels it necessary to make it appear that the decision was dicta ted by prior rules applied in accordance with canons of logic ... It would be incorrect to ascribe to the judiciary sinister motives of any kind ... The fact that ... opinions obscure rather than illuminate the judicial process indicates that the departure from the deductive model is effected quite unconsciously51."

Die Elemente, die in der Tat die richterliche Fortbildung stimulieren und kontrollieren, wurden bis. heute kaum anerkannt; die alleinige Garantie der Rechtssicherheit schien in der Kontrolle durch ein strenges Systemdenken zu liegen. Die Methode logischen Denkens wurde unter dem Einfluß Descartes die einzige annehmbare Argumentationsweise. Das heißt, wEmn Richter westlicher Rechtssysteme überzeugen wollten, mußten sie ihre Argumentation logisch einkleiden, sogar wenn dies die wirkliche Natur der Argumentation verschleierte. Das Systemdenken hat in Rechtssystemen des deutschen Rechtskreises eine besonders starke Tradition. Der Österreicher Reut-NicoNamibia-Gutachten, 56, Abs. 125. de Visscher, Interpretation, 19. 51 Wasserstrom, 17. 49

50

4. Der angesprochene Interessentenkreis

143

lussi z. B. hat es für selbstverständlich gehalten, daß eine Abweichung vom strengen syllogistischen Denken im Völkerrecht Parteilichkeit und "falsche" Entscheidungen fördert 52 • Daß die Gebote des Systemdenkens sogar im deutschen Recht nur eine Schimäre sind, zeigt der Lues-Fall. Die herrschende Argumentation war hier nicht die Unterordnung des Schadens unter der festen Kategorie "Schaden", sondern vielmehr unter die Topik "menschliches Leben" - mit allen emotionellen Nuancen dieses Begriffs, die das Gericht gut ausgenutzt hat53 • Ein anderer bekannter Fall von "Unlogik" ist der Teppichrolle-Fall. Die Klägerin machte einen Anspruch auf Schadensersatz geltend, da eine Rolle Linoleum, die sie in einem Warenhaus kaufen wollte, durch ein Versehen eines Angestellten umgestürzt war und sie verletzt hatte. Wäre ein Vertrag vorhanden gewesen, hätte sie einen Rechtsanspruch gegen das Warenhaus geltend machen können. Um ihren Anspruch auf Schadensersatz nicht auszuschließen, nahm das Gericht Zuflucht zu einem "vertrags-ähnlichen Verhältnis". Diese ad hoc-Konstruktion erlaubte ein Ergebnis, das durch das Rechtsgefühl der Zeit geboten schien. Man kann aber die Wahl der Kategorie "Vertrag" kaum als systemehrlich' ansehen. Die deutsche Tradition des Systemdenkens ist vielleicht besonders auffallend54 ; dennoch ist diese Denkweise ein allgemeiner Zug jeder Rechtskultur in Westeuropa. 4. Der angesprochene Interessentenkreis ("l'auditoire") 4.1. Bedeutung für die rhetorische Argumentation

Bezugspunkt für die Entwicklung rhetorischer Argumentation ist das Auditorium oder Interessentenkreis: "C'est en fonction d'un auditoire que se developpe toute argumentation 55 ." Der Einfluß der potentiell Angesprochenen auf die Gestaltung der Argumente ist ebenso wichtig, wie der Einfluß der Rollensender auf die Rollenleistung. Mit potentiell Angesprochenen wird natürlich im Falle einer geschriebenen Argumentation der "Leser" eingeschlossen. Bei einer Leserschaft ist die Rückwirkung auf den Verfasser zwar mittelbarer, aber doch unvermeidlich. Jede Abhandlung, ob mündlich oder schriftlich, ist an ein Auditorium gerichtet56 • Der Redende ist, wenn er Erfolg haben will, verpflichtet, 52

53 54

55 56

Reut-Nicolussi, 216 - 217.

Eine ausführliche Darstellung dieses Falls steht im Kapitel III, § 3.2. Vgl. andere Beispiele der Ergebnisstrategie in Lautmann, Gewalt, 81 ff. Perelman und Olbrechts-Tyteca, 7. Perelman und Olbrechts-Tyteca, 9.

144

IV. Kap.: Der richterliche Rechtfertigungsvorgang

auf den Horizont seiner potentiellen Interessenten einzugehen, und er begreift schnell, daß die am besten wirkende Begründung für seine nicht fachmännischen Interessenten keineswegs stets die ist, die den Redenden selbst überzeugt 57 • So ist es das "Auditorium" welches die Art und Qualität der Argumentation bestimmt58 • Wenn ein Gericht seine Recht erwartende Umwelt nicht mehr überzeugt, können sich bedrohliche Konsequenzen für den Fortbestand dieser Gerichtsbarkeit ergeben. Denn die Klienten eines Gerichtshofs können die Kompetenz weitgehend entziehen dadurch, daß sie andere Mechanismen bevorzugen wie z. B. in Handelsfällen die Schiedsgerichtsbarkeit den normalen Gerichten bevorzugt werden. In diesem Zusammenhang - was die Notwendigkeit der Einfühlung betrifft - muß man bemerken, daß Inhalt und Form gewisser Argumente, die unter den gegebenen Umständen als richtig erscheinen, in anderen Umständen sogar lächerlich wirken können59 • Es gibt gewisse Verhaltensgrundsätze, die der Redende seinen Adressaten gegenüber nicht vernachlässigen sollte: "Les etres qui veulent compter pour autrui, adultes ou enfants, souhaitent qu'on ne leur ordonne plus, mais qu'on les raisonne, qu'on se preoccupe de leurs reactions, qu'on les considere comme des membres d'une societe plus ou mo ins egalitaire. Celui qui n'a cure d'un pareil contact avec les autres sera juge hautain, peu sympathique, au contraire de ceux qui, quelle que soit l'importance de leurs fonctions, n'hesitent pas a marquer par leurs discours au public, le prix qu'ils attachent a son appreciation 60 ." Es könnte kaum eine besseres BesChreibung der Empfindlichkeit der heutigen neuen Interessenten des Internationalen Gerichtshofs geben. Faßt ein Gericht wirklich einen angebbaren Interessentenkreis ins Auge, wenn es eine Begründung redigiert? Einer der IGH-Richter hat in einem Interview mit der Autorin gesagt, er richte sich an keinen Menschenkreis, er drücke schlechthin seine eigenen Überlegungen aus. Dies war indessen ein Einzelfall, der vielleicht auf mangelnder Reflexion beruht, denn andere Richter haben verschiedene Interessentenkreise genannt. Im ersten Falle wurde zweifellos die subtile Rückwirkung des Verständnisses der anderen auf den Richter nicht bewußt gemacht. "Der Vorgriff auf die tentativ als gerecht vorgestellte Lösung, die Auswahl an Argumenten, Begriffsabwandlungen und Interpretationsmitteln erfolgt unter dem Gesichtspunkt einer vom Rechtsanwendenden vorgePerelman und Olbrechts-Tyteca, 9. Perelman und Olbrechts-Tyteca, 32. 59 Perelman und Olbrechts-Tyteca, 33. Luesfall könnten einen Laien z. B. lächerlich 60 Perelman und Olbrechts-Tyteca, 21. 57 58

Die juristischen Argumente im erscheinen.

4. Der angesprochene Interessentenkreis

145

stellten und akzeptierten Erwartungslage - und dies nicht nur seitens der Prozeßparteien ... sondern potentiell seitens aller von dieser Rechtsauslegung Betroffenen und an dieser Rechtsentwicklung Interessierten 61 ."

Bewußt oder unbewußt ist der Richter auf den Horizont des Adressaten angewiesen. 4.2. Elemente des Interessentenkreises

Wer bildet das "Auditorium"? Nach Perelman ist es "l'ensemble de ceux sur lesquels l'orateur veut influer par son argumentation"62. Für Gerichte sind die alle potentiell interessiert, die für das künftige Akzeptieren des Gerichts von Bedeutung sind. Sie sind die "rechtserwartende Umwelt"63, die Rollensender eines Gerichtshofs und man kann sie katalogisieren (Kapitel I, § 3.1 ff.). Wenn der Redende zu einem gemischten Interessentenkreis sprechen muß, der aus Personen verschiedener Schichten, Gesellschaftssystemen und Kulturen besteht, muß er mannigfache Argumente benützen, um die verschiedenen Teile des Interessentenkreises zu überzeugen. Diese Einsicht ist sehr wichtig 64 • Die Kunst, eine verschiedenartige Zuhörerschaft zu überzeugen, ist ein Privileg der besten Rhetoren. Diese Maxime ist für alle Gerichte wichtig, aber noch wesentlicher für den Internationalen Gerichtshof, denn sein "Auditorium" ist noch verschiedenartiger zusammengesetzt als das "Auditorium" nationaler Gerichtshöfe (Kapitel V, § 1). Man muß auch im Auge behalten, daß sich der Interessentenkreis gerade durch den Argumentationsvorgang wandelt, so daß sie am Ende der Argumentation nicht mehr genau die gleiche ist wie am Anfang. Der Rhetor muß sich dauernd diesem wandelnden Auditorium anpassen. Der Adressatenkreis des Ständigen Internationalen Gerichtshofs z. B. war am Anfang skeptisch, wurde aber langsam durch dessen durchweg überzeugende Begründungen hinsichtlich vieler Rechtsprinzipien in einem Lernprozeß von 1920 bis 1939 homogenisiert. Wetter bemerkt, daß das Auditorium eines Gerichts sich von Fall zu Fall wandeln kann, abhängig von der Art der Frage, die zu beantworten ist65 • Diese Einsicht bestätigt sich, wenn man überlegt, wie unterschiedlich die Interessen der verschiedenen Rollensender sind, z. B. in einer Streitfrage zweier Nationen über die Nationalisierung einer Gesellschaft (Barcelona-Fall) und in einem Gutachtenersuchen von der UNO-Vollversammlung in einer brisanten politischen Frage (UNOAusgaben-Gutachten). Genauer gesagt ist der Grad des Interesses der 61 62

63 64

65

Esser, Vorverständnis, 20 - 21. Perelman und Olbrechts-Tyteca, 25. Esser, Vorverständnis, 24. Perelman und Olbrechts-Tyteca, 28. Wetter, 73.

10 Prott

146

IV. Kap.: Der richterliche Rechtfertigungsvorgang

verschiedenen Rollensender von Fall zu Fall unterschiedlich. Die Methoden der Richter im einen Fall sind deshalb nicht notwendig die gleichen in einem anderen. Perelman spricht von dem "gesamten Auditorium" ("l'auditoire universeI"), die aus der ganzen Menschheit oder zumindest allen erwachsenen und normalen Menschen besteht66 • Dies ist im breitesten Sinn das "Auditorium" des Internationalen Gerichtshofs. Aber wie schon im Kapitel I (§ 1.2) erklärt wurde, muß der Rollenträger sich um die Rollensender kümmern, die Macht und Interesse haben: es liegt an diesen, ob seine Rolle fortdauert oder nicht. Das bedeutet auch für den Internationalen Gerichtshof die Möglichkeit, schwächere Rollensender zu ignorieren, obwohl sie einen Teil des gesamten Auditoriums bilden. Es ist aber wesentlich, die mächtigsten und achtsamsten Interessierten hervorzuheben. Jede Gesellschaft hat ihre eigene Ansicht über das, was das "gesamte Auditorium" sei. Wenn die Argumentation nicht alle Interessenten überzeugt, bleibt immer noch die Möglichkeit, die Nichtüberzeugten als inkompetent oder "abnorm" anzusehen. Die Ausschließung inkompetenter Personen ist schon im Statut des Internationalen Gerichtshofes in der Bestimmung (Art. 38) über die Rechtsprinzipien der "zivilisierten" Nationen festgelegt. Die Zahl und intellektuelle Bedeutung der Ausgeschlossenen kann ein solches Verfahren lächerlich machen 67 • Es gibt übrigens besondere Gründe, warum ein solches Verhalten für den Internationalen Gerichtshof gefährlich ist (Kapitel V, § 1.4. unten).

5. Das kulturelle Milieu der Begründung Jede Kommunikation kann nur in einer Kultur geschehen: d. h. in einem System der gemeinsamen Symbole, Werte und Normen68 • Mindestens zwei kulturelle Subsysteme sind wesentlich für die Begründungen des nationalen Richters: das eine ist die Sprache, das andere die Rechtssubkultur. Die Sprache bezieht sich hauptsächlich auf Symbole (Worte), durch die die Zuhörerschaft die Argumentation begreift, aber es kann auch Normen und Werte in Wörtern vermitteln, die den Werten der nationalen Sprachkultur tief eingeprägt sind: z. B. das englische Wort "fair". Die Rechtssubkultur bezieht sich hauptsächlich auf Werte und Normen, aber schließt noch mehr ein: auch solche Symbole, wie Fachsprache und die besondere Kleidung des Richters, sind Teil ihres Inhalts. 66 67

68

Perelman und Olbrechts-Tyteca, 41. Perelman und Olbrechts-Tyteca, 44. H. Johnson, 84 - 87.

5. Das kulturelle Milieu der Begründung

147

5.1. Ungenauigkeit konventioneller Sprachen

Der Verfasser und der Leser müssen eine gemeinsame Sprache haben. Das bedeutet nicht nur eine natürliche Sprache, die den Zuhörern auch bekannt ist, sondern auch eine Begriffs-Struktur. Daß eine natürliche Sprache genaue und für ewig festgelegte Begriffe nicht übermitteln kann, wurde schon von vielen Theoretikern bestätigt. Wenn man auf den Wortschatz einer natürlichen Sprache angewiesen ist, sagt Viehweg, "schwebt man als Systematiker dauernd in der Gefahr, von ihren Deutungen und Umdeutungen mit sanfter Gewalt unbemerkt geleitet zu werden"69. Heck hat früher von Begriffskern und Begriffshof gesprochen 70 und der englische Wissenschaftler Hart von "core" und "penumbra"71. Lauterpacht benützte diese Vorstellung im Vormundschaftsfall: "There are, in that wide and highly controversial province of ordre public, matters which are the object of uncertainty and occasional exaggeration ... But there is a hard core within that field which is not open to reasonable challenge. The protection of children ... is an obvious particle of that hard core72 ." Stone hat gezeigt, daß diese Ungenauigkeiten die Rechtsfortbildung in einem scheinbar geschlossenen System ermöglicht haben73 • Wenn Worte in einer technischen Bedeutung benützt werden, können sie ihre vieldeutigen Nuancen fast (aber nie ganz) verlieren. Das ist der Fall des "charitable trust" im englischen Recht, der für einen Juristen heute nur bestimmte Kategorien bedeutet. Die Möglichkeit, sich auf den breiteren und natürlichen Inhalt dieser Worte zu stützen, gibt dem Richter aber Gelegenheit, das Recht später fortzubilden. Worte wie "Logik", "logisch", "logically necessary", "deductive" usw. tragen, wie Toulmin anerkennt, eine "Fracht von Nuancen" ("a load of associations"), welche er in seiner Arbeit vermeiden wollte 74 • Der Richter aber benützt diesen Nuancenreichturn als Teil seiner üb erz eugungstechnik. Obwohl dieser Umstand bei dem strengen technischen Gebrauch wenig mit dem Aufbau der Argumente zu tun hat, gewinnt er Gewicht für die überzeugungs kraft des Gerichts. Der gute Richter ist sich der verwirrenden Ungenauigkeiten der Worte bewußt. Jessup z. B. hat vor dem Wort "shareholder" gewarnt75 Viehweg, 60. Esser, Vorverständnis, 46, N. 8. Esser selbst benutzt "Kern" und "Randzone" eines Begriffs. 71 Hart, 119. 72 Lauterpacht, Vormundschajtsjall, Sep. Op., 90. 73 Stone, System, 235 ff. 74 Toulmin, 6 -7. 69

70

10·

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IV. Kap.: Der richterliche Rechtfertigungsvorgang

und man findet beim Ständigen Internationalen Gerichtshof eine Analyse der Nuancen der englischen und französischen Worte "industry" , "industrial" und "industrie", "industriel"76. Im Festlandsockel-Fall hat der Gerichtshof den Begriff "proximity" untersucht und die reiche Terminologie erwähnt: "As regards the notion of proximity, the idea of absolute proximity is certainly not implied by the rather vague and general terminology employed in the literature of the subject and in most State proelamations and international conventions and other instruments - terms such as ,near', ,elose to its shores', ,off its coast', ,opposite', ,in front of the coast', ,in the vicinity of', ,neighbouring the coast', ,adjacent to', ,contiguous to', etc., - all of them terms of a somewhat imprecise