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German Pages 336 [338] Year 2012
Der Ignorabimus-Streit Herausgegeben von Kurt Bayertz, Myriam Gerhard und Walter Jaeschke
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 620
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar. ISBN print: 978-3-7873-2158-2 ISBN E-Book: 978-3-7873-2234-3
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INHALT
Einleitung der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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DER IGNORABIMUS-STREIT EMIL DU BOIS-REYMOND
Über die Grenzen des Naturerkennens. Ein Vortrag in der zweiten öffentlichen Sitzung der 45. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Leipzig am 14. August 1872 . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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EDUARD VON HARTMANN
Anfänge naturwissenschaftlicher Selbsterkenntniss . . .
27
FRIEDRICH ALBERT LANGE
I. Der Materialismus und die exacte Forschung . . . . . .
45
CARL VON NÄGELI
Ueber die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
109
EMIL DU BOIS-REYMOND
Die sieben Weltraetsel. Nachtrag . . . . . . . . . . . . . . . . . .
153
WILHELM DILTHEY
Einleitung in die Geisteswissenschaften (Buch I, Kap. 2 und 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
187
VI
Inhalt
WILHELM OSTWALD
Die Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus. Vortrag gehalten in der dritten allgemeinen Sitzung der Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Lübeck am 20. September 1895 . . . . . . . . . . . . . . . . .
211
WALTER RATHENAU
Ignorabimus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
233
MAX VERWORN
Die Frage nach den Grenzen der Erkenntnis. Ein Vortrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
253
Textkritische Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
289
Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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EINLEITUNG
Im August 1872 fand in Leipzig die 45. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte statt, in deren Verlauf der berühmte Berliner Physiologe Emil Du Bois-Reymond eine Rede hielt, in der er die Existenz zweier »Grenzen des Naturerkennens« nachzuweisen versuchte. Die erste von ihnen sollte das Wesen der Materie umschließen, insbesondere das Verhältnis von Materie und Bewegung; die zweite den Zusammenhang zwischen Zuständen des Gehirns und den daraus erwachsenden subjektiven Erlebnissen. Im Unterschied zu den vielen anderen Problemen, mit denen die Naturforschung zu jedem Zeitpunkt konfrontiert ist, stellte der Redner diese beiden Probleme als prinzipiell unlösbar dar und schloß mit einem lateinischen Wort, das in der Folgezeit einige Berühmtheit erlangen und der bis heute nicht abgerissenen Debatte über die Grenzen des Naturerkennens den Titel geben sollte: »Ignorabimus« – wir werden es nicht wissen. Die Resonanz dieser Rede war gewaltig und übertraf alles, was vernünftigerweise zu erwarten gewesen wäre. Sie kann global durch drei Merkmale gekennzeichnet werden. (a) Sie war heftig und kontrovers; enthusiastischer Beifall und erleichterte Zustimmung auf der einen, erbitterte Ablehnung und lautstarke Empörung auf der anderen Seite. (b) Sie beschränkte sich nicht auf Reaktionen von naturwissenschaftlicher oder philosophischer Seite, sondern umfaßte religiös und politisch motivierte Stellungnahmen ebenso wie ein Echo in der Welt der Literatur. Noch 1913 publizierte der naturalistische Schriftsteller Arno Holz ein buchlanges Drama mit dem Titel Ignorabimus; und selbst in seinem 1931/32 erschienenen Roman Die Schlafwandler spielt Hermann Broch auf dieses »Ignorabimus« an, das Du Bois-Reymond mehr als ein halbes Jahrhundert vorher zum Schlachtruf gemacht hatte. Damit ist
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schon der dritte Punkt benannt: (c) die erstaunliche Nachhaltigkeit der Debatte und ihres Mottos, die bis weit in das 20. Jahrhundert hinein reicht und, wie wir noch sehen werden, auch die Philosophie nicht aussparte.
I. Was Du Bois-Reymond behauptet hatte Den Ausgangspunkt der Überlegungen Du Bois-Reymonds bildete eine Definition: »Naturerkennen – genauer gesagt naturwissenschaftliches Erkennen oder Erkennen der Körperwelt mit Hülfe und im Sinne der theoretischen Naturwissenschaft – ist Zurückführen der Veränderungen in der Körperwelt auf Bewegungen von Atomen, die durch deren von der Zeit unabhängige Centralkräfte bewirkt werden, oder Auflösung der Naturvorgänge in Mechanik der Atome.« (2) Damit hatte er eine doppelte Gleichsetzung vorgenommen: Er hatte (a) »Naturerkennen« mit naturwissenschaftlichem Erkennen und (b) Naturwissenschaft mit klassischer Mechanik identifiziert. Das war natürlich alles andere als ein idiosynkratischer Ausgangspunkt, denn die klassische Mechanik war die bis dahin erfolgreichste wissenschaftliche Theorie; sie galt als der Beweis dafür, daß die Naturwissenschaften nicht nur Fakten anzuhäufen, sondern die Natur mathematisch exakt zu erklären vermögen. Kurz: Sie war der Inbegriff dessen, was die Naturwissenschaften zu leisten imstande sind. Auf der Basis der klassischen Mechanik schien es (nicht faktisch, aber prinzipiell) möglich, den Zustand der gesamten Welt in einem System von Differentialgleichungen zu erfassen, die den Ort und den Impuls jedes einzelnen Atoms beschreiben. Ein solches System würde es nicht nur ermöglichen, die Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt lückenlos zu erfassen, sondern auch sämtliche ihrer noch so weit entfernten vergangenen und künftigen Zustände zu berechnen. Der fiktive Besitzer solcher Erkenntnis, der »Laplacesche Dämon«, besäße damit eine gottgleiche Erkenntnis
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der Welt in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. An zwei Punkten allerdings – und darin besteht die Pointe der Du BoisReymond’schen Rede – stieße auch dieser Dämon auf unüberwindbare Schranken. Erstens bliebe ihm das Wesen der Materie verschlossen. Die atomistische Vorstellung, auf der die Mechanik beruht, führt nach Du Bois-Reymond nämlich in unlösbare Widersprüche, die ihre Wurzel darin haben, daß wir nicht anders können, als das uns aus der wahrnehmbaren Welt Bekannte und Vertraute auf die nicht wahrnehmbare Mikrowelt zu projizieren. Dies zeigt sich besonders deutlich an der alten Frage nach dem Verhältnis von Materie und Bewegung. In einer späteren Rede zum Thema der Erkenntnisgrenzen formuliert er das Problem in der Form eines Dilemmas: Entweder stellen wir uns die Materie als anfänglich unbewegt vor; dann vermögen wir keinen zureichenden Grund für ihre von uns beobachtete Bewegtheit anzuführen. Oder wir stellen sie uns als von jeher bewegt vor; dann verzichten wir von vornherein auf eine Erklärung ihrer Bewegtheit. (164) Du Bois-Reymond deutete selbst an, daß mit dem Verhältnis von Materie und Bewegung ein Problemkomplex angesprochen war, der schon antike Autoren beschäftigt hatte und der auch später immer wieder diskutiert worden war. Jetzt aber betraf er nicht mehr eines jener philosophischen Probleme, an deren Unlösbarkeit man sich längst gewöhnt hatte, sondern die Naturwissenschaften und obendrein ihr bis dato bei weitem erfolgreichstes Paradigma. Ein Teil der anschließenden erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Debatte konzentrierte sich daher auf die Frage, ob von diesem Problem tatsächlich die Naturwissenschaften schlechthin betroffen seien. Anders gefragt: Hatte Du BoisReymond Grenzen des Naturerkennens oder Grenzen der klassischen Mechanik identifiziert? Schon früh hat der Jenenser Physiologe William Preyer (ein Schüler Du Bois-Reymonds) für die zweite dieser Alternativen argumentiert. Unüberschreitbar seien die von seinem Lehrer korrekt iden-
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tifizierten Erkenntnisgrenzen lediglich für die mechanischatomistische Naturwissenschaft. Für einen neuen Typus naturwissenschaftlicher Erkenntnis – der freilich erst noch zu finden sei – könne eine solche Unüberschreitbarkeit nicht behauptet werden. In einem späteren Text geht Preyer noch einen Schritt weiter, indem er den Nachweis von Erkenntnisgrenzen als ein schlagendes Argument dafür wertet, daß es andere Typen der Naturwissenschaft geben müsse, auf deren Basis die genannten Grenzen überwunden werden konnten. »Die Schranken, in welche die mechanisch-atomistische Auffassung die begreifliche Welt einschliesst, für schlechthin unübersteiglich zu erklären, ist (sic!) in der Tat willkürlich. Denn die moderne Mechanik, und gar die Hypothese von den Atomen in ihrer gegenwärtigen Form, sind nicht der Art vollendet, dass sie nach einem Mangel in ihren Voraussetzungen zu suchen verbieten. Die Aufrechterhaltung der letzteren als einzig zulässiger Welterklärungsaxiome involvirt nothwendig den Verzicht auf die Erklärung der psychischen und chemischen Vorgänge. Wer diese für Phänomene unter Phänomenen, die zu erklären sind, ansieht, wird nicht zweifelhaft sein, ob die geltenden Grundsätze wesentlich umzugestalten und zu erweitern seien oder ob ihnen die Erklärungsversuche der interessantesten und schwierigsten Erscheinungen, die es giebt, geopfert werden sollen. Wenn die vorhandenen Forschungsprincipien nicht ausreichen, so muss wenigstens versucht werden, sie zu vervollkommnen, bevor – wie es doch geschieht – eine Demarcationslinie für alle Zeiten zwischen dem Begreiflichen und dem Unbegreiflichen gezogen wird. Bedenkt man, dass die intellectuellen Fähigkeiten der Menschen nachweislich im Laufe der Jahrtausende sich vervollkommnen, so steht der angenehmen Vorstellung nichts entgegen, dass die abnehmende Summe des Unbegriffenen der zunehmenden Summe des Begriffenen sich asymptotisch nähere. Der Werth solcher Grenzregulirungen besteht überhaupt nur darin, dass sie die Leistungsunfähigkeit einer einzelnen Methode bestimmt
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charakterisiren und dadurch zur Vervollkommnung herausfordern.«1 In eine ähnliche Richtung gingen spätere Überlegungen von Ernst Mach und Wilhelm Ostwald. Letzterer räumt zunächst ein, daß Du Bois-Reymond in der von seiner Rede ausgelösten Debatte »sachlich der Sieger geblieben« sei. Dies allerdings deshalb, weil seine Gegner von derselben Grundlage ausgegangen seien, aus der er sein Ignorabimus folgerte, »und seine Schlüsse stehen ebenso sicher da, wie jene Grundlage. Diese Grundlage, welche inzwischen von keinem in Frage gestellt worden war, ist die mechanistische Weltanschauung, die Annahme, dass die Auflösung der Erscheinungen in ein System bewegter Massenpunkte das Ziel ist, welches die Naturerklärung erreichen könne. Fällt aber diese Grundlage, und wir haben gesehen, dass sie fallen muss, so fällt mit ihr auch das ignorabimus, und die Wissenschaft hat wieder freie Bahn.« (220) In Gestalt des von ihm mitbegründeten »Energetismus« glaubte Ostwald über ein neues Forschungsprogramm zu verfügen, das über die von Du Bois-Reymond aufgezeigten Grenzen hinausführt. Wenn Ostwald diesen Energetismus für eine »Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus« hält, so läßt er damit ungewollt erkennen, wie hartnäckig die Spuren waren, die das mechanisch-atomistische Paradigma nicht nur in seinem Kopf hinterlassen hatte. Denn dieser Anspruch setzt ja voraus, daß in diesem Paradigma letztgültig definiert sei, was ›Materie‹ ist, und daß die Überwindung des Mechanismus und Atomismus daher mit der Überwindung des Materialismus zusammenfällt. Als sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts dann die moderne Physik durchsetzte, verlor die Idee einer Unerkennbarkeit des »Wesens der Materie« ihren Schrecken, da die Atome, die Du Bois-Reymond im Auge William T. Preyer: Über die Erforschung des Lebens. Jena 1873: Vorwort. Ders.: Naturwissenschaftliche Thatsachen und Probleme. Populäre Vorträge. Berlin 1876, 340. 1
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gehabt hatte, nun nicht mehr als die letzten Bestandteile der Welt galten. Auch ohne definitiv gelöst worden zu sein, ebbte das Interesse an dem ersten Ignorabimus folglich ab, je stärker sich nachklassische Theorien in der Physik durchsetzten und zum Gegenstand philosophischer Reflexion wurden. Ganz anders das zweite Ignorabimus: das Rätsel der Subjektivität. Es ergab sich aus der Kluft, die zwischen den Zuständen und Wechselwirkungen der Atome des Gehirns einerseits und den ihnen entsprechenden subjektiven Erlebnissen andererseits besteht. Selbst wenn wir einen Laplaceschen Dämon unterstellen, der vollständige Kenntnis vom atomaren Zustand eines bestimmten Gehirns hat, so enthüllt ihm diese »nichts als bewegte Materie« (20), verschafft ihm aber nicht die entsprechenden subjektiven Erlebnisse. Der Dämon vermag nicht zu erschließen, wie es sich anfühlt, Zahnschmerzen zu haben, Farben wahrzunehmen oder einen Dreiklang zu hören. Zwischen den ›objektiven‹ Bewegungen der Atome in einem Gehirn und den ›subjektiven‹ Erlebnissen, die dieses Gehirn produziert, besteht eine unüberbrückbare Kluft. Abermals gilt, daß dieser Gedanke alles andere als neu war. In seinem Vortrag von 1880 zitiert Du Bois-Reymond eine Passage aus Leibniz’ Monadologie, die denselben Gedanken vorwegnimmt: »Man ist gezwungen zu gestehen, dass die Wahrnehmung, und was davon abhängt, aus mechanischen Gründen, d. h. durch Figuren und Bewegungen, unerklärlich ist. Stellt man sich eine Maschine vor, deren Bau Denken, Fühlen, Wahrnehmen bewirke, so wird man sie sich in denselben Verhältnissen vergrössert denken können, so dass man hineintreten könnte, wie in eine Mühle. Und dies vorausgesetzt wird man in ihrem Inneren nichts antreffen als Theile, die einander stossen, und nie irgend etwas woraus Wahrnehmung sich erklären liesse.« (167 f.) Während die Debatte um die erste Grenze im 20. Jahrhundert im Sande verlief, wird die zweite bis heute kontrovers diskutiert; und es ist nicht übertrieben, sie als eines der Zen-
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tralprobleme der gegenwärtigen Philosophie des Geistes zu charakterisieren. Du Bois-Reymond’s Auffassung wird heute von verschiedenen Autoren bekräftigt. Eine zentrale Rolle spielen dabei Gedankenexperimente wie »Mary’s room« und der an Leibniz’ Mühle erinnernde »Chinese room«.2 Hier soll das erste dieser Gedankenexperimente genügen: Man stelle sich eine junge Frau namens Mary vor, die in einer völlig farblosen Umgebung aufwächst und daher nur Schwarz und Weiß kennt. Sie erhält während dieser Zeit eine gründliche Ausbildung in allen modernen Wissenschaften, insbesondere in Physik und Neurophysiologie. Mary weiß also alles, was die Physik und andere Wissenschaften über Farben zu sagen haben. Eines Tages nun wird sie ins Freie geführt und mit farbigen Gegenständen konfrontiert, etwa mit einem bunten Blumenstrauß. Erfährt sie dadurch etwas über Farben, was ihr vorher noch nicht bekannt gewesen war? Die Antwort von Frank Jackson, dem Erfinder dieses Gedankenexperiments war: ja, sie erfährt, wie Farben aussehen. Er führte dieses Gedankenexperiment ein, um plausibel zu machen, daß die Naturwissenschaften uns nicht alles über die Welt zu sagen vermögen. Die Diskussion um die Erklärungslücke zwischen den Aussagen der Naturwissenschaften einerseits und der Welt des Subjektiven, der Innenperspektive lebender Wesen, der ›Qualia‹, andererseits wird heute auf einem deutlich höheren Niveau der wissenschaftlichen Spezialisierung und der philosophischen Elaboriertheit geführt; entschieden ist sie aber keineswegs. Wir können also festhalten, daß Du Bois-Reymond in seiner Rede zwei wichtige Themen aufgegriffen und auf seine Weise beantwortet hatte, von denen zumindest eines bis heute zu den Schlüsselthemen der Philosophie gehört. Nicht überFrank Jackson: What Mary didn’t Know. In: Journal of Philosophy 83 (1986), 291–95. – John Searle: Geist, Gehirn, Programm. In: Douglas R. Hofstaedter/ Daniel C. Dennett (Hg.), Einsicht ins Ich. Stuttgart o. J., 337–56. 2
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raschend war daher, daß seine Rede ein kontroverses Echo fand; auch heute wird in der Philosophie ja noch über »Mary’s room« gestritten. Überraschend war hingegen, wie heftig die Resonanz auf das »Ignorabimus« war, wie sie sich ausbreitete und wie lange sie anhielt.
II. Ein Abgesang auf den Materialismus? Ein erster Schritt zur Erklärung dieser Resonanz muß von dem wissenschafts-, philosophie- und sozialhistorischen Kontext des Ignorabimus-Streites ausgehen. Nicht nur in Deutschland, auch in anderen europäischen Ländern wurde damals eine vielschichtige Auseinandersetzung um die Frage geführt, welcher intellektuellen Instanz die geistige Hegemonie in der Gesellschaft zukommen solle. Zu den Kandidaten für diese Rolle gehörte natürlich die Religion, die ja über viele Jahrhunderte die zentrale Deutungsmacht über die Probleme des Menschen und der Gesellschaft innegehabt hatte und deren Protagonisten diese Deutungsmacht auch weiterhin beanspruchten. Ein Kandidat war auch die Philosophie, deren geistiger Führungsanspruch vor allem von den Vertretern der klassischen deutschen Philosophie gefordert worden war. Und neuerdings waren noch die Naturwissenschaften als Bewerber hinzugekommen. Seit dem 18. Jahrhundert wurden ihnen von verschiedenen Seiten zunehmend weltanschauliche Aufgaben zugesprochen. Sie sollten nicht nur exakte Kenntnisse über diesen oder jenen Teil der Natur liefern, sondern auf der Basis solcher immer rascher anwachsenden Kenntnisse ein Bild der Welt entwerfen, das den Menschen einschloß und ihm gesicherte Orientierung gab. Die religiös oder metaphysisch fundierten Weltbilder der Vergangenheit waren nach dieser Überzeugung ein Phänomen der Vergangenheit, das angesichts der Leistungen der Naturwissenschaften jede Berechtigung verloren hatte. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat-
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te diese Ansicht vielerorts stark an Boden gewonnen. Im historischen Rückblick diagnostiziert beispielsweise Benedetto Croce einen Wandel des europäischen Geistes nach 1870, den er folgendermaßen beschreibt: »Wo gab es um 1870 in Europa noch eine große Philosophie und eine bedeutende Geschichtsschreibung? Von Philosophie keine Spur, oder nur ein paar Epigonen. Und von den großen Geschichtsschreibern existierte bestenfalls noch irgendein Nachkömmling. Den Platz der Philosophie und der Geschichtsschreibung hatte ganz allmählich die Naturwissenschaft eingenommen; sie hatte den Thron bestiegen und sich als Königin krönen lassen.«3 Mitten in diese Krönungsfeier platzte Du Bois-Reymond mit seiner Ignorabimus-Rede. Mit seiner These von unüberschreitbaren Erkenntnisgrenzen schien er die Allmacht der Naturwissenschaften in Frage zu stellen: Es gab Fragen, auf die auch sie prinzipiell keine Antwort zu geben vermochte. Hinzu kam, daß er noch einen Schritt weitergegangen war, als er aus seiner Grenz-Behauptung den Schluß zog, daß die mechanischen Naturwissenschaften »kein Erkennen« und »gleichsam nur Surrogat einer Erklärung« seien (7 f). Die naturwissenschaftliche Erkenntnis beschrieb demnach lediglich die Oberfläche der von ihr kartographierten Natur, ohne in das eindringen zu können, was die Welt im Innersten zusammenhält. Damit hatte er nicht nur die epistemische Leistungsfähigkeit der Naturwissenschaften in Frage gestellt, sondern indirekt auch ihre weltanschauliche Autorität. Denn wenn sie »kein Erkennen« sind und lediglich das »Surrogat einer Erklärung« bieten, dann vermögen sie natürlich auch nicht als Fundament einer Weltanschauung zu fungieren. Jedenfalls nicht als das sichere Fundament, als das sie ihren Freunden erschien und als das sie sich von den unsicheren Grundlagen abhob, die Religion und Metaphysik Benedetto Croce: Geschichte Europas im neunzehnten Jahrhundert. Frankfurt 1968, 229. 3
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geboten hatten. Du Bois-Reymond hatte diese weltanschauliche Konsequenz nirgends explizit ausgesprochen; und es ist fraglich, ob sie seinen Intentionen entsprach. In einer späteren Stellungnahme legte er sein eigenes »Ignorabimus« betont nüchtern und sachlich aus: »Die Entsagung in diesem Bekenntnis kann mit der reinsten Beruhigung einhergehen, schon deshalb, weil zu wissen, dass und warum man nicht weiß, Wissen ist: wie denn Mathematik eine Aufgabe für bewältigt hält, deren Unlösbarkeit sie bewies.«4 Doch auch wenn sie nicht beabsichtigt waren: Er legte mit seinem »Ignorabimus« weltanschauliche Konsequenzen nahe und wurde prompt von allen Seiten so verstanden. Es war unter den damaligen Bedingungen schwer, seine Rede als eine harmlose erkenntnis- oder wissenschaftstheoretische Analyse wahrzunehmen. Besonders schwer war das in Deutschland. Denn die Situation wies hier einige Besonderheiten gegenüber anderen europäischen Ländern auf. Seit den 1850er Jahren hatte in Deutschland eine Gruppe von Autoren für Aufsehen gesorgt, die in den Naturwissenschaften nicht nur den Schlüssel für die Entwicklung eines modernen Weltbildes sah, sondern auch den Schlüssel für die Lösung der politischen Probleme Deutschlands, die nach der gescheiterten Revolution von 1848 allenthalben deutlich wurden. Die Protagonisten dieser Gruppe, allen voran Jacob Moleschott, Carl Vogt und Ludwig Büchner, machten die idealistischen »Ideen von 1848« verantwortlich für die Niederlage der demokratischen Bewegung und sahen in dem unaufhaltsamen Fortschritt der Naturwissenschaften einen Garanten für die allmähliche Verbesserung der ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnisse. Als Bezeichnung für diese Autorengruppe setzte sich der Begriff »Materialisten« durch, der teilweise als Denunziationsbegriff Emil Du Bois-Reymond: Goethe und kein Ende. In: Reden von Emil Du Bois-Reymond in zwei Bänden. 2. Auflage Leipzig 1912. Zweiter Band, 164. 4
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verwendet wurde, teilweise von den so Bezeichneten als eine Art Ehrentitel übernommen wurde. Seine inhaltliche und personelle Fortsetzung fand der »Materialismus-Streit« der 50er Jahre ein Jahrzehnt später im »Darwinismus-Streit«.5 Nun sah man in der Theorie Darwins die unerschütterliche Grundlage für ein umfassendes Weltbild und die Garantie für gesellschaftlichen Fortschritt. In einem 1863 gehaltenen Vortrag Ernst Haeckels hört sich das so an: »Dasselbe Gesetz des Fortschritts finden wir dann weiterhin in der historischen Entwicklung des Menschengeschlechts überall wirksam. Ganz natürlich! Denn auch in den bürgerlichen und geselligen Verhältnissen sind es wieder dieselben Prinzipien, der Kampf um das Dasein und die natürliche Züchtung, welche die Völker unwiderstehlich vorwärts treiben und stufenweise zu höherer Kultur emporheben. Rückschritte im staatlichen und sozialen, im sittlichen und wissenschaftlichen Leben, wie sie die vereinten selbstsüchtigen Anstrengungen von Priestern und Despoten in allen Perioden der Weltgeschichte herbeizuführen bemüht gewesen sind, können wohl diesen allgemeinen Fortschritt zeitweise hemmen oder scheinbar unterdrücken; je unnatürlicher, je anachronistischer aber diese rückwärts gerichteten Bestrebungen sind, desto schneller und energischer wird durch sie der Fortschritt herbeigeführt, der ihnen unfehlbar auf dem Fuße folgt. Denn dieser Fortschritt ist ein Naturgesetz, welches keine menschliche Gewalt, weder Tyrannenwaffen noch Priesterflüche, jemals dauernd zu unterdrücken vermögen. Nur durch eine fortschreitende Bewegung ist Leben und Entwicklung möglich. Schon der bloße Stillstand ist ein Rückschritt, und jeder Rückschritt trägt den Keim des Todes in sich selbst. Nur dem Fortschritte gehört die Zukunft!«6 Vgl. die beiden Textsammlungen Kurt Bayertz/Myriam Gerhard/ Walter Jaeschke (Hgg.): Der Materalismus-Streit. Hamburg 2012; sowie von denselben Herausgebern: Der Darwinismus-Streit. Hamburg 2012. 6 Ernst Haeckel: Über die Entwicklungstheorie Darwins. In: Ge5
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Der Terminus ›Materialismus‹ degenerierte in diesem Kontext zu einem bunt schillernden Kampfbegriff, der zwischen seiner ursprünglich philosophischen Bedeutung und einer weit ausufernden weltanschaulichen und politischen Verwendung changierte. Als ›materialistisch‹ im weiten Sinne galt jeder Versuch, die Welt als eine natürliche Einheit zu begreifen und bei ihrer Erklärung auf direkte Eingriffe Gottes, auf teleologische Argumente oder auf einen separaten Geist und eine unsterbliche Seele zu verzichten.7 In der weiten Verwendung des Begriffs verschmolzen Materialismus und Naturwissenschaft zu einem identischen Unternehmen: und zwar sowohl für diejenigen, die diesem Unternehmen positiv gegenüberstanden, die es als überfällige Überwindung von Religion und Metaphysik sahen, als auch für diejenigen, die es strikt ablehnten und Religion und Metaphysik bewahren wollten. Und dementsprechend nahmen beide Seiten die Rede Du Bois-Reymonds als einen Abgesang auf den ›Materialismus‹ wahr. Denn für beide galt: Wenn die Naturwissenschaft Grenzen hat, wenn sie »kein Erkennen« ist, dann taugt sie nicht mehr als Fundament für eine materialistische Weltanschauung, dann ist der ›Materialismus‹ bestenfalls noch eine Philosophie unter vielen anderen. Genußvoll legte Friedrich Albert Lange den Finger in die von Du Bois-Reymond geschlagene Wunde: »Wenn irgend etwas ›unbegreifbar‹ bleibt, so kann der Materialismus wohl meinverständliche Werke. Hrsgg. von H. Schmidt. Bd. V. Leipzig und Berlin 1924, 27 f. 7 Man betrachte z. B. die von Matthias Jacob Schleiden als »materialistisch« inkriminierten Sätze bei Rudolf Virchow. Darunter fi nden sich Aussagen wie »Auch die geistige Entwicklung ist ein untrennbarer Theil des Lebens.« Oder »Alles Leben ist an die Zelle gebunden, sie ist selbst der lebendige Theil.« In: K. Bayertz/M. Gerhard/W. Jaeschke (Hgg.): Der Materialismus-Streit, a. a.O., 330. Charakteristisch ist auch, daß Schleiden den von Gustave Flaubert publizierten Roman Madame Bovary umstandslos unter die materialistischen Bestrebungen seiner Zeit rechnet, a. a.O., 336.
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noch eine vortreffliche Maxime der Naturforschung sein (das ist er nach unserer Ansicht auch), aber er ist keine Philosophie mehr. Andre Philosopheme, wie namentlich die Skepsis, können das Unbegreifliche in sich aufnehmen oder wohl gar aus der Unbegreiflichkeit der Dinge ihr Princip machen; der Materialismus ist von Hause aus eine positive Philosophie, welche ihre Fundamentallehren mit dogmatischer Bestimmtheit vorträgt und zu deren wichtigsten Behauptungen es gehört, dass aus diesen Lehren die ganze Welt mit Leichtigkeit zu begreifen sei.« (61) Schon die Behauptung irgendwelcher Grenzen war demnach eine Herausforderung für diese Art von Materialismus. Um so gravierender war das Problem mit den beiden von Du Bois-Reymond behaupteten Grenzen. Geht man davon aus, daß ›Materie‹ wesentlich stofflich, daß sie der Inbegriff für mechanisch interagierende Atome ist, so mußte das erste Ignorabimus als ein Stoß ins Herz des Materialismus aufgefaßt werden. Wir vermögen das Wesen der Materie nicht zu erkennen, hatte er gesagt; und das schien nichts anderes heißen zu können als: Der Materialismus weiß nicht, wovon er redet, wenn er von ›Materie‹ spricht.8 Diese fatale Diagnose schien dann von den oben angedeuteten EntIn einem feierlichen Editorial der katholischen Zeitschrift »Natur und Offenbarung« schreibt F. Resch, S. J. unter ausdrücklicher Berufung auf Du Bois-Reymond: »Nach dem Zeugnis eines Naturforschers, der auf der Höhe seiner Zeit steht, wissen wir nicht und werden wir nie wissen, was die Materie ist. Sicherlich wäre es ihm nicht entgangen, wenn die Materialisten das schwierige Räthsel gelöst; er hätte es als einen Triumph der Naturwissenschaft gepriesen und mit Fug und Recht als die werthvollste in der kaum übersehbaren Reihe der Entdeckungen gefeiert. Wir können uns deshalb der Überzeugung hingeben, dass trotz aller gegentheiligen Behauptungen die Kenntnis über das Wesen der Materie noch in ein undurchdringliches Dunkel gehüllt ist. Unter solchen Verhältnissen ist es nur eine perfide Taktik der Gegner, dreist das zu behaupten, was sie zu beweisen nicht im Stande sind.« Natur und Offenbarung. Organ zur Vermittlung zwischen Naturforschung und Glauben für Gebildete aller Stände. Bd. 21. Münster 1875, 4. 8
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wicklungen innerhalb der Physik bestätigt zu werden, die die als ›Stoff‹ aufgefaßte Materie zum Verschwinden zu bringen schien; und damit genau die Realität, auf die der mechanische Materialismus sich als das Allerrealste berief. Und als ob der Materialismus damit nicht schon tot genug war, schien ihm Du Bois-Reymond mit seiner zweiten Grenze noch einen zweiten tödlichen Hieb zu versetzen. Denn sie entzieht der These den Boden, daß der menschliche Geist ein Teil der Natur ist; daß er mit denselben Mitteln erkannt werden kann wie beliebige materielle Naturvorgänge; und daß er folglich kein naturwissenschaftlich exterritoriales Gebiet beanspruchen kann. Für Carl Vogt beispielsweise unterscheiden sich geistige Prozesse nicht der Art nach von materiellen, sondern bestenfalls ihrer Komplexität nach.9 Der Materialismus ist somit notwendigerweise ein Monismus; er behauptet, daß die Einheit der Welt in ihrer Materialität besteht und daher auch das menschliche Empfinden und Denken einschließt. Wenn nun die subjektiven, phänomenalen Zustände eines Gehirns nicht aus den Zuständen der Gehirnatome abgeleitet oder erklärt werden können, so erschien dies als eine Resurrektion eines psycho-physischen Dualismus. Daß dies nicht der Fall ist, hatte schon Du Bois-Reymond geltend gemacht (155); allerdings ohne großen Erfolg. Hier kann nicht entschieden werden, welche der streitenden Parteien sachlich im Recht war und ist. Worauf es hier statt dessen ankommt, ist der historische Kontext der Ignorabimus-Rede und der an sie anschließenden Debatte. Dieser Kontext war geprägt durch die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts akut gewordenen (und bis heute unabgeschlosseDas ist die entscheidende Konsequenz des berühmten Vergleichs, nach dem »die Gedanken in demselben Verhältnis etwa zu dem Gehirn stehen wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren«. K. Bayertz/M. Gerhard/W. Jaeschke (Hgg.), Der Materialismus-Streit, a. a.O., 6. 9
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nen) Auseinandersetzungen um die Stellung der Naturwissenschaft in der Gesellschaft, insbesondere um ihre Autorität auf dem Gebiet von Weltanschauung, Moral und Politik inklusive. Unabhängig von allen Intentionen des Redners konnte sein »Ignorabimus« unter diesen Voraussetzungen gar nicht anders denn als eine Stellungnahme in diesen Auseinandersetzungen wahrgenommen werden; und damit als eine Stellungnahme für die eine und gegen die andere der streitenden Parteien.
III. Die unoriginelle Rede eines prominenten Redners Daß die Heftigkeit, Breite und Dauer der Resonanz auf die Ignorabimus-Rede damit noch nicht hinreichend erklärt ist, wird besonders deutlich, wenn man sich deren inhaltliche Unoriginalität vor Augen hält. Du Bois-Reymond hat darauf acht Jahre später selbst hingewiesen: In dem, was er 1872 gesagt habe, sei nichts enthalten gewesen, »was bei einiger Belesenheit in älteren philosophischen Schriften nicht Jedem bekannt sein konnte, der sich darum kümmerte« (154). In der Tat: Die Möglichkeit ›echter‹ Erkenntnis war von der Skepsis seit jeher in Frage gestellt worden; und auch außerhalb der skeptischen Tradition war die Frage nach der Reichweite menschlichen Erkennens stets ein Thema gewesen: bei John Locke beispielsweise und den an seine Philosophie eng anknüpfenden französischen Materialisten, die alle gleichermaßen davon ausgingen, daß der menschlichen Erkenntnis unüberschreitbare Grenzen gesetzt sind, die sich aus den Grenzen unseres Wahrnehmungsvermögens ergeben. Mehr noch: Die letzteren haben selbst ausdrücklich betont, daß die Natur der Bewegung und der Materie unerforschlich sei; haben also die erste der Du Bois-Reymondschen Grenzen vorweggenommen.10 Vgl. John Locke: Über den menschlichen Verstand. Band I. Hamburg 1962, 27 f.; Bd. II, 185 ff. – Julien Offray de La Mettrie: L’homme 10
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Geradezu in das Zentrum seiner Philosophie rückte dann Immanuel Kant die Bestimmung der Grenzen des menschlichen Erkennens. Auch er knüpft dabei an Locke an, insofern auch für ihn die Grenze der Wahrnehmung die Grenze unserer Erkenntnis markiert. Aber Kant geht einen entscheidenden Schritt weiter, indem er eine apriorische Komponente postuliert, die jeder Erkenntnis innewohnt (also auch derjenigen, die innerhalb der Grenzen der Wahrnehmung liegt). Erkenntnis kann für ihn nur das Produkt eines Zusammenspiels von Wahrnehmung und Vernunft sein; und letztere projiziert stets eine apriorische Komponente auf das Objekt. Für Kant heißt das: Die Gegenstände der Erkenntnis sind daher niemals identisch mit den ›Dingen an sich‹, und die Kluft, die zwischen ihnen liegt, ist zugleich die Grenze jeder möglichen Erkenntnis. Kant begnügt sich also nicht damit, eine Linie zu ziehen, die das Feld möglicher Erkenntnis von dem der Spekulation abgrenzt, so wie man zwei Grundstücke oder Länder voneinander abgrenzt; für ihn zieht sich die Grenze durch alle unsere Erkenntnis: Die Grenze des Erkennens ist der Erkenntnis immanent.11 Im 19. Jahrhundert wurde die Kantische Philosophie stark rezipiert und fand breiten Anklang; aber auch unabhängig von ihr hatte die These der Begrenztheit menschlicher Erkenntnis weiten Einfluß. Nach Schopenhauer können uns die Naturwissenschaften zwar über die Regelmäßigkeiten der Abfolge verschiedener Zustände in der Natur belehren, über das »innere Wesen irgend einer jener Erscheinungen erhalten wir dadurch aber nicht den mindesten Aufschluß«. Und an einer anderen Stelle schreibt er, die Physik erkläre »die Erscheinungen durch ein noch Unbekannteres, als diese selbst sind«, machine. Die Maschine Mensch. Hamburg 1990, 118 f.. – Paul Thiry d’Holbach: System der Natur. Berlin 1960, 31 – Ursula Winter: Der Materialismus bei Diderot. Genève/Paris 1972, 252 ff. 11 Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. In: Akademie Textausgabe Bd. IV. Berlin 1968, § 57.
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nämlich durch Naturgesetze.12 Dabei waren es durchaus nicht nur Philosophen, die derartiges vertraten, sondern auch praktizierende Wissenschaftler. Darunter Hermann von Helmholtz, der sich der Kantischen Auffassung angeschlossen hatte; oder Rudolf Virchow (1863) und Thomas Henry Huxley (1868), die auf einer ganz anderen Basis von Grenzen der wissenschaftlichen Erkenntnis sprachen. Wie ist unter diesen Voraussetzungen das Aufsehen zu erklären, das die Ignorabimus-Rede erregte? Da ihr Inhalt allein eine Antwort auf diese Frage nicht zu liefern vermag, müssen wir uns in einem zweiten Schritt dem Redner selbst zuwenden und der Gelegenheit, bei der er seine Rede hielt. Es macht nämlich einen erheblichen Unterschied, wer bei welcher Gelegenheit etwas sagt. Im hier vorliegenden Fall haben wir es mit einem Redner zu tun, der als eine naturwissenschaftliche Autorität ersten Ranges angesprochen werden muß. Dies gilt zum einen im Hinblick auf seine fachwissenschaftliche Leistung: Als Schüler und Lehrstuhlnachfolger Johannes Müllers gehörte Emil Du Bois-Reymond zu den bedeutendsten Physiologen seiner Zeit. Er war einer der Begründer der Elektrophysiologe und hatte sich als Kritiker des Vitalismus früh einen Namen gemacht. Nicht weniger bedeutsam war er zum anderen als öffentlicher Repräsentant der Naturwissenschaften in Deutschland. Er war Rektor der Berliner Universität und seit 1876 Ständiger Sekretär der Preußischen Akademie der Wissenschaften. In dieser Funktion hielt er zahlreiche Reden, die er mit großem stilistischen Geschick und einem gewissen Aplomb als öffentliche Ereignisse zu inszenieren wußte.13 Es war also nicht irgendwer, der 1872 von den »Grenzen Artur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung (Werke in fünf Bänden, hrsgg. von Ludger Lütkehaus). Zürich 1986. Bd. I, 148 und Bd. II, 200. 13 Die Reden liegen in den oben bereits zitierten Bänden gesammelt vor; vgl. auch Jochen Zwick: Akademische Erinnerungskultur, Wissen12
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des Naturerkennens« sprach, sondern eine exponierte Persönlichkeit, die immer zugleich auch als Sprecher für die Naturwissenschaften überhaupt auftrat. Daß diese wissenschaftspolitisch herausgehobene Rolle von zentraler Bedeutung für die Wirkung seiner Rede war, sollte sich elf Jahre nach der Leipziger Rede noch einmal bestätigen. In seiner Eigenschaft als Sekretär der Preußischen Akademie der Wissenschaften hielt Du Bois-Reymond 1883 nämlich eine Gedenkrede auf den soeben verstorbenen Charles Darwin. Er würdigte dessen wissenschaftliche Leistung und verglich sie mit der des Kopernikus. Auch das war alles andere als neu oder originell; Ähnliches war in Deutschland seit mehr als zwei Jahrzehnten immer wieder behauptet (und natürlich immer wieder bestritten) worden. Doch auch diese Rede entfachte einen Sturm der Entrüstung in religiösen Kreisen und in der konservativen Presse. Selbst im Preußischen Landtag wurde eine Debatte über diese Rede geführt, in deren Verlauf der berüchtigte Hofprediger Adolf Stöcker äußerte: »Ich glaube, dass es sehr gefährlich ist, einem Universitätsprofessor die Macht zu geben, in die jugendlichen Gemüther die allerverderblichsten Lehren hineinzuwerfen [Zustimmung auf allen Seiten...] die nachher die Staatsregierung und die gesammte sittliche Arbeit der Nation nur zum Theil wieder herausbringen wird.«14 Für beide Reden gilt: Ihre Resonanz muß verwunderlich erscheinen, solange man sich auf ihren Inhalt konzentriert und die Person des Redners außer acht läßt. Zu beachten ist auch, daß Du Bois-Reymond seine Ignorabimus-Rede auf der 45. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte gehalten hatte. Diese Institution ging auf eine schaftsgeschichte und Rhetorik im 19. Jahrhundert. In: Scientia Poetica, Bd. 1 (1997), 120–39. 14 Stenographische Berichte über die Verhandlungen der durch die Allerhöchste Verordnung vom 2. November 1882 einberufenen beiden Häuser des Landtages, Haus der Abgeordneten. Zweiter Band. Berlin 1883, 848.
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Initiative des romantischen Naturforschers Lorenz Oken zurück, der im Jahre 1821 einen Ersten Aufruf zur Versammlung deutscher Naturforscher veröffentlicht und im darauffolgenden Jahr in Leipzig zu einer ersten solchen Versammlung eingeladen hatte. Die zugrundeliegende Idee war, daß im politisch zersplitterten Deutschland ein nationales Zentrum des geistigen und wissenschaftlichen Lebens fehlte, wie es Großbritannien in London und Frankreich in Paris besaß. Durch jährliche Versammlungen der Naturforscher und Ärzte sollte dieses Fehlen kompensiert, der mündliche Austausch und durch ihn der Fortschritt der Naturwissenschaft gefördert werden. Weniger offen ausgesprochen, für die Beteiligten aber auf der Hand liegend, war darüber hinaus eine nationalpolitische Zielsetzung dieser Versammlungen: Sie sollten ein Vorbild für die angestrebte politische Einigung Deutschlands sein und diese voranbringen. Die Versammlungen waren also bereits eine seit langem etablierte und bedeutsame Institution, als Du Bois-Reymond 1872 seine Rede hielt. Jeder, der Rang und Namen in der deutschen Wissenschaft hatte, war irgendwann einmal in ihrem Rahmen aufgetreten: Alexander von Humboldt, Carl Friedrich Gauss, Justus von Liebig oder Hermann von Helmholtz; im 20. Jahrhundert sollten dann Autoren wie Max Planck, Albert Einstein oder Werner Heisenberg folgen. Die Versammlungen waren also ein hochbedeutsames wissenschaftliches und nicht zuletzt auch wissenschaftspolitisches Forum, dessen Bedeutung für die Entwicklung der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert sehr hoch veranschlagt werden muß; sie waren das Vorbild für die Gründung ähnlicher Vereinigungen in Großbritannien (British Association for the Advancement of Science, gegründet 1831) in Frankreich (Congrès Scientifique, gegründet 1833) oder Italien (Rinunione degli Scienziati Italiani, gegründet 1833). Mit einem Wort: Die Versammlungen deutscher Naturforscher und Ärzte waren keine Spezialveranstaltungen einer scientific community, sondern ein öffentliches Ereignis; alles was auf diesem Forum
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geschah und gesagt wurde, konnte der Aufmerksamkeit in ganz Deutschland und auch darüber hinaus sicher sein.15 Kurz: Durch die Person des Redners und die Gelegenheit der Rede wurde der Auftritt Du Bois-Reymonds nicht nur als eine persönliche Meinungsäußerung wahrgenommen, sondern als eine Art offiziöses Statement aus dem ›Innersten‹ der Naturwissenschaften selber, daß die Reichweite der Naturwissenschaften begrenzt ist. Dieser Punkt ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis des Ignorabimus-Streites. Denn die Resonanz der Rede bestätigt die Diagnose, nach der die Naturwissenschaften im Jahre 1872 bereits eine enorme Deutungsmacht in gesellschaftlichen Fragen gewonnen hatten. Als Statement eines Theologen, eines Philosophen oder eines Literaten wäre das »Ignorabimus« keine Sensation gewesen und hätte keine Debatte ausgelöst, sondern bestenfalls ein weiteres Statement eines Theologen, Philosophen oder Literaten. Nur als Statement eines prominenten Naturwissenschaftlers, als eine Art Kritik von innen also, konnte es ein solch heftiges, breites und nachhaltiges Echo hervorrufen. Daß es diese Deutungsmacht zugleich in Frage stellte (oder in Frage zu stellen schien), ist eine Pointe, die seine Wirksamkeit noch erhöht hat. IV. Wirkung Da die Frage nach der weltanschaulichen Tragweite der Naturwissenschaften ein strukturelles Problem moderner Gesellschaften ist, kann es nicht überraschen, daß die von Du BoisReymond angestoßene Debatte in den folgenden Jahrzehnten Zu erinnern ist beispielsweise daran, daß auch der ›MaterialismusStreit‹ seinen Ausgang in einer Kontroverse genommen hatte, die im Jahre 1855 zwischen Rudolph Wagner und Carl Vogt auf der Göttinger Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte stattfand. Vgl. K. Bayertz/M. Gerhard/W. Jaeschke (Hgg.): Der Materialismus-Streit, a. a.O. 15
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weitergeführt wurde. Hier sollen zwei bedeutsame Linien dieser Debatte hervorgehoben werden: Die erste ist in den Texten der hier vorliegenden Sammlung gut repräsentiert, die zweite konnte aus verschiedenen Gründen hier nicht berücksichtigt werden. Die erste Linie nimmt ihren Ausgangspunkt bei der Frage, ob die Naturwissenschaften als der einzige Typus von Wissenschaft angesprochen werden müssen oder ob es neben (oder sogar ›über‹) ihnen noch andere Arten von Wissenschaft geben kann oder gar muß. In einer der frühesten philosophischen Reaktionen hatte Eduard von Hartmann die Ignorabimus-Rede in den Kontext dessen gestellt, was er als überfällige Anfänge naturwissenschaftlicher Selbsterkenntnis bewertete. Mit erheblicher Verzögerung gegenüber den Philosophen werde man nun auch im Kreis der Naturwissenschaftler dessen gewahr, daß ihre Erkenntnis- und Forschungsweise nicht die einzige mögliche und die einzig wirkliche sei. Die Naturerkenntnis habe mehrere Stufen, von denen die wissenschaftliche nur die mittlere zwischen Naturkunde und Naturphilosophie sei. Neben dieser naturtheoretischen Erkenntnispyramide stehe ein zweiter Bereich des Erkennens, der sich mit dem Geist beschäftige. Du Bois-Reymond habe völlig richtig gesehen, daß der Geist nicht durch naturwissenschaftliche Prinzipien und Methoden erkennbar sei. Er habe aber die Augen vor der Konsequenz verschlossen, die sich daraus ergebe: daß der Geist deshalb mit Hilfe anderer Prinzipien und Methoden erkannt werden müsse. Die »Gesetze des geistigen Lebens« müssen nach von Hartmann »mit Entschiedenheit die qualitative Seite als integrirenden Bestandtheil desselben und als charakteristisches Merkmal des Subjectiven festhalten und dafür auf exacte Präcisirung des Quantitativen meistens verzichten« (41). Und schließlich dürfe auch die Metaphysik als eine – neben den Natur- und den Geisteswissenschaften – dritte Sphäre nicht vergessen werden. »Ohne eine Metaphysik fällt die Welt in zwei völlig heterogene Theile aus einander, in
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eine äußere Seite des körperlichen Daseins und eine innere des geistigen Bewußtseins, und jede empirisch constatirte Relation zwischen diesen schlechterdings heterogenen Gebieten erscheint als ein unbegreifliches Wunder, doppelt unbegreiflich, wenn es sich nicht bloß um einzelne causale Beziehungen, sondern um eine großartige systematische Harmonie beider Reiche handelt. Nur in einer Metaphysik kann dieses Räthsel seine Lösung finden, nämlich in der Beziehung, in welche die Metaphysik der Natur und die des Geistes zu einander gesetzt werden.« (42) An diesen Gedanken konnte zehn Jahre später Wilhelm Dilthey anknüpfen. In seiner berühmten Einleitung in die Geisteswissenschaften geht auch er auf Du Bois-Reymonds Rede ein und nimmt dessen These von der Nicht-Ableitbarkeit der geistigen Tatsachen aus materiellen Vorgängen als Argument für die Notwendigkeit einer von den Naturwissenschaften unabhängigen Geisteswissenschaft. Seine Botschaft ist ambivalent. Auf der einen Seite lesen sich seine Ausführungen wie das Plädoyer für eine Arbeitsteilung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, bei der jede von ihnen aufgrund ihrer Gegenstandsadäquatheit gleichberechtigt und autonom ist. Abgesehen davon, daß unter dieser Voraussetzung (wie schon bei Kant) tatsächlich eine Art von Dualismus von Natur und Geist unvermeidbar zu werden droht, läuft eine solche Separierung der Sphären am Ende dann doch auf das Postulat eines Relevanzgefälles hinaus. Für Dilthey reichen die Beweggründe für die Abgrenzung der Geistes- von den Naturwissenschaften nämlich »in die Tiefe und Totalität des menschlichen Selbstbewußtseins« (189). In sich selbst findet der Mensch eine Souveränität des Willens, eine Verantwortlichkeit und Freiheit des Handelns, durch die er sich von der gesamten Natur absondert. »Und da für ihn nur das besteht, was Thatsache seines Bewußtseins ist, so liegt in dieser selbständig in ihm wirkenden geistigen Welt jeder Werth, jeder Zweck des Lebens, in der Herstellung geistiger Thatbestände jedes Ziel seiner Handlungen. So
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sondert er von dem Reich der Natur ein Reich der Geschichte, in welchem, mitten in dem Zusammenhang einer objektiven Nothwendigkeit, welcher Natur ist, Freiheit an unzähligen Punkten dieses Ganzen aufblitzt; hier bringen die Thaten des Willens, im Gegensatz zu dem mechanischen Ablauf der Naturveränderungen, welcher im Ansatz Alles was in ihm erfolgt schon enthält, durch ihren Kraftaufwand und ihre Opfer, deren Bedeutung das Individuum ja in seiner Erfahrung gegenwärtig besitzt, wirklich etwas hervor, erarbeiten Entwicklung, in der Person und in der Menschheit: über die leere und öde Wiederholung von Naturlauf im Bewußtsein hinaus, in deren Vorstellung als einem Ideal geschichtlichen Fortschritts die Götzenanbeter der intellektuellen Entwickelung schwelgen.« (190) Pointiert gesagt heißt das: Die Naturwissenschaften haben es bloß mit der dem Menschen äußerlichen Natur zu tun; die den Menschen ›eigentlich‹ interessierenden Fragen stellen sich in den jenseits der Natur befindlichen Sphären des Geistigen. Sehr viel expliziter formuliert und weiter getrieben findet sich diese These eines Relevanzgefälles zwischen Geistes- und Naturwissenschaft in einem Beitrag, der 1898 unter dem Titel Ignorabimus in der vielgelesenen Zeitschrift Zukunft erschien. Die Naturwissenschaften werden hier umstandslos zur »Wissenschaft der Handgreiflichkeiten« abgewertet; und eine solche vermag uns natürlich keine Befriedigung »unseres tiefsten Dranges nach Erkenntniß« zu verschaffen. Wir verdanken den Naturwissenschaften »mancherlei Behaglichkeiten des materiellen Lebens«, aber sonst nichts. »Einen einheitlichen Begriff der Welt gab sie uns nie, nie eine Richtschnur unseres geistigen Handelns, nie eine glaubhafte Ethik und am Wenigsten Das, wonach wir Alle dürsten: ein absolutes Ziel des Daseins.« (236) Selbst wenn das materialistische Erkenntnisideal realisierbar wäre, wenn also dereinst »die atomistische Zergliederung der Naturvorgänge widerspruchsfrei und lückenlos vollendet« sein sollte, wird nicht viel gewonnen sein. »Denn
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der neuen Lehre wird der schwerste aller literarischen Fehler anhaften: nicht interessant zu sein. Von den großen Fragen, die jetzt und in Zukunft die Welt bewegen, von menschlichen, sittlichen, ökonomischen, gesellschaftlichen und nationalen Dingen, enthält sie kein Wort, noch weniger vom Wesen der Materie, des Geistes und ihrem Zusammenhang. Denn für deren letzte Einheiten giebt es auf materiellem Gebiet keinen gemeinsam übergeordneten Begriff, dessen die ›Erklärung‹ bedarf. Mit einem Wort: die mechanische Naturlehre mag unser Wissen erweitern: unsere Einsicht in das Wesen der Welt vertieft sie nicht.« (238) Der Verfasser dieses Artikels war Walther Rathenau. Die exakten Naturwissenschaften bilden für ihn eine Form objektiver und allgemeine Erkenntnis, die subjektiv belanglos bleiben muß. Und so kommt der promovierte Physiker Rathenau zu einem für die weltanschauliche Autorität der Naturwissenschaften vernichtenden Ergebnis: »Wir gehen einer Zeit politischen Unmuthes und deshalb philosophischer Vertiefung entgegen. Das stolze letzte Zeitalter des Realismus und der Naturwissenschaft ist verwelkt; es hat Früchte getragen, aber nicht für den Geist. Es hat die Welt reicher, aber nicht werthvoller gemacht, es hat unser Wissen, nicht unsere Erkenntniß erweitert […] Wir ersticken in technischen Lebensannehmlichkeiten und es ist nachgerade schwerer geworden, ein Bedürfniß zu finden, als es zu befriedigen. Ziehen wir die geistige Bilanz, so sehen wir uns dem Bankerott gegenüber.« (250) Rathenau zog aus dem »Ignorabimus« genau die Konsequenzen, vor denen Ernst Haeckel oder Ludwig Büchner gewarnt hatten: Das in den Naturwissenschaften verkörperte Rationalitätsideal wird marginalisiert, und die ›eigentlich‹ wichtigen Fragen werden einem von ihnen radikal verschiedenen Denktypus überantwortet. Von hier aus war es kein weiter Weg in das herannahende Fin de siècle mit seinem Neuidealismus, seinem Ästhetizismus und seiner unverblümten Rehabilitation des Irrationalismus. Die Naturwissenschaften werden
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auf das Instrumentarium einer kalten und platten ›Zivilisation‹ herabgestuft, der eine tiefe und natürlich vor allem deutsche ›Kultur‹ gegenübersteht. Wir sind daher auch nicht überrascht, daß ein Rudolf Steiner das »Ignorabimus« unter die vorbereitenden Einsichten gerechnet hat, auf denen er dann seine gar nicht materialistische Weltanschauung errichten konnte.16 Aus den vormaligen Geisteswissenschaften werden jetzt ›Geisterwissenschaften‹, die nahtlos in den Okkultismus und die Esoterik übergehen. Die zweite Linie ist von einer deutlich distanzierteren Bezugnahme auf das »Ignorabimus« geprägt. Wir finden sie in den Schriften Ludwig Wittgensteins und des »Wiener Kreises«. In seinem Tractatus logico-philosophicus verfolgt Wittgenstein ein positives und ein negatives Ziel. Auf der positiven Seite möchte er zeigen, daß und wie uns allein die Naturwissenschaften eine wahre Abbildung der Welt zur Verfügung stellen. »Die Gesamtheit der wahren Sätze ist die gesamte Naturwissenschaft (oder die Gesamtheit der Naturwissenschaften).«17 Daß damit ein Gegenprogramm zu Du Bois-Reymond formuliert und eine uneingeschränkte Bekräftigung der epistemischen Autorität der Naturwissenschaften intendiert ist, zeigt sich am Ende des Buches, wo Wittgenstein auf die Frage nach Erkenntnisgrenzen zu sprechen kommt: »Zu einer Antwort, die man nicht aussprechen kann, kann man auch die Frage nicht aussprechen. Das Rätsel gibt es nicht. Wenn sich eine Frage überhaupt stellen läßt, so kann sie auch beantwortet werden.«18 Damit war eine sprachphilosophische Umdeutung des Problems vorgenommen, die darin besteht, daß es keine
Rudolf Steiner: Die Kultur der Gegenwart im Spiegel der Geisteswissenschaft. In: Aus der Akasha-Chronik. Dornach 1973, 14; ders.: Menschenfragen und Weltenantworten. Dornach 1969, 209. 17 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Frankfurt 1973, 4.11. 18 Ebd., 6.5. 16
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prinzipiell unbeantwortbaren Fragen (= Rätsel) gibt, weil eine Frage nur dann sinnvoll ist, wenn sie prinzipiell beantwortet werden kann. Und das heißt wiederum: Prinzipiell Unerkennbares kann es aus begrifflichen Gründen nicht geben; die Rede von prinzipiell Unerkennbarem ist sinnlos. Im Vorwort des Tractatus kommt dieser Grundgedanke deutlich zum Ausdruck: »Man könnte den ganzen Sinn des Buches etwa in die Worte fassen: Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen. Das Buch will also dem Denken eine Grenze ziehen, oder vielleicht – nicht dem Denken, sondern dem Ausdruck der Gedanken: Denn um dem Denken eine Grenze zu ziehen, müßten wir beide Seiten dieser Grenze denken können (wir müßten also denken können, was sich nicht denken läßt.) Die Grenze wird also nur in der Sprache gezogen werden können und was jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein.« Für Wittgenstein ist es daher ein sinnloses Unterfangen, wenn Du Bois-Reymond und andere zu bestimmen versuchen, was nicht erkannt werden kann. Denn man kann nicht erkennen/ sagen, was nicht erkennbar/sagbar ist; sondern nur erkennen/ sagen, was erkennbar/sagbar ist: die Sätze der Naturwissenschaften. Damit ist auch der negative Teil des Wittgensteinschen Programms schon identifiziert. Er bezieht sich auf das, was jenseits der Grenze des Erkennbaren bzw. Sagbaren liegt: Es ist »Unsinn«, über den man schweigen sollte. »Unsinn« ist hier natürlich als ein Terminus technicus zu verstehen, der definiert ist als das, was in dem oben skizzierten Sinne nicht ›sagbar‹ ist. Inhaltlich handelt es sich dabei um all das, was traditionell mit Ausdrücken wie ›Religion‹, ›Philosophie‹, ›Metaphysik‹ etc. angesprochen wird, die Gesamtheit der Fragen und Probleme also, die nicht mit den Mitteln der Naturwissenschaften beantwortet werden können. Wittgensteins Intention ist nicht, diese Fragen und Probleme als unwichtig abzutun. Im Gegenteil, sie beziehen sich auf die wichtigste und
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bedeutsamste Dimension des menschlichen Lebens. Sie sind »unsinnig« nur darin, daß sie eben nicht mit den Mitteln der Naturwissenschaften gelöst werden können. Gegen Ende des Tractatus hebt er genau das noch einmal hervor: »Wir fühlen, daß selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.«19 Mit einem Wort: So uneingeschränkt Wittgenstein die epistemische Autorität der Naturwissenschaften verteidigt, so vernichtend ist sein Urteil im Hinblick auf ihre weltanschauliche Autorität. Wittgensteins Transformation des Problems der Erkenntnisgrenzen in das Problem der Grenzen des sprachlichen Ausdrucks und seine These, daß alles, was jenseits dieser Grenze liegt, »Unsinn« sei, wurde dann zu einem der zentralen Ansatzpunkte des logischen Positivismus. Und bei ihm finden wir dann auch, was bei Wittgenstein nicht geschieht: ein expliziter Bezug auf das »Ignorabimus« und den anschließenden Streit. So kommt Rudolf Carnap in den Schlußparagraphen seines 1928 veröffentlichten Buches Der logische Aufbau der Welt auf die »Aufgaben und Grenzen der Wissenschaft« zu sprechen. Seine These ist, daß die Wissenschaft keine Grenzen hat und daß es keine Fragen gibt, deren Beantwortung für die Wissenschaft unmöglich wäre. Gesichert wird die Wahrheit dieser Ausgangsthese durch eine an den Tractatus erinnernde Bestimmung dessen, was »Beantwortbarkeit einer Frage« bedeutet. Sie läuft darauf hinaus, daß (a) nur sinnvolle Fragen beantwortbar sind und (b) sinnvoll alle Fragen sind, die im Rahmen einer empiristisch verstandenen Wissenschaft beantwortbar sind. Freilich kann auch Carnap nicht darüber hinwegsehen, daß jene »höheren« Probleme durch eine solche Festsetzung nicht verschwinden. Die Fragen und Probleme bleiben, aber sie gelten nicht mehr als (wissenschaftliche oder rationale) Fragen und Probleme. Es »gibt zwar für uns 19
Ebd., 6.52.
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kein ›Ignorabimus‹: trotzdem gibt es unter den Lebensrätseln vielleicht unlösbare. Das ist kein Widerspruch. ›Ignorabimus‹ würde bedeuten: es gibt Fragen, deren Antwort zu finden uns grundsätzlich versagt ist. Die ›Lebensrätsel‹ aber sind keine Fragen, sondern Situationen des praktischen Lebens. Das ›Rätsel des Todes‹ besteht in der Erschütterung durch den Tod eines Mitmenschen oder in der Angst vor dem eigenen Tod. Es hat nichts zu tun mit den Fragen, die sich über den Tod stellen lassen, wenn auch die Menschen, sich selbst mißverstehend, zuweilen das Rätsel durch Aussprechen solcher Fragen zu formulieren glauben. Diese Fragen können von der Biologie grundsätzlich (wenn auch im heutigen Stadium nur zum geringen Teil) beantwortet werden. Aber diese Antworten helfen dem erschütterten Menschen nicht, und darin zeigt sich jenes Selbstmißverstehen. Das Rätsel besteht vielmehr in der Aufgabe, mit der Lebenssituation ›fertig zu werden‹, die Erschütterung zu verwinden, vielleicht sogar für das weitere Leben fruchtbar zu machen.«20 Wie vor ihnen Wittgenstein setzten die Vertreter des Wiener Kreises daher den von Haeckel und Büchner einerseits, von Mach und Ostwald andererseits geführten Kampf gegen das »Ignorabimus« fort. Für sie sind die Naturwissenschaften epistemisch unbegrenzt in einem doppelten Sinne: (a) Es gibt nichts, das ihrem Zugriff entzogen wäre und den Fortschritt des Erkennens beschränken könnte; (b) sie sind konkurrenzlos, denn es gibt keine andere Erkenntnisweise, die ›Sagbares‹ zu produzieren in der Lage wäre. Zugleich aber geraten sie in eine unerwartete Nähe zu jener Denkströmung, die den Naturwissenschaften jegliche Relevanz für die menschlichen ›Lebensfragen‹ abspricht und diese damit einem methodisch unkontrollierten, womöglich sogar irrationalen Denktypus überantwortet. 20
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Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt. Hamburg 1961,
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Unter dem Druck (nicht nur) der beiden hier kurz skizzierten Theorielinien ist das, was im 19. Jahrhundert unter das Etikett ›Materialismus‹ fiel, philosophisch in die Defensive geraten. Erst in der jüngeren Vergangenheit lebt es wieder auf, wenn auch eher selten unter seinem alten Namen. Bevorzugt werden heute Bezeichnungen wie ›Physikalismus‹ oder ›Naturalismus‹. Und wie damals geht der Streit auch heute noch um die Frage, ob alle weltanschaulichen Probleme auf der Basis der naturwissenschaftlichen Erkenntnisweise lösbar sind oder ob die Naturwissenschaften gänzlich irrelevant für diese Probleme sind. Daß diese Alternative nicht alle Möglichkeiten des Verhältnisses beider einschließen könnte, wird heute ebenso selten erwogen, wie es damals der Fall war. *** Die Veröffentlichung dieses Bandes wie auch der obenerwähnten Bände zum ›Materialismus-Streit‹ und zum ›Darwinismus-Streit‹ steht in einem größeren Arbeitszusammenhang: In den Jahren 2002, 2003 und 2004 haben am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld drei Symposien zum Materialismus-Streit der 1850er Jahre, zum Darwinismus-Streit der 1860er Jahre und zum Ignorabimus-Streit der 1870er Jahre stattgefunden. Die aus diesen Symposien hervorgegangenen Abhandlungen sind in drei Tagungsbänden veröffentlicht worden;21 es ist jedoch schon bei der Planung der Symposien beabsichtigt gewesen, diese drei für die Bewußtseinsgeschichte des 19. Jahrhunderts so wichtigen Streitsachen nicht allein durch diese Abhandlungen zu erschließen, sondern auch den ursprünglichen Zeugnissen in Kurt Bayertz/Myriam Gerhard/Walter Jaeschke (Hrsg.): Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Bd. 1: Der Materialismus-Streit; Bd. 2: Der Darwinismus-Streit; Bd. 3: Der Ignorabimus-Streit. Hamburg 2007. 21
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der gegenwärtigen Diskussion wieder Präsenz zu verschaffen. Dem dient die mit dem vorliegenden Band abgeschlossene dreibändige Quellensammlung. Zu ihrer Realisierung mußte allerdings ein erhebliches Problem bewältigt werden: das Umfangsproblem. Die damaligen Diskussionen sind ja nicht ›akademische‹, im engeren Sinne philosophische oder auch naturwissenschaftliche Auseinandersetzungen gewesen, die in begrenzten Zirkeln hinter den verschlossenen Türen von Hörsälen oder Laboratorien geführt worden wären. Ihre Bedeutung besteht vielmehr darin, daß sie breite Schichten des damaligen Bürgertums ergriffen und bewegt haben. Deshalb sind sie aber nicht in einer begrenzten Zahl von Büchern geführt worden, sondern zugleich und vor allem in einer unüberschaubaren Fülle von Zeitschriftenund sogar Zeitungsartikeln, die aber ebenfalls oft monographischen Umfang erlangt haben. Die damaligen Buchpublikationen konnten hier aus Umfangsgründen nicht aufgenommen, angesichts ihrer damaligen, an der Vielzahl der Auflagen ablesbaren Bedeutung aber auch nicht ignoriert werden, so daß allein der Weg blieb, einzelne Kapitel aus ihnen auszuwählen, wie auch aus der Vielzahl der Abhandlungen diejenigen herauszugreifen, die zum einen für die damals streitenden Parteien in besonderem Maße repräsentativ sind und deren Folge zum anderen den Verlauf der Debatten widerspiegelt. Die drei Bände können deshalb zwar nicht beanspruchen, die damaligen Diskussionen umfassend oder gar erschöpfend wiederzugeben, doch bieten sie einen charakteristischen Ausschnitt aus ihnen und vermitteln einen Einblick in sie – und zudem einen Einblick, der erkennen läßt, wie sich unsere heutigen Diskussionen zu den damaligen verhalten: daß die heutigen durch die damaligen in vielerlei Hinsicht präformiert sind, weil vieles heute als selbstverständlich Geltende damals erst erstritten worden ist. Es ist uns eine angenehme Pflicht, denen zu danken, die gemeinsam mit uns an der Verwirklichung dieses Projekts ge-
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arbeitet haben: Ulrike Pappert, in deren Händen die Korrektur der Bände gelegen hat, sowie Angelika Niediek, die das Personenverzeichnis beigesteuert hat. Kurt Bayertz Myriam Gerhard Walter Jaeschke
Emil Du Bois-Reymond Über die Grenzen des Naturerkennens Ein Vortrag in der zweiten öffentlichen Sitzung der 45. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Leipzig am 14. August 1872* In Nature’s infinite book of secrecy A little we can read. |
Meine Herren ! Wie es einen Welteroberer der alten Zeit an einem Rasttag inmitten seiner Siegeszüge verlangen konnte, die Grenzen der unübersehbaren seiner Herrschaft unterworfenen Länderstrecken genauer festgestellt zu sehen, um hier ein noch nicht zinspflichtig gemachtes Volk zum Tribut heranzuziehen, dort in der Wasserwüste ein seinen Reiterschaaren unüberwindliches Naturhinderniss, und die wahre Schranke seiner Macht zu erkennen: so wird es für die Weltbesiegerin unserer Tage, die Naturwissenschaft, kein unangemessenes Beginnen sein, wenn sie bei festlicher Gelegenheit von der Arbeit ruhend die wahren Grenzen ihres unermesslichen Reiches einmal klar sich vorzuzeichnen versucht. Für um so gerechtfertigter halte ich dies Unternehmen, als ich glaube, dass über die Grenzen des Naturerkennens zwei Irrthümer sehr verbreitet sind, und als ich es für möglich halte, einer solchen Betrachtung, trotz ihrer scheinbaren Trivialität, | selbst für die, welche jene Irrthümer nicht theilen, einige neue Seiten abzugewinnen. Ich setze mir also vor, die Grenzen des Naturerkennens aufzusuchen, und beantworte zunächst die Frage, was Naturerkennen sei. * Leipzig 1872.
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Naturerkennen – genauer gesagt naturwissenschaftliches Erkennen oder Erkennen der Körperwelt mit Hülfe und im Sinne der theoretischen Naturwissenschaft – ist Zurückführen der Veränderungen in der Körperwelt auf Bewegungen von Atomen, die durch deren von der Zeit unabhängige Centralkräfte bewirkt werden, oder Auflösung der Naturvorgänge in Mechanik der Atome. Es ist psychologische Erfahrungsthatsache, dass, wo solche Auflösung gelingt, unser Causalitätsbedürfniss vorläufig sich befriedigt fühlt. Die Sätze der Mechanik sind mathematisch darstellbar, und tragen in sich dieselbe apodiktische Gewissheit, wie die Sätze der Mathematik. Indem die Veränderungen in der Körperwelt auf eine constante Summe potentieller und kinetischer Energie, welche einer constanten Menge von Materie anhaftet, zurückgeführt werden, bleibt in diesen Veränderungen selber nichts zu erklären übrig. Kant’s Behauptung in der Vorrede zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft, »dass in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin | Mathematik anzutreffen sei« – ist also vielmehr noch dahin zu verschärfen, dass für Mathematik Mechanik der Atome gesetzt wird. Sichtlich dies meinte er selber, als er der Chemie den Namen einer Wissenschaft absprach, und sie unter die Experimentallehren verwies. Es ist nicht wenig merkwürdig, dass in unserer Zeit die Chemie, indem sie durch die Entdeckung der Substitution gezwungen wurde, den elektrochemischen Dualismus aufzugeben, sich von dem Ziel, eine Wissenschaft in diesem Sinne zu werden, scheinbar wieder weiter entfernt hat. Denken wir uns alle Veränderungen in der Körperwelt in Bewegungen von Atomen aufgelöst, die durch deren constante Centralkräfte bewirkt werden, so wäre das Weltall naturwissenschaftlich erkannt. Der Zustand der Welt während eines Zeitdifferentiales erschiene als unmittelbare Wirkung ihres Zustandes während des vorigen und als unmittelbare Ursach ihres Zustandes während des folgenden Zeitdifferentiales. Ge-
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setz und Zufall wären nur noch andere Namen für mechanische Nothwendigkeit. Ja es lässt eine Stufe der Naturerkenntniss sich denken, auf welcher der ganze Weltvorgang durch Eine mathematische Formel vorgestellt würde, durch Ein unermessliches System simultaner Differentialgleichungen, aus dem sich Ort, Bewegungsrichtung und Geschwindigkeit jedes Atomes im Weltall zu jeder Zeit ergäbe. »Ein | Geist,« sagt Laplace, »der für einen gegebenen Augenblick alle Kräfte kennte, welche in der Natur wirksam sind, und die gegenseitige Lage der Wesen, aus denen sie besteht, wenn sonst er umfassend genug wäre, um diese Angaben der Analysis zu unterwerfen, würde in derselben Formel die Bewegungen der grössten Weltkörper und des leichtesten Atoms begreifen: nichts wäre ungewiss für ihn, und Zukunft wie Vergangenheit wäre seinem Blicke gegenwärtig. Der menschliche Verstand bietet in der Vollendung, die er der Astronomie zu geben gewusst hat, ein schwaches Abbild solchen Geistes dar.«1 Essai philosophique sur les probabilités. Seconde Édition. Paris 1814. p. 3. Die merkwürdige Stelle lautet im Zusammenhange: Les événemens actuels ont avec les précédens, une liaison fondée sur le principe évident, qu’une chose ne peut pas commencer d’être, sans une cause qui la produise. Cet axiome connu sous le nom de principe de la raison suffi sante, s’étend aux actions même les plus indifférentes. La volonté la plus libre ne peut sans un motif déterminant, leur donner naissance; car si toutes les circonstances de deux positions étant exactement les mêmes, elle agissait dans l’une et s’abstenait d’agir dans l’autre, son choix serait un effet sans cause … L’opinion contraire est une illusion de l’esprit qui perdant de vue, les raisons fugitives du choix de la volonté dans les choses indifférentes, se persuade qu’elle s’est déterminée d’ellemême et sans motifs. Nous devons donc envisager l’état présent de l’univers, comme l’effet de son état antérieur, et comme la cause de celui qui va suivre. Une intelligence qui pour un instant donné, connaîtrait toutes les forces dont la nature est animée, et la situation respective des êtres qui la composent, si d’ailleurs elle était assez vaste pour soumettre ces données a l’analyse, embrasserait dans la même formule, les mouvemens des plus grands corps de l’univers et ceux du plus léger atome: rien se serait in1
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In der That, wie der Astronom nur der Zeit in den Mondgleichungen einen gewissen negativen Werth zu ertheilen braucht, um zu ermitteln, ob, als Perikles nach Epidaurus sich einschiffte, die Sonne für den Piraeeus verfinstert ward, so könnte der von Laplace gedachte Geist durch geeignete Discussion seiner Weltformel uns sagen, wer die Eiserne Maske war oder wie der »President« zu Grunde ging. Wie der Astronom den Tag vorhersagt, an dem nach Jahren ein Komet aus den Tiefen des Weltraumes am Himmelsgewölbe wieder auftaucht, so läse jener Geist in seinen Gleichungen den Tag, da das griechische Kreuz von der Sophienmoschee blitzen oder da England seine letzte Steinkohle verbrennen wird. Setzte er in der Weltformel t = – ∞, so | enthüllte sich ihm der räthselhafte Urzustand der Dinge. Er sähe im unendlichen Raume die Materie bereits entweder bewegt oder ungleich vertheilt, da bei gleicher Vertheilung das labile Gleichgewicht nie gestört worden wäre. Liesse er t im positiven Sinn unbegrenzt wachsen, so erführe er, ob Carnot’s Satz erst nach unendlicher oder schon nach endlicher Zeit das Weltall mit eisigem Stillstande bedroht. Solchem Geiste wären die Haare auf unserem Haupte gezählt, und ohne sein Wissen fiele kein Sperling zur Erde. Ein vor- und rückwärts gewandter Prophet, wäre ihm, wie schon certain pour elle, et l’avenir comme le passé, serait présent à ses yeux. L’esprit humain offre dans la perfection qu’il a su donner à l’astronomie, une faible esquisse de cette intelligence. Ses découvertes en mécanique et en géométrie, jointes à celle de la pesanteur universelle, l’ont mis à portée de comprendre dans les mêmes expressions analytiques, les états passés et futurs du système du monde. En appliquant la même méthode à quelques autres objets de ses connaissances, il est parvenu à ramener à des lois générales, les phénomènes observés, et à prévoir ceux que des circonstances données doivent faire éclore. Tous ses efforts dans la recherche de la vérité, tendent à le rapprocher sans cesse de l’intelligence que nous venons de concevoir, mais dont il restera toujours infi nement éloigné. Cette tendance propre à l’espèce humaine, est ce qui la rend supérieure aux animaux; et ses progrès en ce genre, distinguent les nations et les siècles, et fondent leur véritable gloire.«
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d’Alembert in der Einleitung zur Encyklopaedie, Laplace’s Gedanken im Keime hegend, es ausdrückte, »das Weltganze nur eine einzige Thatsache und Eine grosse Wahrheit«.2 Es braucht nicht gesagt zu werden, dass der menschliche Geist von dieser vollkommenen Naturerkenntniss stets weit entfernt bleiben wird. Um den Abstand zu zeigen, der uns sogar von deren ersten Anfängen trennt, genügt Eine Bemerkung. Ehe die Differentialgleichungen der Weltformel angesetzt werden könnten, müssten alle Naturvorgänge auf Bewegungen eines substantiell unterschiedslosen, mithin eigenschaftslosen Substrates dessen zurückgeführt sein, was uns als verschiedenartige Materie erscheint, mit anderen Worten, alle Qualität müsste aus Anordnung und Bewegung solchen Substrates erklärt sein. | Encyclopédie. Discours préliminaire. Paris 1751. Fol. t. I. p. IX. »L’Univers, pour qui sauroit l’embrasser d’un seul point de vûe, ne serait, s’il est permis de le dire, qu’un fait unique et une grande vérité.« Noch vollständiger hat bereits Leibniz den Laplace’schen Gedanken entwickelt. Bayle hatte gegen die Lehre von der praestabilirten Harmonie eingewendet, sie mache für den Körper eine Voraussetzung ähnlich der eines Schiffes, welches durch eigene Kraft dem Hafen zusteure. Leibniz erwiedert, dies sei gar nicht so unmöglich, wie Bayle meine. »Il n’y a pas de doute qu’un homme pourroit faire une machine, capable de se promener durant quelque tems par une ville, et de se tourner justement aux coins de certaines rues. Un esprit incomparablement plus parfait, quoique borné, pourroit aussi prévoir et éviter un nombre incomparablement plus grand d’obstacles; ce qui est si vrai, que si ce monde, selon l’hypothese de quelques uns, n’était qu’un composé d’un nombre fi ni d’atomes, qui se remuassent suivant les lois de la mécanique, il est sûr, qu’un esprit fi ni pourroit être assez relevé pour comprendre et prévoir démonstrativement tout ce qui y doit arriver dans un tems déterminé; de sorte que cet esprit pourroit non seulement fabriquer un vaisseau, capable d’aller tout seul à un port nommé, en lui donnant d’abord le tour, la direction, et les ressorts qu’il faut; mais il pourroit encore former un corps capable de contrefaire un homme.« Réplique aux Réflexions contenues dans la seconde Édition du Dictionnaire critique de Mr. Bayle etc. (G.G. Leibnitii Opera philosophica etc. Ed. J.E. Erdmann. Berolini 1840. 4 °. p. 183. 184. 2
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Dies ist völlig im Einklange mit der Lehre von den Sinnen. Allem Ermessen nach leiten Sinnesorgane und -Nerven den zugehörigen Hirnprovinzen oder, wie Joh. Müller sie nannte, den Sinnsubstanzen schliesslich einerlei Bewegung zu. Wie in dem von Hrn. Bidder ersonnenen, Hrn. Vulpian gelungenen Versuch am Tast- und Muskelnerven der Zunge Empfindungs- und Bewegungsfasern so mit einander verheilen, dass Erregung von Fasern der einen Art durch die Narbe auf Fasern der anderen Art übergeht, so würden, wäre der Versuch möglich, vollends Fasern verschiedener Sinnesnerven mit einander verschmelzen. Bei über’s Kreuz verheilten Seh- und Hörnerven hörten wir mit dem Auge den Blitz als Knall, und sähen mit dem Ohre den Donner als Reihe von Lichteindrücken.3 Die Sinnesempfindung als solche entsteht also erst in den Sinnsubstanzen. Diese Substanzen sind es, welche die in allen Nerven gleichartige Erregung überhaupt erst in Sinnesempfindung übersetzen, und dabei je nach ihrer Natur, als Träger der »specifischen Energien« Joh. Müller’s, die Qualität erzeugen. Das mosaische: Es ward Licht, ist physiologisch falsch. Licht ward erst, als der erste rothe Augenpunkt eines Infusoriums zum ersten Male Hell und Dunkel unterschied. Ohne Seh- und ohne Gehörsinnsubstanz wäre diese farbenglühende, tönende Welt um uns her finster und stumm. | Und stumm und finster an sich, d. h. eigenschaftslos, wie sie aus der subjectiven Zergliederung hervorgeht, ist die Welt auch für die durch objective Betrachtung gewonnene mechanische Anschauung, welche statt Schalles und Lichtes nur Schwingungen eines eigenschaftslosen, dort zur wägbaren, hier zur unwägbaren Materie gewordenen Urstoffes kennt. Aber wie wohlbegründet diese Vorstellungen im Allgemeinen auch sind, zu ihrer Durchführung im Einzelnen fehlt noch so gut wie Alles. Der Stein der Weisen, der die heute noch unDiese schöne Art, die Grundwahrheit der Lehre von den Sinnen zu erläutern, verdanke ich Hrn. Donders. 3
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zerlegten Stoffe ineinander umwandelte und aus einem höheren Grundstoffe, wenn nicht dem Urstoffe selber, erzeugte, müsste gefunden sein, ehe die ersten Vermuthungen über Entstehung scheinbar verschiedenartiger aus in Wirklichkeit unterschiedsloser Materie möglich würden. Obschon der menschliche Geist von dem von Laplace gedachten Geiste stets weit entfernt bleiben wird, ist er doch nur stufenweise davon verschieden, etwa wie eine bestimmte Ordinate einer Curve von einer zwar ausnehmend viel grösseren, jedoch noch endlichen Ordinate derselben Curve. Wir gleichen diesem Geist, denn wir begreifen ihn. Ja es ist die Frage, ob nicht ein Geist wie Newton’s von dem von Laplace gedachten Geiste sich weniger unterscheidet, als der Geist eines Australnegers oder eines Pescheräh’s vom Geiste Newton’s. | Mit anderen Worten, die Unmöglichkeit, die Differentialgleichungen der Weltformel aufzustellen, zu integriren und das Ergebniss zu discutiren, ist keine grundsätzliche, sondern beruht auf der Unmöglichkeit, die nöthigen thatsächlichen Bestimmungen zu erlangen, und, selbst wenn dies möglich wäre, auf deren unermesslicher Ausdehnung, Mannigfaltigkeit und Verwickelung. Die Naturerkenntniss, welche der von Laplace gedachte Geist besässe, stellt somit die höchste denkbare Stufe unseres eigenen Naturerkennens vor. Wir können deshalb jene Erkenntniss bei der Untersuchung über die Grenzen dieses Erkennens zu Grunde legen. Was bei ihr unerkannt bliebe, das wird unserem in so viel engeren Schranken eingeschlossenen Geiste vollends verborgen bleiben. Zwei Stellen sind es nun, wo auch der von Laplace gedachte Geist vergeblich weiter vorzudringen trachten würde, vollends wir stehen zu bleiben gezwungen sind. Erstens nämlich ist daran zu erinnern, dass das Naturerkennen, welches vorher als unser Causalitätsbedürfniss vorläufig befriedigend bezeichnet wurde, in Wahrheit dies nicht thut, und kein Erkennen ist. Die Vorstellung, wonach die Welt aus
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stets dagewesenen und unvergänglichen kleinsten Theilen besteht, deren Centralkräfte alle Bewegung erzeugen, ist gleichsam nur Surrogat einer Erklärung. Sie führt, wie bemerkt, alle Veränderungen | in der Körperwelt auf eine constante Summe von Kräften und eine constante Menge von Materie zurück, und lässt an den Veränderungen selber also nichts zu erklären übrig. Bei dem gegebenen Dasein jenes Constanten können wir, der gewonnenen Einsicht froh, eine Zeit lang uns beruhigen; bald aber verlangen wir tiefer einzudringen, und es selber seinem Wesen nach zu begreifen. Da ergiebt sich denn bekanntlich, dass zwar innerhalb bestimmter Grenzen die atomistische Vorstellung für den Zweck unserer physikalisch-mathematischen Ueberlegungen brauchbar, ja unentbehrlich ist, dass sie aber, wenn die Grenzen der an sie zu stellenden Forderungen überschritten werden, als Corpuscular-Philosophie in unlösliche Widersprüche führt. Ein physikalisches Atom, d. h. eine im Vergleich zu den Körpern, mit denen wir Umgang haben, verschwindend klein gedachte, ihres Namens ungeachtet in der Idee aber noch theilbare Masse, der Eigenschaften oder ein Bewegungszustand zugeschrieben werden, mittels welcher das Verhalten einer aus unzähligen solchen Atomen bestehenden Masse sich erklärt, ist eine in sich folgerichtige und unter Umständen nützliche Fiction der mathematischen Physik. Doch wird selbst deren Gebrauch neuerlich möglichst vermieden, indem man statt auf discrete Atome, auf Volumelemente der continuirlich gedachten Körper zurückgeht.4 | Ein philosophisches Atom dagegen, d. h. eine angeblich nicht weiter theilbare Masse trägen wirkungslosen Substrates, von der durch den leeren Raum in die Ferne wirkende Kräfte ausgehen, ist bei näherer Betrachtung ein Unding. Vergl. Helmholtz, Gedächtnissrede auf Gustav Magnus. In den Abhandlungen der Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Aus dem Jahre 1871. Berlin 1872. 4 °. S. 11 ff. 4
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Denn soll das nicht weiter theilbare, träge, an sich unwirksame Substrat wirklichen Bestand haben, so muss es einen gewissen, noch so kleinen Raum erfüllen. Dann ist nicht zu begreifen, warum es nicht weiter theilbar sei. Auch kann es den Raum nur erfüllen, wenn es vollkommen hart ist, d. h. indem es durch eine an seiner Grenze auftretende, aber nicht darüber hinauswirkende abstossende Kraft, welche alsbald grösser wird als jede gegebene Kraft, gegen Eindringen eines anderen Körperlichen in denselben Raum sich wehrt. Abgesehen von anderen Schwierigkeiten, welche hieraus entspringen, ist das Substrat alsdann kein wirkungsloses mehr. Denkt man sich umgekehrt mit den Dynamisten als Substrat nur den Mittelpunkt der Centralkräfte, so erfüllt das Substrat den Raum nicht mehr, denn der Punkt ist die im Raume vorgestellte Negation des Raumes. Dann ist nichts mehr da, wovon die Centralkräfte ausgehen, und was träg sein könnte, gleich der Materie. Durch den leeren Raum in die Ferne wirkende Kräfte sind an sich unbegreiflich, ja widersinnig, und | erst seit Newton’s Zeit, durch Missverstehen seiner Lehre und gegen seine ausdrückliche Warnung, den Naturforschern eine geläufige Vorstellung geworden. Denkt man sich mit Descartes und Leibniz den ganzen Raum erfüllt, und alle Bewegung durch Uebertragung in Berührungsnähe erzeugt, so ist zwar das Entstehen der Bewegung auf ein unserer sinnlichen Anschauung entlehntes Bild zurückgeführt, aber es stellen sich andere Schwierigkeiten ein. Unter Anderem ist es bei dieser Vorstellung unmöglich, die verschiedene Dichte der Körper aus verschiedener Zusammenfügung des gleichartigen Urstoffes zu erklären. Es ist leicht, den Ursprung dieser Widersprüche aufzudekken. Sie wurzeln in unserem Unvermögen, etwas anderes als mit unseren äusseren Sinnen entweder, oder mit unserem inneren Sinn Erfahrenes uns vorzustellen. Bei dem Bestreben, die Körperwelt zu zergliedern, gehen wir aus von der Theilbarkeit der Materie, da sichtlich die Theile etwas einfacheres und
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ursprünglicheres sind, als das Ganze. Fahren wir in Gedanken mit Theilung der Materie in’s Unendliche fort, so bleiben wir mit unserer Anschauung in dem uns angewiesenen Geleise, und fühlen uns in unserem Denken unbehindert. Zum Verständniss der Dinge aber thun wir keinen Schritt, da wir in der That nur das im Bereiche des Grossen und Sichtbaren Erscheinende auch im Bereiche des Klei | nen und Unsichtbaren uns vorgestellt haben. Wir kommen so zum Begriffe des physikalischen Atoms. Hören wir nun irgendwo willkürlich mit der Theilung bei angeblichen philosophischen Atomen auf, die nicht weiter theilbar, vollkommen hart und überdies an sich wirkungslos und nur Träger der Centralkräfte sein sollen, so verlangen wir von einer Materie, die wir uns unter dem Bilde der Materie denken, mit der wir Umgang haben, ohne dass wir irgend ein neues Erklärungsprincip einführen, dass sie neue, ursprüngliche, das Wesen der Körper aufklärende Eigenschaften entfalte. So begehen wir den Fehler, der in den vorher blossgelegten Widersprüchen sich offenbart.5 Niemand, der etwas tiefer nachgedacht hat, verkennt die transcendente Natur des Hindernisses, das sich uns hier entgegenstellt. Wie man auch es zu umgehen versuche, in der einen oder anderen Form stösst man immer darauf. Von welcher Seite, unter welcher Deckung man ihm sich nähere, man erfährt seine Unbesiegbarkeit. Die alten ionischen Physiologen standen davor nicht rathloser als wir. Alle Fortschritte der Naturwissenschaft haben nichts dawider vermocht, alle ferneEs versteht sich, dass es innerhalb des Rahmens dieses Vortrages meine Absicht nicht sein konnte, eine vollständige Kritik der Theorien über Materie und Kraft zu geben, sondern nur anzudeuten, dass hier unlösliche Widersprüche versteckt sind. Ausführliche Auseinandersetzungen des Gegenstandes aus der neueren Zeit fi ndet man in: G. Th. Fechner, Ueber die physikalische und philosophische Atomenlehre. Leipzig 1855, und in: F. Harms, Philosophische Einleitung in die Encyklopädie der Physik, im 1. Bde. von Karsten’s Allgemeiner Encyklopädie der Physik. Leipzig 1869. S. 307 ff. 5
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ren werden dawider nichts fruchten. Nie werden wir besser als heute wissen, was, wie Paul Erman zu sagen pflegte, »hier«, wo Materie ist, »im Raume spukt«. Denn sogar der von Laplace gedachte, über den unseren | so weit erhabene Geist würde in diesem Punkte nicht klüger sein als wir, und daran erkennen wir verzweifelnd, dass wir hier an der einen Grenze unseres Witzes stehen. Sehen wir aber von dieser ursprünglichen Schranke ab, setzen wir Materie und Kraft als gegeben und bekannt voraus, so ist in der Idee, wie gesagt, die Körperwelt verständlich. Von dem Urzustand eines kreisenden Nebelballes führt die von Hrn. Helmholtz an der Hand der mechanischen Wärmetheorie weiter entwickelte Kant’sche Hypothese6 zur Einsicht in die Entstehung unseres Planetensystems. Schon sehen wir unsere Erde als feurig flüssigen Tropfen mit einer Atmosphäre unfassbarer Beschaffenheit in ihrer Bahn rollen. Wir sehen sie im Lauf unermesslicher Zeiträume mit einer Schale erstarrenden Urgesteines sich umgeben, Meer und Veste sich scheiden, den Granit durch heisse kohlensaure Wolkenbrüche zerfressen das Material zu kalihaltigen Erdschichten liefern, und schliesslich Bedingungen entstehen, unter denen Leben möglich ward. Wo und in welcher Form es zuerst erschien, ob auf tiefem Meeresboden als Bathybius-Urschleim, oder unter Mitwirkung der noch mehr ultraviolette Strahlen entsendenden Sonne bei noch höherem partiärem Drucke der Kohlensäure in der Atmosphäre, wer sagt es je? Aber der von Laplace gedachte Geist im Besitze der | Weltformel könnte es sagen. Denn beim Zusammentreten unorganischer Stoffe zu Lebendigem handelt es sich zunächst nur um Bewegung, um Anordnung von Molecülen in mehr oder minder festen Gleichgewichtslagen, und um Einleitung eines Stoffwechsels theils durch Spannkräfte der Molecüle, theils durch von aussen überkommene 6
Die Wechselwirkung der Naturkräfte u.s.w. Königsberg 1854. S. 44.
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Bewegung. Was das Lebende vom Todten, die Pflanze und das nur in seinen körperlichen Functionen betrachtete Thier vom Krystall unterscheidet, ist zuletzt dieses: Im Krystall befindet sich die Materie in stabilem Gleichgewichte, während durch das organische Wesen ein Strom von Materie sich ergiesst, die Materie darin in mehr oder minder vollkommenem dynamischem Gleichgewichte7 sich befindet, mit bald positiver, bald der Null gleicher, bald negativer Bilanz. Daher ohne Einwirkung äusserer Massen und Kräfte der Krystall ewig bleibt was er ist, dagegen das organische Wesen in seinem Bestehen von gewissen äusseren Bedingungen, den integrirenden Reizen der älteren Physiologie, abhängt, in sich potentielle Energie in kinetische verwandelt und umgekehrt, und einem bestimmten zeitlichen Verlauf unterworfen ist. Ohne grundsätzliche Verschiedenheit der Kräfte im Krystall und im organischen Wesen erklärt sich so, dass beide miteinander incommensurabel sind, wie ein blosses Bauwerk incommensurabel ist mit einer Fabrik, in die hier | Kohle, Wasser, Rohstoffe, aus welcher dort Kohlensäure, Wassergas, Rauch, Asche und Erzeugnisse ihrer Maschinen strömen. Das Bauwerk kann man sich aus lauter dem Ganzen ähnlichen Theilen so gefügt vorstellen, dass es gleich dem Krystall in ähnliche Theile spaltbar ist; die Fabrik ist gleich dem organischen Wesen, wenn wir von dessen Aufbau aus Zellen und der Theilbarkeit mancher Organismen absehen, ein Individuum. Es ist daher ein Missverständniss, im ersten Erscheinen lebender Wesen auf Erden etwas Supranaturalistisches, etwas Anderes zu sehen, als ein überaus schwieriges mechanisches Problem. Von den beiden Irrthümern, auf die ich hinweisen wollte, ist dies der eine. Nicht hier ist die andere Grenze des Naturerkennens; hier nicht mehr als in der Krystallbildung. Könnten wir die Bedingungen herstellen, unter denen orgaVergl. Smaasen, in Poggendorff’s Annalen der Physik und Chemie. 1846. Bd. LXIX. S. 161. 7
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nische Wesen einst entstanden, wie wir dies für gewisse, keinesweges für sämmtliche Krystalle können, so würden nach dem Principe des Actualismus8 wie damals auch heute noch organische Wesen entstehen. Sollte es aber auch nie gelingen, Urzeugung zu beobachten, geschweige sie im Versuch herbeizuführen, so wäre doch hier kein unbedingtes Hinderniss. Wären uns Materie und Kraft verständlich, die Welt hörte nicht auf begreiflich zu sein, auch wenn wir uns jetzt die Erde von ihrem aequatorialen Smaragdgürtel bis zu den letzten | flechtengrauen Polarklippen mit der üppigsten Fülle von Pflanzenleben überwuchert denken, gleichviel welchen Antheil an der Gestaltung des Pflanzenreiches man organischen Bildungsgesetzen, welchen der natürlichen Zuchtwahl einräume. Nur die zur Befruchtung vieler Pflanzen jetzt als unentbehrlich erkannte Beihülfe der Insectenwelt müssen wir aus Gründen, die bald einleuchten werden, in dieser Betrachtung bei Seite lassen. Im Uebrigen bietet das reichste, von Bernardin de St. Pierre, von Humboldt oder Pöppig entworfene Naturgemälde eines tropischen Urwaldes dem Blicke der theoretischen Naturforschung schlechterdings nichts dar, als bewegte Materie. Es ist dies, wie mir scheint, eine neue und sehr einfache Form, die man dem Beweis ertheilen kann, dass es keine Lebenskraft im Sinne der Vitalisten giebt. Allein es tritt nunmehr, an irgend einem Punkte der Entwickelung des Lebens auf Erden, den wir nicht kennen und auf den es hier nicht ankommt, etwas Neues, bis dahin Unerhörtes auf, etwas wiederum, gleich dem Wesen von Materie und Kraft, Unbegreifliches. Der in negativ unendlicher Zeit angesponnene Faden des Verständnisses zerreisst, und unser Naturerkennen gelangt an eine Kluft, über die kein Steg, kein Fittig trägt: wir stehen an der anderen Grenze unseres Witzes. | S. meine Gedächtnissrede auf Johannes Müller. Aus den Abhandlungen der Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1859. 4 °. S. 129. 8
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Dies neue Unbegreifliche ist das Bewusstsein. Ich werde jetzt, wie ich glaube in sehr zwingender Weise, darthun, dass nicht allein bei dem heutigen Stand unserer Kenntniss das Bewusstsein aus seinen materiellen Bedingungen nicht erklärbar ist; was wohl jeder zugiebt, sondern dass es auch der Natur der Dinge nach aus diesen Bedingungen nie erklärbar sein wird. Die entgegengesetzte Meinung, dass nicht alle Hoffnung aufzugeben sei, das Bewusstsein aus seinen materiellen Bedingungen zu begreifen, dass dies vielmehr im Laufe der Jahrhunderte oder Jahrtausende dem alsdann in ungeahnte Reiche der Erkenntniss vorgedrungenen Menschengeiste wohl gelingen könne: dies ist der zweite Irrthum, dessen Bekämpfung ich mir in diesem Vortrage vorgesetzt habe. Ich gebrauche dabei absichtlich den Ausdruck »Bewusstsein«, weil es hier nur um die Thatsache eines geistigen Vorganges irgend einer, sei es der niedersten Art, sich handelt. Man braucht nicht Watt sein Parallelogramm erdenkend, nicht Shakspeare, Raphael, Mozart in der wunderbarsten ihrer Schöpfungen begriffen sich vorzustellen, um das Beispiel eines aus seinen materiellen Bedingungen unerklärbaren geistigen Vorganges zu haben. Wie die gewaltigste und verwickelteste Muskelleistung eines Menschen oder Thieres im Wesentlichen nicht dunkler ist, als einfache Zuckung | eines einzelnen Primitivmuskelbündels;9 wie die einzelne Secretionszelle das ganze Räthsel der Absonderung birgt: so ist auch die erhabenste Seelenthätigkeit aus materiellen Bedingungen in der Hauptsache nicht unbegreiflicher, als das Bewusstsein auf seiner ersten Stufe, der Sinnesempfindung. Mit der ersten Regung von Behagen oder Schmerz, die im Beginn des thierischen Lebens auf Erden ein einfachstes Wesen empfand, ist jene unübersteigliche Kluft gesetzt, und die Welt nunmehr doppelt unbegreiflich geworden. Ueber thierische Bewegung, Rede u.s.w. von E. du Bois-Reymond. Berlin 1851. S. 4. 5. 9
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Ueber wenig Gegenstände ist anhaltender nachgedacht, mehr geschrieben, leidenschaftlicher gestritten worden, als über die Verbindung von Leib und Seele im Menschen. Alle philosophischen Schulen, dazu die Kirchenväter, haben darüber ihre Lehrmeinungen gehabt. Der neueren Philosophie liegt diese Frage ferner; um so reicher sind deren Anfänge im siebzehnten Jahrhundert an Theorien über die Wechselwirkung von Materie und Geist. Descartes selber hatte sich die Möglichkeit, diese Wechselwirkung zu begreifen, durch zwei Aufstellungen vorweg abgeschnitten. Erstens behauptete er, dass Körper und Geist verschiedene Substanzen, durch Gottes Allmacht vereinigt, seien, welche, da der Geist als unkörperlich keine Ausdehnung habe, nur in Einem Punkte, nämlich in der sogenannten Zirbeldrüse des Ge | hirns, einander berühren.10 Er behauptete zweitens, dass die im Weltall vorhandene Bewegungsgrösse beständig sei.11 Je sicherer daraus die Unmöglichkeit zu folgen scheint, dass die Seele Bewegung der Materie erzeuge, um so mehr erstaunt man, wenn nun Descartes, um die Willensfreiheit zu retten, die Seele einfach die Zirbeldrüse in dem nöthigen Sinne bewegen lässt, damit die thierischen Geister, wir würden sagen das Nervenprincip, den richtigen Muskeln zuströmen. Umgekehrt die durch Sinneseindrücke erregten thierischen Geister bewegen die Zirbeldrüse, und die mit dieser verbundene Seele merkt die Bewegung.12
Oeuvres de Descartes, publiées par Victor Cousin. Paris 1824. t. I. Discours de la Méthode. p. 158. 159; – Méditation sixième. p. 344; – Objections et Réponses. p. 414 et suiv.; – Ibidem t. III. Les Principes de la Philosophie p. 102. 11 Ibidem, Les Principes etc. p. 151. – Vergl. E. du Bois-Reymond, Voltaire in seiner Beziehung zur Naturwissenschaft. Berlin 1868. S. 11. 12 Ibidem. t. IV. Les Passions de l’Ame. p. 66. 67. 72. 73. – L’Homme. p. 402 et suiv. 10
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Descartes’ unmittelbare Nachfolger, Clauberg13, Malebranche14, Geulincx15 bemühen sich, einen so offenbaren Missgriff zu verbessern. Sie halten fest an der Unmöglichkeit einer Wechselwirkung von Geist und Materie, als zweier verschiedener Substanzen. Um aber zu verstehen, wie dennoch die Seele den Körper bewegt und von ihm erregt werde, nehmen sie an, dass das Wollen der Seele Gott veranlasse, den Körper jedesmal nach Wunsch der Seele zu bewegen. Umgekehrt die Sinneseindrücke veranlassen Gott, die Seele jedesmal in Uebereinstimmung damit zu verändern. Die Causa efficiens der Veränderungen des Körpers durch die Seele und umgekehrt ist also stets nur Gott; das Wollen der Seele und die Sinneseindrücke sind nur die Causae occa | sionales für die unaufhörlich erneuten Eingriffe seiner Allmacht. Leibniz endlich pflegte dies Problem mittels des, wie es scheint, ursprünglich von Geulincx herrührenden Bildes zweier Uhren zu erläutern, die gleichen Gang zeigen sollen.16 Auf dreierlei Art, sagt er, könne dies geschehen. Erstens können beide Uhren durch Schwingungen, die sie einer gemeinsamen Befestigung mittheilen, einander so beeinflussen, dass ihr Gang derselbe werde, wie dies Huyghens beobachtet habe, und wie es im Anfange dieses Jahrhunderts Breguet sogar angewendet hat, um den Gang jeder der beiden Uhren gleichförDictionnaire des Sciences philosophiques par une Société de professeurs de Philosophie. Paris 1844. t. I. p. 523. 14 Malebranche, De la Recherche de la Vérité. Oeuvres complètes, par MM. de Genoude et dé Lourdoueix. Paris 1837. 4 °. t. I. p. 220 et suiv. – De la Prémotion physique. Ibid. t. II. p. 392 et suiv. 15 Schwegler, Geschichte der Philosophie im Umriss. Siebente Aufl. Stuttgart 1870. S. 144. – Harms a. a. O. S. 235. 236. 16 Second Éclaircissement du Système de la Communication des Substances. 1696. G. G. Leibnitii, Opera philosophica etc. p. 133. – Troisième Éclaircissement. 1696. Ibid. p. 134. – Lettre à Basnage etc. Ibid. p. 152. – Vergl. Arn. Geulincs, GΝΩΘΙ ΣΕΑΥΤΟΝ sive Ethica etc. Ed. Philaretus, Amstelod. 1709. 12°. p. 124. Nota 19, und H. Ritter, Geschichte der Philosophie. Hamburg 1852. Th. XI. S. 140. 13
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miger zu machen.17 Zweitens könne stets die eine Uhr gestellt werden, um sie in gleichem Gange mit der anderen zu erhalten. Drittens könne von vorn herein der Künstler so geschickt gewesen sein, dass er beide Uhren, obschon ganz unabhängig von einander, gleich gehend gemacht habe. Zwischen Leib und Seele sei die erste Art der Verbindung anerkannt unmöglich. Die zweite, der occasionalistischen Lehre entsprechende, sei Gottes unwürdig, den sie als Deus ex machina verwende. So bleibe nur die dritte übrig, in der man Leibniz’ eigene Lehre der praestabilirten Harmonie wiedererkennt. Allein diese und ähnliche Betrachtungen sind in den Augen der neueren Naturforschung entwerthet und der Wirkung auf die heutigen Ansichten beraubt durch die | dualistische Grundlage, auf welche sie, gemäss ihrem halb theologischen Ursprunge, gleich anfangs sich stellen. Ihre Urheber gehen aus von der Annahme einer vom Körper unbedingt verschiedenen geistigen Substanz, der Seele, deren Verbindung mit dem Körper sie untersuchen. Sie finden, dass eine Verbindung beider Substanzen nur durch ein Wunder möglich ist, und dass, auch nach diesem ersten Wunder, ein ferneres Zusammengehen beider Substanzen nicht anders stattfinden kann, als wiederum durch ein entweder stets erneutes oder seit der Schöpfung fortwirkendes Wunder. Diese Folge nun geben sie für eine neue Einsicht aus, ohne hinreichend zu prüfen, ob nicht sie selber vielleicht sich die Seele erst so zurechtgemacht haben, dass eine Wechselwirkung zwischen ihr und dem Körper undenkbar ist. Mit Einem Wort, der gelungenste Beweis, dass keine Wechselwirkung von Körper und Seele möglich sei, lässt dem Zweifel Raum, ob nicht die Praemissen willkürlich seien, und ob nicht Bewusstsein einfach als Wirkung der Materie gedacht und vielleicht begriffen werden könne. Für den Naturforscher muss daher der Beweis, dass die geistigen VorgänBiot’s Lehrbuch der Experimental-Physik. Deutsch bearbeitet von Fechner. Leipzig 1829. Bd. II. S. 129. 17
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ge aus ihren materiellen Bedingungen nie zu begreifen sind, unabhängig von jeder Voraussetzung über den Urgrund jener Vorgänge geführt werden. Ich nenne astronomische Kenntniss eines materiellen Systemes solche Kenntniss aller seiner Theile, ihrer ge | genseitigen Lage und ihrer Bewegung, dass ihre Lage und Bewegung zu irgend einer vergangenen und zukünftigen Zeit mit derselben Sicherheit berechnet werden kann, wie Lage und Bewegung der Himmelskörper bei vorausgesetzter unbedingter Schärfe der Beobachtungen und Vollendung der Theorie. Um die Differentialgleichungen anzusetzen, deren Integration die gewünschten Bestimmungen liefert, genügen gleichsam drei Positionen der Theile des Systemes, d. h. es ist nöthig und zureichend, dass in drei aufeinanderfolgenden, durch zwei Zeitdifferentiale getrennten Augenblicken die Lage der Theile des Systemes bekannt sei. Aus dem Unterschiede der in den gleichen, unendlich kleinen Zeiträumen durchlaufenen, nach den drei Axen zerlegten Wege folgen dann die auf das System und die in ihm wirkenden Kräfte. Astronomische Kenntniss eines materiellen Systemes ist bei unserer Unfähigkeit, Materie und Kraft zu begreifen, die vollkommenste Kenntniss, die wir davon erlangen können. Es ist die, wobei unser Causalitätstrieb sich zu beruhigen gewohnt ist, und welche der von Laplace gedachte Geist selber bei gehörigem Gebrauche seiner Weltformel von dem Systeme besitzen würde. Denken wir uns nun, wir hätten es zur astronomischen Kenntniss eines Muskels, einer Drüse, eines elektrischen oder Leucht-Organes im gereizten Zustande, einer | Flimmerzelle, einer Pflanze, des Eies in Berührung mit dem Samen, der Frucht auf irgend einer Stufe der Entwickelung gebracht. Alsdann besässen wir also von diesen materiellen Systemen die vollkommenste mögliche Kenntniss, unser Causalitätstrieb wäre soweit befriedigt, dass wir nur noch verlangten, das Wesen von Materie und Kraft selber zu begreifen. Muskelver-
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kürzung, Absonderung in der Drüse, Schlag des elektrischen, Leuchten des Leucht-Organes, Flimmerbewegung, Wachsthum und Chemismus der Zellen in der Pflanze, Befruchtung und Entwickelung des Eies: alle diese jetzt hoffnungslos dunklen Vorgänge wären uns so durchsichtig, wie die Bewegungen der Planeten. Machen wir dagegen dieselbe Voraussetzung astronomischer Kenntniss für das Gehirn des Menschen, oder auch nur für das Seelenorgan des niedersten Thieres, dessen geistige Thätigkeit auf Empfinden von Lust und Unlust sich beschränken mag, so wird zwar in Bezug auf alle darin stattfindenden materiellen Vorgänge unser Erkennen ebenso vollkommen sein und unser Causalitätstrieb ebenso befriedigt sich fühlen, wie in Bezug auf Zuckung oder Absonderung bei astronomischer Kenntniss von Muskel oder Drüse. Die unwillkürlichen und nicht nothwendig mit Empfindung verbundenen Wirkungen der Centraltheile, Reflexe, Mitbewegung, Athembewegungen, Tonus, der Stoffwechsel des Gehirnes und Rükkenmarkes u.d.m. wären erschöpfend erkannt. Auch die | mit geistigen Vorgängen der Zeit nach stets, also wohl nothwendig zusammenfallenden Vorgänge wären ebenso vollkommen durchschaut. Und es wäre natürlich ein hoher Triumph, wenn wir zu sagen wüssten, dass bei einem bestimmten geistigen Vorgang in bestimmten Ganglienkugeln und Nervenröhren eine bestimmte Bewegung bestimmter Atome stattfinde. Es wäre grenzenlos interessant, wenn wir so mit geistigem Auge in uns hineinblickend die zu einem Rechenexempel gehörige Hirnmechanik sich abspielen sähen wie die Mechanik einer Rechenmaschine; oder wenn wir auch nur wüssten, welcher Tanz von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauerstoff-, Phosphor- und anderen Atomen der Seligkeit musikalischen Empfindens, welcher Wirbel solcher Atome dem Gipfel sinnlichen Geniessens, welcher Molecularsturm dem wüthenden Schmerz beim Misshandeln des N. trigeminus entspricht. Die Art des geistigen Vergnügens, welche die durch Hrn. Fechner
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geschaffenen Anfänge der Psychophysik oder Hrn. Donders’ Messungen der Dauer einfacherer Seelenhandlungen uns bereiten, lässt uns ahnen, wie solche unverschleierte Einsicht in die materiellen Bedingungen geistiger Vorgänge uns erbauen würde. Was aber die geistigen Vorgänge selber betrifft, so zeigt sich, dass sie bei astronomischer Kenntniss des Seelenorganes uns ganz ebenso unbegreiflich wären, wie | jetzt. Im Besitze dieser Kenntniss ständen wir vor ihnen wie heute, als vor einem völlig Unvermittelten. Die astronomische Kenntniss des Gehirnes, die höchste, die wir davon erlangen können, enthüllt uns darin nichts als bewegte Materie. Durch keine zu ersinnende Anordnung oder Bewegung materieller Theilchen aber lässt sich eine Brücke in’s Reich des Bewusstseins schlagen. Es scheint zwar bei oberflächlicher Betrachtung, als könnten durch die Kenntniss der materiellen Vorgänge im Gehirne gewisse geistige Vorgänge und Anlagen uns verständlich werden. Ich rechne dahin das Gedächtniss, den Fluss und die Association der Vorstellungen, die Folgen der Uebung, die specifischen Talente u.d.m. Das geringste Nachdenken lehrt, dass dies Täuschung ist. Nur über gewisse innere Bedingungen des Geisteslebens, welche mit den äusseren durch die Sinneseindrücke gesetzten etwa gleichbedeutend sind, würden wir unterrichtet sein, nicht über das Zustandekommen des Geisteslebens durch diese Bedingungen. Welche denkbare Verbindung besteht zwischen bestimmten Bewegungen bestimmter Atome in meinem Gehirn einerseits, andererseits den für mich ursprünglichen, nicht weiter definirbaren, nicht wegzuläugnenden Thatsachen: »Ich fühle Schmerz, fühle Lust; ich schmecke süss, rieche Rosenduft, höre Orgelton, sehe Roth,« und der ebenso unmittelbar daraus fliessenden Gewissheit: | »Also bin ich«? Es ist eben durchaus und für immer unbegreiflich, dass es einer Anzahl von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauerstoff- u.s.w. Atomen nicht sollte gleichgültig sein, wie sie liegen und sich bewegen,
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wie sie lagen und sich bewegten, wie sie liegen und sich bewegen werden. Es ist in keiner Weise einzusehen, wie aus ihrem Zusammenwirken Bewusstsein entstehen könne. Sollte ihre Lagerungs- und Bewegungsweise ihnen nicht gleichgültig sein, so müsste man sie sich nach Art der Monaden schon einzeln mit Bewusstsein ausgestattet denken. Weder wäre damit das Bewusstsein überhaupt erklärt, noch für die Erklärung des einheitlichen Bewusstseins des Individuums das Mindeste gewonnen.18 Dass es vollends unmöglich sei, und stets bleiben werde, höhere geistige Vorgänge aus der als bekannt vorausgesetzten Mechanik der Hirnatome zu verstehen, bedarf nicht der Ausführung. Doch ist, wie schon bemerkt, gar nicht nöthig, zu höheren Formen geistiger Thätigkeit zu greifen, um das Gewicht unserer Betrachtung zu vergrössern. Sie gewinnt gerade an Eindringlichkeit durch den Gegensatz zwischen der vollständigen Unwissenheit, in welcher astronomische Kenntniss des Gehirnes uns über das Zustandekommen auch der niedersten geistigen Vorgänge liesse, und der durch solche Kenntniss gewährten ebenso vollständigen Enträthselung der höchsten Probleme der Körperwelt. Ein aus irgend einem | Grunde bewusstloses, z. B. ohne Traum schlafendes Gehirn enthielte, Vergl. die ähnlichen Betrachtungen Locke’s, in dem Essay on Human Understanding, (Works, London 1812. vol. III. p. 54 sqq.), welche auch Leibniz in den Nouveaux Essais sur l’Entendement humain (Ed. Erdmann etc. p. 375) sich zu eigen gemacht hat. Vergl. noch Leibniz selber l. c. p. 185. 203. – Den hier von mir entwickelten Beweis, dass wir die geistigen Vorgänge aus ihren materiellen Bedingungen nie begreifen werden, habe ich seit Jahren in meinen öffentlichen Vorlesungen »Ueber einige Ergebnisse der neueren Naturforschung« vorgetragen, und auch gesprächsweise mitgetheilt. Mein Freund Hr. Tyndall hat bereits davon in seiner Rede bei Eröffnung der mathematisch-physikalischen Abtheilung der Brittischen Naturforscher-Versammlung zu Norwich im Jahr 1868 mit gewohnter Meisterschaft eine glänzende Darstellung gegeben. Scope and Limit of scientific Materialism, in Fragments of Science for unscientific people. London 1871. p. 121. 18
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astronomisch durchschaut, kein Geheimniss mehr, und bei astronomischer Kenntniss auch des übrigen Körpers wäre so die ganze menschliche Maschine, mit ihrem Athmen, ihrem Herzschlag, ihrem Stoffwechsel, ihrer Wärme, u.s.f., bis auf das Wesen von Materie und Kraft, völlig entziffert. Der traumlos Schlafende ist begreiflich, wie die Welt, ehe es Bewusstsein gab. Wie aber mit der ersten Regung von Bewusstsein die Welt doppelt unbegreiflich ward, so wird es auch der Schläfer wieder mit dem ersten ihm dämmernden Traumbild. Der unlösliche Widerspruch, in welchem die mechanische Weltanschauung mit der Willensfreiheit, und dadurch mittelbar mit der Ethik steht, ist sicherlich von grosser Bedeutung. Der Scharfsinn der Denker aller Zeiten hat sich daran erschöpft, und wird fortfahren, daran sich zu üben. Abgesehen davon, dass Freiheit sich läugnen lässt, Schmerz und Lust nicht, geht dem Begehren, welches den Anstoss zum Handeln und somit erst Gelegenheit zum Thun oder Lassen giebt, nothwendig Sinnesempfindung voraus. Es ist also das Problem der Sinnesempfindung, und nicht, wie ich einst sagte, das der Willensfreiheit, bis zu dem die analytische Mechanik führt.19 Damit ist die andere Grenze unseres Naturerkennens bezeichnet. Nicht minder als die erste ist sie eine un | bedingte. Nicht mehr als im Verstehen von Kraft und Materie hat im Verstehen der Geistesthätigkeit aus materiellen Bedingungen die Menschheit seit zweitausend Jahren, trotz allen Entdekkungen der Naturwissenschaft, einen wesentlichen Fortschritt gemacht. Sie wird es nie. Selbst der von Laplace gedachte Geist mit seiner Weltformel gliche in seinen Anstrengungen, über diese Schranke sich fortzuheben, einem nach dem Monde trachtenden Luftschiffer. In seiner aus bewegter Materie aufgebauten Welt regen sich zwar die Hirnatome wie in stummem Spiel. Er übersieht ihre Schaaren, er durchschaut ihre Untersuchungen über thierische Elektricität. Bd. 1. Berlin 1848. Vorrede. S. xxxv. 19
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Verschränkungen, aber er versteht nicht ihre Geberde, sie denken ihm nicht, und deshalb bleibt, wie wir vorhin sahen, seine Welt eigenschaftslos. An ihm haben wir das Maass unserer eigenen Befähigung oder vielmehr unserer Ohnmacht. Unser Naturerkennen ist also eingeschlossen zwischen den beiden Grenzen, welche einerseits die Unfähigkeit, Materie und Kraft, andererseits das Unvermögen, geistige Vorgänge aus materiellen Bedingungen zu begreifen, ihm ewig vorschreiben. Innerhalb dieser Grenzen ist der Naturforscher Herr und Meister, zergliedert er und baut er auf, und Niemand weiss, wo die Schranke seines Wissens und seiner Macht liegt; über diese Grenzen hinaus kann er nicht, und wird er niemals können. Je unbedingter aber der Naturforscher die ihm ge | steckten Grenzen anerkennt, und je demüthiger er in seine Unwissenheit sich schickt, um so tiefer fühlt er das Recht, mit voller Freiheit, unbeirrt durch Mythen, Dogmen und alterstolze Philosopheme, auf dem Wege der Induction seine eigene Meinung über die Beziehungen zwischen Geist und Materie sich zu bilden. Er sieht in tausend Fällen materielle Bedingungen das Geistesleben beeinfl ussen. Seinem unbefangenen Blicke zeigt sich kein Grund zu bezweifeln, dass wirklich die Sinneseindrücke der sogenannten Seele sich mittheilen. Er sieht den menschlichen Geist gleichsam mit dem Gehirne wachsen, und, nach der empiristischen Ansicht, die wesentlichen Formen seines Denkens sogar erst durch äussere Wahrnehmungen sich aneignen. Er sieht ihn im Schlaf und Traum, in der Ohnmacht, im Rausch und der Narkose, im Fieberwahn und der Inanition, in der Manie, der Epilepsie, dem Blödsinn und der Mikrocephalie, in unzähligen krankhaften Zuständen abhängig von der dauernden oder vorübergehenden Beschaffenheit des Organes. Kein theologisches VorurtheiI hindert ihn wie Descartes, in den Thierseelen der Menschenseele verwandte, stufenweise minder vollkommene Glieder der-
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selben Entwickelungsreihe zu erkennen. Vielmehr sieht er im Wirbelthierreiche die Hirntheile, welche auch physiologische Versuche und pathologische Erfahrungen als Träger höherer Geistesthätigkeiten bekunden, | ihrer vergleichsweisen Entwickelung nach mit der Steigerung diese Thätigkeiten gleichen Schritt halten. Wo von den anthropoiden Affen zum Menschen die geistige Befähigung den durch den Besitz der Sprache bezeichneten ungeheuren Sprung macht, findet sich ein entsprechender Sprung in der Hirnmasse vor. Die verschiedene Anordnung gleicher Elementartheile bei den Wirbellosen belehrt aber den Naturforscher, dass es hier wie bei anderen Organen weniger auf die Architektur, als auf die Structurelemente ankommt. Mit ehrfurchtsvollem Staunen betrachtet er das mikroskopische Klümpchen Nervensubstanz, welches der Sitz der arbeitsamen, baulustigen, ordnungsliebenden, pflichttreuen, tapferen Ameisenseele ist.20 Endlich die Descendenz-Theorie im Verein mit der Lehre von der natürlichen Zuchtwahl drängt ihm die Vorstellung auf, dass die Seele als allmäliges Ergebniss gewisser materieller Combinationen entstanden, und vielleicht gleich anderen erblichen, im Kampf um’s Dasein dem Einzelwesen nützlichen Gaben durch eine zahllose Reihe von Geschlechtern sich gesteigert und vervollkommnet habe.21 Wenn nun die alten Denker jede Wechselwirkung zwischen Leib und Seele, wie sie diese sich vorstellten, als unverständlich und unmöglich erkannten, und wenn nur durch praestabilirte Harmonie das Räthsel des dennoch stattfindenden Zusammengehens beider Substanzen | zu lösen ist, so wird wohl die Vorstellung, die sie, in Schulbegriffen befangen, von der Seele sich machten, falsch gewesen sein. Die Nothwen20
Charles Darwin, The Descent of man etc. London 1871. vol. 1. p.
145. Vergl. E. du Bois-Reymond, Leibnizische Gedanken in der neueren Naturwissenschaft. Berlin 1870. 21
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digkeit einer der Wirklichkeit so offenbar zuwiderlaufenden Schlussfolge ist gleichsam ein apagogischer Beweis gegen die Richtigkeit der dazu führenden Voraussetzung. Bei seinem Gleichnisse von den beiden Uhren hat Leibniz, wie Hr. Fechner treffend bemerkt,22 die vierte und einfachste Möglichkeit vergessen, nämlich die, dass vielleicht beide Uhren, deren Zusammengehen erklärt werden soll, im Grunde nur eine sind. Ob wir die geistigen Vorgänge aus materiellen Bedingungen je begreifen werden, ist eine Frage ganz verschieden von der, ob diese Vorgänge das Erzeugniss materieller Bedingungen sind. Jene Frage kann verneint werden, ohne dass über diese etwas ausgemacht, geschweige auch sie verneint würde. Man erinnert sich des kecken Ausspruches Hrn. Carl Vogt’s, der in den funfziger Jahren zu einer Art von Turnier um die Seele Anlass gab: »dass alle jene Fähigkeiten, die wir unter dem Namen Seelenthätigkeiten begreifen, nur Functionen des Gehirns sind, oder, um es einigermaassen grob auszudrücken, dass die Gedanken etwa in demselben Verhältnisse zum Gehirn stehen, wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren.«23 Die Laien stiessen sich an diesem Ver | gleich, weil ihnen die Zusammenstellung des Gedankens mit der Absonderung der Nieren entwürdigend schien. Die Physiologie kennt indess solche aesthetischen Rangunterschiede nicht. Ihr ist die Nierenabsonderung ein wissenschaftlicher Gegenstand von ganz gleicher Würde mit der Erforschung des Auges oder Herzens oder sonst eines der gewöhnlich sogenannten edleren Organe. Auch das ist an dem Vogt’schen Ausspruch schwerlich zu tadeln, dass darin die Seelenthätigkeit als Erzeugniss der materiellen Bedingungen im Gehirne hingestellt wird. Fehlerhaft dagegen erscheint, dass er die Vorstellung erweckt, als sei die Seelenthätigkeit aus dem Bau des Gehirnes ihrer Na22 23
Elemente der Psychophysik. Th. I. Leipzig 1860. S. 5. Köhlerglaube und Wissenschaft. 3. Auflage. Giessen 1855. S. 32.
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tur nach so begreifbar, wie die Absonderung aus dem Bau der Drüse. Wo es an den materiellen Bedingungen für geistige Thätigkeit in Gestalt eines Nervensystemes gebricht, wie in den Pflanzen, kann der Naturforscher ein Seelenleben nicht zugeben, und hierin stösst er nur selten auf Widerspruch. Was aber wäre ihm zu erwiedern, wenn er, bevor er in die Annahme einer Weltseele willigte, verlangte, dass ihm irgendwo in der Welt, in Neuroglia gebettet und mit warmem arteriellem Blut unter richtigem Drucke gespeist, ein dem geistigen Vermögen solcher Seele an Umfang entsprechendes Convolut von Ganglienkugeln und Nervenröhren gezeigt würde? | Schliesslich entsteht die Frage, ob die beiden Grenzen unseres Naturerkennens nicht vielleicht die nämliche seien, d. h. ob, wenn wir das Wesen von Materie und Kraft begriffen, wir nicht auch verständen, wie die ihnen zu Grunde liegende Substanz unter bestimmten Bedingungen empfinden, begehren und denken könne. Freilich ist diese Vorstellung die einfachste, und nach bekannten Forschungsgrundsätzen bis zu ihrer Widerlegung der vorzuziehen, wonach, wie vorhin gesagt wurde, die Welt doppelt unbegreiflich erscheint. Aber es liegt in der Natur der Dinge, dass wir auch in diesem Punkte nicht zur Klarheit kommen, und alles weitere Reden darüber bleibt müssig. In Bezug auf die Räthsel der Körperwelt ist der Naturforscher längst gewöhnt, mit männlicher Entsagung sein »Ignoramus« auszusprechen. Im Rückblick auf die durchlaufene siegreiche Bahn, trägt ihn dabei das stille Bewusstsein, dass, wo er jetzt nicht weiss, er wenigstens unter Umständen wissen könnte, und dereinst vielleicht wissen wird. In Bezug auf das Räthsel aber, was Materie und Kraft seien, und wie sie zu denken vermögen, muss er ein für allemal zu dem viel schwerer abzugebenden Wahrspruch sich entschliessen: »Ignorabimus!«
Eduard von Hartmann Anfänge naturwissenschaftlicher Selbsterkenntniss* I. Die von Kant anhebende Umgestaltung der Philosophie traf so ziemlich zusammen mit der Entstehung einer Naturwissenschaft im modernen Sinne (Entdeckung des Sauerstoffes, Galvanismus ec.); die Philosophie wurde zur exacten Wissenschaft, indem sie das dogmatische Speculiren ins Blaue hinein vorläufig bei Seite legte, um sich über die Grenzen der Erkenntniß selber zu besinnen, die Naturwissenschaft wurde exact, indem sie zu Maß und Wage griff und ihre Schlüsse auf das Experiment baute. So trennten sich die in der älteren Naturphilosophie bisher vereinigten Seiten des Erkennens für mehrere Menschenalter, um einzeln eine um so fruchtbarere Entfaltung durchzumachen, welche sie beide zur Wiedervereinigung auf weit höherer Entwicklungsstufe tüchtig machen sollte. Ein voreiliger Versuch dieser Art war Schellings Naturphilosophie, welche die eben erst gewonnenen Grundlagen der Naturwissenschaft als Fundament zu einem kühnen philosophischen Luftschloß zu verwenden suchte. War die Haltlosigkeit dieser Phantasien einerseits geeignet, durch Abstoßung der besonneneren Elemente der naturwissenschaftlichen Forscherwelt die sachlich entstandene Kluft zu erweitern, so hatte sie doch zugleich andererseits das Verdienst, in einer ihre Wirkungen bis in die Gegenwart erstreckenden Schule den Einheitsdrang des menschlichen Erkennens auch
* In: Wiener Abendpost Nr. 33 (10. Februar 1873), 260; Nr. 34 (11. Februar 1873), 268 f.; Nr. 35 (12. Februar 1873), 276.
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auf dem Gebiete der Natur zu nähren und die Nothwendigkeit einer Naturphilosophie überhaupt neben und über der Naturwissenschaft vor Augen zu halten. Während im ersten Drittel dieses Jahrhunderts die Philosophie vornehmlich in der durch Hegel geschaffenen Gestalt das Interesse des gebildeten Publicums in Anspruch nahm, arbeitete die exacte Naturwissenschaft in aller Stille mächtig fort und bereitete sich vor, im zweiten Drittel des Jahrhunderts die Philosophie aus ihrer Stellung zu verdrängen. Letztere arbeitete ihr dadurch in die Hände, daß sie als Hegelianismus durch ihr vorgebliches absolutes Erkennen maßlose Ansprüche wachgerufen hatte, welche sie zu befriedigen außer Stande war, so daß die ihr entgegengebrachte Ueberschätzung bei einer kritischen Prüfung ihrer Grundlagen nothwendig zu der Reaction einer Unterschätzung führen mußte, welche sich zu einer vollständigen Verachtung der Philosophie überhaupt, als eines Phantasiegebäudes aus werthlosen Hirngespinnsten, steigerte. Die Naturwissenschaft, zum ersten Male durch ihre welterschütternden Entdeckungen das praktische Interesse des Publicums erfüllend, sah sich, um diesen Platz zu behaupten, gleichwohl genöthigt, die von ihr mißverständlicher Weise gänzlich negirte Philosophie in irgendwelcher Gestalt in sich aufzunehmen, und als die mit der Materie beschäftigte Wissenschaft lag es ihr am nächsten, jene Form des vorkantischen metaphysischen Dogmatismus sich einzuverleiben, welche die Materie zum alleinigen metaphysischen Princip erhebt und welche, zu allen Zeiten ihre Vertreter findend, ihre heute noch unübertroffene systematische Darstellung in Holbachs Système de la nature erreicht hat. Je weniger dieser Dogmatismus auf kritische Analyse seiner Grundbegriffe sich einließ, um so leichter waren seine Lehren dem Standpunkte des gemeinen Menschenverstandes zugänglich und um so eher konnten die Naturforscher sich der Täuschung hingeben, durch Annahme dieser Metaphysik sich überhaupt mit keiner Metaphysik befaßt zu haben, sondern
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auf empirischem Boden geblieben zu sein. Dies war etwa der Standpunkt von Moleschott, Karl Vogt und Büchner. Aber wie im ersten Drittel des Jahrhunderts die Naturwissenschaft in der Stille weitergearbeitet hatte, so wirkte jetzt die Philosophie unter der äußeren Oberfläche der sichtbaren Tagesinteressen fort; Herbart hatte eine, wennauch räumlich beschränkte, doch rührige Gemeinde hinterlassen und namentlich war es Schopenhauer, dessen glänzend geschriebene Werke in den 50er und 60er Jahren einem Theil der jüngeren Naturforscher als belebendes Ferment des Denkens dienten. Herbart und Schopenhauer wiesen beide, wennauch in verschiedenem Sinne, auf Kant als den Bahnbrecher der modernen Philosophie zurück und wirkten dadurch auf ein erneuertes gründliches Studium des alten Königsbergers hin. Innerhalb der Naturwissenschaft selbst hatte eine eingehendere Behandlung der Physiologie der Sinneswahrnehmung zur Berücksichtigung psychologischer und erkenntniß-theoretischer Probleme gedrängt, und die Selectionstheorie Darwins war die Anregung geworden, daß die alte naturphilosophische Lehre der Abstammung der Arten von einander an dem Orte selbst, wo sie früher ihre Hauptwirkung entfaltet hatte, in Jena, einen beredten Erneuerer in Ernst Häckel fand, der in seiner »Generellen Morphologie der Organismen« in der That den kühnen Entwurf einer Naturphilosophie modernen Styls für das organische Reich der Natur lieferte. Inzwischen war auch von neutraler Seite ein mächtiger Aufschwung erfolgt, der das Interesse von der Naturwissenschaft in wachsendem Maße auf sich abgelenkt hatte, ich meine den großartigen Fortschritt der geschichtlichen Wissenschaften. An Stelle der älteren Philologie war die vergleichende Sprachwissenschaft und Mythologie, an Stelle der früheren Beschränkung der Geschichte auf deren politischen Rahmen die lebensvolle Erfüllung durch die historische Entwicklung von Volkswirthschaft, Religion, Kunst und Wissenschaft getreten; kurz, die Geschichte war zur Culturgeschichte, zur Erkenntniß
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der Entwicklung der Volksgeister geworden und drängte auf diesem Wege unaufhaltsam zur Philosophie der Geschichte. So aber forderte sie und setzte voraus die Existenz einer Philosophie und regte, wo dieselbe zu fehlen schien, unabweislich das Bedürfniß nach einer solchen an, deutlich darauf hinweisend, daß die naturwissenschaftliche Erkenntniß allein unfähig sei, den Erkenntnißdrang des Menschen gerade nach den Richtungen zu befriedigen, in welchen der Menschengeist den eigentlichen Werth seines Lebens zu suchen genöthigt ist. Auf diese Weise war Alles vorbereitet, um aufs neue in erhöhtem Maße ein philosophisches Interesse in der Entwicklung des deutschen Geistes hervortreten zu lassen, und in der That zeigt die Statistik des Buchhandels, daß in den letzten drei Jahren das Publicum der philosophischen Literatur eine Theilnahme entgegengebracht hat, wie solche bisher noch zu keiner Zeit erlebt worden war. Fragen wir nun, wie die Naturwissenschaft sich dieser Erscheinung gegenüber verhält, so haben wir zunächst abzusehen von dem rohen Haufen der Handlanger, die in ihrer engbegrenzten Ameisenthätigkeit der Stoffansammlung gegen jede geistige Strömung indolent sind. Ferner haben wir abzusehen von jenen neu aufsteigenden Gestirnen, welche, von echt philosophischer Bildung durchdrungen, mit begeisterten Worten eine glänzende Aera der Vermählung von Naturwissenschaft und Philosophie verkündigen1; denn sie sind es, die ihrerseits selbst an der Herbeiführung dieser neuen Aera mitwirken. Endlich haben wir abzusehen von jenen oben erwähnten Dogmatikern des Materialismus, welche, verdutzt über das plötzlich wieder Modewerden der von ihnen längst für todt erklärten Philosophie, sich eben so plötzlich darauf besinnen, daß sie selbst ja eigentlich die wahren und alleinigen Philosophen seien, und demgemäß ihr Schalten rohen Unverstandes Vgl. F. Zöllner »Ueber die Natur der Kometen«. 2. Auflage. Vorrede S. 71. 1
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gegen Andersdenkende mit verdoppeltem Selbstgefühl fortsetzen. Sehen wir, wie gesagt, von allen diesen, theils der Unzurechnungsfähigkeit, theils der Zukunft, theils der Vergangenheit angehörigen Kategorien ab, so finden wir als Resultat der besprochenen geistigen Vorgänge in den bedeutendsten Wortführern der naturwissenschaftlichen Denkweise ein Insichgehen, ein sich auf sich selbst Besinnen, das von entschiedenem Fortschritt über die frühere dogmatische Selbstgewißheit zeugt, aber doch bis jetzt auf halbem Wege stehen bleibt. Eine interessante Kundgebung dieser Art ist der von Professor du Bois-Reymond am 14. August v. J. auf der Naturforscherversammlung zu Leipzig gehaltene und in Leipzig bei Veit & Comp. erschienene Vortrag »Ueber die Grenzen des Naturerkennens«. Dieser Vortrag ist eben so anziehend in dem, was er giebt, als in dem, was er nicht giebt, eben so wichtig als ein Mahnruf für den großen Haufen der urphilosophisch in behaglichem Glauben an die Grenzenlosigkeit ihres Erkenntnißprincips eingewiegten Naturforscher, wie als eine Enthüllung über den auch auf diesem Standpunkte noch immer bestehenden stolzen Wahn der Naturwissenschaft, als ob ihre Forschungsweise und ihr Wissen trotz ihrer erkannten Grenzen dennoch die einzige Erkenntnißweise und Wissenssphäre des Menschengeistes, ja sogar des Geistes überhaupt seien. Die bisherige Illusion, durch naturwissenschaftliche Fortschritte alle Räthsel des Lebens und alle Probleme der Existenz lösen zu können, ist geschwunden und an ihre Stelle das klare Bewußtsein der auf diesem Wege ihrer Natur nach unüberschreitbaren Grenzen getreten; aber die handgreifliche Consequenz, daß bei solchen Grenzen es sich überhaupt gar nicht lohnt, nach Erkenntniß innerhalb derselben zu streben, die doch keine ist, die nahe liegende Folgerung, daß das naturwissenschaftliche Erkennen der Ergänzung und Vertiefung durch andere Forschungsweisen und Wissensgebiete bedürfe und zu empfangen habe, ist noch nicht gezogen; gegen ein solches jedem Draußenstehenden als selbstverständlich erscheinendes
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Zugeständniß verblendet sich selbst hier noch im Angesichte seiner eingestandenen Ohnmacht die alte exclusive Selbstüberhebung der einseitigen und sich als das Ganze wähnenden Theilwissenschaft. | II. In diesem Sinne, als Signatur der Zeit in Betreff der in Naturforscherkreisen begonnen habenden Selbstbesinnung, die unmöglich auf halbem Wege stehen bleiben kann, dürfte es der Mühe lohnen, den Inhalt der fraglichen Rede etwas näher zu betrachten. Der Redner beginnt (S. 2) mit der Frage, was das Naturerkennen sei, dessen Grenzen aufzusuchen er sich vorgesetzt, und beantwortet dieselbe mit einer Definition nicht des Naturerkennens, sondern des naturwissenschaftlichen Erkennens, welches letztere er durch die unverfänglich scheinenden Worte: »genauer gesagt« dem ersteren substituirt. Hiemit ist aber von vorn herein eine vollständige Confusion inaugurirt, indem er thatsächlich nur die Grenzen des naturwissenschaftlichen Erkennens im engeren Sinne erörtert und sich nun einbildet, diese Bestimmungen auf die Grenzen des Naturerkennens übertragen zu können. Das Naturerkennen hat aber drei Stufen, als rationelle Naturkunde, als exacte Naturwissenschaft und als Naturphilosophie. Die Naturkunde sammelt die Erfahrungen über die Naturgegenstände und Naturerscheinungen in möglichster Vollständigkeit, behandelt dieselben nach vergleichender Methode und ordnet sie nach rationellen Gesichtspunkten in ein natürliches System. Die Naturwissenschaft untersucht den Causalzusammenhang der durch die Naturkunde bekannt gewordenen Erscheinungen, den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung innerhalb der objectiv gegebenen phänomenalen Welt; nur weil dieser Zusammenhang in der That ein mechanischer ist, sieht sich alle Naturwissenschaft zur mechanistischen Auflösung
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der Erscheinungszusammenhänge gedrängt, welche letzten Endes stets auf die Mechanik des Atoms zurückführt; und nur weil die Mechanik die Ursachen der als Ausgangspunkt dienenden subjectiven Wahrnehmungsqualitäten in quantitative Bestimmungen auflöst, beginnt die exacte Naturwissenschaft mit der genauen Berücksichtigung der quantitativen Beziehungen, zu deren gedanklicher Verarbeitung die Mathematik das unentbehrliche Hilfsmittel bietet. Die Naturphilosophie endlich untersucht die Principien, mit denen die Naturwissenschaft kritiklos operirt, und die Beziehungen derselben zu dem Kosmos als einer Gesammtheit von materieller Natur und Geisteswelt. Wenn die Naturkunde die gegebenen Erscheinungen nur vergleichend discutirt, ohne nach ihrer causalen Entstehung zu fragen, wenn die Naturwissenschaft sich auf den Causalzusammenhang der Erscheinungen innerhalb der äußeren materiellen Seite der phänomenalen Welt beschränkt, so beschäftigt sich die Naturphilosophie mit dem metaphysischen Zusammenhang zwischen den Naturerscheinungen und dem in ihnen sich offenbarenden Wesen und führt auf die Philosophie des Geistes hin, insoferne dieses Wesen außer in der Natur auch in der Welt des Geistes sich offenbart, und zwar in so viel höherer Weise offenbart, daß von einem allgemeineren Standpunkte betrachtet seine Manifestation in der Natur gleichsam nur als Vorstufe oder als Durchgangspunkt zur Offenbarung im Geiste erscheint. Erst das Verständniß dieser metaphysischen Zusammenhänge schließt das Naturerkennen ab; die bloße Naturkunde und Naturwissenschaft aber mit ihrem Verharren in der Betrachtung der Erscheinungen auf dem einseitigen Gebiete der materiellen Natur ohne Beziehung zu dem metaphysischen Wesenskern dieser Erscheinungen kann nur durch verblendete Selbstüberschätzung beanspruchen, sich mit dem Naturerkennen überhaupt identificiren zu dürfen und durch Bestimmung ihrer Grenzen dem Naturerkennen als Ganzen unüberschreitbare Grenzen vorzeichnen zu wollen. So erweist sich denn schon der Titel des Vortrages als
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ein πρῶτον ψεῦδος enthaltend, das für den ganzen Inhalt verhängnißvoll werden mußte. Sehen wir nun hievon ab, so definirt der Redner das naturwissenschaftliche Erkennen ganz richtig als »Zurückführen der Veränderungen in der Körperwelt auf Bewegungen von Atomen, die durch deren von der Zeit unabhängige Centralkräfte bewirkt werden, oder Auflösung der Naturvorgänge in Mechanik der Atome« (S. 2). Er beruft sich (S. 4) auf Laplace und dessen Ausspruch über einen dem unserigen gleichen, nur intensiver denkenden Geist, welcher im Stande sein würde, aus der Kenntniß der Lage sämmtlicher Atome im Raum und ihrer Kräfte in einem bestimmten Zeitpunkt die mechanische Weltformel anzusetzen, aus welcher durch Einsetzen verschiedener positiver oder negativer, endlicher oder unendlicher t’s (Zeitwerthe) der ganze Verlauf des materiellen Weltprocesses in all seinen kleinsten Details abzuleiten wäre. Ein vor- und rückwärts gewandter Prophet wäre ihm nach d’Alembert »das Weltganze nur eine einzige Thatsache und eine große Wahrheit« (S. 5); er könnte daraus ablesen, wie der »Präsident« zu Grunde ging, wie der räthselhafte Urzustand des Weltalls beschaffen war und wann die letzte englische Steinkohle verbrannt sein wird (S. 4). Wie weit wir auch von den empirischen Vorbedingungen und der unendlichen analytischen Uebersicht, wie sie hier gefordert sind, entfernt sein mögen, so ist doch gewiß, daß der Unterschied zwischen solchem Verstande und dem unserigen kein qualitativer, sondern nur ein gradueller sein würde; fragen wir uns aber, ob diese Erkenntnißart, welche gleichsam die denkbar höchste Stufe oder das Ideal unseres eignen naturwissenschaftlichen Erkennens bildet, unserem Erklärungsbedürfniß denn wirklich eine Befriedigung bietet, so zeigt sich, daß sie »in Wahrheit dies nicht thut und kein Erkennen ist« (S. 8). Wir haben an der Vorstellung, daß die Welt aus ewigen kleinsten materiellen Theilen bestehe, nur das Surrogat einer Erklärung, bei dem wir uns wohl eine Zeitlang und vorläufig beruhigen können (?); »bald aber verlangen
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wir tiefer einzudringen und es selber seinem Wesen nach zu begreifen« (S. 8 bis 9). Da wir nun gehört haben, daß die Aufgabe der Naturwissenschaft mit der Erkenntniß der mechanischen Veränderungen in der Körperwelt erschöpft ist, so sollte man glauben, daß dieses vom Erkenntnißbedürfniß geforderte tiefere Eindringen in das Wesen, das unter dem Scheine der Materie im Raume spukt (S. 12), eben Aufgabe einer anderen neu eintretenden Disciplin neben der Naturwissenschaft sein müsse, welche die von letzterer gedankenlos gehandhabten Begriffe, wie Atom, Kraft, Stoff, Gesetz u.s.w., kritisch untersucht und den Rückschluß aus den Erscheinungen auf das in ihnen sich offenbarende Wesen versucht. Diese auf der Hand liegende Folgerung zieht aber der Redner nicht, sondern überzeugt von der nur in einer Naturforscherversammlung unverspottet auszusprechenden Voraussetzung, daß die Grenzen des naturwissenschaftlichen Erkennens die Grenzen des Geistes überhaupt seien, erklärt er, daß jeder Versuch, diese Grenzen zu überschreiten, in unlösliche Widersprüche führt (S. 9) und seiner Natur nach führen müsse, weil wir unvermögend seien, »etwas Anderes als mit unseren äußeren Sinnen entweder oder mit unserem inneren Sinn Erfahrenes uns vorzustellen« (S. 11). Dieser Grund ist aber keiner, weil der Zusatz »oder mit unserem inneren Sinn Erfahrenes« den ganzen Inhalt der Beziehungsbegriffe und der niemals äußerlich erfahrenen Begriffe a priori mit hineinzieht, z. B. den der ganzen Naturwissenschaft zu Grunde liegenden Begriff des Zusammenhanges zwischen Ursache und Wirkung, den, wie schon Hume gezeigt hat, noch niemals Einer erfahren, sondern immer nur in die auf einander folgenden Vorgänge hineingedacht hat. Derselben Art sind aber alle anderen Grundbegriffe, mit denen die Naturwissenschaft unbekümmert hantirt; sie alle sind gar keine naturwissenschaftlichen Begriffe, sondern Residuen früherer Stadien der Naturphilosophie, welche so lange benützt werden, als sie praktisch brauchbar erscheinen und je nach Bedürfniß die für den praktischen Zweck erforderlichen Mo-
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dificationen erleiden. Die ganze Naturwissenschaft ist also nur möglich auf Grundlage einer schon vorhandenen Naturphilosophie und ihrer Principien; ohne diese würde es ewig an den Fundamenten fehlen, auf denen das Gebäude der Naturwissenschaft sich erhebt. Daß bedeutende Fortschritte der Naturwissenschaft das Ungenügende solcher Residuen aus früheren philosophischen Perioden deutlicher hervortreten lassen, ist selbstverständlich; daraus folgt aber dann nicht etwa die Ueberflüssigkeit der naturphilosophischen Grundlagen der Naturwissenschaft, sondern die Nothwendigkeit einer Revision ihrer Acten, das Bedürfniß eines mit den Fortschritten der Naturwissenschaft gleichen Schritt haltenden Fortschritts der Naturphilosophie. Daß eine dynamistische Auffassung der Atome unter Beseitigung des Urbegriffs des Stoffes und Zurückführung des Beharrungsvermögens auf Kants Relativität der Bewegung durchaus in sich widerspruchslos und durch die convergirende Entwicklung der dynamischen und atomistischen Theorien der Materie als deren Synthese unvermeidlich gefordert sei, glaube ich (Ph. d. Unb. Cap., C. V und Ges. philos. Abhandl. Nr. VII) nachgewiesen zu haben, so daß ein sachlicher Grund für die Behauptung einer unlöslichen Antinomie eben so wenig wie ein formeller besteht. Als die zweite unüberschreitbare Grenze des naturwissenschaftlichen Erkennens bezeichnet der Redner mit Recht das Begreifen der Existenz eines Bewußtseins. »Mit der ersten Regung von Behagen oder Schmerz, die im Beginn des thierischen Lebens auf Erden ein einfachstes Wesen empfand, ist jene unübersteigliche Kluft gesetzt und die Welt nunmehr doppelt unbegreiflich geworden.« (S. 18.) Das Wort Karl Vogts, »daß die Gedanken etwa in demselben Verhältnisse zum Gehirn stehen wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren«, ist nicht deßhalb zu tadeln, weil der Vergleich unästhetisch ist oder weil darin das Gehirn als materielle Bedingung des Bewußtseins hingestellt wird, sondern weil es »die Vorstellung erweckt, als sei die Seelenthätigkeit aus dem Bau
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des Gehirns ihrer Natur nach so begreifbar wie die Absonderung aus dem Bau der Drüse« (S. 32). Ein traumlos schlafendes Gehirn wäre einem vollkommenen naturwissenschaftlichen Verstande mechanisch durchschaubar wie der Mechanismus des ganzen Körpers (S. 27), aber dieses Durchschauen enthüllt eben nichts als bewegte Materie, eine Anzahl von Uratomen, die zu Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauerstoff-Atomen gruppirt, als solche eigenthümlich gelagert und in bestimmten Bewegungsformen befindlich sind (S. 25 bis 26). Der erste Strahl dämmernden Bewußtseins bringt aber etwas völlig Neues und Heterogenes in diesen Schläfer, das durch keine Einsicht in die Lagerungsund Bewegungsverhältnisse der Atome, durch keine Kenntniß, welche Bewegungen sich mit welchen Gedanken oder Affecten verknüpfen, begreiflich wird; es giebt keine Brücke bei diesem Uebergang auf ein heterogenes Gebiet (ebenda). Stumm und finster (genauer gesprochen: klanglos und licht- und farbenlos) ist die Welt der naturwissenschaftlichen Erkenntniß, welche die objectiven Ursachen unserer Schall- und Luftempfindungen in Schwingungen, d. h. Bewegungen der Atome wägbarer und unwägbarer Medien auflöst; Licht ward es zum ersten Male auf der sonnbestrahlten Erde, als das erste Infusorium vermittelst seines rothen Augenpunktes zuerst die von der Sonne ausgehenden Aetherschwingungen auffaßte und in Lichtempfindung umsetzte. (S. 6 bis 7). Auch nicht in seinem Protoplasma, nicht im menschlichen Gehirn ist das Licht, da sind nur physiologische Nervenschwingungen, sondern nirgends anders als im Bewußtsein. Selbst jenem Laplace’schen Geiste regen sich die Hirnatome wie in stummem Spiel; so scharf er ihre Schaaren und deren Verschränkungen durchschaut, der Vorgang bleibt ihm ewig äußerliche räumliche Bewegung, er kann sie nicht denken und fühlen sehen (28). Diese Grenze der naturwissenschaftlichen Erkenntniß ist ebenso ihrer Natur nach unüberschreitbar wie die erstgenannte und der Zweifel an der Unmöglichkeit, das Bewußtsein jemals aus sei-
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Personenverzeichnis
Riga, ab 1887 Professor der Physikalischen Chemie an der Universität Leipzig, 1906 vorzeitige Emeritierung, 1909 Verleihung des Nobelpreises für Chemie, von 1911–1915 Vorsitzender des Deutschen Monistenbundes, 1901–1922 Herausgeber der Annalen der Naturphilosophie 211 Pascal, Blaise (1623–1662); Philosoph, Mathematiker, Physiker 190 Pasteur, Louis (1822–1895), Naturwissenschaftler 159 Pelagius (ca. 350–420), Theologe 171 Platon (427 v. Chr.–347 v. Chr.), Philosoph (87) Poeppig (= Pöppig), Eduard Friedrich (1798–1868), Zoologe, Botaniker, Geograph, Forschungsreisender und Amerikaforscher 13 Pythagoras (ca. 570 v. Chr.–510 v. Chr.), Philosoph (87) Quetelet, Lambert Adolphe Jacques (1796–1874), Astronom und Statistiker 177 Radicke, Gustav (1810–1883), Mathematiker und Physiker 104, 106 f. Raffael, Raffaelo Santi (= Raphael) (1483–1520), Maler 14
Rathenau, Walter (1867–1922), Industrieller (AEG), Schriftsteller und Politiker, Mitbegründer der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), 1921 Wiederaufbauminister, 1922 Ernennung zum Außenminister, fiel einem Attentat der rechtsradikalen Organisation Consul (O. C.) zum Opfer 233, 251 Rokitansky, Carl von (1804– 1878), Pathologe, Politiker und Philosoph 38 Saint-Venant, Barré de (1797– 1886), Ingenieur, Mathematiker und Physiker 179, 182 Santorio (= Sanctorius), Santorio (1561–1636), Arzt 94 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1775–1854), Philosoph 27, (52) Schopenhauer, Arthur (1788– 1860), Philosoph 29, (72) Schwegler, Albert (1819–1857), ev. Theologe, Philosoph und Historiker 16 Shakespeare, William (1564– 1616), Dichter 14 Spencer, Herbert (1820–1903), Philosoph und Soziologe 204 Spiller, Philipp (1800–1879), Physiker, Mathematiker und Philosoph 72, 99 Spinoza, Baruch de (1632–1677), Philosoph 52, 97, 189
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nen materiellen Bedingungen zu begreifen, der zweite Irrthum, dessen Bekämpfung der Redner sich vorgesetzt hat (17). Die Hervorkehrung der Heterogenität der Gebiete des äußerlichen materiellen Daseins und des innerlichen Bewußtseins ist ganz richtig und bloß zu verwundern, daß diese alte philosophische Einsicht als neueste naturwissenschaftliche Entdeckung aufgetischt wird. Erfreulich ist es jedenfalls, daß immerfort die Stimmen aus der Naturforscherwelt sich mehren, welche die innere Ungereimtheit der materialistischen Tendenzen mit Nachdruck betonen (z. B. Rokitansky und Hering in Wien, Fink in Würzburg, Zöllner und Czermak in Leipzig, Barnard in America, Tyndall u. A. in England u.s.f.). Aber auch nur für die Naturforscherwelt bedarf es solcher Versicherungen, denn die Philosophie weiß seit alten Zeiten, daß das uns unmittelbar Bekannte nur das Bewußtsein mit seinem subjectiven Inhalt ist, daß aber die Materie bloß ein mittelbar aus dem subjectiven Bewußtseinsinhalt als jenseitige Ursache der Empfindungen und Wahrnehmungen Erschlossenes, an und für sich Unbekanntes ist, daß also schon deßhalb der Versuch, das Bewußtsein aus der Materie zu begreifen, einen verkehrten Weg einschlägt, da es zweifelhaft ist, ob es eine Materie giebt (Berkeley, Fichte), nicht aber, daß | es ein Bewußtsein giebt. Jener Geist des Laplace, der als unbetheiligter Zuschauer das Spiel der Weltatome durchschaut, ist so weit entfernt die Erkenntniß des Menschengeistes in allen Richtungen zu erschöpfen, daß vielmehr gerade der Hauptinhalt des menschlichen Bewußtseins, das ganze reiche Gefühlsleben der Seele, jenem an sich inhaltlosen Geiste der reinen Objectivität völlig fremd ist. Jenem Geiste denken und fühlen die Gehirnatome des träumenden Schläfers freilich nicht, aber dem Schläfer selber denken und fühlen sie in der That, er hat das Bewußtsein als wirkliches, unmittelbares gegebenes in sich, das jener rein objective Verstand vergebens in dem Spiel seiner Atome zu erhaschen sucht. Jeder Mensch hat als Mensch die Grenze längst überschritten, die er als Na-
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turforscher unübersteiglich findet, denn er ist ja mitten drin in jenem Mysterium, dem das Naturerkennen vergeblich von außen beizukommen sucht, und es ist ihm weit bekannter und vertrauter als jenes draußen, das der Naturforscher für seine Heimat hält. | III. Suchen wir die Stufe zu präcisiren, welche die kritische Selbstbesinnung des naturwissenschaftlichen Bewußtseins in der vorliegenden Kundgebung erreicht hat, so zeigt dieselbe eine entschiedene Analogie mit derjenigen Stufe, welche die kritische Selbstbesinnung des philosophischen Bewußtseins vor drei Menschenaltern in Kant erreicht hat. Wie Kant nimmt auch du Bois-Reymond an, daß das Erkennen sich im Grunde nur mit Erscheinungen befasse, während der Wesenskern, der diesen Erscheinungen zu Grunde liegt, ein schlechthin unbekannter und unerkennbarer bleibe; wie Kant behauptet er, daß das Erkenntnißbedürfniß sich seiner Natur nach nicht mit diesem phänomenalen Erkennen begnügen könne, aber so beschaffen sei, daß es bei jedem dieser nothwendigen Versuche, weiter und tiefer zu dringen, sich in unlösliche Widersprüche (Antinomien) verwickle; wie Kant endlich weist er auf die mögliche Perspective hin, daß am Ende gar die scheinbar doppelte Grenze des Erkennens nach Seiten des Objects und des Subjects nur eine einfache sein möge, daß vielleicht das der Körperwelt und das der Bewußtseinswelt zu Grunde Liegende gar eines und dasselbe Wesen sei (S. 31 und 33). Bekanntlich knüpfte die ganze Fortentwicklung der deutschen Philosophie an diesen Gedanken Kants an und erzielte das Resultat, die schüchterne Vermuthung Kants nicht nur zur Evidenz zu bringen, sondern auch dieses in der äußern Realität des materiellen Daseins und der inneren Realität des Bewußtseins identische metaphysische Wesen immer klarer zu bestimmen und immer deutlicher zu erkennen. Wenn Herr du Bois-Reymond
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diesen großartigen Entwicklungsgang der deutschen Philosophie seit Kant, in welchem die Geister ersten Ranges in unerhört schneller Folge auf einander platzten, einfach ignoriren zu können glaubt und wie Kant der Ansicht huldigt, daß es eine Metaphysik nicht geben könne, und alles weitere Reden über solche Fragen müssig sei (S. 33), so wird er sich gefallen lassen müssen, daß die philosophisch Gebildeten in ihm eben nur einen mit seinem Philosophiren über die Erkenntnißgrenzen um drei Generationen Zurückgebliebenen sehen, da es für sie als erwiesen gilt, daß Kants beschränkter Standpunkt nur eine Folge der Unvollkommenheit und des noch nicht zu Ende Denkens seiner Erkenntnißtheorie war. Andererseits aber werden alle billig Denkenden überwiegende Freude darüber empfinden, daß die Naturforschung schon bei einem Standpunkt angelangt ist, der als ein Analogon des Kant’schen bezeichnet werden kann, nachdem es doch längere Zeit in ihr fast gänzlich an Zeichen einer philosophischen Selbstkritik gefehlt hat. Bei alledem darf angesichts der Vielseitigkeit und Tiefe unserer modernen Wissenschaft nicht ohne Protest die selbstgewisse Verkündigung eines Standpunktes geduldet werden, der die geistigen Errungenschaften fast eines ganzen Jahrhunderts ignorirt, so achtungswerth er auch als Beginn der letzten großen Entwicklungsepoche in der abgeschlossenen Gedankensphäre des grundlegenden, aber auch nur grundlegenden Königsberger Nestors gewesen sein mag. Was dort übertriebene kritische Vorsicht war, erscheint hier als Ausfluß einseitiger Ueberhebung einer Fachwissenschaft, welche die Nothwendigkeit ihrer Ergänzung und Vertiefung durch andere Fachwissenschaften verkennt und in einem Vortrag, der sich mit dem Bewußtsein als der Grenze ihrer Sphäre beschäftigt, nicht einmal ein Wort für die Berechtigung einer Geisteswissenschaft neben der Naturwissenschaft übrig hat, sondern die Existenz einer auf eigenes empirisches Material gestützten und nach eigenen Forschungsweisen operirenden Geisteswissenschaft einfach ignorirt, obwohl doch dieselbe den
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Menschen, dem die geistige Seite seiner Existenz höher steht als die natürliche, unbedingt wichtiger sein muß als die Naturwissenschaft. Zur Geisteswissenschaft aber gehören nicht etwa bloß die philosophischen Disciplinen (Logik, Erkenntnißtheorie, Methodenlehre, Psychologie, Rechts-, Staats- und Gesellschaftslehre, Pädagogik, Ethik, Aesthetik, Religionswissenschaft u.s.w.), sondern auch alle geschichtlichen Wissenschaften im weitesten Sinne, sofern sie sich nur überhaupt mit Geschichte des Geistes beschäftigen. In allen diesen Disciplinen kann die naturwissenschaftliche Erkenntnißweise, welche zur Auflösung in Mechanik der Atome, zur Auflösung aller Qualität in Quantität drängt, nicht platzgreifen; die Gesetze des geistigen Lebens müssen vielmehr mit Entschiedenheit die qualitative Seite als integrirenden Bestandtheil desselben und als charakteristisches Merkmal des Subjectiven festhalten und dafür auf exacte Präcisirung des Quantitativen meistens verzichten. Wer wie du Bois-Reymond diese Heterogenität beider Sphären selbst zugiebt, wird auch die Nothwendigkeit einer verschiedenartigen Behandlung beider, wie sie durch das Hervorkehren des Quantitativen auf der einen und des Qualitativen auf der andern Seite angedeutet ist, nicht bestreiten können. Ist nun einmal die Geisteswissenschaft als coordinirte Sphäre der Wissenschaft neben der Naturwissenschaft anerkannt, so brauchen wir kaum hinzuzufügen, daß die erstere eben so unvermeidlich zu einer Metaphysik des Geistes wie die letztere zu einer Metaphysik der Natur drängt, nur daß bei ersterer die Grenze zwischen der Betrachtung des Causalzusammenhanges der Erscheinungen und der Untersuchung der Principien selbst noch weniger fest und die Punkte, welche zum Uebergang von dem phänomenalen in das metaphysische Gebiet drängen, weit zahlreicher sind, und daß außerdem der Weg zwischen beiden beim Geiste ein kürzerer ist als bei der Natur, weil er direct von dem unmittelbar bekannten Bewußtsein zu dessen metaphysischem Ursprung führt, ohne den Umweg
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über die erst aus dem Bewußtseinsinhalt erschlossene Körperwelt machen zu müssen. Ist der Trieb des Erkenntnißbedürfnisses von der oberflächlichen phänomenalen Erkenntniß, die, als in der Luft schwebend, gar keine Erkenntniß ist, zu der dieselbe erst befestigenden und abschließenden metaphysischen Erkenntniß unabweisbar und ist die Annahme Kants unbegründet, daß wir mit der Zuertheilung dieses Triebes von der Natur gleichsam geprellt seien, da er so beschaffen, daß er uns nothwendig in unlösliche Widersprüche verwickle, so wird man zugeben müssen, daß auch die Metaphysik, welche die Befriedigung dieses Triebes anstrebt, ihre Berechtigung habe, gleichviel mit wie viel Schwierigkeiten sie trotz ihrer allerhöchsten Berechtigung zu kämpfen habe. So tritt neben Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft als dritte die Metaphysik. Ohne eine Metaphysik fällt die Welt in zwei völlig heterogene Theile aus einander, in eine äußere Seite des körperlichen Daseins und eine innere des geistigen Bewußtseins, und jede empirisch constatirte Relation zwischen diesen schlechterdings heterogenen Gebieten erscheint als ein unbegreifliches Wunder, doppelt unbegreiflich, wenn es sich nicht bloß um einzelne causale Beziehungen, sondern um eine großartige systematische Harmonie beider Reiche handelt. Nur in einer Metaphysik kann dieses Räthsel seine Lösung finden, nämlich in der Beziehung, in welche die Metaphysik der Natur und die des Geistes zu einander gesetzt werden. Nur hier können die Räthsel des empirisch gegebenen Zusammenhangs zwischen Natur und Geist sich lösen, jene Räthsel, gegen die wir uns nur abgestumpft haben, weil das Wunder uns alltäglich geworden. Nur ein den Geist mit seinem unendlichen Reichthum ignorirender Naturforscher oder ein die Natur mit ihrer unermeßlichen Fülle vergessender Geistesforscher können sich darüber verblenden, daß die Welt ihrer Anschauung kein Ganzes ist, sondern ein Durcheinander von zwei heterogenen Sphären, ein Mischmasch, in dem selbst das kleinste Theilchen an einem unüberwindlichen
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Dualismus der objectiven Aeußerlichkeit und subjectiven Innerlichkeit klafft. Die Geschichte der Philosophie ist im Grunde genommen nichts weiter als der allseitig geführte indirecte Beweis, daß keine andere metaphysische Grundansicht eine Gesammtauffassung der Welt als eines einheitlichen Ganzen zu geben vermag als der Monismus, d. h. als die Hypothese, daß das Wesen, welches der äußeren körperlichen Existenz zu Grunde liegt, identisch ist mit dem, welches dem inneren Geistesleben zu Grunde liegt. Wer heutzutage noch die Möglichkeit und den Werth der Methaphysik läugnet und alle metaphysische Forschung für »müssig« erklärt, muß eben so fern von dem Verständniß des tieferen Sinnes der Geschichte der Philosophie als von dem Bedürfniß einer einheitlichen und geschlossenen Weltanschauung sein. Nichtsdestoweniger können wir nur wünschen, daß das Gros der Naturforscher recht bald Herrn du Bois-Reymond auf dem von ihm eingeschlagenen Wege folge; denn es ist für sie in der That der richtige Weg, und der Zug der Geschichte, der mächtiger ist als aller Dünkel einer einseitigen Fachwissenschaft, wird schnell genug dafür Sorge tragen, daß diese Gedankenentwicklung nicht auf halbem Wege stehen bleibe, sondern ausmünde in das Ziel der Einen weltumspannenden Wissenschaft, die alle Seiten der Erkenntniß in sich begreift.
Friedrich Albert Lange I. Der Materialismus und die exacte Forschung.*| Der Materialismus stützt sich von jeher auf die Betrachtung der Natur; gegenwärtig aber kann er sich nicht mehr damit begnügen, die Naturvorgänge ihrer Möglichkeit nach aus seiner Theorie zu erklären; er muss sich auf den Boden der exacten Forschung stellen und er nimmt dies Forum gerne an, weil er überzeugt ist, dass er hier seinen Prozess gewinnen muss. Viele unter unsern Materialisten gehen so weit, die Weltanschauung, zu welcher sie sich bekennen, gradezu als eine nothwendige Folge des Geistes der exacten Forschung hinzustellen; als ein natürliches Ergebniss jener ungeheuren Entfaltung und Vertiefung, welche die Naturwissenschaften gewonnen haben, seit man die speculative Methode aufgegeben hat und zur genauen und systematischen Erforschung der Thatsachen übergegangen ist. Wir dürfen uns daher nicht wundern, wenn die Gegner des Materialismus mit besonderer Vorliebe auf jede Aeusserung eines bedeutenden Forschers fahnden, welche jene vermeintliche Consequenz ablehnt, oder wohl gar den Materialismus als eine blosse Missdeutung der Thatsachen, als einen nahe liegenden Irrthum ungründlicher Forscher, wo nicht gar blosser Schwätzer darstellt. Eine Aeusserung dieser Art war es, wenn Liebig in seinen chemischen Briefen die Materialisten als »Dilettanten« bezeichnete. So richtig es aber auch im Allgemeinen ist, dass * Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Zweites Buch. Geschichte des Materialismus seit Kant. Iserlohn 21875. Zweiter Abschnitt. Die Naturwissenschaften. – Die mit vorangestelltem A in den Text gesetzten Ziffern verweisen auf die Anmerkungen am Ende dieses Beitrags.
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nicht grade die | gründlichsten Forscher, die Entdecker und Erfinder, die ersten Meister eines speciellen Gebietes sich mit der Verkündigung der materialistischen Lehre zu befassen pflegen, und so manche Blösse sich auch Männer wie Büchner, Vogt oder gar Czolbe vor dem Richterstuhl strenger Methode gegeben haben, so können wir doch keineswegs Liebig ohne Weiteres zustimmen. Zunächst liegt es ja ganz in der Natur der Sache, dass bei der heutigen Theilung der Arbeit der Specialforscher, der seine ganze geistige Kraft auf die Förderung eines bestimmten Zweiges der Wissenschaft gerichtet hat, nicht die Neigung, und oft auch nicht die Fähigkeit besitzt, das gesammte Gebiet der Naturwissenschaften zu durchwandern, um überall die verbürgtesten Thatsachen aus fremden Forschungen aufzulesen und sie zu einem Gesammtbilde zusammenzusetzen. Es ist für ihn eine undankbare Arbeit. Seine Bedeutung beruht auf seinen Entdeckungen, und diese darf er nur auf seinem speciellen Gebiete hoffen. So berechtigt daher auch die Forderung ist, dass jeder naturwissenschaftliche Forscher sich auch einen gewissen Grad allgemeiner naturwissenschaftlicher Bildung aneigne, und dass er namentlich die nächstverwandten Fächer möglichst genau kennen lerne, so wird doch damit das Princip der Theilung der Arbeit nur in seinen Wirkungen verbessert; nicht aufgehoben. Ja, es kann sehr wohl der Fall sein, dass ein Specialforscher durch sein Streben nach allgemeiner naturwissenschaftlicher Bildung auch zu einer ausgeprägten Anschauung über das Wesen des Naturganzen und der in ihm waltenden Kräfte gelangt, ohne auch nur den mindesten Trieb zu fühlen, diese seine Ansicht auch Andern aufzudrängen oder sie als die allein berechtigte hinzustellen. Eine solche Zurückhaltung kann auf den besten Motiven beruhen, denn der Specialforscher wird sich immerhin eines grossen Unterschiedes bewusst sein zwischen den Grundlagen, auf denen sein Fachwissen beruht und der subjectiven Begründung dessen, was er sich aus den Resultaten fremder Forschungen angeeignet hat.
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Specialforschung macht also vorsichtig; sie macht aber auch bisweilen engherzig und arrogant. Dies tritt namentlich dann hervor, wenn ein solcher Forscher sein eignes Verhalten zu den Nachbarwissenschaften für das allein zulässige erklärt, wenn er jedem Andern verbieten will, über Dinge seines Faches irgendwie zu urtheilen, wenn er also das nothwendige Verfahren dessen, der | die Gesammtansicht von der Natur zum Gegenstande seiner Bemühungen macht, schlechthin negirt. Will z. B. der Chemiker dem Physiologen verbieten, ein Wort über Chemie mitzureden, oder will der Physiker den Chemiker als Dilettanten zurückweisen, wenn er sich ein Wort über die Mechanik der Atome erlaubt, so möge er sich wohl vorsehen, ob er auch den positiven Beweis für ein leichtfertiges Verfahren bei der Hand hat. Ist dies nicht der Fall, wird gleichsam vom Zunftprincip aus eine polizeiliche Zurückweisung des »Pfuschers« beansprucht, bevor dessen Werk erst geprüft ist, so kann man einen solchen Anspruch nicht streng genug beurtheilen. Am verderblichsten ist aber eine solche Arroganz, wenn es sich gar nicht darum handelt, neue Ansichten aufzustellen, sondern lediglich anerkannte, von den Specialforschern selbst gelehrte Thatsachen in einen neuen Zusammenhang zu bringen, sie mit Thatsachen aus einem andern Gebiete zu weittragenden Schlüssen zu combiniren, oder sie einer neuen Deutung zu unterwerfen in Beziehung auf das Hervorgehen der Erscheinung aus den letzten Gründen der Dinge. Wenn die Resultate der Wissenschaften so beschaffen wären, dass Niemand sie deuten kann, der sie nicht gefunden hat – und dies wäre die strenge Consequenz jenes Anspruches, so sähe es mit dem Zusammenhang alles Wissens und mit der ganzen höheren Bildung sehr bedenklich aus. Ein Schuh wird in gewissen Beziehungen am besten vom Schuhmacher beurtheilt, in andern von dem, der ihn trägt, und wieder in andern vom Anatomen und vom Maler und Bildhauer. Ein Produkt der Industrie beurtheilt nicht nur der Fabrikant, sondern auch der Consument. Wer ein Werkzeug kauft, weiss oft besseren
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Gebrauch davon zu machen, als der es gefertigt hat. Diese Beispiele klingen trivial, aber sie erleiden hier Anwendung. Wer das Gesammtgebiet der Naturwissenschaften fleissig durchwandert hat, um ein Bild des Ganzen zu gewinnen, der wird die Bedeutung einer einzelnen Thatsache oft besser zu beurtheilen wissen, als ihr Entdecker. Man sieht übrigens leicht, dass die Arbeit dessen, der ein solches Gesammtbild der Natur zu gewinnen sucht, im Wesentlichen eine philosophische ist, und da fragt es sich denn, ob nicht mit weit mehr Recht den Materialisten der Vorwurf des philosophischen Dilettantismus gemacht werden kann. Dies ist auch oft genug geschehen, aber wir gewinnen damit gar nichts | für eine unbefangene kritische Würdigung des Materialismus. Nach richtigem Sprachgebrauch sollte man denjenigen einen Dilettanten nennen, der keine strenge Schule durchgemacht hat; aber wo ist die Schule für den Philosophen, die auf Grund ihrer Leistungen eine solche Schranke zwischen Befugten und Unbefugten ziehen dürfte? In den positiven Wissenschaften können wir heutzutage, wie in den Künsten, überall sagen, was Schule ist; in der Philosophie aber nicht. Sehen wir zunächst ab von der speciellen Bedeutung, die das Wort gewinnt, wo es sich um die individuelle Uebertragung der Kunstübung eines grossen Meisters handelt, so weiss man immer noch recht gut, was ein geschulter Historiker, Philologe, Chemiker oder Statistiker ist; bei den »Philosophen« dagegen wendet man das Wort meist nur missbräuchlich an. Ja, der Missbrauch des Begriffes selbst, in leichtfertiger Uebertragung, hat dem Ansehen und der Bedeutung der Philosophie auf’s erheblichste geschadet. Wollte man, unabhängig von der Jüngerschaft in einem bestimmten System, einen allgemeinen Begriff philosophischer Schulung aufstellen; was würde dazu gehören? Vor allen Dingen eine streng logische Durchbildung in ernster und angestrengter Beschäftigung mit den Regeln der formalen Logik und mit den Grundlagen aller modernen Wissenschaften, der Wahrscheinlichkeits-
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lehre und der Theorie der Induction. Wo ist eine solche Bildung heutzutage zu finden? Unter zehn Universitätsprofessoren besitzt sie kaum einer, und am wenigsten ist sie bei den »–ianern« zu suchen, mögen sie sich nun nach Hegel, Herbart, Trendelenburg oder irgend einem andern Schulhaupte nennen. Die zweite Forderung wäre ein ernstes Studium der positiven Wissenschaften, wenn auch nicht, um sie alle im Einzelnen zu beherrschen, was unmöglich ist und überdies unnütz wäre; wohl aber, um aus der historischen Entwicklung heraus ihren gegenwärtigen Gang und Zustand zu begreifen, ihren Zusammenhang in der Tiefe zu erfassen und ihre Methoden aus dem Princip aller Methodologie heraus zu verstehen. Hier fragen wir wieder: wo sind die Geschulten? Unter den »–ianern« gewiss wieder am allerwenigsten. Ein Hegel, z. B., der sich über die erste Forderung höchst leichtfertig hinwegsetzte, hat doch wenigstens der zweiten in ernster Geistesarbeit zu genügen gesucht. Seine »Schüler« aber studiren nicht, was Hegel studirt hat, sondern sie studiren Hegel. Was dabei herauskommt, haben wir hinlänglich | gesehen: ein hohles Phrasenwerk, eine Schatten-Philosophie, deren Arroganz jedem an ernstem Stoff gebildeten Manne zum Ekel werden musste. – Erst in dritter oder vierter Linie käme für eine richtige Philosophenschule das eingehende Studium der Geschichte der Philosophie. Setzt man dieselbe, wie es jetzt meist geschieht, als erste und einzige Bedingung neben die Aneignung irgend eines bestimmten Systems, so kann es nicht ausbleiben, dass auch die Geschichte der Philosophie zu einem blossen Schattenspiel wird: die Formeln, unter denen frühere Denker die Welt zu begreifen suchten, werden losgelöst von dem allgemeinen wissenschaftlichen Boden, aus dem sie erwachsen sind und werden damit alles realen Inhaltes entleert. Lassen wir also den Vorwurf des Dilettantismus bei Seite, weil der richtige Gegensatz fehlt und weil grade auf philosophischem Gebiete der Vortheil einer frischen Originalität oft alle Schul-Traditionen weit überwiegt. Den exacten Wis-
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senschaften gegenüber sind die Materialisten gerechtfertigt durch die philosophische Tendenz ihrer Arbeit; aber freilich nur, sofern sie die Thatsachen richtig aufnehmen und sich auf Schlüsse aus diesen Thatsachen beschränken. Wagen sie sich, wenn auch noch so sehr gedrängt durch den Zusammenhang des Systems, bis zu Vermuthungen vor, welche in den Thatbestand der empirischen Wissenschaften eingreifen, oder lassen sie erhebliche Resultate der Forschung ganz unberücksichtigt, so unterliegen sie, wie jeder Philosoph in ähnlichem Falle, mit Recht dem Tadel der Fachmänner; aber diesen erwächst daraus noch kein Recht, das ganze Thun und Treiben solcher Schriftsteller verächtlich zu behandeln. Der Philosophie gegenüber sind jedoch die Materialisten noch keineswegs völlig gerechtfertigt, wenn wir auch behaupten müssen, dass der Vorwurf des Dilettantismus hier keinen klaren Sinn habe. Schon das ganze Unternehmen, eine philosophische Weltanschauung ausschliesslich auf die Naturwissenschaften bauen zu wollen, ist in unsrer Zeit als eine philosophische Halbheit der schlimmsten Art zu bezeichnen. Mit demselben Rechte, mit welchem der empiristische Naturphilosoph nach Büchners Weise sich dem einseitigen Specialforscher gegenüberstellt, kann jeder allseitiger gebildete Philosoph wieder Büchner gegenübertreten und ihm die Vorurtheile zum Vorwurf machen, welche aus der Beschränktheit seines Gesichtskreises mit Nothwendigkeit sich ergeben. | Zwei Einwände stellen sich jedoch diesem Anspruch der Philosophie entgegen: der erste ist ein specifisch materialistischer, der zweite wird von sehr vielen Männern der exacten Wissenschaften unterstützt werden, welche durchaus nicht zu den Materialisten gezählt sein wollen. Es giebt nichts, ausser der Natur, ist der erste Einwand gegen das Verlangen der Philosophie, dass eine breitere Grundlage gesucht werde. Eure Metaphysik ist eine Scheinwissenschaft, ohne alle feste Grundlage; eure Psychologie ist nichts ohne die Physiologie des Gehirns und des Nervensystems, und
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was die Logik betrifft, so sind unsre Erfolge der beste Beweis dafür, dass wir auch mit den Denkgesetzen auf einem besseren Fusse stehen, als ihr mit euren impotenten Schulformeln. Ethik und Aesthetik aber haben mit der theoretischen Grundlage der Weltanschauung nichts zu schaffen und lassen sich auf materialistischer Basis ebenso gut errichten, wie auf jeder andern. Was soll uns unter diesen Umständen etwa noch die Geschichte der Philosophie? Sie kann ja von vornherein nichts Anderes sein als eine Geschichte menschlicher Irrthümer. Wir sehen uns hier auf die neuerdings so berühmt gewordene Frage nach den Grenzen des Naturerkennens geführt, welche wir alsbald gründlich in Angriff nehmen werden. Zuvor aber noch einige Bemerkungen über den zweiten Einwand! Die Philosophen, heisst es nicht selten im naturwissenschaftlichen Lager, haben eine von der unsrigen total verschiedne Denkweise. Jede Berührung mit Philosophie kann daher der Naturforschung nur verderblich sein. Es sind eben getrennte Gebiete und sie müssen getrennt bleiben. Wir lassen dahin gestellt, wie oft diese Ansicht ganz so gemeint ist, wie sie lautet, wie oft dagegen ein collegialisch rücksichtsvoller Ausdruck für die Meinung, dass Philosophie nichts als lauter Unsinn sei. Thatsache ist, dass die Lehre von der total verschiednen Denkweise eine bei den Naturforschern weit verbreitete ist. Einen besonders lebhaften Ausdruck hat ihr der verdienstvolle Botaniker Hugo von Mohl verliehen in einer Rede, welche die Errichtung einer naturwissenschaftlichen Facultät an der Universität Tübingen feiert.1 Die Materialisten aber betrachten sich natürlich unter diesem Begriff der »Philosophie« nicht mitbegriffen. Sie behaupten, ihr Weltbild auf dem Wege des | naturwissenschaftlichen Denkens zu gewinnen und geben höchstens zu, dass sie einen stärkeren Gebrauch von der Hypothese machen, als in der Specialforschung zulässig ist. Diese ganze Anschauungsweise beruht auf einer einseitigen Rücksicht auf unsre nachkantische Philosophie unter völ-
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liger Verkennung des Charakters der modernen Philosophie von Cartesius bis auf Kant. Das ganze Treiben der Schellingianer, der Hegelianer, der Neu-Aristoteliker und andrer neuerer Schulen ist nur zu sehr dazu angethan, den Abscheu zu rechtfertigen, mit welchem die Naturforscher sich von der Philosophie abzuwenden pflegen; dagegen ist das ganze Princip der modernen Philosophie, wenn man nur nicht diese Ausartungen der deutschen Begriffsromantik darunter versteht, ein total verschiedenes. Wir haben hier überall, mit kaum nennenswerthen Ausnahmen, eine streng naturwissenschaftliche Denkweise vor uns, über Alles, was uns durch die Sinne gegeben ist; aber fast ebenso allgemein auch den Versuch, die Einseitigkeit des auf diesem Wege sich ergebenden Weltbildes durch die Speculation zu überwinden. Descartes ist als Naturforscher nicht so stark wie als Mathematiker, er hat sich einige bedenkliche Blössen gegeben, aber er hat in andern Punkten die Wissenschaft wirklich gefördert, und dass es ihm dabei an der richtigen naturwissenschaftlichen Denkweise gefehlt habe, wird Niemand behaupten. Er nahm jedoch neben der Körperwelt eine Welt der Seele an, in welcher alles äusserlich Existirende nur vorgestellt wird, und damit berührte er, so gross auch die Mängel sind, die seinem Systeme anhaften, genau den Punkt, bei welchem aller Materialismus Halt machen muss, und auf den grade die exacteste Forschung schliesslich sich selbst hingeführt sieht. – Spinoza, der grosse Vorkämpfer der absoluten Nothwendigkeit alles Geschehens und der Einheit aller Naturerscheinungen ist so oft zu den Materialisten gezählt worden, dass es fast nöthiger ist, seine Differenz als seine Uebereinstimmung gegenüber der materialistischen Weltanschauung zu betonen. Es ist aber wiederum der gleiche Punkt, wo diese Differenz hervortritt: das ganze Weltbild, auf welches die mechanische Weltanschauung uns führt, ist nur eine Seite des Wesens der Dinge, welche freilich mit der andern, der geistigen, in vollkommner Harmonie steht. Die englischen Philosophen bedienen sich schon
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seit Baco fast ohne Ausnahme einer Methode, welche mit der | naturwissenschaftlichen Denkweise recht gut vereinbar ist; auch hat man in England den Conflict zwischen Philosophie und Naturforschung, von welchem bei uns so viel die Rede ist, nie gekannt. Die Erscheinungswelt wird von den bedeutendsten englischen Philosophen nach den gleichen Grundsätzen begriffen, wie von unsern Materialisten, wenn auch nur wenige, wie Hobbes, schlechthin beim Materialismus stehen bleiben. Locke aber, der für die Naturforschung so gut wie Newton Atome annahm, begründete seine Philosophie nicht auf die Materie, sondern auf die Subjectivität, wenn auch in sensualistischem Sinne. Dabei zweifelt er daran, ob unser Verstand zur Lösung aller sich bietenden Probleme befähigt sei: ein Anfang des Kantischen Kriticismus, der von Hume wieder um einen bedeutenden Schritt gefördert wird. Unter diesen Männern ist Keiner, der es nicht als selbstverständlich ansah, dass in der Natur Alles natürlich zugehe und die gelegentlichen Concessionen an die Kirchenlehre sind durchsichtig genug. Sie sind aber mit Ausnahme von Hobbes weit entfernt davon, das was unserm Verstande und unsern Sinnen sich als Weltbild ergiebt, schlechthin mit dem absoluten Wesen der Dinge zu identificiren, und überall tritt, bei den verschiedensten Wendungen der Systeme, doch wieder der Punkt hervor, welcher die neuere Philosophie von der alten unterscheidet: die Rücksicht darauf, dass unser Weltbild wesentlich Vorstellung ist. Bei Leibnitz wird der Gedanke von der Welt als Vorstellung in der Lehre vom Vorstellen der Monaden auf die Spitze getrieben, und doch huldigt Leibnitz gleichzeitig in der Auffassung der Erscheinungswelt dem strengsten Mechanismus, und die Art, wie er ein Problem der Physik behandelt, unterscheidet sich nicht von dem Verfahren anderer Physiker. – Zur höchsten Klarheit endlich erhebt sich das Verhältniss der Philosophie zum Materialismus bei Kant. Der Mann, welcher zuerst die Lehre von der Entstehung der Himmelskörper aus blosser Attraction der zerstreuten Materie entwickelte, welcher die
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Grundzüge des Darwinismus schon erkannte und sich nicht scheute, den Uebergang des Menschen aus einem früheren thierischen Zustande in den menschlichen in seinen populären Vorlesungen als etwas selbstverständliches zu besprechen, welcher die Frage vom »Sitz der Seele« als eine irrationelle zurückwies und oft genug durchblicken liess, dass ihm Leib und Seele dasselbe Ding sind, nur mit verschiedenen Organen wahr | genommen – er konnte doch unmöglich vom Materialismus viel zu lernen haben; denn die ganze Weltanschauung des Materialismus ist dem Kantischen System gleichsam einverleibt, ohne dadurch den idealistischen Grundcharakter desselben zu ändern. Dass Kant über alle Gegenstände der Naturwissenschaft auch streng naturwissenschaftlich dachte, unterliegt keinem Zweifel; denn die »metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft« enthalten nur einen Versuch, die axiomatischen Grundlagen a priori zu entdecken und fallen sonach nicht in den Bereich der empirischen Forschung, die sich allenthalben auf die Erfahrung stützt und die Axiome als gegeben ansieht. Kant lässt also den ganzen Inbegriff des naturwissenschaftlichen Denkens an seiner Stelle und in seiner Würde als das grosse und einzige Mittel unsre Erfahrungen über die durch unsre Sinne gegebene Welt auszudehnen, in Zusammenhang zu bringen und so diese Welt uns im Causalzusammenhange aller Erscheinungen verständlich zu machen. Sollte es denn nun wohlgethan sein, wenn ein solcher Mann gleichwohl nicht bei der naturwissenschaftlichen und mechanischen Weltanschauung stehen bleibt, wenn er behauptet, dass die Sache damit nicht abgemacht ist, dass wir Grund haben, die Welt unsrer Ideen auch zu berücksichtigen, und dass weder die Erscheinungswelt noch die Idealwelt schlechthin für die absolute Natur der Dinge genommen werden kann, – sollte es wohlgethan sein, daran ahnungslos vorüber zu gehen oder die ganze Behauptung zu ignoriren, weil wir eben ein Bedürfniss weiterer und tieferer Untersuchung nicht empfinden?
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Wenn etwa der Specialforscher fürchtet, durch die Verfolgung solcher Gedanken von seinem Gegenstande zu weit abgezogen zu werden und wenn er es deshalb vorzieht, sich auf diesem Gebiete mit einigen vagen Vorstellungen zu begnügen, oder die Philosophie als ein ihm fremdes Gebiet abzuweisen, so wird nicht viel dagegen zu erinnern sein. Wer aber, wie unsre Materialisten, als »Philosoph« auftritt, oder wohl gar sich zu einem Epoche machenden Reformator der Philosophie berufen glaubt, für den ist um diese Fragen nicht herumzukommen. Sich mit ihnen gründlich auseinanderzusetzen ist der einzige Weg für den Materialisten, eine dauernde Stelle in der Geschichte der Philosophie beanspruchen zu können. Ohne diese Geistesarbeit bleibt der Materialismus, der ja ohnehin nur alte Gedanken in neuem Stoffe auszudrücken hat, zunächst nichts als ein Sturmbock im Kampf gegen die rohesten | Vorstellungen der religiösen Ueberlieferung und ein bedeutsames Symptom einer tiefgehenden Gährung der Geister.2 Es ist nun aber beachtenswerth, dass grade der Punkt, an welchem die Systematiker und Apostel der mechanischen Weltanschauung so unachtsam vorübergehen, – die Frage nach den Grenzen des Naturerkennens, bei tiefer denkenden Männern der Specialforschung seine volle Würdigung gefunden hat. Dabei zeigt sich, dass ächte und gründliche Specialforschung in Verbindung mit gediegener allgemeiner Bildung leicht auch zu einem tieferen Blick in das Wesen der Natur führt, also ein blosser encyklopädischer Streifzug durch das ganze Gebiet der Naturforschung. Wer ein einziges Feld mit Sicherheit beherrscht und hier bis in alle Tiefen der Probleme blickt, hat einen geschärften Blick gewonnen für alle verwandten Felder. Er wird sich überall leicht orientiren, und so auch schnell bis zu einer Gesammtansicht vordringen, die man als eine ächt philosophische bezeichnen darf, während naturphilosophische Studien, die von vornherein mehr in die Breite gehen, leicht in jener Halbheit stecken bleiben, welche jedem Philosophem eigen ist, das die Fragen der Erkenntnisstheorie
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umgeht. Es verdient daher auch noch besonders hervorgehoben zu werden, dass die hervorragendsten Naturforscher der Gegenwart, welche es gewagt haben, das Gebiet der Philosophie zu betreten, fast alle von irgend einem Punkte her grade auf die erkenntnisstheoretischen Fragen gestossen sind. Betrachten wir zunächst den vielbesprochenen Vortrag »über die Grenzen des Naturerkennens«, welchen Du BoisReymond auf der Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in Leipzig (1872) gehalten hat! Sowohl der Vortrag selbst als auch einige Entgegnungen auf denselben werden uns reiche Veranlassung geben, den springenden Punkt in der ganzen Kritik des Materialismus in das hellste Licht zu setzen. Alles Naturerkennen zielt in letzter Instanz auf Mechanik der Atome. Du Bois-Reymond stellt daher als ein äusserstes, vom Menschengeiste nie erreichbares, aber doch ihm begreifliches Ziel eine vollständige Kenntniss dieser Mechanik auf. Anknüpfend an einen Ausspruch von Laplace lehrt er, dass ein Geist, welcher für einen gegebenen sehr kleinen Zeitabschnitt die Lage und die Bewegung aller Atome im Universum wüsste, dass dieser auch im Stande sein müsste, nach den Regeln der Mechanik die ganze | Zukunft und Vergangenheit daraus abzuleiten. Er könnte, »durch geeignete Discussion seiner Weltformel uns sagen, wer die Eiserne Maske war, oder wie der »Präsident« zu Grunde ging. Wie der Astronom den Tag vorhersagt, an dem nach Jahren ein Komet aus den Tiefen des Weltraumes am Himmelsgewölbe wieder auftaucht, so läse jener Geist in seinen Gleichungen den Tag, da das griechische Kreuz von der Sophienmoschee blitzen oder da England seine letzte Steinkohle verbrennen wird. Setzte er in der Weltformel t = – ∞, so enthüllte sich ihm der räthselhafte Urzustand der Dinge. Er sähe im unendlichen Raume die Materie bereits entweder bewegt oder ungleich vertheilt, da bei gleicher Vertheilung das labile Gleichgewicht nie gestört worden wäre. Liesse er t im positiven Sinne unbegrenzt wachsen, so erführe er, ob Carnot’s Satz erst nach unendlicher oder schon nach endlicher
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Zeit das Weltall mit eisigem Stillstande bedroht«. – Alle Qualitäten entstehen erst durch Sinne. »Das mosaische: Es ward Licht, ist physiologisch falsch. Licht ward erst, als der erste rothe Augenpunkt eines Infusoriums zum ersten Male Hell und Dunkel unterschied.« »Stumm und finster an sich, d. h. eigenschaftslos, wie sie aus der subjectiven Zergliederung hervorgeht, ist die Welt auch für die durch objective Betrachtung gewonnene mechanische Anschauung, welche statt Schalles und Lichtes nur Schwingungen eines eigenschaftslosen, dort zur wägbaren, hier zur unwägbaren Materie gewordenen Urstoffes kennt.« Zwei Stellen sind es nun, wo auch der von Laplace gedachte Geist Halt machen müsste. Wir sind nicht im Stande die Atome zu begreifen und wir vermögen nicht aus den Atomen und ihrer Bewegung auch nur die geringste Erscheinung des Bewusstseins zu erklären. Man mag den Begriff der Materie und ihrer Kräfte drehen und wenden, wie man will, immer stösst man auf ein letztes Unbegreifliches, wo nicht gar auf etwas schlechthin Wiedersinniges, wie bei der Annahme von Kräften, die durch den leeren Raum in die Ferne wirken. Es bleibt keine Hoffnung, dies Problem je aufzulösen, das Hinderniss ist ein transscendentes. Es beruht darauf, dass wir uns schliesslich nichts ohne alle Sinnesqualität vorstellen können, während doch unser ganzes Erkennen darauf gerichtet ist, die Qualitäten in mathematische Verhältnisse aufzulösen. Nicht mit Unrecht geht daher Du Bois-Reymond so weit zu behaupten, dass | unser ganzes Naturerkennen in Wahrheit noch kein Erkennen ist, dass es uns nur das Surrogat einer Erklärung giebt. Wir werden nie vergessen, dass unsre ganze Cultur auf diesem »Surrogate« ruht, welches in vielen und wichtigen Beziehungen das hypothetische absolute Erkennen vollkommen ersetzt, aber streng richtig bleibt es, dass das Naturerkennen, wenn wir es bis zu diesem Punkte führen und mit dem gleichen Princip, das uns bis dahin geleitet hat, weiter zu dringen suchen, uns seine
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eigne Unzulänglichkeit enthüllt und sich selbst eine Grenze setzt. Du Bois-Reymond findet keine ernstliche Schwierigkeit für das Naturerkennen im Entstehen der Organismen. Wo, und in welcher Form das Leben zuerst erschien, wissen wir nicht, aber der von Laplace gedachte Geist im Besitze der Weltformel könnte es sagen. Krystall und Organismus unterscheiden sich wie ein blosses Bauwerk von einer Fabrik mit ihren Maschinen und Einrichtungen, in welche die Rohstoffe einströmen und von welcher Fabrikate, Zersetzungsprodukte und Abfälle ausströmen. Wir haben hier nichts vor uns, als ein »überaus schwieriges mechanisches Problem.« Das reichste Naturgemälde eines tropischen Urwaldes bietet der analysirenden Wissenschaft nichts, als bewegte Materie. Nicht hier also ist die zweite Grenze des Naturerkennens, sondern beim ersten Auftreten des Bewusstseins. Dabei handelt es sich keineswegs etwa um den Menschengeist in der ganzen Fülle seines Dichtens und Denkens. »Wie die gewaltigste und verwickeltste Muskelleistung eines Menschen oder Thieres im Wesentlichen nicht dunkler ist, als die einfache Zuckung eines einzelnen Primitivmuskelbündels; wie die einzelne Secretionszelle das ganze Räthsel der Absonderung birgt: so ist auch die erhabenste Seelenthätigkeit aus materiellen Bedingungen in der Hauptsache nicht unbegreiflicher, als das Bewusstsein auf seiner ersten Stufe, der Sinnesempfindung. Mit der ersten Regung von Behagen oder Schmerz, die im Beginn des thierischen Lebens auf Erden ein einfachstes Wesen empfand, ist jene unübersteigliche Kluft gesetzt und die Welt nunmehr doppelt unbegreiflich geworden.« Den Beweis dafür will Du Bois-Reymond unabhängig von allen philosophischen Theorieen in einer Weise führen, welche auch dem Naturforscher evident ist. Zu dem Ende nimmt er an, wir hätten eine vollkommne (»astronomische«) Kenntniss von den Naturvorgängen im Gehirn, und zwar nicht nur von den unbewussten | Vorgängen, sondern auch von denjenigen, wel-
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che der Zeit nach stets mit den geistigen Vorgängen zusammenfallen und also auch wohl nothwendig mit ihnen verbunden sind. Dann wäre es allerdings ein hoher Triumph, »wenn wir zu sagen wüssten, dass bei einem bestimmten geistigen Vorgange in bestimmten Ganglienkugeln und Nervenröhren eine bestimmte Bewegung bestimmter Atome stattfinde.« Die »unverschleierte Einsicht in die materiellen Bedingungen geistiger Vorgänge« würde uns mehr erbauen, als irgend eine bisherige Errungenschaft der Forschung, aber – die geistigen Vorgänge selber würden uns durchaus ebenso unbegreiflich sein, wie jetzt. »Die astronomische Kenntniss des Gehirns, die höchste, die wir erlangen können, enthüllt uns darin nichts als bewegte Materie.« Wenn man aber glaubt, dass uns aus jener Kenntniss doch gewisse geistige Vorgänge oder Anlagen, wie das Gedächtniss, die Vorstellungsfolge u.s.w. verständlich werden könnten, so ist auch das Täuschung; wir lernen nur gewisse Bedingungen des Geisteslebens kennen, lernen aber nicht, wie aus diesen Bedingungen das Geistesleben selbst zu Stande kommt. »Welche denkbare Verbindung besteht zwischen bestimmten Bewegungen bestimmter Atome in meinem Gehirn einerseits, anderseits den für mich ursprünglichen, nicht weiter definirbaren, nicht wegzuleugnenden Thatsachen: »Ich fühle Schmerz, fühle Lust; ich schmecke süss, rieche Rosenduft, höre Orgelton, sehe Roth«, und der ebenso unmittelbar daraus fliessenden Gewissheit: »Also bin ich«? Es ist in keiner Weise einzusehen, wie aus dem Zusammenwirken der Atome Bewusstsein entstehen könne. Wollte ich selbst die Atome schon mit Bewusstsein ausstatten, so würde doch noch weder das Bewusstsein überhaupt erklärt, noch würde für das Verständniss des einheitlichen Bewusstseins des Individuums damit irgend etwas gewonnen sein.« Auch diese zweite Grenze des Naturerkennens bezeichnet Du Bois-Reymond als eine unbedingte; kein denkbarer Fortschritt der Naturwissenschaften kann je dazu führen, sie zu
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überschreiten. Um so weniger aber wird der Naturforscher es sich nehmen lassen, »unbeirrt durch Mythen, Dogmen und altersstolze Philosopheme« sich auf dem Wege der Induction seine eigene Meinung über die »Beziehungen zwischen Geist und Materie« zu bilden. »Er sieht in tausend Fällen materielle Bedingungen das Geistesleben beeinflussen. Seinem unbefangenen Blicke zeigt sich kein | Grund zu bezweifeln, dass wirklich die Sinneseindrücke der sogenannten Seele sich mittheilen. Er sieht den menschlichen Geist gleichsam mit dem Gehirne wachsen« …. »Kein theologisches Vorurtheil hindert ihn, wie Descartes, in den Thierseelen der Menschenseele verwandte, stufenweise minder vollkommene Glieder derselben Entwickelungsreihe zu erkennen.« Er sieht, wie bei den Wirbelthieren diejenigen Hirntheile, welche auch die Physiologie als Träger der höheren Geistesfunctionen betrachten muss, sich stufenweise mit der Steigerung der Seelenthätigkeiten entwickeln. »Endlich die Descendenz-Theorie im Verein mit der Lehre von der natürlichen Zuchtwahl drängt ihm die Vorstellung auf, dass die Seele als allmähliges Ergebniss gewisser materieller Combinationen entstanden, und vielleicht gleich anderen erblichen, im Kampf um’s Dasein dem Einzelwesen nützlichen Gaben durch eine zahllose Reihe von Geschlechtern sich gesteigert und vervollkommnet habe.« Man sollte fast glauben, der Materialismus könnte sich dabei beruhigen. Zum Ueberfluss nimmt Du Bois-Reymond noch ausdrücklich den verrufenen Ausspruch Vogts in Schutz, dass die Gedanken sich zum Gehirn verhalten, wie die Leber zur Galle oder der Urin zu den Nieren.3 Aesthetische Rangunterschiede kennt die Physiologie nicht. Ihr ist die Nierenabsonderung ein Gegenstand gleicher Würde mit den Functionen der edleren Organe. »Auch das ist an dem Vogt’schen Ausspruche schwerlich zu tadeln, dass darin die Seelenthätigkeit als Erzeugniss der materiellen Bedingungen im Gehirne hingestellt wird.« Fehlerhaft sei nur die Erweckung der Vor-
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stellung, als sei die Seelenthätigkeit aus dem Bau des Gehirnes ihrer Natur nach ebenso begreifbar, wie die Absonderung aus dem Bau der Drüse. Aber das ist es freilich, wogegen sich der Materialismus empört. Wenn irgend etwas »unbegreifbar« bleibt, so kann der Materialismus wohl noch eine vortreffliche Maxime der Naturforschung sein (und das ist er nach unserer Ansicht auch), aber er ist keine Philosophie mehr. Andre Philosopheme, wie namentlich die Skepsis, können das Unbegreifliche in sich aufnehmen oder wohl gar aus der Unbegreiflichkeit der Dinge ihr Princip machen; der Materialismus ist von Hause aus eine positive Philosophie, welche ihre Fundamentallehren mit dogmatischer Bestimmtheit vorträgt und zu deren wichtigsten Behauptungen es gehört, dass aus | diesen Lehren die ganze Welt mit Leichtigkeit zu begreifen sei. Und so sehr unsre heutigen Materialisten, wie wir im vorigen Abschnitt gesehen haben, zu skeptischen und relativistischen Anwandlungen geneigt sind, so leicht sie etwa von der Unbegreiflichkeit der letzten Gründe alles Seins reden oder die Welt des Menschen als die Welt der Forschung hinstellen mit Preisgebung der Frage, ob es noch eine andre Auffassung der Dinge geben könne – die Unbegreiflichkeit des Geistigen wollen sie nicht zugeben, weil darin grade eine Hauptleistung des Materialismus gefunden wird, dass auch die Seelenthätigkeiten des Menschen und der Thiere aus den Functionen der Materie vollkommen erklärt werden. Dass dabei ein grosses Missverständniss mit unterläuft, muss schon aus unserm ersten Buche hinlänglich klar geworden sein. Wir haben dasselbe aber nirgend handgreiflicher vor uns, als in der Polemik, die im Interesse der materialistischen Anschauungsweise gegen Du Bois-Reymond erhoben wurde. Man kann in der That von seinen Gegnern sagen, was Kant von den Gegnern Hume’s sagte (vgl. oben S. 40), dass sie »immer das als zugestanden annahmen, was er eben bezweifelte, dagegen aber mit Heftigkeit und mehrentheils mit grosser Unbescheidenheit dasjenige bewie-
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sen, was ihm niemals zu bezweifeln in den Sinn gekommen war.« Am auffallendsten ist dies bei dem Irrenarzt Dr. Langwieser, welcher Du Bois-Reymonds »Grenzen des Naturerkennens« in einer kleinen Broschüre (Wien 1873) besprochen hat. Langwieser hat (1871) einen »Versuch einer Mechanik der psychischen Zustände« geschrieben; ein Werkchen, welches einige beachtenswerthe, wenn auch roh ausgeführte Beiträge für ein zukünftiges Verständniss der Hirnfunctionen darbietet. Dass der Verfasser die Tragweite seiner Erklärungsversuche überschätzt, ist sehr natürlich, und dass er von seinem Standpunkte aus durch den Nachweis mechanischer Hirnfunctionen auch das Bewusstsein erklärt zu haben glaubt, ist ein Zug, den er mit dem ganzen Materialismus gemein hat. Man könnte nun denken, grade ein solcher Schriftsteller müsste, wenn ein Forscher wie Du Bois-Reymond auftritt, wenigstens »aus dem dogmatischen Schlummer« geweckt werden und den Punkt, auf welchen es ankommt, genau erkennen; allein statt dessen haben wir ein totales Missverständniss vor uns. Wir würden uns aber mit dem Missverständnisse eines einzelnen Schriftstellers nicht lange | aufhalten, wenn es uns nicht schiene, dass hier gleichsam das klassische Modell für eine ganze Gattung ähnlicher Missverständnisse vorläge und wenn nicht eben dieser Punkt für die Beurtheilung des Materialismus von höchster Wichtigkeit wäre. Das Missverständniss ist so plump, dass Langwieser (S. 10) gradezu behauptet, Du Bois-Reymond widerspreche sich selbst mit der Annahme des Laplace’schen Satzes von der Berechnung der Zukunft aus einer vollkommenen Weltformel. Um Ereignisse der Vergangenheit oder Zukunft, in denen der menschliche Geist als wesentlicher Factor mitgewirkt hat, oder mitwirken wird, zu berechnen auf dem Wege der Mechanik der Atome, müssten eben die geistigen Zustände der Menschheit ebenfalls noch in das Gebiet der erkennbaren Mechanik der Atome fallen, was gerade Du Bois-Reymond leugnet.«
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»Wollte er aber erwidern, dem von Laplace gedachten Geiste wären auch die Atombewegungen aller Gehirne der Menschheit bekannt und von ihm in Rechnung gezogen, so dass er durch dieselben auch den Einfluss der geistigen Vorgänge des Menschen auf die materiellen Ereignisse berechnete, nur wäre ihm das Verständniss der geistigen Vorgänge aus diesen Atombewegungen versagt, so liegt wieder darin ein Widerspruch. Denn sobald er jeden Gedanken als Atombewegung berechnen kann und dessen weitere Folgen und Wirkungen, so erkennt er aus den Wirkungen auch das Wesen der Sache, wie überall, so auch in der Sphäre der geistigen Vorgänge; denn das Wesen einer Sache ist eben nichts anderes, als inwiefern [sic] es sich in seinen Wirkungen äussert.« Hier haben wir also genau den Fall, dass der Gegner das grade als zugestanden und selbstverständlich annimmt, was Du Bois-Reymond eben bezweifelt; der übrige Inhalt der Broschüre ist dann dem Beweise desjenigen gewidmet, was der berühmte Physiologe niemals in Zweifel gezogen hat und um dessen Klarstellung er sich sogar selbst hervorragende Verdienste erworben hat. Einem unbefangenen und mit den nöthigen Vorkenntnissen ausgestatteten Leser des Vortrags »über die Grenzen des Naturerkennens« kann es doch wohl keinen Augenblick zweifelhaft sein, dass der Verfasser unter sämmtlichen Atomen auch die Gehirnatome des Menschen versteht, und dass ihm der Mensch mit sammt seinen »willkürlichen« Handlungen nur ein für den Natur | forscher durchaus gleichartiger Theil neben andern Theilen des grossen Weltganzen ist. Dabei würde sich aber Du Bois-Reymond wohl hüten, von dem »Einfluss der geistigen Vorgänge auf die materiellen Ereignisse« zu reden, denn ein solcher Einfluss ist, wenn man die Sache genau nimmt, naturwissenschaftlich ganz undenkbar. Wenn auch nur ein einziges Gehirnatom durch die »Gedanken« auch nur um den millionten Theil eines Millimeters aus der Bahn gerückt werden könnte, welche es nach den Gesetzen der Mechanik
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verfolgen muss, so würde die ganze »Weltformel« nicht mehr passen und nicht einmal mehr Sinn haben. Die Handlungen des Menschen aber, auch z. B. der Soldaten, welche bestimmt wären, das Kreuz auf die Sophien-Moschee zu pflanzen, ihrer Feldherren, der betheiligten Diplomaten u.s.w. – alle diese Handlungen folgen, naturwissenschaftlich betrachtet, nicht aus »Gedanken«, sondern aus Muskelbewegungen, sei es nun, dass diese dienen, einen Marsch zu machen, ein Schwert zu ziehen, oder eine Feder zu führen, ein Kommandowort erschallen zu lassen oder den Blick auf einen bedrohten Punkt zu richten. Die Muskelbewegungen werden durch Nerventhätigkeit ausgelöst; diese stammt aus den Hirnfunctionen und diese sind durch die Structur des Hirns, durch die Leitungsbahnen, die Atombewegungen des Stoffwechsels u.s.w. unter dem hinzutretenden Einflusse der centripetalen Nerventhätigkeit vollständig bestimmt. Man muss sich eben klar machen, dass das Gesetz der Erhaltung der Kraft im Innern des Gehirns keine Ausnahme erleiden kann, wenn es nicht total sinnlos werden soll und man muss sich zu dem Schlusse erheben können, dass also das ganze Thun und Treiben der Menschen, des Einzelnen, wie der Völker, durchaus so vor sich gehen könnte, wie es wirklich vor sich geht, ohne dass übrigens auch nur in einem einzigen dieser Individuen irgend etwas wie Gedanke, Empfindung u.s.w. vor sich ginge. Der Blick der Menschen könnte ganz ebenso »seelenvoll«, der Klang ihrer Stimme ebenso »rührend« sein, nur dass diesem Ausdruck keine »Seele« entspräche und dass Niemand »gerührt« würde anders, als dass die unbewusst sich ändernden Mienen etwa einen weicheren Ausdruck annähmen oder der Mechanismus der Hirnatome ein Lächeln auf die Lippen oder Thränen in die Augen brächte. – So und nicht anders dachte sich Descartes die Thierwelt und es ist nicht der mindeste Grund | vorhanden, die naturwissenschaftliche Zulässigkeit einer solchen Annahme zu bestreiten. Dass sie falsch ist, schliessen wir nur aus der Aehnlichkeit der Symptome thierischer Empfindungen mit denen, die wir
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an uns selber kennen. Ebenso aber legen wir allen übrigen Menschen mit Ausnahme von uns selbst das Bewusstsein nur durch einen Analogieschluss bei. Wir finden es bei uns an die körperlichen Vorgänge geknüpft und schliessen mit Recht, es werde bei den Andern ebenso sein, aber naturwissenschaftlich erkennen können wir ein für allemal nur die Symptome und »Bedingungen« des Geistigen ausser uns, nicht dieses selbst. Man kann der Ansicht, von welcher Du Bois-Reymond ausgeht, den schärfsten, ich möchte sagen zum Verständniss zwingenden Ausdruck geben, wenn man sich zwei Welten vorstellt: beide mit Menschen und ihren Handlungen erfüllt, mit dem gleichen Verlauf der Weltgeschichte, mit dem gleichen Ausdruck aller Geberden, dem gleichen Klang der Stimme – für den, der sie hören, d. h. nicht nur ihre Vibrationen durch den Hörnerv nach dem Gehirn leiten, sondern sich ihrer bewusst werden könnte. Beide Welten sollen absolut gleich sein, nur mit dem Unterschiede, dass in der einen der ganze Mechanismus abliefe, wie die Mechanik eines Automaten, ohne dass irgend etwas dabei empfunden oder gedacht würde, während die andre unsre Welt ist; dann würde die Weltformel für diese beiden Welten durchaus dieselbe sein. Sie wären vom Standpunkte der exacten Forschung nicht zu unterscheiden. Dass wir an die eine dieser beiden Welten nicht glauben, ist nichts als die unmittelbare Wirkung unsres eigensten, persönlichen Bewusstseins, wie es Jeder nur in sich selbst kennt, und das wir auf Alles, was uns äusserlich ähnlich ist, übertragen. Die Verschmelzung aber zwischen der Auffassung der äusseren Symptome des Geistigen und ihrer Deutung aus unserm Bewusstsein heraus ist eine so vollständige, von Geburt an so eingewurzelte, dass es eines scharfen und vorurtheilsfreien Denkens bedarf, um diese beiden Factoren wieder zu trennen. Eine ganz andere Frage ist nun aber die nach dem Causalzusammenhange zwischen den materiellen Vorgängen und den mit ihnen verbundenen geistigen Zuständen. Dass in dieser Beziehung die vollste Abhängigkeit des Geistigen vom Phy-
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sischen gelehrt werden kann, ohne aus den »Grenzen des Naturerkennens« | herauszutreten, ist von Du Bois-Reymond ausdrücklich anerkannt und so weit es also den Materialisten nur um Beseitigung übernatürlicher Eingriffe und Vorfälle zu thun ist, könnten sie sich bei der vorgetragenen Lehre vollständig beruhigen. Du Bois-Reymond stellt höchstens dasjenige als möglich und sogar wahrscheinlich hin, was sie selbst mit dogmatischer Gewissheit behaupten; ja in dem Laplace’schen Gedanken liegt in dieser Hinsicht, wie Langwieser ganz richtig herausgefunden hat, schon mehr als die blosse Möglichkeit: Wenn Geistiges und Physisches auf eine noch so räthselhaft scheinende Weise verknüpft sind; wenn die Natur des letzteren noch so unerklärlich ist, so wird doch die durchgängige Abhängigkeit des Geistigen vom Physischen behauptet werden müssen, sobald einerseits erwiesen ist, dass beide Erscheinungen vollkommen correspondiren und anderseits, dass die physischen Vorgänge strengen und unwandelbaren Gesetzen folgen, die lediglich ein Ausdruck von Functionen der Materie sind. Was eine tiefer gehende Betrachtung an dieser Auffassung etwa noch zu ändern vermag, wird sich später finden. Aber wie die Materialisten, so haben auch ihre Antipoden, die Theologen und theologisirenden Philosophen die Lehre von den Grenzen der Naturerkenntniss verstanden. Man sieht über die schroff materialistischen Züge der Ansichten, welche Du Bois-Reymond entwickelt, hinweg und hält sich an die eine grosse Thatsache, dass er der Naturforschung absolute, unübersteigliche Grenzen setzt. Kraft und Stoff sind nicht erklärbar, das atomistische Erkennen ist nur ein »Surrogat« des wahren Erkennens; also ist der Materialismus verworfen; verworfen von einem unsrer ersten Naturforscher. Warum sollen da nicht Speculation und Theologie ganz munter wieder über das verlassene Feld ausschwärmen und mit grosser Autorität dasjenige lehren, was die Naturforschung nicht weiss? Dass sie es selbst auch nicht wissen, kommt nicht weiter in Frage. Der berühmte Physiologe hat das Bewusstsein, ja, schon die
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einfachste Empfindung, für unzugänglich erklärt für die Naturforschung, warum sollen nun die Metaphysik und die alte weise Begriffspsychologie nicht ihre Puppen wieder auskramen und sie auf dem leeren Felde tanzen lassen? Der gefürchtete Popanz ist fort; der Naturforscher, der nur lehrt, was er weiss, hat versprochen, sich nicht in das Spiel zu mischen; also besetzen wir unsre Domäne fröhlich wieder! Es wird Alles so weiter getrieben, | wie wenn keine Naturforschung existirte. Das geistige Gebiet geht sie ja nichts an! Dass solche Missverständnisse möglich sind, kann nur theilweise an der tief gewurzelten Gewohnheit liegen, den Begriff des Erkennens nicht scharf genug zu nehmen und das Begreifen mit der Erforschung des Causalzusammenhanges zu identificiren. Zum Theil muss wohl die Schuld an dem Verfasser des Vortrages liegen, wiewohl weniger an dem, was er sagt, als an dem, was er verschweigt, und schliesslich an der ganzen Art, wie hier ein Bruchstück aus der Kritik aller Erkenntniss herausgerissen und ohne genügende Andeutungen über den Zusammenhang mit weiteren Fragen unter das Publicum geworfen wird. Hier fehlte es möglicher Weise auch dem Verfasser selbst an Orientirung, wiewohl er sich sonst in der Geschichte der Philosophie nicht unbewandert zeigt. Eine tiefer gehende Andeutung finden wir nur gegen Schluss des Vortrags: Du Bois-Reymond wirft hier (S. 33) die Frage auf, ob nicht die beiden Grenzen des Naturerkennens vielleicht die nämliche seien, »d. h. ob, wenn wir das Wesen von Materie und Kraft begriffen, wir nicht auch verständen, wie die ihnen zu Grunde liegende Substanz unter bestimmten Bedingungen empfinden, begehren und denken könne.« Dies ist wieder eine ganz materialistische Wendung, statt welcher der Anhänger des Kriticismus vielmehr fragen würde: ob nicht, wenn wir das Verhältniss des Bewusstseins zu der Art, wie wir Naturobjecte denken, vollständig begriffen hätten, alsdann uns auch vollkommen klar wäre, warum wir die Substanz der Welt beim naturwissenschaftlichen Denken
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als Stoff und Kraft vorstellen müssen? Dass beide Probleme identisch sind, ist in der That wohl mehr als bloss wahrscheinlich. Auch würde es am letzten Ende auf das gleiche hinauslaufen, ob dieses auf jenes zurückgeführt wird, oder umgekehrt; und doch ist die eine Reductionsweise eine der Tendenz nach materialistische, die andre eine idealistische. Die gedachte Lösung würde freilich, wenn sie überhaupt möglich wäre, auch den Gegensatz von Materialismus und Idealismus mit aufheben. Eine einzige Stelle findet sich in dem so wohl durchdachten Vortrage, welche nicht nur den Missverständnissen ausgesetzt, sondern positiv unrichtig ist; an diese wollen wir denn auch zunächst unsre kritischen Bemerkungen anknüpfen. In der bewegten Welt des von Laplace angenommenen Geistes regen sich auch (S. 28) | die Hirnatome »wie in stummem Spiel.« Weiter heisst es dann: »Er übersieht ihre Schaaren, er durchschaut ihre Verschränkungen, aber er versteht nicht ihre Geberde, sie denken ihm nicht, und deshalb bleibt … seine Welt eigenschaftslos.« Erinnern wir uns zunächst, dass jener Geist auch die menschlichen Handlungen als nothwendige Folgen der Bewegungen der Hirnatome übersieht! Erinnern wir uns, dass das Gesetz der Nothwendigkeit, dessen Schlüssel jener Geist besitzt, alle, auch die feinsten und bedeutungsvollsten Regungen der Blicke, der Mienen, die Modulation der Stimme regiert, und dass die Art, wie Menschen miteinander in Hass und Liebe, im Scherzen und Disputiren, in Kampf und Arbeit verkehren und zusammenwirken, wenigstens nach der Seite der äusseren Erscheinung diesem Geiste vollkommen verständlich sein müssen. Er kann den feinsten Schatten heimlichen Neides oder stillen Einverständnisses in einem Blick des Menschen so gut voraussagen, wie wir die plumpe Mondfinsterniss. Nun erinnern wir uns aber ferner, dass dieser Geist als ein dem Menschen verwandter angenommen wurde, dass er also selbst aller jener Gemüthsregungen fähig ist, welche seine Rech-
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nungsformeln ausdrücken. Kann es dann wohl fehlen, dass er seine eignen Empfindungen in das, was er äusserlich vor sich sieht, hineinträgt? Machen wir es doch ebenso, wenn wir an unsern Mitmenschen Neid, Zorn, Dankbarkeit oder Liebe wahrnehmen. Wir nehmen auch nur die Geberden wahr und deuten sie aus unserm eignen Innern. Nun hat jener rechnende Geist freilich zunächst nur seine Formeln, während wir die unmittelbare Anschauung haben. Aber wir dürfen ihm ja nur ein wenig Phantasie leihen, durchaus verständliche Phantasie, wie wir sie auch besitzen, so wird er die Formeln schon in Anschauung übertragen. Freilich reden ihm jetzt zunächst nur diejenigen Formeln, welche das äusserlich Erscheinende ausdrücken, was auch wir aus dem täglichen Leben kennen; allein wenn er den Causalzusammenhang dieser äusseren Erscheinung mit der Bewegung der Hirnatome vollkommen durchschaut, so wird er sehr bald in der letzteren auch ihre Ursachen und Folgen lesen und er wird dann »die Geberde« dieser Atome aus ihrem Einfluss auf die äusseren Geberden des Menschen ebenso gut verstehen, als z. B. der Telegraphenbeamte bei einiger Uebung die Depeschen unmittelbar aus dem | Rhythmus des klappernden Hebels hört, ohne dass er erst die in das Papier gedrückten Zeichen lesen müsste. Wenn nun freilich jener Geist neben allen übrigen bloss gradweise gesteigerten menschlichen Eigenschaften auch einen hohen Grad kritischen Scharfsinns besässe, so würde er wohl einsehen, dass er das geistige Leben nicht auf dem Wege des objectiven Erkennens wahrnimmt, im täglichen Leben so wenig als in der Wissenschaft; sondern dass er es hier in die Formeln, dort in die Anschauungen, aus seinen eignen inneren Erlebnissen hinüberträgt. Er würde auch gern einräumen, dass ihm weder eine unmittelbare Kenntniss fremder Empfindungen gegeben ist, noch dass er irgend eine Ahnung davon hat, wie Empfindung und Bewusstsein aus den materiellen Bewegungen entsteht. Hierüber würde er wohl mit Du Bois-
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Reymond ruhig sein »lgnorabimus« sprechen; aber gleichwohl wäre er der vollkommenste Psychologe, der überhaupt für uns denkbar ist und Psychologie als Wissenschaft wird nie etwas Andres für uns sein können, als ein Bruchstück der Erkenntniss, die Jener in aller Vollkommenheit schon besitzt. Sieht man aber genau zu, so ist es so mit allen Wissenschaften ohne Ausnahme; so weit es sich nicht um blosses Scheinwissen handelt. Es ist in gewissem Sinne Alles Naturerkennen; denn alle unsre Erkenntniss zielt auf Anschauung. Am Object allein orientirt sich unser Erkennen durch die Auffindung fester Gesetze; aus unserm Subject heraus deuten und beleben wir die verschiedenen Formen, so weit wir sie auf Geistiges beziehen. Unmittelbare Erkenntniss des Geistigen haben wir nur in unserm Selbstbewusstsein; wer aber aus diesem allein, ohne die Leitung durch das Object, eine Wissenschaft spinnen will, verfällt rettungslos der Selbsttäuschung. Wenn nun aber die Sache so steht; welchen Werth hat dann noch der Nachweis der Grenzen des Naturerkennens? So verschieden auch der methodologische Charakter der sogenannten »Geisteswissenschaften« ist von dem der Naturwissenschaften, so sind sie doch in dem von Du Bois-Reymond aufgestellten Ideal der Naturwissenschaften alle mit enthalten, so weit sie eben auf wirklichem Wissen und nicht auf blosser Einbildung beruhen.4 Man könnte denken, damit sei der Triumph des Materialismus entschieden und der Dank, welchen die Gegner desselben für das muthige »Bekenntniss« des berühmten Physiologen ausgesprochen | haben, schlechthin gegenstandslos. Wenn man sich aber an unsern Abschnitt über Kant erinnert, wird man leicht finden, dass dem nicht so ist. Die »Grenzen des Naturerkennens« sind eben ideal genommen identisch mit den Grenzen des Erkennens überhaupt. Grade dadurch aber erhöht sich ihre Bedeutung, und die ganze scharfsinnig geführte Untersuchung wird zu einer Bestätigung des kritischen Standpunktes in der Erkenntnisstheorie von naturwissenschaftlicher Seite.
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Die Grenze des Erkennens ist in Wahrheit keine starre Schranke, die sich dem natürlichen Fortgang desselben in seiner Bahn an einem bestimmten Punkte schroff entgegenstellte. Die mechanische Weltanschauung hat vorwärts und rückwärts eine unendliche Aufgabe vor sich, aber als Ganzes und ihrem Wesen nach trägt sie eine Schranke in sich, von der sie in keinem Punkte ihrer Bahn verlassen wird. Oder erklärt etwa der Physiker das rothe Licht, wenn er uns die entsprechende Schwingungszahl nachweist? Er erklärt an der Erscheinung, was er erklären kann, und den Rest schiebt er dem Physiologen zu. Dieser erklärt wieder, was er erklären kann, aber selbst wenn wir seiner Wissenschaft eine Vollkommenheit zuschreiben, die sie zur Zeit nicht besitzt, so hat er schliesslich, wie der Physiker, nur Atombewegungen zur Verfügung.5 Bei ihm schliesst sich der Bogen in der Umsetzung centripetaler in centrifugale Nervenströme. Er kann also den Rest nicht weiter schieben und proklamirt die »Grenze des Naturerkennens.« Ist aber die Kluft hier wesentlich anders beschaffen als beim Physiker, oder haben wir irgend eine Garantie dafür, dass nicht auch dessen Vibrationen, gleich denen des Physiologen mit einem Vorgang ganz anderer Art nothwendig verbunden sind? Ist es nicht ein sehr naheliegender und durchaus berechtigter Analogieschluss, dass überall hinter diesen Vibrationen noch etwas Anderes stecke? Hinter den Vibrationen des Hirns stekken unsre eignen Empfindungen; daher können wir die »Grenze des Naturerkennens« an diesem Punkte aufzeichnen, dass sie aber nur hier liege und nicht vielmehr im Charakter des Erkennens selbst, muss uns mindestens bei einigem Nachdenken sehr unwahrscheinlich vorkommen. Nicht umsonst liegt hier ein Punkt, bei welchem die verschiedenartigsten Speculationen anknüpfen. Du Bois-Reymond verwirft den Gedanken an eine »Weltseele« mit dem Hinweis darauf, dass | uns in der Structur des Weltganzen jede Analogie mit der Structur eines menschlichen Gehirnes fehle (S. 32). Das Argument ist stark genug gegen jede anthropo-
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morphe Vorstellung einer solchen Weltseele, aber nicht gegen den Gedanken in einer allgemeineren Form. Andre Vorstellungsweisen, wie z. B. die Schopenhauer’sche Identificirung von Wille und Bewegungsimpuls, der »Weltäther«, mit welchem Spiller6 gegen Du Bois-Reymond zu Felde zieht, die empfindungsfähige Materie Ueberwegs u.s.w. lassen sich als transscendente Speculationen von der Hand weisen; aber der Boden, auf dem diese Speculationen erwachsen, bleibt, und in negativer Hinsicht können wir mit Zuversicht antworten: von der todten, stummen und schweigenden Welt der schwingenden Atome wissen wir nichts, als dass sie eine nothwendige Vorstellung für uns ist, insofern wir den Causalzusammenhang der Erscheinungen in wissenschaftlicher Weise darstellen wollen. Da wir aber auf einem Punkte gesehen haben, dass diese nothwendige Vorstellung nicht das Gegebene, nämlich unsre Empfindungen, sondern nur eine gewisse Ordnung im Entstehen und Vergehen derselben erklärt, so müssen wir einsehen, dass diese Vorstellung nach ihrer ganzen Natur und ihren nothwendigen Principien nicht geeignet ist, uns das letzte, innerste Wesen der Dinge zu enthüllen. Ganz dasselbe Resultat erhält man, wenn man von Stoff und Kraft ausgeht. Hier ist leicht zu zeigen, dass die theoretische Physik von jeder gegebnen Vorstellungsweise aus noch eine ganze Unendlichkeit feinerer und immer feinerer Erklärungen und mathematischer Analysen vor sich hat, während doch die Schwierigkeit, welche sich hier dem Erkennen entgegenstellt, stets dieselbe bleibt. Man darf aber gar nicht einmal auf die Atome zurückgehen, so hat man überall Spuren der Unzulänglichkeit der mechanischen Vorstellungsweise vor sich. Bekanntlich suchte Hume (vgl. oben S. 7) die Einwürfe gegen eine materialistische Erklärung des Denkens damit zu beseitigen, dass er die gleiche Unbegreiflichkeit, wie in diesem Falle, in allen andern Fällen eines Causalverhältnisses finden wollte. Er hatte darin Recht, aber der Schutz, den er dem Materialismus auf diesem Punkte angedeihen lässt, schlägt auf ei-
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nem andern zum Verderben desselben aus. Die Widersprüche können dem »Ding an sich« nicht anhaften; sie müssen also in unsrer Vorstellungsweise begründet sein. | Wenn Bewusstsein und Hirnbewegung zusammenfallen, ohne dass ein Einfluss des einen auf das andre zu begreifen wäre, so kann man den alten spinozistischen Gedanken, der auch bei Kant öfter anklingt, kaum vermeiden, dass beide dasselbe Ding sind; gleichsam auf verschiedene Organe der Auffassung projicirt. Der Materialismus haftet so zäh an der Wirklichkeit seiner Materie und ihrer Bewegungen, dass ein ächter Dogmatiker dieser Richtung sich nicht lange besinnt, die Hirnbewegung für das Wirkliche und Objective und die Empfindung nur für eine Art von Schein oder einen täuschenden Reflex der Objectivität zu erklären. Aber nicht nur »Schein trügt«; auch der Begriff des Scheines hat sich oft trügerisch erwiesen. Die Philosophen des Alterthums namentlich waren sehr naiv darin, dass sie glaubten, ein Ding los zu sein, wenn sie es für »Schein« erklären konnten. Als wenn nicht der Begriff des Scheines ein relativer wäre! Ein Lichtschimmer, ein Nebelstreif scheint eine Gestalt zu sein, aber das Licht, der Nebel ist doch wirklich. Wenn z. B. die Bewegung für Schein erklärt wird, so mag man ja irgend einen Grund dafür haben, das Ding an sich für ewig ruhend zu halten; aber die erscheinende Bewegung trotzt diesem Urtheil. Sie ist ein schlechthin Gegebenes, wie jenes Licht, jener Nebelstreif. So muss man auch die materialistische Behandlung der Empfindung beurtheilen, wenn die Hirnbewegung zu ihrem eigentlichen Wesen erhoben werden soll. Diesen Standpunkt vertritt z. B. in schärfster Form Langwieser in seiner Polemik gegen Du Bois-Reymond. »So wenig«, heisst es da (S. 12), »unser Selbstbewusstsein uns die Anatomie unseres Leibes oder doch wenigstens die Faserung unsres Gehirnes kennen lehrt und daher auch gar kein Selbstbewusstsein im objectiven Sinne ist, ebenso wenig vermögen wir unsre Empfindungen subjectiv als das zu erkennen, was sie sind.«
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Wie man sieht, ist die alte naive Auffassung der Sinneseindrücke hier noch verstärkt durch die Einführung der modernen Begriffe von »objectiv« und »subjectiv«. Das Subjective ist eigentlich gar nicht, oder anders ausgedrückt: das subjective Sein ist nicht das wahre, das eigentliche Sein, mit welchem die Wissenschaft allein es zu thun hat. Unser eignes Bewusstsein – für die Philosophen seit Cartesius der Ausgangspunkt alles Denkens – ist nur ein solches subjectives Phänomen. Wenn wir die Hirntheile | kennen, in denen es zu Stande kommt und die Ströme, welche sich in diesen Theilen bewegen, dann erst wissen wir, was die Sache ist; wir haben das Bewusstsein »objectiv« erkannt und damit ist Alles geleistet, was man billiger Weise verlangen kann! Dieser Auffassungsweise eines materialistischen Naturphilosophen, der die Philosophie als »Mystik« verachtet, wollen wir nun zunächst eine Aeusserung eines philosophisch gebildeten Forschers gegenüberstellen. Der Astronom Zöllner zeigt in seinem merkwürdigen und inhaltreichen Buche über die Natur der Kometen, dass wir zur Vorstellung eines Objectes überhaupt nur durch die Empfindung gelangen. Die Empfindungen sind das Material, aus welchem sich die reale Aussenwelt aufbaut. Die allereinfachste Art von Empfindungen, welche wir uns denken können, schliesst schon, sobald wir uns eine Verknüpfung der wechselnden Empfindungszustände in einem Organismus denken, die Vorstellung der Zeit und der Causalität in sich. »Hieraus scheint mir hervorzugehen«, schliesst Zöllner, »dass das Phänomen der Empfindung eine viel fundamentalere Thatsache der Beobachtung als die Beweglichkeit der Materie ist, welche wir ihr als die allgemeinste Eigenschaft und Bedingung zur Begreiflichkeit der sinnlichen Veränderungen beizulegen gezwungen sind.«7 In der That lässt sich wohl die Vorstellung von Atomen und ihren Bewegungen aus der Empfindung ableiten, nicht aber umgekehrt die Empfindung aus Atombewegungen. Man könnte nun versuchen, von der Empfindung aus die Schran-
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ken des Naturerkennens zu durchbrechen und so gleichsam die ganze Naturwissenschaft zum Specialgebiet der Psychologie zu machen; allein eine solche Psychologie hat, wie wir später noch genugsam sehen werden, nicht die Mittel in sich, zur exacten Wissenschaft zu werden. Erst wenn wir unsre Empfindungen und Empfindungsvorstellungen in der Abstraction auf jene einfachsten Elemente der Raumerfüllung, des Widerstandes und der Bewegung zurückführen, erhalten wir die Basis für die Operationen der Wissenschaft. Insofern sich in diesen abstractesten Vorstellungen des Sinnlichen eine nothwendige Uebereinstimmung aller Menschen kraft der a priorischen Elemente unserer Erkenntniss ergiebt – insofern allerdings sind diese Vorstellungen »objectiv«, gegenüber den concreteren, mit Lust und Unlust verbundenen Empfindungen, die wir »subjectiv« nennen, weil in ihnen unser Subject sich nicht in | einem allgemeinen und nothwendigen Einklang mit allen andern empfindenden Subjecten befindet. Gleichwohl ist im Grunde Alles im Subject, wie denn auch »Object« ursprünglich gar nichts andres bedeutet, als den »Gegenstand« unsres Vorstellens. Die Empfindung und Empfindungsvorstellung ist das Allgemeine; die Vorstellung von Atomen und ihren Schwingungen der Specialfall. Die Empfindung ist wirklich und gegeben; an den Atomen aber ist nichts im Grunde wirklich und gegeben, als der Rest von abgeblassten Empfindungen, durch welche wir das Bild derselben zu Stande bringen. Der Gedanke, dass diesem Bilde etwas Aeusseres, von unserm »Subject« schlechthin Unabhängiges entspricht, mag sehr natürlich sein, allein absolut nothwendig und zwingend ist er nicht; sonst hätte es niemals Idealisten von der Richtung Berkeleys geben können. Soll also von den beiden Gegenständen, Empfindung und Atombewegung, der eine für Wirklichkeit, der andre für blossen Schein erklärt werden, so wäre weit eher Grund Empfindung und Bewusstsein für wirklich, dagegen die Atome und ihre Bewegung für blossen Schein zu erklären. Dass wir auf
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diesen Schein unsre Naturwissenschaft bauen, kann daran nichts ändern. Das Naturerkennen wäre dann eben nur ein Analogon des wahren Erkennens: ein Mittel uns zu orientiren, wie eine Landkarte, die uns vortreffliche Dienste leistet, während sie doch weit entfernt ist, das Land selbst zu sein, in welchem wir in Gedanken unsre Reisen machen. Aber eine solche Unterscheidung ist weder nöthig noch förderlich. Empfindung und Atombewegung sind für uns gleich »wirklich« als Erscheinungen; wiewohl die erstere eine unmittelbare Erscheinung ist; die Atombewegung nur eine vermittelte, eine gedachte. Wegen des strengen Zusammenhanges, den die Annahme der Materie und ihrer Bewegung in unsern Vorstellungen schafft, verdient sie »objectiv« genannt zu werden; denn durch sie wird erst die Mannigfaltigkeit der Objecte zu einem einheitlichen, grossen und umfassenden »Object«, das wir als den beharrlichen »Gegenstand« unsres Denkens dem wechselnden Inhalt unsres Ich gegenüberstellen. Diese ganze Wirklichkeit ist aber eben – empirische Realität; sehr wohl vereinbar mit der transscendentalen Idealität. Vom Standpunkte der kritischen, auf Erkenntnisstheorie gegründeten Philosophie schwindet im Grunde jedes Bedürfniss, die | hier besprochenen »Schranken des Naturerkennens« zu durchbrechen, da diese Schranken nicht eine uns fremd und feindlich gegenüberstehende Macht sind, sondern unser eignes Wesen. Will man aber doch noch einen letzten Versuch machen, den Schein eines unversöhnlichen Dualismus auf populärerem Wege zu beseitigen, so bietet sich der auch von Zöllner eingeschlagene Weg dar, der Materie an sich Empfindung zuzuschreiben und die mechanischen Processe sich gesetzmässig und allgemein mit Empfindungsvorgängen verbunden zu denken. Man darf aber nie vergessen, dass die Erklärung, welche man auf diese Weise gewinnt, keine naturwissenschaftliche, sondern eine speculative ist, und dass sie das eigentliche Räthsel, das Unbegreifliche in der Erscheinung nicht beseitigt, sondern nur verschiebt. – Um naturwissen-
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schaftliche Bedeutung zu erhalten, müsste diese Theorie uns das Entstehen der menschlichen Empfindung aus den Empfindungsvorgängen der sich bewegenden Theile mindestens ebenso streng beweisen können, wie den Aufbau des Körpers aus Zellen oder den Uebergang mechanischer Bewegung aus der Aussenwelt in die Zustände unsres Nervensystems. Zwei Räthsel würden dabei immer bestehen bleiben: die Vorstellung von Kraft und Stoff wäre mit allen den bisherigen Schwierigkeiten behaftet und mit einer neuen, grösseren dazu. Das Bewusstsein aber würde zwar durch ein Band mit der Materie verbunden sein, aber seine Einheit in ihrem Verhältnisse zu der Vielheit der constituirenden Empfindungen würde im Grunde noch die gleiche Unbegreiflichkeit in sich schliessen, wie früher das Verhältniss des Bewusstseins zu den Schwingungen der Atome des Gehirns. Ueberdies fragt es sich noch sehr, ob man, wenn eine solche Theorie je könnte durchgeführt werden, dann nicht dazu käme, die Atome und ihre Schwingungen ganz fallen zu lassen, wie ein Baugerüst, wenn der Bau vollendet ist. Die Empfindungswelt, die einzige gegebene, wäre ja aus ihren eigenen Elementen erklärt und bedürfte der fremdartigen Stütze nicht mehr. Gäbe es aber irgend einen zureichenden Grund, die Vorstellung der Atome gleichwohl festzuhalten, so wäre dann immer noch die materielle Welt eine Welt der Vorstellung, und die Vermuthung, dass hinter den beiden correspondirenden Welten, der materiellen und der Empfindungswelt, ein unbekanntes Drittes als ihre gemeinsame Ursache läge, würde tiefer führen, als die einfache Identificirung derselben. | So sehen wir, wie allerdings die gründliche Naturforschung durch ihre eignen Consequenzen über den Materialismus hinausführt. Es ist dies aber stets nur auf diesem einen Punkte der Fall, wo wir genöthigt werden, die gesammte Welt der Naturforschung als eine Erscheinungswelt aufzufassen, neben welcher die Erscheinungen des Geisteslebens trotz aller anscheinenden Abhängigkeit von der Materie ihrem Wesen nach ein
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Fremdes und ein Andres bleiben. Man kann von andern Ausgangspunkten, wie z. B. namentlich von der Physiologie der Sinnesorgane aus an dieselbe Grenze des Naturerkennens gelangen; allein man kann keinen hiermit nicht zusammenhängenden Punkt in der gesammten mechanischen Weltanschauung finden, an welchem etwa durch materielle Vertiefung der Forschungen die Ungenauigkeit derselben nachgewiesen würde. Alles was man sonst etwa vom Richterstuhl fachmässiger Gründlichkeit herab gegen den »Dilettantismus« der Materialisten vorgebracht hat, ist entweder nicht stichhaltig, oder es trifft nicht das Wesen des Materialismus, sondern nur irgend eine zufällige Aeusserung eines seiner Anhänger. Dies trifft namentlich auch einige der Ausfälle, welche Liebig in seinen »chemischen Briefen« gegen die Materialisten unternimmt. So z. B. wenn es im 23. Briefe heisst: »Die exacte Naturforschung hat bewiesen, dass die Erde in einer gewissen Periode eine Temperatur besass, in welcher alles organische Leben unmöglich ist; schon bei 78° Wärme gerinnt das Blut. Sie hat bewiesen, dass das organische Leben auf Erden einen Anfang hatte. Diese Wahrheiten wiegen schwer, und wenn sie die einzigen Errungenschaften dieses Jahrhunderts wären, sie würden die Philosophie zum Dank an die Naturwissenschaften verpflichten«. Nun! die exacte Naturforschung hat das ebensowenig bewiesen, als Lyell die Ewigkeit des gegenwärtigen Zustandes der Erde bewiesen hat. Das ganze Gebiet ist von vornherein nur der Hypothese zugänglich, welche mehr oder weniger durch Thatsachen gestützt wird. Die Geschichte zeigt uns, wie die grossen Theoreme kommen und gehen, während die einzelnen Thatsachen der Erfahrung und Beobachtung einen bleibenden und beständig wachsenden Schatz unserer Erkenntniss bilden. Die Philosophie ist vollends undankbar genug, die ganze angebliche Errungenschaft der exacten Wissenschaften als ihr Eigenthum zu reclamiren. Wenn Kant uns zeigt, dass unser Verstand mit Nothwendigkeit zu jeder Ursache | eine frühere
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Ursache, zu jedem scheinbaren Anfang einen früheren Anfang sucht, während die Einheitsbestrebungen der Vernunft einen Abschluss verlangen, so ist damit der anthropologische Ursprung der miteinander kämpfenden Theorieen vollständig bloss gelegt. Man möge denn ferner drauf zu beweisen, aber nur niemals von der Philosophie verlangen, dass sie ihre eignen Kinder im bunten Rock der Naturwissenschaften nicht wieder erkenne! Das Gegenstück zu dem »bewiesenen« Anfang des organischen Lebens bildet der verächtliche Seitenblick, mit welchem Liebig es rügt, dass die »Dilettanten«, welche alles Leben auf Erden aus dem einfachsten Organismus der Zelle ableiten wollen, auf das Wohlfeilste über eine unendliche Reihe von Jahren verfügen. Es wäre interessant, irgend einen vernünftig scheinenden Grund zu erfahren, weshalb man bei der Aufstellung einer Hypothese über die Entstehung der jetzigen Naturkörper nicht auf das Wohlfeilste über eine unendliche Reihe von Jahren verfügen sollte. Man kann die Hypothese der allmähligen Entstehung aus andern Gründen angreifen; das ist eine Sache für sich. Will man sie aber tadeln, weil sie eine ausserordentlich grosse Reihe von Jahren braucht, so verfällt man in einen der sonderbarsten Fehler des gewöhnlichen Denkens. Einige tausend Jahre sind uns höchst geläufig; wir erheben uns auch allenfalls auf den Antrieb der Geologen zu Millionen. Ja, seit uns die Astronomen gelehrt haben, räumliche Entfernungen nach Billionen von Meilen uns zu denken, mögen denn auch für die Bildung der Erde Billionen von Jahren angenommen werden, obwohl es uns schon etwas phantastisch däucht, weil wir nicht, wie bei der Astronomie, durch Rechnung zu solchen Annahmen gezwungen sind. Hinter diesen Zahlen, dem Aeussersten, wozu wir uns zu erheben pflegen, kommt dann die Unendlichkeit, die Ewigkeit. Hier sind wir wieder in unserm Element; namentlich die absolute Ewigkeit ist uns von der Elementarschule her ein sehr geläufiger Begriff, obschon wir
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längst darüber im Klaren sind, dass wir sie uns nicht eigentlich vorstellen können. Was zwischen der Billion, oder Quadrillion und der Ewigkeit liegt, dünkt uns ein fabelhaftes Gebiet, in welches sich nur die ausschweifendste Phantasie verirrt. Und doch muss uns gerade das strengste Verstandesurtheil sagen, dass a priori und bevor die Erfahrung einen Spruch gethan, die grösste Zahl für das Alter der Organismen, welche ein | Mensch annehmen mag, nicht im mindesten wahrscheinlicher ist, als irgend eine beliebige Potenz dieser Zahl. Es würde nicht einmal eine richtige methodische Maxime sein, so lange möglichst kleine Zahlen anzunehmen, bis eine grössere durch Erfahrungsthatsachen wahrscheinlich gemacht wird. Eher noch umgekehrt, da gerade bei sehr grossen und sehr langsamen Veränderungen das eigentliche Problem darin steckt, eine Vorstellung davon zu gewinnen, mit wie vielen Jahren die Naturkräfte wohl ausreichen mochten, um sie zu vollziehen. Je niedriger die Annahme, desto bündiger müssen die Beweise sein, da der kürzere Zeitraum a priori der minder wahrscheinliche ist. Mit einem Wort: der Beweis muss für das Minimum geführt werden, und nicht, wie das Vorurtheil annimmt, für das Maximum. Die Scheu vor den grossen Zahlen ist also ja nicht zu verwechseln mit der Scheu vor kühnen oder zahlreichen Hypothesen. Die Hypothese des allmähligen Entstehens mag vielleicht aus andern Gründen kühn oder ungerechtfertigt erscheinen; die Grösse der Zahlen macht sie nicht um das mindeste gewagter. Nicht minder unkritisch wird Liebig, wenn er die kategorische Behauptung ausspricht: »Nie wird es der Chemie gelingen, eine Zelle, eine Muskelfaser, einen Nerv, mit einem Worte einen der wirklich organischen, mit vitalen Eigenschaften begabten Theile des Organismus oder gar diesen selbst in ihrem Laboratorium darzustellen.« Warum nicht? Weil die Materialisten die organischen Stoffe mit den organischen Theilen verwechselt haben? Das kann doch kein Grund für jene Behauptung sein. Man kann die Verwechslung corrigiren, so bleibt die
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Frage nach der chemischen Darstellbarkeit der Zelle doch noch immer eine offene und dabei eine nicht ganz müssige. Eine Zeit lang glaubte man, dass die Stoffe der organischen Chemie nur im Organismus entstehen könnten. Dieser Glaube ist gefallen. Jetzt sollen wir glauben, dass der Organismus selbst nur durch Organismen entstehen kann. Ein Glaubensartikel ist todt; es lebe sein Nachfolger! Sollen wir nicht lieber den Schluss machen, dass es mit dem wissenschaftlichen Werth solcher Dogmen überhaupt nicht weit her ist? Streng genommen erzeugt die exacte Forschung den Materialismus nicht, aber sie widerlegt ihn auch nicht; wenigstens nicht in dem Sinne, in welchem die Mehrzahl der Gegner ihn widerlegt sehen möchte; denn die »Grenzen des Naturerkennens« genügen | in ihrem wahren Sinne dem grossen Haufen der Gegner keineswegs. Es gehört schon ein erheblicher Grad philosophischer Bildung dazu, um hier die Lösung der Frage zu finden und sich bei dieser Lösung zu beruhigen. Bei alledem verhält sich die Naturforschung im Leben und im täglichen Austausch der Meinungen keineswegs so neutral oder gar negativ gegenüber dem Materialismus, wie dies bei strengster Durchführung aller Consequenzen der Fall ist. Es ist gewiss kein Zufall, dass es fast durchweg Naturforscher waren, welche die Erneuerung der materialistischen Weltanschauung in Deutschland herbeigeführt haben. Es ist ebenso wenig Zufall, dass nach allen »Widerlegungen« des Materialismus gegenwärtig mehr als je populär-naturwissenschaftliche Bücher und Aufsätze in Zeitschriften erscheinen, welche so ruhig von materialistischen Anschauungen ausgehen, als ob die Sache längst abgemacht wäre. Die ganze Erscheinung erklärt sich aus unsern obigen Erörterungen schon zur Genüge; denn wenn der Materialismus einzig durch die erkenntnisstheoretische Kritik beseitigt werden kann, während er im Felde positiver Fragen überall Recht behält, so lange man an jene grosse Schranke nicht denkt, so lässt sich leicht voraussehen, dass für die grosse Masse derjenigen, welche sich mit
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Naturwissenschaften beschäftigen, ausschliesslich die materialistische Gedankenfolge im Gesichtskreise liegt. Es giebt nur zwei Bedingungen, unter welchen diese Consequenz vermieden werden kann. Die eine liegt hinter uns: es ist die Autorität der Philosophie und die tiefe Wirkung der Religion auf die Gemüther; die andere liegt noch ziemlich weit vor uns: es ist die allgemeine Ausdehnung philosophischer Bildung8 über Alle, welche sich wissenschaftlichen Studien widmen. Hand in Hand mit der philosophischen Bildung geht die historische. Nächst der Verachtung der Philosophie ist ein materialistischer Zug in dem ungeschichtlichen Sinn zu finden, welcher sich mit unserer exacten Forschung so häufig verbindet. Heutzutage versteht man oft unter »geschichtlicher« Auffassung die conservative. Dies kommt theils daher, dass sich die Wissenschaft oft für Geld und Ehren dazu missbrauchen liess, überlebte Mächte zu stützen und dem Raub-Interesse zu dienen durch Hinweis auf vergangene Herrlichkeiten und historischen Erwerb gemeinschädlicher Rechte. Die Naturforschung kann hierzu nicht | leicht missbraucht werden. Vielleicht hat auch die beständige Nöthigung zur Entsagung, welche die exacte Forschung mit sich bringt, etwas Charakterstärkendes. Von dieser Seite betrachtet könnte den Naturforschern ihr unhistorischer Sinn nur zum Lobe gereichen. Die Kehrseite der Sache ist die, dass der Mangel einer geschichtlichen Auffassung den Faden des Fortschritts im Grossen unterbricht; dass kleinliche Gesichtspunkte sich des Ganges der Untersuchungen bemächtigen; dass sich zur Geringschätzung der Vergangenheit eine philisterhafte Ueberschätzung des gegenwärtigen Zustandes der Wissenschaften gesellt, bei welchem die landläufigen Hypothesen als Axiome gefasst werden und blinde Ueberlieferungen als Resultate der Forschung gelten. Geschichte und Kritik sind oft eins und dasselbe. Die zahlreichen Mediciner, welche noch eine Frucht von sieben Monaten für eher lebensfähig halten, als eine von acht Mona-
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ten, halten dies meist für Erfahrungsthatsache. Wenn man die Quelle dieser Ansicht in der Astrologie entdeckt hat9 und hinlänglich aufgeklärt ist, um an der tödtlichen Kraft des Saturn zu zweifeln, so zweifelt man auch an der angeblichen Thatsache. – Wer die Geschichte nicht kennt, wird von den üblichen Arzneimitteln alle diejenigen für heilsam halten, von denen das Gegentheil nicht durch neuere Untersuchungen ausdrücklich erwiesen ist. Wer aber ein einziges Mal ein Recept aus dem 16. oder 17. Jahrhundert gesehen und dabei wohl erwogen hat, dass die Leute nach diesen schauderhaften und sinnlosen Compositionen ebenfalls »gesund wurden«, der wird der vulgären »Erfahrung« nichts mehr trauen und umgekehrt nur an diejenigen streng begrenzten Wirkungen irgend eines Arzneimittels oder Giftes glauben, welche durch die sorgfältigsten neueren Untersuchungen der exacten Wissenschaft festgestellt sind. – Unkenntniss der Geschichte der Wissenschaft trug dazu bei, dass man vor einigen Decennien schon begonnen, die »Elemente« der neueren Chemie für in der Hauptsache endgültig festgestellt zu erachten; während gegenwärtig mehr und mehr zu Tage tritt, dass nicht nur einige neue zu entdecken, andere vielleicht zu zerlegen sind, sondern dass überhaupt der ganze Begriff eines Elementes nur ein provisorischer Nothbehelf ist. Vielen Chemikern beginnt noch die Geschichte ihrer Wissenschaft mit Lavoisier. Wie in Geschichtswerken für Kinder die | finstere Periode des Mittelalters oft mit den Worten beendet wird: »Da trat Luther auf« – so tritt bei ihnen Lavoisier auf, um den Aberglauben des Phlogiston zu verbannen; womit denn die Wissenschaft nach Beseitigung des Blendwerks, sich aus dem gesunden Menschenverstand ganz von selbst ergiebt. Natürlich! So wie wir die Sache ansehen, muss sie ja angesehen werden! Ein vernünftiger Mensch kann nicht anders; man wäre längst auf den rechten Weg gekommen, wenn nur – das Phlogiston nicht gewesen wäre! Wie auch der alte Stahl nur so verblendet sein konnte!
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Wer dagegen in der Geschichte die unauflösliche Verschmelzung von Irrthum und Wahrheit sieht, wer bemerkt, wie die beständige Annäherung an ein unendlich fernes Ziel vollkommener Erkenntniss durch zahllose Zwischenstufen geht; wer da sieht, wie der Irrthum selbst ein Träger mannigfaltigen und bleibenden Fortschritts wird, der wird auch nicht so leicht aus dem thatsächlichen Fortschritt der Gegenwart auf die Unumstösslichkeit unserer Hypothesen schliessen. Wer gesehen hat, wie der Fortschritt nie dadurch erzielt wird, dass eine irrthümliche Theorie plötzlich vor dem Blick des Genie’s wie Nebel zerfliesst, sondern dass sie nur durch eine höhere verdrängt wird, welche aus den kunstvollsten Untersuchungsmethoden mühsam gewonnen wird, der wird auch das Ringen eines Forschers nach Bewahrheitung einer neuen und ungewohnten Idee nicht so leicht mit höhnendem Lächeln betrachten, der wird in allen fundamentalen Fragen der Ueberlieferung wenig, der Methode viel und dem unmethodischen Verstande gar nichts zutrauen. Es ist durch Feuerbach in Deutschland und durch Comte in Frankreich die Anschauung aufgekommen, als sei der wissenschaftliche Verstand weiter nichts, als der nach Verdrängung der hindernden Phantasieen zu seiner natürlichen Geltung gekommene gesunde Menschenverstand. Die Geschichte zeigt uns keine Spur von einem solchen plötzlichen Hervorspringen des gesunden Menschenverstandes nach blosser Beseitigung einer störenden Phantasie; sie zeigt uns vielmehr überall, wie die neuen Ideen sich trotz des entgegenstehenden Vorurtheils Bahn brechen, wie sie mit dem Irrthum selbst, den sie beseitigen sollen, sich verschmelzen oder zu irgend einer schiefen Richtung zusammenwirken, und wie die völlige Beseitigung des Vorurtheils in der Regel nur die letzte Vollendung des ganzen Processes ist, gleichsam das Putzen der fertig gearbei | teten Maschine. Ja – um der Kürze wegen beim Bilde zu bleiben – der Irrthum erscheint historisch oft genug als der Mantel, in welchem die Glocke der Wahrheit gegossen wird, und der erst
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nach Vollendung des Gusses zerschlagen wird. Das Verhältniss der Chemie zur Alchemie, der Astronomie zur Astrologie mag dies erläutern. Dass die wichtigsten positiven Resultate erst nach Vollendung der Grundlagen der Wissenschaft gewonnen werden, ist natürlich. Wir verdanken Copernicus im Einzelnen sehr wenig von unsrer heutigen Kenntniss des gestirnten Himmels; Lavoisier, welcher in der Ursäure, die er suchte, noch den letzten Rest der Alchemie mit sich trug, würde ein Kind in unsrer heutigen Chemie sein. Wenn die richtigen Grundlagen einer Wissenschaft geschaffen sind, findet sich allerdings eine grosse Menge von Folgerungen mit verhältnissmässig geringer Geistesarbeit von selbst; eine Glocke zu läuten ist eben leichter, als eine zu giessen. Wo aber ein principiell bedeutender Schritt vorwärts gemacht wird, erblickt man fast immer dasselbe Schauspiel: eine neue Idee greift Platz trotz des Vorurtheils; anfänglich vielleicht gar gestützt auf dasselbe. In ihrer Entfaltung erst sprengt sie die morschen Hüllen. Wo diese Idee, dies positive Streben nicht da ist, hilft die Beseitigung des Vorurtheils zu gar nichts. Im Mittelalter waren Viele frei von dem Glauben an die Astrologie; zu allen Zeiten finden sich Spuren kirchlicher und weltlicher Opposition gegen diesen Aberglauben; aber nicht aus solchen Kreisen ging die Astronomie hervor, sondern aus denen der Astrologen. Das wichtigste Resultat der geschichtlichen Betrachtung ist die akademische Ruhe, mit welcher unsre Hypothesen und Theorieen ohne Feindschaft und ohne Glauben als das betrachtet werden, was sie sind: als Stufen in jener unendlichen Annäherung an die Wahrheit, welche die Bestimmung unsrer intellectuellen Entwicklung zu sein scheint. Damit ist denn freilich jeder Materialismus, insofern derselbe mindestens ein Glauben an die transscendente Existenz des Stoffes voraussetzt, ganz und gar aufgehoben. Was aber den Fortschritt in den exacten Wissenschaften betrifft, so wird gewiss nicht derjenige am meisten zu Entdeckungen befähigt sein, welcher die gestrige Theorie verachtet und auf die heutige schwört, son-
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dern derjenige, welcher in allen Theorieen nur ein Mittel sieht, sich der Wahrheit zu nähern und die Thatsachen zu überblikken und für den Gebrauch zu beherrschen. | Diese Freiheit von der Dogmatik der Theorieen schliesst die Benutzung derselben nicht aus. Man würde auf der andern Seite ebenso weit vom Richtigen abweichen, wenn man alle allgemeinen Ideen über den Zusammenhang der Dinge schon im Entstehen unterdrücken und sich eigensinnig an das Einzelne, an die sinnlich nachweisbare Thatsache anklammern wollte. Wie der Geist des Menschen seine höchste, das Gebiet des Naturerkennens überschreitende Befriedigung erst in den Ideen findet, die er aus der dichtenden Tiefe des Gemüthes hervorbringt, so kann er sich auch der ernsten und strengen Arbeit der Forschung nicht mit Erfolg widmen, ohne gleichsam in der Idee, in dem allgemeinen Gedanken zu ruhen und aus ihm neue Kraft zu schöpfen. Gattungsbegriffe und Gesetze dienen uns einerseits, wie Helmholtz sehr richtig gezeigt hat, als Mittel des Gedächtnisses und des Ueberblicks für eine sonst unübersehbare Summe von Gegenständen und Vorgängen; anderseits aber entspricht auch diese einheitliche Zusammenfassung des Mannigfaltigen in der Erscheinung dem synthetischen Grundtriebe unsres Geistes, der allenthalben nach Einheit strebt: im grossen Ganzen der Weltanschauung, wie in den einfachsten, eine Mehrheit von Gegenständen zusammenfassenden Begriffen. Wir werden heutzutage dem Allgemeinen gegenüber dem Einzelnen nicht mehr, wie Plato, eine wahrhaftere Wirklichkeit und einen von unserm Denken unabhängigen Bestand zuschreiben; aber innerhalb unsrer Subjectivität wird es uns mehr sein, als die blosse Klammer, welche die Thatsachen zusammenhält. Und diese unsre Subjectivität hat auch für den Naturforscher ihre Bedeutung, da er eben keine Entdeckungsmaschine ist, sondern ein Mensch, in welchem alle Seiten des menschlichen Wesens in unzertrennlicher Einheit wirken. Hier aber finden wir den Materialismus wieder auf der entgegengesetz-
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ten Seite. Dieselbe Geistesrichtung, welche einerseits dazu führt, die grossen Hypothesen über die Grundlage der Erscheinungen in ein starres Dogma zu verwandeln, zeigt sich anderseits sehr spröde gegenüber der Mitwirkung der Ideen in der Naturforschung. Wir haben gesehen, wie im Alterthume der Materialismus steril blieb, weil er starr an seinem grossen Dogma von den Atomen und ihrer Bewegung haftete und für neue und kühne Ideen wenig Sinn hatte. Die idealistischen Schulen dagegen, namentlich Platoniker und Pythagoreer gaben dem Alterthum die reichsten Früchte naturwissenschaftlicher Erkenntniss. | In der Neuzeit stehen die Dinge, was den Antheil an Erfindungen und Entdeckungen betrifft, ungleich günstiger für den Materialismus. Ist doch die Atomistik, welche damals nur zu Betrachtungen über die Möglichkeit der Erscheinungen führte, seit Gassendi zur Basis der physikalischen Forschung nach dem Wirklichen geworden! Hat doch die mechanische Weltanschauung seit Newton sich allmählig der ganzen Naturauffassung bemächtigt! So bildet, wenn wir nur von den »Schranken des Naturerkennens« absehen wollen, der Materialismus heutzutage nicht nur das Resultat, sondern eigentlich schon die Voraussetzung der ganzen Naturforschung. Aber freilich, je klarer und allgemeiner dies zum Bewusstsein kommt, desto mehr verbreitet sich auch bei den Naturforschern, und je bei den bedeutendsten und tiefblickendsten zuerst, der kritische Standpunkt der Erkenntnisstheorie, welcher den Materialismus im Princip wieder aufhebt. Es hemmt den Eroberungsgang der Naturforschung nicht im mindesten, wenn der naive Glaube an die Materie schwindet und sich hinter aller Natur eine neue unendliche Welt eröffnet, die mit der Welt der Sinne in engstem Zusammenhange steht, die vielleicht dasselbe Ding ist, nur von einer andern Seite betrachtet; die aber unserm Subject, unserm Ich mit allen Regungen seines Gemüthes als die eigentliche Heimath seines innersten Wesens ebenso vertraut ist, als ihm die Welt der Atome
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und ihrer ewigen Schwingungen fremd und kalt gegenübersteht. Der Materialismus freilich sucht die Welt der Atome auch zur eigentlichen Heimath des Geistes zu machen. Dies kann auf seine Methodik nicht ohne Einfluss bleiben. Er vertraut den Sinnen. Auch seine Metaphysik ist nach Analogie der Erfahrungswelt gebildet. Seine Atome sind kleine Körperchen. Man kann sie sich zwar nicht so klein vorstellen, wie sie sind, weil das jede menschliche Vorstellung übersteigt; man kann sie sich aber doch vergleichsweise vorstellen, als sähe und fühlte man sie. Die ganze Weltauffassung des Materialisten ist vermittelt durch die Sinnlichkeit und durch die Kategorieen des Verstandes. Grade diese Organe unsres Geistes sind aber vorwiegend sachlicher Natur. Sie geben uns Dinge, wenn auch kein Ding an sich. Die tiefere Philosophie kommt dahinter, dass diese Dinge unsre Vorstellungen sind; sie kann aber nichts daran ändern, dass grade die Classe derjenigen Vorstellungen, welche sich durch Verstand und Sinn | lichkeit auf Dinge beziehen, die grösste Beständigkeit, Sicherheit und Gesetzmässigkeit hat, und eben deshalb auch vermuthlich den strengsten Zusammenhang mit einer von ewigen Gesetzen geregelten Aussenwelt. Auch der Materialismus dichtet, indem er sich die Elemente der Erscheinungswelt vorstellt, aber er dichtet in naivster Weise nach Anleitung der Sinne. In dieser beständigen Anlehnung an diejenigen Elemente unsrer Erkenntniss, welche die geregeltste Function haben, besitzt er eine unerschöpfliche Quelle reiner Methodik, einen Schutz vor Irrthum und Phantasterei und einen lautern Sinn für die Sprache der Dinge. Er leidet aber auch an einer gemüthlichen Zufriedenheit mit der Erscheinungswelt, welche Sinneseindruck und Theorie zu einem unauflöslichen Ganzen verschmelzen lässt. Wie der Trieb fehlt über die scheinbare Objectivität der Sinneserscheinungen hinauszugehen, so fehlt auch der Trieb, durch paradoxe Fragen den Dingen wieder eine ganz neue Sprache zu ent-
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locken, und zu solchen Experimenten zu greifen, welche statt auf blossen Ausbau im Einzelnen abzuzielen, vielmehr die bisherige Anschauungsweise stürzen und ganz neue Einblicke in das Gebiet der Wissenschaften herbeiführen. Der Materialismus ist mit einem Worte in den Naturwissenschaften conservativ. Wie es kommt, dass er dessenungeachtet für die wichtigsten Gebiete des Lebens unter gewissen Verhältnissen ein revolutionäres Ferment wird, wird sich später herausstellen. Der Idealismus ist von Haus aus metaphysische Dichtung; obschon eine solche, welche uns als begeisterte Stellvertreterin höherer, unbekannter Wahrheiten erscheinen kann. Der Umstand, dass überhaupt ein dichtender, schaffender Trieb in unsre Brust gelegt ist, welcher in Philosophie, Kunst und Religion oft mit dem Zeugniss unsrer Sinne und unsres Verstandes in direkten Widerspruch tritt und dann doch Schöpfungen hervorbringen kann, welche die edelsten, gesündesten Menschen höher halten, als blosse Erkenntniss: dieser Umstand schon deutet darauf hin, dass auch der Idealismus mit der unbekannten Wahrheit zusammenhängt, obschon in ganz andrer Weise als der Materialismus. Im Zeugniss der Sinne stimmen alle Menschen überein. Reine Verstandesurtheile schwanken und irren nicht. Die Ideen aber sind poetische Geburten der einzelnen Person; vielleicht mächtig ge | nug ganze Zeiten und Völker mit ihrem Zauber zu beherrschen, aber doch niemals allgemein und noch weniger unveränderlich. Trotzdem könnte der Idealist in den positiven Wissenschaften eben so sicher gehen, wie der Materialist, wenn er nur beständig daran dächte, dass die Erscheinungswelt – wie immer blosse Erscheinung – doch ein zusammenhängendes Ganze ist, in welches ohne Gefahr gänzlicher Zerrüttung keine fremden Glieder eingeschaltet werden dürfen. Der Mensch aber, der einmal sich in eine Ideenwelt versteigt, ist beständig in Gefahr, sie mit der Sinnenwelt zu verwechseln und dadurch die Erfahrung zu fälschen oder seine Dichtungen in demjenigen prosaischen Sinne für »wahr« oder »richtig«
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auszugeben, in welchem diese Ausdrücke nur den Erkenntnissen der Sinne und des Verstandes zukommen. Denn wenn wir von der sogenannten »inneren Wahrheit« der Kunst und der Religion absehen, deren Kriterium nur in der harmonischen Befriedigung des Gemüthes besteht und mit wissenschaftlicher Erkenntniss ganz und gar nichts gemein hat, so dürfen wir eben nur dasjenige wahr nennen, was jedem Wesen menschlicher Organisation mit Nothwendigkeit so erscheint, wie es uns erscheint, und eine solche Uebereinstimmung ist nur in den Erkenntnissen der Sinne und des Verstandes zu finden. Nun besteht aber zwischen unsern Ideen und diesen Erkenntnissen auch ein Zusammenhang: der Zusammenhang in unserm Gemüthe, dessen Erzeugnisse nur ihrer Meinung und Absicht nach über die Natur hinausschweifen, während sie als Gedanken und Produkte menschlicher Organisation doch ebenfalls Glieder der Erscheinungswelt sind, die wir allenthalben nach nothwendigen Gesetzen zusammenhängend finden. Mit einem Worte: unsre Ideen, unsre Hirngespinnste, sind Produkte derselben Natur, welche unsre Sinneswahrnehmungen und Verstandesurtheile hervorbringt. Sie tauchen nicht ganz zufällig, regellos und fremdartig im Geiste auf, sondern sie sind – mit Sinn und Verstand betrachtet – Produkte eines psychologischen Processes, in welchem unsre sinnlichen Wahrnehmungen ebenfalls ihre Rolle spielen. Die Idee unterscheidet sich vom Hirngespinnst durch ihren Werth, nicht durch ihren Ursprung. Was ist aber der Werth? Ein Verhältniss zum Wesen des Menschen, und zwar zu seinem vollkommenen, idealen Wesen. So misst sich die Idee an der Idee und die Wurzel dieser Welt geistiger Werthe | verläuft ebensowohl, wie die Wurzel unsrer Sinnesvorstellungen in das innerste Wesen des Menschen zurück, welches sich unsrer Beobachtung entzieht. Wir können die Idee als Hirngespinnst psychologisch begreifen; als geistigen Werth können wir sie nur an ähnlichen Werthen messen. Den Kölner Dom vergleichen wir
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mit andern Kathedralen, mit andern Kunstwerken; seine Steine mit andern Steinen. Die Idee ist für den Fortschritt der Wissenschaften so unentbehrlich, wie die Thatsache. Sie führt nicht nothwendig zur Metaphysik, obwohl sie jedesmal die Erfahrung überschreitet. Aus den Elementen der Erfahrung unbewusst und schnell, wie das Anschiessen eines Krystalls, hervorspringend, kann sie sich auf Erfahrung zurückbeziehen und ihre Bestätigung oder Verwerfung in der Erfahrung suchen. Der Verstand kann die Idee nicht machen, aber er richtet sie und er huldigt ihr. Die wissenschaftliche Idee entsteht, wie die poetische, wie die metaphysische, aus der Wechselwirkung aller Elemente des individuellen Geistes; sie nimmt aber einen andern Verlauf, indem sie sich dem Urtheil der Forschung unterzieht, in welchem allein die Sinne, der Verstand und das wissenschaftliche Gewissen zu Rathe sitzen. Dies Gericht fordert nicht absolute Wahrheit, sonst möchte es um den Fortschritt der Menschheit schlecht bestellt sein. Brauchbarkeit, Verträglichkeit mit dem Zeugniss der Sinne in dem durch die Idee geforderten Experiment, entschiedenes Uebergewicht über die entgegenstehenden Auffassungen – das genügt schon, um der Idee das Bürgerrecht im Reiche der Wissenschaft zu geben. Die kindliche Wissenschaft verwechselt fortan Idee und Thatsache; die entwickelte, methodisch sicher gewordene bildet die Idee auf dem Wege der exacten Forschung fort zur Hypothese und endlich zur Theorie. Auch der einseitigste Idealist wird niemals den Versuch ganz verschmähen, die Erfahrung selbst zum Zeugniss ihrer Unzulänglichkeit aufzurufen. Wenn in den Thatsachen der Sinnenwelt selbst keine Spur davon aufzufinden wäre, dass die Sinne uns nur ein gefärbtes und vielleicht ganz und gar unzulängliches Bild der wahren Dinge geben, so stände es schlimm um die Ueberzeugung des Idealisten. Allein schon die gewöhnlichsten Sinnestäuschungen geben seiner Ansicht einen Halt. Die Entdeckung des Zahlenverhältnisses in den Tönen der Musik
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folgte aus einer Idee der Pythagoreer, welche dem ursprünglichen Sinnenschein zuwiderläuft; denn | unser Ohr giebt uns in den Klängen nicht das mindeste Bewusstsein eines Zahlenverhältnisses. Dennoch legten die Sinne selbst Zeugniss ab für die Idee: die getheilte Saite, die verschiedenen Dimensionen metallner Hämmer wurden im Zusammenhang mit den verschiedenen Tönen sinnlich wahrgenommen. So wurde die Idee der Vibrationstheorie für das Licht, einmal verworfen, später auf das Zeugniss der Sinne und des rechnenden Verstandes wieder angenommen; die Interferenzerscheinungen konnte man sehen. Hieraus ergiebt sich schon, dass auch der Idealist Forscher sein kann; seine Forschung wird aber in der Regel einen revolutionären Charakter tragen, wie der Idealist auch dem Staat, dem bürgerlichen Leben, den Gewohnheitssitten gegenüber als Träger des revolutionären Gedankens bestellt ist. Dabei ist aber nicht zu vergessen, dass es sich um ein Mehr oder Weniger handelt. Sieht man von den wenigen Trägern consequenter Systeme ab, so giebt es im Leben so wenig Idealisten und Materialisten – als bestimmte Classen von Individuen – wie es Phlegmatiker und Choleriker giebt. Es wäre kindisch anzunehmen, dass kein Mann von überwiegend materialistischer Anschauung eine wissenschaftliche Idee haben könnte, welche das Ueberlieferte ganz und gar umstösst. Unsre Forscher haben dazu namentlich jetzt, wo der Zug der Zeit dahin geht, fast alle Idealismus genug, obwohl sie hauptsächlich dasjenige glauben, was sie sehen und fühlen können. In der Geschichte der neueren Naturforschung vermögen wir nicht mit derselben Sicherheit wie für das Alterthum die Einflüsse des Materialismus und Idealismus zu unterscheiden. So lange wir nicht sehr sorgfältige und auf den ganzen Menschen Rücksicht nehmende Biographieen der bedeutendsten Führer des wissenschaftlichen Fortschritts haben, befinden wir uns auf einem schwankenden Boden. Der Druck der Kirche verhinderte meist die wahre Meinungsäusserung, und
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mancher edle Mann spricht bisher nur durch die Thatsachen seiner Entdeckungen zu uns, bei dem wir ein reiches Denken, gewaltige Kämpfe des Gemüths und einen Schatz tiefer Ideen voraussetzen dürfen. Die meisten Naturforscher unsrer Zeit halten von Ideen, Hypothesen und Theorieen sehr wenig. Liebig geht dagegen in seinem Groll gegen den Materialismus wieder zu weit, wenn er in seiner Rede über Baco den Empirismus völlig verwirft. | »Baco legt in der Forschung dem Experiment einen hohen Werth bei; er weiss aber von dessen Bedeutung nichts; er hält es für ein mechanisches Werkzeug, welches, in Bewegung gesetzt, das Werk aus sich selbst heraus macht; aber in der Naturwissenschaft ist alle Forschung deductiv oder a priorisch; das Experiment ist nur Hülfsmittel für den Denkprocess, ähnlich wie die Rechnung; der Gedanke muss ihm in allen Fällen und mit Nothwendigkeit vorausgehen, wenn es irgend eine Bedeutung haben soll.« »Eine empirische Naturforschung in dem gewöhnlichen Sinn existirt gar nicht. Ein Experiment, dem nicht eine Theorie, d. h. eine Idee vorhergeht, verhält sich zur Naturforschung wie das Rasseln mit einer Kinderklapper zur Musik.« Starke Worte! Es steht aber in der That nicht ganz so schlimm um den Empirismus. Liebigs meisterhafte Analyse der Versuche Baco’s, für welche ihm in der That Philosophen und Historiker Dank wissen müssen, hat uns freilich gezeigt, dass aus Baco’s Versuchen nicht nur nichts folgte, sondern auch nichts folgen konnte. Wir finden aber dafür Gründe genug in der Gewissenlosigkeit und Leichtfertigkeit seines Verfahrens, in dem willkürlichen Ergreifen und Verlassen seiner Gegenstände, in dem Mangel an Concentration und Ausdauer; besonders endlich auch in seinem Ueberfluss an methodischen Einfällen und Schleichwegen, welche den brauchbaren Theil der Methode überwuchern und der Willkür und Weichlichkeit Ausflüchte darbieten, während sie praktisch gar nicht anzuwenden sind. Hätte Baco nur den Begriff der Induction ent-
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wickelt und die keineswegs bedeutungslose Lehre von den negativen und den prärogativen Instanzen, so würde seine eigne Methode ihn zu grösserer Stetigkeit genöthigt haben. So aber erfand er sich die schwankenden und jeder Willkür Thür und Thor öffnenden Classificationen der instantiae migrantes, solitariae, clandestinae u.s.w. gewiss in dem dunkeln Drang, seine Lieblingsideen beweisen zu können. Dass ihn bei seinen Untersuchungen keine Idee geleitet habe, scheint uns keineswegs der Fall; vielmehr das Gegentheil. Seine Lehre von der Wärme z. B., welche Liebig so schonungslos aufdeckt, sieht ganz nach einer vorgefassten Meinung aus. In der Ueberladung seiner Beweistheorie mit unnützen Begriffen verräth Baco die Nachwirkungen der Scholastik, die er | bekämpft; allein es waren nicht die Begriffsgespenster, welche ihn hinderten, mit Erfolg zu forschen, sondern es war der gänzliche Mangel derjenigen Eigenschaften, welche zur Forschung überhaupt befähigen. Baco hätte eben so wenig einen alten Autor kritisch herausgeben können, als er ein ordentliches Experiment machen konnte.10 Es ist grade eine Eigenthümlichkeit der fruchtbaren Ideen, dass sie sich in der Regel erst bei eingehender und beharrlicher Beschäftigung mit einem bestimmten Gegenstande entwickeln; eine solche Beschäftigungsweise kann aber auch ohne leitende Theorieen fruchtbar sein. Copernikus widmete sein ganzes Leben den Himmelskörpern, Sanctorius seiner Wage: der erstere hatte eine leitende Theorie, die schon in frühen Jahren aus Philosophie und Beobachtung entsprang. War nicht aber auch Sanctorius ein Forscher?11 |
Anmerkungen Wir lassen hier noch folgende Stelle der ersten Auflage folgen, welche im Text einer strengeren Durchführung des Gedankenganges und dem neuen, hieher gehörigen Stoffe hat weichen müssen. 1
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Mit Rücksicht auf die Thatsache der Bildung einer besondern naturwissenschaftlichen Facultät wurde Folgendes bemerkt: »Die alten Facultäten bildeten sich ziemlich schnell nach dem Entstehen der Universität Paris, deren Einrichtungen für Deutschland mustergültig wurden. Sie stehen in engster Beziehung je zu einem bestimmten praktischen Lebensberuf; denn die philosophische Facultät wurde nur durch die Ablösung der drei andern ein besondres Ganze. Sie blieb die allgemeine Facultät gegenüber den drei speciellen; theils der gemeinsamen Vorbereitung auf die Fachstudien gewidmet, theils der freien Wissenschaft. Alle neu entstehenden Wissenschaften fielen ihr naturgemäss zu, sofern sie nicht zu einem Fachstudium in engster Beziehung standen. Wäre das ursprüngliche Bildungsprincip der Universitäten lebendig geblieben, so hätten sich vielleicht schon mehrere neue Facultäten genau im Sinne der bestehenden bilden können; so z. B. eine cameralistische, eine pädagogische, eine landwirthschaftliche. An sich ist nichts dagegen einzuwenden, dass nun auch einmal eine neue Facultät nach einem neuen Princip gebildet wird; wir möchten nur feststellen, dass dies so ist, und uns dann das neue Princip etwas näher betrachten. Wir haben einen förmlichen Krieg der Facultäten vor uns, in welchem jedenfalls die Philosophen die traurigste Rolle spielen. Die Mediciner beantragen zuerst die Errichtung der naturwissenschaftlichen Facultät. Die Naturforscher wollen sämmtlich aus den mütterlichen Armen der facultas artium scheiden. Ihre bisherigen Collegen wollen sie nicht loslassen; ein förmlicher Emancipationsstreit! Man begreift, dass ein dem Schulfach entsprossener Philologe sich durch die Rücksicht auf eine gewisse Einheit in der Bildung zukünftiger Lehrer zu weit führen lässt; ein wirklicher Philosoph aber sollte niemals einem thatsächlich empfundenen Bedürfniss nach solcher Trennung durch starres Festhalten bestehender Zustände entgegentreten. Er sollte sich vielmehr fragen, worin die abstossende Kraft begründet liegt, welche die Trennung fordert; er sollte sich bemühen, durch seine | eignen Leistungen sich denen, die er festhalten will, unentbehrlich zu machen. Hat eine Universität keine Männer, die in einem solchen Falle über dem Streit stehen und vor allem nach der innern Seite der Sache fragen, so hat sie überhaupt keine Philosophen. Wenn Feuerbach behauptet, es sei ein specifisches Kennzeichen eines Philosophen, kein Professor der Philosophie zu sein,
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so ist das eine arge Uebertreibung; allein so viel ist gewiss, dass gegenwärtig ein selbständiger und freimüthiger Denker nicht leicht einen öffentlichen Lehrstuhl in Deutschland erlangen wird. Man klagt über Vernachlässigung der Naturwissenschaften; man könnte über Erdrosselung der Philosophie klagen. Es ist den Tübinger Naturforschern nicht übel zu nehmen, wenn sie sich von einem todten Körper los zu machen suchen; allein es muss bestritten werden, dass diese Trennung durch das Wesen der Naturforschung und der Philosophie bedingt werde.« »Die Naturwissenschaften haben in ihrer klaren und lichtvollen Methode, in der überzeugenden Macht ihrer Experimente und Demonstrationen einen mächtigen Schutz gegen die Verfälschung ihrer Lehre durch Männer, welche dem Princip ihrer Forschung schnurstracks zuwider arbeiten. Und doch dürfte, wenn erst die Philosophie ganz und gar unterdrückt und beseitigt ist, auch die Zeit herankommen, in welcher in naturwissenschaftlichen Facultäten ein Reichenbach die Odlehre vorträgt, oder ein Richter das Newtonsche Gesetz widerlegt. In der Philosophie ist der Denkfrevel leichter zu begehen und leichter zu bemänteln. Es giebt kein so sinnlich klares und logisch gewisses Kriterium des Gesunden und Wahren, wie in der Naturwissenschaft. Wir wollen einstweilen als Nothbehelf eins vorschlagen. Wenn die Naturforscher sich freiwillig der Philosophie wieder nähern, ohne deshalb an der Strenge ihrer Methode auch nur ein Titelchen zu ändern; wenn man zu erkennen beginnt, dass alle Facultätsunterschiede überflüssig sind; wenn die Philosophie, statt ein Extrem zu sein, vielmehr das Bindeglied zwischen den verschiedensten Wissenschaften abgiebt und einen fruchtbaren Austausch der positiven Resultate vermittelt: dann wollen wir annehmen, dass sie auch ihrer Hauptaufgabe wieder zugewandt ist, dem Jahrhundert die Fackel der Kritik voranzutragen, die Strahlen der Erkenntniss in einen Brennpunkt zu sammeln und die Revolutionen der Geschichte zu fördern und zu lindern.« »Die Vernachlässigung der Naturwissenschaften in Deutschland stammt aus derselben conservativen Tendenz, wie die Unterdrückung und Verfälschung der Philosophie. Vor allen Dingen hat es an Geldmitteln gefehlt, und es wird leider noch lange dauern, bis wir in dieser Beziehung den Vorsprung Englands und Frankreichs eingeholt haben.« (Dies ist, wenigstens in Beziehung auf
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Frankreich, zur Zeit schon nicht mehr richtig.) »Herr von Mohl sah in dem physikalischen Cabinet einer deutschen Universität »eine Schrecken erregende Maschine, welche eine Luftpumpe vorstellen sollte. Die academische Commission, deren Bewilligung und Anordnung die Anschaffungen des Physikers unterlagen, hatten decretirt, damit die Arbeit nicht einem auswärtigen Mechaniker zugewendet werde, | die Luftpumpe einem Spritzenmacher in Accord zu geben.« Dies giebt Veranlassung, über die Bevormundung des Physikers durch seine Facultätsgenossen zu seufzen. Ist aber ein ordentlicher Etat für solche Anschaffungen zur freien Disposition des Physikers nicht denkbar ohne Trennung der Facultäten? Und ist nicht auch bei dem gegenwärtigen Zustande der Dinge grade der Philosoph, welcher die wissenschaftlichen Methoden und die Voraussetzungen ihrer Anwendung kennen muss, der natürliche Bundesgenosse des Physikers?« »Doch nein! Da sitzt der Haken. Ein Descartes, Spinoza, Leibnitz, Kant würden diese Rolle spielen; die Mehrzahl unserer gegenwärtigen Philosophie-Professoren aber – da hat Herr von Mohl recht; nur sollte er die Schuld nicht auf die Philosophie selbst, ja geradezu auf das Wesen des philosophischen Denkens schieben, wenn heutzutage ein solches Zusammenwirken nicht leicht zu erwarten ist.« 2 Büchner hat anlässlich der 12. Aufl age von »Kraft und Stoff« eine »Selbstkritik« verfasst (in der 3. Aufl. von »Natur und Wissenschaft, Leipz. 1874), in welcher er es sich als ein Hauptverdienst anrechnet, der Philosophie auf dem Gebiete der Naturwissenschaften wieder zu ihrem Rechte verholfen zu haben. Er giebt zu, dass auch andre Umstände dazu mitgewirkt haben, aber: »Erst »Kraft und Stoff« ebnete die Bahn und eröffnete den Kampf auf eine Weise, dass er die allgemeine Theilnahme der gelehrten und nicht-gelehrten Welt fand und ohne ein bestimmtes Resultat nicht wieder einschlafen konnte. In diesem Sinne kann und muss denn auch »Kraft und Stoff« in der That »epochemachend« genannt werden und das Buch muss und wird in der Geschichte der Wissenschaften als solches erwährt und besprochen werden, so lange eine solche überhaupt existirt.« Weit eher könnte Büchner den Anspruch auf bleibende Nennung seines Namens in der allgemeinen Culturgeschichte erheben, da er mit einem durchschlagenden Erfolge im richtigen Moment an die grosse Glocke hing, was Viele dachten
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und was gewiss Mancher sowohl nach der naturwissenschaftlichen als nach der philosophischen Seite besser hätte machen können. Ob auch erfolgreicher, ist eine andre Frage, denn grade der Mangel an wissenschaftlicher Bestimmtheit und das Verweilen auf der Oberfläche der Erscheinungen war für den Erfolg Büchners sehr wesentlich. Dass Büchner seiner »Theorie« auch wissenschaftliche Bedeutung zuschreibt, ist gewiss Selbsttäuschung, da er nicht nur weder im Ganzen noch im Einzelnen etwas wesentlich Neues leistet, sondern auch hinter den Anforderungen der Aufgabe, ein Gesammtbild der mechanischen Weltanschauung zu entwerfen, in vielen Stücken erheblich zurückbleibt. So stellt z. B. Büchner die Lehre von der Erhaltung der Kraft in seiner Selbstkritik als eine später eingetretene bestätigende Ergänzung seines Standpunktes dar, indem er sie sehr naiv von der fünften Auflage seines Buches an datirt, während jeder allseitig gebildete Naturforscher und Philosoph diese wichtige Lehre schon im Jahre 1855, als die erste Auflage von »Kraft und Stoff« erschien, kennen musste. Sprach doch Mayer das Gesetz schon 1842 aus; im Jahre 1847 erschien Helmholtz’ Abhandlung von der Erhaltung der Kraft, und 1854 lag die | populäre Abhandlung desselben Forschers »über die Wechselwirkung der Naturkräfte« schon im zweiten Abdruck vor! 3 Nachträglich sei hier bemerkt, dass der viel besprochene »Ausspruch Vogts« in der Hauptsache schon bei Cabanis vorkommt. Das Gehirn macht »la sécrétion de la pensée«. Rapports du physique et du moral de l’homme, Paris 1844, p. 138. – Der Herausgeber, L. Peisse, bemerkt dazu: »Cette phrase est restée célèbre.« 4 Der Unterschied der »Geisteswissenschaften« von den »Naturwissenschaften« ist von Mill in seiner Logik scharf hervorgehoben worden. Er verlangt zwar für diese im Wesentlichen die gleiche Methode der Forschung, dagegen überschätzt er (vom Standpunkte der englischen Associations-Psychologie) bedeutend die Quelle der subjectiven Beobachtung, auf die er hier fast allein Rücksicht nimmt, während er die Förderung dieser Wissenschaften durch Orientirung an der correspondirenden Erscheinung (die physiologische Methode) viel zu gering anschlägt. Richtiger fasst Helmholtz den Unterschied in seinem Vortrag »über das Verhältniss der Naturwissenschaften zur Gesammtheit der Wissenschaft« (Populäre Vortr. I, S. 16 u. ff.). Hier tritt der Unterschied, welcher sich
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aus der Verschiedenheit des Materials, der Methoden und Beweismittel ergiebt, in den Vordergrund. Wenn Helmholtz dabei zugleich für den Historiker, Philologen, Juristen etc. »eine fein und reich ausgebildete Anschauung der Seelenbewegungen des Menschen« fordert, die sich wieder auf »eine gewisse Wärme des Gefühls und Interesse an der Beobachtung der Seelenzustände Anderer« stützen, so ist dies zuzugeben. Es sind eben die Mittel, um die der äusseren Beobachtung unterliegenden Zeichen in Wort, Schrift, Geberden, Spuren und Denkmälern aller Art feiner und schneller aufzufassen und richtiger zu deuten. Der von Laplace fi ngirte Geist aber bedarf in dieser Beziehung keine ausgezeichnete, sondern nur eine mittlere menschliche Anlage, um auch in allen Geisteswissenschaften, so weit er mit seinen Gefühlen irgend nachkommen kann, die vollkommenste Einsicht zu besitzen; denn er besitzt an seiner Kenntniss der äusseren Thatsachen ein Mittel, die Grundsätze der Deutung von Zeichen zu controliren und zu verbessern, und da er zugleich jede Sprache versteht (denn in seiner Weltformel sind die Umstände der Entstehung und Umwandlung aller bedeutungsvollen Laute enthalten), so weiss er auch, wie nur irgend ein Menschengeist vom begabtesten bis zum beschränktesten, die Zeichen des Geistigen deutet: Ein Dichter würde er aber freilich mit all dieser Unendlichkeit der Erkenntniss nicht werden können, wenn es nicht ohnehin in ihm läge. 5 Die bei Kirchmann, Czolbe, Spiller u. A. auftretende Forderung, dass den Qualitäten, welche seit Locke, und im Grunde schon seit Demokrit als »secundär« und nur subjectiv betrachtet werden, eine objective Realität zukommen müsse, beruht zwar zunächst auf einer ungenügenden Erkenntnisstheorie, und daran, dass »Roth«, »saurer Geschmack«, »Glockenklang« u.s.w. Phänomene im Subject sind, ist nicht zu rütteln; allein wenn die Naturerkenntniss mir auch im Gehirn für die entsprechenden Vorgänge nur Atombewegungen giebt, während | doch die Empfi ndungen unzweifelhaft da sind (empirische Realität haben), kann ich sehr wohl die Vermuthung ableiten, dass auch in der schwingenden Saite noch etwas Andres stecke, was meiner Vorstellung von den tönenden, farbigen Objecten zwar nicht gleich ist, aber doch weit mehr Verwandtschaft mit ihnen hat, als das undulirende Atom. 6 Spiller, Phil., Das Naturerkennen nach seinen angeblichen und wirklichen Grenzen. Berlin 1873. Auch diese Schrift ist, Du
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B. R. gegenüber, reich an Missverständnissen der im Text bezeichneten Art. 7 Zöllner, über die Natur der Kometen. Beiträge zur Geschichte und Theorie der Erkenntniss. 2. Aufl. Leipz. 1872; S. 320 u. ff. – 8 Wir lassen hier noch einige Stellen der ersten Aufl age folgen, welche sich (dort anschliessend an die oben erwähnte Rede des Botanikers von Mohl) speciell mit der Forderung philosophischer Bildung für die Naturforschung beschäftigen. »Wir verlangen von dem heutigen Naturforscher mehr philosophische Bildung; aber nicht mehr Neigung, selbst originelle Systeme zu machen. Im Gegentheil, in dieser Beziehung sind wir den Schaden der naturphilosophischen Zeit noch immer nicht los: der Materialismus ist der letzte Ausläufer jener Epoche, wo jeder Botaniker oder Physiologe auch glaubte, die Welt mit einem System beglücken zu müssen.« »Wer hiess denn eigentlich einen Oken, Nees von Esenbeck, Steffens und andere Naturkundige philosophiren, statt forschen? Hat jemals irgend ein Philosoph, selbst in der ärgsten Schwindelperiode, die exacte Forschung in vollem Ernst durch sein System ersetzen wollen? Selbst Hegel, der hochmüthigste der neueren Philosophen, betrachtete sein System niemals in dem Sinne als defi nitiven Abschluss der wissenschaftlichen Erkenntniss, wie dies nach der Auffassung, die wir bestreiten, hätte sein müssen. Er erkannte sehr wohl, dass keine Philosophie über den geistigen Gesammtinhalt ihrer Zeit hinaus gelangen kann. Freilich war er verblendet genug, die reichen philosophischen Schätze, welche die einzelnen Wissenschaften dem Denker fertig zuführen, zu verkennen und namentlich den geistigen Gehalt der exacten Wissenschaften viel zu gering anzuschlagen. Umgekehrt warfen sich die Naturforscher damals vor der Speculation in den Staub, wie vor einem Götzen. Wäre ihre eigne Wissenschaft in Deutschland besser fundirt gewesen, so würde sie den Windstürmen der Speculationswuth besser getrotzt haben.« Weiterhin heisst es mit Beziehung auf die Behauptung von Mohls, dass oft ein gegenseitiges Veständniss zwischen Naturforschung und Philosophie geradezu unmöglich werde: »Also der Naturforscher lernt von den Dingen; der Philosoph will Alles aus sich wissen und deshalb verstehen sie sich beide nicht? Das Missverständniss kann doch nur da sein, wo beide über
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dieselben Dinge sprechen und dabei Verschiedenes nach verschiedenen Methoden darthun. Dabei sind sie sich entweder klar darüber, dass sie nach verschiedenen Methoden verfahren oder nicht. Wenn z. B. ein Professor der Philosophie den Aerzten »auf naturwissenschaftlichem Wege« allerlei metaphysischen Hocuspocus beweisen will, so ist dieser Professor, und er | ganz allein, an dem Missverständniss schuld. Jeder wirkliche Philosoph wird einen solchen Anthropologen ebenso scharf zurückweisen, wie der Naturforscher, vielleicht schärfer, weil er eben den methodischen Fehler als Kenner des beiderseitigen Verfahrens schneller durchschaut. Ein Beispiel solcher wissenschaftlichen Polizei verübte vor einigen Jahren Lotze in seiner Streitschrift (1857) gegen die Anthropologie des jüngeren Fichte. Er beging nur dabei den Fehler, dass er diesem, nachdem er ihn wissenschaftlich ganz und gar beseitigt hatte, einen Händedruck und gegenseitige Geschenke nach der Art der homerischen Helden vorschlug. Die homerischen Helden schenkten dem nichts mehr, den sie erlegt hatten!« »Ganz ebenso kann es gehen, wenn ein Naturforscher denselben Fehler macht, d. h. wenn er seine metaphysischen Grillen unter der Form von Thatsachen an den Mann bringen will. Nur wird in diesem Falle oft grade der strengere Naturforscher die prompteste Polizei üben, weil er die Entstehungsgeschichte der angeblichen Thatsachen am genauesten kennt. Dies ist bekanntlich gerade unseren Materialisten bisweilen widerfahren.« »Wenn aber Philosoph und Naturforscher sich ihrer verschiedenen Methoden bewusst sind, d. h. wenn der erste speculativ verfährt, der letztere empirisch, so ist in ihren Lehren deshalb kein Widerspruch, weil nur der letztere von einem verstandesmässig zu erkennenden Object der Erfahrung spricht, während der erstere einem Bedürfniss des Gemüthes, einem schaffenden Naturtrieb zu genügen sucht. Wenn z. B. ein Hegelianer die Empfi ndung erklärt, als »das, wo die ganze Natur als ein dumpfes Weben des Geistes in sich erscheint«, und der Physiologe nennt sie »die Reaction des Nervenprocesses auf das Gehirn« oder »auf das Bewusstsein«, so liegt darin durchaus kein Anlass für beide, sich ergrimmt den Rücken zu kehren. Der Philosoph muss den Physiologen verstehen; für diesen aber ist es Geschmackssache oder wenn man will Bedürfnissfrage, ob er dem Metaphysiker noch länger zuhören will.«
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»Wenn wir vom Naturforscher höhere philosophische Bildung verlangen, so ist es auch durchaus nicht die Speculation, die wir ihm so dringend anempfehlen möchten, sondern die philosophische Kritik, die ihm grade deswegen unentbehrlich ist, weil er selbst doch niemals in seinem eignen Denken, trotz aller Exactheit der Specialforschung, die metaphysische Speculation ganz wird unterdrücken können. Eben um seine eignen transscendenten Ideen richtiger als solche zu erkennen und sie sicherer von dem zu unterscheiden, was die Empirie giebt, bedarf er der Kritik der Begriffe.« »Wenn nun der Philosophie hierin ein gewisses Richteramt zugesprochen wird, so ist das auch keine Anmassung einer Bevormundung. Denn abgesehen davon, dass Jeder in diesem Sinne Philosoph sein kann, welcher die allgemeinen Denkgesetze zu handhaben versteht, so bezieht sich auch der Richterspruch nie auf das eigentlich Empirische, sondern auf die mit untergelaufene Meta-physik oder auf die rein logische Seite | der Schlussfolgerung und Begriffsbildung. Was soll daher der Vergleich des Verhältnisses der Naturwissenschaften zur Philosophie mit der Stellung der Philosophie zum Dogma des Theologen? Soll damit wieder das Bedürfniss einer Emancipation angedeutet werden, so haben wir einen starken Anachronismus vor uns. Die Philosophie hat nicht mehr ihre Freiheit von theologischen Dogmen erst zu verlangen. Das ist durchaus selbstverständlich, dass sie sich nach diesen in keiner Weise zu richten hat. Sie wird aber umgekehrt jederzeit das Recht in Anspruch nehmen, diese Dogmen dennoch zu berücksichtigen und zwar als Objecte ihrer Forschung. Das Dogma ist dem Philosophen kein naturwissenschaftlicher Lehrsatz, sondern der Ausdruck der Glaubensrichtung und der speculativen Thätigkeit einer geschichtlichen Periode. Er muss das Entstehen und Vergehen der Dogmen im Zusammenhang mit der culturgeschichtlichen Entwicklung der Menschheit zu begreifen suchen, wenn er seine Aufgabe auf diesem Gebiete lösen will.« »Die exacte Forschung vollends muss für jeden Philosophen das tägliche Brod sein. Mag der Stolz des Empirikers es vorziehen, sich auf ein Feld für sich zurückzuziehen; er wird den Philosophen doch niemals hindern können, ihm zu folgen. Es ist keine Philosophie auf dem Standpunkt der Gegenwart mehr denkbar ohne die exacte Forschung, und eben so sehr bedarf die exacte Forschung der be-
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ständigen Läuterung durch die philosophische Kritik. Es ist kein Dilettantismus, wenn der Philosoph sich mit den wichtigsten Resultaten und den Forschungsmethoden sämmtlicher Naturwissenschaften bekannt macht; denn dies Studium ist die nothwendige Basis aller seiner Operationen. So ist es auch kein Dilettantismus, wenn der Naturforscher sich eine bestimmte, geschichtlich und kritisch begründete Ansicht über den Denkprocess der Menschheit verschafft, an den er doch trotz aller scheinbaren Objectivität seiner Untersuchungen und Folgerungen unauflöslich geknüpft ist. Grade das aber möchten wir verwerfl ichen Dilettantismus nennen – ohne übrigens zu leugnen, dass bevorzugte Geister beide Gebiete wirklich umfassen mögen – wenn der Philosoph nach Baco’s Weise mit ungeschultem Sinn und ungeübter Hand in Experimenten herumpfuscht, und wenn der Naturforscher, ohne sich darum zu bekümmern, was vor ihm gedacht und gesagt ist, mit willkürlicher Behandlung der überlieferten Begriffe sich selbst ein metaphysisches System zusammenwürfelt.« »Nicht minder wahr ist es aber, dass Philosoph und Naturforscher direct fördernd auf einander einwirken können, wenn sie sich auf den Boden begeben, der beiden gemeinsam ist und bleiben muss: die Kritik des Materials der exacten Forschung in Beziehung auf die möglichen Folgerungen. Vorausgesetzt, dass man sich wirklich beiderseits einer strengen und nüchternen Logik bedient, werden die erblichen Vorurtheile dadurch in ein wirksames Kreuzfeuer gebracht, und damit ist beiden Theilen gedient.« »Was soll nun die Theorie des gegenseitigen Gehenlassens wegen gänzlicher Unmöglichkeit der Verständigung? Es will uns bedünken, | als sei gerade in diesem Princip die höchste Einseitigkeit des Materialismus ausgesprochen. Die Folgen einer allgemeinen Anwendung dieses Princips würden sein, dass Alles in egoistische Cirkel zerfällt. Die Philosophie unterliegt vollends dem Zunftgeist der Facultäten. Die Religion – und auch dies gehört zum ethischen Materialismus – stützt sich in Gestalt crasser Orthodoxie auf den Grundbesitz und die politischen Rechte der Kirche; die Industrie jagt seelenlos dem momentanen Unternehmergewinn nach; die Wissenschaft wird zum Schiboleth einer exclusiven Gesellschaft; der Staat neigt zum Cäsarismus.« 9 Nach den Regeln der Astrologie regiert den siebenten Monat der zweideutige Mond, den achten der verderbenbringende Saturn,
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den neunten Jupiter, der Stern des Glücks und der Vollendung. In Folge dessen sah man die unter dem Einflusse des Saturn erfolgte Geburt für weit schwerer bedroht an, als eine unter dem Einflusse des Mondes stehende. 10 Ueber Baco’s wissenschaftlichen und persönlichen Charakter vgl. I. S. 195 und S. 219, Anm. 60 . – 11 In der 1. Aufl. folgte hier noch eine für den Zweck des Werkes wohl zu sehr in’s Einzelne gehende methodologische Erörterung, aus welcher wir jedoch nachstehenden Punkt, dessen Interesse uns noch keineswegs erloschen scheint, hier folgen lassen: »Vielleicht sind wir berechtigt, einen eigenthümlichen Zug der neueren Naturforschung als materialistisch zu bezeichnen, welcher grade in der Opposition gegen die Strenge der exacten Forschung besteht; freilich nicht einer Opposition, welche sich auf den Libertinismus der Idee stützt, sondern in einer solchen, welche aus Ueberschätzung der unmittelbaren sinnlichen Ueberzeugung hervorgeht.« »Um hier nicht in vage Allgemeinheiten zu gerathen, wollen wir unsre Betrachtungen an das merkwürdige Beispiel dieser Opposition anknüpfen, welches in den letzten Jahren in Deutschland vorgekommen ist. Es ist die Reaction einiger Physiologen gegen eine Abhandlung des Mathematikers Radicke über die Bedeutung und den Werth arithmetischer Mittel. Radicke veröffentlichte im Jahre 1858 im Archiv für phys. Heilkunde eine ausführliche Arbeit, deren Zweck darin bestand, das übermässig wuchernde Material physiologisch-chemischer Entdeckungen einer kritischen Sichtung zu unterwerfen. Er bediente sich dabei eines ebenso sinnreichen und selbständigen als correcten Verfahrens, um das Verhältniss des arithmetischen Mittels aus den Versuchsreihen zu den Abweichungen der einzelnen Versuche von diesem Mittel logisch zu verwerthen. Dabei ergab sich denn in der Anwendung der entwickelten Grundsätze auf viele bisher sehr geschätzte Untersuchungen, dass die Versuchsreihen dieser Untersuchungen überhaupt kein wissenschaftliches Resultat ergaben, weil die einzelnen Beobachtungen zu grosse Verschiedenheiten zeigten, um das arithmetische Mittel mit genügender Wahrscheinlichkeit als Produkt des zu untersuchenden Einflusses erscheinen zu lassen. Gegen diese höchst verdienstvolle und von mathematischer | Seite durchaus nicht angefochtene Arbeit erhob sich nun Widerspruch von Sei-
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ten einiger namhafter Mediciner, und dieser Widerspruch förderte eben die seltsamen Urtheile zu Tage, die wir hier glauben erwähnen zu müssen. Vierordt nämlich bemerkte zu der Abhandlung, die er im Allgemeinen wohl billigte, »dass es ausser der rein formalen, mit einer gewissen mathematischen Schärfe beweisenden Logik des Wahrscheinlichkeitscalculs in vielen Fällen noch eine Logik der Thatsachen selbst giebt, die, in rechter Weise angewandt, einen kleineren, oder selbst sehr grossen Grad von Beweiskraft für den Mann von Fach besitzt.« Der bestechende, aber doch im Grunde höchst unglücklich gewählte Ausdruck »Logik der Thatsachen« fand bei Manchen Anklang, denen die schneidende Schärfe der mathematischen Methode unbequem sein mochte; er wurde jedoch von Prof. Ueberweg, einem Logiker von eminenter Befähigung zur Untersuchung solcher Fragen (Archiv für pathol. Anat. XVI.), auf ein sehr bescheidnes Maass der Berechtigung zurückgeführt. Ueberweg zeigte überzeugend, dass das, was man etwa als »Logik der Thatsachen« bezeichnen könne, in vielen Fällen als Vorstufe der strengeren Untersuchung einen Werth haben möge, »etwa so, wie die Abschätzung nach dem Augenmaass, so lange noch die mathematisch strenge Messung unmöglich ist«; dass aber nach richtiger Durchführung der Rechnung von einem durch die Logik der Thatsachen ermittelten abweichenden Resultat nicht mehr die Rede sein könne. In der That ist jenes unmittelbare Bewusstsein, welches der Fachmann während der Versuche erhält, grade so gut dem Irrthum ausgesetzt, wie jede beliebige Bildung eines Vorurtheils. Wir haben weder Veranlassung zu bezweifeln, dass sich während des Experimentirens solche Ueberzeugungen bilden; noch anzunehmen, dass ihnen mehr Werth zuzuschreiben ist als der Bildung von Ueberzeugungen auf nicht wissenschaftlichem Wege überhaupt. Das wahrhaft Beweisende in den exacten Wissenschaften ist eben nicht der materiale Vorgang, das Experiment in seiner unmittelbaren Einwirkung auf die Sinne, sondern die ideelle Zusammenfassung der Resultate. Es besteht aber unläugbar unter vielen Forschern, und besonders bei den Physiologen, die Neigung, das Experiment selbst, nicht seine logisch-mathematische Deutung als das Wesentliche der Forschung zu betrachten. Daraus ergiebt sich denn leicht der Rückfall in die grösste Willkür von Theorieen und Hypothesen; denn die materialistische Idee eines ungestörten Verkehrs zwischen den Gegenständen und unsern Sinnen
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widerspricht der menschlichen Natur, die allenthalben, selbst in die scheinbar unmittelbarste Thätigkeit der Sinne, die Wirkungen des Vorurtheils einzuschieben weiss. Dass diese eliminirt werden, ist ja grade das grosse Geheimniss aller Methodik in den exacten Wissenschaften, und es ist dabei völlig gleichgültig, ob es sich um Fälle handelt, in welchen man mit Durchschnittswerthen arbeitet, oder um solche, in welchen schon der einzelne Versuch von Bedeutung ist. Der Durchschnittswerth dient ja zunächst nur, um die objectiven Schwankungen zu eliminiren; damit nun aber auch die subjectiven Fehler vermieden werden, ist die allererste Vorbedingung die, dass für den Mittelwerth | selbst der wahrscheinliche Fehler bestimmt werde, welcher eben genau den Spielraum ungerechtfertigter Deutungen bezeichnet. Erst wenn der wahrscheinliche Fehler klein genug ist, um ein Resultat überhaupt als zulässig zu erachten, steht die Beobachtungsreihe als Ganzes auf demselben logischen Boden, wie ein einzelnes Experiment auf Gebieten, für welche die Eliminirung objectiver Schwankungen durch einen sichern Mittelwerth der Natur der Sache nach nicht erforderlich ist. Wenn z. B. Zweck eines Experimentes ist, das Verhalten eines neu entdeckten Metalls zum Magneten zu prüfen, so wird bei Anwendung aller üblichen Vorsichtsmassregeln und guter Apparate schon das einzelne Experiment beweisen, indem die Erscheinung, um welche es sich handelt, leicht wiederholt werden kann, ohne dass die kleinen Ungleichheiten in der Stärke der Wirkung, die immer vorhanden sein werden, einen Einfluss auf den Satz ausüben, den man beweisen will.« »Hiernach ist denn auch die etwas behutsamere Polemik zu beurtheilen, welche Voit in seinen »Untersuchungen über den Einfluss des Kochsalzes, des Kaffees und der Muskelbewegungen« (München 1860) gegen Radicke geführt hat. Er fi ndet nämlich bei seinen eignen Untersuchungen oft Ungleichheiten der einzelnen Beobachtungswerthe, welche nicht als zufällige Schwankungen, sondern vielmehr als durch die Natur des Organismus bedingte und mit Regelmässigkeit eintretende Ungleichheiten zu betrachten seien; indem z. B. der dem Experiment unterworfene Hund bei ganz derselben Fleischnahrung erst eine geringere und dann eine grössere Menge Harnstoff ausscheidet, und umgekehrt beim Fasten. Wo aber die Vermuthung solcher in der Natur der Sache liegenden Ungleichheiten vorliegt, da ist es so durchaus
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Der Materialismus und die exacte Forschung
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selbstverständlich, dass man nicht mit Mittelwerthen operirt, dass es schwer zu begreifen ist, wie dieser Fall überhaupt gegen Radicke angewandt werden konnte. Ob aber nun, wie Voit beansprucht, in diesem Falle jedem einzelnen Versuch der Werth eines Experimentes beizulegen ist, hängt durchaus, wie bei jedem Experiment, von seiner Wiederholbarkeit unter gleichen Umständen ab. Bei der Wiederholung muss sich dann auch erst zeigen, ob das, was bewiesen werden soll, bei jedem einzelnen Versuch klar genug sich darstellt, oder ob eine ganz anders combinirte Versuchsreiche anzustellen ist, aus welcher die Mittelwerthe zu ziehen sind.« »Wenn nämlich bei der ersten Versuchsreiche sich die Werthe a, b, c, d, … ergeben, welche statt blosser Schwankungen vielmehr einen bestimmten Fortschritt zeigen, so ist, um diesen zu constatiren, ein zweiter Versuch erforderlich, welcher die Werthe a1, b1, c1, d1, … ergeben mag. Zeigt sich dann der Fortschritt deutlicher wieder und will man weiter nichts, als ihn ganz im Allgemeinen constatiren, so mag es sein Bewenden haben. Will man aber numerisch genaue Resultate, und die Uebereinstimmung ist nicht vollständig, so bleibt nichts übrig, als mit einer dritten Reihe a2, b2, c 2, d 2, …. fortzufahren, und so weiter bis a n, bn, c n, d n, … wo dann sich von selbst ergiebt, dass nun die Werthe a1, a 2, a3 …. a n, und hinwieder b1, b2, b3 …. bn zu combiniren sind. Auf diese Combinationen wird dann aber die ganze | Strenge der von Radicke aufgestellten Methode Anwendung erleiden müssen.«
Carl von Nägeli Ueber die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss*1 Hochgeehrte Versammlung! Mein heutiges Thema wurde vor einigen Jahren bei der Zusammenkunft in Leipzig 1872, von Herrn Prof. Du Bois Reymond in ausgezeichneter Weise besprochen. Wenn ich den nämlichen Gegenstand wieder aufnehme, so geschieht es, weil ich denselben von einem etwas verschiedenen und umfassenderen Gesichtspunkte aus betrachten möchte. Auch in Form und Sprache will ich mir eine Abweichung von den mannigfaltigen bisherigen Behandlungen erlauben. Der Gegenstand in seiner Allgemeinheit verleitet leicht zu Streifzügen auf das philosophische Gebiet und zu der entsprechenden Ausdrucksweise. Ich werde mich einer möglichst einfachen und nüchternen Sprache bedienen, und nichts anderes voraussetzen als die Kenntniss der elemen | tarsten Erscheinungen in den verschiedenen Gebieten der Natur. In allgemeinen Dingen wird ja der Ausdruck stets um so einfacher und
* In: Amtlicher Bericht ueber die Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte, Bd. 50 (1877), 25–41. 1 Dieser Vortrag musste einen der Vorträge des Programms, für welche auswärtige Mitglieder aufgefordert worden, ersetzen. Am Schlusse des Sommersemesters machte Herr Prof. Tschermak die Anzeige, dass er verhindert sei, nach München zu kommen. In Folge dessen erhielt der Verfasser von den Geschäftsführern die Aufforderung, in die Lücke einzutreten. Derselbe war im Begriffe dringende Geschäfte zu erledigen und nachher eine Reise in die Alpen anzutreten. Der Vortrag trägt die Spuren seines Ursprungs, indem auf einer Gebirgsreise weder Gelegenheit, noch die nöthige Sammlung zu einer sorgfältigeren Ausarbeitung gegeben sind. v.Nägeli.
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verständlicher, je mehr man sich der Klarheit und damit auch der Wahrheit nähert. Ehe ich den Gegenstand selbst in Angriff nehme, scheint es zweckmässig, kurz der verschiedenen Arten zu gedenken, wie die Frage über die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss von den Naturforschern meistens aufgefasst und beantwortet wird. Es ist eine unter den sogenannten Praktikern weit verbreitete Ansicht, dass eine sichere und bleibende Erkenntniss natürlicher Erscheinungen überhaupt unmöglich sei. Dieselben wissen, dass ihre Systeme und Meinungen bisher keinen Bestand hatten, und sie denken sich, dass die wissenschaftlichen Theorien überhaupt nur Versuche seien, sich der unerreichbaren Wirklichkeit zu nähern, Versuche, welche mit den Anschauungen der Zeit Inhalt und Ausdruck verändern. Diess ist augenscheinlich keine grundsätzliche Ansicht, sondern die durch den Misserfolg hervorgerufene Verzweiflung, die nothwendige Folge der falschen Methode und der naturwissenschaftlichen Unfähigkeit. Der Praktiker verlässt sich angeblich auf seine Erfahrung. Diese aber kommt auf folgende Weise zu Stande. Bei jeder Naturerscheinung sind verschiedene, oft zahlreiche Ursachen und begleitende Umstände betheiligt. Die Aufgabe des Naturforschers ist es, zu ermitteln, was jede dieser Ursachen und Umstände bewirkt; sie kann in den meisten Fällen durch Beobachtung allein nicht gelöst werden. Der Praktiker greift nun irgend eine Ursache oder einen Umstand heraus, der ihm gerade in die Augen springt und findet darin den Grund der Erscheinung; diess nennt er seine Erfahrung. Es ist daher begreiflich, dass die Praktiker unter einander verschiedener Ansicht über die nämliche Erscheinung sind, dass ihre Meinungen das Gepräge der wissenschaftlichen Epoche tragen und mit der Zeit wechseln. Es ist ebenfalls begreiflich, dass die auf sogenannte Erfahrung sich berufenden Theorien in denjenigen Gebieten noch ihre üppigsten Blüthen treiben, wo die Erscheinungen
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am verwickeltsten sind, in der organischen Morphologie, in der Physiologie und Pathologie. Das Problem einer Naturerscheinung ist eine algebraische Gleichung mit vielen unbekannten Grössen. Der Praktiker sieht sich die Gleichung an, und versucht die Lösung derselben, indem er für die eine oder andere Unbekannte einen meist grossen und entscheidenden Werth einsetzt; die Probe der Richtigkeit macht er nicht. – Es erfordert nicht viel zur Einsicht, dass auf diesem Wege allerdings die Lösung und damit die Erkenntniss in Ewigkeit nicht erreicht wird. Die Lösung einer Gleichung mit vielen Unbekannten ist nur möglich, wenn man dazu ebenso viele Gleichungen zu gewinnen weiss, in denen die nämlichen Unbekannten enthalten sind. Da diess bei Naturerscheinungen gewöhnlich nicht möglich ist, so sucht man sich Gleichungen zu verschaffen, in denen nur eine unbekannte Grösse vorkommt. Diess geschieht durch den wissenschaftlichen Versuch (nicht durch den sogenannten Versuch der Praktiker), bei welchem alle unbekannten Grössen bis auf eine einzige entfernt und dadurch der Werth und die Wirkung dieser einen sicher ermittelt werden. Schon längst hat die Physik den Weg des wissenschaftlichen Experiments eingeschlagen. Die Physiologie hat denselben erst in neuerer Zeit allgemeiner als den richtigen erkannt. Auf diesem zwar mühsamen und zeitraubenden, aber einzig sicheren und fördernden Wege werden allerdings nicht grosse Gebäude von Systemen aufgeführt, die nur das Schicksal haben könnten, bald wieder zusammenzustürzen; – sondern es werden bloss einzelne, an und für sich vielleicht unscheinbare Thatsachen gewonnen, die aber für immer ihren Werth bewahren und zur Auffindung neuer Thatsachen befähigen. So vermehrt sich der Stock der erkannten Thatsachen zwar langsam aber stetig. Eine Schnecke, die den geraden Weg nach ihrem Ziele einschlägt, kommt vorwärts, indess die Heuschrecke mit ihren Kreuz- und Quersprüngen auf der Stelle bleibt. So beweist die wissenschaftliche Empirie den praktischen Empi-
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rikern durch die That, dass vermittelst der exacten Methode sichere und bleibende Erkenntnisse der Naturerscheinungen gewonnen werden können. __________________ Viele methodische Naturforscher, welche auf exactem Wege den Stock der feststehenden Thatsachen vermehren, geben auf die Frage nach den Grenzen der Naturerkenntniss, indem sie eine grundsätzliche Lösung für unzulässig halten, bloss die thatsächliche Antwort: »Der Glaube beginnt immer da, wo das Wissen aufhört.« Dabei verfolgen sie diesen Gedankengang. Die Menschheit tritt an die Gesammtheit der Natur heran. Ihre Einsicht bewältigt durch Forschung und Nachdenken stets neue Gebiete. So ist beispielsweise die Jetztzeit in der Erkenntniss der Natur viel weiter vorgedrungen als Mittelalter und Alterthum, und die europäische Cultur ist der übrigen Menschheit weit voran. Mit der fortschreitenden geistigen Arbeit wird also das Reich des Wissens immer umfangreicher, und das Reich, wo wir uns mit dem Glauben begnügen müssen, immer mehr beschränkt. Diese Auffassung hat einen unverkennbaren Werth in gewisser Beziehung. Sie gibt uns den Massstab für die Stufe, welche die naturwissenschaftliche Bildung im Allgemeinen in jedem Jahrhundert erreicht hat, und ebenso den Massstab im Einzelnen für die verschiedenen Menschenraçen und Völker, | für verschiedene Klassen eines Volkes und endlich für jedes einzelne Individuum. Es gewähren solche Erhebungen ebenso grosses wissenschaftliches Interesse für den Geschichtsforscher und Anthropologen, als praktisches Interesse für den Theologen, den Politiker und selbst für eine Menge von Berufsarten. Der Satz, dass unser Glaube da beginne, wo das Wissen aufhöre, ist eine thatsächliche Lösung für bestimmte Zwecke. Damit ist unser Interesse nicht befriedigt. Mit besonderer Theilnahme wenden wir uns der theoretischen Seite des Problems
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zu. Wir wünschen zu wissen, ob die Grenze, wo das menschliche Wissen Halt machen muss, überhaupt bestimmbar sei oder nicht, – wenn ja, wie weit die Erkenntniss überhaupt in die Natur einzudringen vermöge, wie viel die Menschheit von der Natur wissenschaftlich zu begreifen vermöchte, wenn sie eine ungemessene Zeit, sagen wir geradezu eine Ewigkeit, sich mit Naturwissenschaften beschäftigte und wenn ihr dazu alle denkbaren Hülfsmittel zu Gebote ständen, – welches also die Schranken seien, welche die wissenschaftliche Erkenntniss der Natur niemals und unter keinen Bedingungen zu überschreiten vermag, – welches die grundsätzliche Grenze zwischen dem Gebiete des Wissens und dem Gebiete des Glaubens sei. Die strenge Untersuchung dieser Frage verdient um so mehr wiederholt in Angriff genommen zu werden, als bekanntlich von zwei entgegengesetzten Seiten mit vollkommener Bestimmtheit die absolute Herrschaft des menschlichen Geistes über die Natur in Anspruch genommen wird, – mit abnehmender Energie von der naturphilosophischen, mit zunehmender Energie von der materialistischen Geistesrichtung. Jene wähnt, die formale Natur aus sich construiren zu können, und das Naturerkennen besteht für sie in nichts anderem als darin, für die construirten abstracten Begriffe die concreten Naturerscheinungen aufzusuchen, – wobei ihr freilich in keinem Punkte die Selbsttäuschung erspart bleibt, die Begriffe nach Massgabe der sinnlichen Wahrnehmungen, statt aus sich zu construiren. Diese lässt nichts Anderes als Kraft und Stoff in Zeit und Raum gelten und es erscheint ihr daher eine vernunftgemässe Annahme, dass der aus Kraft und Stoff aufgebaute Mensch die aus den gleichen Factoren zusammengesetzte Natur bewältige. Beide, die naturphilosophische und die materialistische Richtung stellen den Menschen auf eine für sein Selbstbewusstsein sehr schmeichelhafte Höhe; – sie erklären ihn zum Herrn der Welt, zwar nicht zum wirklichen Herrn, der die Welt macht, aber doch zum eingebildeten Herrn, der das Werk des wirklichen Herrn be-
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greift. – Können wir diese Herrscherrolle* mit Grund beanspruchen? Diese Frage ist öfter und von verschiedenen Standpunkten aus zu beantworten versucht worden wohl am besten von meinem Vorgänger in diesem Kreise, von Du Bois Reymond in der vielbesprochenen und vielfach missverstandenen Rede »Ueber die Grenzen des Naturerkennens.« Ich werde nur diese letztere Antwort berücksichtigen, welche in geistreicher Weise und in bilderreicher poetischer Sprache die Edelsteine der Gedanken mit den schönsten Redeblumen verziert und umhüllt. Es wäre nützlich gewesen und hätte Manchen, der nicht so leicht den Kern aus der Schale löst, auf den richtigen Weg gewiesen, wenn Ergebniss und Begründung in einigen kurzen Sätzen zusammengefasst worden wären. Der Redner will, gleich einem Welteroberer der alten Zeit an einem Rasttage, die wahren Grenzen des unermesslichen Reiches, welches die weltbesiegende Naturwissenschaft ihrer Erkenntniss unterworfen hat, klar vorzeichnen und kommt zu diesen drei Schlüssen: 1) Naturerkennen ist Zurückführen eines Naturvorganges auf die Mechanik der einfachen oder untheilbaren Atome. 2) Atome in diesem Sinne gibt es nicht und daher auch überhaupt kein wirkliches Erkennen. 3) Wenn aber auch die Welt aus der Mechanik der Atome erkannt werden könnte, so vermöchten wir doch Empfindung und Bewusstsein nicht aus derselben zu begreifen. Es dürfte wohl das allgemeine Verständniss wesentlich erleichtert haben, wenn diese Ergebnisse sich nicht als Grenzen des Naturerkennens, sondern als Nichtigkeit oder Unmöglichkeit des Naturerkennens eingeführt hätten. Denn, da der Redner nicht über die Negation hinausgeht, so kann die erkennende Naturwissenschaft, wenn ihr das Reich, über das sie gebietet, mangelt, auch die Grenzen desselben nicht abstecken, – und wenn ihr sogar die Einsicht in die materiellen Vorgänge für immer abgeht, so verschlägt es ihr, als einer depossedirten Herrscherin wenig, ob sie bei vorausgesetzter Herr-
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schaft auch Ansprüche auf das geistige Gebiet erheben könnte. Man kann mit den einzelnen Gedanken von Du Bois Reymond vollkommen einverstanden sein und doch die Ueberzeugung haben, dass sie nicht vollständig und umfassend genug sind, um die naturwissenschaftliche Erkenntniss nach allen Seiten hin abzugrenzen, dass sie in ihrer Unvollständigkeit zu falschen und mit dem naturwissenschaftlichen Bewusstsein im Widerspruche stehenden Folgerungen führen, und dass es wünschbar ist, die Frage nicht bloss nach der negativen Seite zu behandeln, sondern zu untersuchen, ob nicht der menschliche Geist zu naturwissenschaftlicher Erkenntniss befähigt sei, von welcher Beschaffenheit und in welchem Umfange? __________________ Die Lösung der Frage: In wie fern und wie weit vermag ich die Natur zu erkennen? wird offenbar durch Dreierlei bedingt, durch die Beantwortung von drei Theilfragen: 1) Die Beschaffenheit | und Befähigung des Ich, 2) die Beschaffenheit und Zugänglichkeit der Natur, und 3) die Forderung, welche wir an das Erkennen stellen. Es sind also Subject, Object und Copula bei der Lösung betheiligt. Man möchte vielleicht eine solche Trennung für überflüssig, selbst für unstatthaft halten, weil ja das Erkennen des Objects durch das Subject ein untheilbarer Process sei. Indessen ist sie doch richtig, weil die Beurtheilung bald den einen bald den andern Factor mehr in den Vordergrund rückt, und nützlich, weil sie eine erschöpfendere Behandlung fordert. Die Schwierigkeiten, die sich für das Erkennen mit Rücksicht auf das Subject oder das Object ergeben, treten selbst am Deutlichsten hervor, wenn wir den andern Factor durch die Annahme, dass er keine Schwierigkeit darbiete, ganz bei Seite schaffen. Was die Befähigung des Ich betrifft, die natürlichen Dinge zu erkennen, so ist dafür die unzweifelhafte Thatsache entscheidend, dass, mag unser Denkvermögen wie immer beschaf-
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fen sein, uns nur die sinnliche Wahrnehmung Kunde von der Natur giebt. Wenn wir nichts sehen und hören, nichts riechen, schmecken und betasten könnten, so wüssten wir überhaupt nicht, dass etwas ausser uns ist, noch auch dass wir selber körperlich sind. Es besteht also für die Richtigkeit unserer Vorstellungen immer die Bedingung, dass unsere äusseren und inneren Sinne richtig berichten. Unsere Erkenntniss ist nur wahr, soferne die sinnliche Wahrnehmung und die innere Vermittelung wahr sind. Dass aber Beide zuletzt auch zur objectiven Wahrheit führen, dafür besteht eine unendlich grosse Wahrscheinlichkeit desswegen, weil die Irrthümer, die der Einzelne oder die Gesammtheit begeht, schliesslich stets als solche erkannt und nachgewiesen werden, und weil die Naturwissenschaften, je weiter sie fortschreiten, immer mehr die scheinbaren Widersprüche zu beseitigen und Alles unter einander in Uebereinstimmung zu bringen wissen. Halten wir uns in dieser Beziehung für beruhigt, so erhebt sich die Frage, in welcher Ausdehnung und in welcher Vollständigkeit die Sinne uns Kunde von den Naturerscheinungen geben. Rücksichtlich der Ausdehnung darf bloss an die Schranken erinnert werden, um sie Jedermann klar vor die Seele treten zu lassen. In der Zeit ist uns nur die Gegenwart, und im Raume nur Dasjenige zugänglich, was unseren eigenen räumlichen Verhältnissen entspricht. Wir können unmittelbar nichts von Dem bemerken, was in der Vergangenheit war und in der Zukunft sein wird, nichts von Dem, was im Raume zu entfernt ist und was eine zu grosse oder zu kleine Ausdehnung hat. Rücksichtlich der Vollständigkeit der sinnlichen Wahrnehmungen besteht eine andere Schranke, an die man gewöhnlich nicht denkt, und auf die ich etwas näher eintreten muss. Die wissenschaftliche Zergliederung ergiebt uns Folgendes: In der Gesammtheit von kraftbegabten Stoffen, welche wir die Welt nennen, steht jedes Stofftheilchen durch alle ihm eigenthüm-
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lichen Kräfte mit allen anderen in Beziehung; es wird von allen beeinflusst und wirkt seinerseits auf alle ein, natürlich nach Massgabe der Entfernungen. Und wie das einzelne Stofftheilchen verhält sich selbstverständlich eine Vereinigung von solchen; die Wirkung, die sie empfängt und ausübt, ist die Summe der Wirkungen aller einzelnen Theilchen. Der Krystall, die Pflanze, das Thier, der Mensch empfindet die Anwesenheit aller Stofftheilchen, jedes einzelnen für sich und jeder Vereinigung von solchen, und zwar mit Rücksicht auf alle Kräfte, die denselben innewohnen, und in Folge dessen mit Rücksicht auf alle Bewegungen, welche dieselben ausführen. Aber diese Empfindungen sind in ihrer unendlichen Mehrzahl so schwach, dass sie als unmerklich vernachlässigt werden können. Dem menschlichen Organismus steht also theoretisch die Möglichkeit offen, von allen Erscheinungen in der Natur körperliche Wahrnehmungen zu empfangen. Wie gestaltet sich aber die Sache in Wirklichkeit? welche Eindrücke sind so mächtig, dass sie für uns bemerkbar werden, und welche gehen als zu geringfügig für uns verloren? Unter den uns bekannten Wesen hat der Mensch mit den höheren Thieren Das voraus, dass einzelne Theile sich zu Sinneswerkzeugen ausgebildet haben, welche für bestimmte Naturerscheinungen sehr empfindlich sind. Diese Sinnesorgane haben sich im Laufe zahlreicher auf einander folgender Arten und zahlloser Generationen innerhalb jeder einzelnen Art von unscheinbaren Anfängen aus auf hohe Stufen vervollkommnet. Der geniale Gedanke Darwin’s, dass in der organischen Natur nur solche Einrichtungen zur Ausbildung gekommen sind, welche dem individuellen Träger Nutzen gewähren, ist so einfach, so vernunftgemäss und so sehr in Uebereinstimmung mit aller Erfahrung, dass die hier allein competente Physiologie unbedingt zustimmt, und sich höchstens verwundert, dass nicht schon längst ein Columbus dieses physiologische Ei festgestellt hat.
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Demgemäss entspricht der Grad der Vollkommenheit, zu dem sich jedes Sinneswerkzeug ausgebildet hat, genau dem Bedürfnisse, und es gibt keines, in welchem der menschliche Organismus nicht von irgend einer Thierspezies sich weit übertroffen sähe, wenn derselben die ausserordentliche Feinheit einer besonderen Sinneswahrnehmung zur Bedingung des Daseins wurde. – Demgemäss hat aber auch der menschliche und der thierische Organismus nur für diejenigen äusseren Einwirkungen Sinnesorgane ausgebildet, welche seine Existenz im günstigen oder ungünstigen Sinn erfolgreich treffen. | Wir haben beispielsweise ein feines Gefühl für die Temperatur; es ist für unser Bestehen nothwendig, wir könnten sonst, ohne es zu ahnen, durch Kälte oder Hitze zu Grunde gehen. Wir haben ein feines Gefühl für das Licht; es gibt uns die beste und schnellste Kunde von allen Gegenständen, die uns umgeben, und die uns Schaden oder Nutzen bringen können. Dagegen haben wir kein Gefühl für die uns umgebende Electrizität. Während wir die Zu- und Abnahme der Wärme und des Lichtes wahrnehmen, wissen wir nicht, ob die Luft, in welcher wir athmen, freie Elektrizität enthält oder nicht, ob diese Elektrizität positiv oder negativ ist. Wenn wir den Telegraphendraht berühren, spüren wir nicht, ob die Theilchen desselben elektrisch in Ruhe oder in Bewegung sich befinden. Es hatte keinen Nutzen, dass der Sinn für Elektrizität in den höheren Thieren und im Menschen besonders ausgebildet wurde, weil es für die Spezies gleichgültig ist, ob jährlich einige Individuen vom Blitze erschlagen werden oder nicht. Würde diese Gefahr alle Individuen täglich bedrohen, so hätte die Empfindung für Elektrizität, welche die niedersten Thiere, gerade so wie die Empfindung für das Licht und die Wärme, in den ersten Anfängen besitzen, sich nothwendig weiter ausgebildet. Wir würden dann durch ein besonderes Sinnesorgan die Nähe einer in elektrischer Spannung befindlichen Substanz bemerken und dem Blitzschlage entfliehen können.
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Wir würden geringe Veränderungen des elektrischen Zustandes, schwache elektrische Ströme in unserer Nähe wahrnehmen und auch die Geheimnisse des Telegraphendrahtes abzufangen vermögen. Der Mangel eines solchen Organs hätte leicht die Ursache sein können, dass wir von der Elektrizität nichts wüssten. Wir können uns die Atmosphäre der Erdkugel ganz gut ohne Blitz und Donner denken. Diese grossen elektrischen Entladungen haben uns zur Elektrizitätslehre verholfen. Wenn sie zufällig mangelten, wenn überdem einige ganz zufällige Erfahrungen, welche eine durch Reibung erzeugte anziehende oder abstossende Kraft offenbarten, nicht gemacht worden wären, so hätten wir vielleicht keine Ahnung von der Elektrizität, keine Ahnung von derjenigen Kraft, welche in der unorganischen und organischen Natur wohl die grösste Rolle spielt, welche die chemische Verwandtschaft wesentlich bedingt, welche bei allen moleculären Bewegungen in den organisirten Wesen wohl entscheidender eingreift als irgend eine andere Kraft, und von welcher wir die wichtigsten Aufklärungen über physiologisch und chemisch noch räthselhafte Vorgänge erwarten. Unsere Sinne sind eben nur für die Bedürfnisse der körperlichen Existenz, nicht aber dafür organisirt, dass sie unser geistiges Bedürfniss befriedigen, dass sie uns Kenntniss von allen Erscheinungen der Natur verschaffen und uns darüber belehren sollen. Wenn sie zugleich diese Function übernehmen, so geschieht es nur nebenbei. Wir können uns also nicht darauf verlassen, dass die sinnlichen Wahrnehmungen uns über alle Erscheinungen in der Natur Kunde geben. Wie wir auf die elektrischen Vorgänge, die in jedem Stofftheilchen ihren Sitz haben, gleichsam nur durch Zufall etwas erfahren haben, so ist es leicht möglich, selbst sehr wahrscheinlich, dass es auch noch andere Naturkräfte, noch andere moleculäre Bewegungsformen gibt, von denen wir keine sinnlichen Eindrükke bekommen, weil sie sich nie zu einer bemerkbaren Summe vereinigen, und die uns desshalb verborgen bleiben.
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Unser Vermögen, die Natur unmittelbar durch unsere Sinne wahrzunehmen, ist somit in zwei Beziehungen sehr beschränkt. Es mangelt uns wahrscheinlich die Empfindung für ganze Gebiete des Naturlebens, und so weit wir sie wirklich haben, trifft sie in Zeit und Raum nur einen verschwindend kleinen Theil des Ganzen. Freilich beschränkt sich unsere Naturerkenntniss nicht auf das sinnlich Wahrnehmbare. Wir können durch Schlüsse auch Kenntniss von dem bekommen, was die Sinne nicht erreichen. Der fernste Planet unseres Sonnensystems, der Neptun, war seiner Stellung, seiner Grösse und seinem Gewichte nach durch Rechnung bekannt, ehe die Astronomen ihn mit dem Fernrohr entdeckt hatten. Wir wissen, obgleich wir es auch mit den besten Mikroskopen nicht sehen, dass das Wasser aus kleinsten in Bewegung befindlichen Theilchen oder Molecülen besteht, und wenn es Zuckerwasser oder Salzwasser ist, so kennen wir auch genau das verhältnissmässige Gewicht und die verhältnissmässige Zahl der Wasser-, Zucker- und Salztheilchen, welche es zusammensetzen. Durch Schlüsse aus Thatsachen, die mit Hilfe der Sinne erkannt werden, gelangen wir zu ebenso sicheren Thatsachen, die sinnlich nicht mehr wahrnehmbar sind. Man könnte desshalb allenfalls die sanguinische Hoffnung hegen, dass von dem kleinen Gebiete aus, welches uns die Sinne aufschliessen, nach und nach das Gesammtgebiet der Natur durch den Verstand erobert werde. Aber diese Hoffnung kann niemals in Erfüllung gehen. Wie die Wirkung einer Naturkraft mit der Entfernung abnimmt, so vermindert sich auch die Möglichkeit der Erkenntniss, nach Massgabe, als die zeitliche und räumliche Entfernung wächst. Ueber die Beschaffenheit, die Zusammensetzung, die Geschichte eines Fixsterns letzter Grösse, über das organische Leben auf seinen dunkeln Trabanten, über die stofflichen und geistigen Bewegungen in diesen Organismen werden wir nie etwas wissen. In gleicher Weise vermindert sich die Möglichkeit, eine noch unbekannte Naturkraft, eine noch
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unbekannte Bewegungsform der kleinsten | Stofftheilchen zu erkennen, je weniger dieselbe ihrer Eigenthümlichkeit nach befähigt ist, zu einer grösseren Gesammtwirkung zusammen zu treten. Wir werden uns glücklich schätzen dürfen, wenn wir nur eine Ahnung davon erlangen. Die beschränkte Befähigung des Ich gestattet uns somit nur eine äusserst fragmentarische Kenntnissnahme des Weltalls. __________________ Gehen wir nun von der Betrachtung des Subjectes zu der des Objectes, der Beschaffenheit und Zugänglichkeit der Natur über. Die Schranken, welche die Natur selbst unserer Erkenntniss entgegensetzt, springen am deutlichsten in die Augen, wenn wir die hypothetische Annahme machen, der Mensch hätte seinerseits die vollkommenste Befähigung für die Naturerkenntniss. Diess wäre dann der Fall, wenn das Hemmniss von Zeit und Raum für ihn nicht bestände, wenn er jede Vergangenheit so gut beurtheilen könnte wie die Gegenwart, wenn der fernste Gegenstand ihm nicht mehr Schwierigkeit machte, als derjenige in seiner unmittelbaren Nähe, wenn er die grössten Fixsternsysteme und die kleinsten Atome eben so leicht übersehen würde, als einen Körper seiner eigenen Grösse, wenn er endlich mit so vollständigen Sinnen ausgerüstet wäre, dass alle Erscheinungen der Natur, alle Kräfte und alle Bewegungsformen von ihm unmittelbar empfunden würden. Eine in dieser Weise ausgestattete Menschheit wäre allenfalls im Stande, an die Lösung des berühmten Problems von Laplace zu gehen. Derselbe sagt: »Ein Geist, der für einen gegebenen Augenblick alle Kräfte, welche in der Natur wirksam sind, und die gegenseitige Lage der Wesen, aus denen sie besteht, kennte, wenn sonst er umfassend genug wäre, um diese Angaben der Analysis zu unterwerfen – würde in derselben Formel die Bewegungen der grössten Weltkörper und des leichtesten Atoms vereinigen. Nichts wäre ungewiss für ihn, und Zukunft wie Vergangenheit wäre seinem Blicke gegen-
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wärtig. Der menschliche Verstand bietet in der Vollendung, die er der Astronomie zu geben vermochte, ein schwaches Abbild solchen Geistes dar.« Aber auch ein so universeller Geist, wie Laplace ihn voraussetzt, würde die ihm gestellte Aufgabe nicht lösen können. Denn die andere Voraussetzung, von der Laplace nicht spricht, von der er aber stillschweigend ausgeht, ist die Endlichkeit der Welt nach allen Beziehungen, und diese ist nicht gegeben. Die Schwierigkeit, welche die Natur der menschlichen Erkenntniss entgegensetzt, ist ihre Endlosigkeit, Endlosigkeit des Raumes und der Zeit, und von Allem, was als nothwendige Folge dadurch bedingt wird. Die Natur ist räumlich nicht bloss unendlich gross; sie ist endlos. Das Licht legt in 1 Secunde eine Strecke von 42000 geographischen Meilen zurück; um die ganze uns jetzt bekannte Fixsternwelt zu durcheilen, bedürfte es nach wahrscheinlicher Schätzung 20 Millionen Jahre. Versetzen wir uns in Gedanken an das Ende dieses unermesslichen Raumes, auf den fernsten uns bekannten Fixstern, so würden wir nicht ins Leere hinausblicken, sondern es thäte sich ein neuer gestirnter Himmel vor uns auf. Wir würden glauben, wieder in der Mitte der Welt zu sein, wie jetzt die Erde uns als deren Centrum erscheint. Und so können wir in Gedanken den Flug vom fernsten Fixstern zum fernsten Fixstern endlos fortsetzen, und unser jetziger Sternenhimmel ist schliesslich gegenüber dem Weltall noch unendlich viel kleiner als das kleinste Atom im Vergleich zum Sternenhimmel. Wie mit dem Raum verhält es sich mit der Gruppirung im Raum, mit der Zusammensetzung, Organisirung und Individualisirung des Stoffes, welche das Object der beschreibenden oder morphologischen Naturwissenschaften ist. Jedes der uns bekannten Dinge besteht aus Theilen und ist selbst Theil eines grössern Ganzen. Der Organismus ist zusammengesetzt aus Organen, diese aus Zellen, die Zellen aus kleineren Elementartheilen. Indem wir weiter zerlegen, kommen wir bald zu
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den chemischen Molecülen und den Atomen der chemischen Elemente. Die letzteren widerstehen zwar zur Zeit noch der Scheidekunst, aber schon ihrer Eigenschaften wegen müssen sie als zusammengesetzte Körper angesehen werden. So können wir in Gedanken die Theilung weiter und endlos fortsetzen. In der That kann es keine physischen Atome im strengen Sinne des Wortes geben, keine Körperchen, die wirklich untheilbar wären. Alle Grösse ist ja nur relativ; der kleinste Körper, von dessen Dasein wir Kunde haben, das Theilchen des Licht- und Wärmeäthers wird beliebig gross für unsere Vorstellung, selbst unendlich gross, wenn wir uns daneben hinreichend klein denken. Wie die Theilbarkeit nicht aufhört, so müssen wir nach Analogie dessen, was wir im ganzen Bereiche unserer Erfahrung bestätigt finden, annehmen, dass auch die Zusammensetzung aus individuellen, von einander gesonderten Theilen nach unten sich endlos fortsetze. Ebenso sind wir genöthigt, eine endlose Zusammensetzung nach oben zu immer grösseren individuellen Gruppen vorauszusetzen. Die Weltkörper sind die Molecüle, welche sich zu Gruppen niederer und höherer Ordnungen vereinigen, und unser ganzes Fixsternsystem ist nur eine Molecülgruppe in einem unendlich viel grösseren Ganzen, das wir uns als einheitlichen Organismus und wieder nur als Theilchen eines noch grösseren Ganzen vorzustellen haben. | Wie der Raum nach allen Richtungen endlos ist, ist es die Zeit nach zwei Seiten; sie hat nicht begonnen und sie wird nicht aufhören. Die Bibel sagt: Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde, und die Geologie sagt: Im Anfang war die Welt eine gasförmige Masse, aus welcher sich die Weltkörper verdichteten. Aber dieser Anfang ist nur ein relativer, der Anfang einer Endlichkeit, und die Zeit, die seit diesem Anfang verfloss, ist nur ein Augenblick im Vergleich zur Ewigkeit vor demselben. Aus der Vereinigung von Zeit und Raum geht ein Reich von Erscheinungen hervor, welches neben den beschreibenden
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Naturwissenschaften den Inhalt der anderen Hälfte der Naturbetrachtung, der physikalischen und physiologischen Wissenschaften ausmacht. Der den Raum erfüllende Stoff ist nicht in Ruhe, sondern in Bewegung befindlich, und da die Stofftheilchen mit verschiedenen (anziehenden und abstossenden) Kräften auf einander einwirken, so setzt jeder sich bewegende Körper auch die anderen in Bewegung, vielmehr er verändert deren Bewegungen. Er giebt von seiner Bewegung und potentiellen Energie an andere ab, diese wieder an andere und so fort. Diess ist die Kette von Ursache und Wirkung, gleichfalls endlos, da sie für unsere Vorstellung weder mit einer ersten Ursache ihren Anfang nehmen, noch mit einer letzten Wirkung abschliessen kann. Die Natur ist überall unerforschlich, wo sie endlos oder ewig wird. Sie kann daher als Ganzes nicht erfasst werden, denn ein Process des Erkennens, welcher weder Anfang noch Ende hat, führt nicht zur Erkenntniss. – Desswegen erscheint auch das Problem von Laplace von vornherein als nichtig. Es ist zwar erlaubt, jede Voraussetzung zu machen, die aus irgend einem Grunde unmöglich, aber keine, die undenkbar ist. Undenkbar aber ist eine Formel, für welche selbst die einzuführenden Grössen mangeln, und welche, wären dieselben gegeben, nie zu Ende käme. Die Kenntniss aller Kräfte, welche für die Formel von Laplace gefordert wird, setzt voraus, dass die Körper bis in ihre letzten kraftbegabten Stofftheilchen zerlegt werden, was wegen der endlosen Theilbarkeit unmöglich ist. Es fehlen also die Elemente, aus denen die Formel sich zusammensetzen soll, die einfachen Naturkräfte; man kann mit dem Ansetzen der Formel nicht einmal beginnen, – und wenn man es könnte, so vermöchte man, wegen der räumlichen Endlosigkeit des Weltalls, dieselbe niemals fertig zu bringen. Du Bois Reymond hat bereits die erste Endlosigkeit als eine unüberwindliche Grenze bezeichnet; die andere wäre, könnte auch die erste überwunden werden, immer noch eine eben so unübersteigbare Schranke.
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Wenn die Formel von Laplace nur etwa das uns sinnlich bekannte Weltall oder auch ein unendlich viel grösseres (aber kein wirklich endloses) umfasste, und wenn in dieselbe etwa die Kräfte der uns bekannten chemischen Elemente und der supponirten Aethertheilchen oder auch noch viel kleinerer Stofftheilchen eingesetzt werden könnten, so vermöchte sie besonders für die Mitte des Systems und für die grösseren Erscheinungen vielleicht für sehr lange Zeiträume von der Gegenwart aus vor- und rückwärts auszureichen. Es müssten aber sofort einerseits von dem Umfange aus Störungen eintreten, welche zuletzt die Formel auch für die Mitte unbrauchbar machten; anderseits müssten die Störungen auch auf jedem einzelnen Punkte beginnen und, da sie sich fortwährend steigerten, schliesslich zu merklichen Ungenauigkeiten führen, weil ja die angenommenen »Atome« keine wirklichen Einheiten sind und weil die Resultirende, mit der jedes einzelne »Atom« als ein aus gesonderten Theilen zusammengesetzter Körper in die Gesammtheit eingreift, nicht constant bleibt, sondern mit der wechselnden Umgebung einen ebenfalls stetig wechselnden Werth annimmt. Immerhin brächte uns eine solche Formel, wie es die astronomische Berechnung wirklich thut, eine innerhalb gewisser Grenzen richtige, – eine praktische, aber keine grundsätzliche Lösung. Der Naturforscher muss sich wohl bewusst werden, dass seine Forschung nach allen Beziehungen innerhalb endlicher Grenzen gebannt ist, dass von allen Seiten das unerkennbare Ewige ihm ein kategorisches Halt gebietet. Dass diess nicht immer klar eingesehen, dass namentlich das unendlich Grosse und unendlich Kleine mit dem Endlosen und dem Nichts verwechselt werden, hat zu mehrfachen irrigen Vorstellungen geführt. Zu denselben gehören die Theorien über die physischen Atome im Kleinen, über Anfang und Ende der Welt im Grossen. Ich will nur von den letzteren sprechen. Man nimmt an, dass die Masse der Weltkörper im Anfang gasartig vertheilt gewesen sei; und Du Bois Reymond findet
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daran nur die eine Schwierigkeit: Wäre diese Materie, wie es theoretisch gefordert wird, ruhend und gleichmässig vertheilt gewesen, so wüsste er nicht, woher Bewegung und ungleiche Vertheilung gekommen. Seit unendlicher Zeit nun, d. h. seit jenem vorausgesetzten Anfange geht Verdichtung der Materie vor sich, erst zu Nebeln, dann zu feurig-flüssigen Tropfen, welche zu dunkeln Körpern erkalten. Wir befinden uns in der Gegenwart auf einem solchen erstarrten, nicht mehr leuchtenden Welttropfen. Nach den uns bekannten Naturgesetzen müssen die noch feurigen und die schon verdunkelten Weltkörper ihren Wärmevorrath mehr und mehr an den Weltenraum abgeben. Sie müssen später auf einander stürzen, und wenn auch dabei local wieder Erwärmung stattfindet, so dient dieselbe nur dazu, um den Erkältungsprocess im Grossen und Ganzen zu beschleunigen. Zuletzt werden sich die Weltkörper in eine dunkle, starre, eiskalte Masse vereinigen, auf der es keine Bewegung und kein Leben mehr gibt. | Diess ist das Ergebniss einer correcten physikalischen Betrachtung. Sie zeigt uns das trostlose Ende der bewegungsreichen und wechselvollen, der farbenglühenden und lebenswarmen Gegenwart. – In der That aber ist dieses Ergebniss nur die Folge unserer menschlich beschränkten Einsicht; es wäre nur dann eine logische Nothwendigkeit, wenn wir Alles wüssten und daher unser Wissen zu einem Schluss auf den Anfang und das Ende benutzen dürften. Da wir aber nur einen winzigen Theil des Weltalls übersehen und auch nur eine mangelhafte Kenntniss der Kräfte und Bewegungsformen in diesem winzigen Theil besitzen, so können zwar die Schlüsse rückwärts und vorwärts für gewisse allgemeine Verhältnisse vielleicht auf Billionen Jahre ohne merkbaren Fehler sein. Sie müssen aber mit der grösseren Zeitferne unsicherer und zuletzt ganz fehlerhaft werden. Es lässt sich diess besonders für die Vergangenheit sehr anschaulich machen. Das Sicherste, was wir von der Vergangenheit wissen, ist
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der feurig-flüssige Zustand, in dem sich einst unser Erdball befand, und wir ziehen daraus den naheliegenden Analogieschluss, dass auch die übrigen Planeten unsers Systems leuchtende Körper waren, wie es die Sonne zur Zeit noch ist. Von diesen Sonnen rückwärts gelangen wir durch weitere Schlüsse zu zusammengeballten Wolken, den Embryonen der späteren Sonnen, zu Wolkenringen und weiterhin zu der ziemlich gleichmässig vertheilten gasförmigen Masse, dem Anfangszustande, über den mit unserer jetzigen Einsicht nicht hinauszukommen ist. Diess Alles zeigt uns deutlich, dass wie auf der Erde ein steter Wechsel herrscht, auch der Himmel sich verändert. Jede Veränderung besteht in einer Summe von Bewegungen, und setzt voraus eine frühere Veränderung oder Summe von Bewegungen, aus der sie mit mechanischer Nothwendigkeit hervorging, und weiterhin eine von Ewigkeit her dauernde Kette von Veränderungen. So muss auch dem gasförmigen Zustande unsers Sonnensystems eine continuirliche, und endlose Reihe von Veränderungen vorausgegangen sein, und wenn unsere wissenschaftliche Einsicht uns nicht dazu führt, uns nicht einmal dazu berechtigt, so beweist sie damit nur ihre Mangelhaftigkeit. Aus der Ewigkeit der Veränderungen im Weltall müssen wir vielmehr schliessen, dass der ganze Entwickelungsprocess unsers Sonnensystems oder des ganzen Sternenhimmels von der ursprünglichen Gasmasse durch die kugligen Nebelmassen, feurigen und dunkeln Bälle nur kalten, dichten und starren Masse nur eine der zahllosen auf einander folgenden Perioden ist, und dass analoge Vorgänge ohne Ende vorausgegangen sind und nachfolgen werden. Nun ist uns zwar nach den jetzigen physikalischen Kenntnissen ganz begreiflich, dass eine sich verdichtende Gasmasse Wärme erzeugt und dass die heisse verdichtete Masse diese Wärme abgibt, bis sich ihre Temperatur mit der Umgebung, in unserem Falle mit dem kalten Weltenraume ausgeglichen hat. Aber es ist uns unbegreiflich, wie die
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feste Masse wieder gasförmig werden, wie sich die dazu nöthige, im Weltenraume vertheilte Wärme wieder sammeln soll. Es besteht hier eine Lücke in unseren Kenntnissen; sie lässt sich in verschiedener Weise denken. Nach der fast vollständigen Unwissenheit der Physik und Chemie über die Eigenschaften der chemischen Elemente und des Aethers wäre es möglich, dass bei hinreichender Verdichtung der Materie und Annäherung ihrer Theilchen Kräfte wirksam werden, von denen wir jetzt keine Ahnung haben und die vielleicht eine explosive Zersplitterung der festen Masse zum gasförmigen Zustande herbeiführten. – Es wäre ferner möglich, dass die Wärmemenge in dem endlosen Weltall (nicht in unserm gestirnten Himmel) ungleich vertheilt ist, dass es darin Gebiete giebt, die eine viel höhere, und solche, die eine viel tiefere Temperatur besitzen als unser gestirnter Himmel, dass im endlosen Weltenraume Wärmeströmungen wehen, wie Luftströmungen in unserer Atmosphäre, dass wir uns vielleicht seit Billionen Jahren in einem Strom von geringerer Temperatur befinden, in welchem die Erstarrungsvorgänge sich im Grossen vollziehen, wie im Kleinen an der Erdoberfläche bei Nordwind, und dass ein heisser Strom, der früher oder später über unsern Himmel dahinbraust, wieder eine gasförmige Vertheilung der Materie zu Stande bringt. Dieses Beispiel zeigt uns, dass wir unsere Erfahrungen über das Endliche auch nur zu Schlüssen innerhalb des Endlichen benutzen dürfen. Sowie der Mensch dieses Gebiet, das ihm seine Sinne eröffnen und das seinem Erkennen zugänglich ist, überschreiten und sich eine Vorstellung vom Ganzen machen will, so verfällt er dem Aberwitz. Entweder, er lässt das durch Anschauung und Nachdenken Gewonnene unberücksichtigt, dann geräth er in willkürliche und haltlose Phantasien; oder er geht consequent von den Gesetzen des Endlichen aus, dann langt er schliesslich bei ganz absurden Folgerungen an. Um Letzteres anschaulich zu machen, mag mir wieder das vorhin angeführte Beispiel dienen. Die uns bekannte Welt ver-
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ändert sich. Verfolgen wir diese Veränderung nach dem Gesetz der Causalität rückwärts in die Vergangenheit und vorwärts in die Zukunft, so ergeben sich, wenn wir uns auf den früher besprochenen physikalischen Standpunkt der Nebulartheorie stellen und das uns Bekannte als massgebend betrachten, nach beiden Zeitrichtungen Zustände, welche sich der vollkommenen Ruhe immer | mehr nähern, ohne dieselbe je vollständig zu erreichen. Wenn wir uns aber auf einen weiteren Standpunkt stellen und annehmen, dass Weltkörper und Weltkörpersysteme ohne Ende im Weltenraume entstehen und vergehen, so stehen uns wieder zwei Wege offen: entweder haben die auf einander folgenden Zustände, nach materialistischer Auffassung, den gleichen Werth; oder sie verändern, nach philosophischer Auffassung, ihren relativen Werth continuirlich, indem sie vollkommener werden, wobei das Weltall in der ewigen Vergangenheit der absoluten Unvollkommenheit (somit der Ruhe) und in der ewigen Zukunft der absoluten Vollkommenheit (somit wieder der Ruhe) immer näher kommen würde. – Alle drei Annahmen sind in gleichem Grade widersinnig. Die erste (physikalische) und dritte (philosophische) lassen die Welt von todter Ruhe erwachen und wieder zu solcher einschlafen. Die zweite (materialistische) verurtheilt sie zu ewiger Ruhe, denn eine gleichbleibende Veränderung bedeutet für die Ewigkeit nichts anderes als Ruhe. Nicht besser als mit der Zeit geht es uns mit dem Raum. Es ist ein nahe liegender Wunsch, sich das Weltganze als von endlicher räumlicher Ausdehnung zu denken und damit unserer Vorstellung zugänglich zu machen. Da aber der stofferfüllte Raum überall wieder an stofferfüllten Raum angrenzen muss, so kommen wir auf die absurde Folgerung, die endliche Welt grenze an ihrem Umfange überall an sich selber an. – Lassen wir aber dem Weltenraum die Endlosigkeit, die er nach räumlichen Begriffen haben muss, so folgen ohne Ende Weltkörper auf Weltkörper in verschiedener Grösse, verschiedener Zusammensetzung, verschiedenem Entwickelungszustande. Da nun
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Grösse, Zusammensetzung und Entwickelungszustände innerhalb endlicher Grenzen sich bewegen, so machen auch die möglichen Combinationen zwar eine nach sprachgebräuchlichem Ausdruck unendlich grosse, aber doch nicht endlose Zahl aus. Wenn diese Zahl erschöpft ist, müssen sich die gleichen Combinationen wiederholen. Wir können dagegen nicht aufkommen mit der Ueberlegung, dass Centillionen von Weltkörpern oder Weltkörpersystemen nicht genügen, um die Zahl der möglichen Combinationen voll zu machen. Denn Centillionen sind ja in der Endlosigkeit weniger als ein Tropfen Wasser im Ocean. – Wir langen somit bei der mathematisch richtigen, aber für unsere Vernunft abgeschmackten Folgerung an, dass unsere Erde, gerade so wie sie jetzt ist, im endlosen Weltall mehrfach, ja zahllos vorkomme und dass auch das Jubiläum, das wir feiern, auf vielen andern Erden jetzt gerade eben so begangen werde. Die logischen Folgerungen dieser Art lassen sich vervielfältigen. Die Beispiele genügen, um zu zeigen, dass unser endlicher Verstand nur endlichen Vorstellungen zugänglich ist und dass, wenn er noch so folgerichtig sich zu Vorstellungen über das Ewige erheben will, ihm die Schwingen versagen, und dass er, ein zweiter Icarus, ehe die sonnige Höhe erreicht ist, in die endliche und begriffsdunkle Tiefe zurückstürzt. __________________ Nachdem ich die Befähigung des Subjects und die Zugänglichkeit des Objects erörtert habe, handelt es sich noch um die Forderungen, welche an das Bindeglied, an das Erkennen zu stellen sind. Da alle Vorstellungen, welche wir von der Natur haben, uns durch die sinnliche Wahrnehmung vermittelt werden, so kann auch unser Erkennen nicht weiter gehen, als dass wir die wahrgenommenen Erscheinungen mit einander vergleichen und sie mit Rücksicht auf einander beurtheilen. Wenn eine besonders geartete Erscheinung nur einmal vorkäme, wenn wir
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beispielsweise die einzigen Organismen wären, so würde unsere Einsicht äusserst beschränkt sein; denn wir schöpfen ja die Kenntniss des menschlichen Organismus wesentlich aus dem Zusammenhalte mit allen andern organischen Wesen. – Die Vergleichung vieler Erscheinungen lässt uns eine Einheit oder einen Maasstab gewinnen, mit dem wir jede einzelne messen und bestimmen. Wir erhalten also eben so viele Maasse, als es sinnlich wahrnehmbare oder durch das Urtheil aus den sinnlichen Wahrnehmungen abziehbare Eigenschaften in der Natur gibt. Da diese Maasse endlichen Thatsachen entnommen sind, so haben sie auch nur einen relativen Werth, und unsere Erkenntniss bleibt auch aus diesem Grunde in der Endlichkeit befangen. Wir erkennen also eine Erscheinung, wir begreifen ihren Werth in Beziehung zu den übrigen Erscheinungen, wenn wir sie messen, zählen, wägen können. Wir haben eine klare Vorstellung von der Grösse des niedersten Pilzes, von welchem wir 2 bis 3 Millionen Individuen hinter einander legen müssen, um die Länge eines Meters voll zu machen, – von der Grösse des Elephanten, – der Erde, – unseres Sonnensystems, dessen Halbmesser etwa 622 Millionen geographische Meilen beträgt. Wir haben eine klare Vorstellung, von der Zeit, in welcher der Lichtstrahl die Schrift eines Buches, das wir lesen, in unser Auge führt, und die etwa den 800 Millionsten Theil einer Sekunde beträgt, – von der Lebensdauer des niedersten Pilzes, welcher im Brütkasten und im menschlichen Körper schon nach 20 Minuten von einer neuen Generation abgelöst wird, – von der Lebensdauer eines mehrtausendjährigen Eichbaums, – von den 500 Millionen Jahren, welche seit Entstehung der Organismen auf unserer Erde verflossen sind. Die Naturkörper sind aus Theilen zusammengesetzt; der Werth ihrer innern Beschaffenheit, ihrer Organisation wird genau bestimmt durch die Menge, Natur und Zusammenordnung der Theile. Diese geben uns also das Maass, nach dem wir das zusammengesetzte Ganze beurtheilen, mit dem wir |
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gleichsam seine Organisation messen. Die morphologischen oder beschreibenden Naturwissenschaften haben durch dieses Messen ihren wissenschaftlichen Inhalt. Die Chemie, die zur Zeit noch eine vorzugsweise morphologische Wissenschaft ist und die Zusammenordnung der Elementatome zu Verbindungen erforscht, und die Mineralogie, welche die gleichartige Lagerung der Molecüle zur Voraussetzung hat, stehen auf einer hohen Stufe der Ausbildung. Das allgemeine Maass für die Organismen finden wir in der Zelle, und weiterhin im Organ, das allgemeine Maass für die systematischen Einheiten der organischen Natur (für Varietäten, Arten, Gattungen) in den Individuen und den Generationen. Wir können aber nicht nur die verschiedenen Dinge mit einander vergleichen und durcheinander messen, sondern wir können auch ein System, eine einheitliche Gruppe von zusammengehörigen Dingen, in so fern sie sich verändert, in verschiedenen auf einander folgenden Zeiten mit sich selbst vergleichen und durch sich selbst messen. Die Erkenntniss der Veränderung ist vollendet, wenn der spätere Zustand als die nothwendige Folge des früheren, oder dieser als der nothwendige Vorgänger des späteren nachgewiesen, wenn einer aus dem andern construirt, wenn also die beiden Zustände in das Verhältniss von Ursache und Wirkung gebracht werden können. In den elementaren Gebieten des Stofflichen ist dieses ursächliche Verhältniss die mechanische Nothwendigkeit, welche für zwei auf einander folgende Zustände die gleiche Summe von Bewegung mit bestimmter Richtung (von lebendiger Kraft) und von potentieller Energie fordert. Die Astronomie nimmt unter den hieher gehörenden Wissenschaften den ersten Rang ein; an sie schliessen sich mehrere Disciplinen der Physik würdig an, besonders die mechanische Wärmelehre und die Optik. Die Physiologie oder die Physik des Organischen sucht in den Fussstapfen ihrer älteren Schwester auf einem viel verwickelteren und schwierigeren Gebiete vorzudringen.
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In den höheren Gebieten des Stofflichen lässt sich für das ursächliche Erkennen nicht mehr die Forderung dieser mechanischen Nothwendigkeit festhalten. Vielleicht gilt diess selbst für alle Gestaltung. Sogar die Entstehung der chemischen Verbindung und des Krystalls wird wohl nie mit aller Strenge sich als das nothwendige Ergebniss von bekannten Kräften und Bewegungen der Elementatome und der Molecüle darthun lassen. Noch viel weniger wird diess mit der Bildung der Zellen, mit dem Wachsthum der Organismen, mit der Fortpflanzung und der Vererbung der Merkmale der Fall sein. Dennoch lässt sich auch in diesen Gebieten mit einigem Rechte von ursächlichem Erkennen sprechen; nur sind die Elemente, von denen dasselbe ausgeht, nicht einfache Kräfte und Bewegungen, sondern deren sehr verwickelte Combinationen, die nicht weiter analysirt werden. Das ursächliche Erkennen wird seine Probe bestehen, wenn es ihm gelingt, mit derselben Sicherheit und Bestimmtheit künftige Ereignisse vorherzusagen, wie es die Astronomie thut. Andeutungen hiezu finden wir jetzt schon in der Chemie der Verbindungen und in der organischen Morphologie, indem es möglich ist, aus gewissen Entwickelungszuständen eines Organismus auf frühere oder spätere Zustände desselben zu schliessen. Und wir werden einmal, wenn die organischen Gesetze der noch so jungen Entwickelungsgeschichte des Individuums und der noch viel jüngeren Entwickelungsgeschichte der Species besser erforscht sind, nicht bloss von ontogenetischer und phylogenetischer Nothwendigkeit als von einer selbstverständlichen Voraussetzung sprechen, sondern dieselbe auch erkennen können. Man wird mir wohl einwenden, dass das ursächliche Erkennen in der Einsicht der Nothwendigkeit bestehe, wie diess in der Mechanik der Fall sei, aber nicht in Gebieten, wo man von unerforschten zusammengesetzten Dingen ausgehen müsse. Die Mechanik des Himmels ist gegründet auf die allgemeine Gravitation und die Centrifugalkraft, beides einfache, gradlinig wirkende Kräfte. Aber beides sind Annahmen, die bloss auf
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unserer Erfahrung beruhen und für die wir den Grund nicht kennen. Die Astronomie lässt uns nicht die Nothwendigkeit an und für sich, sondern nur unter der Voraussetzung von Erfahrungsthatsachen einsehen. Wenn wir für unser Begreifen die Forderung erheben wollten, dass uns das Warum klar sei, so gäbe es auch kein astronomisches und kein physikalisches Erkennen. Die nämliche Berechtigung wie letzteres hat das ursächliche Erkennen in den organischen Gebieten. Aus Erfahrung ist uns ein System von Kräften und Bewegungen bekannt, beispielsweise die Zelle. Wir setzen für dieses System gewisse allgemeine Thatsachen fest (wie es die Gravitation und die Centrifugalkraft für den Himmelsraum sind), und wir benutzen dieselbe für unsere weiteren Schlüsse. Die Einsicht in die Nothwendigkeit eines Wachsthumsprocesses besteht darin, dass derselbe als eine nothwendige Folge jener Thatsachen erkannt wird. Die Erkenntniss der natürlichen Dinge beruht also darauf, dass wir sie messen entweder durch einander oder durch sich selber. Ein anderer Weg der Betrachtung führt uns zu dem gleichen Ergebniss. Wir begreifen und beherrschen etwas vollständig, wenn wir es selbst schaffen, denn in diesem Falle sehen wir seinen Grund ein. Das einzige im Gebiete des Wissens, was wir, gestützt auf unsere sinnlichen Wahrnehmungen, vollbringen, ist die Mathematik. Der Inhalt dieser formellen Wissenschaft ist uns vollkommen klar, denn er ist ja das Product unseres Geistes. Wir können daher auch die realen Dinge sicher erkennen, so weit wir an ihnen mathematische Begriffe, Zahl und Grösse mit Allem, was | die Mathematik daraus ableitet, verwirklicht finden. Das Naturerkennen beruht also in der Anwendung des mathematischen Verfahrens auf die natürlichen Erscheinungen; einen Naturvorgang begreifen heisst gleichsam nichts anderes, als ihn denkend wiederholen, ihn in Gedanken hervorbringen. Indem ich die naturwissenschaftliche Erkenntniss als eine mathematische und zugleich als eine relative bezeichne, wel-
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che die Dinge jeweilen nach einem aus ihnen selbst abgeleiteten Maass beurtheilt, weiche ich wesentlich von meinem Vorgänger, Du Bois Reymond, ab. Derselbe stellt als Bedingung für das Naturerkennen auf, dass es gelinge, die Veränderungen der Körperwelt auf Bewegungen von Atomen, die durch deren von der Zeit unabhängige Centralkräfte bewirkt werden, zurückzuführen, oder mit andern Worten die Naturvorgänge in Mechanik der Atome aufzulösen. Indem Du Bois Reymond hiebei von der unbestreitbaren Forderung ausgeht, dass etwas Zusammengesetztes nur aus seinen Theilen zu erkennen ist, bleibt er jedoch nicht bei den endlichen und wirklichen Theilen stehen, sondern verfolgt die Theilung bis zu den für uns undenkbaren wirklichen Einheiten und stellt damit die Bedingungen für das unmögliche absolute Erkennen auf. Da es sich aber für uns nicht um göttliche, sondern um menschliche Erkenntniss handelt, so dürfen wir von dieser auch nicht mehr verlangen, als dass sie in jeder endlichen Sphäre bis zum mathematischen Begreifen vordringe, – und der Ausspruch von Kant, dass in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen sei, muss immer noch als richtig gelten. Wenn Du Bois Reymond die Analyse des Stoffes bis auf Atome mit einfachen Centralkräften fortsetzen will, so treibt er ein beliebtes Verfahren der neueren Physik und Physiologie zur äussersten Consequenz, und wenn er zeigt, dass dieses Verfahren nicht zur Erkenntniss führt, so bricht er den Ansprüchen auf ausschliessliche Wissenschaftlichkeit, welche dasselbe zuweilen erhebt, die grundsätzliche Spitze ab. Wenn Physik und physikalische Physiologie auf supponirte Atome, materielle Punkte, Volumelemente, die man sich unendlich klein denkt, zurückgehen, so ist dieser Versuch berechtigt, insoferne die wirklichen chemischen Molecüle so klein sind, dass man ohne Rechnungsfehler sich den Raum als continuirlich mit Materie erfüllt denken kann. Man kann beispielsweise an die Stelle eines aus zahlreichen Kohlenstoff-,
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Wasserstoff-, Stickstoff- und Sauerstoffatomen bestehenden Eiweissmolecüles ein Massendifferential dieser Verbindung einsetzen. Jedenfalls ist der Versuch nützlich, indem erprobt werden muss, wie weit eine solche Vorstellung für die mathematische Behandlung sich als brauchbar erweist, und indem aus dem Erfolg wieder rückwärts Schlüsse auf die Zusammensetzung des Stoffes gezogen werden können. Aber wir müssen uns vor der Meinung hüten, die nicht selten mit diesem Verfahren verbunden wird, als ob dasselbe allein Naturwissenschaft wäre und allein zur Erkenntniss führte. Wir würden sonst unsere Ansprüche, die Natur zu erfassen, für immer auf ein einziges Gebiet beschränken müssen und andere Gebiete, die einer sicheren Begründung fähig sind, verlieren. Die naturwissenschaftliche Erkenntniss muss nicht nothwendig mit hypothetischen und unbekannten kleinsten Dingen beginnen. Sie findet ihren Anfang überall, wo der Stoff sich zu Einheiten gleicher Ordnung gestaltet hat, die unter einander verglichen und durch einander gemessen werden können, und überall, wo solche Einheiten zu zusammengesetzten Einheiten höherer Ordnung zusammentreten, und das Maass für deren Vergleichung unter einander und mit sich selbst abgeben. Die naturwissenschaftliche Erkenntniss kann auf jeder Stufe der Organisation oder Zusammensetzung des Stoffes beginnen; beim Atom der chemischen Elemente, welches die chemischen Verbindungen bildet, beim Molecül der Verbindungen, welches den Krystall zusammensetzt, beim crystallinischen Micell, welches die Zelle und deren Theile, bei der Zelle, welche den Organismus aufbaut, beim Organismus oder Individuum, welches das Element der Speciesbildung wird. Jede naturwissenschaftliche Disciplin findet ihre Berechtigung wesentlich in sich selber. Unser Naturerkennen ist also immer ein mathematisches, und beruht entweder auf einfachem Messen, wie in den morphologischen und beschreibenden Naturwissenschaften, oder auf ursächlichem Messen, wie in den physikalischen und phy-
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siologischen Wissenschaften. Mit Hülfe der Mathematik, mit Maas, Gewicht, Zahl können aber nur relative oder quantitative Unterschiede begriffen werden. Wirkliche Qualitäten, absolut verschiedene Eigenschaften entziehen sich unserer Erkenntniss, da wir keinen Maasstab dafür haben. Wirklich qualitative Unterschiede vermögen wir nicht zu erfassen, weil die Qualitäten nicht verglichen werden können. Es ist diess eine wichtige Thatsache für die Erkenntniss der Natur. Es folgt daraus, dass wenn es innerhalb der Natur qualitativ oder absolut verschiedene Gebiete giebt, ein wissenschaftliches Erkennen nur gesondert innerhalb jedes einzelnen möglich ist, und dass keine vermittelnde Brücke von einem Gebiet in das andere hinüber führt. Es folgt daraus aber auch ferner, dass soweit wir die Natur zusammenhängend erforschen können, so weit unser messendes Erkennen lückenlos fortschreitet, so weit wir namentlich eine Erscheinung aus einer anderen begreifen, oder als aus derselben entstanden nachzuweisen vermögen, absolute Unterschiede, unausfüllbare Klüfte in der Natur überhaupt nicht bestehen. __________________ | Ich habe versucht, die Fähigkeit des Ich, die Zugänglichkeit der Natur und das Wesen des menschlichen Begreifens festzustellen. Es ist nun leicht, die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss abzustecken. Wir können nur das erkennen, wovon uns die Sinne Kenntniss geben, und diess beschränkt sich nach Raum und Zeit auf ein winziges Gebiet und wegen mangelnder Ausbildung von Sinnesorganen wahrscheinlich nur auf einen Theil der in diesem Gebiete befindlichen Naturerscheinungen. An dem, wovon wir überhaupt Kenntniss erhalten, können wir ferner nur das Endliche, Wechselnde, Vergängliche, nur das gradweise Verschiedene und Relative erkennen, weil wir nur mathematische Begriffe auf die natürlichen Dinge übertragen und die letzteren nur nach den an ihnen selber gewonnenen Maassen
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beurtheilen können. Für alles Endlose oder Ewige, für alles Beständige, für alle absoluten Verschiedenheiten haben wir keine Vorstellungen. Wir wissen genau, was eine Stunde, ein Meter, ein Kilogramm bedeutet, aber wir wissen nicht, was Zeit, Raum, Kraft und Stoff, Bewegung und Ruhe, Ursache und Wirkung ist. Umfang und Grenze unserer möglichen Naturerkenntniss lässt sich kurz und genau so angeben: Wir können nur das Endliche, aber wir können auch alles Endliche erkennen, das in den Bereich unserer sinnlichen Wahrnehmung fällt. Sobald wir uns dieser Einsicht klar bewusst sind, so befreien wir die Naturbetrachtung von manchen Schwierigkeiten und Irrthümern, die darin bestehen, dass man einerseits nicht bloss das wirklich Endliche erforschen will, sondern demselben Ewiges beimischt und es dadurch unergründlich macht, – dass man anderseits das Endliche nicht strenge und unaufhaltsam verfolgt, sondern mitten in demselben da oder dort anhält, indem man dasselbe mit Ewigem verwechselt. Es würde mich weit führen, wenn ich die Folgen im Einzelnen betrachten wollte, welche aus dem Mangel eines richtigen grundsätzlichen Verfahrens entsprungen sind. Die bemerkenswerthesten, die gleichzeitig ein ganz allgemeines Interesse in Anspruch nehmen, sind die Meinungen, dass die endliche Natur in grundsätzlich geschiedene Gebiete getrennt sei, dass namentlich zwischen der unorganischen und organischen Natur oder zwischen der materiellen und geistigen Natur eine unüberschreitbare Grenze bestehe. – Ich will nur von der letzteren Meinung sprechen. Die Einwürfe gegen den innigen Zusammenhang zwischen materieller und immaterieller Natur ziehen die trennende Kluft an verschiedenen Stellen. Einmal soll die belebte Natur überhaupt (oder die »beseelte« Natur, insofern man auch den Pflanzen eine Seele zuschreibt), dann die mit Empfindung begabte Thierwelt, endlich das geistig bewusste Menschengeschlecht etwas absolut Besonderes darstellen, indem auf der
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höheren Stufe neue immaterielle oder ewige Principien zur Geltung kommen. Du Bois Reymond huldigt der mittleren Ansicht. Mit der ersten Regung von Behagen, sagt er, die im Beginn des thierischen Lebens auf Erden ein einfachstes Wesen empfand, ist eine unübersteigbare Kluft gesetzt, – während er von hier bis zur erhabensten Seelenthätigkeit aufwärts, anderseits von der Lebenskraft des Organischen bis zur einfachen physikalischen Kraft abwärts nirgends eine Kluft mehr entdeckt. Gegen die Behauptung von immateriellen Principien, die da oder dort plötzlich in der Natur auftauchen sollen, ist für den Naturforscher schwer aufzukommen, da sich dieselbe von vornherein auf einen Standpunkt stellt, der ausserhalb der Naturwissenschaft in der Luft schwebt und von ihr nicht direct angegriffen und widerlegt werden kann. Die Naturwissenschaft vermag nur zu zeigen, dass die Behauptung überflüssig ist, weil Alles sich auf natürlichem Wege erklären lässt, und unwahrscheinlich, weil sonst in die endliche Natur ein Widerspruch eingeführt wird, der unserer ganzen Erfahrung widerspricht und unser geistiges Bedürfniss, überall causale Verhältnisse aufzufinden, verletzt. Die Erfahrung zeigt uns, dass von dem klarsten Bewusstsein des Denkers durch das dunklere Bewusstsein des Kindes zur Bewusstlosigkeit des Embryos und zur Gefühlslosigkeit des menschlichen Eis, – durch das dunklere Bewusstsein unentwickelter Menschenraçen und höherer Thiere zur Bewusstlosigkeit der niederen Thiere und Sinnpflanzen und zur Gefühlslosigkeit der übrigen Pflanzen eine allmälige Abstufung ohne vollziehbare Grenze statt hat, und dass die nämliche Abstufung von dem Leben des thierischen Eis und der Pflanzenzelle durch mehr oder weniger leblose organisirte Elementargebilde (Theile der Zelle) zu den Krystallen und chemischen Molecülen sich fortsetzt. Der Analogieschluss aber sagt uns Folgendes. Wie alle Organismen nur aus Stoffen bestehen und gebildet worden sind,
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die in der unorganischen Natur vorkommen, so sind selbstverständlich auch die den Stoffen anhaftenden Kräfte mit in die Bildung eingetreten. Wenn Stoffe zusammentreten, so vereinigen sich ihre Kräfte zu einer Resultirenden, welche die neue, allerdings nur relative Eigenschaft des entstandenen Körpers darstellt. So ist Zinnober Quecksilber + Schwefel – Wärme; Zucker ist Kohle + Wasserstoff + Sauerstoff – Wärme. So sind auch Leben und Gefühl neue relative Eigenschaften, die den Eiweissmolecülen unter besonderen Umständen zukommen. Dem entsprechend zeigt uns die Erfahrung, dass das Geistesleben überall aufs innigste mit dem Naturleben zusammenhängt, dass das eine das andere beeinflusst und ohne dasselbe nicht bestehen kann. Es ist daher nothwendig, dass, wie überall in der Natur Kräfte und Bewegungen nur an die Stofftheilchen gebunden sind, auch die | geistigen Kräfte und Bewegungen dem Stoffe anhaften, mit anderen Worten, dass sie aus den allgemeinen Kräften und Bewegungen der Natur zusammengesetzt sind und nach Ursache und Wirkung mit denselben zusammenhängen. Dieser Forderung eines causalen Zusammenhanges kann sich kein Naturforscher, welcher nicht bewusst oder unbewusst seinem obersten Princip untreu wird, entziehen. Die Aufgabe wäre also die, zu erkennen, wie die Kräfte des unorganischen Stoffes in dem zu Organismen gestalteten Stoffe sich combiniren, dass ihre Resultirenden Leben, Gefühl, Bewusstsein darstellen. Die Erfüllung dieser Aufgabe liegt in weiter Ferne; aber sie ist möglich. Es lassen sich für jeden einzelnen Punkt genügende Andeutungen geben. Es sei mir gestattet, einen dieser Punkte näher zu besprechen, denjenigen nämlich, in welchem mein Vorgänger eine Grenze des Naturerkennens erblickt. Diess ist um so einladender, als Du Bois Reymond sich im Uebrigen, wenn auch nicht mit so nackten Worten, doch eben so bestimmt und unbedingt auf den Boden des Causalprincips stellt, und dass daher, wenn diese eine Lücke ausgefüllt wäre, eine andere für seinen Stand-
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punkt nicht mehr bestände. Die ganze Weltgeschichte, selbst die Weltordnung ist ihm die Folge der Mechanik der Atome. Es giebt keine Geistesthat, welche nicht aus den Kräften und Bewegungen des Stoffes sich berechnen liesse, wenn es möglich wäre diese zu kennen. Die materiellen Vorgänge, die mit der Lösung eines Rechenexempels, mit der Seligkeit des musikalischen Empfindens, mit dem geistigen Vergnügen über eine wissenschaftliche Entdeckung verbunden sind, sind Produkte der Hirnmechanik. Der Geist kann sogar, wie Karl Vogt und vor ihm Cabanis ausgesprochen haben, als die Absonderung der Gehirnsubstanz betrachtet werden, ebenso wie die Galle das Sekret der Leber ist. Alles dieses erklärt Du Bois Reymond als im Princip begreiflich; allein, sagt er, wir lernen nur die Bedingungen des Geisteslebens kennen, nicht aber wie aus diesen Bedingungen das Geistesleben selbst zu Stande kommt. Die Empfindung und das Bewusstsein begleiten wohl nothwendig die materiellen Vorgänge im Gehirn, aber sie stehen ausserhalb des Causalgesetzes und bleiben uns ewige Räthsel. Es ist nicht ohne Interesse, die eben dargelegte Ansicht von Du Bois Reymond, die er des Weiteren in Bildern und Beispielen ausführt, in ihre Consequenzen zu verfolgen und uns das allgemeine Ergebniss klar vorzulegen. Wir kommen dann auf dieses: Der endliche Geist, wie er durch das Thierreich bis zum Menschen sich entwickelt hat, ist ein doppelter – einmal der handelnde, erfindende, die Muskeln in Bewegung setzende, in die Weltgeschichte eingreifende, bewusstlose, materielle Geist; derselbe ist nichts anderes als die Mechanik der Stofftheilchen und unterliegt dem Causalgesetz, – dann der unthätige, beschauliche, Lust und Schmerz, Liebe und Hass empfindende, sich erinnernde, phantasirende, bewusste, immaterielle Geist; derselbe liegt ausserhalb der Mechanik des Stoffes und kehrt sich nicht an Ursache und Wirkung. Gewöhnlich fasst man beide Seiten des Geisteslebens als Geist zusammen. Du Bois Reymond bezeichnet den letzteren
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ausschliesslich als Geist, und derselbe wäre, wenn die Trennung in der angegebenen Art bestände, wirklich die allerdings unbegreifliche Absonderung des materiellen Geistes oder der Gehirnatome; er wäre nichts als seine nutzlose Verzierung, der ihm unfehlbar folgende, wesenlose Schatten. Denn er steht ausserhalb der Verkettung von Ursache und Wirkung; er ist ohnmächtig und ohne Einfluss auf die Handlungen; ohne ihn hätte sich die Weltgeschichte genau so abgesponnen, wie sie es gethan. Auch ohne Bewusstsein wären die mathematischen Formeln erfunden, aufgeschrieben, gelehrt und angewendet, Telegraphen und Dampfmaschinen gebaut worden, – auch ohne Bewusstsein wären theologische und philosophische Disputationen gehalten, gedruckt, gelesen und ihre Verfasser unter Umständen verbrannt worden, – auch ohne bewusstes Gedächtniss wäre in den Schulen auswendig gelernt und überhört worden, – auch ohne musikalische Empfindung wäre Musik componirt, in den Proben wiederholt, aufgeführt und mit allen äusseren Zeichen des Entzückens oder Unbehagens angehört worden, – auch ohne poetische und künstlerische Empfindung wäre gedichtet, gemalt und geformt, wären die Werke der Künstler bewundert und kritisirt worden. Man hätte also ohne empfundenes und bewusstes Geistesleben Alles gedacht, gethan und gesprochen, aber blos mechanisch und nicht anders, als ein sehr künstlich erfundener todter Automat denken, handeln und sprechen würde. Die Grossartigkeit dieser Weltanschauung lässt sich nicht läugnen; sie kann auf den Naturforscher um so grösseren Eindruck machen, als sie überall folgerichtig verfährt und gegen kein naturwissenschaftliches Princip verstösst, da ja das Immaterielle und Unbegreifliche in ein Gebiet verlegt wird, welches ausserhalb des Zusammenhanges der natürlichen und wirklichen Dinge liegt. Aus diesem Grunde ist auch die Anschauung naturwissenschaftlich nicht discutirbar. Doch drängen sich gerade dem Naturforscher verschiedene Einwürfe auf. Ist es wohl denkbar, dass so viele Vorgänge, die ganz au-
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genscheinlich aus Empfindung und Bewusstsein entsprungen sind, einen anderen, einen empfindungs- und bewusstlosen Ursprung haben? Ist | es wohl denkbar, dass Empfindung und Bewusstsein so ganz umsonst da seien, dass während überall die Zweckmässigkeit in der organischen Natur so deutlich hervortritt, eine so zwecklose und überflüssige Erscheinung gerade da eintrete, wo wir die höchste Zweckmässigkeit erwarten? Ist es wohl denkbar, dass das Causalprincip, das die ganze Natur regiert, gerade an der wichtigsten Stelle seinen Dienst versage? Ist es wohl denkbar, dass der organisirte Stoff beliebig und ohne Ursache eine Eigenschaft (Empfindung und Bewusstsein) erlange, und dass er sie beliebig und ohne Wirkung wieder verliere; denn im Ei und im Embryo wäre das empfundene und bewusste Geistesleben nicht vorhanden, es würde nach und nach auftreten, im Schlafe jede Nacht verloren gehen, im wachenden Zustande mehr oder weniger vollständig wieder gewonnen und beim Tode für immer vernichtet werden? Das naturwissenschaftliche Bewusstsein wird durch diesen neuen Dualismus, wenn es ihn auch nicht direct widerlegen kann, doch wenig befriedigt. Derselbe ist zwar himmelweit verschieden von dem gewöhnlichen Dualismus, indem er den Naturkräften die Alleinherrschaft, dem Geiste eine thatenlose nichtige Würde zutheilt, und somit in keiner Weise die streng causalistische oder materialistische Betrachtung aller stofflichen Vorgänge, auch derjenigen, die das Geistesleben zu Stande bringen, behindert. Gleichwohl wünschen wir eine Lösung, die mehr mit unseren Erfahrungen und unseren theoretischen Vorstellungen übereinstimmt. Und diese Lösung liegt, wie ich glaube, ziemlich nahe, wenn wir das Urtheil über die Erscheinungen in der organischen Natur auch auf diejenigen in der unorganischen Natur ausdehnen. Es ist ganz richtig, wenn Du Bois Reymond sagt, dass wir nur die materiellen Bedingungen des Geisteslebens erkennen können, dass uns aber das Zustandekommen desselben aus den Bedingungen für immer verborgen bleibt. Aber es wäre
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ein Irrthum, anzunehmen, dass wir das Zustandekommen des Naturlebens überhaupt aus seinen Ursachen begreifen. Die gleiche Schranke wie in den geistigen, finden wir in allen rein materiellen Vorgängen. Wir wissen aus Erfahrung, dass in der unorganischen Welt die Ursache in der Wirkung aufgeht, aber es ist uns unfassbar, wie die Uebertragung geschieht. Wir wissen aus Erfahrung, dass ein in die Luft geworfener Stein auf die Erde fällt, und wir sagen, es geschehe desshalb, weil die Erde ihn anziehe; allein diese Anziehung ist für uns unbegreiflich. Was wir wissen, ist, dass zwei von einander entfernte Körper so auf einander wirken, dass sie, wenn kein Hinderniss entgegensteht, sich bis zur Berührung nähern. Worin aber diese Einwirkung besteht, wie dieselbe die gegenseitige Bewegung zu Stande bringt, ist uns gerade so unbegreiflich und wird uns gerade so ein ewiges Räthsel bleiben, wie das Zustandekommen der Empfindung und des Bewusstseins aus den materiellen Ursachen. Das Nämliche finden wir bei allen materiellen, physikalischen und chemischen Vorgängen. Ein positiv und ein negativ elektrischer Körper bewegen sich gegen einander, zwei Körper mit gleichnamiger Elektrizität bewegen sich von einander weg. Wenn wir sagen, dass im ersten Falle Anziehung, im zweiten Abstossung statt finde, so sind diess nur kurze Ausdrücke, welche Reihen von gleichartigen Vorgängen zusammenfassen, aber keine Erklärungen. Wir gewöhnen uns aber an solche Ausdrücke; sie werden uns nach und nach so geläufig, dass wir glauben, wir begriffen wirklich die durch sie bezeichneten Vorgänge. Desswegen ist denn auch die Ansicht ganz allgemein verbreitet, die Natur in ihren einfacheren unorganischen Erscheinungen biete unserer Erkenntniss keine Schwierigkeiten dar, während die Schwierigkeiten grundsätzlich überall die nämlichen sind. Man wird mir hier vielleicht einwenden, die Sache liege doch nicht ganz gleich. Bei den rein materiellen Vorgängen sei
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uns allerdings die Beziehung zweier Stofftheilchen, welche deren Bewegung veranlasst, unbegreiflich. Bei den geistigen Vorgängen sei diese unbegreifliche Beziehung der Stofftheilchen ebenfalls gegeben; es komme aber noch etwas Anderes, etwas Neues hinzu, die geistige Regung, welche den materiellen Vorgang begleitet. Dieser Einwurf, wenn er wirklich sich erhöbe, wäre aber ungegründet; man würde dabei übersehen, dass die zwei Seiten, in welche man den geistigen Vorgang zerlegt, bei dem rein materiellen Vorgang ebenfalls vorhanden sind, hier aber nicht getrennt, sondern als eins aufgefasst werden, nämlich die Empfindung und die Reaction, welche die Empfindung hervorbringt. Diese Thatsache, dass die einfachsten unorganischen Vorgänge in ihrem Zustandekommen ebenso unzugänglich sind, wie die zusammengesetztesten Vorgänge im menschlichen Gehirn, baut uns die Brücke, die zu einer einheitlichen Auffassung der Natur zu führen vermag. Gehen wir von dem Bekannten aus, – in diesem Falle ist es die complizirte geistige Erscheinung, – um daraus eine Vorstellung über das uns noch Unbekannte zu gewinnen. Wir kennen das Geistesleben nur aus unseren subjectiven Erfahrungen; wir wissen, dass wir Schlüsse machen, dass wir uns erinnern, dass wir Lust und Schmerz empfinden. Dass verwandte, aber unentwickelte Vorgänge bei Kindern und höheren Thieren vorkommen, schliessen wir aus ihren Handlungen und aus ihren körperlichen Aeusserungen, die wir als Ausdruck von Gemüthsbewegung und Empfindung deuten. Dafür dass auch die niederen Thiere noch Empfindung besitzen, die nur gradweise von der bewussten Empfindung des Menschen verschieden ist, haben wir thatsächliche Beweise bloss in | ihren auf einen Reiz erfolgenden Bewegungen und in dem wichtigen Umstande, dass diese Reizbewegungen mit den aufsteigenden Thierklassen durch alle Abstufungen in die complizirtesten Vorgänge des menschlichen Gehirns übergehen. Von den Reizbewegungen der niedersten Thiere kommen wir
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unvermerkt zu denen der einzelligen Pflanzen und der Sinnpflanzen, und von da zu den Vorgängen der scheinbar reizlosen Gewächse, welche von den Vorgängen in der unorganischen Natur nicht zu trennen sind. Zwischen den Reizbewegungen der Pflanzen und Thiere und den scheinbar reizlosen unorganischen Bewegungen, ist aber kein anderer Unterschied als der, dass beim Reiz eine mächtige Ursache auf zahllose gleichartig geordnete Stofftheilchen einwirkt und dadurch eine unseren Sinnen bemerkbare Orts- oder Empfindungs-Bewegung hervorbringt, während beim Mangel dieser bemerkbaren Bewegung die Ursache der moleculären, nach verschiedenen Richtungen erfolgenden Bewegungen nicht als Reiz bezeichnet wird. Mit den Reizbewegungen ist in der höheren Thierwelt deutlich Empfindung verbunden. Wir müssen dieselbe auch den niederen Thieren zugestehen, und wir haben keinen Grund, sie den Pflanzen und den unorganischen Körpern abzusprechen. Die Empfindung versetzt uns in Zustände des Wohlbehagens oder Missbehagens. Im Allgemeinen entsteht das Gefühl der Lust, wenn den natürlichen Trieben Befriedigung gewährt, das Gefühl des Schmerzes, wenn diese Befriedigung versagt wird. Da alle materiellen Vorgänge aus Bewegungen der Molecüle und Elementatome zusammengesetzt sind, so müssen Lust und Schmerz in diesen kleinsten Theilchen ihren Sitz haben, sie müssen durch die Art und Weise bedingt werden, wie die kleinsten Theilchen den auf sie einwirkenden Zug- und Druckkräften folgen können. Die Empfindung ist also eine Eigenschaft der Eiweissmolecüle; und wenn sie den Eiweissmolecülen zukommt, müssen wir sie auch denen der übrigen Stoffe zugestehen. Betrachten wir nun die Beziehung zweier Molecüle ungleicher chemischer Elemente (z. B. eines Sauerstoff- und eines Wasserstoffmolecüls), die in geringer Entfernung von einander sich befinden. Jedes besteht nach der Annahme der jetzigen Chemie aus zwei nicht weiter zerlegbaren, aber doch sicher
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zusammengesetzten Atomen. Vermöge seiner Zusammensetzung besitzt das Atom verschiedene Eigenschaften und Kräfte, es übt somit auch verschiedene Reize (Anziehungen und Abstossungen) auf die anderen Atome aus. Die fraglichen zwei Molecüle spüren oder empfinden in verschiedener Weise ihre gegenseitige Anwesenheit, sie wirken in verschiedener Weise anziehend und abstossend auf einander ein. Untersuchen wir, was bei einer bestimmten Anziehung (z. B. der chemischen) geschieht. Es ist dreierlei möglich, entweder folgen die Molecüle ihrer Neigung und nähern sich einander, oder sie sind durch andere, der Anziehung das Gleichgewicht haltende Kräfte zur Ruhe verurtheilt, oder sie entfernen sich von einander, indem die ihrer Neigung feindlichen Kräfte das Uebergewicht erlangen. Die nämlichen drei Möglichkeiten sind für eine bestimmte Abstossung (z. B. durch Wärme) gegeben: die beiden Molecüle folgen ihrem natürlichen Triebe und entfernen sich von einander, oder sie beharren in der gleichen Entfernung, oder sie werden mit Ueberwindung ihres Triebes durch andere Ursachen gegen einander gestossen. Wenn nun die Molecüle irgend etwas besitzen, was der Empfindung wenn auch noch so ferne verwandt ist, – und wir können nicht daran zweifeln, da jedes die Gegenwart, die bestimmte Beschaffenheit, die besonderen Kräfte des anderen empfindet und entsprechend dieser Empfindung den Trieb zur Bewegung hat und unter Umständen auch wirklich sich zu bewegen anfängt, gleichsam lebendig wird, da ferner solche Molecüle die Elemente sind, welche Lust und Schmerz bedingen, – wenn also die Molecüle etwas der Empfindung Verwandtes spüren, so muss es Wohlbehagen sein, wenn sie der Anziehung oder der Abstossung, ihrer Zuneigung oder Abneigung folgen können, Missbehagen, wenn sie zu einer gegentheiligen Bewegung gezwungen sind, weder Wohlbehagen noch Missbehagen, wenn sie in Ruhe bleiben. Da nun die Molecüle mit mehreren ungleichen Zug- und Druckkräften auf einander einwirken, so werden, wenn sie in
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Bewegung gerathen, von ihren Neigungen immer die einen befriedigt, die anderen beleidigt. Diese verschiedenen Empfindungen sind aber nothwendig nach Beschaffenheit und Stärke ungleich, je nachdem sie durch die allgemeine GravitationsAnziehung, durch die allgemeine Abstossung der Elasticität und der Wärme, durch elektrische und magnetische Anziehung und Abstossung, durch chemische Verwandtschaft verursacht werden. Die einfachsten Organismen, wenn ich diesen Ausdruck brauchen darf, die wir kennen, die Molecüle der chemischen Elemente werden also gleichzeitig von mehreren qualitativ und quantitativ verschiedenen Empfindungen bewegt, die sich zu einer Gesammtempfindung der Lust oder des Schmerzes zusammensetzen. Wir finden somit auf der niedersten und einfachsten Stufe der Stofforganisation, die wir kennen, wesentlich die nämliche Erscheinung wie auf der höchsten Stufe, wo sie uns als bewusste Empfindung entgegentritt. Die Verschiedenheit ist nur eine gradweise; auf der höchsten Stufe sind die Affekte in Folge der reichen Gliederung nur viel zusammengesetzter und feiner und in Folge massenhafter Zusammenordnung der Stofftheilchen viel lebhafter geworden. | Fassen wir das Geistesleben in seiner allgemeinsten Bedeutung als den immateriellen Ausdruck der materiellen Erscheinung, als die Vermittlung von Ursache und Wirkung, so finden wir es überall in der Natur. Geistige Kraft ist das Vermögen der Stofftheilchen, auf einander einzuwirken. Der geistige Vorgang ist die Vollziehung dieser Einwirkung, welche in Bewegung, somit in Lageveränderung der Stofftheilchen und der ihnen anhaftenden Kräfte besteht, und dadurch unmittelbar zu einem neuen geistigen Vorgang führt. So schlingt sich das nämliche geistige Band durch alle materiellen Erscheinungen. Der menschliche Geist ist nichts anderes als die höchste Entwickelung der geistigen Vorgänge, welche die Natur überall beleben und bewegen, auf unserer Erde. Er ist aber nicht das Absonderungsprodukt der Gehirnsubstanz; als solches wäre er
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ohne weiteren Einfluss auf das Gehirn, wie die abgesonderte Galle ohne weitere Bedeutung für die Leber ist. Empfindung und Bewusstsein haben vielmehr ihren festen Sitz im Gehirn, mit dem sie unauflöslich verbunden sind, und in welchem durch ihre Vermittlung neue Vorstellungen gebildet und in Thaten umgesetzt werden. Wie der Stein nicht zur Erde flöge, wenn er die Anwesenheit der Erde nicht empfände, so würde auch der getretene Wurm sich nicht krümmen, wenn ihm die Empfindung mangelte, und das Gehirn würde nicht vernünftig handeln, wenn es ohne Bewusstsein wäre. Diese Anschauung befriedigt auch vollständig unser causales Bedürfniss. Es ist für den Naturforscher eine logische Nothwendigkeit, in der endlichen Natur nur gradweise Unterschiede gelten zu lassen. Wie es für alles Räumliche ebenso für alles Zeitliche ein Maass giebt, so muss es auch ein gemeinsames Maass für die geistigen Vorgänge geben. Wie die materielle Natur sich vom Einfachsten zum Zusammengesetztesten allmälig abstuft, so muss auch in der ihr parallel gehenden geistigen Natur eine ähnliche Abstufung bestehen. Wir finden in den Atomen und Molecülen zwar noch nicht Lust und Schmerz, noch nicht Liebe und Hass ausgesprochen, aber doch die ersten Keime, gleichsam die Uranfänge zu diesen Affekten, und es wäre die Aufgabe einer vergleichenden Psychologie, das Bewusstsein durch die unbewusste Empfindung bis zum empfindungslosen Reiz der Stofftheilchen zu verfolgen. Das geistige Gebiet bietet aber der Erkenntniss viel grössere Schwierigkeiten dar als das materielle, weil wir als unmittelbare Erfahrung bloss unsere subjectiven Wahrnehmungen benutzen können, und weil uns ein besonderes Sinnesorgan mangelt, um an anderen Körpern objective Wahrnehmungen zu machen. Die Beobachtung mit unsern für andere Zwekke eingerichteten Sinnen giebt uns nur auf Umwegen und in sehr mangelhafter Weise Kunde von den geistigen Vorgängen in anderen Wesen, und unser Urtheil über dieselben wird um so unsicherer, je weiter wir uns abwärts in der Natur von
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uns selber entfernen. Es wird daher vielleicht nie möglich, das Maass für die geistigen Vorgänge wirklich aufzufinden und zu begründen, und die vergleichende Psychologie zu einer Naturwissenschaft zu erheben. __________________ Die naturwissenschaftliche Erkenntniss bleibt in der Endlichkeit befangen, der Naturforscher muss sich daher strenge auf das Endliche beschränken. Die Forderung, die man wohl an ihn stellt, dass er mehr philosophische Bildung haben, dass er philosophische Kritik üben müsse, weil die metaphysische Speculation doch nicht ganz zu umgehen sei, zeigt nur, wie schwer es ist, zwei absolut verschiedene Gebiete, die einmal zur allgemeinen Verwirrung mit einander vermengt waren, von einander loszulösen. Die Macht der Erziehung und Gewohnheit war auch bis in die neueste Zeit ein Hinderniss, dass diese Scheidung sich vollständig und grundsätzlich vollziehe, und doch ist ja von vornherein und aus Erfahrung sicher, dass jeder metaphysische Zusatz die Naturforschung nur zu einer trüben und unklaren Legirung macht. Die Naturforschung muss exact sein; sie muss sich durchaus von Allem, was die Grenze des Endlichen und Erkennbaren überschreitet, von allem Transcendenten fern halten; sie muss, da ihr Object nur der endliche kraftbegabte Stoff ist, streng materialistisch verfahren, ohne zu vergessen, dass dieser richtige Materialismus ein empirischer und kein philosophischer ist, und dass ihm die gleichen Grenzen gesteckt sind, wie dem Gebiete, auf dem er sich bewegt. Damit soll nicht gesagt werden, dass der Naturforscher nicht philosophiren, dass er sich nicht auch auf idealen und transcendenten Gebieten bewegen dürfe. Aber er hört auf Naturforscher zu sein, und was ihm dabei etwa aus seinem Berufe zu Gute kommt, ist nur das, dass er die beiden Gebiete streng auseinander hält, dass er das Eine als das reine Gebiet des Forschens und Erkennens, das Andere aber, indem er es von allem
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Endlichen befreit, als das verborgene Gebiet der Ahnung zu behandeln weiss. Dem menschlichen Geiste, seinem Forschungstriebe und seiner Erkenntniss steht die ganze sinnlich wahrnehmbare Welt offen. Er dringt vermittelst Telescop und Rechnung in die grössten Entfernungen, vermittelst Mikroskop und Combination in die kleinsten Räume. Er erforscht den zusammengesetztesten und verwickeltsten Organismus, der ihm selber angehört, nach den mannigfaltigsten Richtungen. Er erkennt die in der Natur herrschenden Kräfte und Gesetze, und macht sich dadurch die | unorganische und organische Welt, so weit er sie erreichen kann, dienstbar. Wenn er die bisherigen Errungenschaften in den Gebieten des Wissens und der Macht überblickt und an die künftigen noch grösseren Eroberungen denkt, so kann er mit Stolz sich als den Herrscher der Welt fühlen. Aber was ist diese Welt, die der menschliche Geist beherrscht? Nicht einmal ein Sandkörnchen in der Raumewigkeit, nicht eine Sekunde in der Zeitewigkeit und nur ein Aussenwerk an dem wahren Wesen des Alls. Denn auch an der winzigen Welt, die ihm zugänglich ist, erkennt er nur das Veränderliche und Vergängliche. Das Ewige und Beständige, das Wie und das Warum des Alls bleibt dem menschlichen Geiste für immer unfassbar, und wenn er es versucht, die Grenze der Endlichkeit zu überschreiten, so vermag er nur sich selbst zum lächerlich ausgestatteten Götzen aufzublähen oder das Ewige und Göttliche durch menschliche Verunstaltungen zu entwürdigen. Selbst der zu vollkommener naturwissenschaftlicher Einsicht gereifte Geist vermöchte in seiner Beschränktheit aus der Gottheit, die er von allem Endlichen und Vergänglichen frei machen will, nur einen constitutionellen Scheinkönig zu bilden, (welcher nach dem bekannten Ausspruche eines jüngst dahingegangenen Staatsmannes) »herrscht, aber nicht regiert«. In der endlichen Welt walten unabänderlich die ewigen Naturkräfte, deren Wirkungen wir als Gesetze der Bewegung und
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Veränderung erkennen. Ob und wie sie Inhalt und Ausfluss eines in Ewigkeit beharrenden, bewussten Zweckes sind, übersteigt unser Fassungsvermögen. Wenn mein Vorgänger Du Bois Reymond seinen Vortrag mit den niederschmetternden Worten: Ignoramus und Ignorabimus geschlossen, so möchte ich den meinigen mit dem bedingten aber tröstlicheren Ausspruche schliessen, dass die Früchte unsers Forschens nicht bloss Kenntnisse, sondern wirkliche Erkenntnisse sind, welche den Keim eines fast unendlichen Wachsthumes in sich tragen, ohne desshalb der Allwissenheit um den kleinsten Schritt sich zu nähern. Wenn wir eine vernünftige Entsagung üben, wenn wir als endliche und vergängliche Menschen, die wir sind, uns mit menschlicher Einsicht bescheiden, statt göttliches Erkennen in Anspruch zu nehmen, so dürfen wir mit voller Zuversicht sagen: Wir wissen und wir werden wissen.
Emil Du Bois-Reymond Die sieben Weltraetsel. Nachtrag*|
Als ich vor acht Jahren übernommen hatte, in öffentlicher Sitzung der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte einen Vortrag zu halten, zögerte ich lange bis ich mich entschloss, die Grenzen des Naturerkennens zu meinem Gegenstande zu wählen. Die Unmöglichkeit, einerseits das Wesen von Materie und Kraft zu begreifen, andererseits das Bewusstsein auch auf niederster Stufe mechanisch zu erklären, erschien mir eigentlich als triviale Wahrheit. Dass man mit Atomistik, Dynamistik, stetiger Ausfüllung des Raumes in gleicher Weise in die Brüche gerathe, ist eine alte Erfahrung, an welcher keine Entdeckung der Naturwissenschaft etwas zu ändern vermochte. Dass durch keine Anordnung und Bewegung von Materie auch nur die einfachste Sinnesempfindung verständlich werde, haben längst vortreffliche Denker erkannt. Wohl wusste ich, dass über letzteren Punkt falsche Begriffe weit verbreitet seien; fast aber schämte ich mich, den deutschen Naturforschern so abgestandenen Trunk zu schenken, und nur durch die Neuheit meiner Beweisführung hoffte ich Interesse zu erwecken. | Der Empfang, der meiner Auseinandersetzung wurde, zeigte mir, dass ich mich in der Sachlage getäuscht hatte. Dem anfangs kühl aufgenommenen Vortrage widerfuhr bald die Ehre, Gegenstand zahlreicher Besprechungen zu werden, in denen eine grosse Mannigfaltigkeit von Standpunkten sich kundgab. Die Kritik schlug alle Töne vom freudig zustimmenden Lobe * In: Monatsbericht der Koeniglich-Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (1880), 1045–1072. – 8. Juli 1880. Öffentliche Sitzung zur Feier des Leibnizischen Jahrestages. / Der an diesem Tage vorsitzende Secretar Hr. du Bois-Reymond hielt folgende Festrede:
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bis zum wegwerfendsten Tadel an, und das Wort ›Ignorabimus‹, in welchem meine Untersuchung gipfelte, ward förmlich zu einer Art von naturphilosophischem Schiboleth.1 Die durch meinen Vortrag in der deutschen Welt hervorgebrachte Erregung lässt die philosophische Bildung der Nation, auf welche wir gewohnt sind, uns etwas zu gute zu thun, in keinem günstigen Licht erscheinen. So schmeichelhaft es mir war, meine Darlegung als Kant’sche That gepriesen zu sehen, ich muss diesen Ruhm zurückweisen. In dem, was ich sagte, war, wie schon bemerkt, Nichts enthalten, was bei einiger Belesenheit in älteren philosophischen Schriften nicht Jedem bekannt sein konnte, der sich darum kümmerte. Aber seit der Umgestaltung der Philosophie durch Kant hat diese Disciplin einen so esoterischen Charakter angenommen; sie hat die Sprache des gemeinen Mutterwitzes und der verständigen Überlegung so verlernt; sie ist den Fragen, die den unbefangenen Jünger am tiefsten bewegen, so weit ausgewichen, oder sie hat sie so sehr von oben herab als unberufene Zumuthungen behandelt; sie hat sich endlich der neben ihr emporwachsenden neuen Weltmacht, der Naturwissenschaft, lange so feindselig gegenübergestellt: dass nicht zu verwundern ist, wenn, namentlich unter Naturforschern, das Andenken selbst an ganz thatsächliche Ergebnisse aus früheren Tagen der Philosophie verloren ging. Einen Theil der Schuld trägt wohl der Umstand, dass die neuere Philosophie zur positiven Religion meist in einem negirenden, mindestens in keinem klaren Verhältniss sich befand, und dass sie, bewusst oder unbewusst, vermied, sich über gewisse Fragen unumwunden auszusprechen, wie dies beispielsweise Leibniz konnte, welcher vor keinem Kirchentribunal Über die Grenzen des Naturerkennens. Ein Vortrag in der zweiten öffentlichen Sitzung der 46. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Leipzig am 14. August 1872 gehalten von E. du Bois-Reymond. Leipzig 1872; – Zweite Auflage. Leipzig 1872; – Dritte Auflage. Leipzig 1873; – Vierte, vermehrte und verbesserte Auflage. Leipzig 1876. 1
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etwas zu verbergen gehabt hätte. Die Philosophie soll dafür weder gelobt noch getadelt werden; aber so kommt es, dass bei den Philosophen von der Mitte des vorigen Jahrhunderts an die packendsten Probleme der Metaphysik sich nicht unverholen, wenigstens nicht in einer | dem inductiven Naturforscher zusagenden Sprache, aufgestellt und erörtert finden. Auch das möchte einer der Gründe sein, warum die Philosophie so vielfach als gegenstandslos und unerspriesslich bei Seite geschoben wird, und warum jetzt, wo die Naturwissenschaft selber an manchen Punkten beim Philosophiren angelangt ist, oft solch ein Mangel an Vorbegriffen, solche Unwissenheit im wirklich Geleisteten sich zeigt. Denn während von der einen Seite mein Verdienst weit überschätzt wurde, rief man von der anderen Anathema über mich, weil ich dem menschlichen Erkenntnissvermögen unübersteigliche Grenzen zog. Man konnte nicht begreifen, warum nicht das Bewusstsein in derselben Art verständlich sein sollte, wie Wärmeentwickelung bei chemischer Verbindung, oder Elektricitätserregung in der galvanischen Kette. Schuster verliessen ihren Leisten und rümpften die Nase über »das fast nach consistorialräthlicher Demuth schmeckende Bekenntniss des ›Ignorabimus‹, wodurch das Nichtwissen in Permanenz erklärt werde«. Fanatiker dieser Richtung, die es besser wissen konnten, denuncirten mich als zur schwarzen Bande gehörig, und zeigten auf’s Neue, wie nah bei einander Despotismus und äusserster Radicalismus wohnen.2 Gemässigtere Köpfe verriethen doch bei dieser Gelegenheit, dass es mit ihrer Dialektik schwach bestellt sei. Sie vermochten nicht den Unterschied zu erfassen zwischen der Behauptung, die ich widerlegte: Bewusstsein kann mechanisch erklärt werden, und der Behauptung, die ich nicht bezweifelt, ja durch neue Gründe gestützt hatte: Bewusstsein ist an materielle Vorgänge gebunden. Ernst Haeckel, Anthropogenie oder Entwickelungsgeschichte des Menschen. Leipzig 1874. S. XII ff. 2
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Schärfer sah David Friedrich Strauss. Der grosse Kritiker hatte spät die Wandlung durchgemacht, welche tiefer angelegte Naturen früher nicht selten in der Jugend rasch durchliefen, vom theologischen Studium zur Naturwissenschaft. Der Naturforscher von Fach mag von den Auseinandersetzungen zweiter Hand gering denken, in denen der Verfasser ›des alten und des neuen Glaubens‹ sich vielleicht etwas zu sehr gefällt. Dem Ethiker, Juristen, Lehrer, Arzt mag die etwas gewaltsame Folgerichtigkeit bedenklich scheinen, mit welcher Strauss seine Weltanschauung in’s Leben einzuführen versucht. Wenn ich selber einmal an dieser Stelle mich in diesem Sinn gegen ihn wandte,3 so bewundere ich deshalb nicht minder die Geisteskraft und Charakterstärke, welche diesen zugleich künstlerisch so begabten Meister des Gedankens in die Mitte der alten | Welträthsel trugen, die er freilich auch nicht lösen sollte, aber doch ohne jede irdische Scheu beim Namen zu nennen sich getraut. Strauss entging es nicht, dass ich mich den geistigen Vorgängen gegenüber durchaus auf den Standpunkt des inductiven Naturforschers gestellt hatte, der den Process nicht vom Substrat trennt, an welchem er den Process kennen lernte, und der an das Dasein des vom Substrat gelösten Processes ohne zureichenden Grund nicht glaubt. Etwas erfahrener in verschlungenen Gedankenwegen, und an abstractere Ausdrucksweise gewöhnt, verstand er natürlich den Unterschied zwischen jenen beiden Behauptungen. Strauss und Lange, der zu früh der Wissenschaft entrissene Verfasser der ›Geschichte des Materialismus‹4, überhoben mich der Mühe, den Jubel deVergl. in diesen Berichten, 1875. S. 104. 105; – La Mettrie. Rede in der öffentlichen Sitzung der K. Preuss. Akademie der Wissenschaften zur Gedächtnissfeier Friedrich’s II. am 26. Januar 1875 gehalten von E. du Bois-Reymond, beständigem Secretar. Berlin 1875. S. 29. 4 Friedr. Albert Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Zweite Auflage. Zweites Buch. Iserlohn 1873. S. 148 ff. 3
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rer, welche in mir einen Vorkämpfer des Dualismus erstanden wähnten, mit dem Spruche niederzuschlagen: »Und wer mich nicht verstehen kann, der lerne besser lesen.« Aber auch Strauss tadelte merkwürdigerweise meinen Satz von der Unbegreiflichkeit des Bewusstseins aus mechanischen Gründen. Er sagt: »Drei Punkte sind es bekanntlich in der aufsteigenden Entwickelung der Natur, an denen vorzugsweise der Schein des Unbegreiflichen haftet. Es sind die drei Fragen: wie ist das Lebendige aus dem Leblosen, wie das Empfindende aus dem Empfindungslosen, wie das Vernünftige aus dem Vernunftlosen hervorgegangen? Der Verfasser der ›Grenzen des Naturerkennens‹ hält das erste der drei Probleme, A, den Hervorgang des Lebens, für lösbar. Die Lösung des dritten Problems, C, der Intelligenz und Willensfreiheit, bahnt er sich, wie es scheint, dadurch an, dass er es im engsten Zusammenhange mit dem zweiten, die Vernunft nur als höchste Stufe des schon mit der Empfindung gegebenen Bewusstseins fasst. Das zweite Problem, B, das der Empfindung, hält er dagegen für unlösbar. Ich gestehe, mir könnte noch eher einleuchten, wenn mir einer sagte: unerklärlich ist und bleibt A, nämlich das Leben; ist aber einmal das gegeben, so folgt von selber, d. h. mittels natürlicher Entwickelung, B und C, nämlich Empfinden und Denken. Oder meinetwegen auch umgekehrt: A und B lassen sich noch begreifen, aber an C, am Selbstbewusstsein, reisst unser Verständniss ab. Beides, wie gesagt, erschiene mir noch annehmlicher, als dass gerade die mittlere Station allein die unpassirbare sein soll.«5 | So weit Strauss. Ich bedaure es aussprechen zu müssen, aber er hat den Nerven meiner Betrachtung nicht erfasst. Ich nannte astronomische Kenntniss eines materiellen Systemes sol»Ein Nachwort als Vorwort zu den neuen Auflagen meiner Schrift: » »Der alte und der neue Glaube«.« Gesammelte Schriften von David Friedrich Strauss u.s.w. Eingeleitet u.s.w. von Eduard Zeller. 6. Band. Bonn 1877. S. 267. 5
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che Kenntniss, wie wir sie vom Planetensystem hätten, wenn alle Beobachtungen unbedingt richtig, alle Schwierigkeiten der Theorie völlig besiegt wären. Besässen wir astronomische Kenntniss dessen, was innerhalb eines noch so räthselhaften Organes des Thier- oder Pflanzenleibes vorgeht, so wäre in Bezug auf dies Organ unser Causalitätsbedürfniss so befriedigt, wie in Bezug auf das Planetensystem, d. h., soweit es die Natur unseres Intellectes gestattet, welches von vorn herein am Begreifen von Materie und Kraft scheitert. Besässen wir dagegen astronomische Kenntniss dessen, was innerhalb des Gehirnes vorgeht, so wären wir in Bezug auf das Zustandekommen des Bewusstseins nicht um ein Haar breit gefördert. Auch im Besitze der Weltformel jener dem unsrigen so unermesslich überlegene, aber doch ähnliche Laplace’sche oder vielmehr Leibnizische Geist wäre hierin nicht klüger als wir; ja nach Leibniz’ Fiction mit solcher Technik ausgerüstet, dass er Atom für Atom, Molekel für Molekel, einen Homunculus zusammensetzen könnte, würde er ihn zwar denkend machen, aber nicht begreifen, wie er dächte.6 Die erste Entstehung des Lebens hat an sich mit dem Bewusstsein nichts zu schaffen. Es handelt sich dabei nur um Anordnung von Atomen und Molekeln, um Einleitung gewisser Bewegungen. Folglich ist nicht bloss astronomische Kenntniss dessen denkbar, was man Urzeugung, Generatio spontanea seu aequivoca, neuerlich Abiogenese oder Heterogenie nennt, sondern diese astronomische Kenntniss würde auch in Bezug auf erste Entstehung des Lebens unser Causalitätsbedürfniss ebenso befriedigen, wie in Bezug auf die Bewegungen der Himmelskörper. Das ist der Grund, weshalb, um mit Strauss zu reden, ›in der aufsteigenden Entwickelung der Natur‹ der Hiat für unser Verständniss noch nicht am Punkt A eintrifft, sondern erst am Punkte B. Übrigens habe ich keinesweges behauptet, dass mit 6
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gegebener Empfindung jede höhere Stufe geistiger Entwickelung verständlich, das Problem C ohne Weiteres lösbar sei. Ich legte auf die mechanische Unbegreiflichkeit auch der einfachsten Sinnesempfindung nur deshalb so grosses Gewicht, weil daraus die Unbegreiflichkeit aller höheren geistigen Processe erst recht, durch ein Argumentum a fortiori, folgt. | Zwar erscheint die erste Entstehung des Lebens jetzt in noch tieferes Dunkel gehüllt, als da man noch hoffen durfte, Lebendiges aus Todtem im Laboratorium, unter dem Mikroskop, hervorgehen zu sehen. In Hrn. Pasteur’s Versuchen ist die Heterogenie wohl für lange, wenn nicht für immer, der Panspermie unterlegen: wo man glaubte dass Leben entstehe, entwickelten sich schon vorhandene Lebenskeime. Und doch haben die Dinge so sich gewendet, dass, wer nicht auf ganz kindlichem Standpunkte verharrt, logisch gezwungen werden kann, mechanische Entstehung des Lebens zuzugeben. Dem geologischen Actualismus und der Descendenztheorie gegenüber wird sich kaum noch ein ernster Verfechter der Lehre von den Schöpfungsperioden finden, nach welcher die schaffende Allmacht stets von Neuem ihr Werk vernichten sollte, um es, gleich einem stümperhaften Künstler, stets von Neuem, in einem Punkte besser, in einem anderen schlechter, von vorn wieder anzufangen. Auch wer an Endursachen glaubt, wird eingestehen, dass solches Beginnen wenig würdig der schaffenden Allmacht erscheine. Ihr geziemt höchstens, durch supernaturalistischen Eingriff in die Weltmechanik einmal einfachste Lebenskeime in’s Dasein zu rufen, aber so ausgestattet, dass aus ihnen, ohne weitere Nachhülfe, die heutige organische Schöpfung werde. Wird dies zugestanden, so ist die weitere Frage erlaubt, ob es nun nicht wieder der schaffenden Allmacht würdiger sei, auch jenes einmaligen Eingriffes in gegebene Gesetze sich zu entschlagen, und die Materie gleich von vorn herein mit solchen Kräften auszurüsten, dass unter geeigneten Umständen auf Erden, auf anderen Himmelskörpern, Lebenskeime ohne weitere Nachhülfe entstehen mussten? Dies
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zu verneinen giebt es keinen Grund; damit ist aber auch zugestanden, dass rein mechanisch Leben entstehen könne, und nun wird es sich nur noch darum handeln, ob die Materie, die sich rein mechanisch zu Lebendigem zusammenfügen kann, stets da war, oder ob sie, wie Leibniz meinte, erst von Gott geschaffen ward. Dass astronomische Kenntniss des Gehirnes uns das Bewusstsein aus mechanischen Gründen nicht verständlicher machen würde als heute, schloss ich daraus, dass es einer Anzahl von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauerstoffu.s.w. Atomen gleichgültig sein müsse, wie sie liegen und sich bewegen, es sei denn, dass sie schon einzeln Bewusstsein hätten, womit weder das Bewusst | sein überhaupt, noch das einheitliche Bewusstsein des Gesammthirnes erklärt werde. Ich hielt diese Schlussfolgerung für völlig überzeugend; David Friedrich Strauss meint, am Ende könne doch nur die Zeit darüber entscheiden, ob dies wirklich das letzte Wort in der Sache sei. Das ist es nun freilich insofern nicht geblieben, sofern Hr. Haeckel die von mir behufs der Reductio ad absurdum gemachte Annahme, dass die Atome einzeln Bewusstsein haben, umgekehrt als metaphysisches Axiom hingestellt hat. »Jedes Atom«, sagt er, »besitzt eine inhärente Summe von Kraft, und ist in diesem Sinne ›beseelt‹. Ohne die Annahme einer ›Atom-Seele‹ sind die gewöhnlichsten und allgemeinsten Erscheinungen der Chemie unerklärlich. Lust und Unlust, Begierde und Abneigung, Anziehung und Abstossung müssen allen Massen-Atomen gemeinsam sein; denn die Bewegungen der Atome, die bei Bildung und Auflösung einer jeden chemischen Verbindung stattfinden müssen, sind nur erklärbar, wenn wir ihnen Empfindung und Willen beilegen … Wenn der ›Wille‹ des Menschen und der höheren Thiere frei erscheint im Gegensatz zu dem ›festen‹ Willen der Atome, so ist das eine Täuschung, hervorgerufen durch die höchst verwickelte Willensbewegung der ersteren im Gegensatze zu der höchst einfachen Willensbewegung der letzteren.« Und ganz
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im Geist der einst von derselben Stätte aus der deutschen Wissenschaft verderblich gewordenen falschen Naturphilosophie fährt Hr. Haeckel fort in Constructionen über das ›unbewusste Gedächtniss‹ gewisser von ihm als ›Plastidule‹ bezeichneter ›belebter‹ Atomcomplexe.7 So verschmäht er den uns von La Mettrie gewiesenen Weg des inductorischen Erforschens, unter welchen Bedingungen Bewusstsein entstehe.8 Er sündigt wider eine der ersten Regeln des Philosophirens: ›Entia non sunt creanda sine necessitate‹, denn wozu Bewusstsein, wo Mechanik reicht? Und wenn Atome empfinden, wozu noch Sinnesorgane? Hr. Haekkel übergeht die doch genügend von mir betonte Schwierigkeit zu begreifen, wie den zahllosen ›Atom-Seelen‹ das einheitliche Bewusstsein des Gesammthirnes entspringe. Übrigens gedenke ich seiner Aufstellung nur um daran die Frage zu knüpfen, warum er es für jesuitisch hält, die Möglichkeit der Erklärung des Bewusstseins aus Anordnung und Bewegung von Atomen zu läugnen, wenn er selber | nicht daran denkt, das Bewusstsein so zu erklären, sondern es als nicht weiter zergliederbares Attribut der Atome postulirt? Einem mehr in Anschauung von Formen geübten Morphologen ist es zu verzeihen, wenn er Begriffe wie Wille und Kraft nicht auseinanderzuhalten vermag. Aber auch von besser geschulter Seite wurden ähnliche Missgriffe begangen. Anthropomorphische Träumereien aus der Kindheit der Wissenschaft erneuernd, erklärten Philosophen und Physiker die Fernwirkung von Körper auf Körper durch den vermeintlich leeren Raum aus einem den Atomen innewohnenden Willen. Ein wunderlicher Wille in der That, zu welchem immer Zwei Ernst Haeckel, Die Perigenesis der Plastidule oder die Wellenzeugung der Lebenstheilchen. Ein Versuch zur mechanischen Erklärung der elementaren Lebensvorgänge. Berlin 1876. S. 38. 39. 8 Diese Berichte, 1875. S. 101. 102; – La Mettrie. U.s.w. Berlin 1875. S. 25. 7
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gehören! Ein Wille, der, wie Adelheid’s im Götz, wollen soll, er mag wollen oder nicht, und das im geraden Verhältniss des Productes der Massen und im umgekehrten des Quadrates der Entfernungen! Ein Wille, der das geschleuderte Subject im Kegelschnitt bewegen muss! Ein Wille fürwahr, der an jenen Glauben erinnert, welcher Berge versetzt, aber in der Mechanik bisher als Bewegungsursache noch nicht verwerthet wurde. Zu solchem Widersinn gelangt, wer, anstatt in Demuth sich zu bescheiden, die Flagge an den Mast nagelt, und durch lärmende Phraseologie bei sich und Anderen den Rausch zu unterhalten sucht, ihm sei gelungen, woran Newton verzweifelte. In welchem Gegensatze zu solchem Unterfangen erscheint die weise Zurückhaltung des Meisters, der als Aufgabe der analytischen Mechanik hinstellt, die Bewegungen der Körper zu beschreiben.9 Auf alle Fälle zeigt der heftige und weit verbreitete Widerspruch gegen die von mir behauptete Unbegreiflichkeit des Bewusstseins aus mechanischen Gründen, wie unrecht die neuere Philosophie daran thut, diese Unbegreiflichkeit als selbstverständlich vorauszusetzen. Mit Feststellung dieses Punktes, also mit irgend einer der meinigen entsprechenden Argumentation, scheint vielmehr alles Philosophiren über den Geist anfangen zu müssen; wäre Bewusstsein mechanisch begreifbar, so gäbe es genau genommen keine Metaphysik. Wenn ich hier einen Versuch der Neuzeit anreihe, die andere Schranke des Naturerkennens weiter hinauszurücken, und Licht auf die Natur der Materie zu werfen, um auch ihn als unbefriedigend zu bezeichnen, so ist meine Meinung nicht, ihn mit der Beseelung der Atome gleich niedrig zu stellen. Dieser Versuch ging aus von der Schottischen mathematisch-physikalischen Schule, von | Sir William Thomson und jenem Hrn. Tait, dessen Chauvinismus den Streit über Leibniz’ Antheil Gustav Kirchhoff, Vorlesungen über mathematische Physik. Mechanik. Leipzig 1876. S. III. 1. 9
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an der Erfindung der Infinitesimal-Rechnung wieder anfachte, und der so weit geht, Leibniz einen Dieb zu schelten,10 daher die Ehre, heut in diesem Saale genannt zu werden, ihm eigentlich nicht gebührt. Sir William Thomson und Hr. Tait glauben, dass sich aus den merkwürdigen Eigenschaften, welche Hr. Helmholtz an den Wirbelringen der Flüssigkeiten entdeckte, mehrere wichtige Eigenthümlichkeiten herleiten lassen, die wir den Atomen zuschreiben müssen. Man könne sich unter den Atomen ausserordentlich kleine, von Ewigkeit her fort und fort sich drehende, verschiedentlich geknotete Wirbelringe denken.11 Nichts kann ungerechter sein, als, wie in Deutschland geschah, diese Theorie für eine Wiederbelebung der Cartesischen Wirbel auszugeben. Obwohl in den Wirbelringen die Materie nicht, wie in den die Eisentheilchen umgebenden Strömchen die Elektricität, in der zum Ringe gebogenen Axe, sondern um diese Axe kreist, fühlt man sich durch die Ampère’sche Theorie doch günstig für die Thomson’sche gestimmt. Aber so vorschnell es wäre, Sir William Thomson’s sinnreiche Speculation, weil sie in vielen Stücken zu kurz kommt, leichthin abweisen zu wollen, Eines kann man schon sicher behaupten: dass sie, so wenig wie irgend eine frühere Vorstellung, die Widersprüche schlichtet, auf welche unser Intellect bei seinem Bestreben stösst, Materie und Kraft zu begreifen. Denn nichts verhindert mich den Thomson’schen Wirbelring, der einem Atom Wasserstoff entsprechen soll, mir so gross vorzustellen wie die SaturnsNature: a weekly illustrated Journal of Science. vol. V. p. 81 (Nov. 30, 1871); – vol. XIX. p. 288 (Jan. 30, 1879). – Vgl. »Über das Nationalgefühl”. Rede zur Gedächtnissfeier des Kaisers in der Akademie der Wissenschaften zu Berlin am 28. März 1878 gehalten von E. du BoisReymond. Diese Berichte, 1878. S. 241 ff.; – Nord und Süd. U.s.w. 1878. Bd. V. S. 320. 321; – Besonders erschienen bei Dümmler. 1879. S. 27 ff. 11 P.G. Tait, Lectures on Some Recent Advances in Physical Science with a special Lecture on Force. Second Edition, revised. London 1876. p. 290 sqq. 10
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ringe, und wie soll ich mir dann die darin wirbelnde Materie denken? Übrigens anerkennt die Thomson’sche Theorie, indem sie die Wirbelbewegung von Ewigkeit her bestehen, oder durch supernaturalistischen Anstoss entstehen lässt, die zweite Schwierigkeit, welche dem Begreifen der Welt entgegensteht. Dieser Schwierigkeiten lassen sich im Ganzen sieben unterscheiden. Transcendent nenne ich darunter die, welche mir auch dann unüberwindlich erscheinen, wenn ich mir die in der aufsteigenden Entwickelung ihnen voraufgehenden gelöst denke. Die erste Schwierigkeit ist das Wesen von Materie und Kraft. Als meine eine Grenze des Naturerkennens ist sie an sich transcendent. Die zweite Schwierigkeit ist der Ursprung der Bewegung. Wir sehen Bewegung entstehen und vergehen; wir können uns die | Materie in Ruhe vorstellen; die Bewegung erscheint uns an der Materie als etwas Zufälliges. Unser Causalitätsbedürfniss fühlt sich nur befriedigt, wenn wir uns vor unendlicher Zeit die Materie ruhend und gleichmässig im unendlichen Raume vertheilt denken. Da ein supernaturalistischer Anstoss in unsere Begriffswelt nicht passt, fehlt es dann am zureichenden Grunde für die erste Bewegung. Oder wir stellen uns die Materie als von Ewigkeit bewegt vor. Dann verzichten wir von vorn herein auf Verständniss in diesem Punkt. Wie bemerkt, halte ich diese Schwierigkeit für transcendent. Die dritte Schwierigkeit ist die erste Entstehung des Lebens. Ich sagte schon öfter und erst eben wieder, dass ich, der hergebrachten Meinung entgegen, keinen Grund sehe, diese Schwierigkeit für transcendent zu halten. Hat einmal die Materie angefangen sich zu bewegen, so können Welten entstehen; unter geeigneten Bedingungen, die wir so wenig nachahmen können, wie die unter welchen eine Menge unorganischer Vorgänge stattfinden, kann auch der eigenthümliche Zustand dynamischen Gleichgewichtes der Materie, den wir Leben
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nennen, geworden sein. Ich wiederhole es und bestehe darauf: sollten wir einen supernaturalistischen Act zulassen, so genügte ein einziger solcher Act, der bewegte Materie schüfe: auf alle Fälle brauchten wir nur Einen Schöpfungstag. Die vierte Schwierigkeit wird dargeboten durch die anscheinend absichtsvoll zweckmässige Einrichtung der Natur. Organische Bildungsgesetze können nicht zweckmässig wirken, wenn nicht die Materie zu Anfang zweckmässig geschaffen wurde; also sind sie mit der mechanischen Naturansicht unverträglich. Aber auch diese Schwierigkeit ist nicht unbedingt transcendent. Hr. Darwin zeigte in der natürlichen Zuchtwahl eine Möglichkeit, sie zu umgehen, und die innere Zweckmässigkeit der organischen Schöpfung, ihre Anpassung an die unorganischen Bedingungen, durch eine nach Art eines Mechanismus mit Naturnothwendigkeit wirkende Verkettung von Umständen zu erklären. Den Grad von Wahrscheinlichkeit, welcher der Selectionstheorie zukommt, erwog ich schon früher einmal bei gleicher Gelegenheit an dieser Stelle. »Mögen wir immerhin«, sagte ich, »indem wir an diese Lehre uns halten, die Empfindung des sonst rettungslos Versinkenden haben, der an eine ihn nur eben über Wasser tragende Planke sich klammert. Bei der Wahl zwischen Planke und | Untergang ist der Vortheil entschieden auf Seiten der Planke«.12 Dass ich die Selectionstheorie einer Planke verglich, an der ein Schiffbrüchiger Rettung sucht, erweckte im jenseitigen Lager solche Genugthuung, dass man vor Vergnügen beim Weitererzählen aus der Planke einen Strohhalm machte. Zwischen Planke und Strohhalm aber ist ein grosser Unterschied. Der auf einen Strohhalm Angewiesene versinkt, eine ordentliche Planke rettete schon manches Menschenleben: und deshalb ist auch die Diese Berichte, 1876. S. 400; – Darwin versus Galiani. Rede in der öffentlichen Sitzung des K. Preuss. Akademie der Wissenschaften zur Feier des Leibnizischen Jahrestages am 6. Juli 1876 gehalten von E. du Bois-Reymond, beständigem Secretar. Berlin 1876. S. 23. 12
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vierte Schwierigkeit bis auf Weiteres nicht transcendent, wie zagend ernstes und gewissenhaftes Nachdenken auch immer wieder davor stehe. Erst die fünfte ist es wieder durchaus: meine andere Grenze des Naturerkennens, das Entstehen der einfachen Sinnesempfindung. So eben wurde daran erinnert, wie ich die hypermechanische Natur dieses Problems, folglich seine Transcendenz, bewies. Es ist nicht unnütz zu betrachten, wie dies Leibniz thut. An mehreren Stellen seiner nicht systematischen Schriften findet sich die nackte Behauptung, dass durch keine Figuren und Bewegungen, in unserer heutigen Sprache, keine Anordnung und Bewegung von Materie, Bewusstsein entstehen könne.13 In den sonst gerade gegen den Essay on Human Understanding gerichteten Nouveaux Essais sur l’Entendement humain lässt Leibniz den Anwalt des Sensualismus, Philalethes, fast mit Locke’s Worten14 sagen: »Vielleicht wird es angemessen sein, etwas Nachdruck auf die Frage zu legen, ob ein denkendes Wesen von einem nicht denkenden Wesen ohne Empfindung und Bewusstsein, wie die Materie, herrühren könne. Es ist ziemlich klar, dass ein materielles Theilchen nicht einmal vermag, irgend etwas durch sich hervorzubringen und sich selber Bewegung zu ertheilen. Entweder also muss seine Bewegung von Ewigkeit, oder sie muss ihm durch ein mächtigeres Wesen eingeprägt sein. Aber auch wenn sie von Ewigkeit wäre, könnte sie nicht Bewusstsein erzeugen. Theilt die Materie, wie um sie zu vergeistigen, in beliebig kleine Theile; gebt ihr was für Figuren und Bewegungen Ihr wollt; macht daraus eine Kugel, einen Würfel, ein Prisma, einen Cylinder God. Guil. Leibnitii Opera philosophica. Ed. Erdmann. Berolini 1840. p. 203 (Réplique aux réflexions … de Mr. Bayle); – p. 463 (Commentatio de Anima Brutorum, § IV). 14 The Works of John Locke in ten volumes. Vol. III. London 1812. p. 55. 56. 13
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u.d.m., deren Dimensionen nur ein Tausendmilliontel eines philosophischen Fusses, d. h. des dritten Theiles des Secundenpendels unter 45° Breite betragen. Wie klein auch dies Theilchen sei, es wird auf Theilchen gleicher Ordnung nicht anders wirken, als Körper von | einem Zoll oder einem Fuss Durchmesser es untereinander thun. Und man könnte mit demselben Recht hoffen, Empfindung, Gedanken, Bewusstsein durch Zusammenfügung grober Theile der Materie von bestimmter Figur und Bewegung zu erzeugen, wie mittels der kleinsten Theilchen in der Welt. Diese stossen, schieben und widerstehen einander gerade wie die groben, und weiter können sie nichts. Könnte aber Materie, unmittelbar und ohne Maschine, oder ohne Hülfe von Figuren und Bewegungen, Empfindung, Wahrnehmung und Bewusstsein aus sich selber schöpfen: so müssten diese ein untrennbares Attribut der Materie und aller ihrer Theile sein«. Darauf antwortet Theophil, der Vertreter des Leibnizischen Idealismus: »Ich finde diese Schlussfolgerung so fest begründet wie nur möglich, und nicht bloss genau zutreffend, sondern auch tief, und ihres Urhebers würdig. Ich bin ganz seiner Meinung, dass es keine Combination oder Modification der Theilchen der Materie giebt, wie klein sie auch seien, welche Wahrnehmung erzeugen könnte; da, wie man klar sieht, die groben Theile dies nicht vermöchten, und in den kleinen Theilen alle Vorgänge denen in den grossen proportional sind.«15 In der später für Prinz Eugen verfassten ›Monadologie‹ sagt Leibniz kürzer und mit ihm eigener, charakteristischer Wendung: »Man ist gezwungen zu gestehen, dass die Wahrnehmung, und was davon abhängt, aus mechanischen Gründen, d. h. durch Figuren und Bewegungen, unerklärlich ist. Stellt man sich eine Maschine vor, deren Bau Denken, Fühlen, Wahrnehmen bewirke, so wird man sie sich in denselben Verhältnissen vergrössert denken können, so dass man hineintreten 15
Leibnitii Opera etc. L. c. p. 375. 376. – Cfr. Avant-propos, p. 203.
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könnte, wie in eine Mühle. Und dies vorausgesetzt wird man in ihrem Inneren nichts antreffen als Theile, die einander stossen, und nie irgend etwas woraus Wahrnehmung sich erklären liesse.«16 So gelangt Leibniz zu demselben Ergebniss wie wir, doch ist dazu zweierlei zu bemerken. Erstens verlor Locke’s von Leibniz angenommene Beweisführung an Bündigkeit durch die Fortschritte der Naturwissenschaft. Denn vom heutigen Standpunkt aus könnte eingewendet werden, dass bei immer feinerer Zertheilung der Materie allerdings ein Punkt kommt, wo sie neue Eigenschaften entfaltet: bei der Diffusion, den chemischen Vorgängen, der Krystallbildung, in den Organismen. Es fällt sogar sehr auf, dass weder Locke noch Leibniz daran dachten, | wie es keineswegs gleichgültig ist, ob fussgrosse Klumpen Kohle, Schwefel und Salpeter neben und aufeinander ruhen, oder ob diese Stoffe in bestimmtem Verhältniss zu einem Mischpulver verrieben, und zu Klümpchen von einer gewissen Feinheit gekörnt sind. Nicht einmal die mechanische Leistung einander ähnlicher Maschinen ist ihrer Grösse proportional. Wenn so die Materie nach dem Grad ihrer Zertheilung andere und andere Wirkungen äussert, warum sollte sie bei noch feinerer Zertheilung nicht auch denken? Um zu dieser nur scheinbar berechtigten, doch vielleicht Manche irreleitenden Frage nicht erst Gelegenheit zu geben, ist es besser, Locke’s fortschreitende Zerkleinerung der Materie, Leibniz’ Gedankenmühle aus dem Spiel zu lassen, und gleich von der in ihre physikalischen Atome zerlegten Materie auszusa-
Leibnitii Opera etc. L. c. p. 706. – Leibniz konnte wohl bei dem Prinzen die Kenntniss keiner anderen grossen Maschine voraussetzen, als einer Mühle. Ihm selber war die Dampf- (Feuer-) Maschine eine ganz vertraute Vorstellung (Leibnizens und Huygens’ Briefwechsel mit Papin, nebst der Biographie Papin’s u.s.w. Bearbeitet und auf Kosten der K. Preuss. Akademie der Wissenschaften herausgegeben von Dr. E. Gerland. Berlin 1881.) 16
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gen, dass durch keine Anordnung und Bewegung dieser Atome das Bewusstsein erklärt wird. Die zweite Bemerkung ist, dass wir zwar bis hierher mit Leibniz gehen, aber vorläufig nicht weiter. Aus der Unbegreiflichkeit des Bewusstseins aus mechanischen Gründen schliesst er, dass es nicht durch materielle Vorgänge erzeugt werde. Wir begnügen uns damit, jene Unbegreiflichkeit anzuerkennen, der ich gern den drastischen Ausdruck gebe, dass es eben so unmöglich ist zu verstehen, warum Zwicken des N. trigeminus Höllenschmerz verursacht, wie warum die Erregung gewisser anderer Nerven wohlthut. Leibniz verlegt das Bewusstsein in die dem Körper zuertheilte Seelenmonade, und lässt durch Gottes Allmacht darin eine den Erlebnissen des Körpers entsprechende Reihe von Traumbildern ablaufen. Wir dagegen häufen Gründe dafür, dass das Bewusstsein an materielle Vorgänge gebunden sei. Nicht mit voller Überzeugung stelle ich als sechste Schwierigkeit das vernünftige Denken und den Ursprung der damit eng verbundenen Sprache auf. Zwischen einer Amoebe und einem Menschen, zwischen Neugeborenem und Erwachsenem ist sicher eine gewaltige Kluft; sie lässt sich aber bis zu einem gewissen Grade durch Übergänge ausfüllen. Die Entwickelung des geistigen Vermögens in der Thierreihe leistet dies objectiv bis zu den anthropomorphen Affen; um beim Einzelwesen von der einfachen Empfindung zu den höheren Stufen geistiger Thätigkeit zu gelangen, bedarf die Erkenntnisstheorie wahrscheinlich nur des Gedächtnisses und | des Vermögens der Verallgemeinerung. Wie gross auch der zwischen den höchsten Thieren und den untersten Menschen übrig bleibende Sprung und wie schwer die hier zu lösenden Aufgaben seien, bei einmal gegebenem Bewusstsein ist deren Schwierigkeit ganz anderer Art als die, welche der mechanischen Erklärung des Bewusstseins überhaupt entgegensteht: diese und jene sind incommensurabel. Daher bei gelöstem Problem B, um wieder Strauss’ Notation anzuwenden, das Problem C mir nicht
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transcendent erscheint. Wie Strauss richtig bemerkt,17 hängt aber das Problem C eng zusammen mit einem anderen, welches in unserer Reihe als siebentes und letztes auftritt. Dies ist die Frage nach der Willensfreiheit. Zwar liegt es in der Natur der Dinge, dass alle hier aufgezählten Probleme die Menschheit beschäftigt haben, so lange sie denkt. Über Constitution der Materie, Ursprung des Lebens und der Sprache ist jederzeit, bei allen Culturvölkern, gegrübelt worden. Doch waren es stets nur wenig erlesene Geister, die bis zu diesen Fragen vordrangen, und wenn auch gelegentlich scholastisches Gezänk um sie sich erhob, reichte doch der Hader kaum über akademische Hallen hinaus. Anders mit der Frage, ob der Mensch in seinem Handeln frei, oder durch unausweichlichen Zwang gebunden sei. Jeden berührend, scheinbar Jedem zugänglich, innig verflochten mit den Grundbedingungen der menschlichen Gesellschaft, auf das Tiefste eingreifend in die religiösen Überzeugungen, hat diese Frage in der Geistes- und Culturgeschichte eine Rolle unermesslicher Wichtigkeit gespielt, und in ihrer Behandlung spiegeln sich die Entwickelungsstadien des Menschengeistes deutlich ab. Das classische Alterthum hat sich nicht sehr den Kopf über das Problem der Willensfreiheit zerbrochen. Da für die antike Weltanschauung im Allgemeinen weder der Begriff unverbrüchlich bindender Naturgesetze, noch der einer absoluten Weltregierung vorhanden war, so lag kein Grund vor zu einem Conflikt zwischen Willensfreiheit und dem herrschenden Weltprincip. Die Stoa glaubte an ein Fatum, und läugnete demgemäss die Willensfreiheit, die römischen Moralisten stellten diese aber aus ethischem Bedürfniss auf naïv subjectiver Grundlage wieder her. »Sentit animus se moveri:« – heisst es in den Tusculanen18 – »quod quum sentit, illud una sentit se 17 18
A. a. O. S. 267. 268. M. Tullii Ciceronis Scripta quae manserunt omnia. Recognovit
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vi sua, non aliena moveri;« und der stoïsche Fatalismus wurde durch Anekdoten verspottet, wie die von dem Sklaven des | Zenon von Kition, der den begangenen Diebstahl durch das Fatum entschuldigend zur Antwort erhält: Nun wohl, so war es auch dein Fatum geprügelt zu werden. Eine Geschichte, welche heute noch am Bosporus spielen könnte, wo das türkische Kismeth an Stelle der stoïschen Ειμαρμένη trat. Der christliche Dogmatismus (gleichviel wie viel semitische und wie viel hellenistische Elemente zu ihm verschmolzen) war es, der durch die Frage nach der Willensfreiheit in die dunkelsten, selbstgegrabenen Irrwege gerieth. Von den Kirchenvätern und Schismatikern, von Augustinus und Pelagius, durch die Scholastiker Scotus Erigena und Anselm von Canterbury, bis zu den Reformatoren Luther und Calvin und darüber hinaus, zieht sich der hoffnungslos verworrene Streit über Willensfreiheit und Praedestination. Gott ist allmächtig und allwissend; nichts geschieht, was er nicht von Ewigkeit wollte und vorhersah. Also ist der Mensch unfrei; denn handelte er anders als Gott vorherbestimmt hatte, so wäre Gott nicht allmächtig und allwissend gewesen. Also liegt es nicht in des Menschen Willen, dass er das Gute thue oder sündige. Wie kann er dann für seine Thaten verantwortlich sein? Wie verträgt es sich mit Gottes Gerechtigkeit und Güte, dass er den Menschen straft oder belohnt für Handlungen, welche im Grunde Gottes eigene Handlungen sind? Das ist die Form, in welcher das Problem der Willensfreiheit dem durch heiligen Wahnsinn verfinsterten Menschengeiste sich darstellte. Die Lehre von der Erbsünde, die Fragen nach der Erlösung durch eigenes Verdienst oder durch das Blut des Heilandes, durch den Glauben oder durch die Werke, nach den verschiedenen Arten der Gnade, verwuchsen tausendfältig mit jenem an Spitzfindigkeiten schon hinlänglich fruchtbaren DiReinholdus Klotz. Partis IV. vol. I. Lipsiae 1872. p. 261. 262 (Tusculanarum Disputationum Lib. I. Cap. 23).
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lemma, und vom vierten bis zum siebzehnten Jahrhundert wiederhallten durch die ganze Christenheit Klöster und Schulen von Disputationen über Determinismus und Indeterminismus. Vielleicht giebt es keinen Gegenstand menschlichen Nachdenkens, über welchen längere Reihen nie mehr aufgeschlagener Folianten im Staube der Bibliotheken modern. Aber nicht immer blieb es beim Bücherstreit. Wüthende Verketzerung mit allen Greueln, die damals der herrschenden Religionspartei gegen Andersdenkende freistanden, hing sich an solche abstruse Controversen um so lieber, je weniger damit Vernunft und aufrichtiges Streben nach Wahrheit zu thun hatten. | Wie anders fasst unsere Zeit das Problem der Willensfreiheit auf. Die Erhaltung der Energie besagt, dass, so wenig wie Materie, jemals Kraft entsteht oder vergeht. Der Zustand der ganzen Welt, auch eines menschlichen Gehirnes, in jedem Augenblick ist die unbedingte mechanische Wirkung des Zustandes im vorhergehenden Augenblick, und die unbedingte mechanische Ursache des Zustandes im nächstfolgenden Augenblick. Dass in einem gegebenen Augenblick von zwei Dingen das eine oder das andere geschehe, ist undenkbar. Die Hirnmolekeln können stets nur auf bestimmte Weise fallen, so sicher wie Würfel, nachdem sie den Becher verliessen. Wiche ein Molecül ohne zureichenden Grund aus seiner Lage oder Bahn, so wäre das ein Wunder so gross als bräche der Jupiter aus seiner Ellipse und versetzte das Planetensystem in Aufruhr. Wenn nun, wie der Monismus es sich denkt, unsere Vorstellungen und Strebungen, also auch unsere Willensacte, zwar unbegreifliche, doch nothwendige und eindeutige Begleiterscheinungen der Bewegungen und Umlagerungen unserer Hirnmolekeln sind, so leuchtet ein, dass es keine Willensfreiheit giebt; dem Monismus ist die Welt ein Mechanismus, und in einem Mechanismus ist kein Platz für Willensfreiheit. Der Erste, dem die materielle Welt in solcher Gestalt vorschwebte, war Leibniz. Wie ich an dieser Stelle schon öfter
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bemerklich machte, war seine mechanische Weltanschauung durchaus dieselbe, wie die unsrige. Wenn er die Erhaltung der Energie auch noch nicht wie wir durch die verschiedenen Molecularvorgänge zu verfolgen vermochte, er war von dieser Erhaltung überzeugt. Er befand sich sämmtlichen Molecularvorgängen gegenüber in der Lage, in welcher wir uns noch einzelnen gegenüber befinden. Da nun Leibniz ebenso fest an eine Geisterwelt glaubte, die ethische Natur des Menschen in den Kreis seiner Betrachtungen zog, ja sich mit der positiven Religion trefflich abfand, so lohnt sich zu fragen, was er von der Willensfreiheit hielt, insbesondere wie er sie mit der mechanischen Weltansicht zu verbinden wusste. Leibniz war unbedingter Determinist, und musste es seiner ganzen Lehre nach sein.19 Er nahm zwei von Gott geschaffene Substanzen an, die materielle Welt und die Welt seiner Monaden. Die eine kann nicht auf die andere wirken; in beiden laufen mit unabänderlich vorherbestimmter Nöthigung, vollkommen unabhängig von einander, aber genau Schritt haltend, mit einander harmonirende | Processe ab: das mathematisch vor- und rückwärts berechenbare Getriebe der Weltmaschine, und in den zu jedem beseelten Einzelwesen gehörigen Seelenmonaden die Vorstellungen, welche den scheinbaren Sinneseindrücken, Willensacten und Vorstellungen des Wirthes der Monade entsprechen. Der blosse Name der praestabilirten Harmonie, den Leibniz seinem Systeme giebt, schliesst die Freiheit aus. Da die Vorstellungen der Monaden blosse Traumbilder ohne mechanische Ursache, ohne Zusammenhang mit der Körperwelt sind, so hat es Leibniz leicht, die subjective Überzeugung von der Freiheit unserer Handlungen zu erklären. Gott hat einfach den Fluss der Vorstellungen der Seelenmonade so angeordnet, dass sie frei zu handeln meint. Vergl. unter anderen: Lettre à Mr. Bayle (1702) Opera etc. p. 191. »Pour ce qui est du franc arbitre, je suis de l’avis des Thomistes et autres philosophes, qui croient que tout est prédéterminé.« 19
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Bei anderer Gelegenheit schliesst sich Leibniz mehr der gewöhnlichen Denkweise an, indem er dem Menschen einen Schein von Freiheit lässt, hinter welchem sich geheime zwingende Antriebe verbergen. Durch den Artikel ›Buridan‹ in seinem Dictionnaire historique et critique20 hatte Pierre Bayle wieder die Aufmerksamkeit auf das vielbesprochene, fälschlich jenem Scholastiker zugeschriebene, schon bei Dante,21 ja bei Aristoteles vorkommende Sophisma gelenkt von »…… dem grauen Freunde, Der zwischen zwei Gebündel Heu ……« elendiglich verhungert, da beiderseits Alles gleich ist, er aber als Thier das franc arbitre entbehrt. »Es ist wahr,« sagt Leibniz in der Theodicee, »dass, wäre der Fall möglich, man urtheilen müsste, dass er sich Hungers sterben lassen würde: aber im Grunde handelt es sich um Unmögliches; es sei denn dass Gott die Sache absichtlich verwirkliche. Denn durch eine den Esel der Länge nach hälftende senkrechte Ebene könnte nicht auch das Weltall so gehälftet werden, dass beiderseits Alles gleich wäre; wie eine Ellipse oder sonst eine der von mir amphidexter genannten ebenen Figuren, welche jede durch ihren Mittelpunkt gezogene Grade hälftet. Denn weder die Theile des Weltalls, noch die Eingeweide des Thieres sind auf beiden Seiten jener senkrechten Ebene einander gleich und gleich gelegen. Es würde also immer viel Dinge im Esel und ausserhalb des Esels geben, welche, obschon wir sie nicht bemerken, ihn bestimmen würden eher der einen als der anderen Seite sich zuzuwenden. Und obschon der Mensch frei ist, was der Esel nicht ist, erscheint doch auch im Menschen der Fall vollkomme | nen Gleichgewichtes der Bestimmungsgründe für zwei Entschlüsse unmöglich, und ein Engel, oder wenigstens Gott, Dictionnaire historique et critique etc. Cinquième Édition. À Amsterdam etc. 1740. Fol. t. I. p. 708 et suiv. 21 Il Paradiso. Canto quarto. V. 1 sqq. 20
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würde stets einen Grund für den vom Menschen gefassten Entschluss angeben können, wenn auch wegen der weit reichenden Verkettung der Ursachen dieser Grund oft sehr zusammengesetzt und uns selber unbegreiflich wäre.«22 Über die Frage, wo beim Determinismus die Verantwortlichkeit des Menschen, die Gerechtigkeit und Güte Gottes bleiben, hilft sich Leibniz mit seinem Optimismus fort. Am Schluss der Theodicee, von der ein grosser Theil diesem Gegenstande gewidmet ist, führt er, eine Fiction des Laurentius Valla fortspinnend,23 aus, wie es für den Sextus Tarquinius freilich schlimm war, Verbrechen begehen zu müssen, für welche ihm die Strafe nicht erspart werden konnte. Zahllose Welten waren möglich, in denen Tarquinius eine mehr oder minder achtungswerthe Rolle gespielt, mehr oder minder glücklich gelebt hätte, darunter solche sogar, wo er als tugendhafter Greis, von seinen Mitbürgern geehrt und beweint, hochbejahrt gestorben wäre: allein Gott musste vorziehen, diese Welt zu erschaffen, in welcher Sextus Tarquinius ein Bösewicht wurde, weil voraussichtlich sie die beste, in ihr das Gute im Grossen und Ganzen ein Maximum war.24 Es braucht nicht gesagt zu werden, dass dem Monismus mit diesen immerhin in sich folgerichtigen, aber, um das Geringste zu sagen, höchst willkürlichen und das Gepräge des Unwirklichen tragenden Vorstellungen nicht gedient sein kann, und so muss er denn selber seine Stellung zum Problem der Willensfreiheit sich suchen. Sobald man sich entschliesst, das subjective Gefühl der Freiheit für Täuschung zu erklären, ist es auf monistischer Grundlage so leicht, wie bei extremem DualisThéodicée. Essais sur la Bonté de Dieu, la Liberté de l’Homme et l’Origine du Mal. Partie I. 49 (Opera etc. p. 517). – Buridan’s Esel kommt bei Leibniz noch vor: l. c. p. 225. 448. 449. 594. 23 Laurentii Vallae Opera etc. Basileae apud Henrichum Petrum, Mense Augusto, Anno MDXLIII. (Gr. 8°). p. 1005. (In der Schrift: De Libero Arbitrio ad Garsam Episcopum Illerdensem.) 24 L. c. p. 620. (Partie III. § 405 sqq.) 22
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mus, die scheinbare Freiheit mit der Nothwendigkeit zu versöhnen. Die Fatalisten aller Zeiten, worin auch ihre Überzeugung wurzelte, Zenon, Augustinus und die Thomisten, Calvin, Leibniz, Laplace,25 – Jacques und seinen Hauptmann nicht zu vergessen – fanden darin keine Schwierigkeit. Mit mässiger dialektischer Gewandtheit lässt sich Einem jenes von Cicero beschriebene Gefühl wegdisputiren. Auch im Traume fühlen wir uns frei, da doch die Phantasmen unserer Sinnsubstanzen mit uns spielen. Von vielen scheinbar mit Überlegung ausgeführten, weil zweckmässigen Handlungen wissen wir jetzt, dass sie unwillkürliche Wirkungen gewisser Einrichtungen unseres Nervensystemes | sind, der Reflexmechanismen und der sogenannten automatischen Nervencentren. Wenn wir auf den Fluss unserer Gedanken achten, bemerken wir bald, wie unabhängig von unserem Wollen Einfälle kommen, Bilder aufleuchten und verlöschen. Sollten unsere vermeintlichen Willensacte in der That viel willkürlicher sein? Sind überdies alle unsere Empfindungen, Strebungen, Vorstellungen nur das Erzeugniss gewisser materieller Vorgänge in unserem Gehirn, so entspricht der Molecularbewegung, mit der die Willensempfindung zum Heben des Armes verbunden ist, auch der materielle Anstoss, der die Hebung des Armes rein mechanisch bewirkt, und es bleibt also beim ersten Blick gar kein Dunkel zurück. Das Dunkel zeigt sich aber für die meisten Naturen, sobald man die physische Sphäre mit der ethischen vertauscht. Denn man giebt leicht zu, dass man nicht frei, sondern als Werkzeug verborgener Ursachen handelt, so lange die Handlung gleichgültig ist. Ob Caesar in Gedanken die rechte oder linke Caliga zuerst anlegt, bleibt sich gleich, in beiden Fällen tritt er gestiefelt aus dem Zelt. Ob er den Rubicon überschreitet oder nicht, davon hängt der Lauf der Weltgeschichte ab. So wenig 25
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Essai philosophique sur les Probabilités. Seconde Éd. Paris 1814.
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frei sind wir in gewissen kleinen Entschliessungen, dass ein Kenner der menschlichen Natur mit überraschender Sicherheit vorhersagt, welche Karte von mehreren unter bestimmten Bedingungen hingelegten wir aufnehmen werden. Aber auch der entschlossenste Monist vermag den ernsteren Forderungen des praktischen Lebens gegenüber die Vorstellung nur schwer festzuhalten, dass das ganze menschliche Dasein nichts sei als eine Fable convenue, in welcher mechanische Nothwendigkeit dem Cajus die Rolle des Verbrechers, dem Sempronius die des Richters ertheile, und deshalb Cajus zum Richtplatz geführt werde, während Sempronius frühstücken gehe. Wenn Hr. Stephan uns berichtet, dass auf hunderttausend Briefe Jahr aus Jahr ein so und so viel entfallen, welche ohne Adresse in den Kasten geworfen wurden, denken wir uns nichts Besonderes dabei. Aber dass nach Quetelet unter hunderttausend Einwohnern einer Stadt Jahr aus Jahr ein naturnothwendig so und so viel Diebe, Mörder und Brandstifter sind,26 das empört unser sittliches Gefühl; denn es ist peinlich denken zu müssen, dass wir nur deshalb nicht Verbrecher wurden, weil Andere für uns die schwarzen Loose zogen, die auch unser Theil hätten werden können. Wer gleichsam schlafwandelnd durch das Leben geht, ob | er in seinem Traum die Welt regiere oder Holz hacke; wer als Historiker, Jurist, Poët in einseitiger Beschaulichkeit mehr mit menschlichen Satzungen und Leidenschaften, oder wer naturforschend und -beherrschend ebenso beschränkten Blickes nur mit Naturgesetzen verkehrt: der vergisst jenes Dilemma, auf dessen Hörner gespiesst unser Verstand gleich der Beute des Neuntödters schmachtet; wie wir die Doppelbilder vergessen, welche Schwindel erregend uns sonst überall verfolgen würden. In um so verzweifelteren Anstrengungen, solcher Qual sich zu entwinden, erschöpft sich die kleine Schaar derer, die Sur l’Homme et le Développement de ses Facultés, ou Essai de Physique sociale. Bruxelles 1836. t. II. p. 171 et suiv. 26
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mit dem Rabbi von Amsterdam das All sub specie aeternitatis anschauen: es sei denn, dass sie wie Leibniz getrost die Selbstbestimmung sich absprechen. Die Schriften der Metaphysiker bieten eine lange Reihe von Versuchen, Willensfreiheit und Sittengesetz mit mechanischer Weltordnung zu versöhnen. Wäre ihrer Einem, etwa Kant, diese Quadratur wirklich gelungen, so würde wohl die Reihe zu Ende sein. So unsterblich pflegen nur unbesiegbare Probleme zu sein. Minder bekannt als diese metaphysischen sind die neuerlich in Frankreich hervorgetretenen, auf dasselbe Ziel gerichteten mathematischen Bestrebungen. Sie knüpfen an Descartes’ verunglückten Versuch an, die Einwirkung der Seele auf den Leib, der geistigen Substanz auf die materielle zu erklären. Obschon nämlich Descartes die Quantität der Bewegung in der Welt für constant hielt, und obschon er nicht glaubte, dass die Seele Bewegung erzeugen könne, meinte er doch, dass die Seele die Richtung zu bestimmen vermöge, in welcher Bewegung stattfinde. Leibniz zeigte, dass nicht die Summe der Bewegungen, sondern die der Bewegungskräfte constant ist, und dass auch die in der Welt vorhandene Summe der Richtkräfte oder des Fortschrittes nach irgend einer im Raum gezogenen Axe dieselbe bleibt. So nennt er die algebraische Summe der jener Axe parallelen Componenten aller mechanischen Momente. Nach letzterem, von Descartes übersehenen Satze könne auch die Richtung von Bewegungen nicht ohne entsprechenden Kraftaufwand bestimmt oder verändert werden. Wie klein man sich solchen Kraftaufwand auch denke, er mache einen Theil des Naturmechanismus aus, und könne nicht der geistigen Substanz zugeschrieben werden.27 Eine Einsicht, zu Leibnitii Opera etc. p. 133: » … il se conserve non seulement la même quantité de la force mouvante, mais encore la même quantité de direction vers quel coté qu’on le prenne dans le monde. C’est-à-dire: menant une ligne droite telle qu’il vous plaira, et prenant encore des corps tels et tant qu’il vous plaira; vous trouverez, en considérant tous ces 27
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welcher es wohl kaum des von Leibniz herangezogenen Apparates bedurfte, da der Hinweis auf Galilei’s Bewegungsgesetze genügt. | Der verstorbene Mathematiker Cournot,28 der durch seine Arbeiten über Elasticität rühmlich bekannte Pariser Akademiker Hr. de Saint-Venant,29 und Hr. Boussinesq, Professor in Lille, haben sich die Aufgabe gestellt, die Bande des mechanischen Determinismus durch den Nachweis zu sprengen, dass, Leibniz’ Behauptung entgegen, ohne Kraftaufwand Bewegung erzeugt oder die Richtung der Bewegung geändert werden könne. Cournot und Hr. de Saint-Venant führen dazu den der deutschen physiologischen Schule längst geläufigen30 Begriff der Auslösung (décrochement) ein. Sie glauben, dass die zur Auslösung der willkürlichen Bewegung nöthige Kraft nicht bloss verhältnissmässig sehr klein, sondern gleich Null sein könne. Hr. Boussinesq seinerseits weist auf gewisse Differentialgleichungen der Bewegung hin, deren Integrale singuläre Lösungen der Art zulassen, dass der Sinn der weiteren Bewegung zweideutig oder völlig unbestimmt wird.31 Schon corps ensemble, sans omettre aucun de ceux qui agissent sur quelqu’un de ceux que vous avez pris, qu’il y aura toujours la même quantité de progrès du même côté dans toutes les parallèles à la droite que vous avez prise: prenant garde qu’il faut estimer la somme du progrès, en ôtant celui des corps qui vont en sens contraire de celui de ceux qui vont dans le sens qu’on a pris.« – Cfr. p. 108. 429. 430. 520. 645. 702. 711. 723. 28 Traité de l’enchaînement des idées fondamentales dans les Sciences et dans l’Histoire. 1861. t. I. p. 364. 370. 374. (Nach Boussinesq [s. Anm. 31] angeführt.) 29 Accord des lois de la Mécanique avec la Liberté de l’homme dans son action sur la Matière. Comptes rendus etc. 5 Mars 1877. t. LXXXIV. p. 419 et suiv. 30 Man sehe meine Auseinandersetzung in: Die Fortschritte der Physik im Jahre 1847. Dargestellt von der physikalischen Gesellschaft zu Berlin. Bd. III. Berlin 1850. S. 415. 31 Conciliation du véritable Déterminisme mécanique avec l’existence de la Vie et de la Liberté morale. (Extrait des Mémoires de la Socié-
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Poisson hatte auf diese Lösungen als auf eine Art mechanischen Paradoxon’s aufmerksam gemacht.32 Solch ein Fall ist beispielsweise der, wo ein schwerer Punkt am Umfang eines vollkommen glatten Paraboloïds mit senkrechter Axe und aufwärts gerichtetem Gipfel in einer durch die Axe gelegten Ebene die tangentiale Geschwindigkeit nach oben erhält, welche er vom Gipfel fallend an derselben Stelle erlangt. Er kommt dann mit der Geschwindigkeit Null auf dem Gipfel an, und bleibt liegen, bis es etwa einem dort hausenden ›Principe directeur‹ gefällt, dem Punkt in beliebiger Richtung einen Anstoss zu ertheilen, der, obschon gleich Null, doch im Stande sein soll, ihn wieder am Paraboloïd hinabgleiten zu lassen. Cournot glaubt der auslösenden Kraft gleich Null, Hr. Boussinesq der Integrale mit singulären Lösungen schon zu bedürfen, um dadurch, in Verbindung mit dem ›lenkenden Principe‹, die Mannigfaltigkeit und Unbestimmbarkeit der organischen Vorgänge zu erklären. Die deutsche physiologische Schule, längst gewöhnt, in den Organismen nichts zu sehen als eigenartige Mechanismen, wird sich mit dieser Auffassung schwerlich befreunden, und trotz den gegentheiligen Versicherungen, trotz der Auctorität Cournot’s und Claude Bernard’s,33 hinter dem ›lenkenden Principe‹ die in Frankreich stets, unter der einen oder anderen Gestalt und Benennung, wieder auftauchende Lebenskraft fürchten. | Dabei sei bemerkt, dass Hr. Boussinesq mich missversteht, wenn er mich in den ›Grenzen des Naturerkennens‹ sagen lässt, ein Organismus unterscheide sich von einer Krystallbildung, etwa von Eisblumen oder dem Dianabaum, nur durch grösté des Sciences, de l’Agriculture et des Arts de Lille, année 1878, t. VI, 4 e série). Paris 1878. – S. auch Comptes rendus etc. 19 Février 1877. t. LXXXIV. p. 362. 32 Journal de l’École Polytechnique. XIIIe cahier. t. VI. 1806. p. 63. 106. 33 Claude Bernard, Rapport sur le marche et les progrès de la physiologie générale en France. Paris 1867. p. 223.
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sere Verwickelung. Ich lege im Gegentheil Werth darauf, den Umstand genau bezeichnet zu haben, in welchem mir alle die sinnfälligen Unterschiede zu wurzeln scheinen, die jederzeit die Menschheit trieben, in der lebenden und der todten Natur zwei verschiedene Reiche zu erkennen, obschon, unserer jetzigen Überzeugung nach, in beiden dieselben Kräfte walten. Dieser Umstand ist der, dass in den unorganischen Individuen, den Krystallen, die Materie sich in stabilem Gleichgewicht befindet, während in den organischen Individuen mehr oder minder vollkommenes dynamisches Gleichgewicht der Materie herrscht, bald mit positiver, bald mit negativer Bilanz. Während der das Thier durchrauschende Strom von Materie der Umwandlung potentieller in kinetische Energie dient, erklärt er zugleich die Abhängigkeit des Lebens von äusseren Bedingungen, den integrirenden Reizen der älteren Physiologie, und die Vergänglichkeit des Organismus gegenüber der Ewigkeit des bedürfnisslos in sich ruhenden Krystalls.34 Unseres Bedünkens kann die Theorie des unbewussten Lebens ohne sich gabelnde Integrale und ohne ›lenkendes Princip‹ auskommen. Andererseits ist zu bezweifeln, dass mit diesen Hülfsmitteln, oder mit der Auslösung, in dem Streit zwischen Willensfreiheit und Nothwendigkeit irgend etwas auszurichten sei. Hrn. Paul Janet’s empfehlender Bericht an die Académie des Sciences morales et politiques,35 dessen lichtvolle Schönheit ich höchlich bewundere, lässt auf die Verantwortung der drei Mathematiker hin die Möglichkeit eines mechanischen Indeterminismus gelten. Indem aber diese Lehre von der Behauptung, die auslösende Kraft könne unendlich klein sein, übergeht zu der, sie könne auch wirklich Null sein, »Über die Grenzen des Naturerkennens.« In allen Auflagen. Vierte Auflage S. 17. 18. 35 Comptes rendus de l’Académie des Sciences morales et politiques. 1878. t. IX. p. 696 et suiv.; – Abgedruckt bei Boussinesq, L. c. p. 3 et suiv. 34
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scheint sie von einem in der Infinitesimal-Rechnung unter ganz anderen Bedingungen üblichen Verfahren unstatthaften Gebrauch zu machen. Erstere Behauptung will doch nur sagen, dass die auslösende Kraft im Vergleich zur ausgelösten Kraft verschwindend klein sein könne. So verschwindet die Kraft des Flügelschlages einer Krähe, welcher die Lauine zu Fall bringt, gegen die Kraft der schliesslich zu Thal stürzenden Schneemassen, d. h. wir können eine der ersteren gleiche Kraft bei Messung der | letzteren vernachlässigen, weil sie bei keiner ziffermässigen Erwägung merklichen Einfluss übt, auch weit innerhalb der Grenzen der Beobachtungsfehler fällt. Aber wie winzig, vom Thal aus betrachtet, neben der rasenden Gewalt der Lauine der Flügelschlag hoch oben erscheint, in der Nähe bleibt er ein Flügelschlag, dem ein bestimmtes Gewicht auf bestimmte Höhe gehoben entspricht. Im Wesen der Auslösung liegt, dass auslösende und ausgelöste Kraft von einander unabhängig, durch kein Gesetz verknüpft sind. Daher es ungenau ist zu sagen, »das Verhältniss der auslösenden zur ausgelösten Kraft strebe der Grenze Null zu,«36 ohne hinzuzufügen, dass dies nur auf einem im Sinne der auslösenden Kraft zufälligen Wachsen der ausgelösten Kraft beruhe, also in unserem Beispiel bei sich gleich bleibendem Flügelschlag auf immer grösserer Höhe, Steilheit, Glätte der Bergwand, immer mächtigerer Anhäufung von Schnee u.d.m. So wenig kann die auslösende Kraft an sich wahrhaft Null sein, dass, soll nicht die Auslösung versagen, sie nicht einmal unter einen gewissen, von den Umständen abhängigen ›Schwellenwerth‹ sinken darf; und somit De Saint-Venant, l. c. p. 422: »Nous avons dit que la production des plus immenses effets n’exigeait qu’un échange adéquat des deux espèces d’énergie«, – potentielle et actuelle ou cinétique – »et que la proportion du travail déterminant le commencement de cet échange tendait vers une limite zéro. Rien n’empèche donc de supposer que l’union toute mystérieuse du sujet à son organe ait été établie telle, qu’elle puisse, sans travail mécanique, y déterminer le commencement de pareils échanges.« Die cursiv gedruckten Worte habe ich hervorgehoben. 36
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ist nicht daran zu denken, mit Hülfe des Principes der Auslösung zu erklären, wie eine geistige Substanz materielle Änderungen bewirken könne. Was die von Hrn. Boussinesq vorgeschlagene Lösung betrifft, so ist der schwere Punkt im Point d’arrêt einfach in labilem Gleichgewicht liegen geblieben, und, um die Folgen dieser Lagerung zu erwägen, war nicht nöthig, ihn erst durch Integration hinauf zu befördern. In der That unterscheidet sich der Fall nur durch abstracte Ausdrucksweise und mathematische Einkleidung von dem Dante’s oder Buridan’s, der sich auch so formuliren lässt, dass das hungernde Geschöpf sich »Intra duo cibi, distanti e moventi D’un modo …,« in labilem Gleichgewicht befinde. Kein ›lenkendes Princip‹ immaterieller Natur vermag den schweren Punkt auf dem Gipfel des Paraboloïds um die kleinste Grösse zu verschieben; auch auf bis zur Reibungslosigkeit polirter Unterlage gehört dazu eine wenn auch noch so kleine mechanische Kraft. Könnte dies eine Kraft gleich Null, so verschwände zugleich unsere zweite transcendente Schwierigkeit, Entstehung der Bewegung bei gleichmässiger Vertheilung der Materie im unendlichen Raum; da es an einem Anstoss gleich Null ja nirgend fehlt. | Hr. Boussinesq bringt auch die bekannte Frage zur Sprache, was die Folge der Umkehr aller Bewegungen in der Welt wäre. Denkt man sich den Weltmechanismus nur aus umkehrbaren Vorgängen bestehend, und in einem gegebenen Augenblick die Bewegungen aller grossen und kleinen Theile der Materie mit gleicher Geschwindigkeit in gleicher Richtung umgekehrt, wie die eines zurückgeworfenen Balles, so müsste die Geschichte der materiellen Welt sich rückwärts wieder abspielen. Alles, was je sich ereignet, trüge sich in umgekehrter Ordnung nach gemessener Frist wieder zu, das Huhn würde wieder zum Ei, der Baum wüchse rückwärts zum Samen, und nach unendlicher Zeit löste der Kosmos wieder zum Chaos sich auf.
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Welche Empfindungen, Strebungen, Vorstellungen begleiteten nun wohl die verkehrten Bewegungen der Hirnmolekeln? Wären die geistigen Zustände nur an Stellungen von Atomen geknüpft, so würden mit denselben Stellungen dieselben Zustände wiederkehren, was zu wunderlichen Folgerungen, im Allgemeinen zu der führt, dass stets einen Augenblick, ehe wir etwas beabsichtigten davon das Gegentheil geschähe. Wir können uns aber die Erwägung der hier denkbaren Möglichkeiten sparen. Nicht bloss, wie Hr. Boussinesq ausführt, wegen der in Punkten labilen Gleichgewichtes sich gabelnden oder völlig unbestimmt werdenden Integrale, sondern auch sonst ist die Annahme falsch, dass so die Kurbel der Weltmaschine auf ›Rückwärts‹ gestellt werden könnte. Unter Anderem würde die durch Reibung in Wärme umgewandelte Massenbewegung nicht wieder in denselben Betrag mit verändertem Vorzeichen gleichgerichteter Massenbewegung zurückverwandelt werden. Die verkehrte Welt bleibt ein unmögliches mechanisches Phantasiestück, aus welchem über Zustandekommen von Bewusstsein und über Willensfreiheit nichts sich folgern lässt.37 Mit unserer siebenten Schwierigkeit also steht es so, dass sie keine ist, wofern man sich entschliesst, die Willensfreiheit zu läugnen und das subjective Freiheitsgefühl für Täuschung zu erklären, dass sie aber anderenfalls für transcendent gelten muss; und es ist dem Monismus nur ein schlechter Trost, dass er den Dualismus in dem Maass hülfloser in das gleiche Netz verstrickt sieht, wie dieser mehr Gewicht auf das Ethische legt. In diesem Sinne schrieb ich einst, in der Vorrede zu meinen ›Untersuchungen über thierische Elektricität‹, die Worte, auf welche jetzt Strauss gegen mich berief:38 »Die anaHr. Boussinesq führt über diesen Gegenstand eine Schrift von dem Ingénieur en chef Philippe Breton an unter dem Titel: La Réversion ou le monde à l’envers. Paris 1876, welche ich mir nicht verschaffen konnte. 38 A. a. O. S. 267. 37
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lytische Mechanik reicht bis zum Pro | blem der persönlichen Freiheit, dessen Erledigung Sache der Abstractionsgabe jedes Einzelnen bleiben muss.«39 Es kam aber später, ich mache daraus kein Hehl, für mich der Tag von Damaskus. Wiederholtes Nachdenken zum Zweck meiner öffentlichen Vorlesungen ›Über einige Ergebnisse der neueren Naturforschung‹ führte mich zur Überzeugung, dass dem Problem der Willensfreiheit mindestens noch drei transcendente Probleme vorhergehen; nämlich ausser dem auch schon früher von mir unterschiedenen des Wesens von Materie und Kraft, das der ersten Bewegung und das der ersten Empfindung in der Welt. Dass die sieben Welträthsel hier wie in einem mathematischen Aufgabenbuch hergezählt und numerirt wurden, geschah wegen des wissenschaftlichen Divide et impera. Man kann sie auch zu einem einzigen Problem, dem Weltproblem, zusammenfassen. Der gewaltige Denker, dessen Gedächtniss wir heute feiern, glaubte dies Problem gelöst zu haben: er hatte sich die Welt zu seiner Zufriedenheit zurechtgelegt. Könnte Leibniz, auf seinen eigenen Schultern stehend, heut unsere Erwägungen theilen, er sagte sicher mit uns: ›Dubitemus.‹
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A. a. O. Bd. I. Berlin 1848. S. XXXV. XXXVI.
Wilhelm Dilthey Einleitung in die Geisteswissenschaften. BUCH I, KAP. 2 UND 3* II. Die Geisteswissenschaften ein selbständiges Ganze, neben den Naturwissenschaften. Das Ganze der Wissenschaften, welche die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit zu ihrem Gegenstande haben, wird in diesem Werke unter dem Namen der Geisteswissenschaften zusammengefaßt. Der Begriff dieser Wissenschaften, vermöge dessen sie ein Ganzes bilden, die Abgrenzung dieses Ganzen gegen die Naturwissenschaft kann endgültig erst in dem Werke selber aufgeklärt und begründet werden; hier an seinem Beginn stellen wir nur die Bedeutung fest, in welcher wir den Ausdruck gebrauchen werden und deuten vorläufig auf den Thatsacheninbegriff hin, in welchem die Abgrenzung eines solchen einheitlichen Ganzen der Geisteswissenschaften von den Wissenschaften der Natur gegründet ist. Unter Wissenschaft versteht der Sprachgebrauch einen Inbegriff von Sätzen, dessen Elemente Begriffe d. h. vollkommen bestimmt, im ganzen Denkzusammenhang constant und allgemeingültig, dessen Verbindungen begründet, in dem endlich die Theile zum Zweck der Mittheilung zu einem Ganzen verbunden sind, weil entweder ein Bestandtheil der Wirklichkeit durch diese Verbindung von Sätzen in seiner Vollständigkeit gedacht oder ein Zweig der menschlichen Thätigkeit durch sie geregelt wird. Wir bezeichnen daher hier mit dem Ausdruck Wissenschaft jeden Inbegriff geistiger Thatsachen, * Aus: Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Erster Band. Leipzig 1883. Buch I, Kap. 2 und 3, 5–26.
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an welchem die genannten Merkmale sich vorfinden und auf den sonach insgemein der Name der Wissenschaft angewendet wird: wir stellen dem entsprechend den Umfang unserer Aufgabe vorläufig vor. Diese geistigen Thatsachen, welche sich geschichtlich in der Menschheit entwickelt haben, und auf die nach einem gemeinsamen Sprachgebrauch die Bezeichnung von Wissenschaften des Menschen, der Geschichte, der Gesellschaft übertragen worden ist, bilden die Wirklichkeit, welche wir nicht meistern, sondern zunächst begreifen wollen. Die empirische Methode fordert, daß an diesem Bestande der Wissenschaften selber der Werth der einzelnen Verfahrungsweisen, deren das Denken sich hier zur | Lösung seiner Aufgaben bedient, historisch-kritisch entwickelt, daß an der Anschauung dieses großen Vorganges, dessen Subjekt die Menschheit selber ist, die Natur des Wissens und Erkennens auf diesem Gebiet aufgeklärt werde. Eine solche Methode steht in Gegensatz zu einer neuerdings nur zu häufig gerade von den sogenannten Positivisten geübten, welche aus einer meist in naturwissenschaftlichen Beschäftigungen erwachsenen Begriffsbestimmung des Wissens den Inhalt des Begriffes Wissenschaft ableitet, und von ihm aus darüber entscheidet, welchen intellektuellen Beschäftigungen der Name und Rang einer Wissenschaft zukomme. So haben die Einen, von einem willkürlichen Begriff des Wissens aus, der Geschichtschreibung, wie sie große Meister geübt haben, kurzsichtig und dünkelhaft den Rang der Wissenschaft abgesprochen; die Anderen haben die Wissenschaften, welche Imperative zu ihrer Grundlage haben, gar nicht Urtheile über Wirklichkeit, in Erkenntniß der Wirklichkeit umbilden zu müssen geglaubt. Der Inbegriff der geistigen Thatsachen, welche unter diesen Begriff von Wissenschaft fallen, pflegt in zwei Glieder getheilt zu werden, von denen das eine durch den Namen der Naturwissenschaft bezeichnet wird; für das andere ist, merkwürdig genug, eine allgemein anerkannte Bezeichnung nicht vorhanden. Ich schließe mich an den Sprachgebrauch derjeni-
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gen Denker an, welche diese andere Hälfte des globus intellectualis als Geisteswissenschaften bezeichnen. Einmal ist diese Bezeichnung, nicht am wenigsten durch die weite Verbreitung der Logik J. St. Mill’s, eine gewohnte und allgemein verständliche geworden. Alsdann erscheint sie, verglichen mit all den anderen unangemessenen Bezeichnungen, zwischen denen die Wahl ist, als die mindest unangemessene. Sie drückt höchst unvollkommen den Gegenstand dieses Studiums aus. Denn in diesem selber sind die Thatsachen des geistigen Lebens nicht von der psycho-physischen Lebenseinheit der Menschennatur getrennt. Eine Theorie, welche die gesellschaftlich-geschichtlichen Thatsachen beschreiben und analysiren will, kann nicht von dieser Totalität der Menschennatur absehen und sich auf das Geistige einschränken. Aber der Ausdruck theilt diesen Mangel mit jedem anderen, der | angewandt worden ist; Gesellschaftswissenschaft (Sociologie), moralische, geschichtliche, Cultur-Wissenschaften: alle diese Bezeichnungen leiden an demselben Fehler, zu eng zu sein in Bezug auf den Gegenstand, den sie ausdrücken sollen. Und der hier gewählte Name hat wenigstens den Vorzug, den centralen Thatsachenkreis angemessen zu bezeichnen, von welchem aus in Wirklichkeit die Einheit dieser Wissenschaften gesehen, ihr Umfang entworfen, ihre Abgrenzung gegen die Naturwissenschaften, wenn auch noch so unvollkommen, vollzogen worden ist. Der Beweggrund nämlich, von welchem die Gewohnheit ausgegangen ist, diese Wissenschaften als eine Einheit von denen der Natur abzugrenzen, reicht in die Tiefe und Totalität des menschlichen Selbstbewußtseins. Unangerührt noch von Untersuchungen über den Ursprung des Geistigen, findet der Mensch in diesem Selbstbewußtsein eine Souveränität des Willens, eine Verantwortlichkeit der Handlungen, ein Vermögen, Alles dem Gedanken zu unterwerfen und Allem innerhalb der Burgfreiheit seiner Person zu widerstehen, durch welche er sich von der ganzen Natur absondert. Er findet sich in dieser Natur in der That, einen Ausdruck Spinoza’s zu gebrauchen,
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als imperium in imperio1. Und da für ihn nur das besteht, was Thatsache seines Bewußtseins ist, so liegt in dieser selbständig in ihm wirkenden geistigen Welt jeder Werth, jeder Zweck des Lebens, in der Herstellung geistiger Thatbestände jedes Ziel seiner Handlungen. So sondert er von dem Reich der Natur ein Reich der Geschichte, in welchem, mitten in dem Zusammenhang einer objektiven Nothwendigkeit, welcher Natur ist, Freiheit an unzähligen Punkten dieses Ganzen aufblitzt; hier bringen die Thaten des Willens, im Gegensatz zu dem mechanischen Ablauf der Naturveränderungen, welcher im Ansatz Alles was in ihm erfolgt schon enthält, durch ihren Kraft | aufwand und ihre Opfer, deren Bedeutung das Individuum ja in seiner Erfahrung gegenwärtig besitzt, wirklich etwas hervor, erarbeiten Entwicklung, in der Person und in der Menschheit: über die leere und öde Wiederholung von Naturlauf im Bewußtsein hinaus, in deren Vorstellung als einem Ideal geschichtlichen Fortschritts die Götzenanbeter der intellektuellen Entwickelung schwelgen. Vergeblich freilich hat die metaphysische Epoche, für welche diese Verschiedenheit der Erklärungsgründe sich sofort als eine substantiale Verschiedenheit in der objektiven Gliederung des Weltzusammenhangs darstellte, gerungen, Formeln für die objektive Grundlage dieses Unterschieds der Thatsachen des geistigen Lebens von denen des Naturlaufs festzustellen und zu begründen. Unter allen Veränderungen, welche die Metaphysik der Alten bei den mittelalterlichen Denkern erfahren hat, ist keine folgenreicher gewesen, als daß nunmehr, im Zusammenhang mit den alles beherrschenden religiösen und theologischen Bewegungen, inmitten deren diese Denker standen, die Bestimmung der Verschiedenheit zwiSehr genial drückt Pascal dies Lebensgefühl aus: Pensées Art. I. ›Toutes ces misères – prouvent sa grandeur. Ce sont misères de grand seigneur, misères d’un roi dépossédé. (3) Nous avons une si grande idée de l’âme de l’homme, que nous ne pouvons souffrir d’en être méprisés, et de n’être pas dans l’estime d’une âme‹ (5) (Oeuvres Paris 1866 I, 248, 249). 1
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schen der Welt der Geister und der Welt der Körper, alsdann der Beziehung dieser beiden Welten zu der Gottheit, in den Mittelpunkt des Systems trat. Das metaphysische Hauptwerk des Mittelalters, die Summa de veritate catholicae fidei des Thomas, entwirft von seinem zweiten Buche ab eine Gliederung der geschaffenen Welt, in welcher die Wesenheit (essentia quidditas) von dem Sein (esse) unterschieden ist, während in Gott selber diese beiden eins sind2: in der Hierarchie der geschaffenen Wesen weist es als ein oberstes nothwendiges Glied die geistigen Substanzen nach, welche nicht aus Materie und Form zusammengesetzt, sondern per se körperlos sind: die Engel; von ihnen scheidet es die intellektuellen Substanzen oder unkörperlichen subsistirenden Formen, welche zur Completirung ihrer Species (nämlich der Species: Mensch) der Körper bedürfen, und entwickelt an diesem Punkte eine Metaphysik des Menschengeistes, im Kampf gegen die arabischen | Philosophen, deren Einwirkung bis auf die letzten metaphysischen Schriftsteller unserer Tage verfolgt werden kann3; von dieser Welt unvergänglicher Substanzen grenzt es den Theil des Geschaffenen ab, welcher in der Verbindung von Form und Materie sein Wesen hat. Diese Metaphysik des Geistes (rationale Psychologie) wurde dann, als die mechanische Auffassung des Naturzusammenhangs und die Corpuscularphilosophie zur Herrschaft gelangten, von anderen hervorragenden Metaphysikern zu derselben in Beziehung gesetzt. Aber jeder Versuch scheiterte, auf dem Grunde dieser Substanzenlehre mit den Mitteln der neuen Auffassung der Natur eine haltbare Vorstellung des Verhältnisses von Geist und Körper auszubilden. Entwickelte Descartes auf der Grundlage der klaren und deutlichen Eigenschaften der Körper als von Raumgrößen seine Vorstellung der Natur als eines ungeheuren Mechanismus, betrachtete er die in diesem Ganzen vorhandene Bewegungs2 3
Summa c. gent. (cura Uccellii, Romae 1878) I, c. 22. vgl. II, c. 54. Lib. II, c. 46 sq.
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größe als constant: so trat mit der Annahme, daß auch nur eine einzige Seele von außen in diesem materiellen System eine Bewegung erzeuge, der Widerspruch in das System. Und die Unvorstellbarkeit einer Einwirkung unräumlicher Substanzen auf dies ausgedehnte System wurde dadurch um nichts verringert, daß er die räumliche Stelle solcher Wechselwirkung in Einen Punkt zusammenzog: als könne er die Schwierigkeit damit verschwinden machen. Die Abenteuerlichkeit der Ansicht, daß die Gottheit durch immer sich wiederholende Eingriffe dies Spiel der Wechselwirkungen unterhalte, der anderen Ansicht, daß vielmehr Gott als der geschickteste Künstler die beiden Uhren des materiellen Systems und der Geisterwelt von Anfang an so gestellt, daß ein Vorgang der Natur eine Empfindung hervorzurufen, ein Willensakt eine Veränderung der Außenwelt zu bewirken scheine, erwiesen so deutlich als möglich die Unverträglichkeit der neuen Metaphysik der Natur mit der überlieferten Metaphysik geistiger Substanzen: So wirkte dieses Problem als ein beständig reizender Stachel zur Auflösung des metaphysischen Standpunktes überhaupt. Diese Auflösung wird sich | vollständig in der später zu entwikkelnden Erkenntniß vollziehen, daß das Erlebniß des Selbstbewußtseins der Ausgangspunkt des Substanzbegriffes ist, daß dieser Begriff aus der Anpassung dieses Erlebnisses an die äußeren Erfahrungen, welche das nach dem Satze vom Grunde fortschreitende Erkennen vollzogen hat, entspringt und so diese Lehre von den geistigen Substanzen nichts als eine Rückübertragung des in einer solchen Metamorphose ausgebildeten Begriffs auf das Erlebniß ist, in welchem sein Ansatz ursprünglich gegeben war. An die Stelle des Gegensatzes von materiellen und geistigen Substanzen trat der Gegensatz der Außenwelt, als des in der äußeren Wahrnehmung (sensation) durch die Sinne Gegebenen, zu der Innenwelt, als dem primär durch die innere Auffassung der psychischen Ereignisse und Tätigkeiten (reflection) Dargebotenen. Das Problem empfängt so eine bescheidenere,
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aber die Möglichkeit empirischer Behandlung einschließende Fassung. Und es machen sich nun angesichts der neuen besseren Methoden dieselben Erlebnisse geltend, welche in der Substanzenlehre der rationalen Psychologie einen wissenschaftlich unhaltbaren Ausdruck gefunden hatten. Zunächst genügt für die selbständige Constituirung der Geisteswissenschaften, daß auf diesem kritischen Standpunkt von denjenigen Vorgängen, die aus dem Material des in den Sinnen Gegebenen, und nur aus diesem, durch denkende Verknüpfung gebildet werden, sich die anderen als ein besonderer Umkreis von Thatsachen absondern, welche primär in der inneren Erfahrung, sonach ohne jede Mitwirkung der Sinne, gegeben sind, und welche alsdann aus dem so primär gegebenen Material innerer Erfahrung auf Anlaß äußerer Naturvorgänge formirt werden, um diesen durch ein gewisses dem Analogieschluß in der Leistung gleichwerthiges Verfahren untergelegt zu werden. So entsteht ein eigenes Reich von Erfahrungen, welches im inneren Erlebniß seinen selbständigen Ursprung und sein Material hat, und das demnach naturgemäß Gegenstand einer besonderen Erfahrungswissenschaft ist. Und so lange nicht Jemand behauptet, daß er den Inbegriff von Leidenschaft, dichterischem Gestalten, denkendem | Ersinnen, welchen wir als Göthe’s Leben bezeichnen, aus dem Bau seines Gehirns, den Eigenschaften seines Körpers abzuleiten und so besser erkennbar zu machen im Stande ist, wird auch die selbständige Stellung einer solchen Wissenschaft nicht bestritten werden. Da nun was für uns da ist, vermöge dieser inneren Erfahrung besteht, was für uns Werth hat oder Zweck ist, nur in dem Erlebniß unsres Gefühls und unsres Willens uns so gegeben ist: so liegen in dieser Wissenschaft die Prinzipien unsers Erkennens, welche darüber bestimmen, wiefern Natur für uns existiren kann, die Prinzipien unseres Handelns, welche das Vorhandensein von Zwecken, Gütern, Werthen erklären, in dem aller praktische Verkehr mit der Natur gegründet ist. Die tiefere Begründung der selbständigen Stellung der Gei-
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steswissenschaften neben den Naturwissenschaften, welche Stellung den Mittelpunkt der Construktion der Geisteswissenschaften in diesem Werke bildet, vollzieht sich in diesem selber schrittweise, indem die Analysis des Gesammterlebnisses der geistigen Welt, in seiner Unvergleichbarkeit mit aller Sinnenerfahrung über die Natur, in ihm durchgeführt wird. Ich verdeutliche hier nur dies Problem, indem ich auf den zweifachen Sinn hinweise, in welchem die Unvergleichbarkeit dieser beiden Thatsachenkreise behauptet werden kann: entsprechend empfängt auch der Begriff von Grenzen des Naturerkennens eine zweifache Bedeutung. Einer unsrer ersten Naturforscher hat diese Grenzen in einer vielbesprochenen Abhandlung zu bestimmen unternommen, und soeben diese Grenzbestimmung seiner Wissenschaft näher erläutert4. Denken wir uns alle Veränderungen in der Körperwelt in Bewegungen von Atomen aufgelöst, die durch deren constante Centralkräfte bewirkt wären, so würde das Weltall naturwissenschaftlich erkannt. »Ein Geist« – von dieser Vorstellung von Laplace geht er aus –, »der für einen gegebenen Augenblick alle Kräfte kennte, welche in der Natur wirksam sind, und die gegenseitige Lage der | Wesen, aus denen sie besteht, wenn sonst er umfassend genug wäre, um diese Angaben der Analysis zu unterwerfen, würde in derselben Formel die Bewegungen der größten Weltkörper und des leichtesten Atoms begreifen«5. Da die menschliche Intelligenz in der astronomischen Wissenschaft ein »schwaches Abbild eines solchen Geistes« ist, bezeichnet Du Bois-Reymond die von Laplace vorgestellte Kenntniß eines materiellen Systems als eine astronomische. Von dieser Vorstellung aus gelangt man in der That zu einer sehr deutlichen Auffassung der Grenzen, in
Emil Du Bois-Reymond, über die Grenzen des Naturerkennens. 1872. Vgl.: Die sieben Welträthsel. 1881. 5 Laplace, Essai sur les probabilités. Paris 1814. p. 3. 4
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welche die Tendenz des naturwissenschaftlichen Geistes eingeschlossen ist. Es sei gestattet eine Unterscheidung in Bezug auf den Begriff der Grenze des Naturerkennens in diese Betrachtungsweise einzuführen. Da uns die Wirklichkeit, als das Correlat der Erfahrung, in dem Zusammenwirken einer Gliederung unserer Sinne mit der inneren Erfahrung gegeben ist, entspringt aus der hierdurch bedingten Verschiedenheit der Provenienz ihrer Bestandtheile eine Unvergleichbarkeit innerhalb der Elemente unserer wissenschaftlichen Rechnung. Sie schließt die Ableitung von Thatsächlichkeit einer bestimmten Provenienz aus der einer anderen aus. So gelangen wir von den Eigenschaften des Räumlichen doch nur vermittelst der Fakticität der Tastempfindung, in welcher Widerstand erfahren wird, zu der Vorstellung der Materie; ein jeder der Sinne ist in einen ihm eigenen Qualitätenkreis eingeschlossen; und wir müssen von der Sinnesempfindung zu dem Gewahren innerer Zustände übergehen, sollen wir eine Bewußtseinslage in einem gegebenen Moment auffassen. Wir können sonach die Data in der Unvergleichlichkeit, in welcher sie in Folge ihrer verschiedenen Provenienz auftreten, eben nur hinnehmen; ihre Thatsächlichkeit ist für uns unergründlich; all unser Erkennen ist auf die Feststellung der Gleichförmigkeiten in Aufeinanderfolge und Gleichzeitigkeit eingeschränkt, gemäß denen sie nach unsrer Erfahrung in Beziehungen zu einander stehen. Dies sind Grenzen, welche in den Bedingungen unseres Erfahrens selber gelegen sind, Grenzen, die an jedem | Punkte der Naturwissenschaft bestehen: nicht äußere Schranken, an welche das Naturerkennen stößt, sondern dem Erfahren selber immanente Bedingungen desselben. Das Vorhandensein dieser immanenten Schranken der Erkenntniß bildet nun durchaus kein Hinderniß für die Funktion des Erkennens. Bezeichnet man mit Begreifen eine völlige Durchsichtigkeit in der Auffassung eines Zusammenhangs, so haben wir es hier mit Schranken zu thun, an welche das Begreifen anstößt. Aber, gleichviel
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ob die Wissenschaft ihrer Rechnung, welche die Veränderungen in der Wirklichkeit auf die Bewegungen von Atomen zurückführt, Qualitäten unterordne oder Bewußtseinsthatsachen: falls diese sich ihr nur unterwerfen lassen, bildet die Thatsache der Unableitbarkeit kein Hinderniß ihrer Operationen; ich vermag so wenig einen Uebergang von der bloßen mathematischen Bestimmtheit oder der Bewegungsgröße zu einer Farbe oder einem Ton als zu einem Bewußtseinsvorgang zu finden; das blaue Licht wird von mir durch die entsprechende Schwingungszahl so wenig erklärt, als das verneinende Urtheil durch einen Vorgang im Gehirn. Indem die Physik es der Physiologie überläßt, die Sinnesqualität blau zu erklären, diese aber, welche in der Bewegung materieller Theile eben auch kein Mittel besitzt, das Blau hervorzuzaubern, es der Psychologie übergiebt, bleibt es schließlich, wie in einem Vexirspiel, bei der Psychologie sitzen. An sich aber ist die Hypothese, welche Qualitäten in dem Vorgang der Empfindung entstehen läßt, zunächst nur ein Hilfsmittel für die Rechnung, welche die Veränderungen in der Wirklichkeit, wie sie in meiner Erfahrung gegeben sind, auf eine gewisse Classe von Veränderungen innerhalb derselben, welche einen Theilinhalt meiner Erfahrung bildet, radicirt, um sie für den Zweck der Erkenntniß gewissermaßen auf Eine Fläche zu bringen. Wäre es möglich, bestimmt definirten Thatsachen, welche in dem Zusammenhang der mechanischen Naturbetrachtung eine feste Stelle einnehmen, constant und bestimmt definirte Bewußtseinsthatsachen zu substituiren und nunmehr gemäß dem System von Gleichförmigkeiten, in welchem die ersteren Thatsachen sich befinden, das Eintreten der Bewußtseinsvorgänge ganz im | Einklang mit der Erfahrung zu bestimmen: alsdann wären diese Bewußtseinsthatsachen so gut dem Zusammenhang des Naturerkennens eingeordnet, als es irgend Ton oder Farbe sind. Gerade hier macht sich aber die Unvergleichbarkeit materieller und geistiger Vorgänge in einem ganz anderen Verstande geltend und zieht dem Naturerkennen Grenzen von einem
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durchaus anderen Charakter. Die Unmöglichkeit der Ableitung von geistigen Thatsachen aus denen der mechanischen Naturordnung, welche in der Verschiedenheit ihrer Provenienz gegründet ist, hindert nicht die Einordnung der ersteren in das System der letzteren. Erst wenn die Beziehungen zwischen den Thatsachen der geistigen Welt sich als in der Art unvergleichbar mit den Gleichförmigkeiten des Naturlaufs zeigen, daß eine Unterordnung der geistigen Thatsachen unter die, welche die mechanische Naturerkenntniß festgestellt hat, ausgeschlossen wird: dann erst sind nicht immanente Schranken des erfahrenden Erkennens aufgezeigt, sondern Grenzen, an denen Naturerkenntniß endigt und eine selbständige, aus ihrem eigenen Mittelpunkte sich gestaltende Geisteswissenschaft beginnt. Das Grundproblem liegt sonach in der Feststellung der bestimmten Art von Unvergleichbarkeit zwischen den Beziehungen geistiger Thatsachen und den Gleichförmigkeiten materieller Vorgänge, welche eine Einordnung der ersteren, eine Auffassung von ihnen als von Eigenschaften oder Seiten der Materie ausschließt und welche sonach ganz anderer Art sein muß als die Verschiedenheit, die zwischen den einzelnen Kreisen von Gesetzen der Materie besteht, wie sie Mathematik, Physik, Chemie und Physiologie in einem sich immer folgerichtiger entwickelnden Verhältniß von Unterordnung darlegen. Eine Ausschließung der Thatsachen des Geistes aus dem Zusammenhang der Materie, ihrer Eigenschaften und Gesetze wird immer einen Widerspruch voraussetzen, der zwischen den Beziehungen der Thatsachen auf dem einen und denen der Thatsachen auf dem andern Gebiet bei dem Versuch einer solchen Unterordnung eintritt. Und dies ist in der That die Meinung, wenn die Unvergleichbarkeit des geistigen Lebens an den Thatsachen des Selbstbewußtseins und der mit ihm zusammenhängenden Ein | heit des Bewußtseins, an der Freiheit und den mit ihr verbundenen Thatsachen des sittlichen Lebens aufgezeigt wird, im Gegensatz gegen die räumliche Gliederung und Theilbarkeit der Materie sowie gegen die mechanische
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Nothwendigkeit, unter welcher die Leistung des einzelnen Theils derselben steht. So alt beinahe, als das strengere Nachdenken über die Stellung des Geistes zur Natur, sind die Versuche einer Formulirung dieser Art von Unvergleichbarkeit des Geistigen mit aller Naturordnung, auf Grund der Thatsachen von Einheit des Bewußtseins und Spontaneität des Willens. Indem diese Unterscheidung von immanenten Schranken des Erfahrens einerseits, von Grenzen der Unterordnung von Thatsachen unter den Zusammenhang der Naturerkenntniß andrerseits in die Darlegung des berühmten Naturforschers eingeführt wird, empfangen die Begriffe von Grenze und Unerklärbarkeit einen genau definirbaren Sinn, und damit schwinden Schwierigkeiten, welche in dem von dieser Schrift hervorgerufenen Streit über die Grenzen der Naturerkenntniß sich sehr bemerkbar gemacht haben. Die Existenz immanenter Schranken des Erfahrens entscheidet in keiner Weise über die Frage nach der Unterordnung von geistigen Thatsachen unter den Zusammenhang der Erkenntniß der Materie. Wird, wie von Häckel und anderen Forschern geschieht, ein Versuch vorgelegt, durch die Annahme eines psychischen Lebens in den Bestandtheilen, aus denen der Organismus sich aufbaut, eine solche Einordnung der geistigen Thatsachen unter den Naturzusammenhang herzustellen, dann besteht zwischen einem solchen Versuch und der Erkenntniß der immanenten Schranken alles Erfahrens schlechterdings kein Verhältniß von Ausschließung: über ihn entscheidet nur die zweite Art von Untersuchung der Grenzen des Naturerkennens. Daher ist auch Du Bois-R. zu dieser zweiten Untersuchung fortgegangen, und hat sich in seiner Beweisführung sowol des Arguments von der Einheit des Bewußtseins als des anderen von der Spontaneität des Willens bedient. Sein Beweis, »daß die geistigen Vorgänge aus ihren materiellen Bedingungen nie zu begreifen sind«6, wird folgendermaßen geführt. | Bei voll6
Er beginnt: über die Grenzen, Aufl. 4. S. 28.
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endeter Kenntniß aller Theile des materiellen Systems, ihrer gegenseitigen Lage und ihrer Bewegung bleibt es doch durchaus unbegreiflich, wie einer Anzahl von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauerstoff-Atomen nicht sollte gleichgiltig sein, wie sie liegen und sich bewegen. Diese Unerklärbarkeit des Geistigen bleibt ganz ebenso bestehen, wenn man diese Elemente nach Art der Monaden schon einzeln mit Bewußtsein ausstattet, und von dieser Annahme aus kann das einheitliche Bewußtsein des Individuums nicht erklärt werden7. Schon sein zu beweisender Satz enthält in dem »nie zu begreifen« einen Doppelsinn, und dieser hat im Beweis selber ein Hervortreten zweier Argumente von ganz verschiedener Traga. a. O. 29. 30. vgl. Räthsel 7. Diese Argumentation ist übrigens nur schlußkräftig, wenn der atomistischen Mechanik sozusagen metaphysische Giltigkeit beigelegt wird. Zu ihrer von Du Bois-R. berührten Geschichte kann auch die Formulirung bei dem Classiker der rationalen Psychologie, Mendelssohn, verglichen werden. Z. B. Schriften (Leipzig 1880) I, 277: 1) »Alles was der menschliche Körper vom Marmorblock Verschiedenes hat, läßt sich auf Bewegung zurückführen. Nun ist die Bewegung nichts Anderes, als die Veränderung des Orts oder der Lage. Es leuchtet in die Augen, daß durch alle möglichen Ortsveränderungen in der Welt, sie mögen noch so zusammengesetzt sein, kein Wahrnehmen dieser Ortsveränderungen zu erhalten sei.« 2) »Alle Materie besteht aus mehreren Theilen. Wenn die einzelnen Vorstellungen so in den Theilen der Seele isolirt wären wie die Gegenstände in der Natur, so wäre das Ganze nirgends anzutreffen. Wir würden die Eindrücke verschiedener Sinne nicht vergleichen, die Vorstellungen nicht gegeneinanderhalten, keine Verhältnisse wahrnehmen, keine Beziehungen erkennen können. Hieraus ist klar, daß nicht nur zum Denken, sondern zum Empfi nden Vieles in Einem zusammenkommen muß. Da aber die Materie niemals ein einziges Subjekt wird u.s.w.« Kant entwickelt diesen »Achilles aller dialektischen Schlüsse der reinen Seelenlehre« als zweiten Paralogismus der transcendentalen Psychologie. Bei Lotze wurden diese »Thaten des beziehenden Wissens« als »nicht zu überwältigender Grund, auf welchem die Ueberzeugung von der Selbständigkeit eines Seelenwesens sicher beruhen kann«, in mehreren Schriften (zuletzt Metaphysik 476) entwickelt und bilden die Grundlage dieses Theils seines metaphysischen Systems. 7
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weite neben einander zur Folge. Er behauptet einmal, daß der Versuch, aus materiellen Veränderungen geistige Thatsachen abzuleiten (der gegenwärtig als roher Materialismus verschollen ist, und nur noch in der Weise der Aufnahme psychischer Eigenschaften in die Elemente gemacht wird), die immanente | Schranke alles Erfahrens nicht aufzuheben vermag: was sicher ist, aber nichts gegen die Unterordnung des Geistes unter das Naturerkennen entscheidet. Und er behauptet alsdann, daß dieser Versuch an dem Widerspruch scheitern muß, welcher zwischen unserer Vorstellung der Materie und der Eigenschaft der Einheit, die unserem Bewußtsein zukommt, besteht. In seiner späteren Polemik gegen Häckel fügt er diesem Argument das andere hinzu, daß unter solcher Annahme ein weiterer Widerspruch zwischen der Art, wie ein materieller Bestandtheil im Naturzusammenhang mechanisch bedingt ist, und dem Erlebniß der Spontaneität des Willens entsteht; ein »Wille« (in den Bestandtheilen der Materie), der »wollen soll, er mag wollen oder nicht und das im geraden Verhältniß des Produktes der Massen und im umgekehrten des Quadrates der Entfernungen« ist eine contradictio in adjecto8.
III. Das Verhältniß dieses Ganzen zu dem der Naturwissenschaften. Jedoch in einem weiten Umfang fassen die Geisteswissenschaften Naturthatsachen in sich, haben Naturerkenntniß zur Grundlage. Dächte man sich rein geistige Wesen in einem aus solchen allein bestehenden Personenreich, so würde ihr Hervortreten, ihre Erhaltung und Entwicklung, wie ihr Verschwinden (welche Vorstellungen man auch von dem Hintergrund sich bilde, aus welchem sie hervorträten und in den sie wieder zurück8
Welt-Räthsel S. 8.
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treten würden), an Bedingungen geistiger Art gebunden sein; ihr Wohlsein wäre in ihrer Lage zur geistigen Welt gegründet; ihre Verbindung untereinander, ihre Handlungen aufeinander würden sich durch rein geistige Mittel vollziehen und die dauernden Wirkungen ihrer Handlungen würden rein geistiger Art sein; selbst ihr Zurück | treten aus dem Reich der Personen würde in dem Geistigen seinen Grund haben. Das System solcher Individuen würde in reinen Geisteswissenschaften erkannt werden. In Wirklichkeit entsteht ein Individuum, wird erhalten und entwickelt sich auf Grund der Funktionen des thierischen Organismus und ihrer Beziehungen zu dem umgebenden Naturlauf; sein Lebensgefühl ist wenigstens theilweise in diesen Funktionen gegründet; seine Eindrücke sind von den Sinnesorganen und ihren Affektionen seitens der Außenwelt bedingt; den Reichthum und die Beweglichkeit seiner Vorstellungen und die Stärke sowie die Richtung seiner Willensakte finden wir vielfach von Veränderungen in seinem Nervensystem abhängig. Sein Willensantrieb bringt Muskelfasern zur Verkürzung und so ist sein Wirken nach außen an Veränderungen in den Lageverhältnissen der Massentheilchen des Organismus gebunden; dauernde Erfolge seiner Willenshandlungen existiren nur in der Form von Veränderungen innerhalb der materiellen Welt. So ist das geistige Leben eines Menschen ein nur durch Abstraktion loslösbarer Theil der psycho-physischen Lebenseinheit, als welche ein Menschendasein und Menschenleben sich darstellt. Das System dieser Lebenseinheiten ist die Wirklichkeit, welche den Gegenstand der geschichtlich-gesellschaftlichen Wissenschaften ausmacht. Und zwar ist der Mensch als Lebenseinheit, vermöge des doppelten Standpunktes unserer Auffassung (gleichviel welcher der metaphysische Thatbestand sei), so weit inneres Gewahrwerden reicht, als ein Zusammenhang geistiger Thatsachen, so weit wir dagegen mit den Sinnen auffassen, als ein körperliches Ganze für uns da. Inneres Gewahrwerden und äußere Auffassung finden niemals in demselben Akte statt
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und daher ist uns die Thatsache des geistigen Lebens nie mit der unseres Körpers zugleich gegeben. Hieraus ergeben sich mit Nothwendigkeit zwei verschiedene, nicht in einander aufhebbare Standpunkte für die wissenschaftliche Auffassung, welche die geistigen Thatsachen und die Körperwelt in ihrem Zusammenhang, dessen Ausdruck die psycho-physische Lebenseinheit ist, erfassen will. Gehe ich von der inneren Erfahrung aus, so finde ich die gesammte Außenwelt in meinem Bewußtsein gegeben, | die Gesetze dieses Naturganzen unter den Bedingungen meines Bewußtseins stehend und sonach von ihnen abhängig. Dies ist der Standpunkt, welchen die deutsche Philosophie an der Grenze des achtzehnten und unseres Jahrhunderts als Transscendental-Philosophie bezeichnete. Nehme ich dagegen den Naturzusammenhang, so wie er als Realität vor mir in meinem natürlichen Auffassen steht, und gewahre in die zeitliche Abfolge dieser Außenwelt sowie in ihre räumliche Vertheilung psychische Thatsachen mit eingeordnet, finde ich von dem Eingriff, welchen die Natur selber oder das Experiment macht und welcher in materiellen Veränderungen besteht, wann diese an das Nervensystem herandringen, Veränderungen des geistigen Lebens abhängig, erweitert Beobachtung der Lebensentwicklung und der krankhaften Zustände diese Erfahrungen zu dem umfassenden Bilde der Bedingtheit des Geistigen durch das Körperliche: dann entsteht die Auffassung des Naturforschers, welcher von außen nach innen, von der materiellen Veränderung zur geistigen Veränderung vorandringt. So ist der Antagonismus zwischen dem Philosophen und dem Naturforscher durch den Gegensatz ihrer Ausgangspunkte bedingt. Wir nehmen nun unseren Ausgangspunkt in der Betrachtungsweise der Naturwissenschaft. Sofern diese Betrachtungsweise sich ihrer Grenzen bewußt bleibt, sind ihre Ergebnisse unbestreitbar. Sie empfangen nur von dem Standpunkt der inneren Erfahrung aus die nähere Bestimmung ihres Erkenntnißwerthes. Die Naturwissenschaft zergliedert den ur-
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sächlichen Zusammenhang des Naturlaufes. Wo diese Zergliederung die Punkte erreicht hat, an welchen ein materieller Thatbestand oder eine materielle Veränderung regelmäßig mit einem psychischen Thatbestand oder einer psychischen Veränderung verbunden ist, ohne daß zwischen ihnen ein weiteres Zwischenglied auffindbar wäre: da kann eben nur diese regelmäßige Beziehung selber festgestellt werden, das Verhältniß von Ursache und Wirkung kann aber auf diese Beziehung nicht angewandt werden. Wir finden Gleichförmigkeiten des einen Lebenskreises regelmäßig mit solchen des anderen verknüpft und der mathematische Begriff der Funktion ist der Ausdruck dieses Verhältnisses. Eine Auffassung | desselben, vermöge deren der Ablauf der geistigen neben dem der körperlichen Veränderungen mit dem Gange von zwei gleichgestellten Uhren vergleichbar wäre, ist mit der Erfahrung so gut im Einklang als eine Auffassung, welche nur Ein Uhrwerk als Erklärungsgrund annimmt, unbildlich, welche beide Erfahrungskreise als verschiedene Erscheinungen Eines Grundes betrachtet. Abhängigkeit des Geistigen vom Naturzusammenhang ist also das Verhältniß, welchem gemäß der allgemeine Naturzusammenhang diejenigen materiellen Thatbestände und Veränderungen ursächlich bedingt, welche für uns regelmäßig und ohne eine weitere erkennbare Vermittlung mit geistigen Thatbeständen und Veränderungen verbunden sind. So sieht das Naturerkennen die Verkettung der Ursachen bis zu dem psycho-physischen Leben hin wirken: hier entsteht eine Veränderung, an welcher die Beziehung des Materiellen und Physischen sich der ursächlichen Auffassung entzieht, und diese Veränderung ruft rückwärts in der materiellen Welt eine Veränderung hervor. In diesem Zusammenhang schließt sich dem Experiment des Physiologen die Bedeutung der Struktur des Nervensystems auf. Die verwirrenden Erscheinungen des Lebens werden in eine klare Vorstellung der Abhängigkeiten zerlegt, in deren Verfolg der Naturlauf Veränderungen bis an den Menschen heran führt, diese alsdann durch
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die Pforten der Sinnesorgane in das Nervensystem dringen, Empfindung, Vorstellen, Gefühl, Begehren entstehen und auf den Naturlauf zurückwirken. Die Lebenseinheit selbst, welche mit dem unmittelbaren Gefühl unseres ungetheilten Daseins uns erfüllt, wird in ein System von Beziehungen aufgelöst, die zwischen den Thatsachen unseres Bewußtseins und der Struktur sowie den Funktionen des Nervensystems empirisch festgestellt werden können: denn jede psychische Aktion zeigt sich nur vermittelst des Nervensystems mit einer Veränderung innerhalb unseres Körpers verbunden, und eine solche ist ihrerseits nur vermittelst ihrer Wirkung auf das Nervensystem von einem Wechsel unserer psychischen Zustände begleitet. Aus dieser Zergliederung der psycho-physischen Lebenseinheiten entspringt nun eine deutlichere Vorstellung der Abhängigkeit derselben von dem ganzen Zusammenhang der Natur, innerhalb dessen | sie auftreten, wirken und aus dem sie wieder zurücktreten, und somit auch des Studiums der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit von der Naturerkenntniß. Hiernach kann der Grad von Berechtigung festgestellt werden, der den Theorien von Comte und Herbert Spencer über die Stellung dieser Wissenschaften in der von ihnen aufgestellten Hierarchie der Gesammtwissenschaft zukommt. Wie diese Schrift die relative Selbständigkeit der Geisteswissenschaften zu begründen versuchen wird, so hat sie als die andere Seite der Stellung derselben im wissenschaftlichen Gesammtganzen das System von Abhängigkeiten zu entwikkeln, vermöge dessen sie durch die Naturerkenntniß bedingt sind, und sonach in dem Aufbau, welcher in der mathematischen Grundlegung anhebt, das letzte und höchste Glied bilden. Thatsachen des Geistes sind die oberste Grenze der Thatsachen der Natur, die Thatsachen der Natur bilden die unteren Bedingungen des geistigen Lebens. Eben weil das Reich der Personen oder die menschliche Gesellschaft und Geschichte die höchste unter den Erscheinungen der irdischen Erfahrungswelt ist, be-
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darf seine Erkenntniß an unzähligen Punkten die des Systems von Voraussetzungen, welche für seine Entwicklung in dem Naturganzen gelegen sind. Und zwar ist der Mensch, gemäß seiner so dargelegten Stellung im causalen Zusammenhang der Natur, von dieser in einer zwiefachen Beziehung bedingt. Die psycho-physische Einheit, so sahen wir, empfängt, vermittelt durch das Nervensystem, beständig Einwirkungen aus dem allgemeinen Naturlauf und sie wirkt wieder auf ihn zurück. Nun liegt es aber in ihrer Natur, daß die Wirkungen, welche von ihr ausgehen, vornehmlich als ein Handeln auftreten, welches von Zwecken geleitet wird. Für diese psychophysische Einheit kann also einerseits der Naturlauf und seine Beschaffenheit in Bezug auf die Gestaltung der Zwecke selber leitend sein, andrerseits ist er für dieselbe als ein System von Mitteln zur Erreichung dieser Zwecke mitbestimmend. Und so sind wir selbst da, wo wir wollen, wo wir auf die Natur wirken, eben weil wir nicht blinde Kräfte sind, sondern Willen, welche ihre Zwecke überlegend feststellen, | von dem Naturzusammenhang abhängig. Demnach befinden sich die psycho-physischen Einheiten in einer doppelten Abhängigkeit dem Naturlauf gegenüber. Dieser bedingt einerseits von der Stellung der Erde im kosmischen Ganzen ab als ein System von Ursachen die gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit, und das große Problem des Verhältnisses von Naturzusammenhang und Freiheit in dieser Wirklichkeit zerlegt sich für den empirischen Forscher in unzählige Einzelfragen, welche das Verhältniß zwischen Thatsachen des Geistes und Einwirkungen der Natur betreffen. Andrerseits aber entspringen aus den Zwecken dieses Personenreiches Rückwirkungen auf die Natur, auf die Erde, welche der Mensch in diesem Sinne als sein Wohnhaus betrachtet, in dem sich einzurichten er thätig ist, und auch diese Rückwirkungen sind an die Benutzung des naturgesetzlichen Zusammenhanges gebunden. Alle Zwekke liegen dem Menschen ausschließlich innerhalb des geisti-
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gen Vorgangs selber, da ja nur in diesem etwas für ihn da ist; aber der Zweck sucht seine Mittel in dem Zusammenhang der Natur. Wie unscheinbar ist oft die Veränderung, welche die schöpferische Macht des Geistes in der Außenwelt hervorgebracht hat: und doch ruht in dieser allein die Vermittlung, durch welche der so geschaffene Werth auch für Andere da ist. So sind die wenigen Blätter, welche, als ein materieller Rückstand tiefster Gedankenarbeit der Alten in der Richtung der Annahme einer Bewegung der Erde, in die Hand des Copernikus kamen, der Ausgangspunkt einer Revolution in unsrer Weltansicht geworden. An diesem Punkte kann eingesehen werden, wie relativ die Abgrenzung dieser beiden Classen von Wissenschaften von einander ist. Streitigkeiten, wie sie über die Stellung der allgemeinen Sprachwissenschaft geführt wurden, sind unfruchtbar. An den beiden Uebergangsstellen, welche von dem Studium der Natur zu dem des Geistigen führen, an den Punkten, an welchen der Naturzusammenhang auf die Entwicklung des Geistigen einwirkt, und an den anderen Punkten, an welchen derselbe von dem Geistigen Einwirkung empfängt oder auch die Durchgangsstelle für die Einwirkung auf anderes Geistige bildet, vermischen sich | überall Erkenntnisse beider Classen. Erkenntnisse der Naturwissenschaften vermischen sich mit denen der Geisteswissenschaften. Und zwar verwebt sich in diesem Zusammenhang, gemäß der zwiefachen Beziehung, in welcher der Naturlauf das geistige Leben bedingt, die Erkenntniß der bildenden Einwirkung der Natur häufig mit der Feststellung des Einflusses, welchen dieselbe als Material des Handelns ausübt. So wird aus der Erkenntniß der Naturgesetze der Tonbildung ein wichtiger Theil der Grammatik und der musikalischen Theorie abgeleitet, und wiederum ist das Genie der Sprache oder Musik an diese Naturgesetze gebunden, und das Studium seiner Leistungen ist daher bedingt durch das Verständniß dieser Abhängigkeit. Es kann an diesem Punkte weiter eingesehen werden, daß
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die Erkenntniß der Bedingungen, welche in der Natur liegen und von der Naturwissenschaft entwickelt werden, in einem breiten Umfang die Grundlage für das Studium der geistigen Thatsachen bilden. Wie die Entwicklung des einzelnen Menschen, so ist auch die Ausbreitung des Menschengeschlechts über das Erdganze und die Gestaltung seiner Schicksale in der Geschichte durch den ganzen kosmischen Zusammenhang bedingt. Kriege bilden z. B. einen Hauptbestandtheil aller Geschichte, da diese als politische es mit dem Willen von Staaten zu thun hat, dieser aber in Waffen auftritt und sich durch dieselben durchsetzt. Die Theorie des Kriegs hängt aber in erster Linie von der Erkenntniß des Physischen ab, welches für die streitenden Willen Unterlage und Mittel darbietet. Denn mit den Mitteln der physischen Gewalt verfolgt der Krieg den Zweck, dem Feinde unseren Willen aufzuzwingen. Dies schließt in sich, daß der Gegner auf der Linie bis zur Wehrlosigkeit, welche das theoretische Ziel des als Krieg bezeichneten Aktes der Gewalt bildet, zu dem Punkte hingezwungen werde, an welchem seine Lage nachtheiliger ist als das Opfer, das von ihm gefordert wird, und nur mit einer nachtheiligeren vertauscht werden kann. In dieser großen Rechnung sind also die für die Wissenschaft wichtigsten, sie zumeist beschäftigenden Zahlen die physischen Bedingungen und Mittel, während über die psychischen Faktoren sehr wenig zu sagen ist. | Und zwar haben die Wissenschaften des Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte einmal die der Natur zu ihrer Grundlage, sofern die psycho-physischen Einheiten selber nur mit Hilfe der Biologie studirt werden können, alsdann aber, sofern das Mittel, in dem ihre Entwicklung und ihre Zweckthätigkeit stattfindet, auf dessen Beherrschung also diese letztere sich zu einem großen Theile bezieht, die Natur ist. In der ersteren Rücksicht bilden die Wissenschaften des Organismus ihre Grundlage, in der zweiten vorwiegend die der anorganischen Natur. Und zwar besteht der so aufzuklärende Zusammenhang einmal darin, daß diese Naturbedingungen Entwicklung
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und Vertheilung des geistigen Lebens auf der Erdoberfläche bestimmen, alsdann darin, daß die Zweckthätigkeit des Menschen an die Gesetze der Natur gebunden und so durch ihre Erkenntniß und Benutzung bedingt ist. Daher zeigt das erstere Verhältniß nur Abhängigkeit des Menschen von der Natur, das zweite aber enthält diese Abhängigkeit nur als die andere Seite der Geschichte seiner zunehmenden Herrschaft über das Erdganze. Derjenige Theil des ersteren Verhältnisses, welcher die Beziehungen des Menschen zu der umgebenden Natur einschließt, ist von Ritter einer vergleichenden Methode unterworfen worden. Glänzende Blicke, wie besonders seine vergleichende Schätzung der Erdtheile nach der Gliederung ihrer Umrisse, ließen eine in den Raumverhältnissen des Erdganzen festgelegte Prädestination der Universalgeschichte ahnen. Die folgenden Arbeiten haben diese bei Ritter als Teleologie der Universalgeschichte gedachte, von einem Buckle in den Dienst des Naturalismus gezogene Anschauung doch nicht bestätigt: an die Stelle der Vorstellung einer gleichmäßigen Abhängigkeit des Menschen von den Naturbedingungen tritt die vorsichtigere Vorstellung, daß das Ringen der geistig-sittlichen Kräfte mit den Bedingungen der todten Räumlichkeit bei den geschichtlichen Völkern, im Gegensatz zu den geschichtslosen, das Verhältniß von Abhängigkeit beständig vermindert hat. Und so hat auch hier eine selbständige, die Naturbedingungen zur Erklärung benutzende Wissenschaft der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit sich behauptet. Das andere Verhältniß aber zeigt mit der Abhängigkeit, welche durch die Anpassung an die Bedingungen | gegeben ist, die Bewältigung der Räumlichkeit durch den wissenschaftlichen Gedanken und die Technik so verbunden, daß die Menschheit in ihrer Geschichte eben vermittelst der Unterordnung die Herrschaft erringt. Natura enim non nisi parendo vincitur9. Baconis aphorismi de interpretatione naturae et regno hominis. Aph. 3. 9
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Das Problem des Verhältnisses der Geisteswissenschaften zu der Naturerkenntniß kann jedoch erst als gelöst gelten, wenn jener Gegensatz, von dem wir ausgingen, zwischen dem transscendentalen Standpunkt, für welchen die Natur unter den Bedingungen des Bewußtseins steht, und dem objektiv empirischen Standpunkt, für welchen die Entwicklung des Geistigen unter den Bedingungen des Naturganzen steht, aufgelöst sein wird. Diese Aufgabe bildet eine Seite des Erkenntnißproblems. Isolirt man dies Problem für die Geisteswissenschaften, so erscheint eine für Alle überzeugende Auflösung nicht unmöglich. Die Bedingungen derselben würden sein: Nachweis der objektiven Realität der inneren Erfahrung; Bewahrheitung der Existenz einer Außenwelt; alsdann sind in dieser Außenwelt geistige Thatsachen und geistige Wesen kraft eines Vorgangs von Uebertragung unseres Inneren in dieselbe da; wie das geblendete Auge, das in die Sonne geblickt hat, ihr Bild in den verschiedensten Farben, an den verschiedensten Stellen im Raume wiederholt: so vervielfältigt unsre Auffassung das Bild unsres Innenlebens und versetzt es in mannigfachen Abwandlungen an verschiedene Stellen des uns umgebenden Naturganzen; dieser Vorgang läßt sich aber logisch als ein Analogieschluß von diesem originaliter uns allein unmittelbar gegebenen Innenleben, vermittelst der Vorstellungen von den mit ihm verketteten Aeußerungen, auf ein verwandten Erscheinungen der Außenwelt entsprechend Verwandtes, zu Grunde Liegendes darstellen und rechtfertigen. Was immer die Natur an sich selber sein mag, das Studium der Ursachen des Geistigen kann sich daran genügen lassen, daß jedenfalls ihre Erscheinungen als Zeichen des Wirklichen, daß die Gleichförmigkeiten in ihrem Zusammensein und ihrer Folge als ein Zeichen solcher Gleichförmig | keiten in dem Wirklichen aufgefaßt und benutzt werden können. Tritt man aber in die Welt des Geistes und untersucht die Natur, sofern sie Inhalt des Geistes, sofern sie als Zweck oder Mittel in den Willen eingewoben ist: für den Geist ist sie eben, was sie in
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ihm ist, und was sie an sich sein mag, ist hier ganz gleichgültig. Genug daß er so, wie sie ihm gegeben ist, auf ihre Gesetzmäßigkeit in seinen Handlungen rechnen und den schönen Schein ihres Daseins genießen kann.
Wilhelm Ostwald Die Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus Vortrag gehalten in der dritten allgemeinen Sitzung der Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Lübeck am 20. September 1895* |
Es ist zu allen Zeiten darüber geklagt worden, dass über die wichtigsten und grundlegendsten Fragen der Menschheit so wenig Einigkeit herrsche. Nur in unseren Tagen ist bezüglich einer der grössten dieser Fragen die Klage fast verstummt; wenn auch noch mancherlei Widersprüche vorhanden sind, so darf doch behauptet werden, dass selten zu irgend einer Zeit eine so verhältnissmässig grosse Uebereinstimmung in Bezug auf die Auffassung der äusseren Erscheinungswelt bestanden hat, wie gerade in unserem naturwissenschaftlichen Jahrhundert. Vom Mathematiker bis zum praktischen Arzt wird jeder | naturwissenschaftlich denkende Mensch auf die Frage, wie er sich die Welt »im Inneren« gestaltet denkt, seine Ansicht dahin zusammenfassen, dass die Dinge sich aus bewegten Atomen zusammensetzen, und dass diese Atome und die zwischen ihnen wirkenden Kräfte die letzten Realitäten seien, aus denen die einzelnen Erscheinungen bestehen. In hundertfältigen Wiederholungen kann man den Satz hören und lesen, dass für die physische Welt kein anderes Verständniss gefunden werden kann, als indem man sie auf »Mechanik der Atome« zurückführt; Materie und Bewegung erscheinen als die letzten Begriffe, auf welche die Mannigfaltigkeit der Naturerschei* Leipzig 1895.
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nungen bezogen werden muss. Man kann diese Auffassung den wissenschaftlichen Materialismus nennen. Es ist meine Absicht, meine Ueberzeugung dahin auszusprechen, dass diese so allgemein angenommene Auffassung unhaltbar ist; dass diese mechanistische Weltansicht den Zweck nicht erfüllt, für den sie ausgebildet worden ist; dass sie mit unzweifelhaften und allgemein bekannten und anerkannten Wahrheiten in Widerspruch tritt. Der Schluss, der hieraus zu ziehen ist, kann keinem Zweifel unterliegen: die wissenschaftlich unhaltbare Anschauung muss aufgegeben und womöglich durch eine andere und bessere ersetzt werden. Die naturgemäss hier aufzuwerfende Frage, ob | solch eine andere und bessere Anschauung vorhanden ist, glaube ich bejahen zu sollen. Was ich Ihnen zu sagen habe, hochgeehrte Versammlung, wird sich demnach regelrecht in zwei Theile sondern lassen, den zerstörenden und den aufbauenden. Auch in diesem Falle ist Zerstören leichter als Aufbauen, und die Unzulänglichkeit der üblichen mechanistischen Ansicht wird leichter nachzuweisen sein, als die Zulänglichkeit der neuen, die ich als die energetische bezeichnen möchte. Wenn ich aber alsbald betone, dass diese neue Auffassung bereits auf dem ruhiger Erwägung und rücksichtsloser Prüfung so besonders günstigen Gebiete der experimentellen Wissenschaften sich zu bewähren Gelegenheit gehabt hat, so wird dies, wenn auch nicht die Ueberzeugung von ihrer Richtigkeit, so doch die Anerkennung ihres Anspruches auf Beachtung begründen können. Es ist vielleicht nicht überflüssig, wenn ich von vornherein betone, dass es sich heute für mich ausschliesslich um eine naturwissenschaftliche Erörterung handelt. Ich sehe grundsätzlich und unbedingt ab von allen Schlüssen, welche aus diesem Ergebniss für andere, ethische und religiöse, Angelegenheiten gezogen werden können. Ich thue dies nicht, weil ich die Bedeutung solcher Schlüsse missachte, sondern weil mein Ergebniss unabhängig von solchen Erwägungen, rein auf dem Boden der exacten Wissenschaften gewonnen worden | ist. Auch
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für die Bearbeitung dieses Bodens gilt das Wort, dass, wer die Hand an den Pflug legt und schauet zurück, für dieses Reich nicht geschaffen ist. Keinem zu Leid oder zu Liebe ist der Naturforscher verpflichtet, zu sagen, was er gefunden hat, und wir dürfen der Kraft vertrauen, dass ehrliches Suchen nach ihr uns vielleicht vorübergehend, nie aber dauernd vom rechten Wege entfernen kann. Ich verkenne nicht, dass mein Unternehmen mich in Widerspruch setzt mit der Ansicht von Männern, die Grosses in der Wissenschaft geleistet haben, und zu denen wir Alle bewundernd emporschauen. Mögen Sie es mir nicht als Ueberhebung auslegen, wenn ich mich in einer so wichtigen Sache mit ihnen in Widerspruch setze. Sie werden es auch nicht Ueberhebung nennen, wenn der Matrose, der den Dienst im Mastkorbe hat, durch den Ruf »Brandung vorn« den Weg des grossen Schiffes ablenkt, auf welchem er nur ein geringes dienendes Glied ist. Er hat die Pflicht, zu melden, was er sieht, und er würde dieser Pflicht entgegen handeln, wenn er es unterliesse. In solchem Sinne ist es eine Pflicht, deren ich mich heute entledige. Ist doch keiner von Ihnen gehalten, seinen wissenschaftlichen Kurs bloss auf meinen Ruf »Brandung vorn« zu ändern; jeder von Ihnen mag prüfen, ob es Wirklichkeit ist, was mir vor Augen steht, oder ob mich ein Scheinbild täuscht. Da ich aber glaube, | dass die besondere Art wissenschaftlicher Beschäftigung, die mein Beruf ist, mich augenblicklich gewisse Erscheinungen deutlicher erkennen lässt, als sie sich von anderen Gesichtspunkten darstellen, so müsste ich es als ein Unrecht betrachten, wenn ich aus äusseren Gründen ungesagt liesse, was ich gesehen habe. | Um uns in der Unendlichkeit der Erscheinungswelt zurechtzufinden, bedienen wir uns immer und überall der gleichen wissenschaftlichen Methode. Wir stellen das Aehnliche zum Aehnlichen und suchen in der Mannigfaltigkeit das Gemeinsame. Auf diese Art wird die stufenweise Bewältigung der Unendlichkeit unserer Erscheinungswelt bewerkstelligt, und
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es entstehen in aufeinanderfolgender Entwickelung für diesen Zweck immer wirksamere Mittel der Zusammenfassung. Von dem blossen Verzeichniss gelangen wir zu dem System, von diesem zum Naturgesetz, und dessen umfassendste Form verdichtet sich in den Allgemeinbegriff. Wir nehmen wahr, dass die Erscheinungen der thatsächlichen Welt, so unbegrenzt ihre Mannigfaltigkeit auch ist, doch nur ganz bestimmte und ausgezeichnete Einzelfälle der formell denkbaren Möglichkeiten darstellen. In der Bestimmung der wirklichen Fälle aus den möglichen besteht die Bedeutung der | Naturgesetze, und die Gestalt, auf die sich alle zurückführen lassen, ist die Ermittelung einer Invariante, einer Grösse, die unveränderlich bleibt, wenn auch alle übrigen Bestimmungsstücke innerhalb der möglichen und durch das Gesetz ausgesprochenen Grenzen sich ändern. So sehen wir, dass die geschichtliche Entwickelung der wissenschaftlichen Anschauungen sich immer an die Entdeckung und Herausarbeitung solcher Invarianten knüpft; in ihnen veranschaulichen sich die Meilensteine des Erkenntnissweges, den die Menschheit gegangen* ist. Eine solche Invariante von allgemeiner Bedeutung wurde in dem Begriff der Masse gefunden. Diese liefert nicht nur die Constanten der astronomischen Gesetze, sondern sie erweist sich nicht minder unveränderlich bei den einschneidendsten Aenderungen, denen wir die Objecte der Aussenwelt unterziehen können, den chemischen Vorgängen. Dadurch ergab sich dieser Begriff als in hohem Maasse geeignet, zum Mittelpunkte der naturwissenschaftlichen Gesetzmässigkeit gemacht zu werden. Freilich war er an sich zu arm an Inhalt, um zur Darstellung der mannigfaltigen Erscheinungen dienen zu können, und musste deshalb entsprechend erweitert werden. Dies geschah, indem man mit jenem einfach mechanischen Begriffe die Reihe von Eigenschaften, die erfahrungsmässig mit der Masseneigenschaft verbunden sind und ihr proportional gehen, | zusammenfliessen liess. So entstand der Begriff der Materie, in welchen man alles sammelte, was sinnfällig mit
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der Masse verbunden war und mit ihr zusammenblieb, wie das Gewicht, die Raumerfüllung, die chemischen Eigenschaften etc., und das physikalische Gesetz von der Erhaltung der Masse ging in das metaphysische Axiom von der Erhaltung der Materie über. Es ist wichtig, einzusehen, dass mit dieser Erweiterung eine Menge hypothetischer Elemente in den ursprünglich ganz hypothesenfreien Begriff aufgenommen wurde. Insbesondere musste im Lichte dieser Anschauung der chemische Vorgang entgegen dem Augenscheine so aufgefasst werden, dass keineswegs die von der chemischen Aenderung betroffene Materie verschwindet und an ihre Stelle neue mit neuen Eigenschaften tritt. Vielmehr verlangte die Ansicht die Annahme, dass, wenn auch beispielsweise alle sinnfälligen Eigenschaften des Eisens und des Sauerstoffs im Eisenoxyde verschwunden waren, Eisen und Sauerstoff in dem entstandenen Stoffe nichtsdestoweniger vorhanden seien und nur eben andere Eigenschaften angenommen hätten. Wir sind jetzt an eine solche Auffassung so gewöhnt, dass es uns schwerfällt, ihre Sonderbarkeit, ja Absurdität zu empfinden. Wenn wir uns aber überlegen, dass Alles, was wir von einem bestimmten Stoffe wissen, die Kenntniss seiner Eigenschaften ist, so sehen | wir, dass die Behauptung, es sei ein bestimmter Stoff zwar noch vorhanden, hätte aber keine von seinen Eigenschaften mehr, von einem reinen Nonsens nicht sehr weit entfernt ist. Thatsächlich dient uns diese rein formelle Annahme nur dazu, die allgemeinen Thatsachen der chemischen Vorgänge, insbesondere die stöchiometrischen Massengesetze, mit dem willkürlichen Begriffe einer an sich unveränderlichen Materie zu vereinigen. Aber auch mit dem so erweiterten Begriffe der Materie nebst den erforderlichen Nebenannahmen kann man die Gesammtheit der Erscheinungen nicht umfassen, nicht einmal im Anorganischen. Die Materie wird als etwas an sich Ruhendes, Unveränderliches gedacht; um mit diesem Begriffe die Darstellung der beständig sich verändernden Welt zu ermögli-
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chen, muss er noch durch einen anderen, davon unabhängigen ergänzt werden, welcher diese Veränderlichkeit zum Ausdruck bringt. Ein solcher Begriff war auf das erfolgreichste von Galilei, dem Schöpfer der wissenschaftlichen Physik, ausgebildet worden; es war die Conception der Kraft, der constanten Bewegungsursache. Galilei hatte für die veränderlichen Erscheinungen des freien und abgeleiteten Falles eine hochwichtige Invariante entdeckt; durch den Ansatz der an sich beständigen Schwerkraft, deren Wirkungen sich unaufhörlich summiren, hatte er die vollständige Darstellung | dieser Vorgänge ermöglicht. Und von welcher Tragweite dieser Begriff war, erwies sich dann durch Newton, der mit seiner Idee, dass die gleiche Kraft als Function der Entfernung zwischen den Himmelskörpern wirksam sei, die Gesammtheit der sichtbaren Sternenwelt wissenschaftlich erobert hatte. Es war insbesondere dieser Fortschritt, welcher die Ueberzeugung erweckte, dass auf die gleiche Weise, wie die astronomischen, auch alle anderen physischen Erscheinungen sich durch die gleichen Hülfsmittel darstellen lassen müssten. Als dann vollends am Anfange unseres Jahrhunderts durch die Bemühungen einer Anzahl, insbesondere französischer, hervorragender Astronomen sich ergeben hatte, dass das Newton’sche Gravitationsgesetz nicht nur die Bewegungen der Himmelskörper in grossen Zügen darzustellen vermochte, sondern dazu noch die weit eingehendere Prüfung der zweiten Annäherung bestand, indem auch die kleinen Abweichungen von den typischen Bewegungsformen, die Störungen, sich mit gleicher Sicherheit und Genauigkeit aus dem gleichen Gesetz berechnen liessen, da musste das Zutrauen in die Ausgiebigkeit dieser Auffassung in ganz ausserordentlichem Maasse gesteigert werden. Was lag näher, als die Erwartung, dass die Theorie, die in so vollkommener Weise die Bewegungen der grossen Weltkörper darzustellen vermocht hatte, auch das rechte, ja einzige Mittel sein müsse, um auch die Vorgänge in der kleinen Welt | der Atome der wissenschaftlichen Herrschaft zu unterwerfen? So entstand
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die mechanistische Auffassung der Natur, nach welcher alle Erscheinungen, zunächst der unbelebten Natur, in letzter Instanz auf nichts, als die Bewegung von Atomen nach gleichen Gesetzen, wie sie für die Himmelskörper erkannt worden waren, zurückzuführen sind. Dass diese Auffassung von dem Gebiete des Anorganischen alsbald auf das der belebten Natur übertragen wurde, war eine nothwendige Consequenz, nachdem einmal erkannt worden war, dass die gleichen Gesetze, welche dort gelten, auch hier ihre unverbrüchlichen Rechte in Anspruch nehmen. Ihren klassischen Ausdruck fand diese Weltanschauung in der Laplace’schen Idee der »Weltformel«, mittelst deren, den mechanischen Gesetzen gemäss, jedes vergangene und zukünftige Ereigniss auf dem Wege strenger Analyse sollte abgeleitet werden können. Es sollte dazu ein Geist erforderlich sein, der zwar dem menschlichen weit überlegen, ihm aber doch wesensgleich und nicht grundsätzlich von ihm verschieden wäre. Man bemerkt gewöhnlich nicht, in welch ausserordentlich hohem Maasse diese allgemein verbreitete Ansicht hypothetisch, ja metaphysisch ist; man ist im Gegentheil gewöhnt, sie als das Maximum von exacter Formulirung der thatsächlichen Verhältnisse anzusehen. Dem gegenüber muss betont werden, dass eine Bestätigung der aus dieser Theorie fliessenden Consequenz, | dass alle die nicht mechanischen Vorgänge, wie die der Wärme, der Strahlung, der Elektricität, des Magnetismus, des Chemismus, thatsächlich mechanische seien, auch in keinem einzigen Falle erbracht worden ist. Es ist keinem einzigen dieser Fälle gelungen, die thatsächlichen Verhältnisse durch ein entsprechendes mechanisches System so darzustellen, dass kein Rest übrig blieb. Zwar für zahlreiche Einzelerscheinungen hat man mit mehr oder weniger Erfolg die mechanischen Bilder geben können; wenn man aber versucht hat, die Gesammtheit der auf einem Gebiete bekannten Thatsachen mittelst eines solchen mechanischen Bildes vollständig darzustellen, so hat sich immer und ausnahmelos ergeben, dass
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an irgend einer Stelle zwischen dem wirklichen Verhalten der Erscheinungen und dem, welches das mechanische Bild erwarten liess, ein unlöslicher Widerspruch vorhanden war. Dieser Widerspruch kann lange verborgen bleiben; die Geschichte der Wissenschaft lehrt uns aber, dass er früher oder später unweigerlich zu Tage tritt, und das einzige, was man von solchen mechanischen Bildern oder Analogien, die man mechanische Theorien der fraglichen Erscheinungen zu nennen pflegt, mit völliger Sicherheit sagen kann, ist, dass sie jedenfalls einmal in die Brüche gehen werden. Ein ausgezeichnetes Beispiel für diese Verhältnisse bietet die Geschichte der optischen Theorien. Solange | die gesammte Optik nicht mehr als die Erscheinungen der Spiegelung und Brechung umfasste, war ihre Darstellung durch das von Newton aufgestellte mechanische Schema möglich, nach welchem das Licht aus kleinen Theilchen bestehen sollte, die, von dem leuchtenden Körper geradlinig ausgeschleudert, nach den Gesetzen bewegter und vollkommen elastischer Massen sich verhielten. Dass eine andere mechanische Ansicht, die von Huygens und Euler vertretene Schwingungstheorie, in dieser Beziehung genau so viel leistete, konnte zwar gegen die Alleingültigkeit der ersten Ansicht misstrauisch machen, vermochte ihr aber die Herrschaft nicht zu rauben. Als dann die Erscheinungen der Interferenz und Polarisation entdeckt wurden, erwies sich das mechanische Bild Newton’s als ganz ungeeignet, und das andere, die Schwingungstheorie, galt als erwiesen, da aus deren Voraussetzungen wenigstens die Hauptsachen der neuen Gebiete ableitbar waren. Auch das Leben der Schwingungstheorie als einer mechanischen Theorie ist ein begrenztes gewesen, denn in unseren Tagen ist sie ohne Sang und Klang zu Grabe getragen und von der elektromagnetischen Lichttheorie abgelöst worden. Secirt man den Leichnam, so tritt die Todesursache deutlich zu Tage: auch sie ist an ihren mechanischen Bestandtheilen zu Grunde gegangen. Der hypothetische Aether, dem man die Aufgabe,
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zu schwingen, auferlegte, musste diese unter ganz | besonders schwierigen Bedingungen erfüllen. Denn die Polarisationserscheinungen verlangten unbedingt, dass die Schwingungen transversale sein mussten; solche setzen aber einen starren Körper voraus, und die Rechnungen Lord Kelvin’s haben schliesslich ergeben, dass ein Medium mit solchen Eigenschaften, wie sie der Aether haben müsste, überhaupt nicht stabil ist, also, wie daraus unvermeidlich zu schliessen ist, keine physische Existenz haben kann. Wohl um der jetzt angenommenen elektromagnetischen Lichttheorie ein gleiches Schicksal zu ersparen, hat der unvergessliche Hertz, dem diese Theorie so viel verdankt, ausdrücklich darauf verzichtet, in ihr etwas anderes zu sehen, als ein System von sechs Differentialgleichungen. Dieser Schlusspunkt der Entwickelung spricht viel eindringlicher, als ich es irgend könnte, gegen die dauernde Erspriesslichkeit der früher eingehaltenen theoretischen Wege im mechanistischen Gebiete. Aber jene Theorien sind doch so fruchtbar gewesen, höre ich sagen. Ja, sie sind es gewesen durch ihren Betrag an richtigen Bestandtheilen, wie sie durch ihre falschen schädlich geworden sind. Welches aber die richtigen, und welches die falschen Bestandtheile waren, hat sich erst durch lange und kostspielige Erfahrung herausstellen müssen. Das Ergebniss unserer bisherigen Betrachtungen ist zunächst ein rein negatives: wir haben gelernt, wie es | nicht zu machen ist, und es erscheint von geringem Nutzen, solche verneinenden Resultate vorzuführen. Indessen dürfen wir schon hier einen Gewinn verzeichnen, der Vielen von Ihnen nicht werthlos erscheinen wird. Wir finden auf unserem Wege die Möglichkeit, eine Ansicht kritisch zu beseitigen, welche ihrer Zeit ein nicht geringes Aufsehen und Vielen der Betheiligten eine grosse Sorge gemacht hat. Ich meine die weitbekannten Darlegungen, welche der berühmte Physiologe der Berliner Universität, Emil Du Bois-Reymond, zuerst vor 23 Jahren gelegentlich der Leipziger Naturforscherversammlung und spä-
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ter in einigen weiteren, viel gelesenen Schriften bezüglich der Aussichten unserer zukünftigen Naturerkenntniss gemacht hat, und welche in dem viel commentirten »ignorabimus« gipfeln. In dem langen Streite, welcher sich an diese Rede geknüpft hat, ist, soviel ich sehen kann, Du Bois-Reymond allen Angriffen gegenüber sachlich der Sieger geblieben, denn alle seine Gegner sind von derselben Grundlage ausgegangen, aus der er sein ignorabimus folgerte, und seine Schlüsse stehen ebenso sicher da, wie jene Grundlage. Diese Grundlage, welche inzwischen von keinem in Frage gestellt worden war, ist die mechanistische Weltanschauung, die Annahme, dass die Auflösung der Erscheinungen in ein System bewegter Massenpunkte das Ziel ist, welches die Naturerklärung erreichen könne. Fällt aber diese Grundlage, und wir haben ge | sehen, dass sie fallen muss, so fällt mit ihr auch das ignorabimus, und die Wissenschaft hat wieder freie Bahn. Ich glaube nicht, hochgeehrte Versammlung, dass Sie dies Ergebniss mit Verwunderung aufnehmen werden; denn wenn ich nach meinen Erfahrungen urtheilen soll, so hat kaum ein Naturforscher ernsthaft an das ignorabimus geglaubt, wenn man sich auch nicht veranschaulicht hat, in welchem Punkte das Unhaltbare jenes Schlusses gelegen hat. Wohl aber dürfte der Gewinn der negativen Kritik der mechanistischen Weltauffassung, der in der formellen Beseitigung jenes drohenden Gespenstes liegt, doch für manchen Denker, der der unentrinnbaren Logik der du Bois’schen Beweisführung nichts entgegenzusetzen hatte, von einigem Werth sein. Was hier der Anschaulichkeit wegen in Bezug auf jene besonderen Erörterungen dargelegt worden ist, gilt aber beträchtlich weiter: die Beseitigung der mechanistischen Weltconstruction trifft die Grundlage der gesammten materialistischen Weltauffassung, dies Wort im wissenschaftlichen Sinne genommen. Erscheint es als ein vergebliches, bei jedem einzelnen ernsthaften Versuche schliesslich gescheitertes Unternehmen, die bekannten physikalischen Erscheinungen me-
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chanisch zu deuten, so ist der Schluss unabweisbar, dass dies um so weniger bei den unvergleichlich viel verwickelteren Erschei | nungen des organischen Lebens gelingen kann. Die gleichen prinzipiellen Widersprüche machen sich auch hier geltend, und die Behauptung, alle Naturerscheinungen liessen sich in erster Linie auf mechanische zurückführen, darf nicht einmal als eine brauchbare Arbeitshypothese bezeichnet werden; sie ist ein blosser Irrthum. Am deutlichsten tritt dieser Irrthum gegenüber der folgenden Thatsache in die Erscheinung. Die mechanischen Gleichungen haben alle die Eigenschaft, dass sie die Vertauschung des Zeichens der Zeitgrösse gestatten. Das heisst, die theoretisch vollkommenen mechanischen Vorgänge können ebenso gut vorwärts, wie rückwärts verlaufen. In einer rein mechanischen Welt gäbe es daher kein Früher und Später im Sinne unserer Welt; es könnte der Baum wieder zum Reis und zum Samenkorn werden, der Schmetterling sich in die Raupe, der Greis in ein Kind verwandeln. Für die Thatsache, dass dies nicht stattfindet, hat die mechanistische Weltauffassung keine Erklärung und kann wegen der erwähnten Eigenschaft der mechanischen Gleichungen auch keine haben. Die thatsächliche Nichtumkehrbarkeit der wirklichen Naturerscheinungen beweist also das Vorhandensein von Vorgängen, welche durch mechanische Gleichungen nicht darstellbar sind, und damit ist das Urtheil des wissenschaftlichen Materialismus gesprochen. | Wir müssen also, dies scheint sich mit vollkommener Gewissheit aus diesen Betrachtungen zu ergeben, endgültig auf die Hoffnung verzichten, uns die physische Welt durch Zurückführung der Erscheinungen auf eine Mechanik der Atome anschaulich zu deuten. Aber, höre ich hier sagen, wenn uns die Anschauung der bewegten Atome genommen wird, welches Mittel bleibt uns übrig, uns ein Bild der Wirklichkeit zu machen? Auf solche Frage möchte ich Ihnen zurufen: Du sollst Dir kein Bildniss oder ein Gleichniss machen! Unsere Aufga-
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be ist nicht, die Welt in einem mehr oder weniger getrübten oder verkrümmten Spiegel zu sehen, sondern so unmittelbar, als es die Beschaffenheit unseres Geistes nur irgend erlauben will. Realitäten, aufweisbare und messbare Grössen mit einander in bestimmte Beziehung zu setzen, so dass, wenn die einen gegeben sind, die anderen gefolgert werden können, das ist die Aufgabe der Wissenschaft, und sie kann nicht durch die Unterlegung irgend eines hypothetischen Bildes, sondern nur durch den Nachweis gegenseitiger Abhängigkeitsbeziehungen messbarer Grössen gelöst werden. Unzweifelhaft ist dieser Weg lang und mühsam, doch ist er der einzig zulässige. Aber wir brauchen ihn nicht mit bitterer Entsagung für unsere Person und in der Hoffnung zu gehen, dass er einmal unsere Enkelkinder auf die ersehnte Höhe führen wird. Nein, wir | selbst sind die Glücklichen, und die hoffnungsvollste wissenschaftliche Gabe, die das scheidende Jahrhundert dem aufdämmernden reichen kann, ist der Ersatz der mechanistischen Weltanschauung durch die energetische. Hochgeehrte Versammlung! Ich lege an dieser Stelle das grösste Gewicht darauf, zu betonen, dass es sich hier keineswegs um etwas unbedingt Neues, erst unseren Tagen Gegebenes handelt. Nein, ein halbes Jahrhundert lang befinden wir uns im Besitz, ohne uns dessen bewusst gewesen zu sein. Wenn irgendwo das Wort: »geheimnissvoll offenbar« zugetroffen hat, so ist es hier: täglich konnten wir es lesen, und wir verstanden es nicht. Als vor nun 53 Jahren Julius Robert Mayer zuerst die Aequivalenz der verschiedenen Naturkräfte oder, wie wir heute sagen, der verschiedenen Energieformen entdeckte, hat er bereits einen wesentlichen Schritt in der entscheidenden Richtung gethan. Aber nach einem stets wiederkehrenden Gesetz im Denken der Allgemeinheit wird eine neue Erkenntniss nie so rein und ungetrübt aufgenommen, wie sie dargeboten wird. Der Empfänger, welcher den Fortschritt nicht innerlich erlebt, sondern von aussen entgegengenommen hat, strebt vor allem
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darnach, das Neue, so gut es geht, an das Vorhandene anzuschliessen. So wird der | neue Gedanke gestört, und wenn auch nicht gerade verfälscht, so doch seiner besten Kraft beraubt. Ja, so wirksam ist diese Denkeigenthümlichkeit, dass sie auch den Entdecker selbst nicht frei lässt; so hat Kopernikus’ gewaltige Geisteskraft zwar ausgereicht, Sonne und Erde in ihren Bewegungen die Plätze tauschen zu lassen, nicht aber, um auch die Bewegungen der anderen Wandelsterne in ihrer Einfachheit aufzufassen; für diese behielt er die überkommene Theorie der Epicyklen bei. Aehnliches findet sich auch bei Mayer. So bestand, wie fast immer, die Arbeit der nächsten Generationen nicht darin, einfach die Ergebnisse der neuen Erkenntniss zu ernten, sondern vielmehr darin, die unwillkürlichen, nicht zur Sache gehörigen Zuthaten Stück für Stück wieder zu beseitigen, bis dann schliesslich der Grundgedanke in seiner ganzen schlichten Grösse erscheinen mochte. Auch in unserem Falle lässt sich eine solche Entwicklung erkennen. Nachdem J. R. Mayer das Aequivalenzgesetz aufgestellt hatte, war sein Gedanke der äquivalenten Umwandelbarkeit der verschiedenen Energieformen in seiner Einfachheit zu fremdartig, um unmittelbar aufgenommen zu werden. Vielmehr haben die drei Forscher, denen wir bezüglich der Durchführung des Gesetzes am meisten zu Dank verpflichtet sind, haben Helmholtz, Clausius und William Thomson alle drei das Gesetz dahin »deuten« zu müssen geglaubt, dass | alle verschiedenen Energiearten im Grunde dasselbe, nämlich mechanische Energie seien. Auf diese Weise wurde das erzielt, was als das Dringendste erschien: ein unmittelbarer Anschluss an die herrschende mechanistische Naturauffassung; eine entscheidende Seite des neuen Gedankens aber ging dabei verloren. Es hat eines halben Jahrhunderts bedurft, um die Einsicht reifen zu lassen, dass diese hypothetische Zuthat zu dem Energiegesetz keine Vertiefung der Einsicht war, sondern ein Verzicht auf ihre bedeutsamste Seite: ihre Freiheit von jeder willkürlichen Hypothese. Und auch nicht die Erkenntniss dieses
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methodischen Umstandes, sondern das schliessliche Misslingen aller Versuche, die übrigen Energieformen befriedigend mechanisch zu deuten, ist für den gegenwärtigen Fortschritt, soweit er zur Zeit überhaupt zur Geltung gelangt ist, der entscheidende Grund zum Aufgeben der mechanischen Deutung gewesen. Sie werden aber ungeduldig sein, hochgeehrte Versammlung, zu erfahren, wie es denn möglich sein soll, mittelst eines solchen abstracten Begriffes, wie es die Energie ist, eine Weltanschauung zu gestalten, die an Klarheit und Anschaulichkeit mit der mechanischen verglichen werden kann. Die Antwort soll mir nicht schwer fallen. Was erfahren wir denn von der physischen Welt? Offenbar nur das, was uns unsere Sinneswerkzeuge davon zukommen lassen. Welches ist aber | die Bedingung, damit eines dieser Werkzeuge sich bethätigt? Wir mögen die Sache wenden, wie wir wollen, wir finden nichts Gemeinsames, als das: Die Sinneswerkzeuge reagiren auf Energieunterschiede zwischen ihnen und der Umgebung. In einer Welt, deren Temperatur überall die unseres Körpers wäre, würden wir auf keine Weise etwas von der Wärme erfahren können, ebenso wie wir keinerlei Empfindung von dem constanten Atmosphärendrucke haben, unter dem wir leben; erst wenn wir Räume anderen Druckes herstellen, gelangen wir zu seiner Kenntniss. Gut; dies werden Sie zuzugeben bereit sein. Aber Sie werden nicht auf die Materie daneben verzichten wollen, denn die Energie muss doch einen Träger haben. Ich aber frage dagegen: warum? Wenn Alles, was wir von der Aussenwelt erfahren, deren Energieverhältnisse sind, welchen Grund haben wir, in eben dieser Aussenwelt etwas anzunehmen, wovon wir nie etwas erfahren haben? Ja, hat man mir geantwortet, die Energie ist doch nur etwas Gedachtes, ein Abstractum, während die Materie das Wirkliche ist! Ich erwidere: Umgekehrt! Die Materie ist ein Gedankending, das wir uns, ziemlich unvollkommen, construirt haben, um das Dauernde im Wechsel
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der Erscheinungen darzustellen. Nun wir zu begreifen anfangen, dass das Wirkliche, d. h. das, was auf uns wirkt, nur | die Energie ist, haben wir zu prüfen, in welchem Verhältniss die beiden Begriffe stehen, und das Ergebniss ist unzweifelhaft, dass das Prädicat der Realität nur der Energie zugesprochen werden kann. Diese entscheidende Seite der neuen Anschauung tritt vielleicht deutlicher hervor, wenn ich die hier vorliegende Begriffsbildung Ihnen in kürzestem geschichtlichen Abriss vorführe. Wir haben bereits gesehen, dass der Fortschritt der Wissenschaft sich in der Auffindung immer allgemeinerer Invarianten kennzeichnet, und ich habe auch darauf hingewiesen, wie die erste dieser unveränderlichen Grössen, die Masse, sich zur Materie, d. h. der mit Volumen, Gewicht und chemischen Eigenschaften ausgestatteten Masse, erweitert hat. Doch war offenbar von vornherein dieser Begriff nicht genügend, um die Erscheinungen in ihrer unaufhörlichen Veränderlichkeit zu decken, und man fügte seit Galilei den der Kraft hinzu, um dieser Seite der Welt gerecht zu werden. Doch ging der Kraft die Eigenschaft der Unveränderlichkeit ab, und nachdem in der Mechanik in der lebendigen Kraft und der Arbeitsgrösse Functionen aufgefunden worden waren, welche sich als partielle Invarianten auswiesen, entdeckte Mayer in der Energie die allgemeinste Invariante, welche das ganze Gebiet der physischen Kräfte beherrscht. Dieser geschichtlichen Entwickelung gemäss blieben Materie und Energie neben einander bestehen, und | Alles, was man von ihrem gegenseitigen Verhältniss zu sagen wusste, war, dass sie meist mit einander vorkommen, oder dass die Materie der Träger oder das Gefäss der Energie sei. Sind denn nun aber Materie und Energie wirklich etwas von einander Verschiedenes, wie etwa Körper und Seele? Oder ist nicht vielmehr das, was wir von der Materie wissen und aussagen, schon in dem Begriff der Energie enthalten, so dass wir mit dieser einen Grösse die Gesammtheit der Erscheinun-
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gen darstellen können? Nach meiner Ueberzeugung kann die Antwort nicht zweifelhaft sein. Was in dem Begriff der Materie steckt, ist erstens die Masse, d. h. die Capacität für Bewegungsenergie, ferner die Raumerfüllung oder die Volumenergie, weiter das Gewicht oder die in der allgemeinen Schwere zu Tage tretende besondere Art von Lagenenergie, und endlich die chemischen Eigenschaften, d. h. die chemische Energie. Es handelt sich immer nur um Energie, und denken wir uns deren verschiedene Arten von der Materie fort, so bleibt nichts übrig, nicht einmal der Raum, den sie einnahm, denn auch dieser ist nur durch den Energieaufwand kenntlich, welchen es erfordert, um in ihn einzudringen. Somit ist die Materie nichts, als eine räumlich zusammengeordnete Gruppe verschiedener Energien, und Alles, was wir von ihr aussagen wollen, sagen wir nur von diesen Energien aus. | Was ich hier darzulegen mich bemühe, ist so wichtig, dass Sie mir verzeihen werden, wenn ich der Sache noch von einer anderen Seite näher zu kommen suche. Gestatten Sie mir, hochgeehrte Versammlung, dafür das drastischste Beispiel zu nehmen, das ich eben finden kann. Denken Sie sich, Sie bekämen einen Schlag mit einem Stocke! Was fühlen Sie dann, den Stock oder seine Energie? Die Antwort kann nur eine sein: die Energie. Denn der Stock ist das harmloseste Ding von der Welt, so lange er nicht geschwungen wird. Aber wir können uns auch an einem ruhenden Stocke stossen! Ganz richtig: was wir empfinden, sind, wie schon betont, Unterschiede der Energiezustände gegen unsere Sinnesapparate, und daher ist es gleichgültig, ob sich der Stock gegen uns oder wir uns gegen den Stock bewegen. Haben aber beide gleiche und gleichgerichtete Geschwindigkeit, so existirt der Stock für unser Gefühl nicht mehr, denn er kann nicht mit uns in Berührung kommen und einen Energieaustausch bewerkstelligen. Diese Darlegungen zeigen, wie ich hoffe, dass in der That Alles, was man bisher mit Hülfe der Begriffe Stoff und Kraft darzustellen vermochte, und noch viel mehr, sich mittelst des
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Energiebegriffes darstellen lässt; es handelt sich nur um eine Uebertragung von Eigenschaften und Gesetzen, die man jenen zugeschrieben hatte, auf diese. Ferner aber erlangen wir den sehr | grossen Gewinn, dass die Widersprüche, welche jener Auffassungsweise anhafteten, und auf welche ich in dem ersten Theile meiner Darlegungen hingewiesen habe, hier nicht auftreten. Indem wir keinerlei Voraussetzung über den Zusammenhang der verschiedenen Energiearten unter einander machen, als den durch das Erhaltungsgesetz gegebenen, gewinnen wir die Freiheit, die verschiedenen Eigenschaften objectiv zu studiren, welche diesen verschiedenen Arten zukommen, und können dann durch die rationelle Betrachtung und Ordnung dieser Eigenschaften ein System der Energiearten aufstellen, welches uns genau die Aehnlichkeiten, wie die Unterschiede derselben erkennen lässt und uns daher wissenschaftlich viel weiter führt, als die Verwischung dieser Unterschiede durch die hypothetische Annahme ihrer »inneren« Gleichheit es thun kann. Ein gutes Beispiel für das, was ich hier andeuten will, finden wir in der kinetischen Hypothese über den Gaszustand, die sich gegenwärtig noch einer ziemlich allgemeinen Anerkennung erfreut. Nach dieser entsteht der Druck eines Gases durch die Stösse seiner bewegten Theilchen. Nun ist ein Druck eine Grösse, welche keine räumliche Richtung besitzt: ein Gas drückt nach allen Richtungen gleich stark; ein Stoss rührt aber von einem bewegten Dinge her, und diese Bewegung besitzt eine bestimmte Richtung. Somit kann eine dieser Grössen gar nicht unmittelbar auf die andere zurück | geführt werden. Die kinetische Hypothese umgeht diese Schwierigkeit, indem sie künstlich die dem Stosse zukommende Richtungseigenschaft wieder hinausschafft durch die Annahme, die Stösse erfolgten nach allen Richtungen gleichförmig ohne Unterschied. In diesem Falle gelingt die künstliche Anpassung der Eigenschaften der verschiedenen Energien; in anderen ist sie aber nicht vollkommen möglich. So sind z. B. die Factoren der elektrischen Energie, die Spannung und die
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Elektricitätsmenge, Grössen, welche ich polare zu nennen vorschlagen möchte; d. h. sie werden durch einen Zahlenwerth nicht allein gekennzeichnet, sondern besitzen auch ein Zeichen, dergestalt, dass zwei gleiche Grössen entgegengesetzten Zeichens sich zu Null addiren und nicht zum doppelten Werth. In der Mechanik sind solche rein polare Grössen nicht bekannt: dies ist der Grund, warum es nicht gelingen will, eine auch nur einigermassen durchführbare mechanische Hypothese für die elektrischen Erscheinungen zu finden. Sollte sich eine mechanische Grösse mit Polaritätseigenschaften aufstellen lassen – was vielleicht nicht unmöglich und jedenfalls einer eingehenden Untersuchung werth ist –, so hätten wir auch das Material, um wenigstens einige Seiten der Elektrik mechanisch zu »veranschaulichen«. Freilich lässt sich auch hier mit Sicherheit sagen, dass es sich nur um einige Seiten handeln wird, und dass die ausnahmslose Unvollkommenheit aller mechanischen Hypo | thesen sich auch hier zeigen und die vollständige Durchführbarkeit des Bildes verhindern wird. Wenn nun aber auch wirklich sich die Gesetze der Naturerscheinungen auf die Gesetze der entsprechenden Energiearten zurückführen lassen, welchen Vortheil haben wir davon? Zunächst den sehr erheblichen, dass eine hypothesenfreie Naturwissenschaft möglich wird. Wir fragen nicht mehr nach den Kräften, die wir nicht nachweisen können, zwischen den Atomen, die wir nicht beobachten können, sondern wir fragen, wenn wir einen Vorgang beurtheilen wollen, nach der Art und Menge der aus- und eintretenden Energien. Die können wir messen, und Alles, was zu wissen nöthig ist, lässt sich in dieser Gestalt ausdrücken. Welch ein enormer methodischer Vorzug dies ist, wird Jedem klar werden, dessen wissenschaftliches Gewissen unter der unaufhörlichen Verquickung zwischen Thatsachen und Hypothesen gelitten hat, welche die gegenwärtige Physik und Chemie uns als rationelle Wissenschaft darbietet. Die Energetik ist der Weg, auf welchem die so vielfach missverstandene Forderung Kirchhoff’s, die soge-
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nannte Naturerklärung durch die Beschreibung der Erscheinungen zu ersetzen, ihrem richtigen Sinne nach erfüllt werden kann. Mit dieser Voraussetzungslosigkeit der energetischen Wissenschaft ist gleichzeitig eine methodische Einheitlichkeit verbunden, die, wie ohne Zögern gesagt werden darf, bisher noch nie erreicht war. Auf | die philosophische Bedeutung dieses einheitlichen Princips in der Auffassung der natürlichen Erscheinungen habe ich bereits hingewiesen; es liegt in der Natur der Sache, darf aber doch wohl auch noch besonders ausgesprochen werden, dass durch diese philosophische Vereinheitlichung auch ganz ungemein grosse Vortheile bezüglich des Lehrens und Verstehens der Wissenschaft sich ergeben. Um nur ein Beispiel anzuführen, so können wir behaupten, dass alle Gleichungen ohne Ausnahme, welche zwei oder mehr verschiedene Arten von Erscheinungen auf einander beziehen, nothwendig Gleichungen zwischen Energiegrössen sein müssen; andere sind überhaupt nicht möglich. Dies ist eine Folge davon, dass neben den Anschauungsformen Raum und Zeit die Energie die einzige Grösse ist, welche den verschiedenen Gebieten, und zwar allen ohne Ausnahme, gemeinsam ist: man kann also zwischen verschiedenen Gebieten überhaupt nichts anderes einander gleichsetzen, als die in Frage kommenden Energiegrössen. Ich muss mir leider versagen, hier darauf einzugehen, wie dadurch gleichzeitig eine Unzahl von Beziehungen, die zum Theil schon bekannt waren, zum Theil neu sind, unmittelbar hingeschrieben werden können, während man früher sie durch mehr oder weniger umständliche Rechnungen ableiten musste. Ebensowenig kann ich Ihnen die neuen Seiten auseinandersetzen, welche die schon früher, wenn auch nicht | so vollständig, bekannten anderen Sätze der Thermodynamik, des ausgedehntesten Theils der Energetik, im Lichte der allgemeinen energetischen Betrachtungen gezeigt haben. Alle diese Dinge müssen ja so sein, wenn das, was ich Ihnen vorher über die Bedeutung der neuen Anschauungsweise gesagt habe, be-
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gründet gewesen sein soll. Hierauf brauche ich nicht wieder zurückzukommen. Aber eine schliessliche Frage möchte ich aufzuwerfen nicht unterlassen. Wenn es einmal gelingt, eine bedeutende und fruchtbringende Wahrheit in ihrer ganzen schlichten Grösse zu erfassen, so ist man nur zu leicht geneigt, in ihrem Kreise auch gleich Alles beschlossen zu sehen, was überhaupt in dem Gebiete in Frage kommt. Diesen Fehler sieht man täglich in der Wissenschaft begehen, und die Meinung, deren Bekämpfung ich die Hälfte der mir zugebilligten Zeit gewidmet hatte, ist ja gerade aus einem solchen Irrthume entstanden. Wir werden uns also alsbald zu fragen haben: Ist die Energie, so nothwendig und nützlich sie auch zum Verständniss der Natur ist, auch zureichend für diesen Zweck? Oder giebt es Erscheinungen, welche durch die bisher bekannten Gesetze der Energie nicht vollständig dargestellt werden können? Hochgeehrte Versammlung! Ich glaube der Verantwortlichkeit, die ich heute durch meine Darlegungen | Ihnen gegenüber eingenommen habe, nicht besser gerecht werden zu können, als wenn ich hervorhebe, dass diese Frage mit Nein zu beantworten ist. So immens die Vorzüge sind, welche die energetische Weltauffassung vor der mechanistischen oder materialistischen hat, so lassen sich schon jetzt, wie mir scheint, einige Punkte bezeichnen, welche durch die bekannten Hauptsätze der Energetik nicht gedeckt werden, und welche daher auf das Vorhandensein von Prinzipien hinweisen, die über diese hinausgehen. Die Energetik wird neben diesen neuen Sätzen bestehen bleiben. Nur wird sie künftig nicht, wie wir sie noch heute ansehen müssen, das umfassendste Princip für die Bewältigung der natürlichen Erscheinungen sein, sondern wird voraussichtlich als ein besonderer Fall noch allgemeinerer Verhältnisse erscheinen, von deren Form wir zur Zeit allerdings kaum eine Ahnung haben können. Hochgeehrte Versammlung! Ich fürchte nicht, durch das, was ich eben gesagt habe, den Werth des geistigen Fortschrittes,
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von dem vorher die Rede war, herabgesetzt zu haben; ich meine, ich habe ihn etwas erhöht. Denn wieder einmal ist es uns entgegengetreten, dass die Wissenschaft nie und nirgends eine Grenze des Fortschrittes anerkennen kann und darf, und dass mitten unter den Kämpfen um einen neuen Besitz das Auge nicht blind dafür werden soll, dass hinter dem Boden, dessen Eroberung es eben gilt, noch weite | Flächen sich dehnen, die später einmal auch genommen werden müssen. Der früheren Zeit mochte es hingehen, wenn der Staub und Rauch des Kampfes ihr den Blick in die engen Grenzen des Kampfes gebannt hielt. Heute ist das nicht mehr gestattet; heute schiessen wir mit rauchlosem Pulver – oder sollten es wenigstens thun – und haben daher mit der Möglichkeit auch die Pflicht, nicht den Fehlern früherer Epochen zu verfallen. |
Walter Rathenau Ignorabimus* Wenn es wahr ist, daß geistige und politische Größe nicht gleichzeitig einer Nation beschieden sind, so ist der Tiefpunkt unserer Geisteskultur zur Zeit der letzten Kriege genugsam erklärt. Die Generation um 1870, Söhne romantischer Neuerer und bürgerlicher Revolutionäre, hatte das seltene Glück, in allen großen Fragen des Lebens mit den Vätern zu harmoniren; ein auskömmliches geistiges Erbe wurde in Behaglichkeit aufgezehrt. Von der Redelust der Märzzeit und der Theatersucht der Restaurationepoche halbwegs geheilt, saßen die Gebildeten – niemals stand dieser Begriff so sehr in Ehren – in Lesezimmern und Konditoreien und ergötzten sich an Napoleons Neujahrsreden, Auerbachs Romanen und Eisenbahnkursen, bis plötzlich Kriegsfanfaren ertönten und man auf die Straße treten mußte, um den abziehenden Kriegern die Hände zu schütteln und ihnen bewegte Worte nachzurufen. Dreimal in einem Jahrzehnt erhob die Furie das Haupt; und als bei der dritten Heimkehr die Sieger nebst ihren erbeuteten Bannern und Kanonen das neue Reich und die Kaiserkrone mit ins Land brachten, wußten die Zurückgebliebenen sich kaum zu fassen. Ein Theil verleugnete früheres Fühlen und huldigte den Mächten des Militärstaates, Andere verschmerzten es nicht, daß, statt des Bürgers von 1848, der Soldat und der Machthaber triumphirte, und begaben sich mürrisch und nörgelnd in die Fronde. Der Taumel der Gründertage brach herein und die Zeit von Deutschlands größter Glorie hat sich kein anderes Denkmal gesetzt als ein Kriegslied.
* Walter Rathenau (Pseudonym: Hartenau): Ignorabimus. In: Die Zukunft 25 (19.03.1898), 524–536.
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Diese Zeit erlebte mehr als andere Ebben geistigen Lebens einen unabsehbaren Triumphzug der experimentellen Forschung. Die Wissenschaft als Nationaleigenthum hatte aufgehört; die Welt der Gelehrten hatte sich zur Volksverbrüderung vereinigt. Der schwedische Forscher warf dem französischen Freunde den angefangenen Faden zu; in den Blättern der Fachzeitschriften huschte jeder neue Gedanke durch die kultivirte Welt und die Entdeckung, die im heidelberger Laboratorium gemacht war, wurde, noch bevor Schmelztiegel und Retorte erkalteten, vom Katheder der berliner, der pariser Akademie und der Royal Society verkündet. Räthsel auf Räthsel der sichtbaren Welt löste sich auf und jedesmal erschien, was der sinkende Schleier enthüllte, klar, einfach und selbstverständlich. Der Materialismus hob sein Haupt. Mit zudringlichen Fäusten, mit Hebeln und mit Schrauben nahte er sich den Thoren des Uebersinnlichen und wähnte den Augenblick gekommen, das Wesen der Schöpfung als einer zerlegten Maschine mit den Augen des Meisters zu überschauen. In diesen Zeitläuften erschien und erregte ungemessenes Aufsehen eine Schrift: Du Bois-Reymonds »Ueber die Grenzen der Naturerkenntniß.« | Ungleich seinem Freunde und Nachbarn, Helmholtz, der als größter produktiver Forscher unserer Zeit mit dem Strahl des Gedankens immer neue Gebiete des Wissens aus dem Dunkel hob, war Du Bois Gelehrter im Sinne der Renaissance, ein Humanist und Polyhistor, der das wissenschaftliche Erkennen seiner Epoche wie in einem Brennpunkte vereinigte. Niemand war so wie er geeignet, bei allen bedeutsamen Wendepunkten das Fazit der Bestrebungen zu ziehen und der Welt vorzuhalten. In der Frage nach dem Wesen der Kraft, der Materie und des Denkens und nach ihrem Zusammenhang lautete sein strenges Verdikt: »Ignorabimus!« In immer erneuten Wendungen und mit schillerndem Reichthum an Bildern und Gleichnissen hatte er zunächst nachgewiesen, was uns heute so gewiß erscheint: daß das Problem des Zusammenhanges von Denken
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und Erscheinung sich nicht aus der Betrachtung von Bewegungen und Kräften lösen lasse; dann hatte er dies Problem, weil ihm die Naturerkenntniß, die physikalisch-mathematische Methode, hilflos gegenüberstand, für schlechthin und in alle Zeiten unlösbar erklärt. Es mag sein, daß dies Verdammungurtheil, verkündet von dem berufenen Fürsprecher der Naturwissenschaft selbst, etwas beigetragen hat, den Materialismus bescheidener zu stimmen. Doch durfte nun auch die physikalisch positive Schule sich ihres gesicherten absoluten Monopols an Erkenntniß rühmen und auf alle spekulativen Strebungen, die endgiltig aus dem Bereich wissenschaftlichen Beginnens ausgestoßen schienen, mit überlegenem Bewußtsein herabblicken. Das metaphysische Denken war bald, und nicht allein für den Naturforscher, dem Du Bois noch gestattet hatte, eine Meinung über solche Dinge sich zu bilden, eine Art Pudendum geworden, eine Sache, bei der man sich nicht gern ertappen ließ. Die große Zeit der Naturforschung neigt sich zum Horizont. An Experimenten und technischen Anwendungen hat die Welt sich gesättigt und neue Interessen dringen hervor. Und wie der Seefahrer seinen Blick auf die unwandelbaren Gestirne richtet, um seines nächtlichen Kurses sich zu versichern, so darf heute der Versuch gewagt werden, das Wegelement der Zeitenbewegung durch erneutes Visiren nach einem der Fixpunkte der großen Weltfragen zu bestimmen, selbst auf die Gefahr, daß dieses Stücklein Weg als ein Cirkelbogen erscheint. Gleicht doch alles geistige Fortschreiten dem Entrollen einer spiralen Linie, bei der jeder volle Umlauf einen – wenn auch noch so kleinen – Schritt weiter vom Ausgangspunkte fördert. Wenn es mir gelingt, zu so gearteter Prüfung den Leser anzuregen, so ist mein Ziel erreicht; und eine Vermessenheit gegen die Manen des großen Akademikers wird es wohl nicht bedeuten, wenn nach einem Menschenalter die Frage der Erkenntniß abermals erhoben wird. ***|
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Ein Problem, dem die Naturerkenntniß oder, genauer, die Naturwissenschaft, denn von dieser wird eigentlich ausschließlich gehandelt, nicht gewachsen ist, muß zu ewigem Dunkel verurtheilt sein, denn es giebt keine Erkenntniß außer der naturwissenschaftlichen. Das ist das Endergebniß der Deduktion Du Bois-Reymonds. Aber ist es denn unzweifelhaft, daß wir nichts wissen können, als was die Wissenschaft der Handgreiflichkeiten uns lehrt? Ist nicht am Ende Naturwissenschaft selbst eine getrübte Quelle, die schon manches fragwürdige Gelände durchlaufen hat und zuletzt aus einem Sumpf entspringt? Ist sie nicht etwa, genau betrachtet, eine Erkenntniß aus zweiter Hand? Zunächst ist gewiß: Befriedigung unseres tiefsten Dranges nach Erkenntniß giebt uns Naturerkenntniß nicht. Auf der Kenntniß der einzelnen Naturvorgänge beruht unsere Lebensführung, – weiter nichts. Mancherlei Einzeldisziplinen verdanken wir ihr, mancherlei Behaglichkeiten des materiellen Lebens und die anscheinende Möglichkeit, ohne absehbare Gefahr an der Uebervölkerung der Erde weiterzuarbeiten. Einen einheitlichen Begriff der Welt gab sie uns nie, nie eine Richtschnur unseres geistigen Handelns, nie eine glaubhafte Ethik und am Wenigsten Das, wonach wir Alle dürsten: ein absolutes Ziel des Daseins. Ihr weitester Ausblick, die Lehre der Weltkörper, zeigt uns ein komplizirtes Rechenexempel; und ihre gangbarste Straße, der Begriff der Entwickelung, läßt sich nur ein kurzes Stück – rückwärts – verfolgen. Die Frage nach dem Anfang der Dinge beantwortet sie mit nebelhaften Ausflüchten und als letztes Ende zeigt sie uns einen zerfahrenen Haufen eisiger Atome. Das ist nicht zu verwundern, denn die Wissenschaften können nur schematisiren, zertheilen und zersetzen. Als erklärt gilt ihnen eine Erscheinung, wenn sie als Spezialfall einer anderen, angeblich begreiflicheren, in Wirklichkeit landläufigeren Erscheinung erkannt ist. Der Schall ist erklärt als periodisch wechselnder Luftdruck, als ein Bewegungphänomen der Luftmoleküle; die Verbrennung ist erklärt
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als eine Sauerstoffreaktion, diese als eine molekulare Attraktionerscheinung, – und so weiter, mit namhaften Zahlenbelegen, Gesetzesrelationen, Maßbestimmungen, – aber keineswegs in infinitum. Die vorletzte Etappe aller Erklärung ist stets das Gebiet der »Kraft« und der »Materie«; die allerletzte Grenze aber, die jedesmal erreicht, nie überschritten wird, das Atom und die Bewegung. (Diese beiden Begriffe nämlich erscheinen faßbarer als Stoff und Kraft, weil im homogenen »Stoff«, der keine beweglichen Einzeltheile aufweist, daher auch keine inneren Verschiebungen und Spannungen gestattet, die Fortpflanzung einer Wirkung undenkbar scheint und weil gar erst die »Kraft«, ein Etwas, das, raumlos und ungreifbar, aber mit Quantität und Richtung begabt, in der Materie sitzt, lauernd, bis sich eine Gelegenheit findet, sie in Bewegung zu setzen, als das geheimnißvollste aller Dinge sich entpuppt. Daher als letzte Zuflucht die Erschaffung | des Massenpunktes und seiner Bewegung: denn daß diese kleinen Wesen Etwas ausrichten können, wenn sie durcheinanderfahren und zusammenprallen, scheint plausibel; und das Gesetz der Trägheit, das sie auf dem Buckel tragen – wenn nicht gar das von der Erhaltung der Energie –, nimmt man wohl oder übel in den Kauf.) So haben denn seit des Demokritos Zeiten alle Wege der Naturerklärung offen oder versteckt in diesen Gemeinplatz der Atomistik gemündet. Hier sind den Rittern der Naturphilosophie die Rüstzeuge gegeben, dazu die Freiheit, jedes Atom erster Ordnung in eine Welt von Atomen niederer Ordnung zu zerspalten und eben so natürlich auch alle sichtbaren Welten zu einem Atom unendlich größerer Welten zusammenzufassen – denn wozu wäre sonst der »zureichende Grund« da? –; nun lasset die Massenelemente tummeln und springen, stoßen und rotiren: aus ihren Wirbeln formt Materie, aus ihrem Hagel Kräfte; schonet keinen Aether erster, zweiter und dritter Qualität, – dann habt Ihr die greifbare Welt erklärt und den Drang nach Naturerkenntniß gestillt. Das Leben der Organismen ist dann in eine Kette chemischer und kapillarer Vorgänge aufgelöst, die wie-
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der in mechanische Rechenaufgaben verwandelt sind; die Elektrizität ist eine Rotationbewegung kleinster Theile, die Schwere eine Trommelwirkung der Aetherelemente, das Weltall löst sich in einen sinnlosen, aber berechenbaren Schwall feinster Stäubchen, – ach, nicht mehr allein der Hülle, nein, auch der Haut und des Fleisches beraubt, stehen die Naturgötter, in der Sonne verlegene und armsälige Skelette, und der laplacische Geist hält seine Heerschau. Kommt es einstmals dahin, daß die atomistische Zergliederung der Naturvorgänge widerspruchsfrei und lückenlos vollendet ist, so wird sich im Laufe der Welt nichts ändern. Nur auf den Tischen der Bücherverkäufer und zwischen den Regalen der Bibliotheken wird ein dickleibiger Band sich finden: »Die mechanische Theorie der Naturerscheinungen«, ein gedruckter Baum der Erkenntniß mit trockenen Blättern und holzigen Früchten. Freilich werden die Fachgelehrten bei Lampenlicht die verschlungenen Integrale dieses Folianten zu entziffern suchen, aber die Kinder des Tages werden keine Zeit haben, seine Siegel zu lösen, so wenig wie sie einst die Beweise eines Newton oder Gauß zu prüfen Lust hatten. Denn der neuen Lehre wird der schwerste aller literarischen Fehler anhaften: nicht interessant zu sein. Von den großen Fragen, die jetzt und in Zukunft die Welt bewegen, von menschlichen, sittlichen, ökonomischen, gesellschaftlichen und nationalen Dingen, enthält sie kein Wort, noch weniger vom Wesen der Materie, des Geistes und ihrem Zusammenhang. Denn für deren letzte Einheiten giebt es auf materiellem Gebiet keinen gemeinsam übergeordneten Begriff, dessen die »Erklärung« bedarf. Mit einem Wort: die mechanische Naturlehre mag unser Wissen erweitern: unsere Einsicht in das Wesen der Welt vertieft sie nicht. ***|
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Die reine Naturerkenntniß befriedigt nicht. Daß sie noch weniger das Recht hat, als alleinige, objektive und absolute Erkenntniß sich zu geberden: ein paar abstrakte Schuldeduktionen würden genügen, darauf hinzuweisen. Es sei mir aber das Vergnügen freundlichst gestattet, ausführlicher zu sein und nach Chronistenart mit Adam anzufangen. Wenn wir unseren Hausrath mustern und ordnen wollen, so brauchen wir die warmen Stuben nicht zu verlassen; handelt sichs aber darum, den Grundriß und die Grenzen unseres Hauses aufzunehmen, so müssen wir uns ins Freie bequemen, ob uns auch der Wind um die Ohren bläst. So mögen wir die Inventarien der Naturerkenntniß und der Lebenserfahrung ordnen, registriren und umstellen, ohne uns nur einen Augenblick um ihre Herkunft, Realität und Werthe zu kümmern, vorausgesetzt nur, daß sie unter einander stimmen; und wirklich, selten genug fällt es uns ein, diese Prüfung vorzunehmen, denn es ist uns sehr gleichgiltig und ändert an unserem Handeln nichts, welchen Grad von Realität der Boden besitzt, den wir unter unseren Füßen, und das Brot, das wir zwischen unseren Lippen spüren: es genügt, wenn wir uns genährt und gefestigt fühlen. Der Zusammenhang der Dinge bleibt gleich, ob wir um sie die Klammer der Realität oder der Irrealität spannen. Anders ist es, wenn wir ihren Grenzen nachgehen, gleichviel, ob den Unendlichkeitwerthen nach Zeit und Raum oder den Wissensabgrenzungen der Materie und ihrer Veränderungen: hier zählt nicht nur das Bild, sondern auch der Rahmen mit. Vergessen wir Das, so begegnet uns, was man bei den blanken Glaskugeln in altmodischen Gärten beobachtet: die Mitte zeigt uns leidlich die Gegend, wie sie ist, ringsum verzerrt sich Alles zu phantastischen Gebilden. Betrachten wir aber einmal das Schauspiel der Naturerscheinungen nicht als Handlung, sondern als Veranstaltung, so ist es mit der Erstgeburt der Naturerkenntniß vorbei. Die alten Gnostiker sagten: nicht Gott habe den ersten Menschen und die Welt erschaffen, sondern der Demiurgos.
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Sie hätten besser gethan, einen Schritt weiter zu gehen und zu lehren: Adam habe zuerst die Welt, dann Gott und den Demiurgos erschaffen. War der erste Mensch ungeboren dem Staube entstiegen, so fand er sich von keiner Welt umgeben. Nur in sich selbst empfand er den ungestümen, stets erneuten Strom der Sinneserregungen, die wir heute Empfindungen des Lichtes, Schalles, des Tastgefühles nennen: Ursachen dieser Empfindungen, »Dinge«, existirten ihm nicht. Welch namenloses Ringen, bis die Lichtflecke auf der Netzhaut sich in Farben sonderten, bis der Zusammenhang des Wechsels der Lichtbilder mit dem Eigengefühl der Glieder richtig erkannt war! Ein grüner Lichtfleck erscheint: er wächst nach allen Seiten, schon umfaßt er das Gesichtsfeld. Ein Rauschen wird hörbar, Kühle und Duft verbreiten sich, – | da, plötzlich, eine schmerzhafte Erschütterung (vulgo: Zusammenstoß) und das Phänomen bleibt als »Baum« in der Erinnerung haften. Langsamer, als dieses triviale und nicht ganz korrekte Bild vorgiebt, und Stück für Stück wurden die Sinnesempfindungen zusammengestimmt. Aus dem Zusammenklingen von Licht- und Tastgefühl entsteht die Vorstellung der Körperlichkeit, aus dem mählichen Wechsel der Bilder der Begriff der Bewegung, aus dem Erinnerungbilde, verglichen mit dem gegenwärtigen Eindruck, das Gefühl der Zeit. Ein wunderbarer Vorgang vollzieht sich: die Eindrücke, ins Leere hinausprojizirt, verdichten sich zu »Dingen« und lassen eine »Welt« entstehen. »Und er gab einem jeglichen Dinge seinen Namen.« Der Sinn dieser Darstellung bleibt unverändert, gleichviel, ob ein »erster Mensch« oder ob alle organisirte Kreatur bis hinab zu den ursprünglichsten Gebilden dies Schöpfungwerk gezeitigt hat; haben wir doch Alle, Jeder für sich, einen Theil davon durchlaufen müssen. Die Welt der Sinne und alle ihre Begriffe sammt allen Atomen und Bewegungformen, in die man uns sie zersplittern lehrt, sie sind und bleiben nichts Anderes als das Abbild, das Symbol, die Verkörperung und das
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Gleichniß des Ersten, Ursprünglichen, Unfaßbaren: des Empfindens. Ja, wir haben, genau genommen, nicht einmal das Recht, anzunehmen, daß ein »Objekt«, ein »Ding an sich«, als Ursache dahinterstecke, denn die Kausalität ist nur eine Kontinuitätformel der Erscheinungen unter einander. So wenig, wie aus dem Anblick eines Stückes Metall der Prozeß seiner Gewinnung oder aus einer geträumten Landschaft der Vorgang des Träumens sich erkennen läßt, eben so wenig läßt sich aus Welt und Natur, als dem Geschaffenen, der Akt des Denkens, als der Schöpfung, konstruiren. Die scheinbar harmlos naturwissenschaftliche Frage: »Wie kommt es, daß ein paar Atome Kohlenstoff, Stickstoff, Sauerstoff und Phosphor, seit unvordenklichen Zeiten in alle Himmelsgegenden versprengt, nun durch Zufall in einer Gehirnmasse vereinigt, sich in geistigen Konnex setzen und zu denken beginnen?« – diese Frage erweist sich als sinnlos und falsch gestellt. Sprechen wir sie in der rechtmäßigen Fassung aus: »Wie komme ich zu der Vorstellung vom Stoff und von Stoffatomen und was liegt dieser Vorstellung zu Grunde?« so erkennen wir, daß das Gebiet der Naturwissenschaft weit hinter uns liegt: wir stehen auf eisigem Hochgebirg der Metaphysik und der tiefste Abgrund des Denkens thut sich auf. Aber wenn wir uns eingestehen, daß die Naturerkenntniß, an Befriedigung arm und mannichfach bedingt, nicht Das ist, was sie vorgiebt: primäre Erkenntniß; daß sie die letzten Fragen des Denkens einfach deshalb nicht beantworten kann, weil diese ihr nicht zugemuthet werden dürfen, – kann etwa die ursprüngliche Betrachtung, die Betrachtung des Ich, meiner | Empfindung, meiner Gedanken, meiner Wünsche und Ziele der Aufgabe besser genügen und auch nur um Haaresbreite der Wahrheit näher führen? ***
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»Was ist Wahrheit?« fragte Pontius Pilatus; aber Jesus schwieg. Und noch heute wissen wir nicht genau, was Wahrheit eigentlich ist. Der Satz zweimal zwei gleich vier oder A gleich A ist sicherlich wahr und höchst beachtenswerth; aber er ist nur ein Werkzeug praktischer Erkenntniß, nicht Erkenntniß der Dinge selbst. Auch die gesammte Logik und die reine Mathematik enthalten nur formale Wahrheiten, nicht Welterkenntniß; und die Philosophen, die aus solcherlei Identitäten ein System der Welt zu erbauen glaubten, gleichen Leuten, die Thaler in Markstücke, Markstücke in Pfennige und Pfennige in Doppelkronen umwechseln und sich dabei schließlich einen Profit versprechen. Es kann ja wohl einmal gelingen, aber auch unter Geschäftsleuten gilt Das nicht als Tüchtigkeit. Schwankender ist schon die Wahrheit aller »historischen« Sätze, – wenn es gestattet ist, unter dieser Bezeichnung alle Spezialerfahrungen geschichtlicher, naturgeschichtlicher, geographischer, philologischer Art, kurz, alle Einzelurtheile zusammenzufassen, die auf Beobachtung und Ueberlieferung beruhen. Von einer »Wahrheit« im absoluten Sinn läßt sich hier gar nicht mehr sprechen, als von einer vollkommenen Uebereinstimmung zwischen Vorstellung und Objekt, denn vom Objekt wissen wir nichts; wir begnügen uns daher, einen Satz dann als wahr zu bezeichnen, wenn möglichst viele Handlungen, die wir darauf gründen, uns zu Erscheinungen führen, die mit der Erwartung übereinstimmen, hingegen entstehende Widersprüche möglichst unerheblich erscheinen; oder, deutsch gesprochen, wenn die Proben aufs Exempel stimmen und die Zweifel beseitigt sind. So zum Beispiel betrachte ich den Satz, daß ein bestimmtes Geldstück vollwichtig sei, als wahr, wenn ich es auf eine Wagschale gelegt, die Gewichte aufgesetzt habe und nun das Zünglein die erwartete Erscheinung zeigt: daß es nämlich auf den Nullpunkt sich einstellt. Hierbei habe ich mich mit den Widersprüchen abzufinden gehabt, die in der nicht unbegrenzten Genauigkeit des Instru-
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mentes, in einem Versehen, falschen Gewichten u.s.w. liegen können. Dadurch, daß beständig neue Widersprüche entstehen, die ins Unendliche neue Kontrolen erforderlich machen würden, dadurch ferner, daß die Bestätigungen ihrer Zahl nach nicht unbeschränkt sind, wird erwiesen, daß selbst dieser engere Wahrheitbegriff kein absoluter, sondern ein subjektiver ist. Freilich wird es überaus viele Fälle geben, wo wegen gewisser Analogieerfahrungen eine Probe im strengeren Sinne überflüssig erscheint. Finde ich in einer Generalstabskarte einen Ort als zur Provinz Sachsen gehörig verzeichnet, so laufe ich nicht erst zum Eisenbahnschalter, um zu erproben, ob | nach so und so vielen Stunden Fahrt der erwartete Kirchthurm zur Erscheinung wird: während hinwiederum ein hervorragender Gelehrter Jahre seines Lebens daran setzen muß, um einen See im Inneren von Tibet, den er auf chinesischen Karten des achtzehnten Jahrhunderts findet, mit eigenen Augen zu erblicken. Aber im Allgemeinen ist bei diesen im weiteren Sinne »historischen« Einzelurtheilen die Zahl der möglichen Bestätigungexperimente so groß, daß das in letzter Linie stets willkürliche Moment der Beurtheilung dadurch in unserem Bewußtsein überschattet wird. Der wissenschaftliche Werth aller Spezialurtheile mag noch so wichtig sein: ihr Erkenntnißwerth ist gering. Und je mehr wir den Gebieten wirklicher Erkenntniß nahen, um so mehr verschwimmt der Begriff der »Wahrheit« im Nebel. Von den Gesammturtheilen zunächst, den Gesetzen und Gesetzmäßigkeiten, gilt das eben Gesagte. Nur daß der Wahrheitbeweis dieser Erkenntnißelemente unendlich heikler und verwickelter ist. Denn hier soll glaubhaft gemacht werden, daß der behauptete Zusammenhang besteht, und in allen Fällen besteht, und daß das Gegentheil dieses Zusammenhanges nirgendwo besteht und nie bestanden hat. Schon hierdurch häufen sich die Widersprüche: noch mehr aber, weil jedes Einzelgesetz, allein für sich betrachtet, in seiner anscheinenden Kasuistik die Vernunft zur Widerrede reizt, so daß es um so viel mehr In-
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teresse erweckt, als es paradoxer und herausfordernder auftritt. Und schon hier stellt es sich heraus, das nicht sowohl die Zahl der Bestätigungen als die subjektive Bewerthung der Ausnahmen, Widersprüche und Inkongruenzen die Entscheidung über wahr und falsch herbeiführt. Ein einziger Thierschädel, der in einer gewissen Formation gefunden wird, kann ein hundertfach bestätigtes geologisches Gesetz über den Haufen stoßen und tausend weitere Bestätigungen von vorn herein werthlos machen. Auch kann eine einzige unwiderlegt widerspruchsvolle Schlußfolgerung den selben Satz dem deutschen Gelehrten unannehmbar machen, an dem der englische Kollege unbeanstandet Jahrzehnte lang festhält, bis eine neue Fassung erscheint, die Beiden Unrecht giebt; und hierin spricht sich abermals der stark persönliche Charakter dieser Wahrheiten aus. Nun aber der eigentliche Born positiver Erkenntniß: die wissenschaftlichen Theorien, Erklärungen und Gesammtlehren. Hier gilt das Wort πάντα ῥεĩ: was gestern Irrthum war, ist heute Wahrheit, morgen Zweifel und übermorgen Lüge. Im halbfertigen Zustande heißen die Wahrheiten Hypothesen, und wann eine Hypothese zur richtigen Wahrheit wird, Das stellt, genau genommen, nur die Meinung der Fachgenossen durch Stimmenmehrheit fest. Das Licht war zu Anfang ein unmittelbarer Ausfluß des göttlichen Wesens. Später wurde es zu einem Strom feinsten Fluidums, das von irdischen Körpern stammte. Eine Weile war es eine Wellenbewegung der kleinsten Theilchen eines eigens dazu beschafften Lichtäthers. Heute ist es | eine periodisch oszilirende elektrische Erscheinung. Die epidemischen Krankheiten waren nach einander die Wirkung giftigen Windes, vergifteten Bodens und Brunnenwassers, neuerdings Zerstörungerscheinungen, veranlaßt durch kleine Organismen, jetzt wieder Vergiftung durch die Ausscheidungprodukte der selben Mikroben. Ins Endlose lassen sich so die Schicksale der Wahrheiten verfolgen; eine jede zu ihrer Zeit hat das Weltbild vereinfacht, alte Erscheinungen erklärt, neue vorausgesagt und
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ist schließlich an diesem oder jenem Widerspruch zu Grunde gegangen, ungefähr wie die Ministerien parlamentarisch regirter Staaten gestürzt werden. Jede hat ihre Ehrenpension erhalten, manche ist wiedergekommen, – und die bestehende hat Recht. Wie eine Kurve, die der Geometer gezeichnet und extrapolirt hat: mit großer Sorgfalt hat er zehn oder zwanzig gegebene Punkte durch eine kunstvoll geschwungene Linie verbunden und diese nach rechts und links im anscheinenden Sinne der Krümmung verlängert. Nun kommen neue Punkte hinzu: die einen fügen sich gefällig in das Bild ein, andere verlangen Aenderungen und zuletzt kommt einer, der die ganze Arbeit umstößt. Noch immer wartet Pontius Pilatus auf Antwort, – denn es giebt gar keine Wahrheit. Es giebt Wahrheitwerthe – der Begriff der Wahrscheinlichkeit sagt etwas Anderes –, die sich messen und vergleichen lassen, aber keine Wahrheit. Das Kennzeichen der Wahrheitwerthe liegt in der Eigenschaft, die Vorstellung der Welt zu vereinfachen, ihr Maß und ihre Begrenzung in der Art der Widersprüche, die sie übrig lassen, und in deren stets subjektiver Bewerthung. Ermittelt werden die Widersprüche, indem man nach allen nur irgend möglichen Richtungen hin durch Gedanken und Handlungen aus dem zu Prüfenden Folgerung auf Folgerung zu ziehen sucht und diese mit den thatsächlich sich ergebenden Erscheinungen vergleicht. Diese Recherche ist ein erweiterter Begriff des wissenschaftlichen Experimentes, da sie die gedankenmäßige Prüfung und auch die vergleichende Anwendung anderer Wissensgebiete, zum Beispiel die historische Prüfung, mit umschließt; sie mag deshalb als »Experiment im weiteren Sinne« bezeichnet werden. *** Wenn nun die scheinbaren Grenzgebiete des Naturerkennens in Wirklichkeit metaphysischer Art sind: wo liegt dann im Bereich der Thatsächlichkeiten das »Experiment im weiteren
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Sinne?« Wie soll der irdische Apparat beschaffen sein, mit dem sich Geistiges, jenseits der Erfahrung Liegendes, wägen und messen läßt? Giebt es außerhalb der verstiegensten Ethik und der religiösen Schwärmerei einen Bezirk des Lebens, in dem aus transszendenten Vorstellungen handgreifliche Folgerungen gezogen werden müssen? Ja; auf solchem Boden bewegen wir uns Stunde für Stunde, bewußte und instinktive, gleichgiltige und bedeu | tende Handlungen und Vorstellungen spielen sich auf dieser Bühne ab, ohne daß wir Ungewöhnliches wittern; kaum daß zu Zeiten feiner geartete Naturen, die sich von gläubigen Vorurtheilen und Gewöhnungen befreit fühlen, durch eine Unsicherheit, ein Schwanken, einen Zweifel auf das Ungewöhnliche des Schauplatzes aufmerksam werden. Ich spreche von dem Gebiet der Handlungen, die nicht beeinflußt werden durch Interessen: wobei ich unter Interessen das Streben nach Konsequenzen verstehe, die in irgend einer beabsichtigten Art auf uns zurückwirken sollen. Ich kann keine That vollführen, deren Folgen jenseits meiner Lebenszeit liegen – wie: für Hinterbliebene sorgen, für ein Gesetz stimmen, eine Straße anlegen, einen Forst pflanzen –, ohne einen Schritt ins Ueberweltliche zu thun. Wenn ich einen Lebensberuf wähle, politisch Partei ergreife, ein Buch veröffentliche: wo nicht ausschließlich praktische Interessen mich hier bestimmen, üben unbewußte metaphysische Erwägungen ihre Wirkung. Wenn ich den mir allein bekannten letzten Wunsch eines Verstorbenen ausführe, wenn ich die Gesetze einer beliebigen Sittlichkeit auch im Geheimen befolge, wenn ich ohne utilitarischen Dusel und Polizistenfurcht dem Kitzel widerstehe, um einer Blume willen eine Pflanze zu beschädigen, so übersetze ich jedesmal eine metaphysische Wahrheit in des Lebens Alltäglichkeit; und jede dieser Handlungen ist für eine metaphysische These genau so gut ein »Experiment« wie eine Interferenzerscheinung oder eine Klangfigur für eine physikalische. Ich sage nicht, daß diese Handlung durch transszendente Erwägung veranlaßt sei; mag sie immerhin dem Instinkt,
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der Vererbung, der Gewöhnung oder der Suggestion entstammen: für das Experiment genügt, daß sie mir homogen, eigenthümlich, nothwendig oder sympathisch sei. Um es paradox zu fassen: in dem Augenblick, wo ich ein hungriges Thier füttere, ohne mein leibliches oder geistiges Auge an seinem Behagen weiden zu wollen oder mir die ewige Seligkeit zu erhandeln, in diesem Augenblick besitzt für mich eine korrespondirende transszendente Erkenntniß genau den selben Wahrheitwerth wie in dem Augenblick, wo ich ein zerbrechliches Glas in der Hand trage, der Satz von der Anziehung der Erde. In mir, in mir selbst liegt der Grund für das »Experiment im weiteren Sinn« zur Erforschung metaphysischer Wahrheiten. *** Ich höre Einwand über Einwand: »Wie, die Wahrheit unermeßlicher Gebiete sollte der Persönlichkeit, der Willkür, der Stimmung unterliegen? Es sollte keine Gemeinschaft der Erkenntniß bestehen? Mein Nachbar sollte seiner Unsterblichkeit sicher sein und ich nicht einmal eine Seele haben? Solche Aftererkenntniß ist trotz Wahrheitwerth und Experiment keine Wissenschaft, | nein, eitel Taschenspielerei. Wir verlangen eine Erkenntniß, die allen Landeskindern gemeinsam sei, wie das ABC und das Bürgerliche Gesetzbuch.« Selbst wenn Wissenschaft nur Das wäre, was sich lehren läßt: läßt sich dann etwas Anderes lehren und lernen als Methode? Gleichviel, ob Jemand mich die Tanzkunst oder die Physik lehrt: er kann mir nur zeigen, »wie man es macht«. Wie ich es mache, wie ich meine Beinmuskeln errege, wie ich meine Gedanken forme, wie ich aus physikalischen Experimenten meine Schlüsse ziehe – die vielleicht den seinigen ganz entgegengesetzt sind –: Das lehrt er mich nicht. Je mehr eine Wissenschaft formal ist, wie Logik oder Mathematik, so daß sie selbst nur Methode ist, um so vollständiger läßt sie sich »lehren«. Je substantieller, desto mehr bleibt dem Geist des Lernenden überlassen. Lehren aber läßt sich auch die Methode metaphy-
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sischen Denkens und unter ähnlich gearteten Menschen vielleicht auch Etwas vom Inhalt. Und was nun meinen Nächsten und seine Erkenntniß angeht, – ja, was geht denn mich mein Nächster und seine Erkenntniß an? Ich mag die Erscheinung, die ich meinen Nächsten benenne, lieben und verehren, hassen oder verachten: aber wer ist mein Nächster und was weiß ich von ihm? Entsteht doch sein Wesen eigentlich erst durch meine metaphysische Ueberzeugung. Aber ganz hiervon abgesehen: seine Gedanken sind nicht meine Gedanken, seine Liebe, sein Haß, seine Ziele sind nicht die meinen. Ich weiß nicht, ob nicht vielleicht er die Farbe, die wir Beide roth nennen, so empfindet wie ich eine, die wir Beide als grün bezeichnen. Ich weiß nicht, ob seine Nase etwa den Duft der Rose so riecht wie meine den Duft der Petersilie. Die Verschiedenheiten unseres Geschmackes in so vielen Fällen lassen auf derartige Abweichungen schließen. Zweifellos ist sein ganzes Weltbild von dem meinen so verschieden wie unser Temperament, unsere Sinne, unsere Sorgen und unser Glück, – und ich sollte darauf bestehen, daß unsere Erkenntniß des Uebersinnlichen identisch sei? Wären meine Sinne nicht zufällig auf die Empfindung von Licht und Schatten, Wärme und Druck eingestellt, sondern auf Magnetismus, elektrische Ladung, Dichte und Affinität – und warum sollte Dies bei den Bewohnern irgend eines benachbarten Planeten nicht der Fall sein? –, so wäre mein sinnliches Weltbild von dem gegenwärtigen unendlich verschieden, ohne doch um Haaresbreite weniger »wahr« zu sein: eben so ist das übersinnliche Bild der Welt, sein Entstehen und Vergehen, sein Wechseln und sein Bestand gebunden an den Inbegriff meiner geistigen Kräfte; denn sie sind, mehr noch als meine Sinne, ein voller und natürlicher Ausdruck meiner Persönlichkeit. Jede Erkenntniß ist, je feiner und subtiler, desto persönlicher: die Formalien des Denkens, Mathematik und Logik, sind Sache der ganzen Welt; Aesthetik und Ethik sind Sache einer Rasse und eines Zeitalters, Erkenntniß des Uebersinnlichen aber ist Sache der Individualität. |
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Wissenschaft oder Nichtwissenschaft: es ist ein Streit um Worte. Was wir wollen, ist: hinausgelangen über das ewige Gestern und Heute der Welt der Handgreiflichkeiten; und unser Weg: die Deutung und Erfüllung unseres eigenen Ich. Vielleicht unbewußt, jedenfalls uneingestanden, handelten die alten Philosophen nicht anders; wenn sie von den Zinnen ihrer Weltsysteme herab die absolute Wahrheit verkündeten, sollten wir ihnen glauben, daß der Sturmlauf der Deduktion sie hinaufgeführt habe. Aber ein verrätherischer Ariadnefaden leitete immer wieder durch ein Hinterpförtchen in das freundliche Gelände ihrer eigenen Wünsche, Zuneigungen und Vorurtheile zurück und leider oft genug auf die abgetretene Straße der landläufigen Zeitanschauungen. Seien wir rücksichtloser! Gestehen wir ein, daß wir uns als Mittelpunkt der Schöpfung setzen und daß wir uns Welten konstruiren, die zu uns passen und uns rechtfertigen, und verlangen wir von Jedem, der uns belehren will, vorher ein Bild seiner eigenen Persönlichkeit. Wer ethische und soziale Systeme deduziren will, Der nenne uns zunächst seine Sympathien und Antipathien für diesen und jenen menschlichen und gesellschaftlichen Zustand, als Das, was beweisen, nicht, was bewiesen werden soll. Wer noch den Muth hat, eine allgemein giltige Aesthetik zu formuliren, Der gebe zuerst eine Analyse seines eigenen Geschmackes und seines eigenen Kunstempfindens, auf dessen Apotheose er ja doch hinaus will; wer eine generelle Philosophie der sinnlichen und übersinnlichen Welt auf dem Herzen hat, Der zeige uns seine Sittenanschauung und seinen eigenen inneren Menschen. Und kann man angesichts der Tausende von möglichen Philosophien das Bedürfniß nach einer Lehre, die etwas mehr vom »Absoluten« an sich hat, nicht vergessen, so nehme man den Begriff aller in sich einheitlichen Systeme und suche aus dem mächtigen Zusammenklange den reinen Grundton herauszuhorchen, – gewiß ein liebsames Unternehmen für feine Ohren. ***
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Mag man die hier entwickelte Auffassung, wenn jedes Kind einen Namen haben muß, als »Subjektivismus« bezeichnen, mag man ihr Willkür und Mangel an positivem Ergebniß vorwerfen: was ich beabsichtigte, war, unserer Zeit einmal wieder das Recht auf metaphysisches Denken zu vindiziren, als einer ehrlichen Arbeit, die nicht mehr noch weniger in den Wolken angelt als die »exakte« Forschung und die der Welt zu Zeiten nicht weniger, sondern mehr Bedürfniß ist als diese. Solches grundsätzliche Recht zu betonen, war meine Aufgabe; und deshalb habe ich jede eigene Auffassung metaphysischer Fragen zurückgedrängt. Nichts lag, wie ich schon sagte, mir ferner als eine Polemik gegen die Manen des großen Physiologen; und ich bin zufrieden, wenn in dem Gesagten einer der Leser eine Spiegelung unserer subjektiveren | und unmaterielleren Anschauungen und also einen Beitrag zur Kenntniß der Zeitwandlung seit der Epoche jenes berühmten »Ignorabimus« erblickt. Wir gehen einer Zeit politischen Unmuthes und deshalb philosophischer Vertiefung entgegen. Das stolze letzte Zeitalter des Realismus und der Naturwissenschaft ist verwelkt; es hat Früchte getragen, aber nicht für den Geist. Es hat die Welt reicher, aber nicht werthvoller gemacht, es hat unser Wissen, nicht unsere Erkenntniß erweitert. So lange die Naturwissenschaft aus der Pandorabüchse der Technik Verkehr und Komfort spendete, war für Geisteswissenschaft kein Bedarf. Wer nach seinem zwanzigsten Jahr eine philosophische Ueberzeugung aussprach, wurde betrachtet wie ein Lieutenant, der Verse macht. Nun ist die Zeit der Entdeckungen vorüber und die Physik arbeitet nur noch für den Reporter und die Belustigung höherer Kreise. Wir ersticken in technischen Lebensannehmlichkeiten und es ist nachgerade schwerer geworden, ein Bedürfniß zu finden, als es zu befriedigen. Ziehen wir die geistige Bilanz, so sehen wir uns dem Bankerott gegenüber. Angesichts unserer oft eingestandenen Unfähigkeiten in sozialen, sittlichen, gesetzgeberischen, politischen, philosophischen Fragen
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erkennen wir, daß die Lauge der Nichts-als-Naturwissenschaft vom Bilde unserer Erkenntniß nicht sowohl den dunkelnden Firniß gelöst, als die einzelnen Züge des Werkes beschädigt habe. Nach neuen Ideen und Idealen lechzen Wissenschaft und Kunst: Thatsachen und Formen sind uns zum Ueberdruß geworden. Die Märchen unserer Dichter müssen wir als Philosophie, Vereinsdebatten als Ethik, Tischreden als Staatskunst in Zahlung nehmen. An die Lehre vom Uebermenschlichen klammern wir uns als höchsten Glaubenssatz, um uns jedem Athleten zu Füßen zu werfen. Snobismus gilt uns als Lebenskunst, Gelegenheitmacherei als Politik, ein neuer Modeartikel als Kunst. Genug davon! Zu den aufgerollten Bilderbogen der Ereignisse brauchen wir einen Text, wir brauchen Ziele zu unseren Strebungen, Ueberzeugungen zu unserem Kenntnißkram: wir brauchen lebendigen Geist und neue Gedanken. Freilich glauben wir nicht mehr an eine alleinige, absolute, selig machende Philosophie, die da kommen soll, über die falschen Lehren zu triumphiren; aber wir glauben auch nicht an die ewigen Schranken, die die angeblich einzig wahrhaftige Naturerkenntniß umschließen. Ja, es giebt jenseits der Naturerkenntniß eine Erkenntniß, die freier und reicher, nicht obgleich, sondern weil sie persönlicher ist. Darum löschen wir von den alten Tafeln das starre Gebot »Ignorabimus« und schreiben mit entschlossener Hand an die Thore der Zukunft: »Creabimus«. W. Hartenau.
Max Verworn Die Frage nach den Grenzen der Erkenntnis Ein Vortrag |
Vorwort. Die folgenden Blätter bilden einen Vortrag, den ich am 29. Februar 1908 in der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft zu Frankfurt a.M. vor einem größeren Kreise von Zuhörern gehalten habe. Es war meine Absicht, den Begriff des Erkennens zu analysieren, um auf dieser Basis die Frage nach den Grenzen der menschlichen Erkenntnis einer kritischen Erörterung zu unterziehen. Das Bedürfnis nach einer eingehenden Behandlung dieser Fragen wird in der Naturforschung größer und größer, denn immer häufiger und immer deutlicher machen sich die Widersprüche fühlbar, zu denen manche der am meisten verbreiteten Vorstellungen der Naturwissenschaft bei konsequenter Verwendung führen. Auf der andern Seite findet der Naturforscher, der durch seine speziellen Arbeiten im Laboratorium oder Museum in überreichem Maße in Anspruch genommen ist, nur an Feiertagen einmal die Zeit, um sich mit | den allgemeinen Fragen der gesamten Naturforschung zu beschäftigen. So ist es begreiflich, daß auch in bezug auf die erkenntnistheoretischen Probleme noch vielfach, besonders in der Biologie Vorstellungen weit verbreitet sind, denen vor 35 Jahren Emil Du Bois-Reymond einen klassischen Ausdruck gegeben hat. Die Definition des »Naturerkennens« die Du Bois-Reymond gab, indem er Naturerkennen als »Auflösen der Naturvorgän* Jena 1908.
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ge in Mechanik der Atome« erklärte, entsprach durchaus den damaligen Anschauungen in der Naturwissenschaft. Heute wird man sie, wenn es sich um eine Erörterung über das Wesen der menschlichen Erkenntnis und ihrer Grenzen handelt, auch in der Naturwissenschaft kaum noch als Ausgangspunkt benutzen wollen. Die konditionale Betrachtungsweise der Welt, auf deren Notwendigkeit ich bereits bei mehrfachen anderen Gelegenheiten mit Nachdruck hingewiesen habe, läßt uns auch in diesem Punkte Klarheit gewinnen. Vor ihr verschwinden die beiden Grenzen der Erkenntnis, die Du Bois-Reymond als unübersteiglich bezeichnete. Das Problem der Materie und das Problem des Bewußtseins gewinnt ein anderes Gesicht und die prinzipielle Möglichkeit der Erkenntnis erweist sich als unbegrenzt wie die Welt. Göttingen, im März 1908.
Der Verfasser. |
Mitten im Paradiese stand der Baum der Erkenntnis. Und es war ein lustiger Baum, lieblich anzusehen und gut davon zu essen. Und der Mensch nahm von der Frucht und aß wider das göttliche Verbot. Da wurden seine Augen aufgetan, aber es traf ihn zugleich der göttliche Fluch. So erzählt die alte Sage. Und noch immer locken die Früchte vom Baum der Erkenntnis des Menschen Verlangen und noch immer ruht der Fluch auf des Menschen Erkenntnis. Wie oft glaubt er sein großes Exempel endgültig und restlos gelöst zu haben und wie oft grinst ihm dann wieder ein gründlicher Irrtum entgegen! Und doch: die Lösung muß ihm gelingen. Er hat ja vom Baume der Erkenntnis gegessen und seine Augen sind aufgetan. Es scheint, daß der alte Fluch um so schwerer auf dem Erkenntnisbestreben des Menschen lastet, je tiefer der Mensch in das Wesen der Dinge einzudringen bemüht ist. Wie ein schadenfrohes Gespenst lockt und quält und narrt die Erkenntnis
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den Menschen, bis er sich endlich entschließt, | ganz von vorn zu beginnen, bis er sich zu der Frage bequemt: Was vermag denn überhaupt die menschliche Erkenntnis zu leisten? Die Naturforschung, der die Erkenntnis der Welt so viele Förderung dankt, wird in unserer Zeit immer fühlbarer auf die Notwendigkeit hingedrängt, die Grundlagen der Erkenntnis zu prüfen. Von allen Seiten führen die naturwissenschaftlichen Probleme, wenn man sie bis zu einem gewissen Punkte verfolgt, auf erkenntniskritische Fragen. Gewiß, man kann sehr gut und erfolgreich Spezialforschung treiben, ohne sich mit erkenntnistheoretischen Problemen zu quälen. Aber man kann auf keinem Gebiete bis zu den allgemeinen Problemen der Naturforschung vordringen, ohne auf erkenntnistheoretische Fragen zu stoßen. Wer etwa glaubt, bis zuletzt diesen Fragen aus dem Wege gehen zu können, der verwickelt sich auf Schritt und Tritt in ein Netz von Widersprüchen. Die großen Naturforscher der letzten Jahrzehnte haben das immer klarer erkannt, und sie haben von Zeit zu Zeit unter ihren Fachgenossen ihre Stimme erhoben. Aber das Ergebnis ihres Nachdenkens war sehr verschieden, weil die Fackel ihrer Kritik sehr verschieden weit leuchtete. Mehr synthetische Geister unter ihnen, die ein unstillbares Verlangen nach einem fertigen Weltbilde im Busen trugen, fanden keine Schwierigkeit für den menschlichen Geist, die Gesamtheit des Seins schon jetzt restlos zu erfassen. Mehr analytische Köpfe glaubten an verschiedenen Stellen auf un | überschreitbare Grenzen zu stoßen. Aber man vergesse nicht, daß der Naturforscher auf erkenntnistheoretischem Gebiet ein Neuling ist. Probleme, die in der Philosophie seit Locke und Hume die Denker bewegt haben, fangen in der Naturforschung erst an, Beachtung zu finden. Allein die Notwendigkeit, sich mit ihnen auseinander zu setzen, wird auch in der Naturforschung von Tag zu Tag dringender. Kein Wunder daher, wenn sich der Vorstand der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte vor zwei Jahren entschloß, auf der Naturforscher-Versammlung in Stuttgart
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einen Philosophen zu Worte kommen zu lassen!1 Ein höchst erfreuliches Symptom! Die Wahl fiel auf einen sehr feinsinnigen Psychologen. Aber der Versuch mißglückte trotzdem vollkommen. Die Sprache des Philosophen war eine andere als die des Naturforschers. Beide verstanden sich nicht.2 Wieder hat die alte Sage recht behalten. Wieder erscheint hier die Erfüllung eines alten göttlichen Fluches unter denen, die nach Erkenntnis streben. Der Herr hat ihre Sprache verwirrt, daß keiner des andern Sprache vernehme. Es ist höchst bedauerlich, daß gerade in Deutschland, im Volke der Denker, die babylonische Sprachenverwirrung so weit gegangen ist, daß zwei Männer aus zwei verschiedenen Gebieten der Forschung, sobald sie in ihrer Fachsprache reden, sich nicht mehr verstehen. Der Vorwurf trifft nicht die Philosophie besonders, sondern mindestens in gleichem Grade die Naturwissenschaft. Auf allen Gebieten des Geisteslebens gilt es seit wenig mehr | als einem Jahrhundert für »wissenschaftlich«, wenn man in dem eigens gezüchteten Jargon seines Spezialgebietes redet und schreibt. Und doch sind es gewöhnlich nicht die gebildeten Leute eines Landes, die am meisten im Dialekt ihrer Provinz sprechen. Wir sollen, meine ich, danach streben, auf jedem Gebiete menschlichen Geisteslebens eine allgemein menschliche Sprache zu pflegen. Ich behaupte, das ist durchführbar, selbst wenn die einzelnen Wissenschaften ihre unentbehrlichen Spezialbegriffe und Fachausdrücke prägen. So will ich denn heute versuchen, die für uns so grundlegende Frage nach den Grenzen Th. Lipps: »Naturwissenschaft und Weltanschauung«. In Verhandl. d. Ges. Deutscher Naturforscher und Ärzte. 78. Versammlung zu Stuttgart 1906. 2 Ich meine hier nicht so sehr das einzelne Wort als vielmehr die gesamte Ausdrucksweise. In bezug auf diese Art und Weise der Darstellung haben sich die verschiedenen Gebiete des Geisteslebens allmählich so weit voneinander entfernt, daß es dem Spezialforscher des einen Gebietes schwer fällt, sich in die Gedankengänge eines anderen Gebietes hineinzuversetzen. 1
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der menschlichen Erkenntnis weder in philosophischer noch in naturwissenschaftlicher, sondern in allgemein menschlicher Sprache wissenschaftlich zu erörtern. *** Jede Erörterung der Grenzen des Erkennens wird zweckmäßigerweise mit einer Analyse des Erkenntnisvorganges selbst beginnen. Leider aber ist der Begriff des Erkennens vielfach sehr verschieden gefaßt worden. Die extremen Sensualisten haben ihn allein angewendet auf die sinnliche Empfindung. Die reinen Rationalisten dagegen haben ihn ausschließlich reserviert für das logische Denken. Kant hat nur die Vereinigung von sinnlicher Wahrnehmung mit ordnendem Denken als Erkenntnis gelten lassen.3 Dabei werden aber von Kant über das Verhältnis der ordnenden Faktoren des Denkens, speziell über das Ver | hältnis der von ihm als »apriorisch« bezeichneten d. h. vor der Erfahrung liegenden Kategorien von Raum, Zeit, Kausalität zu den sinnlichen Empfindungen Annahmen gemacht, die den heute bekannten Tatsachen nicht mehr entsprechen. Wir wissen, daß, was wir als Raum und Zeit bezeichnen, ebenfalls der Erfahrung entstammt und zwar in erster Linie der sinnlichen Erfahrung. Dem unglücklichen Ursachenbegriff dagegen liegt eine aus alter Zeit stammende Konzeption zugrunde, die heute nicht mehr haltbar ist.4 Fassen wir also den Immanuel Kant: »Kritik der reinen Vernunft« (Einleitung). Kirchmann’sche Ausgabe, IV. Aufl. Leipzig 1901. 4 Es ist die Annahme eines nach Art des menschlichen Willens unsichtbar wirkenden Agens, die zweifellos ihre Wurzeln in der prähistorischen Seelenidee hat. Die moderne Naturwissenschaft hat den Begriff solcher Agentien oder »Kräfte«, die sich der Wahrnehmung entziehen, mehr und mehr aufgegeben und verwendet das Wort »Kraft« lediglich noch als Bequemlichkeitsausdruck. Dementsprechend sollte der Begriff »Ursache«, der ebensowenig faßbar und defi nierbar ist wie der Begriff »Kraft«, in der wissenschaftlichen Forschung ebenfalls all-mählich beseitigt werden. 3
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Begriff des Erkennens in seiner allgemeinsten Form, so heißt Erkennen nichts anderes als Erfahrungen bilden. Die einfachste Erfahrung besteht in der sinnlichen Empfindung. Aus sinnlichen Empfindungen leiten sich zugleich alle übrigen Erfahrungen ab. Die sinnliche Empfindung ist also der elementare und zugleich der fundamentale Erkenntnisprozeß. Ohne Empfindungen wäre unser Bewußtsein leer. Mittels der Empfindungen dagegen gewinnt es noch einen weiteren, über die Empfindungen hinausgehenden Inhalt: die Vorstellungen und Gedanken. Vorstellungen sind Erinnerungsbilder von Empfindungen. Zu ihrer Erweckung bedarf es aber nicht mehr, wie zur Entstehung der ursprünglichen Empfindung, des entsprechenden Sinnesreizes. Sie können vielmehr von den verschiedensten Nervenbahnen her wachgerufen werden, aber sie stehen insofern in einem untrennbaren Abhängigkeitsverhältnis von den Empfindungen, als ohne vorhergegangene Empfin | dungen keine Vorstellungen existieren würden. Blindgeborene Leute, die in späterem Alter durch Operation sehend geworden sind, sagen uns das direkt.5 Die Frage nach der Lokalisation der physiologischen Vorgänge in der Großhirnrinde, welche die Vorstellungen, und derjenigen, welche die Empfindungen bedingen, bedarf zwar noch mancher Klärung, indessen scheinen die Erfahrungen über die Ausfallserscheinungen Blindgeborene haben keine Gesichtsvorstellungen. Ihre Vorstellungswelt besteht allein aus den Vorstellungen anderer Sinnesgebiete. Auch die genauesten Beschreibungen der Gesichtsbilder von Gegenständen vermögen ihnen keine Gesichtsvorstellungen zu erwecken. Werden also Blindgeborene im späteren Leben durch eine Operation sehend, wie das in einer kleinen Anzahl von Fällen, zuletzt in dem von Uhthoff operierten und sehr eingehend studierten Fall geschehen ist, so werden die Gegenstände, die ihnen durch ihre anderen Sinne sehr gut und lange bekannt sind, durch den neu hinzukommenden Gesichtssinn allein niemals von ihnen erkannt. Die Gegenstände sind dem neu eröffneten Gesichtssinne völlig fremd und werden erst erkannt, wenn zu ihrer Untersuchung einer der früher bereits benutzten Sinne, etwa der Tastsinn, verwendet werden kann. 5
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bei bestimmt lokalisierten Großhirnerkrankungen und vor allem die grundlegenden Untersuchungen Flechsigs über die Bedeutung der weder motorischen noch sensorischen Rindengebiete des Großhirns dafür zu sprechen, daß die kortikalen Bedingungen für das Zustandekommen der Vorstellungen und der Empfindungen anatomisch an verschiedenen Stellen der Großhirnrinde lokalisiert sind. Die von vornherein am nächsten liegende Annahme, daß die kortikalen Vorgänge, welche die Empfindungen und diejenigen, welche die Vorstellungen bedingen, in den gleichen Zellen der Großhirnrinde lokalisiert seien, werden wir jedenfalls nicht aufrecht erhalten können. Die Vorstellungen haben offenbar ihre eigenen Rindensphären außerhalb der reinen Empfindungssphären, und zwar in den großen Assoziationsgebieten der Großhirnrinde. Man wird diese Rindenpartien daher direkt als Vorstellungsgebiete bezeichnen müssen. Jeder Sinnesreiz, der bestimmte Zellen in einer Empfindungssphäre erregt, ruft, wie es scheint, auch zugleich sekundär eine Veränderung in bestimmten Zellen einer Vorstellungssphäre | hervor, so daß selbst nach Zerstörung einer Empfindungssphäre die entsprechenden Vorstellungen noch immer von anderen Seiten her erweckt werden können. Wie dem aber auch sei: das ist eine Tatsache und zwar eine Tatsache von gewaltiger Tragweite, daß wir durch das Spiel der Vorstellungen in weitem Umfange von der momentanen Notwendigkeit der sinnlichen Eindrücke für unser Erkenntnisleben unabhängig werden. Wenn ich mit den Erinnerungsbildern früherer Empfindungen jeden Augenblick arbeiten kann, ohne daß ich dabei auf das jedesmalige Vorhandensein des entsprechenden Sinnesreizes angewiesen bin, dann emanzipiert sich mein Geistesleben zeitlich in hohem Grade von den sinnlich wahrnehmbaren Dingen. Aber noch mehr. Dadurch, daß die Vorstellungen zeitlich unabhängig sind von der Einwirkung der entsprechenden Sinnesreize, eignen sich die Vorstellungen in ganz hervorragendem Maße für die assoziative Verknüpfung zu längeren Folgen,
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zu Gedanken. Da jede Sinnesempfindung stets komplexer Natur ist, da ferner bestimmte Sinnesempfindungen stets in gleicher Reihenfolge auftreten, so sind auch in den entsprechenden Erinnerungsbildern die Einzelbestandteile von vornherein schon immer in bestimmter Ordnung miteinander verknüpft. In allen diesen Fällen gibt also die Vorstellungsassoziation ohne weiteres ein getreues Bild der sinnlich wahrnehmbaren Welt. Sobald indessen Vorstellungen und Vorstellungskomplexe miteinander verknüpft werden, die in | dieser Zusammenordnung oder Folge nicht Reproduktionen von sinnlichen Beobachtungen sind, kann es zweifelhaft werden, ob sie den wirklichen Verhältnissen der sinnlich wahrnehmbaren Welt entsprechen. Hier würde sich jedenfalls die Erkenntnis zu einer wilden Anarchie der Vorstellungen gestalten, wenn nicht die assoziative Verknüpfung der Vorstellungen, von Beginn ihrer Entwicklung an, der Selektion unterläge. Der selektiv wirkende Faktor, der eine fortwährende Korrektur der Vorstellungsassoziationen bedingt, ist von den Anfängen des Bewußtseinslebens beim Tier bis zum Menschen hinauf wiederum die sinnliche Erfahrung. Nur Vorstellungsassoziationen, die durch die sinnliche Erfahrung immer wieder bestätigt werden, halten sich dauernd lebensfähig und werden weiter gezüchtet. Dieser Entwicklungsprozeß erreicht seinen höchsten Grad in der experimentellen Methode der Forschung, in der man bewußt die Richtigkeit der Vorstellungsgänge an der Hand absichtlich hergestellter sinnlicher Beobachtung zu prüfen sucht. Indessen spielt bei der Entwicklung des menschlichen Erkennens, je höher das geistige Kulturniveau liegt, um so mehr noch ein spezielles Moment des selektiven Faktors eine maßgebende Rolle, das ist die Erziehung des kindlichen Vorstellungslebens durch den im Kulturvolke vorhandenen Besitz an Vorstellungen und Gedanken. Dem Kinde wird bei den Kulturvölkern schon von einem sehr frühen Entwicklungsstadium an durch die Erziehung eine konzentrierte Nährlösung | von fertigen Vorstellungen und Gedankengängen eingeflößt.
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Diese Vorstellungen haben bereits in weitem Umfange während endloser Jahrtausende der Selektion unterlegen und sind als gründlich durchkorrigiert übrig geblieben, so daß sie als widerspruchslos untereinander gelten. An unserem heutigen geistigen Besitz haben alle Menschengeschlechter mitgearbeitet, von den ältesten prähistorischen Zeiten an. Jedes Zeitalter hat neue Ideen dem alten Besitz zugefügt und alte Ideen, die sich mit neuen Erkenntnissen im Widerspruch befanden, beseitigt. Oft trifft dieses letztere Schicksal eine Idee erst sehr spät und lange Zeit wird ein falscher Gedanke durch Jahrtausende fortgepflanzt, ehe der Selektionsprozeß ihn eliminiert. Auch wir heute schleppen zahlreiche falsche Vorstellungen in unserm täglichen Denken mit uns herum, die zum Teil noch dem naiven Geiste des steinzeitlichen Menschen entstammen. Aber der Selektionsprozeß unter den Vorstellungen ist ja auch heute an keinem Ende angelangt. Unaufhaltsam schreitet er weiter. Der Faktor, der bei der Erziehung die als richtig geltenden Assoziationen befestigt und auf diese Weise das zur Herrschaft bringt, was wir als logisches Denken bezeichnen, ist die Einübung der durch Selektion gezüchteten Vorstellungsgänge. Auf der Übung beruht das Gedächtnis, d. h. die Fähigkeit, Vorstellungsreihen um so leichter zu reproduzieren, je öfter sie bereits erregt worden sind. Wie bringt die Übung das zustande? Wir möchten gern die physiologischen | Bedingungen des Gedächtnisses kennen, so wie man die physiologischen Bedingungen der Empfindungen und Vorstellungen in der Erregung bestimmter Zellprovinzen der Großhirnrinde, und die physiologischen Bedingungen der Assoziationen in der Fortleitung dieser Erregung durch die Nervenfasern von einer Zellstation zur anderen erkannt hat. Wie vermag also die Übung, d. h. die häufige Erregung einer bestimmten Folge von Vorstellungen die entsprechenden Assoziationswege auszuschleifen, so daß die Assoziationen auf ihnen immer leichter und sicherer ablaufen?
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Mit der seit altersher gebräuchlichen Antwort, daß die Erregung einer Ganglienzelle durch einen Reiz eine dauernde aber latente Spur in der Ganglienzelle hinterläßt, ist nichts gesagt. Wir wollen wissen, worin diese Spur besteht, die da zurückbleibt, obwohl doch einerseits der Stoffwechsel fortdauernd die Moleküle der Zelle zersetzt und wieder erneuert und obwohl doch andererseits die Selbststeuerung des Stoffwechsels in jeder Zelle das durch einen Reiz gestörte Stoffwechselgleichgewicht nach dem Aufhören des Reizes sofort wieder herstellt.6 Die physiologische Antwort kann nicht zweifelhaft Es sind in der Regel zwei Schwierigkeiten, auf die man zu stoßen pflegt, wenn man sich klar zu machen sucht, worin die Spur als Grundlage des Gedächtnisses besteht, die eine funktionelle Erregung der Ganglienzelle in ihr hinterläßt. Die eine Schwierigkeit glaubt man in der Tatsache des Stoffwechsels als solcher zu fi nden. Indem man sich vorstellt, daß die »Spur«, welche die Erregung in der Ganglienzelle hinterläßt, in einer »molekularen Umlagerung« besteht, glaubt man nicht begreifen zu können, wie eine solche »molekulare Umlagerung« sich andauernd erhalten kann in einem System, das, wie die lebendige Substanz, selbst dauernd in einer Umlagerung seiner Atome, d. h. in einem Wechsel seiner Moleküle begriffen ist. Man übersieht dabei, daß der »Stoffwechsel« im physiologischen Sinne aber gerade dadurch charakterisiert ist, daß er, abgesehen von den langsamen Veränderungen, die er bei der Entwicklung erfährt, die neu eintretenden Atome und Moleküle immer wieder in genau der gleichen Zahl und genau der gleichen Beschaffenheit an genau die gleiche Stelle führt wie die alten, zerfallenen und austretenden Moleküle, die durch die neuen ersetzt werden. Wie bei der Schmetterlingsflamme eines Gasbrenners trotz des fortwährenden Wechsels der Gasmoleküle doch die Gestalt und Zusammensetzung der Flamme dauernd die gleiche bleibt, genau so ist es auch bei der lebendigen Zelle der Fall trotz des andauernden Stoffwechsels, der sich in ihr vollzieht. So ist die Stabilität der Verhältnisse in der Zelle trotz ihres Stoffwechsels und zwar auf Grund der Stabilität des Stoffwechsels ohne weiteres verständlich. Man dürfte also in der Tatsache des Stoffwechsels an sich keine Schwierigkeit für das Bestehenbleiben eines bestimmten molekularen Verhältnisses in der Zelle erblicken. Dagegen scheint sich eine andere Schwierigkeit zu ergeben aus der allgemeinen physiologischen Tatsache, die man als »Selbststeuerung« 6
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sein. Es ist eine bekannte Tatsache, daß die Zellen eines Organs mit der Häufigkeit ihrer funktionellen Beanspruchung eine Massenzunahme ihrer lebendigen Substanz erfahren. Das gilt z. B. von jedem Muskel und jeder Drüse, und das hat sich ebenso für die Ganglienzellen nachweisen lassen. Mit der Übung nimmt also die Masse einer Ganglienzelle zu und | infolgedessen werden die Impulse, die sie bei jeder Erregung entlädt, entsprechend stärker. Da aber die Weiterleitung einer Erregung durch verschiedene Ganglienzellstationen hindurch, wie sie der Assoziation von Vorstellungen zugrunde liegt, von der Stärke der Impulsentladungen abhängt, so wird die Erredes Stoffwechsels bezeichnet. Diese »Selbststeuerung« des Stoffwechsels besteht darin, daß die Störung im Stoffwechselgleichgewicht, die ein Reiz hervorgerufen hat und die wir im vorliegenden Falle als Erregung bezeichnen, sofort nach dem Aufhören des Reizes wieder ausgeglichen wird, so daß sich das ursprüngliche Stoffwechselgleichgewicht genau wie es vorher bestand, wiederherstellt. Diese Restitution des durch den Reiz gestörten Stoffwechselgleichgewichts scheint also auf den ersten Blick jede »Spur«, die der Reiz hinterlassen könnte, sofort wieder zu verwischen. Indessen liegt, wie im Text kurz skizziert, die Sache so, daß die Selbststeuerung zwar jede qualitative Veränderung in bezug auf die Zusammensetzung der lebendigen Substanz wieder ausgleicht, daß aber, je häufiger ein Reiz einwirkt, um so deutlicher eine quantitative Vermehrung der lebendigen Substanz sich bemerkbar macht. Die quantitativen Massenverhältnisse der lebendigen Substanz in der Ganglienzelle sind also durchaus abhängig von der Häufigkeit ihrer funktionellen Beanspruchung durch Reize. Wir wissen, daß die Masse der lebendigen Substanz bei häufi ger Beanspruchung durch Reize zunimmt, bei andauernd ausbleibender Beanspruchung abnimmt bis zur vollständigen Atrophie. Die Massenzunahme der lebendigen Substanz ist also die einzige länger dauernde »Spur«, welche die durch Reize hervorgerufenen Erregungen in der Zelle zurücklassen. Wie die Substanzzunahme der Ganglienzellen bei der Übung mit dem »Ausschleifen« der Vorstellungsassoziationen d. h. mit dem Gedächtnis, und wie die Substanzabnahme bei Mangel an Übung mit dem Vergessen zusammenhängt, habe ich ausführlicher auseinandergesetzt in einer Arbeit über »Die zellularphysiologische Grundlage des Gedächtnisses« in der Zeitschr. f. allgem. Physiologie 1906 Bd. VI.
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gung, die von einer Ganglienzelle ausgeht, von all den Assoziationswegen, die von dieser Zelle fortführen, nur diejenigen Zellstationen passieren können, die bereits durch Übung zu genügend starker Weiterbeförderung des Erregungsimpulses befähigt sind, d. h. sie wird auf dem eingeübten Assoziationswege um so leichter ablaufen, je mehr dessen Ganglienzellstationen durch Übung eine Massenzunahme erfahren haben. So werden durch die Erziehung bestimmte, durch Selektion gezüchtete Gedankengänge eingeübt, bestimmte Assoziationswege ausgeschliffen. Und so entsteht das logische Denken.7 Unter den Vorstellungsverknüpfungen des logischen Denkens hat eine Form für die Entwicklung der menschlichen Erkenntnis ganz besonders große Tragweite gewonnen. Das ist die abstrahierende Schlußfolgerung. Die Schlußfolgerung schafft der Erkenntnis einen Inhaltsbestandteil von grundlegender Bedeutung, denn sie bringt die Erkenntnis einer bestehenden Gesetzmäßigkeit zum Ausdruck. Auch sie entstammt lediglich der sinnlichen Erfahrung und wird von ihr fortdauernd selektiv korrigiert. Man beobachtet eine Aufeinanderfolge zweier Empfindungen, z. B. Regen | und Nässe immer und Da die Ganglienzellen wie die verschiedensten anderen Zellen unseres Körpers während unserer individuellen Entwicklung ganz allmähliche Veränderungen erfahren und da sie vor allem in der Jugend viel ausbildungsfähiger sind als im höheren Alter, sodaß also das Gedächtnis in der Jugend viel besser ist als im Alter, so liegt es auf der Hand, wie ungeheuer wichtig es ist, daß gerade in der Jugend bei der Erziehung des logischen Denkens möglichst zweckmäßige und für das spätere Leben wertvolle Vorstellungsassoziationen und Gedankengänge eingeübt werden. Es ist eine ganz ungeheure Verantwortung, die in dieser Beziehung die Schule übernimmt, besonders wenn man die lange Dauer der Schulzeit in Betracht zieht, die denen zugemessen ist, die einst am weit vorgeschobenen Rande des geistigen Fortschrittes arbeiten sollen. Man kann aber leider nicht sagen, daß die große Mehrzahl unserer höheren Schulen mit den Anforderungen, welche die mehr und mehr veränderten Kulturaufgaben stellen, in dieser Hinsicht gleichen Schritt gehalten hätte. 7
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immer wieder in gleicher Weise. Man gewinnt durch Übung die entsprechende Vorstellungsassoziation »Regen« und »naß«. Sobald die Vorstellung »Regen« erweckt wird, assoziiert sich ihr von selbst die Vorstellung »naß«. Das ist das primitive Paradigma für die Erkenntnis einer gesetzmäßigen Abhängigkeit. Alle Gesetzmäßigkeit hat konditionale Form: wenn es regnet, dann ist es naß. Der Konditionalsatz ist das allgemeine Darstellungsschema für alle Gesetzmäßigkeit. Er allein ist imstande, eine Erkenntnis in streng erfahrungsgemäßer Weise ohne irgend welche Zutat eines Deutungsversuches zum Ausdruck zu bringen. Alle wirklich wissenschaftliche Erkenntnis muß sich daher in die konditionale Form kleiden, denn alle wissenschaftliche Erkenntnis besteht und kann nur bestehen in der Feststellung gesetzmäßiger Abhängigkeitsverhältnisse. Sind sämtliche Bedingungen, von denen ein Vorgang oder Zustand abhängig ist, ermittelt, dann ist der Vorgang oder Zustand eindeutig bestimmt, und es bleibt nichts mehr an ihm zu erklären, denn das, was wir mit einem kurzen Wortsymbol den betreffenden Vorgang oder Zustand nennen, ist bei näherer Analyse nichts anderes als die Summe sämtlicher bedingender Momente. Diese Einkleidung aller Gesetzmäßigkeit in die konditionale Form ist eigentlich völlig selbstverständlich. Ich glaube aber trotzdem diese Tatsache immer wieder8 besonders betonen zu müssen, weil in der Naturwissenschaft die traditioSeit einigen Jahren bereits bin ich bestrebt gewesen, immer wieder die Forderung zu vertreten, daß die Naturforschung sich mehr und mehr gewöhnen müsse in gleicher Weise wie die Mathematik die konditionale Betrachtungsweise an Stelle der unklaren, kausalen Betrachtungsweise zu pflegen. Die Mathematik kennt die kausale Einkleidung der Darstellung ihrer Wahrheiten nicht. Sie kleidet ihre Lehrsätze stets in die konditionale Form. Nach dieser Exaktheit, die mehr ist als eine bloße Ausdrucksform, die einen unabsehbaren Einfluß ausübt auf das gesamte Denken, muß auch die Naturforschung streben. Vgl. darüber unter anderem: Max Verworn: »Das Problem des Lebens«. Ein Vortrag. Jena, 1907, Gustav Fischer. 8
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nell seit alter Zeit mitgeschleppte Vorstellung, daß die einzig wissen | schaftliche Erklärungsart die kausale sei, noch immer nicht durch Selektion beseitigt ist. Der Ursachenbegriff ist ein mystischer Begriff, der einer primitiven Phase des menschlichen Denkens entsprungen ist. Eine streng wissenschaftliche Darstellungsweise kennt keine »Ursachen«, sondern nur gesetzmäßige Abhängigkeiten. Soll aber der Begriff »Kausalität« nur das Bestehen einer eindeutig bestimmten Gesetzmäßigkeit bezeichnen, so ist das Moment der »causa«, der »Ursache« in ihm nicht bloß überflüssig, sondern direkt falsch, denn ein gesetzmäßiger Vorgang oder Zustand ist nie eindeutig bestimmt durch »eine einzige Ursache«, sondern immer nur durch eine Summe von Bedingungen, die sämtlich gleichwertig sind, weil sie eben notwendig sind.9 Kausale Gesetzmäßigkeit ist spekulative Mystik, konditionale Gesetzmäßigkeit ist Erfahrung. Man denkt sich der üblichen Auffassung gemäß, daß jeder Vorgang bewirkt wird durch Eine »Ursache«. Die Darstellung der Naturvorgänge nach »Ursache« und »Wirkung« gilt gewöhnlich als besonders exakt. Eine genaue Beobachtung zeigt indessen, daß in keinem Falle ein Vorgang zustande kommt durch Einen einzigen Faktor. Es sind immer zahlreiche Faktoren, die zu seinem Zustandekommen notwendig sind. Entwickle ich z. B. Kohlensäure, indem ich Salzsäure auf kohlensaures Natron gieße, so ist für die Kohlensäureentwicklung nicht etwa die Salzsäure die »Ursache«, sondern es ist das kohlensaure Natron ebenso notwendig, wie die Salzsäure und es zeigt sich bei näherer Untersuchung, daß auch noch andere Faktoren genau so unentbehrlich sind wie diese beiden. Es existiert also schlechterdings keinerlei Veranlassung, dem einen dieser sämtlichen notwendigen Faktoren eine dominierende Sonderstellung einzuräumen. Sie sind eben sämtlich unentbehrliche Bedingungen. Läßt man dagegen den Gedanken, daß ein Vorgang durch eine einzige »Ursache« bewirkt werde, fallen und gesteht man zu, daß es zwei oder mehrere »Ursachen« sind, die den Vorgang herbeiführen, dann verliert der Begriff der »Ursache« seinen Sinn, und wird identisch mit dem Begriff der Bedingung. Dann aber ist es nötig, den Ausdruck »Ursache« ganz fallen zu lassen, da er unwillkürlich den alten Gedanken an ein geheimnisvoll wirkendes, sinnlich nicht wahrnehmbares Agens erweckt. Die Bedingungen aber sind weder geheimnisvoll noch sinnlich uner9
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Die Mahnung zur konditionalen Betrachtungsweise sollte am Eingang zu jeder wissenschaftlichen Untersuchung stehen. Überlassen wir also den Ursachenbegriff seiner allmählichen Ausrottung durch die Vorstellungsselektion! Mit der Feststellung einer bestehenden Gesetzmäßigkeit hat der Erkenntnisprozeß seine höchste Entwicklung erreicht. Jede neue Erfahrung liefert nur einen neuen Beweis für die Existenz einer eindeutigen Gesetzmäßigkeit. Aber vergessen wir nie, daß auch die höchste Vollendung des logischen Denkens nur aus sinnlicher Erfahrung entspringt und fortdauernd durch sinnliche Erfahrung verifiziert wird! Mögen wir dann immerhin die Empfin | dungen als unmittelbare Erfahrungen den Vorstellungen, Assoziationen, Schlußfolgerungen als abgeleiteten Erfahrungen gegenüberstellen, mögen wir die ersteren als primäre, die letzteren als sekundäre Erkenntnisse bezeichnen, auf jeden Fall zeigt der gesamte Erkenntnisprozeß einen völlig einheitlichen Charakter. Er besteht in der Bildung von Empfindungen, Vorstellungen, Gedanken, Schlußfolgerungen, die alle auf der Basis derselben Gesetzmäßigkeit ruhen. Diese Gesetzmäßigkeit aber ist keine andere als die allgemeine Gesetzmäßigkeit alles Seins und Geschehens.10 kennbar, denn es sind die Dinge selbst, die ich ja wahrnehmen kann. Die Dinge bedingen sich untereinander und alle Wissenschaft kann, wenn sie exakt sein will, nur in der Feststellung ihrer gesetzmäßigen Abhängigkeitsverhältnisse voneinander bestehen. Also wenn man durchaus einen »Ismus« haben will: nicht Kausalismus, sondern Konditionismus. 10 Man pflegt häufig die Tatsache, daß sich im logischen Denken des Menschen die gleiche Gesetzmäßigkeit ausdrückt wie in dem Geschehen in der umgebenden Welt, als besonders auffallend und bemerkenswert hinzustellen und ist erstaunt, wenn diese Tatsache bei unseren logisch ersonnenen Experimenten in der Bestätigung unserer wissenschaftlichen Voraussagen einmal einen besonders schlagenden Ausdruck gewinnt. Nach der hier vertretenden Auffassung, nach der die Gesetzmäßigkeit im logischen Denken sich nur auf Grund der Gesetzmäßigkeit des gesamten Seins und Geschehens entwickelt hat oder mit anderen
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Erkenntnis ist Erfahrung im weitesten Sinne, und Erkennen heißt Erfahrungen bilden, in erster Linie sinnliche Empfindungen. Die weitere Analyse des Erkenntnisprozesses kann also wie alle wissenschaftliche Analyse nur in der Ermittelung der sämtlichen Bedingungen für das Zustandekommen von Empfindungen, Vorstellungen, Gedanken bestehen. Ich habe im Vorhergehenden einzelne der speziellen Bedingungen, die von den Vorgängen im Gehirn dargestellt werden, bereits kurz berührt. Es kann aber nicht meine Aufgabe sein, alle uns heute schon bekannten physiologischen Bedingungen des Erkenntnisprozesses im Rahmen dieser kurzen Stunde zu erörtern.11 Dagegen ist es notwendig, auf die beiden großen Gruppen von Bedingungen in ihrer Allgemeinheit noch einen Blick zu werfen. ***| »Ich« erkenne »Etwas«. Jeder Erkenntnisprozeß stellt eine Beziehung dar zwischen den beiden Faktoren »Ich« und »Etwas«. Was ist dieses »Ich«? Dieses »Ich«, das dem Menschen ans Herz gewachsen ist, wie nichts auf der Welt, das ihm die herrlichsten Freuden, aber auch den schwersten Kummer bereitet, das er bald liebt, bald haßt, bald aufs höchste verehrt, bald aufs tiefste verflucht, das der mächtigste Hebel geworden ist für die Veredelung des Menschen und seiner Ideale und das Worten nur ein Ausdruck dieser allgemeinen Gesetzmäßig-keit ist, erweist sich diese Identität schlechterdings als selbstverständlich, denn nach dieser Auffassung ist das logische Denken ebenfalls nur ein der allgemeinen Gesetzmäßigkeit folgendes Geschehen. Auffällig und unverständlich kann diese Identität nur von anderen Voraussetzungen aus sein. 11 Eine kurze, für einen weiteren Kreis bestimmte Skizze dieser physiologischen Bedingungen der Bewußtseinsvorgänge habe ich gegeben in dem kleinen Heft: »Die Mechanik des Geisteslebens« der Teubnerschen Sammlung: Aus Natur und Geisteswelt 1907.
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ihn doch wieder niederziehen kann in den Sumpf niedrigster Leidenschaft und gemeinsten Verbrechens, das er bald um keinen Preis hergeben, bald gänzlich abstreifen möchte und das er doch nicht wegwerfen kann, ohne auf alles zu verzichten, das untrennbar wie sein Schatten an ihm haftet und an allem teilnimmt, was er erfährt und ausführt. Was ist dieses mächtige, unvermeidliche, aufdringliche »Ich«? Die nüchterne Analyse wissenschaftlicher Kritik zeigt uns, daß auch dieses »Ich« uns nur als ein Produkt der Erfahrung bekannt wird. Das Kind, das mit seinen Sinnen eben die ersten Erkenntnisse gewinnt, nimmt eine Menge von Dingen wahr, die es unterscheidet, und die es später nach der Anweisung seiner Erzieher mit verschiedenen Namen belegt: Bett, Stuhl, Tisch, Mama, Papa usf. Unter diesen Dingen befinden sich auch seine eigenen Körperteile: Bein, Hand, Kopf usf. Im Laufe der Entwicklung macht das Kind die Beobachtung, daß gewisse Dinge immer dabei sind, wenn es irgend etwas sieht, hört, fühlt, denkt usf. Das sind seine | eigenen Körperteile. Für diesen Komplex von Dingen lernt das Kind die Bezeichnung »Ich«. Wenn das erste »Ich« vom Kinde verwendet wird, ist indessen die Vorstellung des »Ich« durchaus noch nicht scharf umgrenzt. Das Kind verwechselt anfangs noch das eigene »Ich« mit anderen »Ichs«, die das Wort »Ich« auf sich selbst anwenden. Erst allmählich lernt es das eigene »Ich« von anderen »Ichs« unterscheiden. Da das »Ich« immer an allem beteiligt ist, was das Kind tut und denkt, so schleift sich der »Ich«-Vorstellungskomplex besonders tief aus, im Gegensatz zu anderen Vorstellungen, die immerfort wechseln. So entsteht der primäre »Ich«-Begriff. Er bezeichnet, kurz gesagt, den Komplex von Dingen, der immer dabei ist, was auch der Mensch empfindet und denkt, fühlt oder tut. Der »Ich«-Begriff vergrößert sich immer mehr, je mehr Bestandteile sich ihm durch Erfahrung ankristallisieren. Die Erkenntnis vom anatomischen Bau des Körperinnern erweitert den Inhalt der »Ich«-Vorstellung enorm. Beim Naturforscher und Arzt umfaßt der »Ich«-Be-
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griff schließlich die unabsehbare Fülle der Vorstellungen vom ganzen komplizierten Zellenbau des Körpers, von den Zellen der Leber und Niere bis zu dem erstaunlich fein geordneten System der Ganglienzellen und Nervenfasern des Gehirns. Aber noch mehr. Diesem »primären Ich«-Begriff mischen sich unwillkürlich auch andere Bestandteile bei. Man gewöhnt sich allmählich, seine gesamten Empfindungen, Vorstellungen, Ideen zum eigenen »Ich« zu rechnen und so zerfließt | schließlich dieses »sekundäre Ich« ohne Grenze in die umgebende Welt. So wird das sekundäre »Ich« aber zuletzt zur Chimäre. Für die wissenschaftliche Betrachtung ist es daher notwendig, den Begriff des »Ich« nur im primären Sinne zu verwenden. Dann bedeutet das »Ich« die Summe der physiologischen Bedingungen, die zur Entstehung der gesamten Empfindungen und Vorstellungen, Gedanken und Gefühle, kurz aller Bewußtseinsvorgänge notwendig sind, d. h. der menschliche Körper. Dieses engere »Ich« stellt also ein System von Bedingungen vor, das geeignet ist, mit den Dingen außerhalb des Körpers Empfindungen und weiterhin Vorstellungen, Gedanken, Gefühle zu bilden. Kurz das »Ich« ist ein Apparat zur Herstellung von Bewußtseinsvorgängen. Behalten wir aber im Auge, daß auch dieses primäre »Ich« keinesfalls ein wirklich stabiles System ist. Es ändert sich von der Geburt bis zum Tode. Auch die mannigfaltigsten äußeren Faktoren, wie Nahrung und Gifte, Ermüdung und Krankheit und viele andere wirken auf dieses System und seine einzelnen Glieder verändernd ein. Da aber die Empfindungen und Vorstellungen, Gedanken und Gefühle eindeutig bestimmt sind, nicht bloß durch die Dinge der Außenwelt, sondern ebenso durch den Bedingungskomplex des »Ich«-Systems, so ist es klar, daß jede Veränderung in dem Bedingungssystem des »Ich« auch eine entsprechende Veränderung in den Bewußtseinsvorgängen nach sich zieht, genau so, wie das der Fall ist bei allen Veränderungen in der Außenwelt. |
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Werfen wir nunmehr auch einen Blick auf den zweiten Bedingungskomplex, der das Erkennen beherrscht, auf das »Etwas«, auf die Dinge außerhalb des »Ich«. Ja, existiert denn überhaupt etwas außerhalb des »Ich«? Habe ich nicht, indem ich ein »Ich« und Dinge außer dem »Ich« unterscheide, eine ganz willkürliche Annahme gemacht? Ich will mich ja nur an die Erfahrung halten und jede Hypothese vermeiden. Die Erfahrung liefert mir aber nur meine eigenen Empfindungen und davon abgeleitete Vorstellungen. Ist daher nicht die Unterscheidung von »Ich« und Außenwelt eine reine Hypothese? Der Gedankengang, den man als »Solipsismus« zu bezeichnen pflegt, behauptet das in der Tat, und er glaubt besonders exakt zu verfahren, indem er die Annahme einer außer dem »Ich« existierenden Außenwelt gänzlich verwirft. Auf den ersten Blick imponiert dieser Standpunkt; bei genauerem Zusehen ist er absurd. Betrachten wir ihn etwas näher! Man folgert etwa so: Wenn ich analysiere, was ein Gegenstand ist, so zeigt mir die Erfahrung nur eine bestimmte Summe von Empfindungen. Wenn ich prüfe, was ich einen anderen Menschen nenne, so finde ich wiederum nur einen besonderen Komplex von Empfindungen. Außer meinen eigenen Empfindungen liefert mir die Erfahrung nichts. Das heißt: die ganze Welt ist nur meine eigene Empfindung und Vorstellung. Solus ipse. Etwas anderes kann ich nicht nachweisen, wenn ich mich immer nur streng an die Erfahrung halte. So sagt der Solipsismus. Aber nehmen wir einmal an, die | Behauptung, daß nur »Ich« allein existierte, wäre richtig, dann würde die Welt höchst wunderlich sein. Dann wäre die Welt jeden Augenblick etwas anderes: in diesem Moment ein schöner Festsaal mit vielen Menschen, im nächsten ein Blatt Papier, im folgenden eine elektrische Lampe und in der Nacht wäre sie gänzlich verschwunden, um am Morgen als Decke eines Schlafzimmers wieder neu zu erstehen. Ein wildes Gewirr von Empfindungen und Vorstellungen ohne Zusammenhang, das wäre die Welt. Aber weiter. Das »Ich« verlö-
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re vollständig seinen Sinn, denn es hat nur Sinn als Gegensatz zu anderen Dingen. Wenn aber nur »Ich« allein existiere, so fällt der Gegensatz fort, und das »Ich« ist identisch mit dem Sein überhaupt. Das Sein aber existierte nur zeitweilig und zwischen seinen Existenzen klaffte das Nichts jede Nacht. Es lohnt nicht, die seltsamen Konsequenzen weiter zu verfolgen, die aus dem Gedankengange des Solipsismus logisch entspringen. Trotz seiner scheinbar streng erfahrungsmäßigen Grundlage muß dieser Gedankengang einen Fehler enthalten. Das liegt auf der Hand. In der Tat ist es nicht schwer, diesen Fehler zu finden. Der Solipsismus berücksichtigt nur die unmittelbaren, primären Erfahrungen, die Empfindungen. Er übersieht die abgeleiteten, sekundären Erfahrungen, die uns die Existenz einer Gesetzmäßigkeit zeigen. Diese konditionale Gesetzmäßigkeit, die täglich und stündlich durch zahllose Erfahrungen von neuem bestätigt wird, liefert mir ebensoviele experimentelle Beweise | dafür, daß die Dinge auch bestehen, wenn ich sie nicht sinnlich wahrnehme. Zum Beispiel: Die Erfahrung hat mir gezeigt, daß ein Stück Natrium, das ich auf Wasser werfe, sofort zu einer Kugel zusammenschmilzt, die zischend unter lebhafter Bewegung an der Wasseroberfläche zusammenschrumpft und schließlich verschwindet. Dabei hat sich unter Entwicklung von Wasserstoff, den ich auffangen kann, Natronlauge im Wasser gelöst. Die sinnliche Erfahrung hat tausendfach gezeigt, daß dieser Vorgang sich mit unfehlbarer Gesetzmäßigkeit abspielt, sobald ich seine Bedingungen realisiert habe. Stelle ich nun die nötige Versuchsanordnung auf, werfe ich ein Natriumstück auf Wasser, und verlasse ich darauf das Zimmer, so spielt sich dieser Vorgang genau ebenso ab, als ob ich dabei wäre, obwohl er sich vollständig meiner sinnlichen Wahrnehmung entzieht. Ich kann das kontrollieren, indem ich das Resultat feststelle, oder den Ablauf des Vorgangs von einem andern erfahre, der den Vorgang inzwischen beobachtet hat. So liefert mir die Erfahrung den unumstößlichen Beweis, daß die
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Dinge außerhalb meines »Ich« existieren, auch wenn ich sie garnicht empfinde. Das gleiche gilt aber auch für mein »Ich« selbst. Ich empfinde ja mein »Ich« d. h. meinen Körper ebenfalls nicht immer. Im Schlaf, in der Narkose, aber auch bei angestrengter Aufmerksamkeit und scharfem Nachdenken bin ich mir meines »Ich« durchaus nicht bewußt, und auch sonst nehme ich gleichzeitig immer nur einzelne Teile davon wahr. Ich empfinde immer | nur etwas von meinem »Ich«, wenn ich seine einzelnen Teile zu einander, wenn ich diesen oder jenen Teil zu diesem oder jenem Sinnesorgan in Beziehung setze. Und doch existiert mein gesamtes »Ich« andauernd fort, auch wenn ich von ihm kein Bewußtsein habe. Mein »Ich«, mein Körper ist genau ebenso ein »Ding« wie die anderen Dinge, wie alle Dinge, ein System von bestimmten Bedingungen, und es ist gewissermaßen nur eine »physiologische« Form der Eitelkeit, die im Kampf ums Dasein gezüchtet ist, wenn ich aus der gesamten Mannigfaltigkeit von Dingen, die den Weltinhalt bilden, das eigene »Ich« besonders heraushebe und der Gesamtheit aller übrigen Dinge gegenüberstelle. In Wirklichkeit stehen wir nicht außer oder gar über der Welt, sondern in der Welt wie alle anderen Dinge. »Ich erkenne ein Ding« heißt nach alledem: Es stellt sich zwischen meinem »Ich« und dem betreffenden Ding ein solcher Beziehungskomplex her, daß Empfindungen, Vorstellungen, Gedankengänge entstehen. *** Von dieser Basis aus können wir jetzt an die Frage herantreten, wieweit die Erkenntnisfähigkeit reicht und ob sie begrenzt ist. Die Antwort wird uns jetzt leicht: Die Möglichkeit des Erkennens reicht so weit wie der Inhalt der Welt, denn es besteht für uns kein | prinzipielles Hindernis, mit jedem anderen Bestandteil der Welt in Beziehung zu treten. Der Weg, auf dem ich diese Beziehungen herstelle, geht, wie wir sahen, zuerst immer durch meine Sinnesorgane. In-
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dem ich ein Ding mit meinen Sinnesorganen und dadurch mit den Ganglienzellen meines Gehirns in Beziehung setze, bilde ich mit ihm Empfindungen, die ich weiterhin zu Vorstellungen und Schlüssen verarbeite. Die Erkennbarkeit aller sinnlich wahrnehmbaren Dinge liegt also von vornherein auf der Hand. Aber es gibt Dinge, die meine Sinnesorgane überhaupt nicht affizieren, wie der Stickstoff der Luft oder gewisse Strahlenarten. Sind diese erkennbar? Die Erfahrung sagt: ja, denn wir haben sie ja erkannt. Der Weg der Erkenntnis ist hier der, daß wir diese Dinge erkennen durch die Veränderungen, die andere, unseren Sinnen zugängliche Dinge durch sie erfahren. Auf diesem Wege wurden z. B. die Röntgen-Strahlen entdeckt. Aber man wird sagen: in diesen Fällen erkenne ich die Dinge nicht selbst, sondern nur indirekt aus ihren Wirkungen. Darauf erwidere ich: das macht keinen Unterschied, denn auch unsere sinnlichen Wahrnehmungen sind ja niemals die wahrgenommenen Dinge selbst, sondern immer nur komplexe Systeme von Dingen, in denen das wahrgenommene Ding als ein Bestandteil enthalten ist kombiniert mit dem »Ich« oder seinen Teilen. Das Ding selbst und meine Empfindung des Dinges ist niemals identisch, und meine Empfindung eines und des | selben Dinges ist gänzlich verschieden, je nachdem das betreffende Ding mit diesem oder mit jenem Sinnesorgan von mir in Beziehung tritt. Hier ist nun der Punkt, wo mancher eine unübersteigliche Grenze der Erkenntnis zu sehen geneigt ist. Man sagt sich: da ich die Dinge immer nur in Form von Empfindungen wahrnehme, die völlig verschieden sind je nach dem Sinnesorgan, durch das ich sie gewinne, und da ich doch andererseits nachweisen kann, daß die Dinge auch existieren, wenn ich sie nicht empfinde, so entsteht die Frage, was die »Dinge an sich« sind, losgelöst aus dem Komplex der Empfindung, außerhalb ihrer Kombination mit dem »Ich«. Hier scheint die Erkenntnis ihre Grenze erreicht zu haben. Hier scheint uns ein unüberbrückbarer Abgrund völliger Hoffnungslosigkeit entgegen zu gäh-
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nen, denn wenn wir nicht erkennen können, was die »Dinge an sich« sind – so sagt man – dann ist uns die Erkenntnis der Wirklichkeit für immer verschlossen. Wir bewegen uns dann ewig in einer Welt des Scheins, und quälend kehrt immer die Frage zurück: Was sind die »Dinge an sich«? Gibt es von dieser Tantalusqual denn keine Erlösung? Ist hier wirklich eine Grenze der Erkenntnis vorhanden? Ja, was will ich denn? Ich besinne mich: ich will erkennen, was ein Ding ist, wenn ich es nicht wahrnehme. Wie? Ein Ding erkennen, ohne es wahrzunehmen? Das heißt ja ein Ding erkennen, ohne es zu erkennen, und das ist kompleter Unsinn, aber kein Problem | denn hier liegt ein vollkommener Widerspruch vor. Indessen: »…ein vollkommner Widerspruch Bleibt gleich geheimnisvoll für Kluge wie für Toren.« und so pflegen denn auch heute noch Kluge sowohl wie Toren den Reizen dieses geheimnisvollen Scheinproblems mit ehrfurchtsvoller Scheu zu erliegen. Es ist aber durchaus notwendig, daß wir uns von solchen Scheinproblemen frei machen, denn in erkenntnistheoretischen Fragen bedarf es vor allen Dingen vollkommener Klarheit. »Erkennen« drückt ja ein Inbeziehungsetzen aus. Ich erkenne ein Ding, wenn ich es zu mir in Beziehung setze und nur dadurch, daß ich es zu mir in Beziehung setze. Wie kann ich also verlangen, ein Ding zu erkennen, ohne daß ich es zu mir in Beziehung setze! Aber indem ich es zu mir in Beziehung setze, kann ich jegliches Ding erkennen. Der Erkenntnisprozeß hat hier keine Grenze. Ich muß der Erkenntnis nur keine Scheinprobleme stellen. Schließlich ist es auch völlig irrig, wenn man denkt, daß wir niemals die Wirklichkeit selbst erkennen, sondern stets nur eine Welt des Scheines. Wir selbst sind ja ein Stück Wirklichkeit, unsere Empfindungen sind Dinge wie alle anderen Dinge, in unseren Empfindungen fällt das Sein und Erkennen zusam-
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men, in unserer Erkenntnis erleben wir die Wirklichkeit selbst. Meine Empfindung ist ja doch auch ein »Ding an | sich« wie jeder andere Komplex von Dingen. Ich darf nur nicht den vorhin berührten Fehler machen, daß ich mich lediglich im Gegensatz zu den übrigen Dingen fühle, als etwas prinzipiell Anderes. In unserer Kultur, in der sich der Mensch gewöhnt, die Dinge als Objekte sich gegenüberzustellen, um sie zu analysieren, zu kritisieren, zu vivisezieren, zu mikroskopieren, wird dieses Gefühl des Gegensatzes künstlich gezüchtet. Unter solchen Bedingungen wird dem Menschen die Tatsache, daß er selbst zu den Dingen gehört, daß er selbst ein Bestandteil der Wirklichkeit ist, allmählich ganz fremd. Sobald wir uns aber einmal von einer gewaltig wirkenden Landschaft umgeben sehen, in der wir uns selbst wandernd befinden, sobald »fühlen« wir uns in dieselbe »hinein« – um diesen treffenden Ausdruck Robert Vischers zu gebrauchen – sobald wird uns die Tatsache wieder bewußt, daß wir selbst ein Stück dieser Wirklichkeit sind. Wer je einmal im Herzen der Wüste von all ihren spannungsvollen Schauern, soweit das Auge reicht, tage- und wochenlang umgeben war, wird dieses eigenartige Gefühl kennen. Hier fühlen wir uns nicht mehr außerhalb der Welt als beherrschende, sezierende Beobachter, denen die Welt gegenübersteht als Objekt. Hier fühlen wir uns selbst dazu gehörig als ein einziger Teil, hier fühlen wir uns mitten darin, hier wird es uns klar, daß wir mit all unserem Empfinden die Wirklichkeit selbst erleben und Wirklichkeit sind. Es ist ein unglücklicher Gedanke gewesen, zu unterscheiden zwischen einer Welt der Wirklich | keit und einer Welt der Erscheinungen. Die Welt ist einheitlich, nicht doppelt, und wir sind ein Bestandteil derselben wie andere auch. Infolgedessen können wir auch mit allen anderen Bestandteilen in Beziehung treten, wie die anderen Bestandteile unter sich in Beziehung treten, nach gleicher Gesetzmäßigkeit. Unsere Empfindungen sind solche Beziehungen zwischen uns und anderen
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Dingen, wie die Beziehungen anderer Dinge untereinander, und so besteht hier auch keine Grenze für unser Erkennen. Oder doch? In seiner bekannten und viel erörterten Rede über »die Grenzen des Naturerkennens«12 hat Du Bois-Reymond, der bekannte Berliner Physiologe an zwei Punkten unübersteigliche Grenzen für unsere Erkenntnis zu finden geglaubt. Darf ich Sie bitten, auch diesen Grenzen noch eine kritische Prüfung zu widmen. *** Die eine Grenze findet Du Bois-Reymond in der Unmöglichkeit, das Wesen der Materie zu begreifen. Prüfen wir diese Angelegenheit etwas näher! Verstehen wir unter Materie das Substrat der »Dinge an sich«, wie es ist, wenn wir die Dinge nicht wahrnehmen, dann ist, wie wir sahen, das Problem von der Erkenntnis dieses Substrates absurd. Verstehen wir unter Materie die Gesamtheit der Formen des Seins und Geschehens, so erkennen wir das Wesen der Materie in jedem | einzelnen Fall, indem wir die sämtlichen Bedingungen des betreffenden Zustandes oder Vorganges ermitteln. Beides ist aber hier garnicht gemeint. Gemeint ist mit dem Begriff der Materie vielmehr ein Substrat, aus dem sich alle erkennbaren Dinge aufbauen. Das setzt voraus, daß alle Dinge aus einem einheitlichen Substrat bestehen. Diese Voraussetzung ist aber trotz ihres hohen Alters ein noch keineswegs durch die Vorstellungsselektion korrigiertes Gedankengebilde. Auch unsere Naturwissenschaft enthält ja, selbst an den äußersten Spitzen, Emil Du Bois-Reymond: »Über die Grenzen des Naturerkennens«. In der zweiten allgemeinen Sitzung der 45. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Leipzig am 14. August gehaltener Vortrag. Abgedruckt in »Reden, erste Folge« 1886, Leipzig, Veit & Co. – Vgl. zur Ergänzung auch von demselben: »Die sieben Welträtsel«. In der Leibniz-Sitzung der Akademie der Wissenschaften zu Berlin am 8. Juli 1880 gehaltene Rede. Ebendort. 12
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an denen sie am weitesten in der Erkenntnis vorgerückt ist, noch immer eine Menge von Vorstellungen, deren Keime aus den ältesten Zeiten der Menschheit stammen und an denen wir andauernd herumkorrigieren.13 Dahin gehören auch die Vorstellungen von der Materie und von der Erfüllung des Raumes. Aber diese Vorstellungen sind noch immer in der Entwicklung begriffen. Wir können sie nur als provisorische Arbeitshypothesen betrachten, an denen wir fortwährend Korrekturen anbringen müssen auf Grund neuer Erfahrungen. Wie sehr sie sich noch im Fluß befinden, zeigt gerade die neueste Entwicklungsphase der physikalischen Forschung recht deutlich. Noch vor wenigen Jahrzehnten galten allgemein die Atome der chemischen Elemente als die letzten Grundbestandteile der Welt. Heute kennen wir bereits den Atomzerfall, und die Vorstellung von der Umwandlung der Metalle ineinander, die längst in die Rumpelkammer alchymistischer Phantasien verworfen war, scheint | wieder zu Ehren zu kommen. Die Elektronentheorie, die sich als Arbeitshypothese auf physikalischem Gebiet von ähnlicher Fruchtbarkeit zu erweisen beginnt wie die Atomtheorie auf chemischem Gebiet, gewöhnt uns immer mehr an den Gedanken viel kleinerer Teilchen, aus denen die Elementatome zusammengesetzt sind und von denen selbst ein Wasserstoffatom noch etwa 2000 beherbergt. Aber auch mit den Elektronen haben wir noch immer keinen einheitlichen Bestandteil der Dinge gefunden, denn wir müssen ja Es liegt im Interesse einer solchen Korrektur unserer Vorstellungen, daß wir uns immer mehr und mehr gewöhnen, die Begriffe, mit denen wir wissenschaftlich arbeiten, nicht bloß scharf zu defi nieren, sondern auch genau auf ihre Herkunft und Vorgeschichte zu prüfen. Unsere Begriffe sind sämtlich vom Menschen geschaffen und es ist daher in allen Fällen zu fragen, ob die Beobachtungen und Überlegungen, aus denen sie einst in früher Zeit entsprungen sind, heute noch eine genügende Motivierung für ihre Erhaltung abgeben. Wir sollten uns üben, an allen Grenzen der wissenschaftlichen Arbeit diese Paßrevision möglichst gewissenhaft durchzuführen. 13
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notwendigerweise zwei Arten von Elektronen voraussetzen, die negativen und die positiven. Auch wenn es gelänge, wie man vermutet hat, die positiven Elektronen etwa als Komplexe der negativen aufzufassen, was vorläufig noch auf sehr große Schwierigkeiten stößt, so bliebe noch neben den Elektronen der Äther als zweiter Bestandteil der Welt, und es würde sich fragen, ob auch die Beziehungen, die zwischen diesen beiden Bestandteilen existieren, derart sind, daß sich der eine auf den anderen zurückführen läßt. Hier ist trotz des mächtigen Impulses, den die physikalische Forschung nach einer Periode verhältnismäßiger Stagnation durch die interessanten Entdeckungen unserer Zeit erfahren hat, noch immer kein Ende abzusehen. Aber das können wir schon jetzt mit Sicherheit sagen, daß die Voraussetzung eines einheitlichen Substrats aller Dinge in der bisherigen Form nicht richtig sein kann, denn sie führt in jedem Falle zu Widersprüchen. Nehme ich an, daß das hypothetische Substrat der Dinge aus | distinkten Teilchen besteht, und wären sie auch noch so klein, so erhebt sich die Frage, womit die Zwischenräume ausgefüllt sind. Vor dem absoluten Nichts schrickt selbst die kühnste Phantasie zurück. Es müßte also noch ein zweites Substrat bestehen, durch das hindurch die materiellen Teilchen sich gegenseitig beeinflussen können. Nehme ich andererseits an, daß das Substrat aller Dinge stetig den Raum erfüllt, so wird es uns auf Grund der Vorstellungen, an die wir gewöhnt sind, wiederum schwer, die Verschiebungen, d. h. die Verdichtungen und Verdünnungen in diesem Substrat zu verstehen, die notwendig wären, um uns den Ablauf irgend eines Vorganges begreiflich zu machen. Auf jeden Fall also werden sich unsere augenblicklichen Vorstellungen über die Raumerfüllung ganz wesentlich ändern müssen, und zahlreiche neue Erfahrungen sind nötig, bis wir in diesem Punkte imstande sein werden, die Widersprüche und Schwierigkeiten zu vermeiden. Nur eine Tatsache ist wichtig, und die Durchdringung unseres Denkens mit ihr wird zweifellos dazu beitragen, uns
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auch in der Frage der Materie allmählich zu widerspruchsfreien Vorstellungen zu führen, das ist die Tatsache, daß die Erfahrung uns keine isolierten, unabhängigen, absoluten Dinge zeigt, sondern stets nur Zusammenhänge. Nirgends finden wir bei genauerer Analyse Dinge, die nicht von anderen abhängig wären. Nur die naive Betrachtung läßt uns ein Ding, etwa einen Menschen, als ein selbständiges, isoliertes System auffassen. Es ist aber ein Irrtum, | »Wenn sich der Mensch, die kleine Narrenwelt Gewöhnlich für ein Ganzes hält.« Der Mensch ist vielmehr in jeder Beziehung abhängig von seiner Umgebung. Ein ununterbrochener Stoffstrom geht von außen her durch den menschlichen Organismus hindurch. An ihn ist das Leben des Menschen gebunden. Die äußeren Lebensbedingungen spielen also eine ebenso große Rolle wie die inneren, denn beide sind eben notwendig, und nur wo beide Komplexe realisiert sind, da ist ein lebendiger Mensch. Ein Mensch ist identisch mit dem System dieser sämtlichen inneren und äußeren Bedingungen, und dasselbe gilt für jedes Ding, mag es ein Organismus oder ein lebloser Gegenstand sein. Auch ein Atom oder ein Elektron kann immer nur da vorhanden sein, wo ein bestimmter Komplex von Bedingungen besteht. Absolute, unabhängige, unbedingte Atome können nicht existieren. Jedes Atom ist abhängig von einer Menge von Bedingungen und bedingt selbst wieder andere Dinge. So ist jedes Ding Bedingtes und Bedingung zugleich. Die Aufgabe der Forschung kann nur darin bestehen, die Bedingungen festzustellen, die Abhängigkeitsverhältnisse zu ermitteln. Das ist die einzige wissenschaftliche Forschung. So erkennen wir die Gesetzmäßigkeit des Seins und Geschehens, so erkennen wir die Dinge selbst, denn jede Bedingung ist ja eben zugleich auch ein Ding. Das ist daher auch die einzige Methode, nach der wir das Problem der Materie wissenschaftlich behandeln können. Nur | auf diesem Wege werden wir allmählich zu wi-
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derspruchslosen Vorstellungen in dieser Frage gelangen. Aber wie auch einst die Antwort ausfallen mag: eine prinzipielle Grenze für die Erkenntnis ist auf diesem Wege nicht zu erblicken. Unabsehbare Strecken unbebauten Landes liegen vor uns, aber nirgends ein Zaun. Schließlich dürfen wir niemals vergessen, daß wir das, was wir als Materie, als Atom, als Elektron bezeichnen, immer nur als Gedankenkonstruktionen, also als Bewußtseinsbestandteile kennen. Diese Tatsache versetzt uns unmittelbar an Du Bois-Reymonds andere Grenze des menschlichen Erkennens, die nach seiner Meinung in der Unmöglichkeit liegt, die Bewußtseinsvorgänge zu erklären. *** Seit uralter Zeit besteht bekanntlich die Idee eines Dualismus von Leib und Seele. Diese Idee, die vom naiven Denken des prähistorischen Menschen geboren wurde14, ist so bequem, so einfach und so plausibel, daß sie in den geistigen Besitz aller Kulturvölker übergegangen ist. Ja, sie wird sogar heute durch die Lehre vom »psychophysischen Parallelismus« auf wissenEs ist bedauerlich, daß die schulmäßige Philosophie, besonders die Psychologie und Begriffskritik bisher mit der Ethnologie und Urgeschichte nur sehr vereinzelt Fühlung gewonnen hat und meistens ganz ahnungslos an den höchst wichtigen psychologischen Ergebnissen dieser Wissenschaften vorbeiarbeitet. Die ethnologische und urgeschichtliche Forschung scheint in diesen Kreisen noch immer als ein dilettantisches Sammeln von Götzenbildern und Steinbeilen der jetzigen »Wilden« und vorgeschichtlichen »Urmenschen« aufgefaßt zu werden. In Wirklichkeit hat die ethnologisch-urgeschichtliche Forschung ein Thatsachenmaterial über die Entwicklung des menschlichen Denkens zusammengebracht, das zahllose Vorstellungen und Gedankengänge unseres heutigen Geisteslebens in einem ganz neuen Lichte erscheinen läßt. Dahin gehört vor allem der unabsehbare Gedankenkreis, der die Seelenidee umgibt, jene Idee, die zu einer dualistischen Spaltung des menschlichen Wesens in Leib und Seele geführt hat. 14
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schaftlichem Nährboden künstlich gezüchtet. Es ist wahr, die primitiven Gedanken des vorgeschichtlichen Menschen allein können für uns heute keine zureichende Begründung mehr bilden. Ich frage also: was veranlaßt uns heute noch, diesen | Dualismus einer körperlichen und einer geistigen Reihe von Vorgängen anzuerkennen? Die Antwort lautet stets: es ist die Beobachtung, daß die Empfindungen, Vorstellungen, Gedanken eines anderen Menschen, an deren Existenz niemand zweifelt, nicht sinnlich objektiv wahrgenommen werden können, während eine bestimmte Reihe von körperlichen Vorgängen im Gehirn ganz gesetzmäßig und untrennbar mit diesen Bewußtseinsvorgängen parallel gehend objektiv nachweisbar ist. Aber ist das wirklich eine richtige Beobachtung? Ich behaupte, es ist eine Täuschung und die Idee eines Dualismus von körperlichen und geistigen Vorgängen ist wiederum eins von den falschen Gedankengebilden in der Geistesgeschichte des Menschen, die noch nicht durch die Vorstellungs-Selektion eliminiert worden sind. In Wirklichkeit existieren hier gar nicht zwei parallele Reihen von Vorgängen, sondern, was man künstlich in eine Zweiheit gespalten hat, ist in Wahrheit Eins.15 Sehen wir also etwas näher zu! Warum glaubt man denn, die Empfindung, die ein anderer Mensch hat, nicht objektiv wahrnehmen zu können? Lediglich weil man von einer falschen Voraussetzung ausgeht. Man deduziert so: Angenommen, wir wären in der Analyse der Vorgänge in den Ganglienzellen des Gehirns soweit vorgeschritten, daß uns bei einem Menschen in dem Moment, wo er eine bestimmte Was nachweisbar ist, das ist nicht ein Parallelismus von gewissen körperlichen Vorgängen im Gehirn und gewissen psychischen Vorgängen, sondern lediglich die Tatsache, daß die Entstehung bestimmter Bewußtseinsvorgänge notwendig bedingt ist durch bestimmte Vorgänge in den Bestandteilen der Hirnrinde. Das ist die einzige tatsächliche Grundlage. Die Lehre vom psychophysischen Parallelismus ist nichts als eine falsche Auslegung dieser Tatsache. 15
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Empfindung hat, genau die Lageverschiebung aller einzelnen Atome bekannt wäre, die gerade dieser Empfindung entspricht, so würden wir immer nur bewegte Atome wahr | nehmen, aber niemals seine Empfindung. Das ist der Gedanke, der Du BoisReymond veranlaßt, an den Empfindungen eine Grenze für die menschliche Erkenntnis zu sehen. Ich sagte, man geht bei dieser Deduktion von einer falschen Voraussetzung aus. Das zeigt sich, sobald wir uns die Frage vorlegen, was man denn bei der Analyse des Geschehens in den Ganglienzellen zu finden erwarten würde, wenn man von dieser Anschauungsweise aus sich die Empfindung als erkennbar dächte? Wie sollte denn die Empfindung des anderen etwa aussehen? Hier liegt der Fehler. Man denkt immer, man müßte die Empfindung, die der andere hat, etwa die Empfindung des Schmerzes bei einem Nadelstich, selbst haben, wenn man, während sie bei ihm besteht, in seine Ganglienzellen hineinsehen könnte. Da man aber überzeugt ist, daß man unter solchen Umständen den Schmerz des anderen nicht selbst empfinden würde, so schließt man daraus: seine Empfindung ist sinnlich nicht wahrnehmbar. Welche groteske Idee! Man läßt dabei wieder völlig den Fundamentalsatz des wissenschaftlichen Konditionismus außer acht, diesen Fundamentalsatz, der in seiner lapidaren Einfachheit lautet: ein Vorgang oder Zustand ist eindeutig bestimmt durch die Summe seiner sämtlichen Bedingungen. Also doch nur wo gleiche Bedingungen sind, kann Gleiches resultieren, wo ungleiche Bedingungen sind, ergibt sich auch Ungleiches. Wie kann ich also dieselbe Schmerzempfindung haben, die ein anderer hat, wenn er sich mit einer Nadel sticht, obwohl doch | bei mir ein ganz anderer Bedingungskomplex realisiert ist, während ich sein Gehirn ansehe! Selbstverständlich muß ich eine ganz andere Empfindung haben als er. Ich könnte ja nur dieselbe Schmerzempfindung haben wie er, wenn bei mir der gleiche Bedingungskomplex hergestellt wäre wie bei ihm, d. h. wenn ich mich selbst mit einer Nadel stäche. So aber kann ich, während ich sein
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Gehirn betrachte, doch nur die Gesichtsempfindung seines Gehirns erhalten. Aber daraus, daß ich seine Schmerzempfindung nicht selbst habe, während ich sein Gehirn untersuche, folgt doch nicht, daß seine Empfindung nicht objektiv wahrnehmbar wäre. Ich sage vielmehr: was ich da bei dem anderen sehe, wenn ich die sämtlichen Vorgänge innerhalb und außerhalb seines Gehirns analysiere, während er die Schmerzempfindung hat, das ist seine Empfindung, und der von Du Bois-Reymond vorausgesetzte Laplace’sche Geist, der die Analyse aller dieser Vorgänge in idealer Vollständigkeit durchgeführt hat, gleicht dem »Reiter über dem Bodensee«, wenn er das nicht bemerkt. Die konditionale Betrachtungsweise der Dinge macht uns auch das wieder eindrucksvoll klar. Eine Empfindung ist ein Ding wie andere komplexe Dinge, die ich mit kurzen Namen benenne. Wie »Feuer« oder »Elektrizität« oder »Licht« ist die »Empfindung« eindeutig bestimmt durch ihren spezifischen Komplex von Bedingungen. Analysiere ich diesen Komplex von Bedingungen, so analysiere ich auch die Empfindung und erkenne damit | was sie ist. Diese Bedingungen sind aber sämtlich ebenfalls Dinge und daher wie alle Dinge der objektiven Untersuchung zugänglich. Hätte ich sie also alle ermittelt, dann wäre die Empfindung erkannt, denn sie ist ja identisch mit diesem Komplex von Bedingungen, und der wissenschaftlichen Analyse bliebe hier keine Aufgabe mehr.16 Was wollte man denn etwa noch als Rest erwarten, wenn die sämtlichen Bedingungen einer Empfi ndung ermittelt wären? Was bleibt denn noch übrig, wenn man z. B. die sämtlichen Bedingungen für die Entstehung einer Gasflamme ermittelt hat? Man wird mit der Antwort in Verlegenheit kommen, sobald man noch etwas anderes sucht. Die Empfi ndung ebenso wie die Flamme ist nichts weiter als der Komplex ihrer sämtlichen Bedingungen. Der unklare Gedanke, daß auch nach Ermittelung sämtlicher Bedingungen einer Empfi ndung neben diesen sinnlich feststellbaren Bedingungen noch irgend etwas nicht sinnlich Wahrnehmbares vorhanden sein müßte, ist nichts weiter als ein heim16
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Also auch die Bewußtseinsvorgänge sind der wissenschaftlichen Erkenntnis genau so zugänglich wie alle anderen Dinge. Auch hier besteht für das menschliche Erkennen keine Grenze. licher Rest der uralten Vorstellung des primitiven Denkens, daß die Seele als ein unsichtbares, äußerst feines, hauchartiges Etwas irgendwo im Körper ihren Sitz habe und von dort aus als »Ursache« die bewußten Tätigkeiten des Körpers bewirke. Wie tief diese naiv materialistische Vorstellung auch heute noch eingewurzelt ist, zeigen besonders die immer wiederkehrenden Versuche, die beim Tode entweichende Seele mit sehr empfi ndlichen Mitteln durch ihre körperlichen Wirkungen nachzuweisen. Noch kürzlich ging durch alle amerikanischen, englischen und z. T. auch deutschen Zeitungen die ernsthaft aufgenommene Nachricht, daß es einigen Ärzten gelungen sei, das Gewicht der Seele festzustellen. »Daily Telegraph« (March 12, 1907) berichtet: »The doctors, through their spokesman, Dr. Duncan Macdougall of Boston, which as a centre of light and learning, is regarded very highly in the United States, declare that they made their investigations reverently and earnestly, to determine the existence or non-existence of a soul in the human body, and to determine also whether the departure of that soul from the human body is attended by any manifestation of nature that can be made evident to the material senses. The net result, is the conclusion that the human soul weighs about an ounce.« Also das bemerkenswerte Gewicht von etwa 30 Gramm besitzt eine Menschenseele! Es handelt sich hierbei vermutlich um einen schlechten Witz, den sich einige amerikanische Mediziner gemacht haben. Aber daß eine solche Nachricht in ernsthafter Weise von angesehenen Journalen verbreitet und diskutiert wird, ist außerordentlich charakteristisch für die naiven Anschauungen selbst der gebildeten Kreise. Daß in der Tat derartige Versuche noch heute von unterrichteten Leuten ganz ernsthaft und mit einer gewissen Spannung hinsichtlich des Resultates angestellt werden, zeigen folgende Mitteilungen, die mir vor wenigen Jahren ein russischer Gymnasiallehrer, der, wie er anführt, in Dorpat studiert hatte, gemacht hat. In einem Brief vom 24. November 1904 teilte der betreffende Herr mir mit, daß er in Anlehnung an den von Professor Wilhelm Wundt aufgestellten Satz, daß die tierische Seele das innere Sein derselben Einheit sei, welche wir äußerlich als den zugehörigen Leib wahrnehmen, Experimente ausgeführt habe, um darüber Klarheit zu erlangen, ob dieses innere Sein nicht ein materielles ist. Er schreibt: »Einige Streifen von Schaumgold, welche ich frei balanzierend an Stecknadelspitzen anbrachte, setzten sich, nachdem ich mehrere, mit ihren Beinen und Flügeln an einem Eisenstab festgebun-
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Wir dürfen der Erkenntnis nur keine Scheinprobleme hinstellen. Sonst geraten wir in Widersprüche. *** Eine einfache Überlegung bestätigt uns zum Schluß das Ergebnis unserer mühevollen Betrachtung. Wenn uns die Erfahrung zeigt, daß alle Dinge in gesetzmäßigen Abhängigkeitsbeziehungen untereinander stehen, dann müssen auch alle Dinge erkennbar sein. »Ich erkenne ein Ding« heißt, ich setze ein Ding zu mir in Beziehung. Kann ich daher von dem gesamten Weltinhalt auch nur einen einzigen Bestandteil erkennen, dann kann ich alle Bestandteile erkennen, die mit ihm und untereinander in Beziehung stehen, auch diejenigen, die
dene Krähen (resp. Fledermäuse) in eine große mit Wasser gefüllte Glasburke getaucht und über die Wasserfläche eine mit obigen Stecknadeln versehene Platte aus dicker Pappe (resp. porösem Holze) angebracht hatte, einige Minuten nach dem Ertrinken der Tiere in eine andauernde, heftige Bewegung, welche an das Flattern von Krähen resp. Fledermäusen erinnerte.« Analoge Versuche »unter Anwendung von dickflüssigem Gummi als Ertränkungsmittel und feinem Spinngewebe« als Indikator hatten denselben Erfolg. Der Experimentator spricht nach diesen Versuchen die »Vermutung« aus, daß die von ihm »konstatierte tierische Seele jedenfalls eine farblose, luftförmige Stickstoffmasse ist, welche, wie es scheint, die Form ihres zugehörigen, zum weiteren Verbrauch von Sauerstoff unfähigen Körpers beibehält«. In einer Postkarte vom 30. November widerruft er aber seine Schlußfolgerung, da er sich überzeugt hat, daß die Bewegungen des Flittergoldes und der Spinngewebe durch fehlerhafte Versuchsanordnung zustande gekommen waren. In einem Telegramm vom 1. Dezember nimmt er dann diesen Widerruf wieder zurück und in einer darauf folgenden Postkarte bestätigt er durchaus die Richtigkeit seiner ersten Angaben. Man sieht, wie außerordentlich die Frage den Herrn erregt hat. Dieses charakteristische Beispiel zeigt, daß selbst in gebildeten Kreisen die naive Idee der Naturvölker von einer luftförmigen, farblosen Seele, welche die Gestalt ihres Besitzers hat, und mit dem Tode in dieser Gestalt entweicht, noch heute ihr spukhaftes Dasein fristet. Räumen wir doch wenigstens im Gebiete moderner Bildung endlich auf mit diesen steinzeitlichen Anschauungen!
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nicht meine Sinnesorgane unmittelbar affizieren. Nur Dinge, die zu den gesetzmäßig bedingten Bestandteilen der Welt in keinerlei Beziehung ständen, nur Dinge, die mit unserem Weltinhalt sich in keinem Punkte berührten, wären unerkennbar. Es bleibt jedem | überlassen, ob er neben unserer Welt noch eine Welt annehmen will, die mit unserer in keiner Beziehung steht.17 Wenn ihn das befriedigt, so mag er es tun. Wissenschaftlich erledigt sich eine solche Phantasieschöpfung von selbst. Erkennbar ist auf jeden Fall die ganze bestehende Gesetzmäßigkeit unserer Welt. Hier finden sich keine prinzipiellen Schranken für unsere Erkenntnis. Das ergibt sich mit eiserner Notwendigkeit. Aber noch Eins. Die Erfahrung zeigt uns nirgends in der Welt ein Ende, nirgends einen Punkt, wo die Dinge begrenzt wären. Der Begriff der Endlichkeit und Begrenztheit entspringt nur oberflächlicher Beobachtung, die bedingt ist durch den Umstand, daß wir mit unseren Sinnen immer nur eine beschränkte Zahl, ein begrenztes System von Dingen gleichzeitig wahrnehmen können. Bei genauerer Analyse dagegen ergibt sich stets, daß die Dinge untereinander in unabsehbaren Zusammenhängen stehen. Ein begrenztes Ding wäre ein absolutes Ding und absolute Dinge kennen wir nicht. Nicht der Begriff der Endlichkeit und Begrenztheit, sondern der Begriff der Unendlichkeit und Unbegrenztheit entspricht der Erfahrung. Unendlich und unbegrenzt wie unsere Welt ist demnach für uns auch die Möglichkeit ihrer Erkenntnis. Also nur kein lähmendes »Ignorabimus«, nur keine trübe Resignation – dazu ist kein Grund – sondern frische und freudige Forschung! ______________ Wenn aber eine solche andere Welt auch nur an einer einzigen Stelle mit der unsrigen zusammenhinge, wenn sie nur an einem einzigen Punkte auf die unsrige einen Einfluß ausübte, dann wäre sie keine zweite Welt mehr, dann wäre sie ein Bestandteil der unsrigen, dann unterläge sie derselben Gesetzmäßigkeit und wäre erkennbar wie unsere Welt. Das darf nicht übersehen werden. 17
TEXTKRITISCHE ANMERKUNGEN
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elektrischen] elektischen des] der zurückwies] zuzückwies »durch] durch sein.«] sein. Descendenz-Theorie] Desscendenz-Theorie leugnet.«] leugnet. Gebiete.] Gebiete Jetztzeit] Jetzzeit Herrscherrolle] Herscherrolle worden wären] worden und] und und continuirlich] contuinirlich entstanden] enstanden Abstufung] Abstufnng dieselbe] diesselbe essentia] eessentia gegangen] gegangnn ist in] ist Entwicklung] Enttwicklung möglichst] möglicht
PERSONENVERZEICHNIS
Dieses Verzeichnis erfaßt nur historische Personen und ihre Lebensdaten; ferner gibt es Hinweise auf wichtige berufliche Stationen. Alembert, Jean-Baptiste le Rond d′ (1717–1783), Mathematiker und Physiker 5, 34 Anselm von Canterbury (1033– 1109), Theologe und Philosoph 171 Aristoteles (384–322 v.Chr.), Philosoph 174 Augustinus von Hippo, Augustinus von Thagaste (354–430), Theologe und Philosoph 171, 176 Bacon, Francis (= Baron Baco von Verulam), Philosoph und Politiker (1561–1626) 208 Bayle, Pierre (1647–1706), Schriftsteller und Philosoph 5, 166, 173 f. Berkeley, George (1685–1753), anglikanischer Theologe und Philosoph 38, 75 Bernard, Claude (1813–1878), Arzt und Physiologe 180 Bidder, Georg Friedrich Karl Heinrich (1810–1894), Pathologe und Physiologe 6 Biot, Jean-Baptiste (1774–1862), Physiker und Mathematiker 17 Boussinesq, Valentin Joseph
(1842–1929), Mathematiker und Physiker 179–181, 183 f. Büchner, Ludwig (1824–1899), Arzt und Naturwissenschaftler, jüngerer Bruder Georg Büchners 29, 46, 50, 97 f. Buridan, Johannes (ca. 1300– 1358), Philosoph, Physiker und Logiker 174 f., 183 Cabanis, Pierre-Jean-Georges (1757–1808), Arzt, Physiologe und Philosoph 98, 141 Calvin, Johannes (1509–1564), Theologe, Reformator 171, 176 Carnot, Lazare Nicolas Marguerite (1753–1823), Offizier, Mathematiker und Politiker 4, 56 Cicero, Marcus Tullius (106 v. Chr.–43 v. Chr.), Politiker, Anwalt, Schriftsteller und Philosoph 170, 176 Comte, Auguste (1798–1857), Mathematiker, Philosoph und Religionskritiker 84, 204 Cournot, Antoine-Augustin (1801–1877), Mathematiker und Ökonom 179 f.
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Personenverzeichnis
Czolbe, Heinrich (1819–1873), Militärarzt 46, 99 Czermak (= Tschermak), Johann Nepomuk (1828–1873), Physiologe 38 Clauberg, Johannes (1622–1665), Theologe und Philosoph 16 Clausius, Rudolf Julius Emanuel (1822–1888), Physiker 223 Cousin, Victor (1792–1867), Philosoph und Kulturtheoretiker 15 Dante, Alighieri (1265–1321), Dichter 174, 183 Darwin, Charles (1809–1882), Naturforscher 24, 29, 54, 117, 165 Demokrit; Demokritos (459–400 v.Chr.), Philosoph 237 Descartes, René (1596–1650), Philosoph 9, 15 f., 23, 52, 60, 64, 97, 178, 191 Dilthey, Wilhelm (1833–1911), ab 1866 Professor der Philosophie an der Universität Basel, ab 1868 in Kiel, ab 1871 in Breslau, ab 1882 in Berlin 193 Donders, Franciscus Cornelis (1818–1889), Physiologe 6, 20 Du Bois-Reymond, Emil Heinrich (1818–1896), ab 1849 Dozent für Anatomie an der Berliner Akademie der Künste, ab 1855 Professor für Physiologie an der Universität
Berlin, ab 1858 Direktor des Physiologischen Instituts der Universität Berlin 1, 14 f., 24, 31, 39, 41, 43, 56–67, 69–73, 109, 114 f., 124f., 135, 139–141, 143, 152–154, 156, 158, 160, 162–165, 194, 198 f., 219 f., 234–236, 253 f., 277, 281, 283 f. Erdmann, Johann Eduard (1805–1892), ev. Theologe und Philosoph, ab 1839 Professor der Philosophie in Halle 5, 21, 166 Eriugena (= Erigena), Johannes Scottus (= Scotus) (9. Jh.), Theologe und Philosoph 171 Erman, Paul (1764–1851), ab 1809 Professor der Physik an der Universität Berlin 11, 155 Euler, Leonhard (1707–1783), Mathematiker 218 Fechner, Gustav Theodor (1801– 1887), ab 1834 Professor der Physik an der Universität Leipzig, 1839 Rücktritt aus gesundheitlichen Gründen, ab 1843 Professor für Naturphilosophie und Anthropologie 10, 17, 19, 25 Fichte, Johann Gottlieb (1762– 1814), Philosoph 38, 101 Fischer, Gustav (1845–1910), Verleger 265 Flechsig, Paul Emil (1847–1929), ab 1877 a. o. Professor der
Personenverzeichnis Psychiatrie an der Universität Leipzig, ab 1894 Professor der Psychiatrie 259 Galiani, Ferdinando Coelestinus (1728–1787), Diplomat, Ökonom und Schriftsteller 165 Galilei, Galileo (1564–1642), Mathematiker, Physiker, Astronom und Philosoph 179, 216, 225 Gassendi, Pierre (1592–1655), kath. Theologe, Naturwissenschaftler und Philosoph 87 Gauß, Carl Friedrich (1777– 1855), ab 1807 Professor der Astronomie und Direktor der Göttinger Sternwarte 238 Geulincx, Arnold (1624–1669), kath. Theologe, Logiker und Philosoph, konvertierte zum Calvinismus 16 Goethe, Johann Wolfgang von (1749–1832), Dichter 193 Haeckel, Ernst Heinrich Philipp August (1834–1919), Zoologe und Philosoph, ab 1865 Professor für Zoologie in Jena 29, 198 Harms, Friedrich (1819–1880), ab 1858 Professor der Philosophie an der Universität Kiel, ab 1867 Professor der Philosophie an der Universität Berlin 10, 16 Hartmann, Karl Robert Eduard von (1842–1906), 1858 Ein-
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tritt in das Gardeartillerieregiment in Berlin, 1865 Ende der militärischen Laufbahn aufgrund gesundheitlicher Probleme, 1867 Promotion an der Philosophischen Fakultät der Universität Rostock, Rufe an die Universitäten Leipzig, Göttingen und Berlin wurden abgelehnt, lebte als Privatmann in Berlin 27 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770–1831), Philosoph 28, 49, (52), 100, (101) Helmholtz, Hermann Ludwig Ferdinand von (1821–1894), Physiologe und Physiker 8, 11, 86, 98 f., 163, 223, 234 Herbart, Johann Friedrich (1776–1841), ab 1805 a. o. Professor in Göttingen, ab 1809 Professor der Philosophie und Pädagogik in Königsberg 29, 49 Hering, Karl Ewald Konstantin (1834–1918), ab 1865 Professor der Physiologie und medizinischen Physik in Wien, ab 1870 Professor der Physiologie an der Universität Prag, ab 1895 Professor der Physiologie und Direktor des Physiologischen Instituts an der Universität Leipzig 38 Hertz, Heinrich Rudolf (1857– 1894), ab 1885 Professor der Physik an der Technischen Hochschule Karlsruhe, ab
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Personenverzeichnis
1889 Professor für Physik an der Universität Bonn 219 Hobbes, Thomas (1588–1679), Philosoph 53 Holbach, Paul Henri Thiry d’ (1723–1789), Philosoph 28 Humboldt, Alexander von (1769–1859), Naturforscher 13 Hume, David (1711–1776), Philosoph, Ökonom und Historiker 35, 53, 61, 72, 255 Huygens (= Huyghens), Christiaan (1629–1695), Astronom, Mathematiker und Physiker, Begründer der Wellentheorie des Lichts 16, 168, 218 Janet, Paul Alexandre René (1823–1899), ab 1864 Professor der Philosophie an der Pariser Sorbonne 181 Kant, Immanuel (1724–1804), Philosoph 2, (11), 27, (28), 29, 36, 39 f., 42, 45, (51), 52– 54, 61, 70, 73, 78, 97, 135, 154, 178, 199, 257 Karsten, Gustav (1820–1900), ab 1847 Professor der Mineralogie und Physik an der Universität Kiel 10 Kirchhoff, Gustav Robert (1824– 1887), ab 1875 Professor für theoretische Physik an der Universität Berlin 162, 228 Kirchmann, Julius Hermann von (1802–1884), Jurist und Politi-
ker, seit 1846 Vorsitzender der Philosophischen Gesellschaft in Berlin, 1868 Gründung der Philosophischen Bibliothek 99, (257) Kopernikus, Nikolaus (1473– 1543), Jurist, Arzt, Mathematiker und Astronom 223 La Mettrie, Julien Offray de (1709–1751), Arzt und Philosoph 156, 161 Lange, Friedrich Albert (1828– 1875), Philosoph, Pädagoge, Ökonom und Sozialist 45, 156 Langwieser, Carl (?–?), Psychiater 62, 66, 73 Laplace, Pierre-Simon (1749– 1827), Mathematiker und Astronom 3 f., 7, 11, 18, 22, 34, 38, 56–58, 63, 68, 99, 121 f., 124 f., 176, 194 Lavoisier, Antoine Laurent de (1743–1794), Chemiker 83, 173 Leibniz, Gottfried Wilhelm (1646–1716), Philosoph, Diplomat, Mathematiker und Physiker 5, 9, 16 f., 21, (24), 25, (153), 154, 158, 160, 162 f., (165), 166–169, 172–177, 179, 185, (277) Liebig, Justus von (1803–1873), ab 1825 Professor der Chemie und Pharmazie in Gießen, ab 1852 Professor in München 45 f., 78–80, 93 f.
Personenverzeichnis Lipps, Theodor (1851–1914), Philosoph und Psychologe 256 Locke, John (1632–1704), Philosoph 21, 53, 99, 166, 168, 255 Lotze, Rudolf Hermann (1871– 1881), Mediziner und Philosoph, ab 1844 Professor der Philosophie in Göttingen, ab 1880 Professor in Berlin 101, 199 Luther, Martin (1483–1546), Theologe, Reformator 83, 171 Lyell, Charles (1797–1875), ab 1831 Professor der Geologie am King’s College London 78 MacDougall, Duncan (1866– 1920), Arzt 285 Magnus, Heinrich Gustav (1802–1870), Physiker und Chemiker 8 Malebranche, Nicolas (1638– 1715), Philosoph 16 Mayer, Julius Robert (1814– 1878), Arzt und Physiker 98, 222 f., 225 Mendelssohn, Moses (1729– 1786), Philosoph 199 Mill, John Stuart (1806–1873), Philosoph und Ökonom 98, 189 Mohl, Hugo von (1805–1872), Botaniker, Physiologe und Arzt 51, 97, 100 Moleschott, Jakob (1822–1893),
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Arzt, ab 1856 Professor der Physiologie in Zürich, ab 1861 in Turin, ab 1879 in Rom 29 Mozart, Wolfang Amadeus (1756–1791), Komponist 14 Müller, Johannes Peter (1801– 1858), ab 1830 Professor der Physiologie und vergleichenden Anatomie in Bonn, ab 1833 Professor der Anatomie und Physiologie in Berlin 6, 13 Nägeli, Carl Wilhelm von (1817–1891), ab 1952 Professor der Botanik an der Universität Freiburg i.Br., ab 1856 Professor der Allgemeinen Botanik in Zürich, ab 1857 Professor der Allgemeinen Botanik und Mikroskopie in München 109 Newton, Isaac (1643–1727), Naturforscher 7, 9, 53, 87, 96, 162, 216, 218, 238 Oken, Lorenz (1779–1851), ab 1807 a.o. Professor der Medizin in Jena, ab 1827 Professor der Physiologie in München, ab 1832 Professor der Naturgeschichte, Naturphilosophie und Physiologie in Zürich 100 Ostwald, Wilhelm (1853–1932), ab 1882 Professor der Chemie am Polytechnikum in
Personenverzeichnis Steffens, Henrich (1773–1845), Philosoph, Naturforscher und Dichter 100 St. Pierre, Jacques-Henri Bernadin de (1737–1814), Schriftsteller 13 Strauß, David Friedrich (1808– 1874), ev. Theologe, Philosoph und Schriftsteller 156–158, 160, 169 f., 184 Tait, Peter Guthrie (1831–1901), Physiker 162f. Thomas von Aquin (ca. 1225– 1274), Theologe und Philosoph 191 Thomson, Sir William (1824– 1907), Physiker 162–164, 223 Trendelenburg, Friedrich Adolf (1802–1872), Philosoph, Philologe und Pädagoge 49 Tyndall, John (1820–1893), Physiker 21, 38 Ueberweg, Friedrich (1826– 1871), Philosoph 72, 105 Uhthoff, Wilhelm (1853–1927), Augenarzt 258 Valla, Lorenzo (= Laurentius) (ca. 1405/07–1457), Humanist 175 Verworn, Max (1863–1921), ab 1895 a. o. Professor der Physiologie in Jena, ab 1901 in
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Göttingen, ab 1910 in Bonn, 1902 Gründung der Zeitschrift für allgemeine Physiologie 253, 265 Vischer, Robert (1847–1933), Kunsthistoriker und Ästhetiker 276 Vogt, Carl (1817–1895), ab 1847 Professor der Zoologie in Gießen, ab 1852 Professor der Geologie, ab 1872 Professor der Zoologie in Genf 25, 29, 36, 46, 60, 98, 141 Voit, Carl von (1831–1908), Physiologe und Ernährungswissenschaftler 106f. Voltaire (= François Marie Arouet) (1694–1778), Schriftsteller und Philosoph 15 Vulpian, Edmé Félix Alfred (1826–1887), Physiologe und Neurologe 6 Watt, James (1736–1819), Ingenieur 14 Wundt, Wilhelm Maximilian (1832–1920), Physiologe, Psychologe und Philosoph 285 Zenon von Kition (ca. 333/332 v. Chr.–262/261 v. Chr.), Philosoph, Begründer der Stoa 171, 176 Zöllner, Johann Karl Friedrich (1834–1882), Physiker und Astronom 30, 38, 74, 76, 100