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German Pages 320 Year 1995
Hegel-Studien Herausgegeben von Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler
Beiheft 35
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Politik und Geschichte Zu den Intentionen von G. W. F. Hegels Reformbill-Schrift Herausgegeben von Christoph Jamme und Elisabeth Weisser-Lohmann
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Inhaltlich unveränderter Print-on-Demand-Nachdruck der Auflage von 1995, erschienen im Verlag H. Bouvier und Co., Bonn.
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-1519-2 ISBN eBook: 978-3-7873-3077-5 ISSN 0073-1578
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Inhalt Christoph Jamme, Jena Einleitung
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I Parlamentarismus und Reform P. Wende, Frankfurt, W. Steinmetz, London, A. Wirsching, München, G. Lottes, Gießen Anmerkungen zum historischen Umfeld der englischen Parlamentsreform des Jahres 1832 Peter Wende, Frankfurt Die Diskussion der Reformvorschläge im britischen Parlament
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. .
41
Michel John Petry, Rotterdam The Prussian State Gazette and the Morning Chronicle on Reform and Revolution
61
Hartwig Brandt, Marburg Parlamente in Deutschland um 1830. Umrisse einer Institution . .
95
Andreas Wirsching, München Das Problem der Repräsentation im England der Reformbill und in Hegels Perspektive
105
Willibald Steinmetz, London Erfahrung und Erwartung als Argumente in Hegels ReformbillSchrift und in der parlamentarischen Debatte in England
127
Günther Lottes, Gießen Hegels Schrift über die Reformbill im Kontext des deutschen Diskurses über Englands Verfassung im 19. Jahrhundert
151
II Hegel und die Reformbill Norbert Waszek, Paris Auf dem Wege zur Reformbill-Schnit
177
Emst VoUrath, Köln Hegels Wahrnehmung Englands
191
Hans-Christian Lucas, Bochum Ehe „tiefere" Arbeit. Hegel zwischen Revolution und Reform
. ..
207
Howard Williams, DyfieldAVales Political Philosophy and Philosophy of History in Hegels Essay on the English Reform Bül
235
Norbert Madu, Köln Das englische Reformgesetz und die Bedeutung der öffentlichen Meinung in Hegels Rechtsphilosophie
249
Stephan Skaiweit, Köln Die Reformbill in Hegels Schrift und in Dahlmanns „Politik"
261
. . .
Elisabeth Weisser-Lohmann, Bochum Englische Reformbill und preußische Städteordnung
281
Auswahlbibliographie
311
Personenregister
316
EINLEITUNG I. Die Schrift Über die englische Reformbill ist die letzte von Hegel selbst veröffentlichte Arbeit. Sie entstand aus durchaus kontingentem Anlaß. Im Winter 1830/31 mußte Hegel — auf höchsten Druck, wohl von Altenstein oder dem Kronprinzen — wieder über Rechtsphilosophie lesen, was dann Michelet übernahm; außerdem las er Philosophie der Geschichte mit dem Schwerpunkt Neuzeit, und aus dem Schluß dieser Vorlesung heraus (wo er auch schon seine Bedenken gegenüber der englischen ReformbUl äußert) schrieb er die Reformbill-Schnit, unmittelbar nachdem die Bill in England mit der Mehrheit von nur einer Stimme in der zweiten Lesung des Unterhauses am 23. März 1831 verabschiedet worden war. Die Schrift erschien anonym in der Allgemeinen Preußischen Staatszeitung 1831 (begonnen am 26. April, es folgten zwei Fortsetzungen). Der Schluß (4. Folge) durfte nicht erscheinen, weil der preußische König außenpolitische Rücksichten nehmen zu müssen glaubte; er wurde nur als Privatdruck an Freunde und Interessenten verteilt (da bisher jedoch kein Exemplar aufgefunden werden konnte, ist nicht sicher, ob der ganze Artikel oder nur der Schluß gedruckt wurde). Die Urteile über diese Hegelsche Schrift, einen Essay in politischem Journalismus, schwanken seit ihrem Entstehen: war den Schülern die Schrift eher peinlich und sah man später in ihr die konservativste, wenn nicht die reaktionärste Schrift des Philosophen, so gibt es in der heutigen Forschung gewichtige Stimmen, die in ihr eine der „bestinformierten und radikalsten Kritiken an den in England herrschenden sozialen Verhältnissen" (Avineii) sehen. Diese Ambivalenz ist der Schrift selbst eigen. Vordergründig geht es Hegel um eine Auseinandersetzung mit der englischen Wahlrechtsproblematik; in Wahrheit aber geht es hier um das Problem der Revolution, genauer um Reform als Revolutionsprophylaxe. Hegel diskutiert die Frage am Beispiel Englands, weil England sich dem im Europa des ausgehenden 18. Jahrhunderts verbreiteten „Virus" (Tocqueville) des Jakobinismus zu entziehen vermocht hatte, indem das politische System die umstürzlerischen Kräfte zu kanalisieren und
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ZU hemmen verstand. Nach der Französischen Revolution war Englands hierarchische Sozialstruktur erhalten geblieben und mit ihr die Vorherrschaft des Anglikanismus. 1793 hatte Pitt dem französischen Dekret der Brüderlichkeit den Kampf angesagt, Fox hatte ihm widersprochen. Ein revolutionärer Aufstand in Irland scheiterte dann im Mai 1798. Zu einer bürgerlichen Revolte kam es in England erst zwischen 1828 und 1832, als der konfessionelle Staat aufgelöst und das Wahlrecht reformiert wurde. Mit dem sozialen Aufstieg der unterrepräsentierten Schichten in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurde das Problem der Wahlreform noch dringlicher, als es für Foxens „Whig"-Partei um die Jahrhundertwende gewesen war. Whigs und Liberale als Anwälte der Reform nehmen sich jetzt der middle classes (d. h. des Wirtschaftsbürgertums) und ihrer Anliegen an. Flegels Anlaß, sich mit den englischen Verhältnissen zu beschäftigen, ist in seiner Beunruhigung durch die Pariser Juli-Revolution zu suchen^, außerdem durch die belgische Revolution 1830. Der Flauptanstoß lag aber in den Ereignissen in England: die Wahlen fielen zu Gunsten der Opposition aus, und das neue Kabinett Grey brachte am 1. März 1831 die Gesetzesvorlage für eine Wahlreform ein. Den Höhepunkt der parlamentarischen Auseinandersetzung bildete die zweite Lesung der Reformbill im House of Lords im April 1832. Die Reformbill selbst entstammt einer sensiblen politischen Lage: ein Jahr nach der Juli-Revolution in Frankreich und unmittelbar vor einer Reform der englischen Repräsentativverfassung. Ab 1832 beginnt das englische Parlament dann seinen ancien regime-Charakter zu verlieren (die endgültige Ratifizierung erfolgte am 7. 6. 1832). Über all diese Vorgänge war Hegel bestens informiert; einen Großteil seiner Informationen bezog er aus dem utilitaristisch gesteuerten Morning Chronide^. Hegels Interesse gilt vor allem der Analyse des soziologischen und institutioneilen Hintergrundes der politischen Manöver, mit der die Reformbill durch das Parlament gebracht wurde. Ein Leitmotiv seiner Exzerpte bildet darüberhinaus die Auseinandersetzung mit Benthams utilitaristischen Reformideen. Hegel beklagt in seiner Schrift das Modemitäts- und Rationalitätsdefizit der englischen Gesellschaft. Sein Grundargument ist, daß die struktmellen Mängel der englischen Gesellschaft durch eine bloße Änderung ' Vgl. Briefe von und an Hegel. Bd 3. 310 f, 341. Vgl. auch die zwei Blätter mit Notizen für die Reformbill-Schiilt, abgedruckt in: Hegel: Berliner Schriften. Hrsg, von J. Hoffmeister. Hamburg 1956. 782-785. 2 Vgl. die Edition der Hegelschen Exzerpte durch M. J. Petry: Hegel and the ,Morning Chronicle'. In: Hegel-Studien. 11 (1979), 11-80.
Einleitung
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des Wahlrechts nicht behoben werden können. Dazu bedürfe es vielmehr einer durchgreifenden Reform der sozialen Verhältnisse in England. Die Reformbill stelle hier nur eine halbherzige Maßnahme dar. Zwar dränge sie das aristokratische Element zurück, doch vergrößere sie die Gefahr einer gewaltsamen Revolution. Hegel fürchtete am Schluß das Parteienwesen: homines novi bringen von Frankreich her neue Prinzipien in die Faktion ein, die gefährlich sind; zu gewärtigen seien perennierende Revolutionen, ln der Reformbill-Schnit weist Hegel darauf hin, daß das englische Recht (das Hegel nicht richtig versteht) dazu neige, Privilegien zu unterstützen, die eine revolutionäre Situation hervorbringen. Auffällig ist der große Nachdruck, der auf die Bedeutung der öffentlichen Meinung gelegt wird — ein Impetus bei Hegel von früh an. Außerdem nimmt er hier Thesen von 1798 wieder auf, die sich in einer Niederschrift über die englische Armengesetzgebung finden^. Die Absicht von Hegels Schrift ist bis heute unklar. Im Kern steht er ratlos da: zwar müsse etwas geändert werden, aber diese Veränderung dürfe nicht den Boden für eine umfassende Revolution bereiten. Hegel befand sich wohl angesichts der Reformbill in einem Dilemma. Auffällig ist, daß er das Problem der Reform nicht diskutiert und damit das Grundmotiv der Debatte verfehlt. Allerdings müßte gefragt werden, ob die Debatte nicht vielleicht erst die politische Theorie der Reform als Reform bewußt gemacht hat^. Zu fragen wäre auch, ob Hegel die Reformbill deshalb nicht verstehen konnte, weil er das Staatliche mit dem Politischen zu rasch identifizierte. Vor Augen halten muß man sich darüberhinaus auch, daß alle deutschen Diskussionen über England im Vormärz verkappte Diskurse über Deutschland sind — Hegel bildet hier keine Ausnahme. Sein Brief an Beyme^ zeigt, daß er die Schrift geschrieben hat, um einem ständigen Ausspielen der englischen gegen die preußische Verfassung den Boden zu entziehen. Hegel will in Schutz nehmen, was in Preußen 1823 zur Macht gelangt war, aber vielleicht will er camoufliert auch Kritik an Preußen üben^. Gegenüber dem englischen Wahlmodus ist er aus zwei Gründen skeptisch: einmal weil kaum jemand wählt (wegen der Eigentums-Bindung des Wahlrechts), zum an^ Vgl. K. Rosenkranz: G. W. F. Hegels Leben. Berlin 1844. 85. Vgl. den Artikel „Reform" in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. v. O. Brunner, W. Conze, R. Koselleck. Bd. 5. Stuttgart 1984. 313 ff. 5 Ediert bei H. Schneider: Dokumente zu Hegels politischem Denken 1830/31. In: Hegel-Studien. 11 (1979), 81-84. * Vgl. E. Kiss, in: Archiv für Geschichte der Philosophie. 71 (1989), 23—38.
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CHRISTOPH JAMME
deren weil die Wähler keinen Einfluß auf die Abgeordneten haben. Innerhalb der englischen Verfassungsdiskussion geht Hegel mit den englischen Skeptikern in der Warnung vor einer Atomisierung der Gesellschaft konform. Im Mittelpunkt steht das Problem der Politikmündigkeit der Bürger. Gegenüber dem englischen Modell lobt Hegel die Wirksamkeit der preußischen Beamtenschaft als Parlamentssurrogat, ln jedem Fall sieht Hegel das, was er am Beispiel England diskutiert, auch auf Preußen zukommen (in diese Richtung interpretierte er etwa die Diskussion der Städteordnung). Im Vergleich mit anderen Stellungnahmen fiel Hegels Urteil über England völlig aus dem zeitgenössischen Meinungsbild heraus. Seine Reformbill-Schriit blieb denn auch ohne größere publizistische Wirkung — in Deutschland, erst recht im England der 30er Jahre. Die Geschichte der politischen Publizistik in Deutschland beginnt aber auch erst in den 1830er Jahren. 11.
Der vorliegende Sammelband dokumentiert die Beiträge eines interdisziplinären Gespräches zwischen Historikern und Philosophen, das — mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen-Stiftung Köln — vom 30. September bis 2. Oktober 1992 an der Ruhr-Universität Bochum stattgefunden hat. Dieses Gespräch kreiste vor allem um drei Schwerpunkte: um die Verhältnisse in England zu Beginn des 19. Jahrhunderts, um Hegels politische Philosophie und schließlich um die Geschichte und Struktur der politischen Publizistik zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Der erste Teü der Beiträge beschäftigt sich mit der englischen Parlamentsreform des Jahres 1832 und deren historischem Umfeld. Es gibt bisher, so wird etwa in dem Beitrag von Peter Wende deutlich, keine politische Theorie der Reform (im Gegensatz zur Revolution), weshalb Wende sich in seinem Beitrag auf die Rhetorik der Reform 1832 beschränkt. Michael J. Petry geht der Frage nach, warum ausgerechnet das Kabinett Grey, das aristokratischste des 19. Jahrhunderts in England, nach Wegen zur besseren „representation of the people" suchte. Dies geht zurück auf Schwächen der englischen Aristokratie Ende des 18. Jahrhunderts. Die politisch einflußreichsten philosophischen Radikalen in England damals waren die Bentham-Anhänger. James Mül propagierte zur Durchsetzung der Reformideen das Medium von Zeitschriften; Müls Freund John Black übernahm 1817 die Herausgeberschaft des Morning Chronicle,
Einleitung
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des führenden Whig-Oppositionsblattes. Hegel las dieses Organ regelmäßig, ohne zu wissen, daß Bentham dahinterstand, und übernahm eine Menge von Blacks Argumenten. Was die Situation im Preußen der damaligen Zeit angeht, so informierte sich Hegel darüber durch die Allgemeine Preußische Staatszeitung. Doch Preußen hatte keine zentrale repräsentative Versammlung, sondern nur dezentrale Provinzparlamente. Deshalb wurde die Reform lokaler Regierungen zum großen Thema seit den 1820er Jahren. Im Oktober 1831 besuchte Eduard Gans Bentham in England, um ihn vielleicht als möglichen Bündnispartner für die Kodifizierungsdebatte zu Hause zu gewinnen. Eventuell, so die Vermutung von N. Waszek, hat Hegel durch Gans mehr von Bentham erfahren, als wir bisher wissen. Hartwig Brandt macht in seinem Beitrag über den Parlamentarismus in Deutschland um 1830 darauf aufmerksam, daß die deutschen Landtage nach 1830 aufblühten, weil die herkömmlichen Stände in Auflösung begriffen waren. „1830 ist das Geburtsjahr moderner politischer Kultur in Deutschland." Davon nimmt Hegel überhaupt keine Kenntnis. Andreas Wirsching zeigt, daß das Thema „Repräsentation" für unsere Fragestellung wichtig ist: es war die Wurzel der Wahlrechtsreform in England und Hegels zentrales Problem. Wirsching rekonstruiert die Verfassungsdiskussion in England zwischen 1770 und 1830, die Kritik am bestehenden anachronistisch gewordenen Repräsentativsystem. Drei Repräsentationstheorien konkurrierten miteinander: konservative, naturrechtlich-demokratische und utilitaristische. Hegel verwirft die aufgeklärt-liberale Repräsentationstheorie und geht mit den englischen Skeptikern konform. England mit seiner Absage an abstrakte Prinzipien und Fanatismus ist für Hegel — trotz des Vorwurfs der Pervertierung der Interessenrepräsentation — eine Antithese zu Frankreich. Willibald Steinmetz fragt nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten in der Argumentation der britischen Politiker und Hegels. Dabei erhellt er Parallelen z. B. auf der formalen Ebene der Argumentationsfiguren. Steinmetz stellt die Erfahrungsargumente und schließlich die prognostischen Argumente der Reformbill-Dehatte und Hegels einander gegenüber. Für die taktischen Sprachmanöver interessiert sich Hegel nicht, er setzt sich nur inhaltlich-analytisch damit auseinander. Für England gibt es bei Hegel neben der vielzitierten Revolutionsprognose auch eine Stabilitätsprognose. Ausgehend von diesem Beitrag ergibt sich die Frage nach der Einordnung von Hegels Schrift in den zeitgenössischen rhetorischen Kontext in Preußen, d. h. einmal nach der Einordnung in den Streit um die Kodifikation des Privatrechts (Hegel versus Savigny), dann
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CHRISTOPH JAMME
in die Debatte um die Repräsentation in den deutschen Staaten (das Provinzialständesystem in Preußen sieht Hegel als ausreichend an) und schließlich in die Debatte um die Veränderung der Städteordnung, ln der Diskussion wurde von Otto Pöggeler dann die Frage aufgeworfen, ob der Zugang von Steinmetz nicht insgesamt unangemessen sei, denn Hegels poietische habe mit der rhetorisch-pragmatischen Geschichtsschreibung gebrochen; die englischen Parlamentsdebatten seien ihm bloßes Geschwätz gewesen. Günther Lottes fragt zunächst nach der politiktheoretischen Verarbeitung der historischen Erfahrung Englands und Frankreichs des 18. Jahrhunderts, vor allem dann während der Revolution. In Deutschland kam es zu einer „konservativen Umdeutung der politiktheoretischen Lehren, die aus der englischen Erfahrung zu ziehen waren". Nach 1848 änderte sich erneut der Stellenwert der Berufung auf England im deutschen Verfassungsdiskurs; so bemühten sich die Liberalen, „ihre archaisierende Version des englischen Modells in den Dienst der Modernisierung der deutschen politischen Kultur zu stellen", die Konservativen nutzten das Modell für den entgegengesetzten Zweck. Hegels Reformbill-Schnft steht quer zum Kontext des deutschen Englanddiskurses: die von Liberalen wie Konservativen anerkannte Modernität Englands wird von ihm bestritten. Man kann fast von einer „Entmythologisierungsabsicht" des „Mythos" England sprechen. Zu einem Umschlag des Englandbildes in Deutschland kam es dann ab 1870 (mit dem Gegensatz von „Händlern" und „Helden"). Die Beiträge des zweiten Teils des vorliegenden Bandes konzentrieren sich ganz auf Hegels Reformbill-Schrih. Norbert Waszek lokalisiert die Ursprünge von Hegels England-Rezeption in Bern. Emst Vollrath stellt die — auf der Tagung heftig diskutierte — These auf, Hegel verfehle das Konzept der zivilpolitisch verfaßten Gesellschaft Englands, weil er ganz in der deutschen Tradition der „Staatsgesellschaft" stehe. Ob es für Hegel wirklich eine Gleichsetzung von Staat und Politik gibt, wurde von seinem Konzept von Sittlichkeit her problematisiert. Volhath unterschätzt wohl auch, daß viele der Hegelschen Kritikpunkte von britischen Kritikern übernommen worden sind. Außerdem muß der englandähnliche Ausgangspunkt in Hegels württembergischer Heimat gewürdigt werden. Hans-Christian Lucas gibt in seinem Beitrag eine entwicklungsgeschichtliche Übersicht über das Verhältnis von Reform und Revolution bei Hegel, wobei er sich auf die Berliner Stellung zu diesem Problem konzentriert. Dem Verhältnis zwischen Politik und Philosophie bzw. zwischen politischer Philosophie und Geschichtsphüosophie bei Hegel
Einleitung
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gilt der Aufsatz von Howard Williams. Unter seinem Blickwinkel bildet die Reformbül-Schnft einen Teil der systematischen Schriften Hegels. Norbert Madu fragt nach der Bedeutung der öffentlichen Meinung in Hegels Rechtsphilosophie. Stephan Skaiweit vergleicht Hegels Reformbill-Schritt und Dahlmanns Politik. Für den aristotelischen Ausgangspunkt Dahlmanns ist England die moderne Form der Misch verfassungslehre. Für Hegel hat in England der Parlamentarismus die konstitutionelle Monarchie überholt, der König wurde mediatisiert und England damit an die Spitze der Modernität katapultiert. Beide, Hegel wie Dahlmann, sind Anhänger der konstitutionellen Monarchie und der neuständischen Repräsentativverfassung. Ein scharfer Kontrast besteht aber zwischen ihnen in der Einschätzung der Reform und in der Beobachtung der sozialen und ökonomischen Mißstände Englands. Die Englandauffassung Dahlmanns ist wohl ungleich ideologischer als die Hegels; bei ihm gibt es keinen Versuch, die Gegenwart zu erfassen. Um dies gerecht beurteilen zu können, bedürfte es allerdings einer Rekonstruktion des England-BUds Hegels in den Vorlesungsnachschriften. Robert Muhs fragte nach britischen Reaktionen auf die Reformbill-Schritt. Hegels Argumente wurden in England zwischen 1830 und 1877 nicht zur Kenntnis genommen: Hegels Schrift lag quer zur englischen Debatte und hätte weder der einen noch der anderen Seite etwas nützen können. Allerdings wurde in England die Vorbildhaftigkeit Preußens von einer Minderheit (Bentham) diskutiert. Anfänge zu einer Auseinandersetzung mit der Reformbill-Schritt gibt es erst im ausgehenden 19. Jahrhundert; 1870 und 1883 gibt es erste Auseinandersetzungen mit den Argumenten der Reformbill-Schritt, rubriziert unter „moderate liberalism". Vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges bis zum Zweiten war der Vorwurf des Reaktionär-Absolutistischen vorherrschend, allerdings ohne konkrete Bezugnahme auf die Reformbill-Schritt. Die britische Hegel-Forschung der Nachkriegszeit (Knox, Pelczynski, Avineri) bemühte sich dann um eine historische wie philosophisch detaüliertere Sicht. Der Beitrag von Muhs konnte zwar auf der Tagung diskutiert werden, aus Termingründen aber leider nicht mehr in den Sammelband aufgenommen werden. Die Studie wird zu einem späteren Zeitpunkt andernorts erscheinen. ln ihrem abschließenden Beitrag macht Elisabeth Weisser-Lohmann darauf aufmerksam, daß Hegels Reformbill-Schritt in die Zeit der Diskussion um die Revision der Preußischen Städteordnung fällt, die am 17. März 1831 abgeschlossen war. Von Raumer bekämpft wie Hegel das atomistische Element, plädiert für eine Stärkung des Genossenschafts-
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CHRISTOPH JAMME
prinzips. Streckfuß verteidigt grundsätzlicher als von Raumer den Grundbesitz als Grundlage des Staatsbürgerrechts. Hegels Schüler Gans hat in seiner neugegründeten Zeitschrift Beiträge zur Revision der preußischen Gesetzgebung diese Schrift besprochen und sich im Laufe der Zeit gegen Hegels „Interessenvertretung" gestellt. Für Hegel berühren die Städteordnungs- und Reformbill-Debatte sich in der Frage, wer Bürger sein könne, ob es neben der Stadt- auch eine Staatsbürgerschaft geben solle und mit welchen politischen Rechten diese ausgestattet sein soll. Für Hegel muß der Staat von unten aufgebaut werden, von genossenschaftlichen Gliederungen her (er lehnte das Prinzip one man — one vote ab), für Gans dagegen muß der Staat von oben aufgebaut werden. Daß die Berufung auf die englische Lokalverwaltung ein deutscher Mythos sei, machte Lottes in der anschließenden Diskussion deutlich. Zu jener Zeit stand nämlich die Lokalverwaltung in England vor ähnlich großen Problemen wie die Repräsentation (geändert dann im „municipal reform act" von 1835, von Friedrich von Raumer in seinem Buch England im fahre 1835 dargestellt). Es bleibt abschließend zu hoffen, daß mit diesem Sammelband Hegels letzte politische Schrift und seine späte politische Philosophie insgesamt endlich die Aufmerksamkeit bekommt, die ihr von ihrem historischen wie systematischen Gewicht her gebührt. Bochum, Pfingsten 1993 Christoph Jamme
I Parlamentarismus und Reform
ANMERKUNGEN ZUM HISTORISCHEN UMEELD DER ENGLISCHEN PARLAMENTSREEORM DES JAHRES 1832 Das interdisziplinäre Gespräch zwischen Philosophen und Historikern, aus dem dieser Band der Hegel-Studien hervorgegangen ist, profitierte vor allem davon, daß die Vertreter der beiden Disziplinen ohne besondere Vorgaben des Veranstalters die ihrer Wissenschaft gemäßen Fragestellungen entwickelten und entsprechende Antworten zur Diskussion stellten. In deren Verlauf allerdings wurde auch deutlich, daß solches Vorgehen z. T. jene ,Dienstleistungen' der Historiker ausgespart hatte, welche die für eine umfassende Interpretation der Hegelschen Reform-Bill-Schrift notwendigen Voraussetzungen liefern. Gerade Hegels eingehende Kritik bestimmter englischer Zustände, teilweise mit erstaunlicher Sachkenntnis präsentiert, fordern nicht nur den Vergleich mit Hegels Quellentexten, sondern leiten notwendig weiter zu der Frage, ,wie es eigentlich gewesen' sei, bzw., inwiefern Hegels Beobachtungen den Einsichten moderner historischer Forschung entsprechen. Eine erste Antwort darauf sollen die folgenden kurzen Artikel liefern, als Einführung nicht nur in den Kontext der Reformdebatte, sondern in bestimmte komplexe Strukturen des politisch sozialen Systems Englands an der Schwelle der Ära der Reformen. P. W.
WAHLRECHT UND UNTERHAUS WAHLEN VOR 1832
Seit 1707 zählte das britische Unterhaus 558 Abgeordnete, von denen 45 schottische und 24 waliser Wahlkreise vertraten.i Die englischen Abgeordneten waren von den 40 englischen Grafschaften, 203 sog. ,horoughs‘ — d. h. in der Regel Gemeinden, denen ein kö1 Statt detaillierter Literaturangaben sei hier lediglich verwiesen auf das Standardwerk: L. B. Namier u. ]. Brooke: The Hause of Commons 1754—1790. 3 Bde. London 1964, sowie auf die jüngste Monographie zu diesem Komplex: F. O'Gorman: Vaters, Patrons and Parties. The unreformed electoral System of Hanoverian England 1734—1832. Oxford 1989. Dort weitere Literatur.
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niglicher Freibrief Selbstverwaltung und damit auch eine eigene Vertretung im Parlament gewährte — sowie den beiden Universitäten ins Parlament entsandt. Bezüglich des Wahlrechts sind dabei zunächst die Grafschaften von den boroughs zu unterscheiden. Das Wahlrecht in den counties war 1430 durch Statut geregelt worden und sollte 400 Jahre nahezu unverändert fortbestehen. Dem Buchstaben dieses Gesetzes nach besaßen es die sog. „40 Shilling freeholders", d. h. diejenigen, deren Grundbesitz für ihre Steuerleistung mit einem Jahresertrag von mindestens 40 Sh. veranschlagt war. Ursprünglich war das Wahlrecht damit auf die wohlhabenden Grundbesitzer beschränkt, doch da der Zensus von 40 Sh. über die Jahrhunderte unverändert bestehen blieb, bedeutete dies im Zuge der ständigen Geldentwertung eine kontinuierliche Ausweitung der ländlichen Wählerschaft. Hinzu kam, daß der Begriff des freien Grundeigentümers in der Regel großzügig interpretiert wurde und tatsächlich auch zahlreiche Pächter sowie Handwerker, Händler und Amtsinhaber an den Wahlen teilnahmen.2 Im Schnitt zählte die Wählerschaft eines County zwischen 3 000 und 4 000; Rutland mit lediglich 800 und Yorkshire mit 23 000 Wahlberechtigten im frühen 19. Jahrhundert markierten die Extrempositionen . Im Gegensatz zu den Grafschaften besaßen die boroughs kein einheitliches Wahlrecht, dessen Bestimmungen waren statt dessen für jeden einzelnen Wahlbezirk in der Charter, dem königlichen Freibrief der Gemeinde, im einzelnen definiert. Dabei entsandten diese boroughs wie die Grafschaften in der Regel jeweils zwei Abgeordnete ins Unterhaus. Doch im Unterschied zu den counties, deren Zahl seit dem Mittelalter unverändert geblieben war, hatte die Zahl der boroughs vor allem durch königliche Verleihungen im 16. Jh. spektakulär zugenommen. Trotz der offenkundigen Vielfalt der Wahlrechtsqualifikationen läßt sich in die Buntscheckigkeit des Borough-Wahlrechts eine gewisse Systematik bringen. Mit deren Hilfe können 6 Gruppen unterschieden werden; 1. 92 ,Freeman Boroughs'. Hier war das Wahlrecht ursprünglich Ausfluß des Bürgerrechts der Gemeinde. Damit war es nicht an bestimmte Besitzqualifikationen gebunden, sondern mit den Besonderheiten der jeweiligen Gemeindeverfassung verknüpft. Dementsprechend konnte das Wahlrecht vererbt, durch Heirat oder die Mitgliedschaft in einer Gilde erworben, gelegentlich gekauft werden. Die Zahl der Wähler differierte ^ Vgl. bes. O'Gorman, 59.
Wahlrecht und Unterhaus wählen vor 1832
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entsprechend von Wahlkreis zu Wahlkreis. Insgesamt 28 Freeman-Boroughs zählten mehr als 1 000 Wähler, der größte war London mit ca. 7 000 (bei einer Einwohnerzahl von ca. 750 000), 30 verfügten über 200—1 000 Stimmberechhgte, in 34 durften weniger als 200 zur Wahl gehen, in Camelford, dem kleinsten Wahlkreis in dieser Kategorie, lediglich 20. 2. 37 ,Scot-and-Lot Boroughs', in denen alle Hausbesitzer, die Armensteuer entrichteten, über das aktive Wahlrecht verfügten. In Westminster, dem Größten dieser Wahlkreise, waren es ca. 12 000, in Gatton verlieh der Besitz von 2 Hausruinen das Wahlrecht. 3. 29 ,Burgage Boroughs', in denen das Wahlrecht nicht an Hausbesitz, sondern an das Eigentum bestimmter Grundstücke gebunden war. Hier variierte die Zahl der Wähler zwischen 7 und 300. 4. 27 ,Corporation Boroughs'. Ähnlich wie in den freeman boroughs war hier das Wahlrecht an die Mitgliedschaft bestimmter Korporationen geknüpft wie z. B. Gilden von Kaufleuten oder Handwerkern, die ihre Mitgliedschaft jeweils durch Kooptation ergänzten. Keiner dieser Wahlkreise wies mehr als 60 Wähler auf, deren kleinster, Banbury, gar nur einen einzigen. 5. 12 ,Householder Boroughs', die ähnlich wie die scot-and-lot boroughs das Wahlrecht an Hausbesitz knüpften, mit dem Unterschied allerdings, daß hier die Leistung von Gemeindesteuern nicht vorausgesetzt wurde, sondern lediglich zur Bedingung erhoben war, daß der einzelne Hausbesitzer keine Armenunterstützung genoß. Damit war hier ein relativ ausgedehntes Wahlrecht die Regel, das auch Teile der arbeitenden Klassen einschließen konnte. Die Wählerzahl betrug zwischen 20 und 1 000 Wahlberechtigte. 6. In den 6 ,Freeholder Boroughs' war das Wahlrecht, vergleichbar den burgage tenures, an das Eigentum bestimmter Landlose — freeholds — geknüpft. Die Zahl der Wähler lag unter 300. Wendet man nun den Blick vom einzelnen auf das Ganze, so lassen sich zuverlässige Zahlen über die Summe der Wahlberechtigten in England und Wales nur annäherungsweise fixieren, wobei ältere und jüngere Forschungen in ihren Ergebnissen deutlich differieren. Die Unterschiede illustrieren folgende Übersichten^:
3 Vgl, O'Gorman. 179.
20
A. (Konventionelle Schätzungen)
PETER WENDE
1689
1715
1754 - 1790
1831
1832
Wähler i. T. Bev. (i. Mül.) Wähler (% d. Bev.) Wähler (% d. erw. Männer)
200 5,4 3,7 17,2
250 5,8 4,3 19,9
282 8,5 3,3 14,3
366 13,9 2,5 12,2
656 13,9 4,7 18,4
B. Korrigierte Statistik (nach F. O'Gorman) Wähler i. T. Bev. (i. Mill.) Wähler (% d. Bev.) Wähler (% d. erw. Männer)
1689
1715
1831
1832
240 5,4 4.6 20.6
300 5,8 5,2 23,9
1754 - 1790 338 8,5 4 17,2
439,24 13,9 3,2 14,4
656 13,9 4,7 18,4
Die zeitgenössische Kritik, wie sie auch Hegel schließlich zur Kenntnis nahm, entzündete sich nicht an der antidemokratischen Grundstruktur des Wahlrechts — letztendlich war nur jeder 6. männliche Erwachsene in die Wahlregister eingetragen — sondern an den Auswirkungen der ungleichmäßigen Verteüung dieser Wähler auf die einzelnen Wahlkreise. Nimmt man z. B. das Jahr 1754, so entsandten die ca. 178 000 Wahlberechtigten in den Grafschaften lediglich 82 Abgeordnete, während die verbleibenden 105 000 Wahlberechügten über die Besetzung von 400 Unterhaussitzen entschieden, was bedeutete, daß 38 % der Wähler über die Wahl von 82 % der Unterhausabgeordneten verfügten. Hinzu kommt, daß — wie bereits bei der Aufgliederung des borough-Wahlrechts deutlich wurde — auch hier nochmals gravierende Differenzen zwischen der Zahl der Wahlberechtigten in den einzelnen Wahlkreisen zu Tage traten, mit dem Ergebnis, daß letztendlich ca. 20 000 borough-Wähler ca. 50 % der Unterhaussitze kontrollierten, bzw. V4 des Hauses sich aus den Abgeordneten der fünf südwestlichen Grafschaften zusammensetzte. In der Praxis führte diese disproportionale Verteüung der Wählerstimmen auf die Wahlkreise dazu, daß in der Mehrheit der boroughs die Zahl der Wahlberechtigten deutlich unter 500 lag. Die Extreme markierten dabei die sog. ,rotten boroughs', jene in Einzelfällen gar nicht mehr real exishe4 D. Beates: The Electorate before and after 1832. In: Parlamentary History 11 (1992), 139-150, hat diese Zahlen abermals nach oben korrigiert und schätzt für 1831: 495 200 und für 1832: 813 726 Wahlberechtigte.
Wahlrecht und Unterhauswahlen vor 1832
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renden Ortschaften wie z. B. das in der Nähe von Salisbury gelegene Old Sariim, wo das Wahlrecht den Besitzern von 7 längst nicht mehr bebauten Grundstücken zustand. Damit waren die Voraussetzungen für jenes Netz von Einflußnahme, Manipulation oder gar Korruption gegeben, welches die Verfassungswirklichkeit des englischen parlamentarischen Systems des 18. Jahrhunderts charakterisierte. Ließ sich doch unter diesen Umständen bereits durch die Beeinflussung oder Kontrolle einer verhältnismäßig geringen Zahl von Wählern eine entsprechend große Wirkung erzielen. Dabei handelte es sich nur in seltenen Fällen um direkten und unverblümten Stimmenkauf, wenn auch gelegentlich in den Zeitungen ein Parlamentssitz zum Kauf annonciert wurde. Gängiger hingegen war die Ämter- oder Pfründenvergabe an einflußreiche lokale oder regionale Honoratioren oder Magnaten bzw. die Förderung der Interessen der im Besitz des Wahlrechts befindlichen Eliten. In der Tat entschieden somit Allianzen unter einflußreichen Magnaten, die über eine mühsam aufgebaute und sorgfältig gepflegte Klientel verfügten, über den Ausgang der Unterhauswahlen. Die Voraussetzung hierfür lieferten nicht nur das Wahlrecht und die Wahlkreiseinteilung, sondern auch die Praxis der Wahlen. Die öffentliche Stimmabgabe ermöglichte die Kontrolle der Wahlentscheidung des Klienten durch den Patron. Darüberhinaus ließen sich durch Manipulation des Wählerverzeichnisses und Auslegung der jeweiligen Wahlvorschriften oft weitreichende nachträgliche Korrekturen der Wahlergebnisse vornehmen, in der letzten Instanz schließlich durch die jeweilige Mehrheit des Unterhauses, dem die Kompetenz der Wahlprüfung zustand. Schließlich bedeuteten Unterhauswahlen keineswegs, daß der Wähler tatsächlich die Möglichkeit besaß, zwischen verschiedenen Alternativen zu wählen, diese war nur dort gegeben, wo tatsächlich sich mehr als 2 Kandidaten um die zwei Sitze des Wahlkreises bewarben. Ansonsten blieb eine echte Wahlentscheidung durch Stimmabgabe überflüssig. Da nun aber echte Wahlkämpfe kostspielige Unternehmungen waren, und von den Kandidaten am Wahltag erwartet wurde, daß sie ,ihre' Wähler, aufwendig bewirteten bzw. zum Wahlort transportierten, strebte man tunlichst danach, die Zahl der echten Wahlentscheidungen möglichst zu reduzieren. Tatsächlich waren umkämpfte Wahlentscheidungen die Ausnahme und nicht die Regel. So wurden in den 40 Grafschaften, in denen die Wahlen oft mit dem größten finanziellen Aufwand verbunden waren, zwischen 1754 und 1790 nur 37 von 240 möglichen Abstimmungen vorgenommen. Oder im Jahr 1780 kam es
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PETER WENDE
lediglich in 67 von insgesamt 245 Wahlkreisen zu echten Wahlentscheidungen. Die hier skizzierten Tatsachen und Umstände lassen zweifelsfrei deutlich werden, daß, sobald dieses System mit der Elle einer an den Normen der repräsentativen Demokratie orientierten politischen Moral gemessen wurde, das Urteil nur in vernichtende Kritik münden konnte, eine Kritik, die letztendlich zum ceterum censeo der Wahlrechtsreformbestrebungen des frühen 19. Jahrhunderts gerann. Diese Kritik war lange Zeit mehr oder weniger unkritisch von der historischen Forschung prolongiert worden, bis jüngere Untersuchungen hier wichtige Korrekturen Vornahmen, mit dem Ergebnis, daß das unreformierte Wahlrecht keineswegs mit der rigiden Kontrolle einer ohnmächtigen, da begrenzten Wählerschaft durch eine kleine, machtversessene adlige Elite gleichzusetzen war. Nicht nur war die Zahl der Wahlberechtigten wohl wesentlich höher, als bislang angenommen^, darüberhinaus läßt sich auch in der Regel für jene Wahlkreise, wo tatsächlich Wahlen stattfanden, eine überraschend hohe Wahlbeteiligung nachweisen, die im Durchschnitt bei 80 % lag. Gerade dies spricht für eine durchaus aktive politische Rolle der Wähler, die diese auch dort spielten, wo schließlich Wahlkampf und Wahlentscheidung vermieden wurden. Dies geschah nämlich meist um den Preis, daß bereits zuvor die Mehrheit der Wähler ihre Interessen hatte durchsetzen können, Interessen, die selbstverständlich vorwiegend dem lokalen Umfeld galten. Wenn der eigentliche Wahlakt oft zur Farce verkam, so darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, daß jenseits der punktuell begrenzten Parlamentswahlen im England des 18. Jhs. ein nahezu ständiger Dialog zwischen den politischen Magnaten und ihrer Klientel stattfand, die immer wieder aufs neue gewonnen werden mußte, und dies in der Regel um den Preis politischer Mitsprache auf dem Felde der eigenen politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Interessen. D. h. an die Stelle der Wahl eines Abgeordneten trat tatsächlich die Auswahl unter rivalisierenden Magnaten, die um die ,Kontrolle' eines Wahlkreises konkurrierten. Unter diesen Voraussetzungen erscheinen die Auswirkungen der Wahlrechtsreform von 1832 weniger einschneidend, als bislang gemeinhin angenommen; wie so oft steht auch hier hinter dem, was vordergründig als radikaler historischer Wandel erscheint, ein Netz von übergreifenden Kontinuitätslinien, die 5 Vgl. dazu die Tabellen auf S. 20.
Das englische Armenrecht vor 1834
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ihrerseits wichtige Voraussetzungen für den Erfolg der Reform lieferten. Peter Wende
DAS ENGLISCHE ARMENRECHT VOR 1834
Vor der großen Reform des Jahres 1834 beruhte das englische Armenrecht auf einem unübersichtlichen Konglomerat von Gesetzen, privaten Statuten und lokal unterschiedlichen Anwendungspraktiken. ^ Seine ursprüngliche Intention zielte darauf, die Armen zu disziplinieren und ihr Vagabundieren zu unterbinden. Im Zuge der sich verschärfenden Entwicklung zum Pauperismus seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nahm es jedoch zunehmend auch Elemente der Hilfe und sozialen Unterstützung in sich auf, die sich zu jener ursprünglichen Intention eher konträr verhielten. Aufgrund dieser Heterogenität und Unübersichtlichkeit, die seine soziale Praxis prägten, entzieht sich das „Old Poor Law" einer eindeutigen historischen Beurteilung und Interpretation. Letztlich gaben die Verhältnisse vor Ort den Ausschlag, d. h. in der Gemeinde, wo sich die verschiedenen Paktoren des Armenrechts überkreuzten und zur Armenpolitik verbanden. Den Kern des alten Armenrechts bildete ein Gesetz aus dem Jahre 1598 (39, Elizabeth c. 3), das 1601 mit nur geringfügigen Änderungen neu erlassen wurde, die Act for the Relief of the Poor (43 Elizabeth, c. 2).
1 Als wichtigste Literaturangaben, auf denen auch die folgenden Ausführungen im wesentlichen basieren, sind zu nennen; Sidney u. Beatrice Webb: English Local Government. Bd 7: English Poor Law History. Part 1: The Old Poor Law. London 1927 (aufgrund der Materialfülle nach wie vor unentbehrlich). Mark Blaug: The Myth of the Old poor Law and the Making of the New. In: Journal of Economic History 23 (1963), 151—184 (wichtig für die Interpretationsgeschichte). J. R. Poynter: Society and Pauperism. English Ideas on Poor Relief, 1795—1834. London 1969 (vorzügliche Darstellung der Debatte um das Old Poor Law in seiner Endphase). Derek Fraser: The Evolution of the British Welfare State. A History of Social Policy since the Industrial Revolution. London 1973. Ursula R. Q. Henriques: Before the Welfare State. Social Administration in Early Industrial Britain. London 1979. Karl Heinz Metz: Industrialisierung und Sozialpolitik. Das Problem der sozialen Sicherheit in Großbritannien 1795—1911. Göttingen 1988. (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London. 20.) (behandelt das Armenrecht innerhalb einer weit ausgreifenden Ideengeschichte der britischen Sozialpolitik im 19. Jahrhundert).
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An die Tradition der englischen Armengesetzgebung unter den Tudors anknüpfend und sie in erweiterter Form zusammenfassend, verankerte das Gesetz von 1598/1601 nun erstmals die Armenpflege verbindlich in der Lokalverwaltung. Fortan unterlag sie in jeder Gemeinde (parish) speziellen Armenpflegern (overseers of the poor), die von den Friedensrichtern nominiert wurden und das Recht zur Erhebung einer gemeindlichen Armensteuer (poor rate) erhielten. Die Armensteuer war von den Bewirtschaftern des Bodens, also den Pächtern und Kleineigentümern aufzubringen und bildete die materielle Basis für die Unterstützung der Bedürftigen. Zur Regelung der Frage, wer zur Hilfeleistung berechtigt war, unterteilte das Gesetz die Armen in drei Gruppen: Erstens sollten diejenigen Armen, die nicht in der Lage waren, für sich selbst zu sorgen und am stärksten institutioneller Hilfe bedurften, d. h. die Alten, Siechen und Behinderten, auf Kosten der Gemeinde in Armenhäusern untergebracht und versorgt werden. Das entsprechende Gegenstück für die Gesunden (able-bodied poor) bildete zweitens das Arbeitshaus, in welchem die arbeitsfähigen Bedürftigen mit nützlichen Tätigkeiten wie dem Spinnen von Hanf oder Flachs zu konzentrieren und zu beschäftigen waren. Notleidende Kinder sollten die Möglichkeit erhalten, eine Lehre zu absolvieren, um später eine selbständige Existenz führen zu können. Drittens schließlich sah das Gesetz vor, gesunde aber arbeitsunwillige Bedürftige — Bettler, Vagabunden etc. — zwangsweise in den Arbeitshäusern unterzubringen. Dieses in der Klarheit seiner Regeln harte Gesetz blieb formal bis 1834 in Kraft. Seine praktische Umsetzung erfolgte jedoch nur teilweise. So stellten sich der Errichtung von Arbeitshäusern, die, sofern sie finanzierbar oder gar lukrativ sein sollten, eine gewisse Zahl an verfügbaren Arbeitskräften voraussetzte, entscheidende Hindernisse entgegen. Grundsätzlich änderte daran auch die General Workhouse Act von 1723 nichts, wodurch die Gemeinden ermächtigt wurden, sich zur Errichtung eines Arbeitshauses zu assozüeren. Entgegen der Intention des Gesetzes von 1601 verzichteten die Gemeinden daher häufig auf die Konzentration der Armen in Arbeitshäusern und unterstützten die Bedürftigen ihres Sprengels auch direkt an ihrem Wohnort. Die Geld- oder Sachzuwendung an einzelne, häufig nur zeitweise bedürftige Personen war insbesondere für kleinere Gemeinden die einfachste und billigste Form der Armenunterstützung. Obwohl gesetzlich nicht vorgesehen, wurde dieses sogenannte „outdoor relief" zu einem kennzeichnenden Merkmal des Alten Armenrechts. In der Krise am Ende des 18. Jahrhunderts, als insbesondere die in der Landwirtschaft gezahlten Löhne immer weniger
Das englische Armenrecht vor 1834
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zum Lebensunterhalt genügten, wurde die gemeindliche Armenhilfe auch zur Lohnzuzahlung an Bedürftige herangezogen (allowances). Die bekannteste, wenn auch bei weitem nicht die einzige Entscheidung dieser Art trafen 1795 die Magistrate der agrarischen Grafschaft Berkshire. Gemessen am Brotpreis und an der Zahl der Kinder, sollten Arbeitslöhne, die zum Lebensunterhalt nicht mehr ausreichten, aus der Armenkasse subventioniert werden. Dieses „Speenhamland-System", so genannt nach dem Ort der Magistratsentscheidung, weitete sich rasch in allen Grafschaften aus und wurde im Jahre 1796 durch ein Gesetz (36 Georg III, c. 23) sanktioniert. In der seit dem Ende des 18. Jahrhunderts verstärkt einsetzenden Diskussion über das Armenrecht zog vor allem diese Vermischung von Arbeitslohn und Armenfürsorge vehemente Kritik auf sich. Man bemängelte, daß dem Arbeitenden mit seiner Unabhängigkeit auch das Selbstbewußtsein genommen werde; die ehrenwerte Existenz, beruhend auf Fleiß und Sparsamkeit sei nun der Abhängigkeit von Lohnsubventionen aus der Armensteuer gleichgestellt. In der Lohnzuzahlung erblickte man mithin eine faktische Ermutigung zur Trägheit. Die Idee des Arbeitshauses, mit der sich ja für den Bedürftigen eine Prüfung seiner tatsächlichen Arbeitswilligkeit verband und die von manchen Ökonomen und Pamphletisten enthusiastisch verfolgt wurde, kollidierte aber auch mit der strukturimmanenten Zielvorgabe der Armenpfleger. Der ehrenamtliche Armenpfleger hatte ständig mit dem Unwillen der Bewohner aufgrund steigender Armensteuersätze zu rechnen. Sein Bestreben ging daher in erster Linie dahin, die Zahl der Unterstützungsempfänger möglichst niedrig zu halten, um auch die von der Gemeinde aufzubringenden Kosten zu begrenzen. Das wichtigste Instrument hierfür war das englische Aufenthaltsrecht, das eng mit dem Armenrecht korrespondierte. Die Act of Settlement aus dem Jahre 1662 band die Armenunterstützung an die Gemeinde, in welcher der Empfänger ein Heimatrecht besaß. Letzteres konnte unabhängig von der Dauer des Aufenthalts durch verschiedene Qualifikationen wie Geburt, Heirat oder Absolvierung einer Lehre erworben werden. Bewohner, die kein Heimatrecht am Ort besaßen, konnten daher im Falle ihrer Bedürftigkeit einfach abgeschoben werden. Darüber hinaus erlaubte das Gesetz den Gemeinden, innerhalb der ersten 40 Tage auch nicht bedürftige Neuankömmlinge abzuschieben. Um sich einer potentiellen Belastung der gemeindlichen Armenkasse zu entledigen, wurde von dieser Möglichkeit häufig Gebrauch gemacht. Erst 1795 setzte ein Gesetz des jüngeren Pitt solcher Praxis ein Ende.
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Im 16. und 17. Jahrhundert waren die englischen Herrschaftseliten von den neuen Problemen verarmter, vagabundierender und bettelnder Bevölkerungsteile geschreckt worden. Das Law of Settlement und die von ihm sanktionierte Praxis der Abschiebung bildeten einen spezifischen Ausdruck jener Furcht und den Versuch, die Probleme mittels repressiver Gesetzgebung in den Griff zu bekommen. In Verbindung mit dem Armenrecht zogen Aufenthaltsrecht und Abschiebungspraxis jedoch unhaltbare Zustände nach sich. Nur allzuoft führte das Bemühen der Armenpfleger, Bedürftige abzuschieben, zu Inhumanität oder Absurdität. Das Hin- und Herschieben Hochschwangerer oder der Streit um einen Bedürftigen, dessen Bett auf der Grenze zwischen zwei Gemeinden lag, markieren hierfür nur die Extreme. Die Flut von Prozessen um die Rechtmäßigkeit von Abschiebungen bewies darüber hinaus die zunehmende Ineffizienz des Aufenthaltsrechts. Neben dem „Speenhamlandsystem", d. h. dem System der allowances gerieten daher vor allem die Bestimmungen des Aufenthaltsrechts zunehmend ins Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik. Dabei verbanden sich humanitäre und praktische Erwägungen mit dem Kalkül der liberalen politischen Ökonomie, die von dem Law of Settlement eine Behinderung der sozialen Mobilität und der wirtschaftlichen Entwicklung befürchtete. Adam Smith etwa war nicht zufällig einer seiner schärfsten Kritiker. Mithin waren am Ende des 18. Jahrhunderts das englische Armenrecht und das mit ihm eng korrespondierende Law of Settlement in eine ausweglose Strukturkrise geraten. Neben den lawinenartig steigenden Prozeßkosten trat dies am fühlbarsten durch den kontinuierlichen, während der Agrarkrise im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts dramatischen Anstieg der Armensteuer zu Tage. Hatte ihre Gesamtsumme im Jahre 1750 noch 730 000 £ betragen, so stieg sie während des Krieges gegen Frankreich auf 8 647 000 £ im Jahre 1813, um nach einem kurzen Abfall 1819 die Rekordhöhe von 9 320 000 £ zu erreichen. Kritiker konnten sich durch solche Zahlen in ihrer Auffassung bestätigt sehen, das Armenrecht produziere die Armut, die es lindern sollte, und es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis es den Wohlstand der Insel vernichtet und ihre Bevölkerung gänzlich pauperisiert habe. Über das Armenrecht entbrannte also seit dem Ende des 18. Jahrhunderts eine fortwährende Debatte, die auch zu einigen Reformansätzen im Parlament führte. So tagte von 1816 bis 1819 ein Ausschuß des Unterhauses, um Informationen zu sammeln und Reformvorschläge zu unterbreiten. Die Fronten in dieser Auseinandersetzung verliefen quer zu den traditionellen Parteigegensätzen etwa zwischen Whigs und Tories. Vor-
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herrschend blieb indes eine eher konservative Position, die mit der Neigung zu graduellen Verbesserungen einherging. Dagegen standen freilich Ansätze zu einer radikalen Lösung, die durch Thomas R. Malthus' bevölkerungspolitische Argumentation beeinflußt waren und die Reform von 1834 antizipierten. Am weitesten gingen in diesem Sinne die Gesetzesinitiativen des whiggistischen Juristen Sir James Scarlett in den Jahren 1821 und 1822. Scarlett schlug ein Maximum der Armensteuersätze vor und verlangte die Abschaffung von outdoor relief und jeglicher Abschiebung von Bedürftigen. Die parlamentarische Debatte dieser Anträge spiegelte jedoch in anschaulicher Weise wider, in welch komplexen Zusammenhang die Kernelemente des englischen Armenrechts standen. Diejenigen Abgeordneten, die sich von humanitären Gesichtspunkten leiten ließen, stimmten zwar der Abschaffung der Abschiebungen zu, konnten aber das Ende der allowances nicht akzeptieren. Umgekehrt war für die malthusianisch beeinflußten Parlamentarier die Abkehr von jeglicher Form des outdoor relief eine conditio sine qua non, nicht alle aber teilten Scarletts Meinung in bezug auf das Law of Settlement. In diesem Punkt stimmten im übrigen die Interessen von Stadt und Land überein; Abgeordnete aus den urbanen Industrie- und Wirtschaftszentren befürchteten von dem Ende der Abschiebungspraxis eine Überflutung ihrer Städte. Scarletts Gesetzesanträge scheiterten mithin, wobei sich zeigte, daß eine gleichzeitige Reform von Armenfürsorge und Law of Settlement starken, weltanschaulich und sozialökonomisch durchaus unterschiedlich motivierten Widerstand hervorrief. Nicht zuletzt weil sich die Regierung in der Armenrechtsfrage jeder politischen Führung enthielt, blieb es im Parlament bei Diskussionen und Gesetzesinitiativen, wobei sich die unterschiedlichen Positionen nicht selten gegenseitig blockierten. Als die Armensteuern in den 1820er Jahren wieder zu sinken begannen, verlor das Thema einen Teil seiner Brisanz und spielte auf der parlamentarischen Tagesordnung nur noch eine untergeordnete Rolle. Dies änderte sich erst, als 1832 die Reform-Regierung des Earl Grey die Berufung einer Royal Commission veranlaßte, die sich mit den Problemen des Armenrechts befassen sollte und sich mehrheitlich aus überzeugten Reformern zusammensetzte. Dies war der Beginn eines Prozesses, an dessen Ende 1834 eine grundlegende Reform verabschiedet wurde. In deren Zentrum stand das Prinzip der geringeren Wünschbarkeit („less eligibility"), das jeglichen Empfang von Armenhilfe möglichst unattraktiv halten sollte. Mit der Abschaffung jeder Form von outdoor relief und der verbindlichen Einführung des — bewußt abschreckend zu gestaltenden — Arbeitshauses für arbeitsfähige
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Arme läutete die Reform eine neue Ära der englischen Sozialpolitik ein. Andreas Wirsching
DER VERLAUF DER REFORM-DEBATTE BIS APRIL 1831 UND HEGELS SELEKTIVE DARSTELLUNG
Hegel bezog sein Wissen über die von Lord Russell am 1. März 1831 im Unterhaus eingebrachte Reformbill und über die nachfolgende Debatte in erster Linie aus der Presse. Die wichtigsten englischen Zeitungen (Morning Chronicle, Times, Globe, Courier) brauchten in der Regel sechs Tage, bis sie Berlin erreichten.^ Darüber hinaus enthielten auch die deutschen und französischen Blätter, die Hegel regelmäßig las, Informationen zur englischen Tagespolitik. Im Fall der deutschen Zeitungen vergingen etwa drei, im Fall der französischen Journale etwa sieben bis zehn weitere Tage, bevor die Sekundär-Informationen verfügbar waren. Auch wenn Hegel sich bei der Abfassung der ReformbilTSchrift primär auf den Morning Chronicle und die Preußische Staatszeitung gestützt hat, ist es denkbar, daß er die Exzerpte aus englischen Quellen in anderen Blättern zur Kenntnis genommen hat. Theoretisch könnte er vor Abschluß seines Artikels gerade noch von der Abstimmungsniederlage der Whig-Regierung am 20. April 1831 und von der Parlamentsauflösung drei Tage später erfahren haben. Tatsächlich ging er aber auf diese Ereignisse nicht mehr ein. Die letzten Vorgänge, von denen er berichtete, waren die mit einer Stimme Mehrheit erfolgte zweite Lesung am frühen Morgen des 23. März 183H und die Debatte im House of Lords am 28. März 18313. In dieser Sitzung hielt Wellington eine Rede, auf die He' Vgl. die Angaben im Beitrag von M. ]. Petry in diesem Band. 2 G, W. F. Hegel: Über die englische Reformbill. In: Ders.: Berliner Schriften, 1818—1831. Firsg. von J. Hoffmeister. Hamburg 1956. 461—506, 463. Die Abstimmung endete mit 302:301. Die umfassendste Darstellung der Ereignisgeschichte bietet: M. Brock: The Great Reform Act. London 1973. Eine Analyse des Abstimmungsergebnisses vom 23. 3. 1831 ebd., 176-182. 5 House of Lords, 28. 3. 1831, PDIII, 3, 983—1085. Zur Zitierweise aus den britischen Parlamentsdebatten: PDIII (bzw. PD II) steht für: The Parliamentary Debates from the Year 1803 to the Present Time. Published under the superintendence of T. C. Hansard. Third Series: 1830—1891. (bzw. Second Series: 1820—1830). Die arabische Ziffer gibt jeweils die Bandnummer an.
Der Verlauf der Reform-Debatte bis April 1831 und Hegels Darstellung
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gel mehrmals zurückgriff, um die Position der Anti-Reformer zu erläutern. 4 Da die Darstellung Hegels auf die „höheren Gesichtspunkte" zielte^, war es kein Verlust, daß er die Auseinandersetzungen nach Ende März 1831 nicht mehr einarbeiten konnte. Die Grundsatzpositionen beider Seiten hatten sich schon in den ersten Wochen nach Einbringung der Bill herausgeschält. Neue Argumente kamen bis zur endgültigen Ratifizierung des Gesetzes durch den König am 7. Juni 1832 kaum noch hinzu. Was den Kampf um die Parlamentsreform nach April 1831 für die Engländer so spannend machte: die Wahlen, die persönlichen Triumphe und Niederlagen, die parteitaktischen Manöver um den Peersschub und die zuvor in dem Ausmaß nie dagewesene Einwirkung der Öffentlichkeit auf die parlamentarische Beratung interessierte Hegel ohnehin nicht. Er hielt all dies für oberflächliche Tumulte, die den Engländern den Blick dafür verstellten, daß sich bei ihnen im Bereich der substantielleren Rechte und Institutionen wenig zum Positiven bewegte. Die Reformbill-Debatte war für Hegel vor allem ein Vorwand, um auf die schon länger bestehenden Defizite des politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Systems in Großbritannien eingehen zu können. Aktuelle Berichterstattung war also nicht Hegels Ziel. Daher blieben direkte Hinweise auf die Ereignisse und Reden von 1830/31 in der Reformbül-Schrift spärlich. Von den beteiligten Personen erwähnte Hegel
^ Wellington, 28. 3. 1831, PD III, 3, 1064—1073. Die meisten Bezüge Hegels auf diese Rede lassen sich genau identifizieren. Vgl. jeweils: Hegel: Reformbill. 487: „Diese Rechte setzt der Herzog in seiner Rede dem Rechte gleich, vermöge dessen sein Sitz im Oberhause so wenig entzogen, als dem Minister, Grafen Grey, seine Güter in Yorkshire genommen werden dürfen." Wellington, 1064: „In his opinion they could, on principle, no more deprive one of these boroughs of their franchise, . . . than they could deprive him of his seat in that House, or of his title, or the noble Lord on the Woolsack of his estate." Hegel: Reformbill. 487: „daß sie nämlich eine gesetzgebende Versammlung und keine Korporation von Stimmfähigen, ein Unterhaus und kein neues System für die Konstituenten zu schaffen [hätten]." Wellington, 1065: „that it was the creation of a legislative assembly they were to look to, and not what the voters were to be — that they were to consider what a House of Commons ought to be, and not what the constituents ought to be." Hegel: Reformbill. 484: „daß . . . die größere Masse der Wähler aus Krämern bestehen würde". Wellington, 1070: „shopkeepers". Vgl. auch Hegel: Reformbill. 497 f mit Wellington, 1069; dazu auch: Wellington, 24. 3. 1831, PD III, 3, 855: „that this altemation must lead to a total change of men". Das erste bei Hegel (483) angeführte Wellington-Zitat konnte ich so in keiner Wellington-Rede bis April 1831 finden. 5 Hegel: Reformbill. 463.
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namentlich neben Wellington nur Peel^, Grey^, Russell®, Hunt^, Brougham^® und Hume^i — die beiden zuletzt genannten jedoch nur im Zusammenhang mit früheren Begebenheiten. Einige konkrete Vorwürfe und Anspielungen, die Hegel ohne Namensnennung wiedergab, lassen vermuten, daß er außerdem die Reden von Croker^^, Vyvyani® und SheiP4 genauer studiert haben könnte. Allerdings brauchte Hegel deren Reden als Quelle nicht unbedingt, denn die meisten von ihm referierten Argumente und Gegenargumente gehörten zu den seit Jahrzehnten gebräuchlichen Topoi der englischen Reformdiskussion. Hegel hatte diese Diskussion verfolgt, das zeigt sein Hinweis auf die kläglich gescheiterten
* Hegel: Reformbill. 464 f, 467. Die Rede Peels gegen die Reform; Peel, 3. 3. 1831, PD 111, 1, 1330—1356. Ein Zitat, das der Formulierung Hegels (464 f) genau entspricht, habe ich dort nicht finden können. Peel verteidigt allerdings in der Rede seine von Hegel (467) erwähnte unrühmliche Haltung im Fall der versuchten Übertragung des Wahlrechts von East Retford auf Birmingham: Peel, 1332 f. Zum Fall East Retford-Birmingham, der sich von 1828 bis 1830 hinzog, vgl.: Brock: Reform Act, 44, 51, 62, 74 f, 81—85. ^ Hegel: Reformbill. 502 f; „daß in der Einbringung der Bill durch das Ministerium schon von selbst die königliche Einstimmung enthalten sei". Vgl. Grey, 28. 3. 1831, PD III, 3, 1079 f: „The noble Duke admitted that the question could not have been introduced to Parliament by Ministers without the King's consent. . . that the Monarch was aware of particular measures recommended to him by his Ministers." Grey antwortete hier auf den Vorwurf seines Vorredners: Wellington, 28. 3. 1831, PD 111, 3, 1069. Vgl. auch: Wharncliffe, ebd. 1004. Durham, ebd. 1016 f. ® Hegel: Reformbill. 487. Die Einbringungsrede: Russell, 1. 3. 1831, PDIII, 2, 1061 — 1089. ® Hegel: Reformbill. 489 f. Zu Hunt und seiner RoUe während der ReformbiU-Debatte vgl.: /. Beichern: ,Orator Hunt'. Henry Hunt and EngUsh Working-Class Radicahsm. Oxford 1985. 223 ff. Hegel: Reformbill. 482, 490. Die siebensfündige Rede (482) hielt Brougham am 7. 2. 1828 im House of Commons. Die Wahlrede (490) konnte ich nicht identifizieren. 11 Hegel: Reformbill. 472. Vgl. zu Hume: The House of Commons 1790—1820. Ed. by R. Thorne Bd 4, London 1986. 262 ff. 12 Croker setzte sich als erster anti-reformerischer Redner ausführlich mit den arithmetischen Inkonsistenzen der Bill auseinander. Er erhob auch zuerst den Vorwurf, daß die Grenzlinien mit Absicht so gezogen worden seien, daß die boroughs des Duke of Bedford verschont bheben. Croker, 4. 3. 1831, PD 111, 3, 81 — 107, 101 f. Vgl. Hegel: Reformbill. 487. 13 Vyvyan befürchtete als Folge der Reform die Abschaffung des Kirchenzehnten und erwähnte die AbstiiTunung in der französischen Nationalversammlung vom 4. August 1789, in der neben dem Zehnten auch die gutsherrhchen Rechte und Jagdrechte abgeschafft worden waren, als Schreckbild. Vyvyan, 21. 3. 1831, PD 111, 3, 635 f u. 639 f. Vgl. Hegel: Reformbill. 473: „Beiläufig wurde im Parlamenf Abschaffung der zehnten der Kirche, der gutsherrlichen Rechte, der Jagdrechte, die in Frankreich geschehen, erwähnt." 1^ Hegels Schilderung der Mißstände der parlamentarischen Repräsentation lehnt sich erkennbar an die Rede Sheils an. Shell, 21. 3. 1831, PD III, 3, 650 f. Shell teilt dort unter anderem das ,Faktum' mit, daß die Besetzung der Mehrheit der Sitze durch 150 Individuen erfolge, und er beschreibt sehr anschauhch den Kauf und Verkauf von Parlamenfssitzen. Vgl. Hegel: Reformbill. 465.
Der Verlauf der Reform-Debatte bis April 1831 und Hegels Darstellung
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Reformversuche bis 1830.^5 Die Standardaussagen der Parteien dürften ihm zusätzlich aus Edinburgh Review und Quarterly Review bekannt gewesen sein. Einzelne Episoden und Ereignisse hielt Hegel nur insoweit für bemerkenswert, als sich an ihnen prinzipielle Überlegungen veranschaulichen ließen. So gedachte er der 1829 ohne größere Proteste geschehenen Entrechtung von 200 000 irischen 40sh-freeholders aus dem Grund, weil ihm dieser Vorfall zu beweisen schien, daß die Wähler gegenüber ihrem Stimmrecht gleichgültig seien.Für die britischen Politiker war das Ereignis hingegen vor allem als Präzedenzfall für umfassende, entschädigungslose Änderungen bei der Wahlrechtsvergabe bedeutsam. Gegen den Widerstand der Ultra-Tories und eigene Bedenken hatten Wellington und Peel 1828/29 die zivilrechtliche Gleichstellung der Katholiken durchgesetzt. Als Kompensation dafür erhöhte das Parlament den Zensus in den irischen Grafschaften auf £ 10. Damit hatten die anti-reformerischen Tories selbst den ersten Schritt getan, um den Glauben an den Eigentumscharakter der überlieferten Wahlprivilegien zu erschüttern. Der Streit um die Katholikenemanzipation schwächte die parlamentarische Basis der Regierung Wellington. Die durch den Tod Georgs IV. (26. 6. 1830) notwendig gewordene Neuwahl beschleunigte den Aushöhlungsprozeß, indem sie erneut alle Mißstände des Wahlsystems drastisch vor Augen führte. Kurz nach dem Zusammentritt des neuen Parlaments stürzte die Regierung Wellington infolge einer Abstimmungsniederlage über die Zivilliste (15. 11. 1830). Hegel verwies darauf als Beleg für die Schwäche des monarchischen Prinzips in England.Die englischen Parlamentarier sahen dagegen in dem Abstimmungsergebnis vor allem die Quittung für Wellingtons Unbeweglichkeit in der Reformfrage. Hegel: Reformbill. 467. Zum Fall East Retford-Birmingham siehe oben Fußnote 6. Bei dem anderen von Hegel erwähnten „Anlauf", der sich darauf reduziert habe, daß die Kandidaten keine „Bänder an die ihnen günstig gesinnten Wähler" mehr austeilen dürften, handelt es sich um die „Election Expenses Regulation Bül", über die 1827 diskutiert wurde. Vgl. House of Commons, PD 11, 17, 675—682 u. 1057—1060. Hier unterlief Hegel ein kleiner Irrtum, da es nicht das „gegenwärtige", sondern das vorangegangene Parlament war, in dem dieser Anlauf unternommen wurde. 15 Als mögliche Quellen Hegels kommen u. a. in Frage: [/. Mackintosh]: Universal Suffrage. ln: The Edinburgh Review. 31 (Dec. 1818), 165—203. Anon.: Parliamentary Reform, ln: The Quarterly Review. 44 (Jan.—Febr. 1831), 554—598. Dazu auch die gegen James Mill gerichteten Artikel von T. B. Macaulay in der Edinburgh Review. Diese sind abgedruckt in: Utilitarian Logic and Politics. James Mill's ,Essay on Government', Macaulay's critique and the ensuing debate. Ed. by J. Lively and J. Rees, Oxford 1978. 1^ Hegel: Reformbill. 490. Die „Parlamentsakte", von der Hegel sprach, war der „Irish County Franchise Act" von 1829 (10 Georg IV, c. 8). 1® Hegel: Reformbill. 501.
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Am 2. November 1830 hatte der Herzog im Oberhaus eine Erklärung gegen die Notwendigkeit irgendeiner Reform der Repräsentation abgegeben Diese Erklärung empörte wegen ihrer Intrasigenz sogar manche Anhänger der Tory-Regierung und sorgte dafür, daß das Thema Reform schlagartig auf die Agendaliste kam. Die disparate Opposition aus Whigs, Canningites, Huskissonites und Ultra-Tories verständigte sich daraufhin auf ein gemeinsames Vorgehen, und viele bis dahin unentschlossene Abgeordnete gaben nun ihre Zustimmung zu einer Parlamentsreform zu erkennen. Als König Wilhelm IV. nach dem Sturz Wellingtons den gestandenen Reformer Earl Grey mit der Regierungsbildung beauftragte, war allen Beteiligten klar, daß das neue Kabinett schon aus Gründen der Selbstachtung eine Reformbill unterbreiten würde. Nicht voraussehbar war die Radikalität, mit der sich die Whig-Regierung dieser Aufgabe entledigte. Die meisten Beobachter erwarteten einen Gesetzentwurf auf der Linie der begrenzten Vorschläge der letzten Jahre: Entprivilegierung einiger „rotten boroughs", Vergabe der freigewordenen Sitze an die großen, bisher unrepräsenherten Städte des Nordens (Birmingham, Manchester, Leeds, Sheffield), Maßnahmen zur Eindämmung der Bestechung in den Wahlkämpfen. Der Entwurf, den das Viererkomitee bestehend aus Lord Durham, Lord Russell, Sir James Graham und Lord Duncannon nach wenigen Wochen dem Kabinett vorlegte, ging jedoch weit darüber hinaus. Im Kern enthielt er bereits die wichtigsten Bestimmungen, die 1832 Gesetz wurden, mit einer Ausnahme: Die Kabinettsvorlage sah noch einen Zensus von £ 20 geschätzten jährlichen Mietwerts für die Wähler in boroughs vor, während in der von Russell eingebrachten Bill an dieser Stelle die Zahl von £ 10 erschien. Die kurzfristige Halbierung des Zensus wurde notwendig, weil sich aufgrund neuen Zahlenmaterials herausstellte, daß es in vielen boroughs nur ganz wenige Häuser gab, die mehr als £ 20 wert waren. Wäre man bei dem zunächst vorgesehenen Zensus geblieben, hätte das zur Folge gehabt, daß man wiederum zahlreiche boroughs mit winzigen Wählerschaften geschaffen hätte. Auf diese Weise gelangte eine zentrale Klausel, welche die Bill für große Bevölkerungskreise erst attraktiv machte, nicht aufgrund sorgfältiger Planung, sondern als Ergebnis eines administrahven Durcheinanders in die Bill.^i Die w Wellington, 2. 11. 1830, PDIII, 1, 52 f. Vgl. zur Reaktion auf die reformfeindliche Erklärung Wellingtons: I. Newbould: Whiggery and Reform, 1830—41. The Politics of Government. London 1990. 51 ff. Brock: Reform Act. 118-123. 21 Vgl. /. Cannon: Parliamentary Reform 1640—1832. Cambridge 1973. 212.
Der Verlauf der Reform-Debatte bis April 1831 und Hegels Darstellung
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hastige Änderung des Zensus war symptomatisch für die ungenügende Vorbereitung des gesamten Entwurfs. Auch das Kriterium, nach dem die vollständige bzw. teilweise Entprivilegierung der kleinen boroughs erfolgen sollte, eine Bevölkerungszahl von unter 2 000 bzw. unter 4 000 Einwohnern, wurde willkürlich festgesetzt und stützte sich überdies auf veraltetes Datenmaterial. Man hat viel über die weiterreichenden Absichten und Motive des Kabinetts Grey spekuliert, dabei ging es den Ministem zunächst nur darum, eine Bill vorzulegen, die bei den ,respektablen' Schichten des Volkes soviel Zustimmung erzeugte, daß man zögernde Abgeordnete unter Dmck setzen und radikalen Forderungen guten Gewissens entgegentreten konnte. Die Bill war primär auf den psychologischen Effekt berechnet, nicht auf die Arithmetik der sozialen Gruppen in den Wahlkörperschaften. Glaubwürdigkeit war das Nahziel der Whig-Minister, die Detailgenauigkeit wurde diesem Ziel geopfert.22 Wie fast alle britischen Politiker wußte auch Hegel über die geheime Ausarbeitung der Bill außer Gerüchten nichts, sonst wäre sein Urteil über die Inkonsistenzen des Entwurfs wahrscheinlich noch schärfer ausgefallen. So lobte er das Reformkabinett immerhin dafür, daß es sich anders als die Vorgänger nicht bloß mit Palliativen begnügen wollte. Die theoretischen Schwächen der Bill schrieb er weniger ihren Autoren, als vielmehr dem allgemeinen Unvermögen der Engländer zu, aus den gewohnten Bahnen des Denkens über Gesetzgebung und gewachsene Rechtsformen auszubrechen. Von der Überraschung, dem ungläubigen Staunen, den höhnischen Zwischenmfen und verzweifelten Gebärden, mit denen die Parlamentarier Russells Präsentation der Bill aufnahmen, teilte sich in Hegels Text kaum etwas mit. Ebensowenig hielt Hegel den Ablauf und die Höhepunkte der siebentägigen Debatte über die formale Frage, ob die Bill überhaupt zur Beratung zugelassen werden sollte, einer Schildemng für wert (1.—9. März 1831). Es ließ Hegel gleichgültig, daß sich radikale Abgeordnete wie Hume, Hobhouse, O'ConneU und mit Einschränkung sogar Hunt für die Bill erklärten und damit ihren Erfolg bei der Öffentlichkeit sicherstellten; daß der hrritierte Oppositionsführer Peel erst am dritten Tag das Wort ergriff und damit die Chance verpaßte, eine sofortige und pauschale Zurückweisung der Bill zu erreichen; daß dem Reformgegner Twiss schon am ersten Tag der Fauxpas unterlief, die neuen Wähler der „nüddle dass" als provinzielle und kleingeistige KrämerseeDie beste Darstellung der Motive der Whig-Regierung Anfang 1831 und einen Überblick über die Forschungslage gibt; Newbould: Whiggery. 55—62. 22
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len zu beschimpfen, und so den Whigs billige rhetorische Punktgewinne verschafft wurden; und daß sich trotz dieser Anfangserfolge der Reformer allmählich der Eindruck verfestigte, daß die Bill, so wie sie war, das Unterhaus nicht passieren würde. Die größtenteils positive Reaktion der Öffentlichkeit ließ Hegel ebenfalls nur andeutungsweise durchscheinen23, obwohl sie als Faktor während der zweitägigen Debatte und bei der denkbar knappen Abstimmung über die zweite Lesung (21.-23. März 1831) eine entscheidende Rolle spielte, da unentschiedene Abgeordnete die Konfrontation mit ihren Wählern fürchteten. Aus der großen Zahl der Petitionen und Adressen erinnerte Hegel nur an die eher untypische Erklärung von Kaufleuten der Ostindischen Kompanie und Bankiers der Londoner City, weil sich daran das Standardargument der Privilegierten gegen die Beseitigung der kleinen boroughs und allgemein die interessengebundene Borniertheit der englischen Elite ablesen ließen.24 Eine ähnlich abschätzige Bemerkung über die Wohlhabenderen machte Hegel anläßlich der ihn im Moment des Schreibens erreichenden Meldung über den Ausschluß des Abgeordneten für Liverpool.25 Schließlich skizzierte Hegel auch den Inhalt der Bill nur sehr summarisch, wohl wissend, daß sich im weiteren Verlauf noch manches ändern könnte. Seine Darstellung der Kernbestimmungen vermittelte jedoch insgesamt — von kleinen Ungenauigkeiten abgesehen (s. u.) — ein zutreffendes Bild. Hegel erkannte richtig, daß die BUl eine fundamentale Gegebenheit des englischen Wahlsystems antastete: das, was er das „englische Prinzip des Positiven" nannte^^, also die Tatsache, daß Wahlrechte bisher als Einzelprivilegien an Orte bzw. Personengruppen vergeben worden waren. An die Stelle separater Privilegierungen sollten nun erstmals pauschale, im ganzen Land gleichmäßig anzuwendende Rechtsbestimmungen treten, die den Aus- und Einschluß von Körperschaften und Individuen regelten. Dadurch eröffnete sich für die Zu23 Hegel: Reformbill. 464. 24 Hegel: Reformbill. 484 f. Hegel könnte sich hier auf die Petition von „600 merchants, bankers, and others of the City of London, against the Bill" beziehen. Diese Petition wird erwähnt in der Rede von W. Ward, 22. 3. 1831, PDIII, 3, Sp. 734. Von der Ostindischen Kompanie ist bei Ward allerdings nicht die Rede. Zwischen Oktober 1830 und April 1831 wurden ca. 3 000 Petitionen an das Parlament gerichtet, die meisten für die Reform. Am Samstag vor der Einbringung mußte eine spezieüe Sitzung abgehalten werden, um alle Petitionen entgegennehmen zu können. Das Haus war buchstäblich mit Papier vollgestopft. Vgl. Cannon: Parliamentary Reform. 214. 23 Hegel: Reformbill. 488. Der Ausschluß erfolgte am 29. 3. 1831 aufgrund eines Komitee-Berichts vom Vortag. Vgl.: House of Commons, 28. 3. 1831, PD III, 3, 1085; 29. 3. 1831, PD III, 3, 1140 f. 26 Hegel: Reformbill. 470.
Der Verlauf der Reform-Debatte bis April 1831 und Hegels Darstellung
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kunft die Möglichkeit, neue individuelle und kollektive Repräsentationsansprüche unter Berufung auf das geltende Recht bzw. die ihm zugrundeliegenden Prinzipien zu stellen. Allerdings bemerkte Hegel auch, daß die seiner Ansicht nach begrüßenswerte Vereinheitlichung der Rechtsgrundsätze in der Bill nicht konsequent durchgehalten wurde, wobei er Ausnahmeregelungen, wie zum Beispiel die Fortdauer von Mehrfachvoten, noch nicht einmal mitberücksichtigte.^^ Kurz zusammengefaßt bestand die Reformbill für England und Wales (für Schottland und Irland wurden gesonderte Gesetze eingebracht) aus zwei Hauptelementen; Eine erste Gruppe von Bestimmungen betraf die Umverteilung von Unterhaussitzen, eine zweite Gruppe die Wahlrechte von Individuen in den Grafschaften und boroughs. 1. Umverteilung der Sitze: — In einer Liste („Schedule A") erschienen 60 boroughs mit weniger als 2 000 Einwohnern. Sie sollten ihre Repräsentation ganz verlieren (- 119 Sitze). — In einer weiteren Liste („Schedule B") erschienen 47 boroughs mit weniger als 4 000 Einwohnern. Sie sollten je einen M. P. abgeben (— 47 Sitze). — Der borough Weymouth sollte nur noch 2 (statt bisher 4) Sitze behalten (— 2 Sitze). — 26 englische Grafschaften mit mehr als 150 000 Einwohnern sollten je 2 zusätzliche Abgeordnete wählen können (+ 52 Sitze). — Yorkshire, die größte Grafschaft, sollte statt bisher 4 nun 6 Abgeordnete entsenden dürfen (-1- 2 Sitze). — Die Isle of Whight soUte einen Sitz erhalten (-1- 1 Sitz). — 11 bisher unrepräsentierte Großstädte bzw. Konurbationen sollten je 2 Sitze erhalten (-1-22 Sitze). — 20 unrepräsentierte Städte bzw. Konurbationen mit mehr als 10 000 Einwohnern sollten je einen M. P. wählen können (-1- 20 Sitze). Diese Umverteilung hätte eine Verkleinerung des House of Commons zur Polge gehabt. Von den 658 Sitzen sollten 168 Sitze kassiert, aber nur 106 wieder neu verteilt werden (die 97 genannten für England, dazu einer für Wales, 5 für Schottland, 3 für Irland).
Hegel: Reformbill. 487. „Die Bill ist in der Tat ein Gemisch von den alten Privilegien und von dem allgemeinen Prinzip der gleichen Berechtigung aller Bürger, — mit der äußerlichen Beschränkung einer Grundrente von zehn Pfund."
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2. Individuelle Wahlrechte — In den Grafschaften sollten zusätzlich zu den schon berechtigten 40sh-freeholders auch copyholders, deren Grundstücke mehr als £ 10 pro Jahr, und leaseholders, deren Grundstücke mehr als £ 50 pro Jahr abwarfen, das Stimmrecht erhalten. Bei den leaseholders mußte die Pachtdauer mindestens 21 Jahre betragen. — In den boroughs sollten alle bisherigen Wähler ihre Rechte (auf Lebenszeit) behalten, wenn sie am Ort wohnten; zusätzlich sollten alle männlichen, steuerzahlenden „occupiers" von Häusern, deren jährlicher Mietwert auf mehr als £ 10 geschätzt wurde, das Stimmrecht erhalten. Die leicht ungenauen Formulierungen Hegels betrafen diese individuellen Wahlrechte: Er ging offenbar davon aus (oder jedenfalls formulierte er so), daß die bisherigen Wähler ihr Wahlrecht verlieren und der neue Zensus universal gelten würde.Außerdem faßte er auch das Wesen des neuen £ 10-Zensus nicht ganz korrekt, wenn er feststeUte, „daß eine freie Rente von zehn Pfund, aus Grundeigentum gezogen," zum Wahlrecht qualifiziere^^: Das Kriterium war nicht die tatsächlich gezogene Rente, sondern der für lokale Steuerzwecke geschätzte, potentielle jährliche Ertrag aus Vermietung oder Verpachtung. Und schließlich unterschied Hegel auch nicht deutlich genug zwischen dem Wahlrecht in den (ländlichen) Grafschaften, das auf dem Wert von Grundstücken, und dem Wahlrecht in den (städtischen) boroughs, das auf dem Wert von Häusern beruhte. Es ist jedoch festzuhalten, daß Hegel als ausländischer Beobachter ein erstaunliches Maß an Sachkenntnis besaß. Der weitere Verlauf der Reformdebatte braucht hier nur noch kurz vorgestellt zu werden. Als das Parlament nach der Osterpause wieder zusammentrat, konnten auch kleinere Zugeständnisse, die Russell im Namen der Regierung am 18. April 1831 ankündigte, nicht verhindern, daß gleich die erste Abstimmung im Komiteestadium verlorenging (20. 4. 1831). Die Whig-Minister hatten diese Situation kommen sehen und schon im voraus dem König die Zustimmung zu einer sofortigen Parlamentsauflösung abgerungen. Diese erfolgte am 23. 4. 1831. Die Neuwahlen erbrachten einen triumphalen Sieg für die Reformer, so daß die am 24. Juni 1831 zum zweitenmal eingebrachte Bill problemlos das House of Commons durchlief. Das House of Lords verweigerte jedoch nach fünftägiger Debatte (3. —8. Oktober 1831) mit deutlicher Mehrheit Hegel: Reformbill. 489; . . aus der zahlreichen Masse derer, die insbesondere wegen der Erhöhung des WaWzensus dasselbe verlieren . . ., sind noch keine Petitionen gegen die ihnen so nachteilige BUl zum Vorschein gekommen." Hegel: Reformbill. 483.
Zum Kirchenzehnten in England
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die Zustimmung. An vielen Orten des Landes kam es daraufhin zu Unruhen und Demonstrationen. Die Whig-Regierung stand vor der Alternative, den Reformplan aufzugeben und die zu erwartenden revolutionären Bewegungen zu unterdrücken oder einen weiteren Anlauf zu unternehmen und eine Verfassungskrise mit König und Lords zu riskieren. Durch geschicktes Taktieren nach beiden Seiten gelang es den Ministern, die am 12. Dezember 1831 zum drittenmal eingebrachte Bill mit nur geringfügigen Modifikationen über die zweite Lesung im House of Lords zu retten (14. April 1832). Der Widerstand der Lords war aber noch nicht gebrochen, wie die erste Abstimmung im Komiteestadium über „Schedule A" bewies, die mit großer Mehrheit verlorenging (7. 5. 1832). Nachdem der König die daraufhin von Grey geforderte Kreation von etwa 60 neuen Peers verweigerte, trat das gesamte Kabinett zurück. Die Bemühungen von Wellington und seinen Freunden, eine Tory-Regierung zu bilden, die das Reformgesetz in modifizierter Form übernehmen sollte, scheiterten an der Unterhausmehrheit. Dem König blieb nichts anderes übrig als Grey zurückzurufen und ihm die Garantie eines Peersschubs, sollte er nötig werden, zu geben. Die gemäßigteren Tory-Lords verhinderten durch ihren Rückzug aus dem House of Lords, daß der König in die Lage geriet, den Peerschub vollziehen zu müssen. Die Bill passierte nun in kurzer Zeit das halbleere Oberhaus und wurde am 7. Juni 1832 Gesetz. Willibald Steinmetz
ZUM KIRCHENZEHNTEN IN ENGLAND
Als Hegel über die Reformbill schrieb, existierten in England, ansonsten der modernsten Gesellschaft im Europa der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, noch viele Züge des Anden Regime fort, das auf dem Kontinent in der Umbruchsepoche zwischen 1789 und 1815 um vieles gründlicher liquidiert worden war. Dies gilt unter anderem für das System der Kirchenfinanzierung. Während auf dem Kontinent der Staat, in Erankreich mit der Zivilkonstitution des Klerus und in Deutschland mit der Säkularisation und der Neubegründung des Staatskirchensystems, der materiellen Unabhängigkeit der Kirche ein Ende machte, blieb in England der Kirchenzehnt (tithe) immerhin bis 1836 erhalten — also acht Jahre länger als die Diskriminierung des protestantischen Dissent und der
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GüNTHER LOTTES
Katholiken, vier Jahre länger als die Wahlrechts- und Wahlkreisordnung, auf deren Grundlage sich die englische politische Kultur nach der Glorreichen Revolution entfaltet hatte, und zwei Jahre länger als das alte Armenrecht, das Old Poor Law, das der sich immer machtvoller entfaltenden britischen Eigentümer- und Marktgesellschaft angesichts der demographischen Herausforderung immer lästiger wurde.i Die Umbruchsepoche von 1789 bis 1815 rückte das im 18. Jahrhundert um seine Modernität beneidete England für alle Befürworter umfassender gesellschaftlicher Erneuerungen ins Zwielicht, während es umgekehrt für alle Konservativen zum Musterland eines organisch verlaufenden historischen Prozesses wurde. In England selbst wurde der Kirchenzehnt seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts zwar ebenfalls heftig attackiert. Obwohl das Konfessionsmonopol der anglikanischen Staatskirche durch die Toleranzpraxis seit der Glorreichen Revolution von 1688/89 vielfach durchbrochen war und der Säkularisierungsprozeß in England besonders weit fortgeschritten schien, richtete sich die Kritik jedoch weniger auf den grund- und freiheitsrechtlichen Aspekt, daß eine solche Steuer sowohl die von der anglikanischen Staatskirche abweichenden Protestanten als auch die — von den Iren und den irischen Einwanderern einmal abgesehen — weniger zahlreichen Katholiken zum Erhalt einer Kirche zwang, der sie nicht verbunden waren. Der Haupteinwand gegen den Kirchenzehnten war vielmehr ein ökonomischer, nämlich seine produktivitäts- und wachstumsfeindliche Wirkung, auf die schon Adam Smith und Arthur Young hingewiesen hatten. Was den Kirchenzehnten trotz der politischen Auswirkungen der Säkularisierung des Denkens seit dem späten 17. Jahrhundert, die auf dem Kontinent die Position der Kirche so nachhaltig erschüttert hatte, trotz der ökonomischen Kritik, die in der die politische Ökonomie zum Lebensgesetz wählenden englischen Gesellschaft des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts so viel Gehör fand, und trotz seiner Impraktibilität als Instrument der Kirchenfinanzierung so lange überleben ließ, war, daß er eben nicht ausschließlich zum Unterhalt des Klerus der anglikanischen Staatskirche diente. Schon vor der Reformation waren Laien im Zuge von Eigentumstransaktionen mit Klöstern vereinzelt in den Besitz von Zehntrechten gelangt. Die Reformation machte den Einzelfall für das gesamte zur Verteilung kommende Klosterland zum Regelfall. Seit 1 Vgl. Eric J. Evans: The Contentious Tithe. The tithe problem and English agriculture, 1750-1850. London 1976.
Zum Kirchenzehnten in England
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der Auflösung der Klöster war etwa ein Drittel aller Zehntbesitzer Laien. Der Kirchenzehnt wurde so zu säkularem Eigentum, das die eigentumsbewußte englische Rechtsordnung wie jedes andere Eigentum schützte. Der für England so typische Zug zur Vereigentümlichung aller Rechtstitel und einer dementsprechenden Gestaltung der gesellschaftlichen Beziehungen, der den englischen Modemisierungsprozeß durch die Herausbildung einer Eigentümer- und Marktgesellschaft so entscheidend gefördert hat, sorgte auf diese Weise — gleichsam contra rationem — für den Erhalt von Relikten einer Gesellschaftsverfassung, deren Liquidation die große Erfahrung der Epoche Hegels darstellte. Der Kirchenzehnt war eine Produktionssteuer, die speziell auf die Agrargesellschaft zugeschnitten war. Im Grundsatz unterlagen zwar alle Hervorbringungen der menschlichen Arbeit dem Zehnt. In der Praxis bezog er sich jedoch auf Feldfrüchte (predial tithe) und tierische Produkte einschließlich Wolle (mixed tithe), während der allgemeine Arbeitszehnte (personal tithe) nur selten erhoben wurde. Die Wirtschaftszweige, in denen das größte Wachstum und die größte Wertschöpfung erzielt wurden, erreichte der Zehnt also nicht. Natürlich war diese Steuer zumal dann, wenn sie tatsächlich in Naturalien geleistet wurde, schwer zu erheben. Die Zehntbesitzer überließen dies Geschäft deshalb häufig einem Steuerpächter oder optierten für eine „modus" genannte feststehende Geldzahlung, die in aller Regel unter dem tatsächlichen Wert des Zehnten lag. Derartige Vereinbarungen erwiesen sich längerfristig freilich wie andere fixe Zahlungen in der alteuropäischen Agrarverfassung und die Feudalgefälle als problematisch, weil sie sich der Entwicklung des Geldwerts und der Marktpreise nicht anpassen ließen. Die Tithe Commutation Act von 1836 trug dem Rechnung und wandelte alle Zehntrechte in Ansprüche auf eine Geldzahlung um, deren Höhe an die Preisentwicklung bei den Hauptfeldfrüchten, Weizen, Gerste und Hafer, angepaßt wurde. Die Kirchenfinanzierung blieb so weiterhin mit dem landwirtschaftlichen Sektor der britischen Nationalökonomie verbunden. Günther Lottes
PETER WENDE (FRANKFURT A. M.)
DIE DISKUSSION DER REFORMVORSCHLÄGE IM BRITISCHEN PARLAMENT „The British Constitution has been made a subject of praise by every writer who has touched upon the question [of the modes of govemment; P. W.]." Dieses über die Jahrhunderte gängige Stereotyp englischen politischen Selbstverständnisses besitzt für die politische Publizistik des deutschen Vormärz durchaus nicht mehr jene hier z. B. von Robert Peel während der Debatten um die Reformbill proklamierte universelle Gültigkeit.^ Nicht zuletzt Hegels Ausführungen Über die englische Reformbill legen hierfür eindrucksvolles Zeugnis ab.^ Für den Historiker rechnet diese kleine Schrift dabei in erster Linie zu der großen Zahl zeitgenössischer Versuche, den ebenso vielfältigen wie umfassenden und tiefgreifenden, sämtliche menschlichen Lebenssphären umfassenden Wandel im Jahrhundert der europäischen Revolutionen zumindest partiell, an gewissen Punkten oder unter bestimmten Aspekten, zu analysieren oder gar zu steuern. Sie zählt zugleich zu jenen Texten, welche sich des internationalen Vergleichs zur Bestimmung des jeweils eigenen Standorts im Modernisierungsprozeß bedienen. Dabei sind dergleichen Zeugnisse wechselseitiger interkultureller Wahrnehmung und Deutung stets besonders aufschlußreich in Bezug auf Differenzen und Eigentümlichkeiten der politischen Interessen im besonderen wie der politischen Kulturen im allgemeinen; gerade in der Entdeckung und Beobachtung des Fremden treten Wertskalen, die Maßstäbe nationaler Selbsteinschätzung besonders deutlich hervor.^ Dies durchaus gängige und ertragreiche Verfahren besaß für die deutsche Publizistik im Zeitalter der Restauration und des 1 The Parliamentary Debates from the Year 1803 to the present time. Published under the superintendence of T. C. Hansard. 3rd Series, Bd 2, 1340. Im folgenden: PDIII, mit arabischer Bandzahl und Angabe der zitierten Spalte. 2 Eher und im folgenden zit. nach G. W. f. Hegel: Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie. Hrsg, von G. Lasson. Leipzig 1913. Sigle: Hegel. 3 Vgl. E. Pankoke:,Englische Freiheit': Klassische Deutungsmuster deutscher Englandbilder. In: Englischer Liberalismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Hrsg, von K. Rohe. Bochum 1987. 33.
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Vormärz darüber hinaus den Vorzug, daß unter der herrschenden Zensur eher noch über ausländische denn einheimische Zustände berichtet werden konnte. Da somit jede von deutscher Seite angestellte Betrachtung bzw. Interpretation britischer Verhältnisse und Entwicklungen anderes und mehr war als getreuliches Abbild bzw. zuverlässige Übersetzung, bedarf es zur Entschlüsselung solcher zusätzlicher Botschaften des Rückgriffs auf das ursprüngliche Objekt der Betrachtung. Konkret heißt dies, daß hier kein Beitrag zur Diskussion um die Geschichte der englischen Reform von 1832 geleistet werden soll, sondern es lediglich darum geht, den Gegenstand von Hegels Interesse umrißhaft zu präsentieren. Zunächst sei daher kurz an die Ursachen, den Verlauf und die Ergebnisse der Parlamentsreform erinnert, wie sie sich in der Sicht der modernen Geschichtswissenschaft heute darstellen; alsdann aber sollen die unterschiedlichen Positionen und Argumente, wie sie im Verlauf der parlamentarischen Debatte um diese Reform eingenommen bzw. präsentiert wurden, nachgezeichnet werden. Dies vor allem, als Hegel aus den „bisherigen Debatten des Parlaments"^, vermittelt vor allem durch die Berichte des Morning Chronicle, seine Informationen zog. 5 Sein Interesse, so hebt er zu Anfang hervor, konzentriert sich dabei auf die , höheren Gesichtspunkte', welche diesen politischen Diskurs bestimmten, d. h. vor allem auf die Reichweite der projektierten Veränderungen für die englische Verfassungswirklichkeit. Hegels Schrift — wie das in ihr diskutierte Ereignis — ist somit in jenes große Spannungsfeld einzuordnen, wie es sich im 19. Jahrhundert zwischen den Polen ,Reform' und ,Revolution' aufbaut; — dies vor allem angesichts jenes Gemeinplatzes historischer Einsicht, demzufolge die erfolgreiche englische Parlamentsreform des Jahres 1832 als klassische Alternative zu den gescheiterten kontinentaleuropäischen Revolutionen der Jahre 1848/ 49 immer wieder bezeichnet wird. Doch wenn in der Historie Reform und Revolution aufeinander bezogen werden, hinken zumeist die Vergleiche, besonders dann, wenn versucht wird, beide Phänomene auf den Begriff zu bringen. Denn den zahlreichen und differenzierten Entwürfen zu einer historischen Theorie der Revolution lassen sich nicht einmal Ansätze zu einer adäquaten Theorie der politischen Reform gegenüberstellen; diese bleibt nach wie vor dringendes Desiderat der historischen Forschung.^ Daher soll * Hegel, 285. 5 Vgl. M. ]. Petry: Hegel and the Morning Chronicle. In; Hegel Studien. 11 (1976), 11—88. ® Ansätze hierzu lediglich bei E. Wolgast: Art. Reform, Reformation. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Hrsg. V. O. Brunner, W. Conze, R. Koselleck. Bd 5. Stuttgart 1984. 313—360.
Die Diskussion der Reformvorschläge im britischen Parlament
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schließlich im Verlauf der folgenden Ausführungen auch der Versuch unternommen werden, ggf. Ansätze für das Grundmuster einer , Reformkonstellation' zumindest in der Rhetorik der parlamentarischen Reformdebatte aufzuspüren. Als am 1. März des Jahres 1831 Lord John Russell dem britischen Unterhaus den Entwurf des Kabinetts Grey zu einer ,Act to amend the Representation of the People in England and Wales' vorlegte, besaß diese Initiative für eine Wahlrechtsreform eine nahezu zweihundertjährige Vorgeschichte. Bereits während der englischen Revolution zur Mitte des 17. Jahrhunderts hatten nicht nur die radikalen Levellers in ihren Verfassungsentwürfen eine partielle Demokratisierung des Wahlrechts gefordert, sondern die Verfassung des Protektorats zumindest eine Reform der Sitzverteilung für die kurze Spanne ihrer Geltung in die Tat umgesetzt. Später war es John Locke, der im Second Treatise seine eingehende Präsentation der englischen Konstitution als Muster für jegliche politische Organisation bürgerlicher Gesellschaft lediglich durch kritische Bemerkungen über das reformbedürftige Wahlrecht zum englischen Unterhaus einschränkte.^ Desgleichen erachteten Swift und Bolingbroke, Hume und sogar William Blackstone das Wahlsystem für ungerecht bzw. unzulänglich, doch lange Zeit blieb dergleichen Kritik auf die akademisch-intellektuelle Diskussion beschränkt, d. h. ohne nennenswerte Resonanz in einer breiten und damit politisch relevanten Öffentlichkeit. Hier trat in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts der entscheidende Wandel ein, als während der Krisenjahre 1763—83 zwischen dem Sturz des älteren und dem Regierungsantritt des jüngeren Pitt vor allem auch unter dem Eindruck des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges eine außerparlamentarische politische Szene Kritik und Opposition artikulierte und organisierte. Jetzt gerieten die englischen Zustände erneut in Bewegung, die Koordinaten des politischen Systems verschoben sich. Das Parlament, das während der vorangegangenen 150 Jahre seine unabhängige Existenz vor allem mit dem Argument, adäquate Vertretungskörperschaft der Nation zu sein, gegenüber dem Monarchen durchgesetzt hatte, sah sich nun seinerseits von dieser Nation in die Pflicht genommen, solchen Anspruch nachzuweisen. In dem Maße, wie gegen eine drohende Popularisierung der Politik die herrschende Elite ihr Machtmonopol unter der Maxime der Unabhängigkeit des Parlaments auch gegenüber ^ ]ohn hocke: Second Treatise of Civil Government. C. 157: „This strangers stand amazed at, and every one must confess, needs a remedy". Zu dem ges. Komplex vgl. /. Cannon: Parliammtary Reform 1640—1832. Cambridge 1973.
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der Öffentlichkeit zu verteidigen suchte, wurde der Ruf nach Reform dieses Parlaments, und das hieß besonders des geltenden Wahlrechts, immer wieder auf die politische Tagesordnung gesetzt; zunächst als Programm des außerparlamentarischen Radikalismus, später, als dieser während der Jahre der Auseinandersetzung mit dem revolutionären Frankreich weitgehend unterdrückt wurde, auch als das ,ceterum censeo' der parlamentarischen Opposition einer kleinen, prinzipientreuen Whig-Minorität. Und so lieferte schließlich den Anstoß zur erfolgreichen Reform des Jahres 1832 nicht erneute Aktivität im Rahmen der außerparlamentarischen Öffentlichkeit, nicht das Vorbild bzw. das Drohbild der französischen Juli-Revolution, sondern die Tatsache, daß nach dem allmählichen Verfall der über nahezu 50 Jahre nicht zu erschütternden Machtposition der Tories nun die Whigs wieder in die Regierung eintraten. Diese waren dabei jetzt von ihrem eigenen Programm in die Pflicht genommen. D. h. die Parteiräson bestimmte notwendig den Zeitpunkt der Reform, — allerdings in gleichzeitigem Rückgriff auf jenes langgehegte und wachsende Unbehagen, welches infolge des existierenden Mißverhältnisses von Anspruch und Wirklichkeit der Repräsentation der Nation durch das Parlament die eigentliche Ursache der Reformbestrebungen dars teilte. Das Problem der Repräsentation kann an dieser Stelle nicht erörtert werden. Hier sei lediglich an jene zahlreichen „Anomalien und Absurditäten der englischen Verfassung" erinnert, von denen auch Hegel in seiner Kritik der englischen Zustände ausging, Mißstände, die daraus herrührten, „daß die Grundlagen, nach welchen der Anteil bestimmt worden war, den die verschiedenen Grafschaften und Gemeinden Englands an der Besetzung des Parlaments hatten, im Verlaufe der Zeit sich vollkommen geändert haben . . . und allem widersprechend geworden sind, was in diesem Teile einer Verfassung als gerecht und billig dem einfachsten Menschenverstand einleuchtet. Hegel stützte sich bei diesen Beobachtungen auf zeitgenössische englische Kalkulationen, denen zufolge „die Majorität des Hauses in den Händen von 150 Vornehmen" sich befinde und darüber hinaus „die noch bedeutendere Anzahl von Sitzen käuflich" sei.® Ohne hier sattsam bekannte Skandalexempel wie Gatton und Old Sarum wieder zu erläutern, soll der Hinweis genügen, daß tat-
8 Hegel, 287. 9 Ebd.
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sächlich weniger als 10 % der Wahlberechtigten — 1831 belief sich deren Gesamtzahl wahrscheinlich auf ca. 495 0001*^ — über mehr als 50 % der Unterhaussitze entschieden. Mehr als 300 Wahlkreise besaßen weniger als 250 Wahlberechtigte und waren entsprechend leicht durch die Magnaten des politischen Establishment zu kontrollieren. Dergleichen Mißverhältnisse wurden allerdings von der Mehrheit der englischen Kritiker des Systems — sieht man von den Vertretern des britischen Radikalismus hier einmal ab — auch im Zeitalter der Aufklärung und der Französischen Revolution nicht mit demokratischen Maßstäben gemessen, nicht, wie auch Hegel zutreffend beobachtete, auf der Basis eines „modernen Prinzips, nach welchem nur der abstrakte Wille der Individuen als solcher repräsentiert werden soll".^i Ausgangspunkt für nachhaltige Kritik blieb vielmehr der klassische Grundsatz, dem zufolge im Parlament die unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen der Nation gemäß ihrem für die Konstituierung des politischen Gesamtwillens entsprechenden Gewicht angemessen vertreten sein müßten. Aber auch solche nicht quantifizierende sondern qualifizierende Analyse der Verfassungswirklichkeit mußte notgedrungen offenkundige Mißverhältnisse bestätigen, besonders angesichts der eklatanten Benachteiligung des modernen industriellen England in den Midlands und im Norden gegenüber etwa den fünf südwestlichen Grafschaften, die allein 25 % der Unterhausabgeordneten stellten. Unter diesen Voraussetzungen war die von dem Kabinett Grey eingebrachte Reformbill weniger auf eine generelle Ausdehnung des Wahlrechts als vielmehr auf eine Neuverteilung der Parlamentssitze durch Änderungen der Wahlkreiseinteilung ausgerichtet. An die dramatischen Stationen und die teilweise turbulente Geschichte dieser Vorlage bis hin zur endgültigen Ratifizierung am 7. 6. 1832 kann hier nur erinnert werden; lediglich eine Mehrheit von einer Stimme für die Bül in der 2. Lesung des Unterhauses am 23. 3. 1831; dann Niederlage der Regierung im Ausschuß, Auflösung des Parlaments und Neuwahlen mit überwältigender Mehrheit für die Reform. Daraufhin Annahme einer leicht veränderten Vorlage im Unterhaus im September und Ablehnung mit deutlicher Mehrheit im Oberhaus am 5. Oktober. 10 Die neuesten Untersuchungen zum Wahlrecht vor 1832 bei: F. O'Gorman: Vaters, Patrons and Party. The unreformed Electoral System of Hanoverian England 1734—1832. Oxford 1989. Kritisch dazu: D. Beates: The Electorate before and aper 1832. The Right to Vote and the Opportunity. ln: Parliamentary History 11 (1992), 139—150. 11 Hegel, 307.
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Die Folge: anhaltende und z. T. handgreifliche Proteste in der außerparlamentarischen Öffentlichkeit, langwierige, da schwierige, Verhandlungen mit dem König über das Ausmaß eines möglichen Pairschubs. Dann zwar Annahme der Bill in der 2. Lesung der Lords im April 1832, aber kurz darauf erneute Blockade im Oberhaus auf dem Wege des parlamentarischen Verfahrens. Nun Rücktritt der Regierung, der die parlamentarische Ohnmacht der Opposition offenlegt. Erneut heftige Reaktionen in der Öffentlichkeit. Schließlich passiert das Gesetz unter massivem Druck das Oberhaus. Das Ergebnis: 56 boroughs verloren ihr Wahlrecht, 30 durften künftig nur noch einen statt der üblichen zwei Abgeordneten ins Parlament entsenden. Ein Großteil dieser Sitze ging an neugeschaffene Wahlkreise, vornehmlich in den Regionen der neuen Industrien. Aber auch die ländlichen Grafschaften erhielten 60 zusätzliche Abgeordnete. Ergänzt wurden diese Eingriffe in die überlieferte Wahlkreisordnung durch eine Reform des Wahlrechts. Die buntscheckige Vielfalt in den boroughs, die in einigen allen selbständigen Hausbesitzern, in anderen nur den Eigentümern gewisser Grundstücke und in den meisten den Mitgliedern bestimmter Korporationen das Wahlrecht gewährt hatte, wich moderner Uniformität. Fortan war wahlberechtigt, wer Mieter oder Eigentümer eines Hauses war, dessen Jahresmiete mindestens zehn Pfund betrug und der darüber hinaus sämtliche Kommunalabgaben entrichtet hatte, ln den Grafschaften traten zu den seit altersher wahlberechtigten 40 sh. freeholders — den freien Eigentümern, deren ererbter Grundbesitz nach Abzug aller Steuern zwei Pfund an Jahreseinkünften erbrachte —, nun Erb- und Zeitpächter, die einen Mindestjahreszins von zehn Pfund bzw. fünfzig Pfund zu entrichten hatten. Zu welcher generellen Reichweite lassen sich die einzelnen Veränderungen summieren? Die Zahl der Wahlberechtigten war um gute 60 % gewachsen auf insgesamt 800 000, d. h. erfaßte ungefähr jeden siebten erwachsenen männlichen Engländer. Alte Ungleichgewichte waren wohl gemüdert aber nicht beseitigt worden. Immer noch entsandten die im Süden des Landes ansässigen 25 % der englischen Bevölkerung ein Drittel der Unterhausabgeordneten; immer noch vertraten 115 Abgeordnete Wahlkreise mit weniger als 500 Stimmberechtigten; immer noch kamen in den Grafschaften wesentlich mehr Wähler auf einen Abgeordneten als in den boroughs — 1 830 : 860 —, immer noch kontrollierten trotzdem die adligen Grundbesitzer zahlreiche Stimmgemeinden, so daß aufs Ganze das Übergewicht des ländlichen Einflusses erhalten blieb. Immer noch war Bestechung möglich und üblich, immer noch konnten auf die
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Wähler angesichts der öffentlichen Stimmabgabe Pressionen ausgeübt werden. 12 Auf den ersten Blick somit ein offenkundiges Mißverhältnis von politischem Aufwand und politischem Resultat. Auf der einen Seite langwierige und dramatische parlamentarische Auseinandersetzungen sowie Phasen öffentlicher Anteilnahme, welche gelegentlich Aufruhr und Revolution anzukündigen schienen — auf der anderen Seite ein Ergebnis, das keine revolutionäre Wende anzeigte, sondern lediglich partielle Korrekturen lang anstehender Mißstände vornahm. D. h. aber zugleich, die Frage zu stellen, in welchem Maße denn diese Reform jenes Jahrhundertwerk verkörperte, als das liberale Geschichtsschreibung sie immer wieder gepriesen hatte^^, inwiefern sie als ,Revolution im guten Sinne', d. h. als Alternative zur Revolution die notwendige Anpassung politischer Institutionen an die Erfordernisse einer neuen Zeit als neuer Stufe im historischen Prozeß ermöglichte und durchsetzte. Oder verdeckt der Begriff der Reform hier lediglich die Zielsetzungen einer kurzgreifenden Interessenpolitik, etwa einen Coup d'etat der Whigs gegen das politische Monopol der Tories auf dem Felde der ,nomination-boroughs'?i^ Oder verbarg sich hinter der Reform lediglich die Absicht der herrschenden agrarischen Eliten, durch Scheinkonzessionen an die allgemeine Öffentlichkeit Mängel des Systems im Sinne eigenen Machterhalts zu korrigieren, wie von Karl Marx bis hin zu D. C. Moore immer wieder behauptet wurde?^^ Doch selbst wenn solches zuträfe, genügte die Diskrepanz von unmittelbaren Zielsetzungen der Reformer und nicht intendierten Folgen der Reform, um dieser jenen historischen Rang zuzuerkennen, den sie allein deswegen besitzt, weil sie den ersten Schritt auf dem langen Weg der politischen Modernisierung Großbritanniens tat. Zumindest aus der Sicht des Historikers läßt sie sich nicht mit quantitativen Maßstäben mesDie Kontinuität zwischen unreformiertem und reformiertem System betonte vor O'Gorman vor allem N. Gash: Politics in the Age of Peel. A Study in the Technique of Parliamentary Representation 1830—1850. London 1953. Gleiches gilt in umgekehrtem Sinne für J. D. C. Clark, der mit den Reformen von 1829 und 1832 den Untergang des von ihm entdeckten englischen ,ancien regime' besiegelt sieht. (/. D. C. Clark: English Society 1688—1831. Cambridge 1985; ders.: Revolution and Rebellion. State and Society in England in the 17th and 18th Centuries. Cambridge 1986. 158 ff). Vgl. z. B. Disraelis Einschätzung der Reform in seiner ,Vindication of the English Constitution' oder J. Hobhouse, demzufolge Grey die Reform als „a mere trick of state for the Conservation of power" bezeichnet habe (bei: /. R. Dinwiddy: Front Luddism to the First Reform Bill. London 1986. 49 f). 13 D. C. Moore: The other Face of Reform. Victorian Studies. 4 (1961); ders.: The Politics of Deference. A Study of the Mid-Nineteenth Century English Political System. New York 1976.
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sen, ihre Bedeutung liegt vielmehr darin begründet, daß sie überhaupt stattfand, daß z. T. 400 Jahre altes Recht durch Setzung abgeschafft und geändert wurde, daß an die Stelle historischer Privilegien z. T. rationale Prinzipien wie das 10-Pfund-Wahlrecht traten. Auch wenn danach zunächst die grundlegenden Herrschaftsverhältnisse, die politische Vorrangstellung der Gentlemen weitgehend unverändert bestehen blieben, so war durch die Öffnung der Führungsschicht für die neue Klasse der Industriebürger der Weg nun aufgezeigt für künftig erforderliche Anpassungen des Systems bis hin zur vollständigen Demokratisierung. Weil zuerst ein behutsamer Schritt getan wurde — eine Wertung, die zumindest aus der Rückschau zulässig ist — konnten später weitere folgen, ohne daß revolutionäre Spannungen das überlieferte Verfassungsgebäude zerstörten, sich vielmehr die notwendige Modernisierung schubweise auf den alten Grundmauern und hinter der überlieferten Fassade vollziehen konnte. Das Prinzip der Reform als spezifische Form der Konfliktlösung war damit als die britische Alternative zur politischen Revolution eingeführt. Immer wieder wird darauf verwiesen als zugleich Ausweis einer britischen politischen Kultur, die sich in besonderem Maße durch nüchternen Pragmatismus und — damit verbunden — Kompromißfähigkeit auszeichne. Der Zeitgenosse Thomas Macconnell hatte in diesem Zusammenhang hervorgehoben, daß vor allem der freie politische Diskurs, das öffentliche Raisonnement die wesentlichen Voraussetzungen für den Übergang zu einer gewaltfreien Politik der Reformen geleistet habe.^^ Dieser ebenso optimistischen wie pauschalen Einschätzung läßt sich nicht ohne weiteres folgen, doch sie mag bei der Suche nach Konditionen und Grundmustern einer erfolgreichen Politik der Reform zum Anlaß dafür dienen, in dieser freien Diskussion bzw. in deren Zentrum, der parlamentarischen Debatte, nach relevanten Hinweisen zu suchen. „He has never read or heard of any measure up to the present moment which could in any degree satisfy his mind that the state of the representation could be improved, or be rendered more satisfactory to the country at large than at the present moment. . . He was fully convinced that the country possessed at the present moment a Legislature which answered all the good purposes of legislation, and this to a greater degree than any legislature ever had answered in any country whatever". So kurz, entschieden und bündig hatte als noch amtierender leitender Minister der Regierung Wilhelms IV. der Herzog von Wellington am Zit. bei: G. Niedhart: Geschichte Englands im 19. und 20. Jahrhundert. München 1987. 86.
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2. November 1830 seine Absage an jegliche Parlamentsreform formuliert, Er tat dies in Reaktion auf die Ankündigung führender Whig-Politiker, angesichts weitverbreiteten Aufruhrs in Südengland das neugewählte Parlament abermals mit einem Antrag auf Wahlrechtsreform zu konfrontieren. Nicht zuletzt wegen dieser kompromißlosen Absage verlor das Kabinett Wellington kurz darauf seine parlamentarische Mehrheit und eröffnete damit der neugebildeten Regierung Grey die Chance zu der berühmten Gesetzesvorlage vom 1. 3. 1831, die nicht nur die Gegner, sondern selbst die Anhänger der Reform durch ihre Radikalität überraschte, insbesondere was die Zahl der abzuschaffenden boroughs betraf. In diametralem Gegensatz zu Wellington betonte in seiner Begründung der Bill Lord John Russell die unabdingbare Notwendigkeit der Reform, für die darüber hinaus , right', ,reason', ,policy' und ,expediency' sprächen.!^ Nicht die Vollkommenheit der Verfassung verbiete jede reformerische Maßnahme, vielmehr stelle sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Frage, „whether or not the Constitution would now perish if Reform be deferred". Damit waren die Positionen zwischen den parlamentarischen Konkurrenten formuliert: auf den ersten Blick mehr oder weniger unvereinbar, dennoch nach mehr als einem Jahr voller Turbulenzen ein Einlenken der Gegner, die man nun im Unterhaus zwar niederstimmen konnte, die im Oberhaus, wo sie bis zum Schluß über eine stattliche Mehrheit verfügten, dann doch der finalen Machtprobe auswichen und die in der Folgezeit keinerlei Absichten zu erkennen gaben, die Reform unter veränderten Mehrheitsverhältnissen rückgängig machen zu wollen. D. h., wenn auch die Debatte nicht in einen Kompromiß im klassischen Sinne mündete, so steht doch an ihrem Ende ein Konsens, der sich als durchaus tragfähig erweisen sollte. Wichtigste Voraussetzung hierfür war sicherlich, daß der Konflikt um die Reform innerhalb der Elite der politischen Nation ausgetragen wurde. Die ohnehin durchlässige Grenzlinie zwischen den Parteien ließ sich mit ökonomischen bzw. sozialen Kategorien nicht definieren. Greys Reformkabinett setzte sich nahezu ausschließlich aus Vertretern der Aristokratie zusammen. Unterschiede existierten allerdings im Vergleich der jeweiligen Klientel, deren Stamm bei den Tories die anglikanische Gentry bildete, während die Whigs eher im Bereich der städtischen Mittelschichten sowie unter den dissenters ihren 17 1* 19 20
PDIII, 1, 52 f. Vgl. Cannon (wie Anm. 7), 214. PD III, 2, 1069. PD III, 2, 1087.
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Anhang rekrutierten. Wenn auch dergleichen Verbindungen die Haltung der Parteien zur Frage der Reform in gewissem Maße mitprägten, waren dennoch die relevanten Differenzen zwischen Whigs und Tories nicht ideologischer Natur, keine Interessengegensätze, sondern das Ergebnis unterschiedlicher Strategiekonzepte, die allerdings gelegentlich für die Beteiligten mit z. T. diametral entgegengesetzten Zielvorstellungen verbunden waren. Ein Blick auf das Arsenal der jeweiligen Argumente mag dies verdeutlichen. Für den Verlauf der Debatte wie auch für den Gang der Ereignisse war von entscheidender Bedeutung, daß Wellington zu Beginn mit seiner dezidierten Absage an jede politische Reform dem Gegner die Chance eröffnet hatte, den Schlüsselbegriff ,Reform' vollständig zu okkupieren, was nach den vorangegangenen wichtigen Entscheidungen wie z. B. der Katholiken-Emanzipation durchaus keine Selbstverständlichkeit war. Die Whigs konnten somit nahtlos an die eigene politische Tradition anknüpfen und sich als die Partei der Reform profilieren, zu der es keine Alternative gab. Und sie konnten diese Position bis zum Ende behaupten, weil auch unter veränderten Konditionen die Tories es verabsäumten, ihrerseits konkrete Reformvorschläge zu präsentieren. Der Begriff der Reform wird dabei von den Anwälten dieser Reform in vielfache Beziehung zu dem zweiten zentralen Begriffsfeld , öffentliche Meinung', ,Volk' (public opinion-people) gesetzt.Das immer wiederkehrende zentrale Argument der Reformer ist nämlich der Hinweis auf die Notwendigkeit der Wiederherstellung jenes allgemeinen Grundkonsenses, der von altersher die Verfassung des Landes getragen habe und der seit geraumer Zeit gestört sei, wie die öffentliche Meinung als untrüglicher Indikator zuverlässig anzeige. „We are of opinion, that these institutions, resting as they have ever done on the confidence and love of the Englishmen, must continue to rest on the same foundation" konstatiert Russell daher zu Beginn seiner ersten großen Rede, um anschließend darauf abzuheben, daß „the confidence of the country in the construction and Constitution of the House of Commons is . . . gone for ever".22 Um dieses gestörte Vertrauen in die Institutionen der Verfassung wieder herzustellen, bedürfe es der Reform. Der ausdrückliche Bezug auf die öffentliche Meinung bzw. das Volk liefert den roten Faden, Vgl. A. Wirsching: Parlament und Volkes Stimme. Unterhaus und Öffentlichkeit im England des frühen 19. Jahrhunderts. Göttingen 1990. 19; „Die Debatten um 1832 machen deutlich, daß in der Sicht der Zeitgenossen das zentrale Problem der Reform das Verhältnis von Unterhaus und öffentlicher Meinung war." 22 PDIII, 2, 1062, 1065,
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der sich durch die Argumentation der Reformer zieht. Nicht nur entschiedene Liberale wie Russell, sondern auch der eher konservative Palmerston gelangt nach wiederholten Verweisen auf , public opinion' als die Richtschnur allen politischen Handelns zu dem Ergebnis: „It was this strong expression of public opinion that made change necessary, and that forced the House to consider and devise measures to eure the defects in our representation."^^ Ähnlich formulierte das einzige bürgerliche Kabinettsmitglied Charles Grant am 21. 3.: „Public opinion has taken the character of a settled sentiment, and is founded upon principle. No statesman worthy of the name will say that public opinion ought to be disdained or disregarded."^^ Und schließlich war es Grey selbst, der in seiner Rede aus Anlaß der 2. Lesung im House of Lords, jener Sitzung, die den Höhepunkt der parlamentarischen Auseinandersetzungen bildete, ebenfalls eindringlich das politische Gewicht der allgemeinen Volksstimmung beschwor.25 Damit suchte er zugleich das zentrale Argument der Reformgegner zu entkräften, welches diese in zahlreichen Variationen der Wellingtonschen Beschwörungsformel entwickelten: den Hinweis auf die existierende Verfassung als die beste aller möglichen.^6 Solchen z. B. an Blackstone geschulten Lobpreisungen eines ausbalancierten Systems von Institutionen setzten Grey und seine Anhänger den Geist der Verfassung entgegen, der vor allem auf dem Konsens der Nation basiere. „One thing, however it may be praised, the present System unquestionable has not done — it has not conciliated the affections and feelings of the people. If it be necessary for every Government to possess the confidence and good opinion of the people, if that confidence and good opinion are necessary to inspire affection and create obedience to authority, then I must say, that so far from the present System working well, no System ever worked more unfortunately. "^7 Von daher bezog die projektierte Reform in der Argumentation mit dem politischen Gegner und bei den meisten Reformern sicherlich auch in ihrem politischen Selbstverständnis ihren konservativen da konservierenden Charakter. Es gehe nicht um Veränderung, sondern um die Wiederherstellung der bewährten überlieferten Verfassung, damit die von allen als oberstes politisches Ziel deklarierte Stabilität der politischen Or23 24 25 26 27
PDIII, 2, 1320. PD III, 3, 665. PD III, 7, 936. Z. B. Sir Robert Inglis, PD III, 2, 1108. PD III, 7, 950.
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ganisation der Gesellschaft auch für die Zukunft gewährleistet sei.^^ Deshalb dürfe die Verfassung nicht als auf ewig unveränderbarer Komplex von Institutionen begriffen werden, müsse sie doch stets organisch dem historischen Fortschritt angepaßt werden, und dies gelte zuerst und vor allem für das Parlament als die Vertretungskörperschaft der Nation. „I wish to argue this question on this principle" — so Rüssel zur Eröffnung der Debatte im neugewählten Unterhaus am 24. 6. 1831 — „that the Constitution of this House, instead of being a settled, perpetual and invariable Constitution — one which, as we were told — had never changed . . . [it was; P. W.] a Constitution, that never was, for any fifty consecutive years during a long period of time, settled and stationary . . ."^9 Jene Verbindung von Reform, öffentlicher Meinung und historischem Modernisierungsprozeß, die im Zentrum der Argumentation der Reformer steht, wurde am eindringlichsten, differenziertesten und beredesten durch T. B. Macaulay vertreten. In drei großen Reden am 2. 3., 4. 7. und 20. 9. 1831 verteidigte er die Vorlage der Regierung im Unterhaus. Dabei knüpfte er, zwar unausgesprochen aber in der Substanz offenkundig, an die Revolutionstheorie des Republikaners James Harrington an, dessen Erklärungsmodell für den Ausbruch der englischen Revolution des 17. Jahrhunderts nun von Macaulay aufgegriffen wurde, um die Reform seiner Partei als einzige Alternative zur drohenden englischen Revolution des 19. Jahrhunderts zu präsentieren. „The whole history shews, that aU great revolutions have been produced by a disproportion between society and its institutions; for while society has grown, its institutions have not kept pace and accomodated themselves to its improvements."30 Reformieren heißt daher für den Liberalen ganz im Sinne Burkes nicht gegen die Geschichte sondern im Einklang mit ihr zu handeln. „The history of England is the history of a succession of Reforms; and the very reason that the people of England are great and happy is, that their history is the history of Reform. Wenn Macaulay dabei nun auf die gravierenden Diskrepanzen zwischen dem Stand der ökonomischen und gesellschaftlichen Modernisierung auf der einen Seite und der Präsenz überlebter Geschichte besonders im Bereich von Justiz und Verwaltung auf der anderen Seite verweist, wird zudem deutlich, daß Hegels Kritik an den britischen Zuständen durchaus auch ihre britischen Vorbilder be^ Vgl. z. B. Russell, PDIII, 2, 1088: . . to give security to the Throne, stability to Parliament and the Constitution, and strength and peace to the country." 29 PD III, 4, 327. 30 PD III, 4, 776; vgl. auch PD III, 2, 1195. 31 PD III, 4, 776.
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saß. 32 Hier Abhilfe zu schaffen heißt daher für Macaulay, durch Reform des geltenden Wahlrechts den Repräsentanten einer neuen Zeit, den Trägern der Industrialisierung, Zugang zum Parlament, zur politischen Mitbestimmung zu verschaffen, die politische Nation für eine neue dynamische und erfolgreiche Klasse zu öffnen. Indem Macaulay zugleich den allgemeinen Grundkonsens ganz im Sinne der Utilitaristen definiert, folgert er: „The end of government is the happiness of the people; and I do not conceive that, in a country like this, the happiness of the people can be promoted by a form of government, in which the middle classes place no confidence . . ."33 „Reform, that you may preserve".34 In diese Formel faßt Macaulay das politische Programm der Regierung und präsentiert sie als Formel zur Rettung des Vaterlands, zu der er im dramatischen rhetorischen Finale seiner ersten Rede aufruft, die schließlich in dem Appell gipfelt: „Save the greatest, and fahrest, and most highly civilized community that ever existed."33 In eben diesem Sinne hatte allerdings auch die Opposihon zum Widerstand gegen eine Parlamentsreform aufgerufen, deren Folge notwendig sein würde, „that every institution in the country would crumble into dust, or would be crusted into powder, in ten years".36 In der Nachfolge Burkes — so wie sie ihn verstehen bzw. verstanden wissen wollen — verwahren sich die Tories aufs entschiedenste dagegen, daß der Mensch Hand anlege an das, was die göttliche Vernunft, wie sie sich in der Geschichte Englands offenbare, im Laufe der Jahrhunderte geschaffen habe: die englische Verfassung. Statt die Revolution abzuwenden, werde ihr die projektierte Reform auf längere Sicht hin Tor und Tür öffnen; und dies in mehrfacher Hinsicht: Zum einen durch die Verletzung bestehender Eigentumsverhältnisse, unter welche die Aufhebung der sogenannten ,nomination-boroughs' falle. Zum anderen durch den wiederholten Bezug auf die außerparlamentarische Öffentlichkeit. Dieser 32 Vgl. PDIII, 4, 777 f: „But let me ask, are foreigners equaUy struck with the exceUence of our legislative enactments — with the modes of conveying land, or of conducting actions — and with a Penal Code that seems purposely contrived to puzzle and ensnare? . . . Let us contrast our commerce, wealth, and perfect civUization, with our Penal Laws — at once barbarous and inefficient — the preposterous fictions of pleading — the mummery of fines and recoveries — the chaos of precedents, and the bottomless pit of Chancery." 33 PD III, 2, 1199. 34 PD III, 2, 1204. Ähnlich auch der Abgeordnete Geffrey am 4. 3. 1831: „. . . it becomes necessary to alter, adapt, and enlarge those institutions, in Order to accomodate the continually increasing number of intelligent and independent dtizens." (PD III, 3, 62). 35 PD III, 1205. 2, 1205. 36 Sir Robert Inglis als erster Redner der Opposition am 1. 3. 1831, PD III, 2, 1126.
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werde in der Argumentation der Reformer ein Stellenwert zuerkannt, der dem legitimen Anspruch des Parlaments, die alleinige Vertretungskörperschaft der Nation zu bilden, Hohn spreche. Kurzfristig die Forderungen des Volkes aufzunehmen, sei eine ebenso unzulässige wie gefährliche Demokratisierung der Politik. „This House would not be bound by the cries of a majority of the people to decide in favour of any change"37, denn das Unterhaus sei kein Vollzugsorgan des Volkswillens, so wenig wie der einzelne Abgeordnete an ein imperatives Mandat gebunden sei. Vor allem aber ersetze das neue System, indem es den Fortbestand der boroughs von einer Mindestzahl von Einwohnern abhängig mache, Qualität durch Quantität, Eigentumsrechte und historische Privilegien durch Kopfzahl, wobei die Ausdehnung des Wahlrechts bei gleichzeitiger Nivellierung und Uniformierung den ersten Schritt in Richtung Demokratie bedeute. Immer wieder verweisen die Redner der Opposition besonders auf zwei unmittelbar drohende Konsequenzen der Reform. Zum einen werde das bewährte Prinzip der , virtual representation' aufgegeben, das bislang eine adäquate parlamentarische Repräsentation sämtlicher gesellschaftlicher Interessengruppen gewährleistet habe, zum andern werde mit der Aufhebung der ,nomination-boroughs' nicht nur die historische Elite entmachtet, sondern herausragenden politischen Talenten künftig der Weg ins Unterhaus blockiert. Seien doch gerade Politiker wie Burke und der ältere Pitt, Sheridan und Canning durch jenes Verfahren ins Parlament gelangt, das nun als ,Korruption' diffamiert werde, nämlich dadurch, daß einflußreiche Magnaten ihnen sichere Wahlkreise zur Verfügung gestellt hätten. Stattdessen werde künftig Ausdehnung und Uniformität des Wahlrechts eine Nivellierung des politischen Profils des Hauses zur Folge haben. Besonderes Gewicht besaßen in diesem Zusammenhang die Einlassungen Robert Peels, rücht nur aufgrund seiner Stellung in der Partei, sondern weil er als Repräsentant jener bürgerlichen Kräfte, denen die Reformer ihre Reform anboten, auftrat und gegen die Bill Position bezog: „Sprung as I am from those classes, and proud of my connexion with thern.''^® Darüber hinaus traf er gerade die entschiedenen Reformer mit seinem Vorwurf, daß mit der Einführung eines Zensus nun sämtlichen Mitgliedern der ,lower classes' das Wahlrecht genommen werde, das sie bislang zumindest in einigen Wahlkreisen wie z. B.
37 PDIII, 2, 1095. 38 PD III, 2, 1338.
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Preston und Coventry besessen hatten.Stattdessen drohe nun — trotz aller gegenteiliger Versicherungen — die Gefahr der endgültigen Demokratisierung, denn das hier praktizierte Verfahren, durch Ausweitung des Wahlrechts sich künftige Mehrheiten zu sichern, werde alsbald Schule machen, „others will outbid you, not now, but at no remote period — they will offer votes and power to a million of men, will quote your precedent for the concession, and will carry your principles to their legitimate and natural consequences".^*^ Schließlich werde ein Unterhaus auf demokratischer Basis, als „assembly of populär delegates"^i mit seinem politischen Gewicht die Verfassung aus der Balance bringen, d. h. auf Kosten des Oberhauses und der Krone seine politische Souveränität zur Alleinherrschaft ausbauen.Kurzum, das rekurrierende Thema der Rhetorik der konservativen Gegner der Reform war die Beschwörung der Gefahr der Revolution, das Fazit: „the result will be that at last we shall have a revolution gradually accomplished by due form of law".^^ Soviel zur Rekapitulation der Grundmuster der Argumentation der beiden Parteien, wie sie in zahlreichen Variationen bzw. hinter den endlosen statistischen und antiquarischen Beweisführungen Pro und Kontra immer wieder durchscheinen. In ihnen werden als Extrempositionen diejenigen markiert, die z. B. Grey am 3. 10. 1831 noch einmal resümierend gegenüber stellte. Die Gegner bezeichneten die Reform „as subversive of the Constitution, as revolutionary, as destructive of existing institutions of the State . . .", er selbst dagegen verteidigt sie „to be a measure of justice, sound policy, peace and conciliation".^ Die unterschiedlichen Wertungen und Prognosen, denen die Redner z. T. die Qualität von diametralen Gegensätzen zu verleihen suchten, lassen nun bei genauerer Zusicht als eine zentrale Voraussetzung für den Erfolg der Reform sehr wohl einen die Parteien integrierenden allgemeinen Grundkonsensus deutlich werden: die durchgehende Absage an Revolution und Demokratie, das durchgängige Bemühen um den Bestand der überlieferten Verfassung, das einhellige Bekenntnis zu den 39 PDIII, 2, 1346. 40 PD III, 1353. 2, 1353. 41 PD III, 1342. 2, 1342. 42 So z. B. Peel am 6. 7. 1831. „. . . what proof have you in the history of any country, that a populär assembly, formed on the principle of that uniform right of voting which you are about to estabhsh, has practicaUy coexisted with a Monarchy and with an aristocratical body." (PD III, 4, 881). 43 So in einem Brief vom 21. 9. 1831 der konservative Abgeordnete Croker, zit. bei /. D. C. Clark: English Society 1688—1832. Cambridge 1985, 393. 44 PD III, 7, 929.
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Werten der englischen politischen Kultur. Der Zielkonflikt zwischen den Parteien ist nicht von programmatischem Gewicht, sondern reduziert sich auf eine Strategiedebatte. Die sich ständig überkreuzende Argumentation, in der die Kontrahenten, statt Begriffe gegeneinander zu setzen, um das Monopol von Begriffen streiten, verweist auf den beträchtlichen Fundus gemeinsamer Grundwerte, die in die Tradition einer gemeinsamen politischen Kultur eingebettet sind. In der Debatte stehen nicht Reform und Revolution gegeneinander, sondern die Auseinandersetzung kreist um die Notwendigkeit und Reichweite von Reform und deren möglicherweise revolutionäre Qualität. Frühzeitig bereits versuchten nämlich die Tories auf dem Felde, auf dem zu Beginn geradezu leichtfertig Wellington den Begriff der Reform zur Disposition gestellt hatte, verlorenes Terrain wiederzugewinnen.^5 So attackierte man die Reformer mit dem bekannten Argument, daß sie tatsächlich die Revolution anstrebten: „The question was not one of reform, but a new creation"^^, um damit für die eigene Position den Begriff der Reform zurückzuerobern, der zugleich konservativ im Sinne von Wiederherstellung definiert wird. „I will teil him [Grey: P. W.], that the object of his Bill, whatever his Intention may be, cannot then be restoration; cannot then, be Reform.Im Verlauf der Debatte steigert sich zumindest die rhetorische Bereitschaft der Gegner der Reform, sich dem Prinzip der Reform zu öffnen. Robert Peel gibt dazu das Signal: „I do not hesitate to avow, that there might have been proposed certain alterations in our repräsentative System . . . limited in their degree, to which I would have assented."^» Dies heißt nichts anderes, als daß ebenso wie die Reformer sich grundsätzlich von jeglicher Revolution distanzieren, sich auf der anderen Seite allmähhch die Gegner dieser Reform sich grundsätzlich zur Reform bekennen. Solche Annäherungen sind verbunden, ja erwachsen z. T. erst aus einer weiteren politischen Kurskorrektur der Konservativen: der zunehmenden Hinwendung zur außerparlamentarischen Öffentlichkeit, deren Willenskundgebungen nicht mehr kom^ Macaulay z. B. hatte diesen Fehler geschickt ausgenutzt, indem er seine erste Rede mit den Worten einleitete: „It is a circumstance, Sir, of happy augury for the measure before the House, that almost all of those who have opposed it have declared themselves altogether hostUe to the principle of Reform." (PDIII, 2, 1190). « Charles Wetherell, PDIII, 2, 1127. Inglis, PD III, 2, 1104. Vgl. auch Peel: „. . . fhe projecfed Reform is not a restoration of the Constitution" (PD III, 4, 861). ■t® PD III, 2, 1344. Deutlicher noch am 6. 7. 1831: „I would . . . support a measure of Reform introduced by my opponents, provided that measure was perfectly consistent with the safety of the institutions of the country." (PD III, 4, 890).
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promißlos die Unabhängigkeit des Parlaments entgegengestellt wird. Bereits zu Beginn der Debatte, als den Reformern zum Vorwurf gemacht wurde, die Öffentlichkeit in ihrem Sinne zu inszenieren und zu steuern^^, wurde diese damit implizit als Regulativ der Politik anerkannt. Vollends wird dann der Wechsel nach den Wahlen des Sommers 1831 vollzogen, als aus Anlaß der zweiten Lesung im Oberhaus selbst der entschiedene Reformgegner Earl Harrowby konzedierte: „I admit the general feeling to be still in favour of a change, and perhaps no small change, in the Constitution of the House of Commons. Kein Wunder, daß dergestalt zunehmende Konvergenz der Argumentationslinien von den Reformern in wachsendem Maße genutzt wird. Immer wieder verweisen sie darauf, daß angesichts der parteiübergreifenden Einsicht in die Notwendigkeit von Reformen die Gegner einen Grundsatzkonflikt nicht eigentlich aufzeigen könnten, sondern lediglich herbeireden wollten. „Here we are now, nearly all Reformers — all Reformers in some way or other — in some degree or other — for not one member has declared himself opposed to the principle of reform" konstatiert z. B. Macaulay am 4. 7. im Unterhaus und ähnlich Brougham in seiner viereinhalbstündigen Rede vor den Lords am 7. 10. „Yes — all avow themselves friendly to the principle; — it is a matter of much complaint, if you Charge one with not being a Reformer. Konsequenterweise wird dann auch fast ausschließlich um das Ausmaß und die Zielrichtung der Reform gestritten, d. h. darüber, ob und wo Quantität eventuell in eine neue Qualität umschlägt, die Reform zur Revolution gerät. Von daher nun lieferten die Whigs und Liberalen ihre rhetorischen Beiträge zum allgemeinen Grundkonsens, indem sie nicht müde wurden, nicht nur ihre Distanz zur Revolution — und das hieß konkret: zur Demokratie — zu betonen, sondern zugleich ihre Politik als Politik der Stabilisierung und Konservierung darzustellen, eben als „measure of Conservation"^^. Im Gegensatz zu der kleinen radikalen Fraktion betonte Russell bereits zu Anfang, daß die Reform bewußt nicht die klassische Forderung der Demokraten, die geheime Wahl einschlieVgl. Croker am 4. 3. 1831; „And now they summon us, in the name of the people, to yield a clamour which they confess, that they themselves have excited." (PDIII, 3, 87). 50 PD III, 7, 1171. 51 PD in, 4, 779; 8, 267. Vgl. auch Grant bereits am 21. 3. 1831: „The question as to Reform or no Reform, then, I consider is absolutely decided" (PD III, 665) sowie Grey vor den Lords am 3. 10. 1831: „. . . the admission of the principle of Parhamentary Reform was general. . ." (PD m, 7, 933). 52 Macaulay am 2. 3. 1831, PD IH, 2, 1193.
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ße.53 Aber nicht nur die Aristokraten unter den Reformern, denen zumindest unter Maßgabe grobschlächtiger Ideologiekritik unterstellt werden könnte, sie gewährten lediglich Scheinkonzessionen, um das Machtmonopol des landbesitzenden Adels abzusichern, beziehen gegen die Demokratie Position. Denselben Standpunkt vertritt z. B. Macaulay, als beredter Anwalt bürgerlicher Reformpolitik. Gerade weil er das Harrington'sche Modell einführt, welches politische Mitbestimmung als Konsequenz ökonomischen Potentials fordert, kann er guten Gewissens resümieren: „I oppose Universal Suffrage, because I think it would produce a destructive revolution."®^ Dazu fehlten, etwa im Gegensatz zu den USA, die notwendigen wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen.^s Im Gegenteil: die Ausdehnung des Stimmrechts auf die bürgerliche Mittelschicht soll den Radikalismus dämpfen, indem so durch diese Konzession die große Masse der Besitzlosen ihrer potentiellen Führungsgruppe beraubt werde. Die begrenzten und letztlich defensiven Zielsetzungen der liberalen Reformen wurden nicht nur in der Zensusschranke für die Ausweitung des Wahlrechts konkret, sie bestimmten darüberhinaus die Abgrenzungen und die politische Einschätzung dieser neuen bürgerlichen Klasse. Brougham ging in diesem Zusammenhang sogar soweit, den Begriff ,people' — und das heißt zugleich die Träger der vielbeschworenen öffentlichen Meinung — neu zu definieren und damit von der Masse des Volkes abzuheben. „But if there is a mob, there is the people also. I speak now of the middle classes — of those hundreds of thousands of respectable persons — the most numerous, and by far the most wealthy order in the community . . . who are also the genuine depositaries of sober, rational, intelligent, and honest English feeling . . . right-judging men, and, above all, not given to change. . . . Their Support must be sought, if the Government would endure — the support of the people, as distinguished from the populace, but connected with that populace, who look up to them as their kind and natural protectors. The middle dass, indeed, forms the link which connects the upper and the lower Orders . . In Verbindung mit der stereotyp gelieferten Versi53 PD in, 2, 1084 f. 54 PD in, 2, 1192.
55 Vgl. auch Macaulay: „I beUeve that there are societies in which every man may safely be admitted to vote . . . If the labourers of England were in that state in which I, from my soul, wish to see them, — if employment were always plentiful, wages always high, food always cheap .. . the principal objection to Universal Suffrage would, I think, be removed." (PD in, 2, 1191 f). 55 PD III, 8, 251 f. Vgl. auch Lord Durham am 28. 3. 1831: „The lower Orders of the people have ever been set in motion by their superiors . . . From the multitude therefore we take the
Die Diskussion der Reformvorschläge im britischen Parlament
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cherung, daß die projektierte Reform endgültig seP^, suchte man so den Beweis für die antirevolutionäre, ja letztlich konservative eigene Grundhaltung und auch Zielsetzung zu führen. Beschränkt auf das begrenzte Feld der parlamentarischen politischen Rhetorik werden bestimmte Grundvoraussetzungen einer erfolgreichen ReformpoHtik deutlich: eine Konvergenz politischer Positionen unter den auf diesem Feld agierenden Kontrahenten, die auf einer vergleichbaren Einschätzung der Situation und einem Konsens über politische Normen beruht, wie er nicht zuletzt in der gemeinsamen Sprache, dem Einsatz und dem Stellenwert zentraler Begriffe durchscheint. Dieser für die Reform unabdingbare Grundkonsens ist Ausdruck der bereits erwähnten Homogenität der politischen Klasse, deren Vertreter im Parlament um das Ausmaß der Reform stritten. Dies hatte auch Hegel deutlich gesehen: „So sehr es [das Parlament; P. W.j in Parteien unterschieden ist, und mit so großer Heftigkeit diese einander gegenübertreten, so wenig sind sie Fraktionen; sie stehen innerhalb desselben allgemeinen Interesses."58 Dies kann natürlich nicht heißen, daß die mit Vehemenz geführte und an dramatischen Höhepunkten reiche parlamentarische Auseinandersetzung zwischen Befürwortern und Gegnern der Reform lediglich eine für die Öffentlichkeit geschickt inszenierte Spiegelfechterei gewesen sei. Vielmehr ließ diese deutlich werden, in welchem Maße das, was aus der Distanz als Strategiedebatte erscheint, in der Hitze des Gefechts den Beteiligten in ihrem Selbstverständnis zur durchaus programmatisch verstandenen Differenz um die revolutionären Implikationen von Reform geriet. Dieser Parteienstreit trug dabei wesentlich zum Erfolg der Reform bei. Insofern nämlich läßt sich dem zuvor erwähnten Hinweis Macconnels auf den Stellenwert der öffentlich geführten Diskussion durchaus zustimmen, als dadurch zumindest rhetorisch die Front zwischen der politischen Nation und den bislang von dieser ausgeschlossenen, nach politischer Mitsprache drängenden Klassen, in das Parlament verlegt wurde. Die Anwälte der Reform konnten so eine Stellvertreterdiskussion führen, trotz ihrer überwiegend konservativen Zielsetzungen auch radikale Forderungen aus dem außerparlamentarischen Bereich integrieren. Die Reformdebatte eskalierte deswegen nicht zur revolutionsträchtigen Konfrontation von Staatsgewalt und Öffentlichkeit, weil diese mit der Parole „the Bill, the whole Bill and nothing but the body from whence they derived their leaders, and the direction of their movements. To property and good order we attach numbers ..." (FD III, 3, 1029). Z. B. Macaulay: „I do declare that this Reform of ours is final." (PD III, 4, 780). 58 Hegel, 321.
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Bill" die im Parlament formulierten Reformziele akzeptierte. Wieder einmal bewährte sich die Interaktion von ,Parlament und Volkes Stimme'. Der Konsens griff über das Parlament hinaus und bestätigte dieses damit in seiner Funktion als politisches Aktionszentrum. Unter solchen Voraussetzungen konnte Reform durchgeführt werden in jenem Sinne, den bereits das ausgehende 18. Jahrhundert als Kontrast zur Revolution bestimmt hatte: als verfassungsgemäße Veränderung im Rahmen des bestehenden Systems durch die Anpassung überholter Formen an neue Bedingungen auf der Grundlage der Übereinstimmung des Reformkonzepts mit der allgemeinen Überzeugung.^
5® Vgl. A. Wirsching (wie Anm. 21), 19. ^ Vgl. E. Wolgast: Reform . . . (Anm. 6), 344.
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THE 'PRUSSIAN STATE GAZETTE' AND THE 'MORNING CHRONICLE' ON REFORM AND REVOLUTION If one is intent on getting to grips with the intrinsic significance of HegeTs article on the English Reform Bill, there is much to be said for beginning by considering the way in which certain universal concepts, — in this case one might make particular mention of atomism and subjectivity, — are evaluated and contextualized in such purely philosophical works as the Science of Logic and the Jena Phenomenology. To a certain extent the vehemence with which he inveighs against the Whig proposals for extending the franchise, the vigour with which he criticizes the British Constitution on account of the ineffectiveness of the Crown, are the direct outcome of the manner in which he has already assessed such logical categories and the general cultural attitudes associated with them, in these more purely philosophical works. Once the more concrete argumentation of the article comes under consideration, one will also have to take into account those sections of the Encyclopaedia in which specific topics such as the codification of the law, poor relief, the functioning of the monarchy, the selection and training of civil servants, taxation, elections etc., are dealt with systematicaUy. There are certainly important and far-reaching Connections between the arguments put forward in HegeTs political joumalism and the expositions provided in his more purely systematic works, and anyone expounding one or the other aspect of his general attitude will do well not to overlook them.^ Taking them into consideration is, however, only the general starting-point for any satisfactory appraisal of his writings. Even a CLusory reading of such articles as The German Constitution (1799/1802), The Wurtemberg Estates (1817) and The English Reform Bill (1831) soon makes it apparent that we have little chance of understanding what he 1 Science of Logic. Tr. by A. V. Miller. London 1969. 164—184; Wissenschaß der Logik. Ed. by Georg Lassen. Vol 1, 154—176. K. Düsing: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. Bonn 1984. Hegel: Philosophy of Right. Codification § 216, poor relief § 241, monarchy §§ 275—286, civil servants § 289, elections § 308.
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was really driving at unless we are prepared to acquire a pretty detailed and comprehensive knowledge of their historical context, — of the actual issues at stäke when Germany was facing the initial impact of the French revolutionary wars, when the king of Wurtemberg was wrestling with post-war constituhonalism, when the Whigs were attempting to steer their bill through the Commons. Hegel's journalism was clearly intended not only to embody the broad principles of his general philosophy, but also to throw a constructive light on the complexities of certain current situations. There is, therefore, plenty of scope for reconstructing the actual historical contexts in which he was writing.^ In a certain respect the article on the Reform Bill is the most challenging of his three main essays on current political developments, since although it is ostensibly an analysis of an English Situation, it is in fact very deeply concerned with a purely Prussian predicament. He is commenting upon English affairs in order to make, or rather imply, a number of important points relating to his own immediate envtronment. If one is to understand the article aright, therefore, one has to take into consideration not only the Berlin context in which he was writing, but also the English political scene he was pretending to interpret.^ I. The spring of 1831
It was on Tuesday March Ist 1831, at six o'clock in the evening, that Lord John Russell, — Member of Parliament for the ducal borough of Tavistock, paymaster-general, but not actually a member of Grey's cabinet, — rose in the House of Commons, looking "very pale and subdued", in order to introduce the Whig proposals for, "an Act to amend the representation of the people". The very formulation was revolutionary. The concept of the Constitution's representing the people of England had last been mooted in practical politics, as distinct from mere political theory, nearly two hundred years before, during the disturbances brought about by the breakdown of the administration of Charles I. On October 28th 1647, during the final phases of the civil war, an "agreement of the people for a firm and present peace upon grounds of common right" had been presented to the Council of the Army, in which a proposal very similar to that introduced by Lord John Russell 2 Hegel's Political Writings. Tr. by T. M. Knox, ed. by Z. A. Pelczynski. Oxford 1964. 3 F. Rosenzweig: Hegel und der Staat. München, Berlin 1920. Vol 2. 230.
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had been put forward. It was declared in this extraordinary document, which almost certainly owed something to the Protestant political theorists of the French religious wars, that: "the people of England, being at this day very unequally distributed by Counties, Cities, and Boroughs for the election of their deputies in Parliament, ought to be more indifferently proportioned according to the number of the inhabitants; the circumstances whereof for number, place, and manner are to be set down before the end of this present Parliament." That this was, at that time, not simply a one-off requirement, an eccentric oddity of the current political awareness, became fully apparent once the king was brought to trial, arraigned before a so-called "high court of justice" for "levying war against Parliament and people". When the king enquired of the lord president of the court, John Bradshaw, on what authority he had been submitted to these procedures, he was told that it was that of, "the name of the people of England, of which you are elected King". The monarch's reply was clear and unequivocal enough: “England was never an Elective Kingdome for neer these thousand years; therefore let me know by what authority I am called hither. I do stand more for the Libertie of my People, than any here that come to be my pretended Judges: and therefore let me know by what lawfull authority 1 am seated here, and I will answer it, otherwise I will not answer it." When viewed in the perspective of English constitutional history, therefore, Lord John RusselTs bill for "amending the representation of the people" was a harking back to the deplorable social, legal and political confusions of the seventeenth Century.^ In certain very important respects, doing so was entirely alien to the whole tradition of the Whig party to which he belonged. It was the Whigs who had managed to check the direct political power of the monarchy, manoeuvre the doctrine of the divine right of kings from the centre of the political scene, and establish the parliamentary constitutionalism of 1689. When Locke, — universally recognized throughout the eighteenth and nineteenth centuries as the main phüosophical spokesman for this Whig Settlement, — set about justifying the effective supremacy of Parliament in determining the practical affairs of the country, he did so not by invoking the ultimate authority of the * D. Le Marchant: Memoir of John Charles Viscount Althorp, Third Earl Spencer. London 1876. 297. S. R. Gardiner: The Constitutional Documents of the Puritan Revolution 1625—1660. Oxford 1951. No 74, 333 —335. A. Sharp: Political Ideas of the English Civil Wars 1641—1649. London, New York 1983. The Workes of that Great Monarch and Glorious Martyr King Charles Ist. The Hague 1658. Pt. 4: The Tryall of King Charles the I. 36.
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people, but by attempting to define the "federative power" of the whole legislative and executive functioning of the body politic; "Under this consideration the whole community is one body in the state of Nature in respect of all other States or persons out of its community. This, therefore, contains the power of war and peace, leagues and alliances, and all the transactions with all persons and communities without the Commonwealth, and may be called federative if anyone pleases. So the thing may be understood, I am indifferent as to the name." Such a conception was whoUy in harmony with the actual historical development of the House of Commons since it had first emerged in a recognizably modern form during the thirteenth Century. In England at least, the elective principle had never been applied to the representation of the people as such, — always to that of the communities and interests which, by prescriptive right or from considerations of expediency, and without regard to their numerical weight, had appeared to be entitled to have their views expressed. On this central point, therefore, the proposals being put forward by Lord John Russell appeared to be completely at odds with the whole Whig tradition as established since the Glorious Revolution.^ If one takes into consideration the social make-up of the party which had come to power under Earl Grey in the November of 1830, and which had authorized the drawing up of the proposals now being presented to the House, the matter could, perhaps, be regarded as even more puzzUng. During the Whig supremacy under the early Hanoverians, that is to say, during the period immediately prior to the accession of George III in 1760, the country had, in fact, been governed by a fairly smaU circle of very influential families, by an immensely wealthy landed oligarchy. Grey's administration certainly appeared to be a throwback to this earlier set up. The cabinet he assembled was the most aristocratic of the nineteenth Century; all but four of its members were in the House of Lords, and of these four Althorp was heir to an English earldom, Palmerston was an Irish peer, Graham an English baronet with extensive estates, and Grant a Scottish landowner who was later raised to the peerage. A duke's son and an earTs grandson were added in 1831. The ministry included a son, a son-in-law, a brother-in-law and a cousin of the prime minister. One might very well ask what people of this kind were doing introducing such a bill into Parliament.^ 5 Locke: Civil Government. Book 2, ch 12. ® L. Woodward: The Age of Reform 1815—1870. Oxford 1962. 79.
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Basically, the explanation is to be found in the success which had attended George IIFs attempt to weaken the hold the Whigs had on Parliament by beating them at their own game of influencing elections and Controlling placemen. After 1760 there was a steady increase in the extent to which the king in person determined the composition of ministries and maintained their parliamentary position. John Dunning, in 1780, carried his famous motion that it was, "necessary to declare, that the influence of the crown has increased, is increasing, and ought to be diminished", but by and large his formal success had little real effect. Throughout the long ministry of the younger Pitt (1783—1801), the king continued in countless ways to rule as well as to reign. Even under George IV, towards the end of the ministry of Lord Liverpool, the influence of the crown was still strong enough to evoke a motion drafted in terms not so very different from those used by Dunning. ln 1822 such influence was declared to be: "unnecessary for maintaining the Crown's constitutional prerogatives, destructive of the influence of Parliament, and inconsistent with the well-governing of the realm."^ Quite a few of the Whigs, forced into Opposition, reacted to the success of the crown by objecting to the "corruption" of the parliamentary System on which it was based. Prior to the advent of the first French revolution, they therefore tended to drift into a vociferous if somewhat uneasy alliance with various malcontents, and to put forward proposals for reform which were offen indistinguishable from those of the most extreme of the radicals. ln 1780, for example, Charles Lennox, third duke of Richmond, advocated universal suffrage, annual elections and equal electoral districts. His proposals were refused a hearing in the House of Lords, but his The Right of the People to Universal Suffrage was subsequently published (1783), and continued to be republished at regulär intervals until 1859. Grey first stated his intention of raising a reform motion in the Commons as early as 1792, not long after Richard Price had addressed the London Revolution Society, welcoming the French Revolution and calling for reform in the civil and religious establishment, just after the publication of Tom Paine's Rights of Man, and at ahnost the same time as the formation of the widely populär London Corresponding Society, eventually suppressed by the govemment as subversive in 1799, and the more select Friends of the 7 W. C. Costin and J. Steven Watson: The Law and Working of the Constitution. Documents 1660—1714. London 1952. 1,239. T. E. May: The Constitutional History of England. 3 vols. London 1871. Vol 1. 90.
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People Society, of which he himself was a founding member, and which became defunct in 1796. He actually presented proposals for reform in 1793, 1797 and 1800, although on all three occasions they were decisively rejected. To a certain extent, therefore, the radical element in the proposal for reform put forward under his leadership in 1831 was an intellectual inheritance dating back to the very earliest reactions to the first French upheaval. Its significance can easily be overrated, however, for at no stage in his political career did he ever think of politics in purely philosophical or theoretical terms, or entertain any very radical convictions.® This becomes evident enough if one looks closely at the actual genesis of the proposals put forward by Russell on March Ist. George IV had died on June 26th 1830, and on July 24th Parliament had been dissolved. The Wellington ministry, in power since January 1828, was faced with a general election. The first returns from the polling came in on July 29th and the last on September Ist, and by and large they gave little evidence of anything out of the ordinary in respect of any pressing demand for parliamentary reform. In fact only about a quarter of the seats in England and Wales were contested. Düring the course of August, however, there was a growing awareness of the significance of what was going on in France. News of the initial disturbances and of the king's virtual Suspension of the Constitution did not appear in the London papers until July 29th, four days after they had taken place, but from then on every effort was made to keep up with the momentous dispatches arriving from Paris. It was, however, difficult to gauge the precise significance of the turmoil. The result was, that although by August 7th the second French Revolution had been virtually completed, the Chamber on that day having deposed Charles X and proclaimed Louis Philippe "King of the French, by the grace of God and the wiU of the people", these cataclysmic events across the Channel had little effect upon the actual membership of the Commons which assembled at Westminster at the beginning of November.^ ® /, Cannon: Parliamentary Reform 1640—1832. Cambridge 1972. A. Mitchell: The Whigs in Opposition 1815—1830. Oxford 1967. G. S. Veitch: The Genesis of Parliamentary Reform. London 1913. P. A. Brown: The French Revolution in English History. London 1918. G. M. Trevelyan: Lord Grey of the Reform Bill. London 1929. 5 N. Gash: English Reform and French Revolution in the General Election of 1830. In: Essays presented to Sir L. Namier. Ed. by R. Pares and A. J. P. Taylor. New York 1971. 258—288. C. B. Gone: The English Jacobins. Reformers in late eighteenth Century England. New York 1968.
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Düring the course of the autumn of 1830 they did, however, have a very profound effect upon the general climate of opinion in the country, and when Wellington, in the address debate on November 2nd, declared against reform, proclaiming that, "he was fully convinced that the country possessed, at the present moment, a legislature which answered all the good purposes of legislation to a greater degree than any legislature ever had answered in any country whatever", confessing that, "he was not only not prepared to bring forward any measure of Reform, but as long as he held any Station in the government of the country he should always feel it his duty to resist such measures when proposed by others", it was quite clear to everyone that the only course open to him was to resignd^ It was, therefore, the resignation of the Iron Duke, the victor of Waterloo, on November 16th 1830, which led to William IV's summoning the Whig leader to form a government. Grey, at this time, wanted reform mainly because he saw it as the readiest safeguard against revolution, and he was convinced that as now, at last, the country at large was behind him in this, he would have no great difficulty in steering the necessary proposals through Parliament. He was convinced, moreover, that such an adjustment of the electoral System was required for the general well-being of the country, the proper expression in its institutions of the economic and social forces setting the tone in its public life. As he wrote to Princess Lieven, he wanted a reform which would, "take from the peerage a power which makes them odious, and substitute for it an influence which connects them with the people." This had, in fact, been his general policy since the 1790s, and he wrote as follows when considering it in its broadest setting: "Everywhere, as far as I could form any judgement, this change required greater influence to be yielded to the middle classes, who had made wonderful advances both in property and in intelligence. Without some such concessions the changes taking place will lead rapidly to republicanism, and to the destruction of established institutions." Enough concessions had to be made to remove justified discontent and so head off any really radical threat to the established Order. When he first presented the proposals for reform to the king, he wrote that: "the great desideratum is to make an arrangement on which we can stand, announcing our determination not to go beyond it. The plan of reform 10 Hansard: Parliamentary Debates. Third series. Vol 1. 52 -53. E. Longford: Wellington. Pillar of State. London 1972.
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ought to be of such a scope and description as to satisfy all reasonable demands, and remove at once and for ever, all rational grounds of complaint from the minds of the intelligent and independent portion of the Community. A week or two after the formation of his government, as he was walking down the steps of the House of Lords together with his son-in-law Lord Durham, Grey asked him if he would take the reform bill issue in hand. Durham, who had a seat in the Cabinet as Lord Privy Seal, was the only Cabinet Minister who had been active as a reformer since the end of the war. Known in the northcountry as Radical Jack, he had for years been advocating the extension of the franchise, the introduction of the secret bailot, and more frequent general elections. After Grey had also asked Russell to join Durham, the two of them co-opted onto the committee James Graham, like Durham, a northcountryman, and as First Lord of the Admiralty a member of the Cabinet, and John Ponsonby, Lord Duncannon, the member for Rilkenny, — useful on account of his good relationship with the O'Connellites. It was these four, at meetings held mainly at Durham's house in Cleveland Row, who actually drew up the Reform Bill. The instructions from the Cabinet were that they should prepare: "the outline of a measure large enough to satisfy public opinion and to afford sure ground of resistance to further innovation, yet so based on property, and on existing franchises and territorial divisions, as to run no risk of overthrowing the existing form of government." The general procedure adopted was that in the first instance the committee of four would forward their proposals to Grey and John Spencer, Lord Althorp, Chancellor of the Exchequer and Leader of the Commons, — who would, after careful consideration, submit what they approved of to the Cabinet at large.i^ It seems to have been Russell who first came up with the central principles of the bUl introduced on March Ist, which Grey, soon after it had been made public, characterized as, "the most aristocratic measure that ever was proposed in Parliament". Russell evidently worked out the basic proposals in a very short period, while staying at Streatham rectory. There was nothing very original about them, since in one way or The Corresfondence of Princess hieven and Earl Grey. Ed. by G. Le Strange. 3 vols. London 1890. Book 2. 189. Cannon op. dt. note 8. 250. The Correspondence of the late Earl Grey with King William IV. Ed. by Henry Earl Grey. 2 vols. London 1867. Book 1. 94—104. 12 M. Brock: The Great Reform Act. London 1973. Ch 4, 119—160. C. S. Parker: Life and Leiters of Sir James Graham. London 1907. Book 1. 120. /. Priest: Lord John Russell. London 1972.
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another all of them had beert brought to the notice of Parliament many times betöre: seats were to be taken from the rotten boroughs and given to counties and unenfranchised towns; a nominaUy uniform borough voting qualification was to be established; copyholders and leaseholders were to be added to the county electorate. Despite their eventually being presented in the revolutionary form of proposals "to amend the representation of the people", and despite the fact that they did in the long run do just that, they were, therefore, simply the outcome of the purely practical proposals for reform which had been familiär to those moving in Parliamentary circles for the last half Century. They may have been broadly acceptable to many of the radical philosophers and political theorists then in the public eye, but they were the outcome of a climate of discussion in which there was a definite distrust of logic chopping, and little concem with theory simply for theory's sake.^^ In the England of the day, the most prominent and politically influential philosophic radicals were the Benthamites, and there can be little doubt that one way or another, the somewhat incongruous representation of the people element in the Reform Bill, had found its way in as a result of their activities. Although the Benthamites were indeed radicals, in that they were engaged in calling in question what were generally accepted in English society as the basic principles of morality, law and the Constitution, they were also part of a distinctively English philosophic tradition, and despite the scant respect they showed for traditions in general, they were ready enough to admit the fact. It was Richard Cumberland, bishop of Peterborough towards the dose of the seventeenth Century, who had countered Hobbes by deriving "the supreme law of the common good" from the basic postulate that, "the greatest possible benevolence of every rational agent towards aU the rest constitutes the happiest state of each and all." It was in Hume's Essays that Bentham first came across what he found he was able to regard as a suitably sound Statement of the fundamental tenet of utüity, — that is, as he put it, "the doctrine that the only test of goodness of moral precepts or legislative enactments is their tendency to promote the greatest possible happiness of the greatest possible number." It was on the basis of this tenet that he went on to enunciate the Principles of Morals and Legislation (1789), and to send forth a veritable flood of books and Pamphlets indicating how these radically rational notions were to be u G. Pellew: The Life and Correspondence of Sidmouth. 3 vols. London 1847. Book 3. 439 note. f. Arnold: The History of Streatham. London 1886. 154.
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employed in improving the legal System, economic affairs and political lifed^
Bentham himself was a wealthy and eccentric recluse, quite incapable of facing the hurly-burly of actually transforming his aggressively concrete and minutely elaborated concepts into practice. After 1789 he began to attract a great deal of public attention, however, both in Britain and abroad, and various schemes were entertained by those actually engaged in practical affairs, for bringing his ideas to bear upon public decision-making. For nearly a quarter of a Century he was engaged in negotiation with the British government for the erection of a "Panopticon" for the central inspection of convicts. In 1817 his Plan of Parliamentary Reform was circulated to certain members of Parliament in preparation for a debate on the subject. He even managed to interest both the Tsar of Russia and the President of the United States in the prospect of codifying the law and improving public education in their respective dominions. In the book in which he published the documentary and epistolary outcome of this exchange of ideas, he included a sort of circular letter in which he offered his Services as a phüosophic legislator to any American state govemor who would fill in his name and address, — a procedure which led Carlyle to observe that for Bentham drawing up a code must have been somewhat easier than fitting a man with breeches, since there was evidently no need for him to do any measuringd^ Naturally enough, this tension between theory and practice was feit in a particularly acute form by those of Bentham's disciples who actually co-operated with him personally, — frequented his house in Westminster, spent their summers in the delectable semi-monastic surroundings of Forde Abbey, the magnificent country mansion in Dorset, which he rented for a number of years from John Gwyn. In November 1817 Samuel Romilly, who had been deeply involved for a long time in getting Parliament to approve reform of the criminal law, reviewed Bentham's Papers relative to Codification in the Edinburgh. After surveying his mentor's fruitless attempts to initiate the codification of the legislatures of Russia, the United States, Poland and Pennsylvania, he attempted to bring home what was at stäke by discussing in detail the E. Haläxy: The Growth of Philosophie Radicalism. Ed. by J. Plamenatz. London 1972. W. Thomas: The Philosophie Radieals. Oxford 1979. Bentham's Radieal Reform Bill. London 1819. /. Bentham: Papers Relative to Codifteation and Publie Instruction. London 1817. T. Carlyle: Signs of the Times. In: The Edinburgh Review. 49, (June 1829), 439—459, and Critical and Miscellaneous Essays. London 1899. Book 2, 68.
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basic illogicality of the English procedure of expounding the law by analogy: "The rule is not laid down until after the event which calls for the application of it has happened. Though new in fact, yet being of the greatest antiquity in theory, it has necessarily a retrospechve Operation, and governs all past, as well as all future transactions. Property, which had been purchased or transmitted by descent by the present possessor of it, is discovered by the newly declared law to belong to others; actions, which were thought to be innocent, turn out to be criminal; and there is no security for men's possessions, their persons, or their Uberties." At about the same time, Francis Place, the London shopkeeper, preoccupied as he was with furthering reform by supplying members of Parliament with information, drafting petitions, collecting subscriptions, organizing agitations, — confided to James Mill that he feit that Bentham was putting himself and the cause at a frightful disadvantage by writing his books and pamphlets in such an obscure jargond^ James Mill was certainly the most successful of Bentham's dose friends in overcoming this particular problem. Apart from psychology, ethics and education, his main concern was parliamentary reform. Like Bentham, he was convinced that the key to the rationalization of society, to the bringing about of the greatest happiness of the greatest number, lay in effectuating the required legislation. ln England, there was quite obviously no point in trying to bring this about from the top, by petitioning the equivalent of the Tsar and the American President. There was not much point in undertaking to argue the toss with the lawyers or the members of Parliament. The best chance lay in keeping before the public at large, without the public's being aware of what one was doing, the idea that if the necessary reforms were not carried through, the country was heading for a radical revolution, like that of 1789, which would sweep away every aspect of the established order, annihilate all rank and privilege, level society at one feil swoop in the interest of the oppressed masses, the growing multitudes of have-nots. Parliament had to be frightened by this prospect into reforming itself, and so opening the way to the effectuating of the legislation that was to bring about a truly enlightened society. Samuel Romilly: Payers Relative to Codification. In: The Edinburgh Review. 29 (November 1817), 217—237. W. Thomas op. cit. (note 15). 39. Joseph Hamburger: James Mill and the Art of Revolution. New Haven/Conn., London 1963.
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In 1817 MiH's friend John Black took over the editorship of the Morning Chronicle, so providing the means for Converting Mül's policy into practice. John Stuart Mill, in his Autobiography, gives the foUowing account of the outcome: "From this time the Chronicle ceased to be the merely Whig organ it was before, and during the next ten years became to a considerable extent a vehicle of the opinions of the Utilitarian radicals. This was mainly by what Black himself wrote, with some assistance from Fonblanque, who first shewed his eminent qualities as a writer by articles and jeux d'esprit in the Chronicle. The defects of the law, and of the administration of justice, were the subject on which that paper rendered most Service to improvement. Up to that time hardly a Word had been said, except by Bentham and my father, against that most peccant part of English institutions and their administration. It was the almost universal creed of Englishmen, that the law of England, the judicature of England, the unpaid magistracy of England, were models of excellence. I do not go beyond the mark in saying, that after Bentham, who supplied the principal materials, the greatest share of the merit of breaking down this wretched Superstition belongs to Black, as editor of the Morning Chronicle. He kept up an incessant fire against it, exposing the absurdities and vices of the law and the courts of justice, paid and unpaid, until he forced some sense of them into people's minds. On many other questions he became the organ of opinions much in advance of any which had ever before found regulär advocacy in the newspaper press. Black was a frequent visitor of my father, and Mr Grote used to say that he always knew by the Monday morning's article, whether Black had been with my father on the Sunday."i^ Taken aU in all, the Chronicle was undoubtedly the most successful London daily of the time. It built up an enviable reputation for objectivity of judgement and soundness of taste, and for the excellence of its coverage. Although it was known to favour reform and the Whigs, it was also known to be capable, even on the most important issues, of making a stand against them, and its reasons for doing so were almost invariably perceived to be honourable, and certainly respectable and worthy of consideration. There were those on its staff such as Thomas Hodgskin who were known to be radical, but then there were those in the country at large who were known to be so, and it would have been unrealistic to expect such a lively, balanced, sensible and generally intelligent paper not to give some ear to such a potentially powerful John Stuart Mill: Autobiography. Ed. by J. Stillinger. Oxford 1971. Ch4, 55.
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element in the Contemporary political scene. In short, the Chronicle's readers had the feeling that they were being presented with a sensitive, informed, and sensibly realistic account of the legal, social, political and constitutional developments taking place about them, and although this was not a matter of chance, although it was an Impression being carefuUy cultivated by those who were running and editing the paper, it is difficult, even at this distance of time, not to conclude that it was broadly justified. If we read through the paper for the nine months from the end of July 1830, — when Parliament was dissolved, electioneering began, and the first reports of the Parisian turmoil were beginning to come through, to the end of Aprü 1831, — when although the Reform Bül had passed its second reading in the Commons, the government had been forced to resign, Parliament had been dissolved, and elections were once again in the offing, we are immediately struck by the way in which the general categories of news, as well as the events being reported and commented upon, fall into the general programme for reform pre-conceived by Bentham and James Mill, and account with a truly remarkable accuracy for the way in which the Whig Ministry is known to have been thinking at the time. On the legal front, it is the trials following the suppression of "Captain Swing", the disturbances in the agricultural districts of the Home Counties and the south country, which catch the eye. On January 6th, for example, the following report is given of a labourer's appeal at Salisbury: "My Lords, — I plead guilty to the Charge of which I am accused. But I humbly beg to urge the following circumstances in extenuation of my offence: — My Lords, I have long feit that the share which, as a labourer, I have received of the produce of my labour, was less than in fairness it should have been, less than it was to those who purchased it. My Lords, I am a prisoner — I am a pauper. But, if you are here to administer justice, then I caU on you to administer it impartially. Let not the rieh and educated offender escape, while the poor and ignorant feel your severity." On the social front, it is the highlighting of dass antagonism which is the most striking feature of the leader writing. On October 28th, for example, agricultural disturbances in Kent give rise to the following comment: "There is not one country in Europe — not one — where the social ties have been so violently severed as in England. The accursed distinctions which run through English sodety teach men to hate, envy, and despise each other. The poor feel that they are not permitted to enjoy, and they are determined that the rieh shall not. We have long raised our voice against the System which has so long been
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patronised by the English Aristocracy. That System has been gaining ground ever since the Aristocracy gained the mastery in 1688." On the political front, the placing of the doings of the British Parliament within the whole European scene of turbulence and revolution is by far the most marked feature of the paper's reporting. Interestingly enough, the Prussian Gazette is often quoted as a source of information for eastern Europe, and particularly for news concerning the Polish uprising. On Eebruary 15th, for example, a front-page feature is made of the revolution in Modena, and of similar happenings in the Ukraine and Poland. On March 2nd, the day on which Lord John Russell's presentation of the proposals was reported, the whole of the front page of the paper was covered with news of revolutionary events, — in France, Austria, Italy, Rome, Poland, Russia, — even in far-off China, where, "The fury of the Emperor, which is as rapid as lightning, and as terrible as thunder, soon alighted on the rebels, who were very soon dispersed. Wakemselin was taken, and his body divided into two thousand pieces." The moral to be drawn from it all was clear enough, and was expressed as follows in the leader of October 20th: "The great impediment to Reform here has been the timidity and selfishness of the middle classes; and the French Revolution was the bugbear by which they have been induced to stifle their convictions, and lend their strength to prop a System they inwardly condemned. Thanks to the noble-minded people of Paris, this delusion is now at an end. An uncontrolled populace, inflamed by three days' fighting, has exhibited a degree of moderation and forbearance which ought to redden with shame the faces of the Manchester Yeomanry, and of the men who, acting with all the regulär machinery of Government behind them, sanctioned so many acts of cruelty in Ireland in 1798. We shall only deceive ourselves if we suppose the Aristocracy of this country will yield, without a hard struggle, the power which they now possess of putting their hands in the pockets of others." On the constitutional front there was a constant harping on the fact that this aspect of the country was out of tune with society. It is observed in the leader of January 4th, for example, that: "It might be instructive to sum up the advantages which the lower Orders of England derive from the Constitutional Legislature. They are not indebted to it for access to Justice, they are not indebted to it for Education. But they are indebted to it for the Game Laws, and in the Home Counties for the alternative of being starved to death, or becoming thieves." The reason given for this lack of essential harmony was noted approvingly by Hegel, but was diametrically at odds
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with the Whig interpretation subsequently championed in such a magnificently persuasive manner by Macaulay. Bentham had written to the Tsar and the President, he and Mill had put their trust in princes, their faith in kings. The leader of October 16th commented as foUows upon the development of the Constitution since 1688: "A new era commenced. The defects of the Parliament did not appear during the struggle. When the King of England became a mere tool in the hands of the aristocracy, — the carver out of good things for them, without whose aid they would have fallen by the ears, a new reading of the Constitution was given. The English Constitution is merely a piece of machinery for enabling a number of rieh individuals to take from the people as much as their patience will suffer to be taken. As long as the King wished to have the exclusive mastery, and the proprietors of the boroughs and the people had a common interest, the Constitution might answer. But the moment the Crown and the Aristocracy combined, the people were utterly without protection. From thenceforward the Constitution was utterly worthless, — existed only in name; for the check upon power at present is the same as that which the people of every country possess, — the knowledge that the physical power is with them."i^
II. Prussia We know from the notes and jottings he made while doing so, and from the ways in which he worked this material into his writings and lectures, that Hegel had been following English affairs closely through the Morning Chronicle at least since the February of 1823. We have every reason to assume, therefore, that although, like the British public, he may not have been aware of the ways in which Bentham and James Mill were influencing it, he must have appreciated the freshness, humanity and Intelligence of the manner in which it was reporting events. As is apparent from his article on the Reform Bill, he certainly took over most of the leading ideas that Black and his colleagues were doing their best to purvey for the benefit of those in Parliament whose assessment of their own and the country's interests was about to decide the fate of the E, /. Hobsbawm and G. Rüde: Captain Swing. London 1969. F. K. Hunt: The Fourth Estate. 2 vols. London 1850. A. Aspinall: Politks and the Press c. 1780—1850. London 1949. D. Read: The Press and the People 1790—1850. London 1961. M. /. Petry: Hegel and the Morning Chronicle. In: Hegel-Studien. 11 (1976), 11—80. T. B. Macaulay: History of England. 4 vols. London 1849/ 55.
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proposed "concessions to public opinion". On the matter of the law, for example, we find him in the first part of his article drawing a sharp distinction, in a thoroughly Benthamite manner, between its rational and its positive aspect: "Positivity preponderates in the institutions of English law, public and private alike. It is true that every right and its corresponding law is in form something positive, ordained, and instituted by the supreme power in the state, something to which obedience must be given just because it is a Statute. But at no time more than the present has the general Intelligence been led to distinguish between whether rights are purely positive in their material content or whether they are also inherently right and rational." In the second part, he brings out the social concomitant of this tension in the law in a manner that would certainly have been approved of by the labourer arraigned before the magistrates at Salisbury; "For long past these manorial rights have not merely brought the agricultural dass into subjection; they press as heavily on the bulk of that dass as villeinage did, indeed they bring it down to an indigence worse than the villein's. In England itself, though incapacitated for the possession of property in land and reduced to the Status of tenants or day labourers, this dass does find work to some extent in times of prosperity, England being generally opulent and possessed, in particular, of prodigious manufactures; but what really keeps it from the consequences of extreme indigence is the poor law, which imposes on every parish the Obligation of looking after its poor."20 In its general lay-out, the material published in the Chronicle usually feil into a number of clearly defined categories, — advertisements, leaders, Parliamentary news and law reports being the most important of them. It was from the Parliamentary news that Hegel derived most of the material he deals with in the third main section of his article, the primary theme of which is the nature of the political set-up in the country. Evidently influenced by the persistent and pervasive internationalization of political awareness in the Chronicle, he makes some reference to the elected bodies of Sweden, Italy and France, but by and large, as might have been expected, his main concern is the non-representative nature of the British Commons: "By an Act of Parliament a year ago the freehold qualification for a vote in Ireland was Hegel: The English Reform Bill. In; Hegels Political Writings. T. M. Knox and Z. A. Pelczynski. Oxford 1964. 299,15—23; 307,16—26. German text, Hegel: Werke 11: Berliner Schriften. Frankfurt 1970. 88,24-33; 99,1-14.
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raised and as a result 200 000 persons lost their votes, without their making any complaint about this loss of their qualification for participating as voters in affairs of state and government. In any event, the electors see in their right a property which accrues to the benefit of those alone who wish to be elected to Parliament and on the altar of whose personal opinion, whim, and interest everything implicit in this right of participating in government and legislation is to be sacrificed." The general conclusion to be drawn from this is clear enough, — it provides Hegel with his final peroration, and is precisely the conclusion that Bentham, MiU and Black wanted Members of Parliament to draw. Parliament in its present state provides no effective platform for airing and setting right the grievances being engendered in the economic and social life of the country. Consequently, unless it is constructively reformed, the immediate future holds a prospect of nothing but: "earthquake, violence, and robbery. The people would be a power of a different kind; and an Opposition which, erected on a basis hitherto at variance with the stability of Parliament, might feel itself no match for the opposite party in Parliament, could be led to look for its strength to the people, and then introduce not reform but revolution/'^i In the fourth part of his article, which on the intervention of no less a person than the King of Prussia himself, was never published in the State Gazette, Hegel aired his views on what he saw as the central flaw in the British Constitution, — the weakness of the crown. Although it is certainly no coincidence that this was also one of the main hobby-horses of Bentham and his confederates, Hegel is concerned not so much with a particular interpretation of English history since 1688, as with a predominantly theoretical position, already articulated at length in the Philosophy of Right, in respect of the role and functions of the Crown within the state in general. One might illustrate this from various parts of the article, but the following observation in the final paragraph contains the gist of HegeTs view of the constitutional shortcomings of the British monarchy: "Between the interests of positive privilege and the demands for more real freedom there Stands no higher mediating power to restrain and adjust the dispute. In England the monarchical element in the Constitution lacks the power which in other States has earned gratitude to the Crown for the transition from a legal System
21 Hegel: The English Reform Bill (note20). Eng. 317,19—28; 330,32—37. Germ. 111,17—28; 128,23 -30.
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based purely on positive rights to one based on the principles of real freedom."22 It is difficult to decide whether or not Hegel had any clear conception of the actual significance of Bentham's works, or of the influence they were exercizing. There is, at least, no evidence that he was aware that in deriving so much of the basic material for his article on the Reform Bill from the Chronide, he was in fact absorbing and regurgitating a very heavy dose of Benthamite propaganda. It is just possible that in drawing up the treatment of happiness in the final section of his Psychology, he was influenced by Bentham's greatest happiness principle. It is, in any case, worth remembering that within his encyclopaedic System as a whole, Psychology constitutes the immediate presupposition of the Philosophy of Right, and, therefore, of the systematic treatment of abstract right, property and contract. Bentham's influence on this aspect of Hegel's purely systematic thinking is, however, no more than conjectural. The only direct evidence that he had any knowledge of such matters consists of the extensive notes he took on Romilly's Edinburgh review (1817) of Bentham's Papers relative to Codißcation. We simply do not know if he was aware of the open and widely acknowledged rift between the Benthamites and the Whigs which took place during the course of 1829, as Macaulay launched his devastating critique of Mill's Essays on Government and furisprudence (1825), and so set the inteUectual wing of the Parliamentary reform party off on a completely different ideological tack from that of the philosophic radicals. Macaulay set out to reveal and ridicule the inteUectual pretentiousness of Mill's approach. He characterized the Benthamites in general as: "persons who, having read little or nothing, are delighted to be rescued from the sense of their own inferiority by some teacher who assures them that the studies they have neglected are of no value, puts five or six phrases into their mouths, lends them an odd number of the Westminster Review, and in a month transforms them into philosophers." He presented Mill, obsessed as he was with the idea that a Science of government could be constructed from a few a priori assumptions about human nature, not as a scion of Newtonian science, but as a throwback to the benighted logicians of the Middle Ages. Chains of syllogistic reasoning might be employed to reach conclusions of any kind, — confirmatory, complementary or contradictory. Mill had written a treatise on Hegel: The English Reform Bill (note 20). Eng. 330,26—32. Germ. 128,15—22. Philosoph}/ of Right §§ 275 -286.
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government "from which, but for two or three passing allusions, it would not appear that the author was aware that any government actually existed among men." The so-called laws he claimed to have discovered were nothing more than truisms or tautologies. To assert that a man is governed by his interests is to do no more than teil us that he would rather do what he would rather do: "One man goes without a dinner that he may add a Shilling to a hundred thousand pounds: another runs in debt to give balls and masquerades. One man cuts his father's throat to get possession of his old clothes: another hazards his own life to save that of an enemy. One man volunteers on a forlorn hope: another is drummed out of a regiment for cowardice. Each of these men has, no doubt, acted from self-interest. But we gain nothing by knowing this, except the pleasure, if it be one, of multiplying useless words." The whole manner of reasoning employed simply leads to confusion concerning the franchise. If the foundation of government is indeed the tendency in each of us to make others subservient to our pleasures, what can one expect from the enfranchisement of an underprivileged majority, other than that it wül set about plundering the overprivileged minority? If what will prevent this from taking place is that the majority has the same respect for property, the same interests as the virtuous and public-spirited middle dass, why should we not confine ourselves to extending the franchise to them?23 Düring the Winter Term of 1830/31, Hegel delivered a course of lectures on the Philosophy of World History. He had also done so on four previous occasions, but since this last series was particularly notable on account of the dose attention paid to Enlightenment and Revolution in modern Europe, — with special reference to France and England, — it is almost certain that he chose to deal with this aspect of his overall encyclopaedic System on this occasion on account of the Parisian events of July 1830. These lectures on World History, the original editing of which by Edward Gans can now be checked against two sets of notes taken down by those who actually attended the 1830/31 course, may therefore be regarded as providing us with the immediate systematic context of the article on the Reform Bill, — the Hegelian counterpart to
23 Hegel: Philosophy of Subjective Spirit. Ed. by M. J. Petry. 3 vols. Dordrecht 1978. § 479: vol 3. 261—263,451. N. Waszek: Hegels Exzerpte aus der Edinburgh Review 1817—1819. In: HegelStudien. 20 (1985), 79—112. T. B. Macaulay: Mül on Government, Westminster Reviewer's Defence ofMill, Utilitarian Theory of Government. In: The Edinburgh Review. 97 (March, June, October 1829).
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the presuppositions of Grey's Parliamentary tactics and the theoretical ponderings that lay behind the propaganda policy of Mill and Black.^^ Since the rational exposition of legal, social and political life in the Philosoph}/ of Right is presented as the immediate presupposition of any correspondingly rational exposition of world history, it is only natural that the systematic consideration of world history should culminate in an exposition of what Hegel sees as the central issue of political Organization in the world of 1831. Liberal aspirations, and particularly the demand for a central parliament in Prussia itself, were threatening to disrupt the very real advances made during the post-war period: "Not satisfied with the establishment of rational rights, with freedom of person and property, with the existence of a political Organization in which are to be found various circles of civil life, each having its own functions to perform, and which that influence over the people which is exercised by the intelligent members of the community, and the confidence that is feit in them, liberahsm sets up in Opposition to aU this the atomistic principle, that which insists upon the sway of individual wills; maintaining that all government should emanate from their express power, and have their express sanction. Asserting this formal side of Freedom — this abstraction — the party in question allows no political Organization to be firmly established. The particular arrangements of the government are forthwith opposed by the advocates of Liberty as the mandates of a particular will, and branded as displays of arbitrary power. The will of the Many expels the Ministry from power, and those who had formed the Opposition fill the vacant places; but the latter having now become the Government, meet with hostUity from the Many, and share the same fate. Thus agitation and unrest is perpetuated. This coUision, this nodus, this problem is that with which history is now occupied, and whose solution it has to work out in the future."^^ This general Statement of the essence of what Hegel sees as being at Stake in the Contemporary politics of Europe, is notable mainly on account of its omitting to make any direct mention of the most burning issue of the day in Prussia itself, — the country's lack of a central repräsentative assembly. For the past quarter of a Century, this had been the main demand being put forward by the liberals, and as in so many Hegel: Lectures on the Philosoph}/ of History. Tr. by J. Sibree. London 1894. 23,456—477. HegeTs son, Charles, who edited the second edition of this work 1840, himself took notes on the 1830/31 series, which are still extant. ^ Hegel: Philosophy of History (note24). 471—472.
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other European countries, it had been the Constitution of England which had provided them with the bluepiint of what was in fact attainable. As Hegel implicitly reminds his audience in this general Statement of his credo, Prussia was by no means administratively or politically backward. The trouble was, however, that Stein and Hardenberg, who had pioneered a number of basic reforms after the rrdütary collapse and the disastrous Peace of Tilsit, had not only visited England, but had also drawn much of their Inspiration from British institutions, the merits of which were then being effectively publicized in Germany by the writings of Friedrich von Gentz. What is more, both of them had seen the establishment of a national assembly comparable in power and Status to the British ParUament as the final goal of their constitutional reforms. As Hegel well knew, during the period of patriotic enthusiasm engendered by the War of Liberation, it looked very much as though their ideals were about to be realized. On June 3rd 1814, Frederick William III issued an Order in cabinet promising a decision as to a national Constitution in the near future, a promise which he repeated on several occasions during the May of the foUowing year. By article thirteen of the Final Act of the Congress of Vienna, passed on June 9th 1815, it was enacted that there were to be "assemblies of estates" in all the member countries of the newly established German Confederation. Stein, encouraged by the Support of Russia, Great Britain and the Papacy at the Congress, had even entertained the hope that the widespread populär demand for the restoration of the Empire might be realized, and that the federal diet might be transformed into an imperial parliament.^^ In the Prussia that eventually emerged from the war, however, it soon became apparent that moving toward such a general ideal was fraught with difficulties and a number of very real dangers. As a result of substantial territorial gains, the country now sprawled across the whole of north Germany, bordered upon Belgium and Poland, and included a whole host of potentially incompatible social, regional and reUgious groupings. It was perfectly clear that any widespread introduction of Philosophie radicalism could easily lead to its complete disintegration. A re-think of general administrative and poUtical objectives was clearly necessary, and as it took place there was a re-assessment of the attitude toward English institutions. The statesman-historian Niebuhr, for E. R. Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte. Stuttgart 1957. C. S. Buddand: Friedrich von Gentz. London 1933. G. H. Pertz: Das Leben des Ministers Frh. v. Stein. 6 vols. Berlin 1849/55. H. Tiedemann Der deutsche Kaisergedanke vor und nach dem Wiener Kongress. Breslau 1932.
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example, in the foreword to a work on the British Constitution published in 1815, emphasized the importance of self-government, not of centralization, of local institutions functioning independently of the central authority, — freedom, he declared, in a catchword that was to be much quoted in the political discussions of the post-war period, depends more upon administration than upon the Constitution. Gentz, at the Carlsbad meeting in October 1819, re-interpreted article thirteen to mean that the menaber countries of the Confederation were to establish assemblies representing corporate bodies such as the nobility, the clergy, the universities, the towns, not that they were obliged to institutionalize the Sovereignty of the people. The wUdly romantic constitutional ideas of the patriotic pan-Germanic gymnastic societies and students' associations, of the demonstrators and haranguers at the revolutionary Wartburg Festival in October 1817, of the fanatical Student who assassinated the reputably reactionary Kotzebue in March 1819, confirmed the king, just as it confirmed Hegel, in the view that the establishing of a central Parliament on the British model could very easUy result in making the country completely ungovernable. William von Humboldt, appointed Minister for Constitutional Affairs early in 1819, came up with a well worked out plan for a national assembly, but before the end of the year he had been dismissed from the Council, together with Charles Frederick von Beyme, for making the allegedly revolutionary move of suggesting that a time limit should be set on the enforcement of the Carlsbad Decrees. By an order in cabinet issued on June llth 1821, the king finally put an end to any prospect of establishing a central repräsentative assembly in the immediate future.27 Having done so, it was essential not to lose any time in developing an effective alternative policy, and the initial step in this direction was taken on October 30th 1821, when a Council of the State Commission on the Constitution was set up under the chairmanship of the Crown Prince. The final result of the work carried out by this body was the Provincial Estates Law of June 5th 1823, which divided the country into eight provinces, — Brandenburg, Prussia, Pomerania, Posen, Silesia, Saxony, Westphalia and the Rhineland, — each of which was endowed with its 27 f, L, w. P. Vincke: Darstellung der inneren Verwaltung Grossbritanniens. Ed. by B. G. Niebuhr BerUn 1815. T. Wilhelm: Die englische Verfassung und der vormärzliche Liberalismus. Stuttgart 1928. /. L. Klueber: Wichtige Urkunden für den Rechtszustand der deutschen Nation. Ed. by C. Welcker. Mannheim 1844. 213. P. Hauke: Der preussische Verfassungskampf. München, Berlin 1921. W. M. Simon: The Failure of the Prussian Reform Movement. Ithaca, New York 1955.
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own single-chamber assembly. Gentz's interpretation of article tbirteen was adopted in tbat estates and not tbe people were to be represented, but altbougb tbe nobility were granted balf tbe seats, tbe towns a tbird and tbe farmers a sixtb, decision-making was by a straigbtforward majority, and in practice tbe members wbo were elected regarded tbemselves as representing tbe wbole province ratber tban tbe estates. Altbougb tbese provincial assemblies could only advise tbe central government, tbeir assent was required for bills affecting property or taxation, and tbey bad certain powers of dedsion witb regard to local affairs. Eacb was represented on tbe central Council of State by its Marsbai, wbo was appointed from among its members by tbe Crown.^s Naturally enougb, tbe establisbment of tbis federal Constitution brougbt out tbe importance of tbe Crown as tbe one constitutional factor guaranteeing tbe unity of tbe country. An ordinance of Marcb 20tb 1817 bad establisbed a Council of State, advisory to tbe Crown, consisting of princes of tbe blood, ministers of state, field marsbals, crown nominees and repräsentatives of tbe provincial assemblies, cburcbes and universities. Altbougb officially tbis body bad no governmental, administrative or legislative power, the directives promulgated by the Crown were prepared on its committees, and it was in fact not only the centre of policy making, but also an effective check on the power of both the monarch and the ministries. Federalism, lack of a central parliament, also enhanced the part played by the ministries and the wbole bureaucratic Organization of the civil Service in the governmental co-ordination of the country. By and large tbese bodies functioned well throughout the 1820s, tbeir morale and efficiency were high, and tbeir success in cultivating and Controlling economic, social and political developments was probably the most important single factor in the Creation of the public confidence in the administration of the country which enabled it to avoid any serious political upheaval in the wake of the second French Revolution.^^ Following the establisbment of tbis central council, and a decentralized federalism based on the representation of interests ratber tban the people as such, the main task was the reform and Standardization of local government. Since Flegel, through bis colleague at Berlin Frederick von Raumer, bad a particular interest in tbis, not only 28 Huber: op. dt. (note 26). Allgemeines Gesetz wegen Anordnung der Provinzialstände. In: Gesetzessammlung für die Königlich Preussischen Staaten. Berlin 1823. No 810. 25 R. Koselleck: Preussen zwischen Reform und Revolution. Stuttgart 1975.
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as a necessary issue in the Prussia of his day, but also as a factor in the general historical development of Europe, it may be of some interest to pay some attention to what was going on in the field. It is in any case a matter of some importance to reaching a proper assessment of the significance of the Reform Bill article, since one of the first pieces of major legislation put on the Statute book by the Whigs after 1832, was the eminently constructive and successful Municipal Corporations Act of 1835. In the Üght of Hegel's having argued so forcefully that exposing Parliament to the influence of the radicals would open the way to disruption and revolution, it is certainly worth noting that the secretary of the Royal Commission which prepared the drafting of this Act was Joseph Parkes, the Birmingham solicitor who put so much effort into mediating between the radicals and the Whigs, and that the Commission itself was dominated by a massive radical majority. In Prussia, between 1825 and 1828, the administrative powers of the local authorities were standardized, the more egalitarian society of the Rhineland and Westphalia being remoulded, together with the still predominantly feudal eastern provinces, by the establishment of councils, which tended to be dominated by the squirearchy, but which also represented the Interests of the towns and farmers. Finally, in March 1831, the reform of the municipalities throughout the country was carried through, the mayors and councils being granted increased powers, and the property qualification for voters being removed.^o Faced with a Situation such as this, — on the one hand a pressing demand from the liberals for a central Prussian elected assembly on the British model, on the other hand a competent and successful Prussian govemment irrevocably committed to not granting one, Hegel chose the only safe and reasonable course open to him. In his lectures on the Philosophy of World History delivered during the winter of 1830/31, he concentrated upon analyzing the "farcical" state of affairs that had developed in France since the restoration of Louis XVIII, and on bringing out, so far as he could, the shortcomings of the current Situation in Great Britain. He had to admit that Britain had not aUowed itself to be, "drawn into the vortex of internal agitation", that it had "exhibited immense proofs of its internal solidity", and by great exertion maintained itself on 30 Hegel: Berliner Schriften 1818—1831. Ed. by J. Hoffmeister. Hamburg 1956. 715. Hegel: Briefe. Ed. by F. Nicolin. Vol 4. 251. F. von Raumer: lieber die preussische Städteordnung. Leipzig 1828. F. K. von Savigny: Die preussische Städteordnung. In: Historisch-politische Zeitschrift. Ed. by L. Ranke. Hamburg 1832. Voll. 3,389 —414. G. B. Finlayson: The Municipal Corporation Commission and Report. London 1963.
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its old foundations, its Constitution having, "kept its ground amid the general convulsion, though it seemed so much the more liable to be affected by it, since as a public Parliament, the habit of assembling in public meeting which was common to all Orders of the state, as well as the freedom of the press, offered singulär facilities for the introduction of the French principles of liberty and equality among all classes of the people." Why was it, then, that these principles had never made much of a stir there? Could it be that the English nation was, "too backward in point of culture to apprehend these general principles?" This could hardly be the case, since "in no country has the question of liberty been more frequently a subject of reflection and public discussion." Could it be that the principles were aheady so completely embodied in the Constitution, that they "could no longer excite Opposition or even interest?"3i Hegel, as he thought, found the answer to the riddle in the peculiar nature of the English, as expressed in their Constitution. They were, "the people of intellectual Intuition, recogniztng the rational less in the form of universality than in that of singularity. The individual here attempts to rely upon himself in every respect, to relate himself to the universal only by means of his own peculiar disposition. It is because of this that political freedom among the English consists mainly of Privileges, of rights which are simply established rather than derived from general principles." This ingrained national characteristic accounts for the fact that, "abstract and general principles have no attraction for Englishmen, — are addressed in their case to deaf ears."^^ Such a general solution could no longer be regarded as satisfactory once the English had apparently ceased to run true to form, and had cooked up the Reform BUl. News of their having done so was first published in the Prussian State Gazette on March 9th 1831. It was certainly alarming that liberal aspirations should now be fermenting within a Constitution which even 1789 and all that followed on from it had faüed to effect in any very radical manner. Had the time not come to make a stand for the Prussian accomplishment? Would it not be helpful to analyze in detail the glaring shortcomings of the British set-up, and make clear precisely why it was that something very similar to the sort of liberalism that could so easily lead to the removal of Prussia from the 31 Hegel: Philosophy of History. Op. cit., note24, 472—473. 32 Hegel: Subjective Spirit. Ed. cit. (note 23). Vol 2. 79. Philosophy of History. Op. cit. (note 24). 474.
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map of Europe, had now spread across the Channel? It must have been some such train of thought which first led to Hegel's planning the article on the Reform Bill, probably after he finished lecturing on the PhUosophy of World History on March 26th. It is almost certainly of some significance that he should have chosen to publish the article in the Prussian State Gazette, the official state paper, which he had evidently been reading ever since his arrival in Berlin. There was a consensus in certain Berlin circles that the paper was not serving the country as well as it should. It was too staid and dry. What was needed was a populär publication, capable of keeping before the public eye the very real achievements of the central govemment and the civü Service. Only in that way could journalism help to take some of the wind out of the liberals' sails. The best antidote to their troublesome and pointless aspirations was to publicize the real benefits being provided by the established order. Gentz had planned to set up a populär paper to this end in 1828, but had been unable to get together a suitable team of journalists. Two years later Frederick Perthes called attention to the fact that, "it was not enough that the intentions and the administration of the country should be good", the general recognition of its merits was of almost equal importance, and "the Prussian govemment should therefore Start publicizing itself." When he suggested to the ministry that what was needed was a populär paper, however, the idea was turned down with the observation that deeds were more important than words, and that if the govemment started publicizing itself, it could easily drift into becoming dependent upon uncontrollable social factors. It concentrated instead upon launching Ranke's Historical-political Journal, a dignified and scholarly publication designed to appeal to dons, intelligent civil servants and highbrow businessmen. On January 31st 1831, the jurist Eichhorn wrote about the government's newspaper Propaganda to his colleague Savigny: "I cannot understand why the govemment should never have thought of arming itself more effectively. The Austrian Observer and the State Gazette are so dull, their didactic expositions are entirely lacking in zip."33 A modern reader of the Gazette is not likely to dissent very strongly from the judgement passed upon it by such critics. It looks Hke a govemment publication. Foreign news is presented in accordance with
33 M. /. Petry: Propaganda and analysis: the background to Hegel's article on the English Reform Bill. In: The State and Civil Society. Ed. by Z. A. Pelczynski. Cambridge 1984. 144.
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the rank of the countries in the international hierarchy, — Russia, France, England, the Netherlands, etc., each section starting with an account of what is going on at the court. German affairs are reported in a similar manner, the emphasis throughout being upon their diplomatic, constitutional and legal aspects. There are no leaders as such, although the separate reports sometimes include a considerable amount of comment, and lengthy articles like Hegel's, serialized over a number of issues, are not very frequent. Even the most momentous events are reported in a matter-of-fact manner, little attempt being made to extract any particular significance from them. Since the reporting has nothing of the verve and urgency so typical of the writing in the Chronicle, one can well imagine Hegel deciding that something ought to be done to set things aright. The account of Lord John Russell's Speech appeared on March 9th, and was purely factual. Peel's Speeches were reported as fully as O'Connell's. Plenty of prominence was given to the assertion that reform was now a certainty, and to the speech in which Macaulay drove home the point that the proposed reforms were bound to unite rather than divide the country. On March 16th there was a survey of the English press, both national and local, with an excellent analysis of which papers were supporting what proposals. News of the result of the second-reading debate on March 23rd was published on the last day of the month, and after about April 7th there was little news from England, since on March 30th Parliament had adjourned for Easter. It was probably during this lull that Hegel began to collect his thoughts, for we have the first jottings he made, and they contain an excerpt concerning Wellington's views on changing administrations taken from the Gazette of April 2nd. On April 12th Parliament reassembled, and news of this appeared in the Gazette eight days later. It seems pretty clear, therefore, that since the first two parts of Hegel's article were published in the two issues of the Gazette which appeared on April 26th, and the third on Friday April 29th, most of the facts on which he based his arguments are not to be dated later than March. It is interesting to note, however, that he must still have been working on the last two parts of the article when the first two parts were already in print. Since we have the manuscript, we know, for example, that he inserted the reference to bribery at Liverpool in the proofs. The English papers of April 22nd, which carried news of it, arrived in Berlin on April 28th, the day before this section of the article was published. The Gazette did not report the matter until May 2nd. The observation concerning Henry Hunt in section four of the article, which is part of the
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main manuscript text, is almost certainly based on a report in the English papers of April 19th, which arrived in Berlin on April 25th.3^ Since the third part of the article was published in the Gazette on Friday April 29th, Hegel naturally thought that the conclusion would be appearing on the Saturday. When it had still not appeared on the Monday, he wrote to the editor asking why. On the Tuesday, the king's private secretary also wrote to the editor: "His Majesty has taken no exception to the article on the Reform Bill, but he finds it unsuitable for the State Gazette, and I must therefore request you to withhold the last part of it, which you so kindly forwarded to me, and which I herewith retum." The editor passed this news on to Hegel on May 8th. The article was well received in court circles, however, as was, perhaps, to be expected, and despite his intervention, the king evidently ordered that there should be a printing, for private circulation, of what Hegel had written. Since no copy of this has yet come to light, we do not know whether it was the whole article or simply the last part that was so circulated. Soon afterwards, Charles von Beyme must have written to Hegel, congratulating him on the article and asking him why the last part of it had not been published. The reply was as follows: "It has remained unpubÜshed on account of the main purpose of the article, which is to make use of the Reform Bill issue in order to deal with certain universally applicable principles, which are not only constantly giving rise to the misrepresentation and denigration of the Constitution and legislature of Prussia, but which also act to the detriment of the latter in lending credence to the pretension and populär repute of English freedom. This could have been interpreted as an attack upon the British Constitution, and as therefore unsuitable for the Prussian State Gazette." The king could hardly have found anything to disturb him in section one, and although some of the detaüs concerning English society mentioned in section two were not the sort of thing he was used to Corning across in the Gazette, there was no reason why he should have seen any real harm in them. In section three, however, Hegel criticizes the govemment and Constitution in such outspoken terms, that one can well imagine the king wondering what was Corning next, and asking the editor to send him on the following section before passing it to the Printers. Although it probably is the case that the last section was not published because it could have soured Anglo-Prussian relations, it ^ Hegel Werfcell. Note 20, 553-555. The English Reform Bill. Ed. dt. (note20). 316,8-12; 324,18-20. Germ. 109,31-110; 6,120,21-24.
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could also be of some significance that it is this section that contains some of Hegel's most telling remarks on the function of the Crown. The main importance of this episode is, however, that it provides us with direct insight into Hegel's reasons for writing the article, and allows us to gauge the way in which his reading of World History was received at the highest levels in the Prussia of his day.^s III. England
Modern historical analysis can demonstrate fairly conclusively, that after 1818 there was never any real danger of England's precipitating itself into the sort of revolution with which James Mill and John Black managed to frighten their readers. The dosest the country came to such a chaos during the sixty years following the first French upheaval was probably the spring of 1812, when there was a severe slump, the price of wheat was inordinately high, the Luddite riots were reaching a climax, and the greater part of the army was engaged in foreign Service. Subsequent developments showed very clearly that those who planned the Reform of Parliament during the midwinter of 1830/31, had assessed the potentialities of the current Situation far better than those who were afraid that any such reform would unleash an uncontrollable turmoil. By transferring parliamentary representation from the rotten boroughs to the new industrial towns, and dividing the representation of the predominantly rural counties from that of the exclusively urban boroughs, the Whigs satisfied those demanding a more reasonable degree of numerical representation, while preserving the more traditional principle of the representation of communities and interests. By abolishing all narrow rights of election and establishing universal property qualifications in both the countryside and the towns, while resisting the demand for universal suffrage, more frequent Parliaments and voting by ballot, they swept away enough anomalies to satisfy the radicals and preserved enough of the old System to pacify the conservatives. ^ This is not to say, however, that those then at the centre of the political scene in England were all fully aware that this was in fact the 35 H. Schneider: Dokumente zu Hegels politischem Denken 1830/31. In: Hegel-Studien. 11 (1976), 81-88. 36 f. O. Darvall: Populär Disturbances and Public Order in Regency England. Oxford 1969. M. Brock, Op. cit. (note 12).
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case. Some of the Whigs were undoubtedly too complacent. Grey himself, for example, seems to have been far too ready to underrate the possibility that the radicals and the mob might take things into their own hands, and the King often sized up the difficulties of situations rather more accurately than did his Prime Minister. The Whig Cabinet was aware of this, and sometimes made use of it in order to frighten His Majesty into doing what was required, in much the same way as Mill and Black were frightening the general pubHc. They made a point, for example, of first presenting him with the proposals for reform on January 30th, the anniversay of the martyrdom of Charles I. The point evidently went home and sharpened his judgement, for he produced a long memorandum on the subject for Lord Grey, in which he made it quite clear that he had severe doubts about the wisdom of popularizing the Commons: "All this would seem to point out the inexpediency, not to say the insecurity, of rendering the House of Commons more populär than it already is in the materials of its composition, by the Substitution of a representation of numbers for one of property." Lord Melbourne, who as home secretary was responsible for dealing with the widespread civil disturbances, was worried enough by the agricultural riots to send military officers into the affected areas to supervise the disposal of troops and advise magistrates on the levying of local volunteers. On the very day on which the last reports of the initial ParUamentary debates appeared in the Prussian State Gazette and Hegel probably sat down to plan his article, the London radical Francis Place wrote as follows to a friend: "I hope with you almost against my conviction that we shall be able to avoid a violent revolution in working out our reformation. A violent revolution in this country would be dreadful in the extreme. Contemplate seriously what would be the consequences of the faUure of supplies to this great metropolis. Do you think you can estimate with anything like precision the terrible consequences of a starving and enraged populace in London and its example on all parts of the country. "37 On the central issue of reform and revolution in the England of 1831, we have, therefore, to regard Hegel as having been broadly justified when he concluded his article with the prediction that if the Whig proposals did become law: "The people would be a power of a different Correspondence of Grey with William IV. Op. cit. (note 11). Vol 1. 94—104. P. Ziegler: Melbourne. London 1976. 133—139. Hobsbawm and Rud6, (note 19). 257. G. Wallas: The Life of Francis Place. London 1925. 245.
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kind; and an Opposition which, erected on a basis hitherto at variance with the stability of Parliament, might feel itself no match for the opposite party in Parliament, could be led to look for its strength to the people, and then introduce not reform but revolution." There were many others in the England of the time, including the King, who had come to much the same conclusion. As events turned out, they were wrong, but they cannot be said not to have been aware of the true mood of the country at that particular point in time. It will not do, however, simply to judge Hegel's article in the light of this one point. He was not attempting to write an accurate and balanced account of an episode in English history. He was, as he told Von Beyme, "making use of the Reform Bill issue in order to deal with certain universally applicable principles, which are constantly giving rise to the misrepresentation and denigration of the Constitution and legislature of Prussia." If we are going to assess the true significance of the article, therefore, we have to judge it not against the background of the English events it purports to be analyzing, but in the context of the Prussian govemment in the post-war period, with no central representative assembly, attempting to cope with the violent upsurge of liberalism which swept Europe in the wake of the second French Revolution. Düring the late summer and early autumn of 1830, populär uprisings in favour of constitutional reform had taken place in the kingdoms of Hanover and Saxony, where important concessions and far-reaching changes had to be made; in Brunswick, where the Duke was driven into exile; and in Hesse-Cassel, where the Landgrave was forced to summon the estates. The Brussels revolution, which was to result in the dissolution of the Kingdom of the Netherlands before the end of the year, had broken out in August; the Warsaw revolt, which had given rise to war between Poland and Russia, in November. By December, even Switzerland had begun to undergo a series of violent constitutional disturbances. Prussia, like Great Britain, managed to ride out this storm, — against all the odds, and at least for the present, largely unscathed. In so far as the article on the Reform Bill has to be judged in this context, therefore, one can only conclude that it has to be regarded as very successful indeed. As we have seen, the propaganda embedded in it is not only involved with the Prussia of 1831 and the general principles of Hegel's encyclopaedic System, but also reflects the Benthamite policies of Mill and Black. This is indeed a formidable hall of mirrors, and one might very well ask whether the article gets anything right with regard to the
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actual situations it pretends to be describing and elucidating. It may be of some value, therefore, to conclude this essay by attempting to set the record straight in respect of a number of elementary facts. Considering the detail into which Hegel enters in making his general points, it is quite remarkable that he should, in general, manage extremely well in this respect. There are not many matters on which he would appear to have got the wrong end of the stick. It is not the case, however, that the House of Lords had any jurisdiction at that time on election matters. The case of Edward Frank was scandalous enough to capture the country's Imagination at the time, but it was not generally perceived, as Hegel implies it was, as having much bearing upon the Status of the Church of England. It was his personal es täte, not his church livings, which was at stäke in the Chancery proceedings initiated by his son, and the central issue was simply whether he was, "of unsound mind, so as to be unfit for the government of himself or his affairs." The jury eventually decided that he was. Committees of the House of Commons did in fact investigate alleged bribery and corruption in Penryn in 1807, 1819 and 1827, but William Manning, the West-India merchant and banker continued to sit in the House until 1830. When discussing the proposals for the borough franchise in the Bill, Hegel gets things wrong, and he also seems to confuse the provisions of the English BiU in this respect, with those of its Irish equivalent. When referring to the fall of Wellington's government in November 1830, he shows that he was unaware of the accepted conventions concerning votes on the Civil List.38 There is one particularly interesting case of the Morning Chronicle's having completely misled him on a matter of central importance in the political developments of the time. While Wellington was attempting to get together his Ministry during the January of 1828, the Chronicle suggested strongly, in a whole series of leaders, that he was following a line of policy which we now know to have been the complete opposite of that which he was in fact pursuing. It fitted well with the pre-conceptions of both Mül and Hegel, that Wellington should, as Hegel put it, "be attempting to procure the Upper House for the King", since this certainly raised the question of what he would gain if this, "caused him to lose the Lower House." It was, however, simply not the 38 Hegel: The English Reform Bill. Ed. dt. (note20). 298,18; 305,1; 313,14; 315,16-316,6; 326,25. Germ. 87,20; 95,25; 106,18; 109,2-29; 123,15. M. J. Petry: Morning Chronicle (i\ote 19). Nos 13, 19; pp. 36, 43.
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case that Wellington was, "indulging in the risky business of attempting to separate the government from the people, — calling forth fatal antagonism between the patriciate and the plebeians." Hegel seems, subsequently, to have realized the truth of the matter, for no such Observation appears in the article on the Reform Bill, in which he goes out of his way, and in fact in a rather odd manner, to praise the Duke for his poHtical sagacity.39 There are, it would seem, three rather important respects in which the article on the Reform Bill involves basic misconceptions concerning the England of the day. On account of Bentham's and Mill's view that the power of the monarch was essential to the pushing through of reform, that England had been run by a corrupt Whig oligarchy since 1688, and that this was the main reason why it was so difficult for it to improve its institutions in the interest of furthering the greatest happiness of the greatest number, — Hegel certainly underrated the key importance, as well as the very real power of the monarch. The Bill finally passed its third reading in the Lords on June 4th 1832, because on May 18th, the King had given Grey full authority for a creation of peers which would have flooded the upper house with supporters of the Whigs. Everyone knew, throughout the whole of this inordinately protracted constitutional struggle, that in the last resort, this was always a possibility. It was the final trump card in all the rounds played, and the fun and sport of it was not lost on people. In December 1831, for example, Lord Essex evidently told Edward Littleton that if the Lords remained recalcitrant, the King ought to go down to the first stand of hackney carriages in Piccadilly and ennoble every coachman until there were enough safe new votes to force the Bül through the Upper House. Nor should the importance of the religious convictions that then centred upon the monarchy be overlooked, if we are attempting to understand the Contemporary political scene. Non-jurors had continued to refuse to take the oath of allegiance to the House of Hanover unfil well into the eighteenth Century. In 1801, Pitt had found it impossible to carry the measure of Catholic emancipation together with the Act of Union with Ireland. There was much turbulence in Parliament as weU as the country at large prior to the passing of the Catholic emancipation Act in 1829, and it is certainly the case that Wellington's Support for the measure helped to precipitate the fall of his administration in November 1830."® Petry: Morning Chronide (note 19) no 33, pp. 55—58. *0 Ziegler: Melbourne (note 37). 143.
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Encouraged by the preconceptions of Bentham and Mül, as well as those of bis own Philosoph}/ of Right, Hegel feels justified in drawing a distinction between rational and positive law, and castigating Grey and bis colleagues for having no real conception of the difference involved here. It could very well be argued, however, that this simply shows how completely unaware he was of the basic distinction, common in England since the thirteenth Century, between common and Statute law. The whole procedure he was investigating was in fact that of transforming and co-ordinating a medley of separate and disparate rights, rooted in the common law of the country, into one Parliamentary Statute. This was not, of course, precisely the same business as that involved in the Continental procedure of codification. On the other hand, nor was it so very different, and Hegel was certainly not justified in drawing such a sharp distinction. He also appears to have little idea of the difference between Common Law and Equity or Chancery Law. One wonders what he would have thought of the attempt then being made by Lord Eldon to settle the principles of equity, and make its mies nearly as fixed and ascertained as those of the common law. Unfortunately, there is no evidence that he knew anything at all of what was going on in this field.41 The third major shortcoming of his article in respect of the judgement it passes upon English affairs is, of course, that it turned out to be completely wrong as an assessment of the way in which English politics and institutions were then developing. There was no radical revolution in Victorian England. The Whigs themselves initiated a whole series of constmctive measures in the new House of Commons, but before long Peel was heading an equally successful Tory Ministry, and under a Crown which was to go from strength to strength as a populär institution, as Victoria and Albert caught the Imagination and won the affection of the people as a whole.
H. Twiss: The Life of Lord Chancellor Eldon. 3 vols. London 1844.
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PARLAMENTE IN DEUTSCHLAND UM 1830 Umrisse einer neuen Institution I. Es zählt zu den Eigentümlichkeiten der politischen Publizistik Hegels, daß sie mit den Jahren zunehmend zur Schutzwehr seiner Geschichtsphilosophie geriet. Sah er im Napoleonismus und im Preußen des Landrechts die Rationalität der Moderne mit der Politik eins werden, so erblickte er in Württemberg (1816) und Großbritannien (1831) Rechtsordnungen von empirischer Beliebigkeit, Zeugnisse privilegierter Selbstsucht und daher staatswissenschaftlicher Durchdringung bedürftig. Es war ganz eine Eingebung deutschen Zeitbewußtseins, daß er im Staat der Verwaltung jene Kraft vermutete, „in der Stille des Nachdenkens in das Wesen der Gesetzgebung . . . einzudringen". Wohingegen den Parlamenten aufgegeben sei, die „großen Interessen der Nation" zu repräsentieren, ständisch-organisch geschieden nach Adel, Geistlichkeit, Städtebürgern und Bauern.i Freilich war dies nur der eine, dazu der schon absterbende Teil der institutionellen Philosophie der Epoche. Und spätestens 1848 schien sein Kredit verbraucht. Preußen teilte nun, wie andere Staaten zuvor, seine Macht mit einer parlamentarischen Versammlung, und die herkömmlichen Stände, so eifrig sie in den Verfassungstexten hofiert wurden, waren doch schon in Auflösung begriffen. „Das ständische Element ist die illusorische Existenz der Staatsangelegenheiten als einer Volkssache", notiert Marx mit einem bekannten Diktum in der Kritik des Hegelschen Staatsrechts. Genauer gesehen, war diese Entwicklung indessen schon 1830 zu erkennen; als neue Form der Öffentlichkeit, als gesteigertes Selbstbewußtsein der parlamentarischen Versammlungen, als demokratisches Feuer, 1 Über die englische Reformbill, zit. n. G. W. F. Hegel: Politische Schriften. Nachw. v. J. Habermas. Frankfurt am Main 1966. 298, 300. 2 Zit. n. Karl Marx: Frühe Schriften. Bd 1. Hrsg, von H.-J. Lieber u. P. Furth. Darmstadt 1962. 336.
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welches Abtrünnige des Bürgertums entfachten. Wohl ist unbestreitbar, daß die Konvulsionen, welche die Julirevolution auslöste, von den Zeitgenossen eher als Zerstörung und Ende gedeutet wurden, daß die abtretende geistige Klasse der Goethe, Gentz, Stein und Hegel sie mit Kassandrarufen begleitete. Aber aus der Rückschau tritt doch zuvörderst der Wandel zum Neuen zutage. Er erfaßte die Institutionen wie die Verhaltensmuster und die Denkweisen. Scheuen wir die pathetische Formel nicht: 1830 ist das Geburtsjahr moderner politischer Kultur in Deutschland. ^ Die Julirevolution ist weder durch Konspirateure noch durch Militär in andere Staaten getragen worden, sie bewegte vielmehr, was ohnedies nur des Anstoßes bedurfte, um verändert zu werden. Der soziale Stoff, den sie zum Brennen brachte, war dabei so verschieden wie die Verhältnisse, die nun in revoltenhafte Zustände gerieten. In Belgien kam es zur Staatsspaltung und — nachfolgend — zur Errichtung eines parlamentarischen Regimes; in Polen widersetzten sich Militärs und Intellektuelle der russischen Fremdherrschaft; in England und Nordeuropa mischten sich Sozialprotest und Verfassungsreform. Was die Geschehnisse des Umbruchs und Aufbruchs in Europa verband, war der politisch-soziale Stau der zwanziger Jahre, war das Flammenzeichen der Pariser Ereignisse, welches allenthalben Unruhe und Veränderung hervorrief.^ Dies gilt nun auch für die Verhältnisse in Deutschland, wo drei Formen der Rezeption aufeinander folgten und sich zum Teil überschnitten, verbanden: ein emotionaler Widerhall, der sich in Parolen („neuer Abschnitt der Weltgeschichte") oder der Popularität der Marseillaise etwa kundtat; ein Revoltieren gegen soziale Unterdrückung und die Mechanisierung der Handarbeit, gegen Steuerlast und Beamtenwillkür; eine Verfassungsgebung, die mit einer neuen Qualität des öffentlich-politischen Lebens einherging. 3 Die allgemeinen Darstellungen zur Epoche halten sich da freüich eher bedeckt. Für andere: E. R. Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte. Bd 2. Stuttgart 1960. 31 ff; T. Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800—1866. München 1983. 366 ff; D. Langewiesche: Europa zwischen Restauration und Revolution 1815—1849. München 1985. 65 ff. Der DDR-Marxismus schnitt diese Zäsur tiefer, aber ganz in klassenhistorischer und klassenpolitischer Absicht: H. Bock: „Vormärz oder Restauration"? Bürgerliche Umwälzung — Industrielle Revolution — Demokratische Literatur. In: Streitpunkt Vormärz. Beiträge zur Kritik bürgerlicher und revisionistischer Erbeauffassungen. Berlin 1977. 9 ff; H. Holzapfel: Der Einfluß der Julirevolution von 1830132 auf Deutschland. In: Demokratische und soziale Protestbewegungen in Mitteleuropa 1815—1848/49. Hrsg, von H. Reinalter. Frankfurt am Main 1986. 105—40 sowie die Beiträge des Sammelbandes Die Französische Julirevolution von 1830 und Europa. Hrsg. v. M. Kossok und W. Loch. Berlin 1985. •* Vgl. Clive Church: Europe in 1830. Revolution and Political Change. London 1983.
Parlamente in Deutschland um 1830
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Das Neue zeigte sich in den Denkweisen wie in den institutioneilen Verfestigungen des Politischen. Denn erst jetzt eigentlich, ein Jahrzehnt nach den Stiftungen, begannen sich die Liberalen, die Oppositionellen pro futuro, die Verfassungen anzueignen, sie bürokratischer Verfügbarkeit zu entziehen. Geschaffen waren die Konstitutionen noch ganz im Geiste absolutistischer Reform. Sie sollten die Integration annektierter Gebiete vorantreiben, das Geschäft der Verwaltung fortführen, wo diese an Grenzen ihrer Wirksamkeit geriet. Die repressiven 1820er Jahre haben dieses Kalkül im großen und ganzen bestätigt. Die Ständeversammlungen bewährten sich als Verlängerungen der Bürokratie in die „Staatsgesellschaft"; die Wahlen wurden fast durchweg von den Behörden gesteuert; die Abgeordneten, nehmen wir die badischen Verhältnisse nicht für die Regel, standen in der Abhängigkeit derer, welche die Mandate vergaben. Die Indolenz in der Wahlbevölkerung korrespondierte mit einem Mangel an Opposition in den Kammern. Aber 1830, pointieren wir die Entwicklung, war es damit vorbei. Aus Agenturen der Verwaltung wurden die Parlamente zu Zentren von antigouvemementaler Stoßkraft. In dem Maße, wie die bürgerliche Gesellschaft an politischem Selbstbewußtsein gewann, fand sie in den Landtagen Sprecher ihres Interesses. In dem Maße wie die Landtage gegen die Regierungen aufbegehrten, machten sie die Gesellschaft politisch. Von den 38 Staaten des Deutschen Bundes verordneten sich über 30 im Verlauf des Vormärz eine Verfassung. „Konstitution" und „Assoziation" waren die politischen Zauberworte der Epoche.^ Freilich fehlten verbindliche Vorschriften, wie diese Verfassungen einzurichten seien, und also war die Vielfalt groß und nur schwer unter feste Kategorien zu fassen. Da gab es das schlichte Beharren auf dem altständischen Herkommen. Da gab es mit Phantasie ersonnene Mischprodukte neuständischer Konstruktion. Und da gab es Verfassungen von „französischer" Bauart mit atomistischer Vertretungsweise. Von ihnen, den Protagonisten des Parlamentarismus, soll hier im folgenden berichtet werden. Sie bieten den auffälligsten Kontrast zur Hegelschen Wahrnehmung zeitgenössischer Institutionen.
5 über die Entwicklung allgemein neben dem Huberschen Kompendium (Anm. 3) jetzt
D. Grimm: Deutsche Verfassungsgeschichte 1776—1866. Frankfurt am Main 1988. 43 ff und H. Boldt: Deutsche Verfassungsgeschichte. Bd 2: Von 1806 bis zur Gegenwart. München 1990.
53 ff.
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II. Der deutsche Parlamentarismus ist im Binnenraum des bürokratischen Fürstenstaates entstanden^; ihm fehlt die Mitgift und erst recht eine Epoche der Patronage, der institutionalisierten Korruption. Dies ist die Ursache seiner Schwäche, aber auch der Grund für Züge des Modernen, die ihm eignen. In der Gegenüberstellung von Wahlrecht und Parlamentsmacht wird dieses Gefälle offenbar. Wie anderswo waren es in Deutschland erworbene Eigentumstitel welche zur Ausübung des Stimmrechts legitimierten.^ Aber die Hürden waren niedriger gestellt, weniger diskrirrünierend die Vorschriften, durchschaubarer auch — jedenfalls gegen britische Verhältnisse gehalten. Bürgerrecht, Steuerleistung und Grundbesitz verlangte die Neue Landschaftsordnung Braunschweigs von 1832; Selbständigkeit, Ortsbürgerrecht und Grundbesitz die kurhessische Verfassung, die ein Jahr zuvor erlassen war. Ähnlich waren die Anforderungen, die im Königreich Sachsen galten, aber auch in einer Reihe von Kleinstaaten der thüringischen Region. In Württemberg waren Gemeindebürgerrecht und Steuerleistung vor die Ausübung des Wahlrechts gestellt, in Baden gar nur
® Eine übergreifende Darstellung fehlt ebenso, wie es an Einzeluntersuchungen mangelt. Eine systematische Skizze zeichnet J.-D. Kühne: Volksvertretungen im monarchischen Konstitutionalismus (1814—1918). In: Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland. Hrsg, von H.-P. Schneider und W. Zeh. Berlin 1989. 49 ff. Einen Forschungsaufriß bietet G. A. Ritter: Entivicklungsprobleme des deutschen Parlamentarismus. In: Gesellschafl, Parlament und Regierung. Zur Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland. Hrsg, von G. A. Ritter. Düsseldorf 1974. 11 ff. Als Nachschlagewerk unentbehrlich: P. M. Ehrle: Volksvertretung im Vormärz. Studien zur Zusammensetzung, Wahl und Funktion der deutschen Landtage im Spannungsfeld zwischen monarchischem Prinzip und ständischer Repräsentation. 2 Bde. Frankfurt am Main 1979. Die Monographien, welche vorliegen, demonstrieren die desolate Situation. Ich nenne: L. Müller: Badische Landtagsgeschichte. 4 Bde. Berlin 1900—1902; L. Gail: Der Liberalismus als regierende Partei. Das Großherzogtum Baden zwischen Restauration und Reichsgründung. Wiesbaden 1968; S. Büttner: Die Anfänge des Parlamentarismus in Hessen-Darmstadt und das du Thilsche System. Darmstadt 1969; K. Kolb/J. Teiwes: Beiträge zur politischen Sozial- und Rechtsgeschichte der Hannoverschen Ständeversammlung von 1814—1833 und 1837—1849. Hildesheim 1977; R. Schober: Geschichte des Tiroler Landtages im 19. und 20. Jahrhundert. Innsbruck 1984. H. Brandt: Parlamentarismus in Württemberg 1819-1870. Anatomie ei-
nes deutschen Landtags. Düsseldorf 1987. ^ Übergreifend: B. Vogel/D. Nohlen/R.-O. Schulze: Wahlen in Deutschland. Berlin, New York 1971 u. K. Rohe: Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland. Frankfurt am Main 1992. Eine vergleichende Studie für die Zeit vor 1848 fehlt, aber auch die Einzelforschung steckt noch ganz in den Anfängen. Vgl. 1. Wittmer: Urwahlen im Oberrheinkreis des Großherzogtums Baden U846—1863). Frankfurt am Main, Bern, New York 1986; M. Hörner: Die Wahlen zur badischen Zweiten Kammer im Vormärz 1819—1847. Göttingen 1987. H. Brandt: Parlamentarismus in Württemberg (Anm. 6). 33 ff.
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„Ansässigkeit als Bürger im Wahldistrikt oder Bekleidung eines öffentlichen Amtes".® Man hat vom Zensus-Wahlrecht gesprochen, um der Praxis den rechten Namen zu geben. Und dies ist, aufs Ganze gesehen, eine zutreffende Bezeichnung. Aber es gab eben auch solche Staaten, in denen die materiellen Anforderungen an das Wahlrecht gering waren oder gar gänzlich fehlten, wo eine jährliche Staatssteuer von einem Gulden hinreichte, um Wahlbürger zu werden. Bis zu 15 % der Bevölkerung, so wissen wir jetzt, haben damals in Baden und Württemberg wählen dürfen, und der Anteil derer, die tatsächlich wählten, war eher höher, denn die überforderten Ortswahlbehörden ließen manches durchgehen, was nicht rechtens war. Nach 1870, unter den Bedingungen des allgemeinen (Männerjwahlrechts des Kaiserreichs, lag die Zahl der Berechtigten nur unwesentlich höher. Verglichen mit England und Frankreich waren diese Staaten fast demokratische Gebilde. „Es möchte in dieser Rücksicht interessant sein, auch aus anderen Kreisen, wo das Wahlrecht sämtlichen Bürgern übertragen ist. . ., das Durchschnittsverhältnis der Stimmberechtigten zu den wirklich Stimmenden kennenzulernen." So fragt Hegel 1832. Er erwähnt die Wahlen der preußischen Stadtverordneten als Objekt möglicher Nachforschungen. Der manifeste Parlamentarismus der Mittelstaaten findet sein Interesse nicht. ^ Fügen wir hinzu, daß öffentlich gewählt wurde — eine für heutige Vorstellungen eher befremdliche Bestimmung. Die Zeitgenossen indes sahen es anders. War Wählen selbst damals schon ein neuer, ein die sozialen Verhältnisse bewegender Vorgang, so trug öffentliches Wählen die Politik in Bezirke, in denen sie fremd war bis dahin, in die Zünfte, in die Dörfer, in die Familien. Verfolgen wir die Ergebnisse der Landtagswahlen über die Jahre hinweg, so tritt uns eine auffällige soziale Inkongruenz von Wählerschaft und Gewählten entgegen. Dominierten in den Urwähler- und Wahlmännerlisten Handwerker und Kleinbauern (bis zu 98 %), so waren sie in den Landtagen selbst nur mit wenigen Figuren vertreten. In ihnen dominierten vielmehr die Advokaten und Professoren, die Appellationsgerichtsräte und Notare, die Apotheker und Lehrer — also das, was wir als Bildungsbürgertum zu bezeichnen pflegen. Freilich nicht, weil sie das Wahlrecht begünstigt hätte, dies ist deutlich, sondern weil sich die Wäh® Vergleichende Orientierung über die Bestimmungen bietet hier wie in anderen Belangen das bekannte Sammelwerk von Pölitz und Bülau: Die Verfassungen des teutschen Staatenbundes seit dem fahr 1789 bis auf die neueste Zeit. 2 Abth. Leipzig 1847. ^ Reformbill (Anm. 1). 307.
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lenden eben so entschieden. Übrigens ist uns die Sache selbst auch von der Paulskirche her bekannt. Über die Gründe indes mag man streiten. War es verbreitete Meinung, den Ansprüchen des Mandats nicht gewachsen zu sein? War es die Nichtabkömmlichkeit von beruflichen Geschäften? Ein Stück Obrigkeitstradition wohl ist es auch, das den Wahlentscheidungen die Richtung gab.
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III.
Der neuere Parlamentarismus ist ohne Gruppen- und Parteibildungen nicht zu denken, ünd auch in dieser Hinsicht bildet das Jahr 1830 für die deutsche Staatenwelt eine Epochenschwelle. Nicht nur, daß das Vereinswesen politischer wurde, daß das Prinzip der Assoziation fast verführerische öffentliche Qualitäten entwickelte. Weit mehr: Mit den Wahlen entstand der Wahlverein, mit den Landtagen, die eigene politische Schwerkraft gewannen, die embryonale Form der Fraktion. Am handgreiflichsten trat dieser Wandel in Württemberg zu Tage. Erstmals bei den Kammerwahlen von 1831 bildeten sich Zusammenschlüsse, die den Zusammenhang von Wählen und Sich-Absprechen bezeugen: die ein Programm niederschrieben, die einen Kandidaten promovierten, die seine Bestellung zum Abgeordneten förderten. Freilich: Wahlverein war damals noch keine abgeschlossene Organisationsform, Die Frage, ob Gruppierungen dieser Art, zumal in ihren Anfängen, schon als „Parteien" resp. „Fraktionen" zu bezeichnen sind, hat die Wissenschaft mehr beschäftigt als deren praktische Wirksamkeit. Daß es ihnen noch an Organisation gebrach, ist bekannt. Andererseits ist es keine Frage, daß sie schon Kristallisationskerne von politischen Interessen waren, sich durch ein „Selbst- und Wirbewußtsein" (T. Nipperdey: Grundprobleme der deutschen Parteigeschichte im 19. Jahrhundert. In: Die deutschen Parteien vor 1918. Hrsg, von G. A. Ritter Köln 1973. 33) nach außen hin abgrenzten und Einfluß auf die Politik der Landtage ausübten, wenn nicht in diesen selbst das Geschehen mitbestimmten. Zum Problem äußern sich ferner T. Schieder: Die geschichtlichen Grundlagen urui Epochen des deutschen Parteiwesens, ln: Ders.: Staat und Gesellschaft im Wandel unserer Zeit. 3. Aufl. München 1974. 133 ff; ders.: Die Theorie der Partei im älteren deutschen Liberalismus. Ebd. 110 ff, D. Langewiesche: Liberalismus und Demokratie in Württemberg zioischen Revolution und Reichsgründung. Düsseldorf 1974. 80 ff; ders.: Die Anfänge der deutschen Parteien. Partei, Fraktion und Verein in der Revolution von 1848/49. In: Geschichte u. Gesellschaft. 4 (1978), 324 ff. Während Schieder und Langewiesche vor 1848 allenfalls Embryonalformen von Parteien erkennen, bevorzugt Nipperdey einen „weitgefaßten Parteibegriff", der die Organisation nur als ein Teilelement gelten läßt und damit auch den Vormärz einbezieht. — Der Begriff „Partei" wurde vor 1848 übrigens noch unspezifisch gebraucht und war daher nach heutigen Maßstäben diffus. Vgl. K. v. Beyme: Partei, Traktion. In: Geschichtliche Grundbegriffe Hrsg, von O. Brunner, W. Conze, R. Koselleck. Bd 4. Stuttgart 1978. 697 ff. Über das Gruppenwesen in den Landtagen s. H. Kramer: Fraktionsbindungen in den deutschen Volksvertretungen 1819-1849. Berlin 1968.
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sondern ein changierendes, vielfältige Figuren beschreibendes Gebilde. Wie für vergleichbare Verfassungslagen anderer Staaten galt auch hier die Erfahrung, daß politische Bewegungen zu improvisierten institutioneilen Lösungen Zuflucht suchen, wenn sich kein geeignetes Gehäuse vorfindet. Immerhin: Wie sehr der Grundsatz freier politischer Beratung Ln den Gemeinden damals schon Fuß gefaßt hatte, zeigt, daß in mindest 34 Bezirken die Wahlangelegenheiten in offenen Bürgerversammlungen verhandelt wurden. In 24 Oberämtern waren den Versammlungen sogar schon Komitees beigegeben, welche die Plenarversammlungen vorbereiteten und deren Beschlüsse ausführten. Eine Revue jener Städte, in denen diese fortgeschrittenste Form der Wahlkonsultation praktiziert wurde, läßt die Verbreitung des Instituts erkennen. Andererseits hat der Liberalismus, die treibende Kraft in den Parlamenten, dem Prinzip der Parteiung in den Anfängen durchaus widerstrebt. Er sah sich nicht als „Pars" der politischen Gesellschaft, aus deren Mitte sich die Landtage rekrutierten, sondern als Anwalt der Gesellschaft in ihrer Gänze, als ihr Sprecher gegen die Interessen des Staates, der Regierung, der Verwaltung. Und diese Haltung, die man als die Rottecksche bezeichnen mag, hat fortgedauert über die Jahrzehnte. Freilich ist ebenso richtig, daß der Liberalismus, als das gouvernementale Interesse in den Kammern sich zu organisieren begann, nun selbst — gegen die eigene Konfession — parteiisch wurde. Über Jahre, bis hin zur Revolution von 1848/49, bot sich in den Landtagen das seltsame Schauspiel dar, daß in der Praxis ungeniert geübt, was in der Theorie mit beredten Worten verleugnet wurde. Die Begriffe Partei und Fraktion galten als degoutant, aber im geschäftlichen Alltag galt der Streit doch bald als überholt. Die neuen Formen des Sich-Absprechens, des Sich-Zusammenfindens wurden den Liberalen durch die Verhältnisse gleichsam aufgezwungen: bei der Auswahl der Kammerpräsidien, bei der Bestellung der Kommissionen, bei der Einflußnahme auf den Haushalt. Erst im Vorfeld der Revolution sind Politik und Sprachkonvention wieder zur Deckung gekommen.
Zuletzt D. Langewiesche: Liberalismus in Deutschland. Frankfurt am Main 1988. 12 ff u. H. Brandt: Das Rotteck-Welckersche „Staats-Lexikon". Einleitung zum Neudruck. Frankfurt am Main 1990. Bd 1. 5 ff.
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IV. Parlamentarismus heißt Öffentlichkeit — nach kontinentaler, nicht nach britischer Lesart. Daß die deutschen Landtage nach 1830 aufblühten, hat mit der Konditionsschwäche des Bundes zu tun, dem zwischenzeitig das Karlsbader Repressionssystem entwunden wurde. Es gab eine kurze Zeit der Freiheit des Publizierens und des Sich-Versammelns, in der die parlamentarische Redefreiheit das institutionelle Schlußstück allgemeiner Libertät bildete. Davor und danach stellte sie eher die Ausnahme vorwaltender Unfreiheit dar. Diese Dinge sind nicht belanglos, rückt man sie in den rechten Zusammenhang. Denn die parlamentarischen Kammern waren die Lichtpunkte des Fortschritts. Zuzeiten waren sie die einzigen, welche dem Publikum Orientierung gaben. Denn die Landtage waren nicht nur Mandatare der Wählerschaft, sie waren auch Stätten offener Diskussion und Kritik in einem Land, das von der Zensur beherrscht wurde. Fast drei Jahrzehnte verwalteten sie die politische Meinungsfreiheit wie ein Monopol. In ihren Debatten herrschte, wenn auch vielerorts eher virtuell als praktisch, jenes freie Wort, das der Presse verwehrt war; die Sitzungsprotokolle boten dem PubHkum jene „Zeitung", jene Information, welche der Leser in Tagblättern und Broschüren vergeblich suchte. Mit anderen Worten; Die Kammer war nicht nur der verfassungsmäßig bestellte Kontrolleur der Regierung, sie war auch Nachrichten- und Meinungsagentur — wie immer sie diese Rolle ausfüllen mochte. Die umständliche, ins Doktrinäre ausschweifende Redeweise, die kulthafte Art der Gesetzesberatungen im Plenum, die jeden Paragraphen wie ein Kleinod behandelte, der vielfältige Drang zur Meinungsbekundung: Alles dies war daher nicht nur eine Ausgeburt naiver Phantasie oder Redseligkeit der subalternen Art, wie man vermuten möchte. Es war ein parlamentarisches Benehmen, das den Umständen Rechnung trug. Denn was im Plenum gesprochen wurde, fand Aufnahme in das Protokoll; was im Protokoll stand, fand Aufnahme beim lesenden Publikum. Oder es wurde durch die Zuhörer weitergetragen und verbreitet. Diese Zustände haben sich in den früheren dreißiger Jahren ein erstes Mal gewandelt: Die Trennwand, die Öffentlichkeit und Parlamentarismus voneinander schied, wurde niedergerissen. Freilich geschah dies zunächst nur für kurze Zeit. Aber spätere Umbrüche, die von 1848/49, die der sechziger Jahre, waren nicht Ereignisse im historischen Nirgendwo. Auch in diesem Sinne bilden die 1830er Jahre eine „Epoche", einen Anhaltspunkt in der deutschen Parlamentsgeschichte.
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V. Mit den Funktionen, mit den Aufgaben tritt die rückwärtsgewandte Seite des monarchischen Parlamentarismus ins Blickfeld des Betrachters, jene Seite, die seine konstitutionelle Schwäche bezeichnet. Aber auch in diesem Fall trennt eine Zäsur die zwanziger Jahre von den folgenden Jahrzehnten, haben sich die Verhältnisse 1830 von ihren Anfängen emanzipiert. Aus Fürsprechern der Verwaltung, aus Verlängerungen der Regierungsbank wurden Kontrolleure der Staatsmacht, wurden Treuhänder der bürgerlichen Gesellschaft. In neuer Gestalt trat ein Dualismus der Gewalten hervor, der — Robert Mohl hat ihn beschrieben — im Ständetum sein historisches Fundament besaß. Der Polarisierung von Regierung und Kammeropposition entsprach dabei eine instrumentelle Nutzung von Verfassungsrechten — jeweils der einen gegen die andere Seite. Da den Kammern die Gesetzesinitiative verwehrt war, bedrängten sie die Ministerien mit Anfragen und Petitionen. Voran mit solchen, welche die Rechteproklamationen in den Verfassungen betrafen. Wie das Budgetrecht aus der Steuerbewilligung herauswuchs, wie die parlamentarische Ministerverantwortlichkeit als Möglichkeit gegenwärtig war, so enthielten auch die Grundrechte beträchtlichen Zündstoff. Sie verlangten ja nicht nur nach gesetzlicher Ausfüllung, sie boten sich darüber hinaus als Instrument politischer Veränderung an. Spätestens 1830 wird diese Chance von den Kammern erkannt. Auch in diesem Fall zeigen die frühen 1830er einen neuen Aggregatzustand des Politischen. Parlamentarismus ohne Finanzkontrolle ist nur ein Schatten dessen, was er darzustellen vorgibt. Am Steuer- und Budgetrecht erweist sich die Macht, welche er prätendiert. Auch die konstitutionellen Regime des 19. Jahrhunderts waren von dieser Erfahrung nicht ausgenommen. Unter den Verfassungsstaaten des Deutschen Bundes gab es keinen, der, neben dem herkömmlichen Recht der Steuerbewilligung, ein unbezweifelbares förmliches Mitbestimmungsrecht über die Ausgaben verfügt hatte. Aber dies war nicht entscheidend oder doch nur unter rechtlichen Erwägungen von Belang. Denn in der Praxis weitete sich das anerkannte Prüfungsrecht der Stände doch sehr bald zu einem Recht der Zustimmung aus. Damit aber wurde der Etat zu einem Objekt des politiVgl. dazu K. H. Friauf: Der Staatshaushaltsplan im Spannungsfeld zwischen Parlament und Regierung. Bd 1: Verfassungsgeschichtliche Untersuchungen über den Haushaltsplan im deutschen Frühkonstitutionalismus. Bad Homburg v. d. H., Berlin, Zürich 1968 u. R. Mußgnug: Der Haushaltsplan als Gesetz. Göttingen 1976.
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sehen Streites. Mehr noch: Er geriet zum Katalysator eines Konflikts, der an die Grundlagen rührte. Daß die Konflikttraktanden dabei zunächst von geringem Gewicht, ja — hier ein Gesandtenposten, dort ein Landjäger — von subalternem Zuschnitt waren, mindert die politische Bedeutung des Vorganges nicht. Denn beide Seiten, Regierung wie Opposition, beschwerten den Streit nüt jener Autorität, die sie in die Wagschale legen konnten. Jeder Haushaltskonflikt demonstrierte — virtuell oder schon praktisch — den antagonistischen Charakter des konstitutionellen Systems. Der preußische Verfassungskonflikt der sechziger Jahre ist nur der Schlußpunkt einer langen Entwicklung. Daß das ständische Budgetrecht die Achillesferse des Konstitutionalismus sei, war den Zeitgenossen sehr wohl bewußt. Denn der Staat war empfindlich, wo ihm die Mittel abhanden kamen. Die verweigernde Kammer konnte warten, die Verwaltung konnte es nicht. Wo aber der Schiedsrichter fehlte, mußten neue Arrangements zwischen den Kontrahenten gefunden werden. So wurde schon in den dreißiger Jahren die Auffassung geäußert, daß der parlamentarische der wahre Konstitutionalismus sei — schon deshalb, weil er allein klare Verantwortlichkeiten schaffe. Johannes Schlayer, leitender Minister in Württemberg, hat diesen Weg unter seinesgleichen wohl als erster empfohlen. Wenn der parlamentarische Liberalismus das Geld verweigere, was die Regierung brauche, dann solle er selbst adnünistrieren oder doch die Administration verantworten. Zehn Jahre später haben Robert Mohl und Eriedrich Julius Stahl — freilich von höchst unterschiedlichen Standpunkten aus — über diese Schwäche des konstitutionellen Systems gehandelt, Die alternativen Eluchtwege, die sie erörtern — parlamentarisches System oder Staatsstreich — waren schon zuvor aktuell. Auch das konstitutionelle Krisenbewußtsein ist eine Hervorbringung des „Geistes von 1830".
F. J. Stahl: Das Monarchische Princip. Eine staatsrechtlich-politische Abhandlung. Heidelberg 1845; R. Mohl: Über die verschiedene Auffassung des repräsentativen Systemes in England, Frankreich und Deutschland. In: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft. 3 (1846), 451-95.
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DAS PROBLEM DER REPRÄSENTATION IM ENGLAND DER REEORM-BILL UND IN HEGELS PERSPEKTIVE
I. Das Problem der Repräsentation berührt den Nerv des Verhältnisses zwischen Staat und Gesellschaft.! Die Frage, wie die konkurrierenden Einzelinteressen in der Gesellschaft mit dem fiktiven Gemeinwillen der Nation zu versöhnen und in staatliche Institutionen zu überführen seien, lag an der Wiuzel jeglichen Fragens nach einer guten Regierung. Das neuzeitliche Auseinandertreten von civitas und societas civilis warf die entscheidende Frage auf, wie normatives Gemeininteresse und induktiv erfahrbare Einzelinteressen durch politische Repräsentation zu vermitteln seien, und dies ist nicht zuletzt ein Grundproblem der HegeTsehen Rechts- und Staatsphilosophie.2 Nun bestand das Spezifische der englischen Verfassung (und besteht z. T. noch) darin, daß sie einer Vielzahl, im Common Law gründender, einzelner Rechtssetzungen entsprang. Hegel erkennt dies in seiner Reformbill-Schrift sehr genau, wenn er vom „Charakter des Positiven" spricht, „den die englischen Institutionen des Staatsrechts und Privatrechts überwiegend an sich tragen". So beruht die englische Verfassung „durch und durch auf besonderen Rechten, Freiheiten, Privilegien, welche von Königen oder Parlamenten auf besondere Veranlassungen erteilt, verkauft, geschenkt oder ihnen abgetrotzt worden sind": Sie ist ein „unzusarmnenhängende(s) Aggregat von 1 Über den Begriff der Repräsentation in Mittelalter und Früher Neuzeit bis ins frühe 19. Jahrhundert siehe die grundlegende Arbeit von Hasso Hofmann: Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert. BerUn 1974. (Schriften zur Verfassungsgeschichte. 22.) 2 So spricht Hegel etwa in seiner Verfassungsschrift von dem „System der Repräsentation" als der „dritten universalen Gestalt des Weltgeistes" nach orientalischem Despotismus und republikanischer Weltherrschaft. G. W. F. Hegel: Die Verfassung Deutschlands (1802). In: ders: Politische Schriften. Hrsg. v. Jürgen Habermas. Frankfurt/M. 1966. 23—139, hier: 93. Vgl. hierzu Rolf K. Hoöevar: Stände und Repräsentation beim jungen Hegel. Ein Beitrag zu seiner Staats- und Gesellschaftslehre sowie zur Theorie der Repräsentation. München 1968. (Münchener Studien zur Politik, 8.) Vor allem 147 ff.
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positiven Bestimmungen".3 Solche historische Kontingenz konditionierte alle wesentlichen verfassungspolitischen Bereiche Englands; erst nachdem bestimmte Verfassungsverhältnisse durch positive Rechtssetzung entstanden und sanktioniert waren, begannen ihre theoretische Reflexion und Legitimation. Die englische Verfassungsgeschichte läßt sich mithin beschreiben als ein Prozeß des Nachdenkens darüber, wie anachronistische Rechtsverhältnisse mit neuen, zeitgemäßeren Inhalten aufgefüllt werden können, oder — in den Worten Hegels — „ob die Rechte noch nach ihrem materiellen Inhalte nur positiv, oder auch an und für sich recht und vernünftig sind"^. In den 1760er Jahren setzte in England eine neue Phase solcher vertieften Diskussion über die Verfassung ein. Zwar erschienen 1765—1769 die überaus einflußreichen Commentaries on the Laws of England von Sir William Blackstone, der in der englischen gemischten Verfassung ein perfektes Gleichgewicht zwischen den Gewalten erkannte. Doch trotz ihres enzyklopädischen Charakters waren die „Commentaries" zu schematisch und Stereotypenhaft, als daß sie ein realistisches Bild der Verfassungswirklichkeit hätten zeichnen können. Gerade in bezug auf die für jegliche Verfassungsdiskussion zentrale Frage der Repräsentation konnte jedermann leicht ersehen, daß die dürren Sätze, die Blackstone für dieses Thema übrig hatte, auf einer zunehmend wirklichkeitsfremden Fiktion beruhten: „The commons consist of all such men of any property in the kingdom as have not seats in the house of lords; every one of which has a voice in parliament, either personally, or by his representatives."3 Als daher die Verfassungsrealität seit den 1760er Jahren — nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund des Problems der nordamerikanischen Kolonien — immer häufiger zum Gegenstand radikaler Kritik wurde, sahen sich die Verteidiger des konstitutionellen Status quo einem fortschreitenden Legitimationszwang ausgesetzt. Das spezifisch Neue in der Verfassungsdiskussion der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war die Argumentation mit naturrechtlichen Kategorien.^ Sie untermauerten nachdrücklich die Kritik am bestehenden 3 G. W. F. Hegel: Über die englische Reformbill. In: Politische Schriften (wie Anm. 2). 277—321, hier: 282 f. 4 Ebd. 282. 5 William Blackstone: Commentaries on the Laws of England. Bd 1. Oxford 1765, Neudr. 1969. 154. Natürlich wußte auch Blackstone um die Diskrepanz zur Verfassungswirklichkeit, weshalb er auch eine Wahlrechtsreform als nächstliegende Verfassungsänderung betrachtete. Siehe ebd. 166. * Vgl. dazu Günther Lottes: Politische Aufklärung und plebejisches Publikum. Zur Theorie und Praxis des englischen Radikalismus im späten 18. Jahrhundert. München 1979. 82 ff, 87 ff.
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anachronistischen Repräsentativsystem sowie die gegen Ende des 18. Jahrhunderts Raum greifende Forderung nach einem allgemeinen gleichen Männerwahlrecht.^ Gegen ein solches individualistisches Verständnis der parlamentarischen Repräsentation richtete sich die in den 1770er und 1780er Jahren maßgeblich von Edmund Burke und William Paley formulierte „whiggistische" Repräsentationstheorie, die sich darüber hinaus freilich auch überhaupt als Waffe gegen jegliche Reformforderung verwenden ließ. Allerdings erforderte dies die Rationalisierung und Legitimation der vielfältigen rechtlichen Überhänge und Widersprüche, die dem englischen Staatsleben anhafteten, und in diesem Prozeß markiert Edmund Burke als Verfechter eines organischen Weltbildes und Anhänger einer historisch und hereditär gewachsenen Verfassung zweifellos einen Höhepunkt. Abstrakte Prinzipien und theoretische Deduktionen als Grundlage verfassungsrechtlicher Regelungen lehnte Burke schon lange vor der Französischen Revolution ab. Burke stand in der Tradition der alten Whig-Ideologie von der Souveränität des Parlaments sowohl gegenüber dem Wähler als auch gegenüber der Krone. So instrumentalisierte er einerseits die seit den 1760er Jahren sich mehrenden Zeichen politischer Unruhe zur Legitimation der whiggistischen Oppositionsrolle gegen den absolutistischer Neigungen verdächtigen Georg 111. Andererseits aber achtete Burke sorgfältig darauf, daß die Autonomie und Souveränität der parlamentarischen Elite nicht durch eben jene außerparlamentarischen Bewegungen gefährdet wurden.® Burke knüpfte zu diesem Zweck an die schon ältere und in den 1760er Jahren häufig vertretene Auffassung an, wonach es im Grunde keine Rolle spielte, ob ein Ort bzw. eine Person das Wahlrecht besitze, da sie „virtuell" durch die anderen Mitglieder des Parlaments repräsentiert seien.^ Dieses Verständnis von Re7 Vgl. allgemein zur Ideologiegeschichte des 18. Jahrhunderts Harry T. Dickinson: Liberty and Property. Political Ideology in Eighteenth-Century Britain. London 1977. ® Über die langfristig wirkenden Widersprüche, die diesem Konzept innewohnten, vgl. Andreas Wirsching: Popularität als Raison d'etre. Identitätskrise und Parteiideologie der Whigs in England im frühen 19. Jahrhundert, ln: FRANCIA 17/3 (19./20. Jahrhundert) (1990), 1-14. * Siehe A Letter to Sir Hercules Langrishe, M. P. ln: Edmund Burke: Works. Bd 3. London 1855. 334 f: „Virtual representation is that in which there is a commuiüon of interests, and a sympathy in feelings and desires, between those who act in the name of any description of people, and the people in whose name they act, though the trustees are not actually chosen by them. This is virtual representation. Such a representation 1 think to be, in many cases, even better than the actual. It possesses most of its advantages, and is free from many of its inconveniences; it corrects the irregularities in the literal representation, when the shifting
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Präsentation erforderte zwingend das freie Mandat. Und in gewisser Weise ist es für das spezifisch englische Widerspiel zwischen vorfindlichem, positiv gesetzten Recht und der nachfolgenden Reflexion über die damit geschaffenen Zustände charakteristisch, daß Burke auf dem Wege zur Legitimation einer anachronistischen Verfassungswirklichkeit zu der schlechthin klassischen Begründung des freien Mandats fand, die im Prinzip bis heute nichts von ihrer Gültigkeit eingebüßt hat: „Parliament is not a congress of ambassadors from different and hostüe interests; which interests each must maintain, as an agent and advocate, against other agents and advocates; but parliament is a deliberative assembly of one nation, with one interest, that of the whole; where, not local purposes, not local prejudices, ought to guide, but the general good, resulting from the general reason of the whole. Indessen berief sich Burke auch als einer der ersten auf das Konzept der Interessenrepräsentation, welches zunehmend als zeitgemäße Ergänzung für das Theorem der „virtual representation" fungierte. Die Bezugnahme auf gesellschaftliche Interessen, die es zu repräsentieren gelte, erlaubte es, angemessen auf die wirtschaftliche und soziale Dynamik des 18. Jahrhunderts zu reagieren. Die großen nationalen Anliegen des Staates — Agrarinteresse, Handelsinteresse usw. — konstituierten demzufolge das zu repräsentierende „Volk", nicht aber seine Einzelglieder.il Wenn auch „virtuelle" und Interessenrepräsentation zunehmend als ein zusammenhängender konservativer Topos verstanden wurden, so bestand doch zwischen beiden ein immanenter Widerspruch. Während erstere von einem normativen Gemeinwillen und der Unabhängigkeit des Abgeordneten ausging, beharrte letztere auf empirisch erfahrbaren Einzelwillen und implizierte die zumindest partielle Bindung des Mandats. Systematischer noch als Burke entwickelte William Paley in seinen erstmals 1785 erschienenen Principles of Moral and Political Philosophy die konservative Repräsentationstheorie. Paley anerkannte offen den historisch-kontingenten Charakter der englischen Verfassung und lehnte demzufolge die Behauptung ab, wonach die Verfassung auf irgendwelcurrent of human affairs, or the acting of public interests in different ways, carry it obliquely from its first line of direction." Edmund Burke: Speech to the Electors of Bristol at the Conclusion of the Poll (1774). In: Works. Bd 1. London 1856. 447. 11 Vgl. zu „virtual" und „interest representation" u. a. Hofmann (wie Anm. 3). 454 ff; Samuel Beer: The Representation of Interests in British Government: Historical Background. In: American Political Science Review. 54 (1957), 613—650; Jack R. Pole: Political Representation in England and the Origins of the American Republic. London, New York 1966. Vor allem 427 ff.
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chen „first principles" errichtet sei.^^ Was sich über die Verfassung im allgemeinen sagen ließ, galt im besonderen auch für das Repräsentativsystem. Insbesondere verwarf Paley die Auffassung jener Theoretiker, „who insist upon representation as a natural right".Demgegenüber konzedierte Paley zwar, daß „there is nothing, in the British Constitution, so remarkable as the irregularity of the populär representation". Die ungleiche Verteilung der Unterhaussitze hielt Paley allerdings für eine „flagrant incongruity in the Constitution", die nur auf den ersten Blick negativ ins Auge fiel. Bei längerem Nachdenken über das bestehende Repräsentativsystem würde man hingegen zu der Erkenntnis kommen, daß nicht die rechtlichen Grundlagen des Wahlrechts das Entscheidende waren, sondern die Kompetenz und personelle Güte des Unterhauses. Zu wählen stellte unter diesem Aspekt überhaupt nur insofern ein Recht dar, „as it conduces to public utility; that is as it contributes to the establishment of good laws, or secures to the people the just administration of these laws. These effects depend upon the political conduct, and that conduct upon the disposition and abilities of the national counseUors." Und in dieser Hinsicht brauchten sich nach Paleys Auffassung die Abgeordneten keineswegs zu verstecken: Denn im Unterhaus versammelten sich die bedeutendsten Grundbesitzer und Kaufleute des Königreiches, die Spitzen der Armee, der Marine und der Justiz sowie die wichtigsten Amtsinhaber des Staates. Insbesondere die „rotten boroughs" hatten in diesem funktionalen Verständnis von Repräsentation ihren festen Platz, denn „it has been long observed that the conspicuous abilities are most frequently found with the representatives of small boroughs". Ohne Übertreibung läßt sich sagen, daß die von Paley systematisch formulierte Repräsentationstheorie bis zum Ende des britischen Ancien Regime für die Verfassungsapologeten aller Couleur kanonische Gültigkeit besaß. Mit ihr ließ sich das repräsentative Prinzip nachgerade auf den Kopf stellen, wie es etwa 1793 Robert Banks Jenkinson, der spätere Premierminister Liverpool tat: „We ought not then to begin first, by considering, who ought to be the electors, and then who ought to be the elected; but we ought to begin by considering who ought to be the elected, William Paley: The Principles of Moral and Political Philosophy. London 1785, (Neudr. 1976). 464 f. 13 Ebd. 487. Interessanterweise wies Paley darauf hin, daß ein natürliches Recht auf Repräsentation, das per definitionem ein gleiches Recht sein müsse, auch das Wahlrecht der Frauen einzuschließen habe. Dies wiederum werde aber von der Mehrzahl der Reformer selbst ausgeschlossen. Siehe ebd. (Anm.). 1^ Ebd. 485. 15 Ebd. 486-489.
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and then constitute such persons electors as would be likely to produce the best elected/'^^ Unabhängig von Parteiloyalitäten waren breiteste Teile der parlamentarischen Elite der Überzeugung, das gegenwärtige System garantiere im Unterhaus eine optimale Interessenbalance. Und für die Verteidiger des konstitutionellen Status quo war jede Thematisierung der Wahlrechtsfrage insofern tabu, als sie eine bereits perfektionierte Interessenrepräsentation in Frage stellte. Die „rotten boroughs" und die vielen anderen Assymetrien des Repräsentativsystems erhielten so die Weihe einer praktischen Vernunft, die jenseits jeder abstrakten Theorie stand und auch 1831/32 von den Reformgegnern ins Feld geführt wurde. „The practical excellence of a Hose of Commons", so resümierte einer der parlamentarischen Gegner der Reformbill, „depends not upon its conformity to any theory of representation, it consists in its uniting the largest portion of the intellect, independence, and patriotism of the country. Hier scheint sich Hegels Urteil zu bestätigen, wonach der „praktische Sinn" der Briten „durch ganz formelle Prinzipien abstrakter Gleichheit" nicht zu beeindrucken sei.i* Denn auch die Reformbill selbst war weit davon entfernt, ein einheitliches Wahlrecht zu begründen. Indem sie zwar partiell ein uniformes Zensuswahlrecht einführte, dies aber auf eine gewisse Anzahl von Städten beschränkte und daneben auch traditionelle Wahlrechtsqualifikationen bestehen ließ, stellte sie einen verfassungspraktischen Komproirüß zwischen zwei im Grunde gegensätzlichen Prinzipien dar. Die Bill war in der Tat, wie Hegel beobachtete, „ein Gemisch von den alten Privilegien und von dem allgemeinen Prinzip der gleichen Berechtigung aller Bürger" und nahm den „Widerspruch des positiven Rechts und des abstrakten Gedankenprinzips in sich auf".^^ II. Im frühen 19. Jahrhundert wurde die Frage nach der besten Repräsentationsform in modernisierter Weise in der Auseinandersetzung zwischen den „Philosophie radicals" und den „philosophic Whigs" geführt. Nach Parliamentary History, 30. Sp. 810 (6, 5. 1793). John B. Walsh: Populär Opinions on Parliamentary Reform Considered. 4. Aufl. London 1831. 105. Vgl. stellvertretend einen der oppositionellen Hauptredner, Sir Robert IngHs in: Parliamentary Debates. Serie III, Bd 2. 1108 f (1. 3. 1831). Hegel: Reformbill (wie Anm. 3). 302 f. w Ebd. 302.
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dem Ende der napoleonischen Kriege übte zwar der eher traditionelle, populistisch-agitatorische Radikalismus, der insbesondere von John Cartwright, Henry Hunt und William Cobbett wiederbelebt wurde und sich nach wie vor auf eine radikalisierte Country-Plattform berief, erneut eine erhebliche Wirkung aus.^o Doch daneben formierte sich im frühen 19. Jahrhundert mit Jeremy Bentham und seiner utilitaristischen Schule eine neue Form des Radikalismus. Benthams politisches Denken ist insofern charakteristisch für seine englische Herkunft, als auch er — ausgehend von dem Prinzip der Nützlichkeit — die Funktionalität politischer Institutionen betonte und normative Setzungen ablehnte, wie sie sich aus der naturrechtlichen Argumentation ergaben. Im Vordergrund stand vielmehr das Ziel staatlichen Handelns, das Bentham bekanntlich als „the greatest happiness of the greatest number" definierte. Allerdings gründeten die Utilitaristen ihre Theorie auf einige wenige Grundsätze, von denen sie die menschliche Natur bestimmt sahen und die den Ausgangspunkt für die Deduktion ihrer politischen Anschauungen bildeten. Die utilitaristischen Grundprinzipien besagten im wesentlichen, daß der Mensch seiner Natur nach „pain" zu vermeiden und „pleasure" zu gewinnen suche und infolgedessen notwendig durch sein Eigeninteresse gesteuert sei. Für die Frage der politischen Repräsentation bedeutete dies, daß das Repräsentativorgan eine „identity of interest with the Community" haben müsse, anderenfalls die Repräsentanten sich notwendig, gleichsam ihrer Natur folgend, gegen die Interessen ihrer Wähler richten würden. 21 Diesem Prinzip zufolge tendierten die Utilitaristen mehr oder minder eindeutig zur Propagierung des allgemeinen gleichen (Männer-) Wahlrechts. Bentham selbst war 1809/1810 im Privaten zum Anhänger eines entsprechenden politischen Radikalismus geworden und forderte seit 1817 auch öffentlich das allgemeine geheime Wahlrecht sowie jährliche Neuwahlen.22 Die wichtigste und einflußreichste politische Publikation der utilitaristischen Schule vor 1832 war jedoch James Mills berühmtes Essay on Government. MÜl kritisierte hier die vorherrschende Repräsentationslehre, die von empirisch faßbaren, konkurrierenden Einzel20 Dazu Andreas Wirsching: Parlament und Volkes Stimme. Unterhaus und Öffentlichkeit im England des frühen 19. Jahrhunderts. Göttingen 1990. 268 ff. 21 So James Mül: Essay on Government. 1820, zit. nach der Ausgabe Utilitarian Logic and Politics. James Mill's ,Essay on Government', Macaulay's critique and the ensuing debate. Hrsg, von J. Lively u. J. Rees. Oxford 1978. 53—95, hier: 73. 22 Siehe John R. Dinvnddy: Bentham's Transition to Political Radicalism, 1809—1810. In: Journal of the History of Ideas 35 (1975), 683 —700; Jeremy Bentham: Plan of Parliamentary Reform, in the Form of a Catechism. 1817; Bentham's Radical Reform Bill, with extracts from the Reasons, 1819.
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interessen in der Gesellschaft ausging, die es angemessen zu repräsentieren gelte. Jede dieser „fraternities" oder „clubs" werde, soweit möglich, ihre eigenen Interessen auf Kosten der Allgemeinheit verfolgen und dem Gemeinwesen damit schaden. Die Konkurrenz der Einzelinteressen könne so nur zum notorischen Dissens innerhalb des Repräsentationsvorgangs oder zu dessen Usurpation durch die Einzelinteressen führen.23 Demgegenüber hielt Mül an der unbedingten Existenz eines von den Einzelinteressen abstrahierten Gemeininteresses fest, dessen Repräsentation durch das Wahlrecht institutionalisiert werden müsse. Die ganze Argumentation des Essay schien mithin auf die Option für das allgemeine Wahlrecht hinauszulaufen, um die geforderte Interessenidentität zwischen der Allgemeinheit und den Repräsentanten zu gewährleisten. Zwar suchte Mül nach einem uniformen Prinzip, vermied es aber zugleich, sich auf eine bestimmte Wahlrechtsqualifikation festzulegen. So hielt er etwa das Interesse der Allgemeinheit für ausreichend repräsentiert, wenn nur alle Männer ab 40 Jahren das Wahlrecht ausübten. Das Interesse der Erauen und jungen Männer könne nicht grundsätzlich von dem ihrer Ehemänner und Väter abweichen und wäre also ebenfalls ausreichend repräsentiert.^^ In gesellschaftspolitischer Hinsicht beendete MiU sein Essay mit einer großen Eloge auf die „Mittelklassen", „the most wise and the most virtuous part of the community", von denen er annahm, daß sie die Meinungen der „lower ranks" in jedem Fall prägen würden. In der Forschung wurde früher die Auffassung vertreten, Mill habe mit seinem Essay tatsächlich das allgemeine Wahlrecht favorisieren wollen.Wahrscheinlicher ist indes, daß er neben der systematischen Explikation seiner politischen Grundsätze auf keine spezielle Reformmaßnahme festgelegt war. Diesen Schluß legt insbesondere auch eine kurze Zeit später erschienene Schrift von Mills Schüler George Grote nahe, in welcher der Autor fast bis in den Wortlaut der Mill'sehen Argumentation folgte.Bezüglich der Frage des Wahlrechts resümierte Grote: „No person maintains the necessity of a suffrage absolutely universal, when 23 Mill: Essay (wie Anm. 21). 84 ff. 24 Ebd. 25 Ebd. 93 f. 25 So Elie Halevy: The Growth of Philosophie Radicalism. London 1928, (Neudr. 1952). 419 ff, und Joseph Hamburger: James Mill on Universal Suffrage and the Middle dass. In: Jomnal of Politics 24 (1962), 167—190. Dagegen William Thorrtas: James Mills Politics: The ,Essay on Government' and the Movement for Reform. In: Historical Journal 12 (1969), 249—284, der die überzeugende Auffassung vertritt, daß das „Essay" auf keine konkrete Reformmaßnahme hinwies. 22 [George Grote:J Statement on the Question of Parliamentary Reform. London 1821.
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there is a shorter process for arriving at the same result. But it is not easy to assign any unexceptionable line of demarcation, nor is it politic to fence off any detachement of the people by an unnecessary exclusion from the exercise of any particular privüege. This, however, is a matter of very inferior importance, provided a decision conformable to the universal interest be secured."28 Zumindest um 1820 ging es den Utilitaristen also weniger um ein konkretes Reformkonzept als um die Entfaltung eines Repräsentationsmodells, das — entgegen der „herrschenden Lehre" — die Existenz eines normativen und zugleich repräsentierbaren Gemeininteresses betonte und eine entsprechend signifikante Ausweitung der Stimmbürgerschaft empfahl. Dabei ist auch die verschiedentlich geäußerte Auffassung, Mill habe sich mit seiner Eloge auf die Mittelklassen zum Anwalt des kapitalistischen Bürgertums gemacht und das Wahlrecht auf diese Schicht beschränken wollen^^, nicht stichhaltig. Denn eine begriffsgeschichtliche Kontextanalyse ergibt, daß es sich bei dem Terminus „middle ranks" bzw. „middle dass" im frühen 19. Jahrhundert noch primär um eine politisch-moralische Größe handelte, um einen gleichsam aristotelischen „Staatsbürgerbegriff", der sich keineswegs auf die Bourgeoisie beschränkte, sondern die politische Nation meinte, in der man das Gemeininteresse verkörpert sah.3*^ Die Utilitaristen repräsentierten mithin die wichtigste Denkschule in England, deren politische Theorie nicht durch die historisch gewachsenen Strukturen des anachronistischen politischen und rechtlichen Systems determiniert blieb. Mit der Behauptung einiger menschlicher Grundeigenschaften, von denen sie ihre politische Philosophie deduzierten, blieb die Argumentation der „philosophic radicals" abstrakt und unhistorisch, was ihren Einfluß zumindest bis 1832 im wesentlichen auf akademische Kreise beschränkte. Und es war vor allem die rationalistisch-deduktive Methode der Utilitaristen, an der sich ihre große Auseinandersetzung mit den „philosophic Whigs" schottischer Provenienz entzündete. Zwar verbanden beide Denkrichtungen nicht wenige sachliche und persönliche Berührungspunkte, so etwa wenn es um Fragen der Rechtsreform, die Etablierung der Politischen Ökonomie oder die Förderung des Bildungswesens ging. Doch seit dem Erscheinen von Benthams 28 Ebd. 129. 29 Siehe z. B. Udo Bermbach: Liberalismus. In: Pipers Handbuch der politischen Ideen. Hrsg. V. Iring Eetscher und Herfried Münkler. Bd4. München 1986. 331. 80 Dazu Andreas Wirsching: Bürgertugend und Gemeininteresse. Zum Topos der „Mittelklassen" in England im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. In: Archiv für Kulturgeschichte. 72 (1990), 173-199. Vor allem 192 ff.
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Plan of Parliamentary Reform im Jahre 1817 taten sich zwischen den beiden Schulen zunehmend unüberbrückbare sozialphilosophische und politiktheoretische Gegensätze auf.^i Die Autoren der Edinburgh Review^^ unterschieden sich insbesondere durch die Methodik ihres politischen Philosophierens grundlegend von den Utilitaristen. Zwar begrüßte es James Mackintosh 1818 in seiner vielbeachteten kritischen Besprechung der Bentham'sehen Schrift, daß der Autor seine Repräsentationstheorie nicht auf naturrechtHche Grundsätze, sondern auf das Prinzip der Nützlichkeit gründete, ^3 lehnte aber die rationalistische Argumentationsweise Benthams ab: „Human affairs, it is true, seldom follow that regulär course which would be previously pointed out by probable reasoning. "3^ Den Methoden der schottischen Schule, insbesondere ihres gemeinsamen Lehrers Dugald Stewart verpflichtet, analysierten die Autoren der Edinburgh Review die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft mittels empirischer Kategorien, die insbesondere durch die Beobachtung der geschichtlichen Entwicklung geschärft waren. Bezugspunkt jeglichen politischen Räsonnements blieben für die Anhänger der schottischen Schule daher die historisch gewachsenen Rechtsverhältnisse. Am deutlichsten formulierte diesen Gegensatz Thomas B. Macaulay in seiner späten, 1829 erschienenen Kritik an Mills Essay. Demzufolge war Mills „a priori method . . . altogether unfit for investigations of this kind". Dem Rationalismus der Utilitaristen, der „mathematischen Form" der MilT sehen Theorie stellte Macaulay mithin den Empirismus seiner eigenen Schule entgegen: „The only way to arrive at the truth is by induction." Für Macaulay war es vollständig ausgeschlossen, „to deduce the Science of government from the principles of human nature"; statt dessen müsse man sich den politischen Fragen, die so wichtig für das Glück der Menschen sind, mit induktiven Methoden annähem: „by observing the present state of the world, — by assiduously studying the history of past ages."33 31 Siehe hierzu Donald Winch: The Cause of Good Government: Philosophie Whigs versus Philosophie Radieals. In; Stefan Collini, Donald Wineh, John Burrow: That Noble Seienee of Polities. A
Study in Nineteenth-century Intellectual History. Cambridge 1983. 91 — 126. 32 Zur Edinburgh Review grundlegend John Clive: Scoteh Reviewers. The .Edinburgh Review' 1802—1815. London 1957; Bianeamaria Fontana: Rethinking the Polities of Commercial Society. The Edinburgh Review 1802—1832. Cambridge 1985. 33 [James Mackintosh:J Edinburgh Review. 31 (1818/19), 165 —203, hier: 174. 34 Ebd. 173. 33 [Thomas B. Maeaulay.J Mill's Essay on Government: Utilitarian Logic and Polities. In: Edinburgh Review, 1829, zit. nach der Ausgabe von Lively/Rees (wie Anm. 21). 99—129. Die Zitate 101, 106, 124, 128.
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Mit seinem pragmatischen Herangehen an die Verfassungsprobleme Englands verkörperte der Kreis um die Edinburgh Review am ehesten das Kompromißpotential, das zwischen den beharrenden Kräften des Ancien Regime und den Kräften der verfassungspolitischen Erneuerung bestand. Die schottischen Autoren suchten nach Rezepten, die Revolution in England zu vermeiden, ohne die erprobte, historisch gewachsene Verfassung zu zerstören. Wie bei Paley bildete dabei das Nützlichkeitsprinzip die Richtschnur des repräsentationstheoretischen Kalküls. Aber gerade unter diesem Aspekt war das von Bentham geforderte allgemeine gleiche Wahlrecht abzulehnen, da es mit seiner unvermeidlichen Polarisierung zwischen der Menge und der Besitz- und Bildungselite des Landes jede organische Reform unmöglich machen und infolgedessen die „althergebrachten und ererbten Freiheiten" der britischen Verfassung gefährden würde.Gegenüber dem von den Utilitaristen geforderten uniformen Repräsentationsprinzip, welches das postulierte normative Gemeininteresse vermitteln sollte, beharrte die Edinburgh Review auf der Berücksichtigung der gesellschaftlichen Einzelinteressen: „We must divide the people into classes, and examine the variety of local and Professional Interests of which the general interest is composed."^^ Die Einsicht in den differenzierten Charakter der Gesellschaft und die partikulare Natur des Gemeininteresses erforderte ein Repräsentativorgan, dessen personale Zusammensetzung eben jene Partikularität angemessen berücksichtigte. Ebenso wie Paley und andere Verfassungsapologeten lehnte Mackintosh daher jegliches uniforme Wahlrecht ab: „A variety of rights of suffrage is the principle of the English representation."^^ Doch lehrte andererseits die Geschichte der Französischen Revolution, daß ein zu großes Mißverhältnis zwischen Verfassungsstruktur und gesellschaftlicher Entwicklung ebenfalls zur Gefährdung der konstitutionellen Freiheit führen konnte.39 Gerade die Analyse der sich verändernden Interessenstruktur in der englischen Gesellschaft verdeutlichte, daß die Integrationskraft des Repräsentativsystems im frühen 19. Jahrhundert an ihre Grenzen gestoßen war und auf einen sich rapide wandelnden Begriff von der politischen Nation traf.^o Es charakterisiert die Autoren der Edinburgh Review, daß sie sich dieser Einsicht nicht verschlossen 36 [James Mackintosh:] Edinburgh Review. 31 (1818/19), 172. 37 Ebd. 175. 38 Ebd. 180 u. ff. 35 Zur Auseinandersetzung der Edinburgh Review mit der Französischen Revolution vgl. Fontana (wie Anm. 32). 11 ff. 40 [James Mackintosh:] Edinburgh Review. 31 (1818/19), 171.
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und zu Anwälten einer moderaten Reform wurden, welche organisch an die bestehenden Verfassungsverhältnisse anknüpfen und doch deren offenkundige Mängel beseitigen sollte.Insbesondere betraf dies die wirtschaftliche und industrielle Entwicklung Englands seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. Die Entstehung neuer regionaler Wirtschaftszentren und neuer sozialer Schichten erforderte die Korrektur des anachronistischen Repräsentativsystems.'^ Die besser zu repräsentierenden Mittelklassen, die terminologisch indes auch von der Edinburgh Review keineswegs auf das urbane Wirtschaftsbürgertum beschränkt wurden, sondern auch den ländlichen Mittelstand umfaßten^^, wurden so zum sozialen und politisch-moralischen Bezugspunkt des moderaten Reformanliegens.Zweifellos bereitete die Edinburgh Review damit der Reformplattform des Jahres 1831/32 in entscheidender Weise den Weg. Mit ihrer undoktrinären, jedoch an liberalen Prinzipien orientierten Politik, die den Whigs die dringend benötigten modernisierenden Impulse verlieh^^, repräsentierten die Autoren der schothschen Schule den Kompromißspielraum, den die englische Politik hervorzubringen imstande war. Mit Henry Brougham als Lordkanzler und Macaulay als beredtem Anwalt der Regierungsvorlage im Unterhaus waren zwei Vertreter der Edinburgh Review direkt an der politischen Entstehungsgeschichte der Parlamentsreform beteiligt. Noch wichtiger aber war der indirekte, geistige Einfluß, den die schottische Schule auf die Reformkonzeption ausübte: Ganz im Sinne der von der Edinburgh Review vorgetragenen repräsentationstheoretischen Argumentation entsprang die Bill vor allem den Auffassungen von politischer „ex-
Siehe v. a. [James Mackintosh:] Edinburgh Review 34 (1820), 461—501. Bereits 1809 und 1811 hatte der Herausgeber der Zeitschrift, Francis Jeffrey, für eine moderate Reform plädiert: Edinburgh Review 14 (1809), 298 f und 17 (1811), 287 f. Vgl. Fontana (wie Anm. 32). 147 ff. ^ [Mackintosh:] Edinburgh Review 34 (1920), 479. Wirsching: Bürgertugend (wie Anm. 30). 192. ^ [James Mackintosh:] Edinburgh Review. 31 (1818/19), 191: „If we were compelled to confine all elective influence to one Order, we must indeed vest it in the middling classes; both because they possess the largest share of sense and virtue, and because they have the most numerous connexions of interest with the other parts of society". Der Topos der „middle dass" spielte auch in den parlamentarischen Debatten der ReformbUl selbst eine entscheidende Rolle. Siehe z. B. Parliamentary Debates. Ser. III, Bd2. 1141 (1. 3. 1831, Althorp), 1176 (2. 3. 1831, Darlington), 1180 (2. 3. 1831, Ebrington). ■*5 Über das Verhältnis zwischen den aristokratischen Whigs und den „philosophic Whigs" der Edinburgh Review vgl. William Thomas: The Philosophic Radicals. Nine Studies in Theory and Practice, 1817—1841. Oxford 1979. 46 ff.
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pediency"^^, nicht aber einem durchgängigen Prinzip. In ihren wesentlichen Bestimmungen entsprach die Reformbill den Positionen der Edinburgh Review, sie war intendiert als systemstabilisierende Maßnahme zwischen den Extremen; und sie verlieh den großen unrepräsentierten Städten in der geforderten pragmatischen Weise das Stimmrecht. Dem Einwand, daß die Bill in sich widersprüchlich sei, begegnete Macaulay daher mit einer charakteristischen Explikation des Geistes, dem sie entsprungen war: „I praise the Ministers for not attempting, under existing circumstances, to make the Representation uniform ... I consider this, Sir, as a practical question. I rest my opinion on no general theories on government. III. Hegels Sicht der englischen Verfassung korrespondierte Macaulays Selbstbekenntnis. Sie entsprach dem, was er gewissermaßen als englischen Volkscharakter ansah, demzufolge die Engländer „das Vernünftige weniger in der Form der Allgemeinheit, als in der Einzelnheit" erkannten. 48 Diese Einschätzung der englischen Denkweise begegnet bei Hegel häufig, so etwa wenn er französisches und englisches Verfassungsdenken miteinander kontrastiert: „Die Franzosen sind in ihren Staatsverfassungen von Abstraktionen ausgegangen, allgemeinen Gedanken, welche das Negative gegen die Wirklichkeit: die Engländer entgegengesetzt von konkreter Wirklichkeit, dem unförmlichen Gebäude ihrer Verfassung. "49 Sowenig sich daher die Engländer durch „ganz formelle Prinzipien abstrakter Gleichheit" und den „Fanatismus solcher Prinzipien" beeinflussen ließen, in so hohem Maße glich ihre Verfassung einem planlos zusammengesetzten Komglomerat „aus lauter particularen Rechten und besondern Privilegien".Nun wissen wir insbesondere aufgrund der Forschungen von N. Waszek, M. J. Petry und Siehe etwa [James Mackintosh]: Edinburgh Review. 34 (1820), 483. Vgl. Fontana (wie Anm. 32). 150. 47 Parliamentary Debates. Ser. III. Bd2. 1192 (2. 3. 1831). 4* G. W. F. Hegel: Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Teil 3: Die Philosophie des Geistes. Berlin 1845. (Werke. Bd 7, Abth. 2.) 79. 4* G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Bd 3. Berlin 1836. (Werke. Bd 15.) 511. 5® Hegel: Reformbill (wie Anm. 3). 302 f; Ders.: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. (Werke. Bd 9.) 543. Vgl. Hegel: Die Verhandlungen in der Versammlung der Landstände des Königreichs Württemberg im Jahre 1815 und 1816. In: Politische Schriften (wie Anm. 2). 162.
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Z. A. Pelczynski, daß Hegel sich in ausgesprochen detaillierter und kundiger Weise mit den rechtlichen und politischen Zuständen Englands beschäftigt hat. Neben der grundlegenden Rolle, welche die Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution in Hegels politischem Denken einnahm, war die Bedeutung des englischen Einflusses lange Zeit nicht ausreichend gewürdigt worden.^i Sie sei im folgenden hinsichtlich des speziellen Aspektes der politischen Repräsentation eingehender diskutiert. Für die in Hegels Rechtsphilosophie aufgeworfene grundlegende Frage, wie nämlich nach dem diagnostizierten Auseinandertreten zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft beide Sphären wieder miteinander vermittelt werden können52, spielt das Problem der Repräsentation eine wichtige Rolle. Wenn der Staat für Hegel „das sittliche Ganze, die Verwirklichung der Freiheit" war, so verkörperte er damit auch die „objective Einheit" zwischen der Idee der Freiheit als dem absoluten Endzweck und der subjektiven Seite „des Wissens und des Wollens mit ihrer Lebendigkeit, Bewegung und Thätigkeit."53 So wie er die naturrechtliche Vertragstheorie ablehnte, so schloß Hegel bei seiner Reflexion darüber, wie diese Einheit verfassungspolitisch zu denken sei, eine politische Repräsentation nach aufgeklärt-liberalem Muster aus. Die Auffassung, daß der einzelne ein Recht auf formelle politische Partizipation im Staate habe, das er durch Wahl an politische Vertreter delegieren könne, stellte für Hegel eine problematische Einseitigkeit zugunsten der subjektiven. 51 Joachim Ritter: Hegel und die französische Revolution. Frankfurt/M. 1965. Zu Hegels Auseinandersetzung mit den englischen Verhältnissen siehe insbesondere die quellenkritisch wichtigen Editionen der Hegel'sehen Exzerpte: M. /. Petry: Hegel and the „Morning Chronicle". In: Hegel-Studien 11 (1976), 11—80; Norbert Waszek: Hegels Exzerpte aus der Edinburgh Review 1817—1819. In: Hegel-Studien 20 (1985), 79—112; Ders.: Hegels Exzerpte aus der Quarterly Review 1817—1818. In: Hegel-Studien 21 (1986), 9—26. Über den Einfluß der schottischen Moralphüosophie — die ja insbesondere in der Edinburgh Review fortwirkte — auf Hegels politisches Denken N. Waszek: The Scottish Enlightenment and Hegel's Account of „Civil Society". Dordrecht 1988. Über den Hintergrund der Reformbill-Schrift siehe M. /. Petry: Propaganda and Analysis: the background to Hegel's article on the English Reform BUl. In: The State and Civil Society. Studies in Hegel's Political PhUosophy. Ed. by Z. A. Pelczynski. Cambridge 1984. 137—158; Zbigniew A. Pelczynski: Hegel and British Parliamentarism. In: Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte Hrsg, von H.-C. Lucas u. O. Pöggeler, Stuttgart-Bad Cannstatt 1986. (Spekulation und Erfahrung. Abt. II, Bdl.) 93—110. Ältere Studien: Friedrich Klenk: Die Beurteilung der englischen Verfassung in Deutschland von Hegel bis Stahl, phü. Diss. Tübingen 1930. 10 ff u. Horst Höhne: Hegel und England. In: Kant-Studien. 36 (1931), 301-326. 52 Vgl. dazu Manfred Riedel: Bürgerliche Gesellschaft und Staat bei Hegel. Grundproblem und Struktur der Hegelschen Rechtsphilosophie. Darmstadt 1970. 55 G. F. W. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. § 258 Zusatz. (Werke. Bd 8.) 317. Hegel: Philosophie der Geschichte. (Werke. Bd 9.) 60.
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gesellschaftlichen Sphäre dar. Die ihr zugrunde liegende Vorstellung von einer politischen Nation von Staatsbürgern war für sich genommen demzufolge ein Abstraktum; es praktisch durchführen zu wollen, führte zu Vereinzelung, Atomisierung und schädlicher Überbewertung der subjektiven Einzelwillen.^^ Die „sogenannte Repräsentativverfassung" liberalen Typs, die im frühen 19. Jahrhundert als der Inbegriff politischer Freiheit galt, lehnte Hegel folglich ab, da sie auf einem überzogenen „Princip der Einzelnheit, der Absolutheit des subjectiven Willens" beruhte.^5 Statt dessen forderte Hegel in seiner Rechtsphilosophie für den Staat ein ständisch-repräsentatives Element, welches die bürgerliche Gesellschaft abordnete „als das, was sie ist, — somit nicht als in die Einzelnen atomistisch aufgelöst und nur für einen einzelnen und temporairen Akt sich auf einen Augenblick ohne weitere Haltung versammelnd, sondern als in ihre ohnehin konstituirten Genossenschaften, Gemeinden und Korporationen gegliedert, welche auf diese Weise einen politischen Zusammenhang erhalten".56 Dies verweist unmittelbar auf Hegels Verständnis von den „Korporationen" in der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer entscheidenden Funktion für jene Aufgabe der Vermittlung zwischen ihr und dem Staat. Hegels Begriff der Korporation^^ hebt sich ab von der traditionellen ständischen Gesellschaftsauffassung und weist auf die genossenschaftliche Assoziation der freien Arbeit sowie auf die Organisation wirtschaftlicher Interessen hin.58 Vor allem aber findet der „sittliche Mensch" in der Korporation über seine private Erwerbsexistenz hinaus eine „allgemeine Tätigkeit".59 In dieser „bewußten Tätigkeit für einen gemeinsamen Zweck" erhebt sich der einzelne über die Zufälligkeit seiner eigenen Meinung und Existenz hinaus, wodurch der für sich genommen „beschränkte" und „endliche" Zweck der Korporation an dem „an und für sich allgemeinen Zwecke und dessen absoluter Wirklichkeit" partizipiert: „die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft geht daher in den Staat über."60 ^ Ebd. 563. Vgl. Grundlinien §308. Werke. Bd 8. 401. 55 Philosophie der Geschichte. Werke. Bd 9. 60. 55 Grundlinien § 308. Werke. Bd 8. 401. 57 Dazu Riedel (wie Anm. 52), 65 ff. 58 Grundlinien % 251. Werke. Bd8. 307. 59 Ebd. § 255 Zusatz. 310. Vgl. auch G. f. W. Hegel: Vorlesungen über Naturrecht und Staatsphilosophie. Heidelberg 1817/18. Nachgeschrieben von P. Wannenmann. Hrsg. v. C. Becker u. a. Hamburg 1983. § 154. 237. 56 Grundlinien §§ 254 u. 256. Werke. Bd 8. 309 ff. Vgl. § 308, Zusatz: „Seine wirkliche und lebendige Bestimmung für das Allgemeine erreicht es [= das Individuum] daher zunächst in seiner Sphäre der Korporation, Gemeinde u. s. f." 402.
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Diese Schnittstelle, an welcher der Staat in seiner Allgemeinheit konkret und die bürgerliche Gesellschaft in ihrer Differenzierung allgemein wurde, bildete die Grundlage des Hegel'sehen Repräsentationsverständnisses und stellte eine Art Gegenmodell zu den „abstrakten" Repräsentationsprinzipien aufgeklärt-liberaler Provenienz dar.^^ Gewissermaßen vorgeformt in den Korporationen und Gemeinden, jenen Scharnieren der bürgerlichen Gesellschaft also, in denen das Einzelne in das Allgemeine überging, konnte so die Repräsentation „der wesentlichen Sphären der Gesellschaft..., ihrer großen Interessen" stattfinden. „Die einfache Weise dieses Ganges" wollte Hegel nicht durch „Abstraktionen und die atomistischen Vorstellungen gestört" wissen. Das Institut der Wahl und die Frage des Wahlrechts spielten daher in Hegels Auffassung nur eine ganz untergeordnete Rolle. Der Wahlakt selbst war „entweder überhaupt etwas Überflüssiges oder reducirt sich auf ein geringes Spiel der Meinung und der Willkür." „Es kommt nämlich nicht darauf an, daß das Individuum als abstrakt Einzelnes zum Sprechen kommt, sondern daß seine Interessen sich in einer Versammlung geltend machen, wo über das Allgemeine gehandelt wird." Grundlage solcher Repräsentation war nicht „ein loses unbestimmtes Wählen", sondern eine spezifische Form des „Zutrauens" zu dem Abgeordneten, das sich nicht zuletzt im freien Mandat niederschlug. Dieses Zutrauen wiederum ließ sich durch das der Versittlichung dienende, quasi-allgemeine soziale Handeln innerhalb der Korporationen erwerben. Es ist offenkundig, daß Hegels Auffassung von politischer Repräsentation mit der unter der englischen parlamentarischen Eüte zur Zeit der Reformbül herrschenden und oben geschilderten Repräsentationslehre einige entscheidende Übereinstimmungen aufweist. Wir hatten auf deren wesentliche Elemente hingewiesen, wie sie namentlich Burke, Paley und Mackintosh ausgeführt hatten und die bei Hegel wiederbegegnen: das freie, am allgemeinen Interesse ausgerichtete Mandat, das funktionale Verständnis von Repräsentation, das den Akzent auf die faktische Beschaffenheit des Repräsentativvorgangs legte und die Rolle des einzelnen Wählers dementsprechend gering veranschlagte, schließlich die AbZur Ausbildung des Repräsentationsbegriffes bei Hegel vgl. neben der Arbeit von Hoöevar (wie Anm. 2) Giuseppe Duso: Der Begriff der Repräsentation bei Hegel und das moderne Problem der politischen Einheit. Baden-Baden 1990. (Würzburger Vorträge zur Grundlinien Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtssoziologie. 12.) Vor allem 30 ff. Ferner zu der wichtigen Übergangszeit in Heidelberg Christoph Jamme: Die Erziehung der Stände durch sich selbst. Hegels Konzeption der neuständisch-bürgerlichen Repräsentation in Heidelberg 1817/ 18. In: Hegels Rechtsphilosophie (wie Anm. 51). 149—173, vor allem 169 ff. ® Grundlinien §§ 309 Zusatz u. 311. Werke. Bd 8. 403 ff.
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lehnung naturrechtlicher und abstrakter Prinzipien als Grundlage der Repräsentation. Wenn daher gleichermaßen auf den Einfluß der schottischen Moralphilosophie sowie der Utilitaristen hingewiesen worden ist, dem Hegel — vermittelt durch die Lektüre von Morning Chronicle, Edinburgh Review u. a. — unterlag, so ist doch in der zentralen Frage der politischen Repräsentation die Bedeutung der „philosophic Whigs" als erheblich höher einzuschätzen als die Benthams und seines Zirkels.Die Ablehnung des Prinzips von der Identität des allgemeinen und des empirischen Willens teilte Hegel mit den schottischen Autoren. Wir hatten diesbezüglich auf den fundamentalen Dissens zwischen beiden Schulen hingewiesen, und es ist durchaus wahrscheinlich, daß Hegel bei der Niederschrift der repräsentationstheoretischen Paragraphen seiner Grundlinien der Philosophie des Rechts insbesondere den oben behandelten Artikel von James Mackintosh von 1818 verwertet hat.^ Während in Frankreich der nach abstrakten Prinzipien durchgeführte Nationbegriff die straffe Zentralisierung der Verwaltung zur Folge hatte, vermerkte Hegel positiv, daß in England Gemeinden, Grafschaften, Gesellschaften etc. für sich selbst sorgten: „In England . . . hat jede Gemeinde, jeder untergeordnete Kreis und Association das Ihrige zu thun. Das allgemeine Interesse ist auf diese Weise concret und das particulare wird darin gewußt und gewollt."^ England mit seinem gewissermaßen konkret-wirklichen Begriff der politischen Nation, mit seinem lebendigen Selfgovernment, mit seiner Interessenrepräsentation hätte mithin für das Grundproblem der Hegel'sehen Staatsphilosophie, der Vermittlung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft sowie für Hegels Auffassung von politischer Repräsentation nachgerade ein ideales Paradigma sein können. „Wie weit ist das englische Volk dem deutschen Volk voraus", so meinte Hegel noch 1817/18 mit Blick auf das englische parlamentarische System.Doch beruhten andererseits die englischen Verfassungsverhältnisse und nicht zuletzt das Wahlsystem auf unvernünftigen Privilegien, ^ Vgl. Petry: Morning Chronicle (wie Anm. 51). 13, der auf die intellektuelle Verwandtschaft zwischen Hegel und den „Benthamites, Romilly, Mackintosh, Brougham, Macaulay" gerade in bezug auf die Reformfrage hinweist. Vgl. Ders.: Propaganda (wie Anm. 51). 150 ff, sowie den Beitrag in diesem Band. Zogen die genannten Personen in Sachen Rechtsreform an einem Strang, so müssen sie in bezug auf die Repräsentationsproblematik und die Parlamentsreform, wie oben ausgeführt wurde, weitaus stärker differenziert werden. ^ Siehe Anm. 33. Wenn auch keine Exzerpte aus diesem Artikel bekannt sind, so ist doch sicher, daß Hegel gerade zu dieser Zeit die Nummern der Edinburgh Review eingehend studierte. Siehe Waszek: Hegels Exzerpte aus der Edinburgh Review (wie Anm. 51). ^ Hegel: Philosophie der Geschichte. Werke. Bd 9. 544. ^ Hegel: Vorlesungen über Naturrecht und Staatsphilosophie (wie Anm. 59) § 154. 237.
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auf Korruption und Bestechung. Zwar bildete England eine Antithese zu den von Hegel abgelehnten abstrakten Prinzipien der Französischen Revolution, und vergleicht man Hegels analytische Beschreibung der englischen Verfassung mit seiner synthetischen Explikation der Verfassungsfragen in der Rechtsphilosophie, so ist eine Vielzahl von Parallelen nicht zu übersehen.^^ Andererseits hielt Hegel die englischen Rechts- und Verfassungsverhältnisse für viel zu verdorben, um wirkliche Freiheit zu erlauben. Man kann sich fragen, ob dieses Dilemma zwischen Zustimmung und Ablehnung nicht etwas von der tieferliegenden Rätselhaftigkeit widerspiegelt, die England dem kontinentalen Staatsdenken aufgibt. Bei Hegel jedenfalls schimmert eine solche Ratlosigkeit angesichts des englischen Falles durch, wenn er z. B. die Auswirkungen der Französischen Revolution auf die Insel diskutiert und sie mit unbeantworteten Fragen abschließt: „Die englische Verfassung hat sich bei der allgemeinen Erschütterung behauptet, obwohl diese ihr um so näher lag, als in ihr selbst schon, durch das öffentliche Parlament, durch die Gewohnheit öffentlicher Versammlungen von allen Ständen, durch die freie Presse, die Möglichkeit leicht war, den französischen Grundsätzen der Freiheit und Gleichheit bei allen Classen des Volkes Eingang zu verschaffen. Ist die englische Nation in ihrer Bildung zu stumpf gewesen, um diese allgemeinen Grundsätze zu fassen? Aber in keinem Lande hat mehr Reflexion und öffentliches Besprechen über Freiheit statt gefunden. — Oder ist die englische Verfassung so ganz eine Verfassung der Freiheit schon gewesen, waren jene Grundsätze in ihr schon so realisiert, daß sie keinen Widerstand, ja selbst kein Interesse mehr erregen konnten?"^® In seiner Schrift über die Reformbill entzieht sich Hegel dem hier anklingenden Dilemma in widersprüchlicher Weise, indem er die negativen Seiten der englischen VerfassungsWirklichkeit betont. Neben seiner vernichtenden Kritik an den Zuständen des Jagdrechts, der Agrarverfassung sowie den Problemen des Kirchenzehnten befaßte sich Hegel in der Reformbill-Schrift insbesondere mit dem anachronistischen Repräsentativsystem. Hegels Tadel ließ in dieser Hinsicht an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Gerade infolge der unvernünftigen Überhänge des positiven Rechts litt demzufolge die englische Verfassung an dem Mangel, „daß sie das, was notwendig ist, dem Zufall überläßt und dasselbe auf dem Wege der Korruption, den die Moral verdammt, zu erlangen nöVgl. insbesondere die Philosophie der Geschichte. Werke. Bd 9. 543 —545 mit den Grundlinien § 300 ff. Werke. Bd 8. 391 ff. ® Philosophie der Geschichte. Werke. Bd 9. 543.
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tigt".69 Das von Hegel selbst in der Rechtsphilosophie empfohlene Prinzip der Interessenrepräsentation^o war demzufolge in England aufgrund der zufallsabhängigen Verfassungsverhältnisse pervertiert wordenJi Dabei war diese Kritik keineswegs aus der Luft gegriffen. Wie es ein englischer Radikaler nicht überzeugender hätte tun können, geißelte Hegel daher die Mißbräuche bei den Wahlen zum Unterhaus, wo die Patrone ihre Kandidaten nominierten, „Bankdirektoren" und „Plantagenbesitzer" sich ihre Parlamentssitze kauften oder sich die „freigelassene Bestialität des englischen Pöbels" in ,,mehrwöchentliche[m] Schlemmen und Rausch" ausließ.^2 All dies betrachtete Hegel als ein „Symptom politischer Verdorbenheit"; ohne eine „wissenschaftliche Bearbeitung des Rechts", wie sie auf dem Kontinent und namentlich in den deutschen Ländern praktiziert werde, sei England „so auffallend in den Institutionen wahrhaften Rechts hinter den andern zivilisierten Staaten Europas aus dem einfachen Grunde zurückgeblieben, weil die Regierungsgewalt in den Händen derjenigen liegt, welche sich in dem Besitz so vieler einem vernünftigen Staatsrecht und wahrhafter Gesetzgebung widersprechenden Privilegien befinden."^3 Nun ist mit guten Gründen wahrscheirdich gemacht worden, daß die Reformbill-Schrift vor allem auch nach innen wirken und die preußische Staatsentwicklung vor ungerechtfertigter Kritik in Schutz nehmen wollte.^'* So wandte sich Hegel explizit gegen die auf dem Kontinent weitverbreitete Verklärung der englischen Verfassung und der englischen Freiheit.^3 Demgegenüber plädierte er angesichts des antithetischen Verhält^ Hegel: Reformbill (wie Anm. 3). 300. Vgl. ebd. 279, 303 ff. Grundlinien §311. Werke. Bd8, 405. Reformbill (wie Anm. 3). 300. ^ Ebd. 299, 303. Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die Hegel'sehe Kritik an der englischen Wahlpraxis in ihrer PauschaUtät nicht gerechtfertigt ist. Unter anderem mittels der computergestützten Auswertung der „Poll Books" hat die neuere Forschung zeigen können, daß die Wählerschaft zumindest in den größeren Städten und in den Grafschaften keineswegs völlig abhängig und korrupt war. Zwischen Patronen und Wählern bestand vielmehr eine Art „Verpflichtungsverhältnis" (Weüenreuther), das in der Regel auch die Patrone an einen bestimmten Verhaltenskodex band. Darüber hinaus spielten seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bei den Parlamentswahlen zunehmend auch politisch-ideologische Streitfragen eine wichtige Rolle, die quer zu den herkömmlichen Abhängigkeits- und Korruptioiisverhältnissen lagen. Siehe insbesondere Hermann Wellenreuther: Repräsentation und Großgrundbesitz in England 1730—1770. Stuttgart 1979; John A. Phillips: Electoral Behaviour in Unreformed England. Plumpers, Splitters and Straights. PrincetorVN. J. 1982; Frank O'Gorman: Voters, Patrons, and Parties. The Unreformed Electoral System of Hanoverian England 1734—1832. Oxford 1989; Wirsching: Parlament (wie Anm. 20). 33 ff und 234 ff. Hegel: Reformbill (wie Anm. 3), 283 f. Vgl. Hegel: Enzyklopädie (wie Anm. 48). 416. Petry: Propaganda (wie Anm. 51). Reformbill (wie Anm. 3). 282.
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nisses in welches er Frankreich und England zueinander stellte, für eine staatsrechtliche Synthese, die er am ehesten in den zeitgenössischen deutschen Monarchien verkörpert sah. Hier nämlich handelte es sich um „Ideen, welche die Grundlagen einer reellen Freiheit ausmachen und die oben berührten Verhältnisse von Kircheneigentum, Kirchenorganisation, geistlichen Pflichten, dann die gutsherrlichen und die sonstigen aus dem Lebensverhältnisse stammenden bizarren Rechte und Beschränkungen des Eigentums und weitere Massen des Chaos der englischen Gesetze betreffen, — Ideen, die wie in Frankreich mit vielen weiteren Abstraktionen vermengt und mit den bekannten Gewalttätigkeiten verbunden, so unvermischter in Deutschland längst zu festen Prinzipien der inneren Überzeugung und der öffentlichen Meinung geworden sind und die wirkliche, ruhige, allmähliche, gesetzliche Umbildung jener Rechtsverhältnisse bewirkt haben, so daß man hier mit den Institutionen der reellen Freiheit schon weit fortgeschritten, mit den wesentlichsten bereits fertig und in ihrem Genüsse. Allerdings trübte diese Interpretation der nachrevolutionären europäischen Verfassungsentwicklung Hegels gewohnte Klarsicht auf die englischen Verfassungsverhältnisse und verleitete ihn zu einer gründlichen Fehleinschätzung der Reformbill. Am Ende seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit England vermochte Hegel offensichtlich nur noch eine völlige Dysfunktionalität des englischen Rechts- und Verfassungssystems wahrzunehmen, und dies ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, da letzteres den wohl spektakulärsten Beweis seiner Integrations- und Modemisierungsfähigkeit anzutreten im Begriff war. Denn Hegel gab der Reformbill nur geringe Chancen. Merkwürdigerweise kombinierte er dabei die schärfste Kritik am rechtlichen Status quo mit der nicht minder scharfen Kritik, die die starren Verfassungspologeten an der Bill übten. Wie diese befürchtete auch Hegel von der Bill die grundlegende Veränderung der „edeln Eingeweide" und der „vitalen Prinzipien der Verfassung und des Zustandes Großbritanniens".^ Er schloß sich dem Bedenken Wellingtons an, daß von dem reformierten Wahlrecht keineswegs ein vorzüglicher zusammengesetztes Unterhaus zu erwarten seP®, und er akzeptierte das Argument der Reformgegner, die Bill sei „vermöge ihres neuen Prinzips selbst. . . schlechthin inkonsequent in sich"^^. Was also in den deutschen Staaten schon seine Früchte trug, die auf der „wis76 77 78 79
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
313 f. Vgl. ebd. 283 f. 277. 301. 302.
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senschaftlichen Bearbeitung des Rechts" aufbauende politische Reform nämlich, drohte demzufolge in dem rechtlich rückständigen England die Grundlagen des Staates selbst zu erschüttern.*^ Unter dem Eindruck der französischen Julirevolution stehend, erwartete Hegel daher von der ReformbUl — ganz wie deren parlamentarische Gegner — die politische Revolution.®! In Hegels Perspektive des Jahres 1831 schien daher das englische Staatsleben zwischen selbstzerstörerischem Rechtsanachronismus und der nicht minder zerstörerischen Revolutionsdrohung nachgerade paralysiert zu sein. An anderer Stelle bezweifelte Hegel denn auch, ob England nach der konsequent durchgeführten Reformbill überhaupt noch regierbar sei.®^ Die Reformbill-Schrifl vereinigt mithin äußerst kundige und scharfsichtige analytische Passagen über die englischen Rechts- und Verfassungsverhältnisse mit relativ krassen politischen Fehlurteilen. Letztere stehen zu Hegels profunder Englandkenntnis, die im zeitgenössischen deutschen Schrifttum ihresgleichen sucht, in einem schwer zu erklärenden Mißverhältnis. Nicht zuletzt deshalb drängt sich die Frage auf, ob die englische Verfassung und das ihr spezifische System der parlamentarischen Repräsentation Hegels politisches Denken nicht in erheblich tieferem Maße beeinflußt und geprägt haben, als er sich selbst in seiner letzten Schrift zugestehen wollte.
80 Ebd. 314. 81 Ebd. 321. 82 Philosophie der Geschichte. Werke. Bd 9, 545.
WILLIBALD STEINMETZ (LONDON)
ERFAHRUNG UND ERWARTUNG ALS ARGUMENTE IN HEGELS REFORMBILL-SCHRIFT UND IN DER PARLAMENTARISCHEN DEBATTE IN ENGLAND 1.
Die Intention von Hegels Reformbill-Schrift ist nach eigenem Bekunden die Zusammenstellung der „höheren Gesichtspunkte", die in der parlamentarischen Debatte über die Reformbill bisher zur Sprache gekommen seien. 1 Tatsächlich hält sich jedoch Hegel nicht lange bei der Wiedergabe von Positionen und Argumenten auf, die in der englischen Diskussion vorgebracht wurden. Statt dessen geht er sehr schnell dazu über, seine eigene Wertung der Vorgänge darzulegen. Was die „höheren Gesichtspunkte" angeht, so bescheinigt Hegel den Engländern einen der Situation nicht angemessenen Problemhorizont. Mit einer Mischung aus Spott und kaum verhüllter Ungeduld gegenüber soviel Begriffsstutzigkeit wirft er den Engländern vor, daß sie zu idiosynkratisch seien, um überhaupt zu erfassen, worum es bei der Reform eigentlich gehe und was auf dem Spiel stehe. Hegel nimmt die Position des überlegenen Beobachters ein, der durch den Vergleich mit der französischen und deutschen Entwicklung erkennen kann, welche Illusionen und Fehleinschätzungen die englische Debatte beherrschten. Prognosen über die Zukunft und Verweise auf historische Erfahrungen machen einen wesentlichen Teil der englischen Debatte und des Hegelschen Kommentars aus. Eine Gegenüberstellung von ,Erfahrungsraum' und ,Erwartungshorizont'2 bei den britischen Politikern von 1831/ 32 und bei Hegel offenbart deutliche Differenzen, aber auch Ähnlichkeiten zwischen den politischen Kulturen Englands und Preußens im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Dabei ist zu berücksichtigen, daß Hegel nicht als der repräsentative preußische Staatsphilosoph gelten kann. 1 G. W. F, Hegel: Über die englische Reformbill. In: BerEner Schriften. 1818—1831. Hrsg, von J. Hoffmeister. Hamburg 1956. 461—506, 463. 2 Vgl. R. Koselleck: ,Erfahrungsraum' und ,Erwartungshorizont' — zwei historische Kategorien. In: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Erankfurt 1979. 349-375.
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für den man ihn bisweilen gehalten hat.^ Trotzdem ist es nützlich, die Vorstellungen über geschichtliche Bedingtheit und zukünftige Entwicklung der englischen Politik bei Hegel und den Parlamentariern in Westminster miteinander zu vergleichen. Unter inhaltlichen Gesichtspunkten waren es im wesentlichen drei Problemfelder, die von den britischen Politikern anders wahrgenommen wurden als von Hegel. Unterschiedlich gesehen wurde erstens die Bedeutung historisch gewachsener Rechte für die Gesetzgebung: Während die Rechtstradition für Hegel nur ein lästiges Hindernis darstellte, über das man eilig zur Tat schreiten konnte, fanden im britischen Parlament ernsthafte Auseinandersetzungen über die Frage statt, ob ein so weitgehender Eingriff wie die von der Whig-Regierung 1831 vorgeschlagene Reform überhaupt rechtlich zulässig sei. Ganz anders beurteilt wurde zweitens auch die Notwendigkeit einer deliberativen Entscheidungsfindung unter Beteiligung der Öffentlichkeit. Im Prinzip akzeptierten alle britischen Politiker diese Notwendigkeit als selbstverständliche Voraussetzung ihres Handelns. Ihr Streit ging lediglich um Art und Umfang demokratischer Mitwirkung.^ Hegel zeigte sich eigentümlich blind für die differenzierte Diskussion dieser Frage in Großbritannien und begnügte sich mit einigen pauschalen Bemerkungen. Bezeichnenderweise griff er zu diesem Thema nüt Vorliebe die pessimistischen Voraussagen der entschlossenen Reformgegner auf, die selbst unter den Tories nicht mehrheitsfähig waren. Hegels herablassende Behandlung des britischen Parlamentarismus entsprang der Sicherheit, mit der er in der englischen Entwicklung einen Holzweg oder — bestenfalls — einen Umweg im Rahmen des von ihm für notwendig gehaltenen Verlaufs der Weltgeschichte sah. Verschieden eingeschätzt wurde drittens die Rolle des Gesetzgebers bzw. des ,Staates' als planender Instanz des gesellschaftlichen Fortschritts: Für Hegel stand die steuernde Funktion des Staates, auch seine Fähigkeit zu steuern, völlig außer Frage. Die Äußerungen der britischen Politiker zu diesem Punkt waren dagegen von größter Zurückhaltung gekennzeichnet. Dieser Skepsis gegenüber der Planbarkeit des Fortschritts konnte Hegel nichts abgewinnen; viele warnende Argumente der Briten nahm er nicht einmal zur Kenntnis. An ihrer Stelle substituierte er Sollensaussagen über wünschenswerte Veränderungen, die zum
3 Vgl. den Beitrag von H.-C. Lucas in diesem Band. * Vgl. für die Phase vor 1831: A. Wirsching: Parlament und Volkes Stimme. Unterhaus und Öffentlichkeit im England des frühen 19. Jahrhunderts. Göttingen/Zürich 1990.
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Teil über das hinausgingen, was in England selbst die radikalen Verfechter utilitaristischer Reformen vertraten. Die Lehren aus der Geschichte und die Prognosen lagen also bei Hegel und den britischen Parlamentariern inhaltlich weit auseinander. Auf der formalen Ebene der Argumentationsfiguren finden sich jedoch Parallelen. Vergleicht man die von den konkreten Aussagen abstrahierbaren Muster historischer und prognostischer Argumentation, bedienten sich sowohl Hegel als auch die britischen Sprecher aus einem begrenzten Fundus verfügbarer Redeweisen. Allerdings kommentierte oder wiederholte Hegel längst nicht alle Topoi und Sprachspiele, die im britischen Parlament geläufig waren. Manche mögen ihm entgangen sein, andere ließ er wohl deshalb beiseite, weil sie für seine Zwecke uninteressant waren. Hegels eigene argumentative Verknüpfung von Erfahrung und Erwartung läßt sich auf die parteipolitischen Fronten im Unterhaus nicht abbilden. Hegel argumentierte — grob gesagt — wie ein liberaler Whig (das jedoch nicht konsequent), wenn er historische Erfahrungen anführte, und abwechselnd wie ein anti-reformerischer Tory oder ein extremer Radikaler, wenn er Prognosen für die Zukunft stellte. Hätte Hegel als Redner an der Reformbill-Debatte im Parlament teilgenommen, wäre seine Position mit Sicherheit die exzentrischste in diesem an Exzentrikern nicht armen Kreis gewesen. 2.
Den Fundus bewährter Redestrategien haben in England schon zeitgenössische Beobachter der parlamentarischen Szene zu sammeln und zu systematisieren versucht. Sie hatten dabei meistens eine parteipolitisch beschränkte Optik. Eine frühe Sammlung, noch ganz der Tradition der commonplace-books verpflichtet und daher nah an konkreten Satzbeispielen, ist Richard Tickeils Broschüre Common-Place Arguments against Administration.^ Als dieses Pamphlet 1780 erschien, war ihm ein großer Lacherfolg bei den anti-reformerisch eingestellten Anhängern der damaligen Regierung von Lord North beschieden; schon vor der neuen Session antizipierte es beliebte Phrasen und Redewendungen, die dann von den oppositionellen Whigs tatsächlich vorgebracht wurden. Wamungsprognosen als Modus des Redens ordnete Tickell allein der Opposition 5 R. Tickell: Common-Place Arguments against Administration with obvious Answers (intended for the Use of the new Parliament). London 1780.
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zu. Der Diskurs der Amtsinhaber sei dagegen durch „regulär calculations" und „legal precision", also den Rekurs auf Erfahrungsregeln und Gesetze, gekennzeichnet.^ Ähnlich angelegt, aber bereits stärker von einzelnen Beispielsätzen abstrahierend, war William Gerrard Hamiltons Parliamentary Logick (1808).^ Hierbei handelt es sich um eine ungeordnete Zusammenstellung von über fünfhundert Maximen für einen geschickten Parlamentsredner. Die meisten Ratschläge Hamiltons sahen von politischen Inhalten völlig ab und waren ganz auf das opportunistische Ziel ausgerichtet, dem individuellen Abgeordneten beizubringen, wie er sich, ohne Blößen zu zeigen, ins rechte Licht setzen konnte. So wurde etwa das Überwechseln in den prognostischen Diskurs als Ausweichmanöver empfohlen, wenn man von einem anderen Redner mit unangenehmen Realitäten konfrontiert worden war: „Spricht ein Argument gegen dich, verweile dabei so kurz, wie es mit Anstand irgend möglich ist, und gehe dann zur Darlegung der Folgen über, die zu erwarten sind, wenn die empfohlene Maßnahme ergriffen oder unterlassen wird. Da die Folgen jeder Maßnahme immer bis zu einem gewissen Grade zweifelhaft sind, kannst du stets davon ausgehen, daß sie so sind, wie es deinen Absichten zustatten kommt."® Gerade die scheinbare Neutralität derartiger Empfehlungen war es, die Kritiker auf den Plan rief. Der Rezensent in der whiggistischen Edinburgh Review, Jeffrey, bemerkte, daß ein Parlamentarier, der den Maximen Hamiltons folge, immer nach dem Munde derjenigen Partei reden müsse, die sich augenblicklich im Besitz der Macht und der Patronagemöglichkeiten befinde; dadurch unterstütze ein solcher Redner das verabscheuungswürdige System der Korruption anstatt es zu bekämpfen.^ Noch schärfer in seiner Kritik war Jeremy Bentham, der sich durch Hamiltons Maximensammlung zu einer Gegenpublikation herausgefordert fühlte. Diese Gegenpublikation ist Benthams berühmtes Handbook of Political Fallacies, 1824 erstmals auf Englisch publiziert. 10 ln der Öffentlichkeit wurde es vor allem populär durch
^ Tickeil: Common-Place Arguments. 15, 22. ^ W. G. Hamilton: Parliamentary Logick. To which are subjoined Two Speeches, Delivered in the House of Commons of Ireland, And Other Pieces . . . Ed. by E. Malone. London 1808. Robert Mohl übersetzte das Werk 1828 erstmals ins Deutsche. * W. G. Hamilton: Die Logik der Debatte. Übers, u. hrsg. von G. Roellecke. 3. Aufl. Heidelberg 1978. 42. ^ [F. Jeffrey:] Hamilton's Parliamentary Logic. In: The Edinburgh Review. 15 (Oct. 1809), 163-175. /. Bentham: Handbook of Political Fallacies (frz. 1816, engl. 1824). Ed. by H. A. Larrabee. Baltimore 1952. 12-16.
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Sidney Smiths amüsante Rezension in der Edinburgh ReviewAuf diesem Wege könnte auch Hegel von Benthams Handbuch Kenntnis erlangt haben .12 Benthams Schrift war ein Repertorium des konservativen Diskurses und der bis dahin vollständigste Versuch, die seit den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts gebetsmühlenartig wiederholten Argumente der Gegner einer Parlamentsreform übersichtlich zu klassifizieren. Bentham griff aber auch die reformwilligen Whigs an, die teils aus Unwissenheit, teUs um sich vor Vorwürfen zu schützen, die gewohnten Redefiguren nachbeteten und dadurch den Erfolg ihrer Reformbemühungen gefährdeten, Im Rahmen der Frage nach den geschichtlichen und prognostischen Argumenten sind besonders die von Bentham aufgelisteten „Fallacies of Authority" und die „Fallacies of Danger" von Interesse. Generell war für Bentham die Berufung auf Autoritäten eine defiziente Argumentationsweise. An ihre Stelle müsse — wann immer möglich — die Berufung auf „experience" treten, worunter Bentham „reasoning, drawn from facts, and guided by reference to the end in view" verstand.Eine der von Bentham abgelehnten „Fallacies of Authority" war der Verweis auf die ,Weisheit der Vorfahren' — „The Wisdom of our Ancestors; or Chinese Argument". Der übermäßige Gebrauch dieses Arguments im Parlament rühre daher, daß die Mitglieder beider Parteien durch die gleiche Schule der englischen Juristen, angeführt von Blackstone, gegangen seien. 15 Niemanden haßte Bentham so sehr wie die englischen Juristen, die aus Eigeninteresse („sinister interest") die Komplexität des gewachsenen Rechtssystems zum Vorwand nähmen, um jede Kodifikation als Ding der Unmöglichkeit hinzustellen, Diese Abneigung teilte Bentham mit Hegel. Es scheint, daß Hegel auf Bentham Bezug nahm, wenn er [S. Smith:] Bentham's Book of Fallacies. In: The Edinburgh Review. 42 (Aug. 1825), 367—389. Vgl. auch die als Bentham-Parodie getarnte Sammlung der „Fallacies" der Utilitaristen: [F. D. Maurice:] A Supplementary Sheet to Bentham's Book of Fallacies. In: The Metropolitan Magazine. 1 (1826), 353-377. '2 Zu Hegels Lektüre der Edinburgh Review vgl. N. Waszek: Hegels Exzerpte aus der „Edinburgh Review" 1817—1819. In: Hegel-Studien. 20 (1985), 79—112. Zur Verbreitung benthamschen Gedankenguts vgl. J. R. Dinwiddy: Bentham and the Early Nineteenth Century. In: ders.: Radicalism and Reform in Britain, 1780—1850. London, Rio Grande 1992, 291—313, 311. 13 Bentham: Handbook. 96, 194 f. i“! Bentham: Handbook. 29. 15 Bentham: Handbook. 43—53. 15 Bentham: Handbook. 34—38 („Examples of descriptions of persons whose declared opinions of a question of legislation are peculiarly liable to be tinged with falsity by the action of sinister interest.") Zu Benthams Position in der britischen Kodifikationsdebatte (mit Hinweisen auf Verbindungen zur gleichzeitigen deutschen Diskussion) vgl. /. R. Dinwiddy: Early-Nineteenth-Century Reactions to Benthamism. In: ders.: Radicalism. 339—361.
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schrieb, daß 1831 der „im Parlament gegen Angriffe auf positive Rechte sonst gewöhnliche Grund, der aus der Weisheit der Vorfahren hergenommen wird, . . . bei dieser Gelegenheit nicht geltend gemacht worden" seid^ Diese Beobachtung Hegels war zwar nicht ganz korrekt, aber das Argument kam doch 1831 im Vergleich zu den Debatten des späten 18. Jahrhunderts wesentlich seltener vor. Auch zwei andere von Bentham aufgeführte „Fallacies of Authority" waren um 1831 für die Gegner der Reformbill kaum mehr verwendbar: die Behauptung der Unabänderlichkeit bestehender Gesetze („Fallacy of Irrevocable Laws") und der Vorwand, daß es keinen Präzedenzfall für das geplante Gesetz gebe („No Precedent Argument"). Die überlieferte britische Verfassung hatte schon vor dem Einbringen der Reformbill an präskriptiver Kraft eingebüßt, nicht zuletzt durch einige tiefgreifende Reformgesetze der Tory-Regierungen selbst. Wie sehr sich die Debattenkonstellation seit dem Erscheinen von Benthams Handbuch zugunsten der Reformer verschoben hatte, zeigt auch ein Blick auf Benthams Liste der „Fallacies of Danger". Die hier von Bentham erwähnten Argumentationsfiguren waren zum Teil noch so konstruiert, daß sie jedes weitere Reden über denkbare Neuerungen im Keim ersticken sollten. Das traf vor allem auf das sogenannte , Schreckgespenst'-Argument zu („The Hobgoblin Argument, or, No Innovation!"), das Veränderungen als solche für gefährlich erklärte. Besonders ärgerlich fand Bentham dabei die Tatsache, daß auch die Befürworter von Reformen der krankhaften Innovationsfurcht indirekt noch Recht gäben, da sie ihre Vorschläge nicht als wirkliche Verbesserung, sondern nur als Rückkehr zu einem mit der Zeit verlorengegangenen, früheren Idealzustand darzustellen wagten. Auch 1831 fielen manche Whigs, unter anderen der Premierminister Earl Grey, gelegentlich noch in diese defensive Redefigur zurück, doch waren, wie noch zu zeigen sein wird, andere, vorwärtsschauende Argumente auf dem Vormarsch. Dem entsprach auf seiten der Reformgegner die bevorzugte Verwendung solcher Warnungsprognosen, die sich auf den Zustand nach der Reform bezogen. Die Voraussetzungen hatten sich also gegenüber der Phase, in der Bentham sein Handbuch verfaßte, insofern gewandelt, als die Unausweichlichkeit von irgendwelchen Veränderungen auch von den Gegnern der konkreten Reformbill mehr oder weniger widerwillig akzeptiert wurde. Bei Bentham war die Theoretisierung der Hegel: Reformbill. 467. Bentham: Handbook. 93 ff. Bentham: Handbook. 96 ff („Time the Innovator-General, a Counter-Fallacy").
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konservativen Warnungen vor dem Zustand nach einer Reform noch nicht sehr weit gediehen. Er behandelte lediglich zwei Typen: sehr kurz die Warnung vor angeblich geplanten Folgemaßnahmen, die noch schlimmer sein würden („Fallacy of Distrust, or, what's at the Bottom?"), und etwas ausführlicher die Voraussage, daß sich die regierende Klasse durch einen Eingriff in das , System' selbst desavouiere und damit die Regierbarkeit des Landes insgesamt untergrabe; dieses Argument wurde von Bentham unter dem Namen „Official Malefactor's Screen" abgehandelt.2o
Die zeitgenössischen Kompilationen der Topoi pro und contra Reform und die ersten Versuche ihrer Verdichtung zu einer Theorie politischer Argumentation sind als AnalysehUfe für die Entdeckung der rhetorischen Strategien, die 1831/32 angewendet wurden, durchaus hilfreich. Auch für spätere Phasen der britischen Parlamentsgeschichte gibt es Vertreter des Genres. Nur ein Autor soll hier erwähnt werden, weil er drei Typen von Warnungen prägnant charakterisierte, die von den konservativen Gegnern der Reformbill mit Vorliebe verwendet wurden und die zum Teil auch Hegel registrierte. Gemeint ist F. M. Comford und seine Microcosmographia Academica.^^ Die drei typischen Redefiguren sind: erstens, das „Principle of the Wedge" — die Empfehlung, daß man eine Handlung besser unterlassen solle aus der Befürchtung heraus, die damit geweckten Erwartungen später nicht erfüllen zu können; zweitens, das „Principle of the Dangerous Precedent" — die Mahnung, eine Handlung zu unterlassen, weil dadurch ein Präzedenzfall geschaffen werde, der in anderen Situationen vielleicht lästig oder gefährlich werden könnte; drittens, das Argument, daß durch die gegenwärtige Maßnahme eine eigentlich notwendige, weitergehende Reform verzögert oder blockiert werde.22 Bezeichnenderweise erwähnte Cornford mit keinem Wort die aus der britischen Verfassungstradition hergeleiteten Obstruktionsargumente, die bei Bentham noch eine so prominente Rolle gespielt hatten. Das ist ein Zeichen dafür, daß zu Beginn des 20. Jahrhunderts die permanente Reform als Normalzustand des Regierens längst akzeptiert war und daß statt vergangener Rechtszustände jetzt die zukünftig möglichen Fortschritte die maßgebliche Richtschnur des Handelns abgaben.23 20 Bentham: Handbook. 100 ff u. 103—118. 21 f. M. Cornford: Microcosmographia Academica. Being a Guide for the Young Academic PoUtician (11908). Cambridge ^1949. 22 Cornford: Microcosmographia. 15, 17. 23 Eine gute Zusammenstellung typischer pro- und anti-reformerischer Argumente, basierend auf Studien zu den britischen Debatten über Sklavenbefreiung, Prohibition und Frau-
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In der Reformbill-Debatte von 1831/32 erfolgte nach Meinung der neueren Forschung der endgültige Bruch mit einer Tradition der Politikbegründung, die sich primär an den Normen der überkommenen britischen Verfassung — oder wie Hegel gesagt hätte: am bloß „Positiven" — orientierte.Auch die Zeitgenossen hoben die Destruktion des Mythos der alle Regierungszwecke zufriedenstellenden , Verfassung' als eigentliche Leistung der Reform hervor: „The good it has done . . so rückblickend John Stuart Mül, „consists chiefly in this, that being so great a change, it has weakened the superstitious feeling against great changes."25 Auf der anderen Seite war weder der Erwartungshorizont der britischen Reformer noch derjenige Hegels bereits mit so optimistischen Hoffnungen besetzt, wie sie das mittlere und spätere viktorianische Zeitalter kannte. Eine substantielle Verbesserung der wirtschaftlichen Lage und der Politikfähigkeit der Masse des Volkes und damit eine Chance für wirkliche Demokratisierung lag noch außerhalb der Vorstellungskraft. Warnungsprognosen, nicht Wünsche beherrschten daher die britische Debatte von 1831/32 — bei den Tories ohnehin, aber über weite Passagen auch bei den Whigs. Den bisher anspruchsvollsten, vom Ansatz her epochen- und nationenübergreifenden Versuch einer Typologie prognostischer Argumentation hat jüngst Albert O. Hirschman unternommen.Die Debatten um die ReformbiU dienen ihm nur als ein empirisches Beispiel unter vielen, um seine Thesen zu verifizieren. Hirschman unterscheidet drei Muster ,reaktionärer' Rhetorik, denen er vier korrespondierende Muster ,progressiver' Rhetorik gegenüberstellt. Als ,reaktionär', das heißt gegen demokratische oder wohlfahrtsstaatliche Reformen einsetzbar, identifiziert er folgende prognostische Redefiguren: Erstens, die Behauptung zu erenwahlrecht bei B. Harrison: The Rhetoric of Reform in Modern Britain: 1780—1918. In; ders.: Peaceable Kingdom. Stability and Change in Modern Britain. Oxford 1982. 378 —443. Harrison berücksichtigt allerdings zu wenig die grundlegende Veränderung der Debattenkonstellation, die sich um 1830-32 ergab. Seine Beobachtungen treffen im wesentlichen auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zu. Vgl.; R. ]. Smith: The Gothic Bequest. Medieval institutions in British thought, 1688—1863. Cambridge 1987. 164—171. P. B. M. Blaus: Continuity and Anachronism. ParUamentary and Constitutional Development in Whig Historiography and in the Anti-Whig Reaction between 1890 and 1930. The Hague, Boston, London 1978. 100 ff. Trotz des anderslautenden Untertitels sind die ersten 150 Seiten dieses Buches der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewidmet. 25 /. S. Mill: ,Coleridge‘ (1840). In; ders.: UtiUtarianism and other Essays. Ed. by Alan Ryan. Harmondsworth 1987. 215. 25 A. O. Hirschman: The Rhetoric of Reaction: Perversity, Futility, Jeopardy. Cambridge Mass., London 1991.
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wartender kontraproduktiver Effekte („perversity"); zweitens, die Behauptung der Vergeblichkeit der geplanten Maßnahme („futility"); drittens, die Warnung vor einer Gefährdung bereits errungener Fortschritte („jeopardy"). Hirschman räumt ein, daß diese Argumente auch von nicht-reaktionären Sprechern benutzt werden könnten. Gestützt auf seine historischen Beispiele sieht er in ihnen aber vor allem eine konservative Redestrategie.27 Als ,progressiv', das heißt für demokratische oder wohlfahrtsstaatliche Reformen einsetzbar, bezeichnet er folgende Argumente: Erstens, die Behauptung der gegenseitigen Verstärkung heilsamer Effekte („synergy"); zweitens, die Warnung vor den unmittelbar drohenden Gefahren des Nichtstuns („imminent danger") — beides Antworten auf die Warnung vor einer Gefährdung des Erreichten; drittens, die Versicherung, daß man auf der Seite der Geschichte stehe („having history on one's side") — eine Antwort auf die Vergeblichkeits-Behauptung; viertens, die Rhetorik der Ausnahmesituation, der Stunde Null, des totalen Neubeginns („desperate predicament") — als dramatische Antwort auf das Argument möglicher Kontraproduktivität. 28 Für die Mehrzahl dieser Redefiguren lassen sich unschwer Beispiele in den britischen Reform-Debatten und auch bei Hegel finden. Der Vergleich zwischen Hegels Reformbill-Schrift und der britischen Debatte von 1831/32 ist insofern ein guter Testfall, um diesen und andere denkbare Ansätze für eine epochen- und nationenübergreifende Typologie geschichtlicher und prognostischer Argumentation zu prüfen. 3. Die Zuordnung einer pragmatischen Funktion zu einem Argument setzt voraus, daß man zum Handlungscharakter des Textes, dem es angehört, eine begründete Aussage machen kann. Im Fall des Hegelschen Textes ist dies relativ leicht, im Fall des Textkorpus der britischen Parlamentsdebatten sind nur einige generelle Bemerkungen möglich, die dann für jede Rede näher spezifiziert werden müssen. Hegel scheint sich keine wie auch immer geartete Rückwirkung nach England ausgerechnet zu haben. Die Schrift wurde für ein deutsches Lesepublikum geschrieben. Sie griff vor allem in zwei seit Beginn des 19. Jahrhunderts anhaltende Auseinandersetzungen akademischer und 2^ Hirschman: Rhetoric. 7 f. 28 Hirschman: Rhetoric. 149—163 u. 167.
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politischer Art ein: den Streit um eine Kodifikation des Privatrechts nach dem Vorbild des Code Napoleon und die Debatte um die Notwendigkeit und Zusammensetzung repräsentativer Organe in den deutschen Staaten und Gemeinden. Insoweit ist der Feststellung Petrys Recht zu geben, daß die Auswahl der Gesichtspunkte, die Hegel für berichtenswert hielt, durch den preußisch-deutschen Kontext gesteuert wurde.^9 Ein wenig vorschnell scheint hingegen Petrys Behauptung, daß Hegel als Englandbeobachter, aufgrund seiner begrenzten englischen Informationsquellen, als Opfer utilitaristischer Propaganda des Morning Chronicle und anderer britischer Autoren anzusehen sei. Petry unterschätzt meines Erachtens die Quellenbasis Hegels. Es genügt nicht, nur die britischen Quellen zu erwägen, die Hegel konsultiert hat. Vielmehr müßte man auch französische Presseorgane, zum Beispiel den Moniteur und das Journal des Debats als Übermittler britischer Pressestimmen, vor allem aber auch die deutschen Zeitungen, etwa die Augsburger Allgemeine Zeitung, und deutsche juristische Fachzeitschriften als mögliche Quellen Hegels berücksichtigen. Es wäre zum Beispiel wichtig zu wissen, ob Hegel die von Mittermaier und Zachariä seit 1829 in Heidelberg herausgegebene Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft und Gesetzgebung des Auslandes gekannt und gelesen hat. Die Tatsache, daß Eduard Gans Mitarbeiter dieser Zeitschrift war, spricht immerhin dafür. Nimmt man die England betreffenden Artikel der Kritischen Zeitschrift zum Maßstab dessen, was um 1830 in akademischen Kreisen Deutschlands über die englische politisch-rechtliche Diskussion bekannt war, muß man feststellen, daß die Information deutscher Professoren über die aktuellsten juristischen und legislativen Debatten in England in einem Maße präzise war, wie man sich das heute kaum verstellen kann. Es ist unwahrscheinlich, daß Hegel sein Wissen nur aus Originalquellen bezog und nicht wie alle anderen deutschen Professoren sehr viel aus Sekundärliteratur und Rezensionen schöpfte. Hegels Chancen, sich über die juristischen und parlamentarischen Verhältnisse in England zu informieren, waren jedenfalls mit Sicherheit viel besser, als Petry annimmt. Abgesehen davon scheint Petry auch den analytischen Wert von Hegels Urteil über England zu gering zu achten. Eben weil Hegel die seiner Ansicht nach fortschrittlicheren preußischen Verhältnisse vor Augen 29 M. J. Petry: Propaganda and analysis: the background to Hegel's article on the English Reform Bill. In: The State and Civil Society. Studies in Hegel's Political Philosophy. Ed. by Z. A. Pelczynski. Cambridge 1984. 137—158. Vgl. dagegen (nicht überzeugend): D. MacGregor: Hegel and the English Reform Bill: ,Prussian Propaganda' or Sociological Analysis? In: History of European Ideas. 15 (1992), 155—162.
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hatte, gelangte er zu einer Sicht der , englischen Krankheiten', die sich jenseits der in England denkbaren Parteistandpunkte bewegte. Hegel war zugleich Monarchist und Vertreter radikaler Rechtsreformen, er war sowohl Gegner einer nach dem uniformen Zensuswahlrecht berufenen Repräsentatiwersammlung als auch Verfechter einer planmäßig durch den Gesetzgeber betriebenen Modernisierung. Diese Mischung gab es so in Großbritannien nicht. Sie ließ Hegel zu langfristigen Spekulationen über Englands und Europas Zukunft kommen, die nicht damit abzutun sind, daß sie auch ein Stück innerpreußischer Propaganda waren. Dennoch ist richtig, daß Hegel mit seinem Angriff auf die Geschichtsmythen der Engländer zugleich all diejenigen in Deutschland verächtlich machte, die England bewunderten oder aus dem englischen Vorbild Folgerungen für Deutschland ziehen wollten. England war für Hegel kein Spiegel für die in Deutschland noch zu verwirklichende Zukunft. Vielmehr stellte er — was die Institutionen der sogenannten „reellen Freiheit" angeht — die preußische Entwicklung als den bisherigen Höhepunkt der Zivilisation dar. Hegels Schrift war ein indirektes Plädoyer für eine Fortsetzung der preußischen Reformpolitik, besonders des Bemühens um eine Kodifikation des bürgerlichen Rechts auf der Basis zivilrechtlicher Gleichheit. Diese Reform sollte durch eine wissenschaftlich gebildete Beamtenelite ausgearbeitet und von einer starken Monarchie, eventuell beraten durch eine neoständisch zusammengesetzte Interessenvertretung, durchgesetzt werden. Wirklich zentral war für Hegel die Repräsentation jedoch nicht. Sie gehörte nicht zu den entscheidenden Institutionen der „reellen Freiheit". Hegels Aussagen lassen den Schluß zu, daß er im FaU Preußens, wo es in seinen Augen eine vernünftige und starke, bürokratisch gebändigte Monarchie bereits gab, eine Repräsentation der Bevölkerung für überflüssig hielt. Einen Schaden sah er in ihr allerdings auch nicht, solange dort nicht die wichtigen Entscheidungen fielen. Hegel akzeptierte offenbar durchaus die provinzialständische Lösung, die 1823 in Preußen verordnet worden war.^o Eine Kritik daran läßt sich jedenfalls aus seiner Reformbill-Schrift nicht ableiten. Die zentrale Botschaft des Textes — bezogen auf das deutsche Lesepublikum — lautete somit: Es besteht Grund zur Zufriedenheit mit dem Erreichten und zur Skepsis gegenüber denen, die politische Entwicklungen in anderen Ländern, speziell England und Frankreich, als nacheifernswertes Modell empfehlen. 30 Vgl.: R. Koselleck: Preußen zwischen Reform und Revolution. AUgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung. 3. Aufl. Stuttgart 1981. 389.
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Die pragmatische Funktion der Parlamentsreden in der britischen Reformbill-Debatte sind schwieriger zu bestimmen. Natürlich war die rationale Überzeugung der unmittelbar im Ffause Anwesenden die Intention fast aller Redner. Dies insbesondere dann, wenn das Ergebnis so knapp war wie bei der zweiten Lesung der ersten BiU am 22. März 1831, die mit einer Stimme Mehrheit erfolgte. Aber darüber hinaus lassen sich im Einzelfall weitere Funktionen einer Rede denken. Die wichtigste war der Appell an das zeitungslesende Publikum außerhalb der Mauern des Parlaments. Im Gegensatz zum späten 18. und frühen 19. Jahrhundert wurde es 1831 nicht mehr als Bruch des Decorum empfunden, sich direkt an die Öffentlichkeit zu wenden. Führende Redner beider Parteien, zum Beispiel Macaulay auf seiten der Whigs und Peel auf seiten der Tories, forderten das Publikum ausdrücklich auf, sich an der Abwägung der Vor- und Nachteile des alten Systems und der Risiken und Chancen einer Reform zu beteiligen; faktisch kam das dem Aufruf gleich, Petitionen und andere Kundgebungen für oder gegen die Maßnahme zu initiieren, Subtilere, doppelbödige Argumentationen waren möglich: So konnten etwa die Reformer im Hause vor der unmittelbar drohenden Revolutionsgefahr bei einer Verweigerung der Zustimmung zur Reform warnen und dabei hoffen, daß diese Warnung ,draußen im Lande' als Signal zur Entfaltung bedrohlich aussehender Aktivitäten verstanden wurde. Sieht man hier nur auf die Worte, handelte es sich um eine Voraussage, die geäußert wurde, damit sie nicht eintrat (self-destroying prophecy); von der praktischen Wirkung konnte sie aber leicht in eine sich selbst erfüllende Prophezeiung (self-fulfilling prophecy) Umschlagen.^2 Ähnlich konnte ein entschiedener Reformgegner aufstehen und verkünden, daß er sich vor der prophezeiten Revolution nicht fürchte und nicht zu Handlungen treiben lasse, die unverantwortlich seien. Damit implizierte er, ohne es ausdrücklich zu sagen, daß jeder, der aus Sorge vor einer denkbaren Revolution nachgebe, ein Feigling sei. Verbal sprach er nur von eigenen Motiven, praktisch erzeugte er Schamgefühl bei den 3' Macaulay, 2. 3. 1831, PDIII, 2, Sp. 1197 f. Peel, 3. 3. 1831, PDIII, 2, Sp. 1339 u. 1350 f. Zur Zitierweise aus den britischen Parlamentsdebatten; PD III steht für: The ParUamentary Debates from the Year 1803 to the Present Time, published under the superintendence of T. C. Hansard. Third Series: 1830—1891 (356 Bde). Die erste arabische Ziffer gibt jeweils die Bandnummer an; ihr folgt die Angabe der Spalte. 32 Der Vorwurf, daß die Whigs bewußt „prophecies . . . likely to realise themselves" machten, wurde von Peel erhoben: Peel, 10. 10. 1831, PD III, 8, Sp. 456. Vgl. zur „self-fulfilling prophecy" als Argument: R. K. Merton: Die Eigendynamik gesellschaftlicher Voraussagen. In: Logik der Sozialwissenschaflen. Hrsg, von E. Topitsch. 10. Aufl. Königstein/Ts. 1980, 144-161.
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Mitakteuren, oder, wie Brougham sich ausdrückte, die Angst, der Angst beschuldigt zu werden („fear of being thought afraid")-^^ Weitere sekundäre Funktionen von ganzen Reden bzw. einzelnen Argumenten sind denkbar: die Schuldzuweisung an den Gegner, die Erzeugung von Solidarität bei Freunden, die Provokation des Gegners, die Verzögerung des Verfahrens, die Ablenkung von der Hauptfrage, um den Gegner auf Nebengebieten in Widersprüche zu treiben, die Umdefinition oder neue ,Besetzung' von Begriffen, der Versuch, Beweislasten umzukehren, und schließlich die explizite Denunziation gegnerischer Redestrategien, mit dem Ziel, ein Sprachverbot aufzuerlegen.34 Diese vielfältigen sprachpragmatischen Aspekte der britischen Debatte berührte Hegel kaum. Sie waren für seinen Schreibzweck unerheblich. Mit den Erfahrungsargumenten und Prognosen der Engländer setzte er sich nur inhaltlich auseinander. Lediglich an einer Stelle kommentierte er das taktische Redeverhalten, in diesem Fall die Gründe für das Verschweigen bestimmter Punkte, bei Whigs und Tories: Hegel hielt es für nötig, sich und seinen Lesern zu erklären, warum die Whigs so auffällig wenig zu den wünschenswerten materiellen Reformen sagten, die sie sich als Folge der Parlamentsreform vorstellen mochten, und ebenso, warum die Tories so auffällig wenig über das sagten, was sie zu verlieren fürchteten: „Von solchen Aussichten [auf weitergehende Veränderungen, W. S.] ist im Verlaufe der Verhandlungen des Parlaments einiges, doch mehr beiläufig, erwähnt worden; die Urheber und Freunde der Bill mögen teils in dem guten Glauben sein, daß sie nicht weiterführe, als sie eben selbst reicht, teils, um die Gegner nicht heftiger aufzuregen, ihre Hoffnungen nicht lauter werden lassen, — wie die Gegner das, wofür sie besorgt sind, nicht als Preis des Sieges Vorhalten mögen; da sie viel besitzen, haben sie allerdings viel zu verlieren. Die konkreten, über die Parlamentsreform hinausreichenden materiell-rechtlichen Veränderungen waren es, die Hegel eigentlich interessierten. Die Tatsache, daß die Engländer fast nichts davon thematisierten, ja daß sie die zu erwartenden Probleme noch nicht einmal zu ahnen schienen, war es, die Hegel irritierte und nach einer Erklärung suchen ließ. Hätte Hegel immer so genau wie in dem zitierten Beispiel auf die unausgesprochenen 33 Brougham, 7. 10. 1831, PDIII, 8, 269 f. Ähnlich auch Melbourne, 4. 10. 1831, PDIII, 7, 1185. 3^ Für Beispiele derartiger Verwendungen von Argumenten aus der Debatte von 1831/32 vgl. W. Steinmetz: Das Sagbare und das Machbare. Zum Wandel politischer Handlungsspielräume — England 1780—1867. Stuttgart 1993. 35 Hegel: Reformbill. 470.
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Implikationen und taktischen Dimensionen der britischen Debatte geachtet, wäre sein Urteil über die analytische Fähigkeit der britischen Politiker vielleicht weniger scharf ausgefallen. 4. Die Auseinandersetzung um den Wert historischer Erfahrung in der Reformbill-Debatte von 1831/32 spielte sich auf zwei Terrains ab. Besonders im Anfangsstadium bemühten sich beide Seiten sehr darum, die vorgeschlagene Maßnahme durch rechts- und verfassungsgeschichtliche Interpretationen zu legitimieren bzw. zu verwerfen. Daneben, manchmal auch dagegen standen Argumente, in denen die Geschichte als , Lehrmeisterin des Lebens' fungierte: Analogieschlüsse aus Situationen der eigenen Vergangenheit, Vergleiche mit Erfahrungen in anderen Ländern, Annahmen über eine schon lang anhaltende und folglich auch zukünftig wahrscheinliche Kontinuität, Behauptungen irreversibler und daher in die Zukunft verlängerbarer Trends. Derartige Lehren aus der Geschichte betrafen vor allem die Frage, ob eine Parlamentsreform überhaupt stattfinden sollte und ob sie jetzt nötig sei. Dagegen wurden die rechtshistorischen Argumente hauptsächlich dann hervorgeholt, wenn es um die Berechtigung des Ausmaßes und der konkreten Bestimmungen der Bill
ging.
Es mag auf den ersten Blick überraschen, daß es ausgerechnet den Reformern schwerfiel, sich konsequent von herkömmlichen Mustern des Rekurses auf die altenglische Verfassung zu lösen. Als Brougham im November 1830 — noch von der Oppositionsbank aus — seinen geplanten Reformantrag begründete, kündigte er an, „that he intended to bottom his reform on the ancient days of the Constitution of this country"; angestrebt sei eine „restoration of the Constitution to its state of original purity".36 Vorsichtiger drückte sich bereits Russell aus, als er im März 1831 die Bill erstmals ins Unterhaus einbrachte. Er zitierte die alten Statuten und writs aus der Zeit Eduards I. lediglich, um darin das ,Prinzip' aufzufinden, das der Zusammensetzung des Flouse of Commons von Anfang an zugrunde gelegen habe und dem man jetzt wieder zur Geltung verhelfen wolle. Dabei machte er deutlich, daß für ihn historisches Recht („right") nur ein möglicher und sicher nicht der wichtigste Legitima3« Brougham, 2. 11. 1830, PDIII, 1, 54 f.
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tionsgrund war.37 Nur im Hinblick auf das ,Prinzip', daß im Unterhaus das Volk in seinen wesentlichen Teilen repräsentiert sein sollte, berief sich Russell auf die Praxis der Vorfahren („ancestors"), und er tat dies, weil er im voraus den Einwand entkräften wollte, daß durch die Reform die Einrichtungen der Vorväter aus den Angeln gehoben würden.^» Der Zweck des Arguments war also rein defensiv, aber sein Effekt war genau der, den Bentham im Handbook of Fallacies dargestellt hatte: Die Anti-Reformer erhielten Gelegenheit, die Debatte auf das Feld der Rechtsgeschichte zu ziehen und nach den Präzedenzfällen für die vorgeschlagenen Reforminhalte zu fragen. Die Gegner der Bill begnügten sich allerdings nicht mit dem simplen „no precedent"-Vorwurf, wie Bentham ihn karikiert hatte. Obwohl auch dieser Vorwurf vorkam^^, zielte die gegnerische Argumentation doch auf konkrete Punktgewinne. Der eine bestand darin, die Whig-Reformer zu noch ausgiebigeren verfassungsgeschichtlichen Erörterungen zu nötigen. Dem diente die wiederholte Aufforderung, diejenige ideale Vergangenheit namhaft zu machen, in der die Verfassung angeblich besser gewesen sei als in der Gegenwart.^o Ließen sich die Whigs darauf ein, hatte man sie wieder ein Stück weit von ihren anderen, plausibleren, auf Vernunftgründe („reason") und Zweckmäßigkeitserwägungen („expediency") gestützten Rechtfertigungen abgelenkt. Blieben sie hingegen die Antwort schuldig, konnte man sie immerhin als Anhänger eines Geschichtsmythos, als schlechte Historiker oder als Bewunderer vormoderner Geschichtsepochen darstellen, während man sich selbst auf den sicheren Boden der Verfassung von 1688 stellte.41 Der andere rechtshistorisch untermauerte Angriff der Reformgegner zielte direkt auf eine zentrale Bestimmung der ReformbiU: das , Prinzip' der Neuverteilung der Parlamentssitze nach dem Kriterium der Bevölkerungszahl („population"). Die Herausforderung lautete auch hier, den Beweis dafür beizubringen, daß dieses Kriterium jemals ausschlaggebend für die Einberufung der Abgeordneten gewesen sei.^^ Und auch hier hielten die Tories eine historisch anscheinend stimmigere Ge37 Russell, 1. 3. 1831, PDIII, 2, 1063, 1065. 38 Russell, 1. 3. 1831, PD III, 2, 1085 f. 39 Inglis, 1. 3. 1831, PDIII, 2, 1101. « Inglis, 1. 3. 1831, PD III, 2, 1103, 1112 f. Croker, 4. 3. 1832, PD III, 3, 84. ^3 Diese Redestrategie der Tories hatte sich seit den 1790er Jahren allmählich herausgebüdet und begann die bis dahin vorherrschende, quasi-sakrale Verehrung der „andent Constitution" abzulösen. Vgl. /. Lee: Political Antiquarianism unmasked: the Conservative Attack on the Myth of the Ancient Constitution. In: Bulletin of the Institute of Histoiical Research. 55 (1982), 166-179. « Inglis, 1. 3. 1831, PDIII, 2, 1097.
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genthese bereit — die Auffassung, daß das ,Prinzip' der Sitzverteilung schon immer die Berücksichtigung der Verschiedenheit lokaler und ökonomischer Interessen („variety of interests") gewesen sei.^^ Diese Gegenthese erhielt dadurch zusätzliches Gewicht, daß namhafte Whigs sie selber vertreten hatten, als sie sich mit der radikalen Forderung nach „universal suffrage" auseinander setzten. 44 Damit hatten die Tories eine Schwachstelle im Gesetzentwurf aufgedeckt. Infolge ihres Angriffs wurden am Prinzip der Sitzverteilung nach Kopfzahlen im weiteren Verlauf der Debatte Abstriche gemacht. Zumindest in diesem einen Punkt waren auch viele Reformer nicht willens, von dem, was sie für die britische Verfassungstradition hielten, abzuweichen. Dadurch vor allem kam jene Inkonsequenz in das Gesetz, die Hegel als „den Widerspruch des positiven Rechts und des abstrakten Gedankenprinzips" kritisierte.45 Für die britischen Politiker des Jahres 1831 kam es also noch nicht in Frage, die Wesenszüge der historisch gewachsenen Verfassung einfach zu übergehen. Andererseits stellten die Eigentumsrechte und Privilegien einzelner Personen und Korporationen — wie Hegel richtig bemerkte — kein unüberwindliches Hindernis für die Reform mehr dar.46 Mit Ausnahme des Abgeordneten Wethereil und einiger Tory-Lords insistierte kein Anti-Reformer auf diesem Thema.47 Benthams „Fallacy of irrevocable Laws" hatte ausgedient, und zwar hauptsächlich deshalb, weil die Tory-Regierung unter Wellington und Peel mit der Entrechtung der irischen 40-shilling freeholders im Zuge der Katholikenemanzipation den entscheidenden Präzedenzfall für eine entschädigungslose Beseitigung alter Wahlrechte geschaffen hatte. Verständlicherweise wurden die Reformer nicht müde, auf diesen jüngsten Präzedenzfall hinzuweisen.48 Obwohl die Diskussion um die alte Verfassung und historische Rechte durchaus ernsthaft geführt wurde, hatte sie doch den Charakter eines Schattenboxens. Denn weder den Whigs noch den ehemals regierenden Tories war daran gelegen, an der Souveränität des Parlaments im Hinblick auf Änderungen des „positiven" Rechts Zweifel aufkommen zu lassen. Die auf Russell folgenden Whig-Redner waren erkennbar darum bemüht, die antiquarisch-gelehrsame Beweisführung als völlig nebensächCroker, 4. 3. 1831, PDIII, 3, 90 —94. Auch Hegel entging die Bedeutung dieses Arguments nicht: Hegel: Reformbill. 486. ^ Vgl.; /. W. Burrozu: Whigs and Radicals. Continuity and Change in English Political Thought. Oxford 1988. 101 — 124. Dazu auch den Beitrag von A. Wirsching in diesem Band. 45 Hegel: Reformbill. 487 f. 46 Hegel: Reformbill. 468. 47 Wetherell, 2. 3. 1831, PD III, 2, 1229-1236. Eldon, 7. 10. 1831, PD III, 8, 212. 48 O'Connell, 8. 3. 1831, PD III, 3, 198 f. Grey, 3. 10. 1831, PD III, 7, 959.
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lieh hinzustellen. Sie wollten offensichtlich den taktischen Fehler ausbügeln, den Russell begangen hatte. Statt vergangener Normen erklärten sie zukünftig mögliche Verbesserungen zum ausschlaggebenden Handlungsmotiv: „Sir, we are legislators, not antiquaries. The question for us is, not whether the Constitution was better formerly, but whether we can make it better now." So in unübertroffener Kürze Macaulay.^^ Russell selbst nahm seine ursprüngliche rechtshistorische Argumentation schrittweise zurück, als er im Juni und schließlich im Dezember 1831 die Bill im zweiten und dritten Anlauf einbrachte.Der Unterhausführer der Tories, Peel, hielt sich schon in seiner ersten Rede nicht lange bei der Rechtsgeschichte auf, sondern kam gleich zu der für ihn wesentlichen Frage, ob das bestehende , System' wirklich — wie die Reformer unterstellten — in der Vergangenheit so schlechte Effekte gehabt hatte, daß eine Reform notwendig sei.^i Und auch andere Reformgegner, die sich, wie etwa Scarlett, ausführlich mit möglichen verfassungsgeschichtlichen Legitimationen auseinandersetzten, kamen zu dem Schluß, daß Zweckmäßigkeit („expediency") der einzig sichere Entscheidungsgrund sei.^^ Eür die Ziele der Reformer eignete sich ohnehin der Verweis auf historische Fakten besser als der Rekurs auf das alte Recht. Der Whig-Historiker Mackintosh faßte die reformerische Standard-Position zusammen: „I appeal to history as a vast magazine of facts, . .. proving that late Reformation, dilatory Reformation, Reformation refused at the critical moment, which may pass for ever, in the twinkling of an eye, have been the most frequent cause of the convulsions which have shaken States.Zu späte Reform führt zu Revolution — so die whiggistische Lehre aus der Geschichte, die mit vielen Beispielen, von den Stuartkönigen bis zur jüngsten Katholikenemanzipation, illustriert wurde.^ Die Standard-Antwort der Tories, erläutert vor allem am Beispiel der Französischen Revolution, lautete: Unzeitige Reformen schüren unerfüllbare Erwartungen, versetzen das sonst ruhige Volk in Aufruhr und lösen schließlich Revolutionen aus.Auf beiden Seiten stand die Verwendbarkeit der ehemals gemachten Erfahrungen außer Erage. Das Denken in Analogien war weit verbreitet, die Wiederholbarkeit bestimmter Abläufe wurde vorausge« 50 51 52 53 54 55
Macaulay, 2. 3. 1831, PD ÜI, 2, 1194. Russell, 24. 6. 1831, PD HI, 4, 325 ff. Russell, 12. 12. 1831, PD III, 9, 159. Peel, 3. 3. 1831, PD III, 2, 1339-1350. Scarlett, 22. 3. 1831, PD III, 3, 775. Mackintosh, 4. 7. 1831, PD III, 4, 694. Grey, 3. 10. 1831, PD III, 7, 964. Bankes, 3. 3. 1831, PD III, 2, 1280. Londonderry, 5. 10. 1831, PD III, 7, 1366 f.
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setzt; der Topos der ,historia magistra vitae' hatte sich im britischen Parlament von 1831 noch nicht „im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte" aufgelöst^ — wie überhaupt die Situation der parlamentarischen Debatte zur Instrumentalisierung einzelner Geschichten statt der einen Geschichte einzuladen scheint. Nur wenige Redner, einigermaßen konsequent nur Macaulay und der schottische Liberale Jeffrey, verknüpften in ihren Reden Erfahrung und Erwartung in einer Weise, daß sich daraus ein einheitlicher, unaufhaltsamer Geschichtsprozeß ableiten ließ. Selbst Macaulays berühmte, in Anlehnung an James Harrington formulierte Revolutionstheorie^^ — trug noch Züge einer älteren Vorstellung des zyklischen Aufstiegs und Niedergangs sozialer Schichten, denen die Politik zu folgen habe. Ob es in Zukunft zu einem weiteren Demokratisierungsprozeß kommen könne, ließ Macaulay offen; eine geschichtliche Notwendigkeit, in dieser Richtung fortzuschreiten, bestand für ihn nicht.^^ Seine praktische Aussage, daß man sich diesmal, 1831, auf die Seite eines klar erkennbaren geschichtlichen Trends zu schlagen habe, blieb davon jedoch unberührt. Insofern ist Macaulays Rede ein Beispiel für den von Hirschman definierten , progressiven' Argumentationstyp des ,auf der Seite der Geschichte Stehens'. Das Gleiche gilt auch für Jeffrey, der jedenfalls in der britischen Geschichte schon seit Jahrhunderten eine kontinuierliche Dialektik von sich steigerndem Wohlstand, zunehmendem Freiheits- und Mitsprachebedürfnis der reich gewordenen Schichten und mehr oder weniger rechtzeitigen politischen Reaktionen auf dieses Bedürfnis wirksam sah. Gegen die Tories, die das politische System auf dem Stand von 1688 einfrieren wollten, stellte er fest, daß auch sie — indem sie sich zur Revolution von 1688 bekannten — die früheren Emanzipationsschübe anerkannt hätten; die Skeptiker in den eigenen Reihen fragte er, ob es irgendwelche Gründe gäbe, die gegen die Annahme einer fortschreitenden Emanzipation in Zukunft sprächen. Merkwürdigerweise kommentierte Hegel diese Überlegungen nicht, obwohl sie im Rahmen seines eigenen Erwartungshorizonts zweifellos 56 R. Koselleck: Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte. In: ders.: Vergangene Zukunft. 38—66. 5^ Dieser Gedanke kann hier nicht weiter verfolgt werden. Einige Hinweise bei: K.-G. Faber: Zur Instrumentalisierung historischen Wissens in der politischen Diskussion. In: Objektivität und Parteilichkeit. Hrsg, von R. Koselleck, W. J. Mommsen u. J. Rüsen. München 1977. Theorie der Geschichte. Bd 1. 270—316. 58 Macaulay, 2. 3. 1832, PDIII, 2, 1196 f. Vgl. den Beitrag von P. Wende in diesem Band. 59 Macaulay, 2. 3. 1832, PD III, 2, 1192. 60 Jeffrey, 4. 3. 1831, PD lU, 3, 62 f.
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eine Beunruhigung darstellten, da sie, wenn sie sich ausbreiteten, das Modell des am weitesten zur Vernunft fortgeschrittenen Staates — Preußen — gefährdeten. Hegel sah England auf einem falschen Weg in die Zukunft, während es doch nach seinen Worten „in den Institutionen wahrhaften Rechts hinter den andern zivilisierten Staaten Europas . . . zurückgeblieben" war. 62 Konnte er sich also mit dem Geschichtsbild der liberalen Whigs nicht identifizieren, auch wenn er mit ihnen die Ablehnung der rechtshistorischen Politikbegründung teilte, fand er auf der anderen Seite auch keinen Trost bei den Erfahrungsargumenten der Tories. Denn für deren Standardargument, daß das alte , System' sich bewährt habe, weil die Regierung im großen und ganzen gut, das Volk trotz gelegentlicher Unruhe zufrieden, der Wohlstand stetig gewachsen sei, hatte er nur Verachtung übrig.63 In seiner Kritik der englischen und mehr noch der irischen Mißstände war Hegel ganz auf der Seite der Reformer. Fast wörtlich folgte er Macaulay, wenn er die von den Tories immer wieder hervorgehobene Tatsache, daß die „rotten boroughs" hervorragenden Politikern den Weg ins Parlament frei gemacht hätten, „dem Reiche der Zufälligkeiten" zuschrieb.64 Aber die Unvollkommenheit des gewachsenen Repräsentationssystems allein war für Hegel kein ausreichender Grund für die Reform; der eigentliche Grund hätte seiner Ansicht nach die Erfahrung sein müssen, „wie wenig oder nichts von den Parlamenten . . . nach dieser Seite hin [i. e. nach der Seite materiell-rechtlicher Reformen, W. S.] geleistet worden".65 Um diese Erfahrung zu machen, hätten die Engländer nach Hegels Meinung ihre eigene Rückschrittlichkeit gegenüber den „zivilisierten Staaten des Kontinents" anerkennen und ihre Reform nach deren Modell ausrichten müssen. 66 Dies hätte unter anderem erfordert, die monarchisch geleitete Exekutive zu stärken, statt das Stimmrecht des Volkes auszuweiten, und für einen wissenschaftlich gebildeten Beamtenapparat zu sorgen, statt der öffentlichen Meinung mehr Gehör zu schenken. Der Irrealis, in dem die letzten Sätze formuliert sind, zeigt, daß Hegel von einem deutschen Erfahrungsraum aus argumentierte, der den britischen Politikern von 1831 nicht zur Verfügung stand. Umgekehrt fürchtete er, daß die englische Vgl. H.-D. Kittsteiner: Naturabsicht und Unsichtbare Hand. Zur Kritik des geschichtsphilosophischen Denkens. Frankfurt, Berlin, Wien 1980. 45 f. Hegel: Reformbill. 469. ® Hegels WeUington-Zitat zu den Erfolgen des Systems ist klar ironisch gemeint: Hegel: Reformbill. 483. M Hegel: Reformbill. 497. Macaulay, 2. 3. 1831, PD DI, 2, 1200 f. ^ Hegel: Reformbill. 483. ^ Hegel: Reformbill. 469.
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Reform in Deutschland Erwartungen wecken würde, die seine Geschichts- und Rechtsphilosophie praktisch widerlegen könnten. 5.
Die Erwartungen der britischen Politiker beider Parteien blieben überwiegend auf das Nahziel der Reform und die unmittelbare Zeit danach fixiert. Warnungsprognosen, nicht Wünsche, dominierten die Diskussion auf beiden Seiten. Die taktische Zurückhaltung der Reformer bei der Äußerung langfristiger Reformperspektiven wurde — wie gesagt — sogar von Hegel kommentiert. Auffällig ist, daß die Whigs auch in ihren Briefen und Tagebüchern kaum über die Reform hinausreichende praktische Ziele erwähnten. Ihre einzige, ständig wiederholte und vielfach variierte Prognose zur Zukunft nach der Reform rückte das wiedergewonnene Vertrauen des Volkes in die Regierenden in den Mittelpunkt.^^ Die Whigs erwarteten offenbar vorerst keine grundlegenden Veränderungen in der Regierungsweise und keine Entmachtung der politischen Elite des Landes. Das Äußerste, wozu sich einige Whig-Redner verstiegen, war die Hoffnung, daß die verbesserte Partizipation zu einer erhöhten Einsicht des Volkes in die prinzipiell begrenzte Handlungskapazität von Regierungen führen würde und einen Ansporn für verstärkte wirtschaftliche Anstrengungen breiter Bevölkerungskreise bilden könnte.^ Von einer Ausweitung vorsorgender Staatstätigkeit in irgendeiner Richtung war nicht in Ansätzen die Rede. Ebensowenig wurde bei,kostenneutralen' Reformen, wie der Durchforstung des unübersichtlichen englischen Privatrechts, eine Beschleunigung in Aussicht gestellt. Und schließlich versprachen die Whigs auch keine nennenswerte Senkung der Staatsausgaben („retrenchment") als Folge der Reform, was die Tories mit Schadenfreude und Genugtuung feststeUten.^^ Am weitesten ging hier noch Russell, der wenigstens indirekt — vermittelt über die erhöhte Wachsamkeit der Wählerschaft — eine genauere Kontrolle der Ausgabenpolitik durch die Abgeordneten für wahrscheinlich hielt. Hegel unterstellte offenbar die früher von den Whigs und Radikalen regelmäßig erhobenen Forderungen nach Ersparnis als immer noch vorhandene gemeinsame Wunschvorstellung, um an diesem Beispiel die Illusionen der 67 68 69 70
Z. B. Palmerston, 3. 3. 1831, FD III, 2, 1330. Grey, 7. 10. 1831, FD III, 8, 314. Russell, 1. 3. 1831, FD III, 2, 1083. Jeffrey, 4. 3. 1831, FD HI, 3, 76 f. Peel, 3. 3. 1831, FD III, 2, 1353. Russell, 1. 3. 1831, FD III, 2, 1071.
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englischen Reformer ein weiteres Mal kritisieren zu können. Die Whigs hatten aber in diesem Punkt dazugelemt. Selbst die wenigen als radikal zu bezeichnenden Abgeordneten hielten sich, zumindest im Parlament, mit weitergehenden Reformforderungen zurück. O'Connell äußerte lediglich die Hoffnung, daß infolge der Reform auch das Monopol der protestantischen Kirche in Irland gebrochen würde.Und der Abgeordnete für Preston, Hunt, bemerkte, daß die Reform ohne gleichzeitige Einführung der geheimen Wahl („ballot") kontraproduktiv wirken könnte, da die neue Wählerschaft zu sehr von den konservativen Landlords abhängig sei.73 Andere radikale Abgeordnete, zum Beispiel der Ire Shell, hielten sich jedoch ganz an die offizielle whiggistische Sprachregelung, nach der die Reform — jedenfalls nach allem menschlichen Ermessen — eine „final measure" sei. 74 Das zentrale prognostische Argument für die Reform war somit nicht die Erwartung einer besseren Zukunft, sondern die Vermeidung der dem Lande unmittelbar drohenden Gefahr für den Fall, daß die Reform ausbliebe.75 Der Inhalt dieser vorausgesehenen Gefahr konnte im Lauf der Debatte wechseln — vom Vertrauensverlust der Mittelklassen über die Unregierbarkeit des Landes bis hin zur sofortigen Revolution. Die Struktur des Arguments blieb immer gleich. Es ist Hirschmans ,These der unmittelbar bevorstehenden Gefahr', die 1831/32 fast die ganze Last der ,progressiven' Argumentation trug. Obwohl nicht sonderlich einfallsreich, war das Argument in der Situation unwiderstehlich, da es sich durch die öffentlichen Kundgebungen und Unruhen, die bei jedem Rückschlag des Gesetzgebungsprozesses auf dem Fuße folgten, immer neu zu bestätigen schien. Im Anfangsstadium mochten die Tories noch hoffen, daß die Reformbewegung auch diesmal, wie früher schon, bald wieder abflauen würde. Inglis verwies auf die Schreckensprognosen der Reformer der achtziger und neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts, die nicht eingetreten waren.76 Fast alle Reformgegner gaben vor, sich nicht vor den Konsequenzen einer Verweigerung der Reform zu fürchten.77 Aber auch wenn die Tories um Wellington bis zuletzt nicht an eine be71 Hegel: Reformbill. 471 ff. 72 O'Connell, 8. 3. 1831, PDIII, 3, 202 f. 73 Hunt, 2. 3. 1831, PD ÜI, 2, 1215. 74 Shell, 21. 3. 1831, PD III, 3, 653 f. 73 Einige Beispiele von vielen: Russell, 1. 3. 1831, PD III, 2,1062, 1087. Macaulay, 2. 3. 1831, PDIII, 2, 1193. Jeffrey, 4. 3. 1831, PDIII, 3, 70. Mackintosh, 4. 7. 1831, PDIII, 4, 691. Grey, 3. 10. 1831, PD III, 7, 963. 76 Inglis, 1. 3. 1831, PDIII, 2, 1091 ff. 77 Peel, 3. 3. 1831, PD III, 2, 1337.
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vorstehende Revolution glaubten, wagten sie doch nicht guten Gewissens zu behaupten, daß ein Weiterregieren ohne Reform auf Dauer möglich sei. Sie konnten zwar die vergangenen Erfolge des alten Systems rühmen, und die Risiken des neuen dagegen halten (Hirschmans Argument der Gefährdung des Erreichten).^® Aber für die Zukunft, vorausgesetzt es bliebe alles beim Alten, konnten sie keine weiteren Erfolge mehr Voraussagen. Der einzige Oppositionsredner, der dies in größerem Umfang versuchte, war Peel.^® Insgesamt aber waren die Tories an glaubwürdigen positiven Zukunftsperspektiven noch ärmer als die Whigs. Zahlreich waren hingegen ihre negativen Voraussagen, die sich auf den Zustand nach der Reform bezogen. Die Varianten im einzelnen aufzuzählen, würde zu weit führen. Inhaltlich bezogen sich die meisten Warnungen auf die zu erwartende Aushöhlung oder Plünderung tragender Institutionen (Korporationen, Kirche, Aristokratie, Monarchie, ,Eigentum') oder auf die Destabilisierung des politischen Systems (Erschwerung des Zusammenspiels zwischen den drei Verfassungsorganen, Gefährdung der „balance of interests" im Unterhaus, Unterwerfung der M. P.'s unter das Meinungsdiktat der Öffentlichkeit, Eindringen unerfahrener Leute in die Politik). Unter formalem Gesichtspunkt betrachtet, waren drei Argumentationstypen — oft in längeren Argumentationsketten miteinander verknüpft — besonders häufig: erstens, das „principle of the wedge", die Voraussage, daß die Reform nur der Anfang sei, und man nicht wisse, wo man aufhören würde®°; zweitens, das „principle of the dangerous precedent", der Vorwurf, gefährliche Präzedenzfälle zu schaffen®i; drittens, die Behauptung der Vergeblichkeit der Reform, da neue Ansprüche aus ihrer Unvollkommenheit erwachsen würden (Hirschmans Vergeblichkeits-Argument)®^. All diese anti-reformerischen Prognosen konnten die ihnen ursprüngKch zugedachte Funktion um so weniger erfüllen, je länger die Debatte andauerte. Eigentlich wurden die Unheilsprophezeiungen gemacht, damit sie nicht eintreffen sollten (self-destroying prophecies). In dem Maße aber. Am kürzesten formuliert in der Frage von Croker, 4. 3. 1831, PD III, 2, Sp. 105: „Why, I ask, then, are we to change the certainty of so much good for a perilous uncertainty?" Ähnlich: Twiss, 1. 3. 1831, PD III, 2, 1138. 79 Peel, 6. 7. 1831, PD III, 4, 884-888. Peel, 22. 3. 1832, PD III, 11, 746 ff. 80 Z. B. Calcmft, 4. 3. 1831, PD III, 3, 38. Croker, 4. 3. 1831, PD III, 3, 86. 81 Z. B. Peel, 3. 3. 1831, PD III, 2, 1353. Mansfield, 3. 10. 1831, PD III, 7, 1011. Baring, 10. 5. 1832, PD ni, 12, 796, 802. 82 Twiss, 1. 3. 1831, PD III, 2, 1130: „if the principle of the noble Lord were to be followed, his Bill must be made much more extensive before it could include the whole commonalty". Croker, 4. 3. 1831, PD III, 3, 90.
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wie auch die Tories eine große Parlamentsreform für unausweichlich hielten, veränderten die Prognosen ihren Charakter. Ihr Hauptzweck konnte nun nicht mehr die Warnung sein — denn der Zustand, vor dem gewarnt werden sollte, würde ja ohnehin eintreten —, sondern die Schuldzuweisung an die Reformer und die Festigung des Widerstandswillens in den eigenen Reihen. An dem analytischen Wert der konservativen Prognosen änderte das freilich nichts. Dieser analytische Aspekt war es, der Hegel allein interessierte. So nahm er unter anderem das Vergeblichkeits-Argument der Tories auf: „Und in der Tat", so schrieb er, „liegt in der Reformbill selbst weiter keine Garantie, daß ein nach derselben mit Verletzung der bisherigen positiven Rechte gewähltes [Unterhaus, W. S.] vorzüglicher sein werde. Auch sah er die Gefahr, daß „eine Unendlichkeit von Ansprüchen" aus dem Prinzip der Bill, der theoretischen Gleichberechtigung aller Bürger, abgeleitet werden könnte.Was Hegel daran störte, waren aber — im Gegensatz zu den Tories — nicht die denkbaren legitimen Reformansprüche der Bevölkerung, sondern die Tatsache, daß die Reform nicht dazu genutzt wurde, ein Regierungssystem zu schaffen, das den Mißständen wirklich Abhilfe bieten würde. Im Grunde plädierte Hegel 1831 für die Priorität einer ,von oben' durchgesetzten Gesellschaftsreform nach preußischem Muster vor der konstitutionellen Reform. Im Hinblick auf diese für wünschenswert gehaltene Gesellschaftsreform war Hegel durchaus radikal: Seine Vorschläge für die Abschaffung der Privilegien von Kirche und Aristokratie, für die Durchsetzung der bürgerlichen Gleichheit im Eigentumsrecht, Änderung des Erbrechts usw. hätten Wellington und den Tory-Lords mit Sicherheit schlaflose Nächte verursacht. Hegel gehörte also nicht zu denen, die am liebsten gesehen hätten, daß die bisher in England regierende Elite ungestört und unbehelligt weiterregierte. Genau das aber, eine Fortdauer des Bisherigen, war es, was er für eine der möglichen Folgen der Reform hielt. Es wird oft übersehen, daß Hegels Reformbill-Schrift neben der immer wieder zitierten Revolutionsprognose auch eine Stabilitätsprognose für das nachreformerische England enthielt. So schloß sich Hegel — gegen Wellington — der Ansicht an, „daß der Landbesitz und das Ackerbauinteresse nicht nur nichts von ihrem Einflüsse verlieren, sondern . . . vielmehr eine relative Erweiterung erfahren werde"®^ p)es weiteren führte *3 Hegel: Reformbill. 487. ^ Hegel: Reformbill. 488. Vgl. hierzu die Argumentation von Scarlett, 22. 3. 1831, PDIII, 3, 784. Hegel: Reformbill. 484.
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er die „sehr allgemeine Befriedigung der mittlern und untern Klassen der drei Königreiche mit der Bill" sowie den „sogenannten praktischen, d. h. auf Erwerb, Subsistenz, Reichtum gerichteten Sinn der britischen Nation" als Argumente gegen die Revolutionswahrscheinlichkeit ins Feld.^^ Und schließlich bemerkte er, daß die in England ganz anders als auf dem Kontinent geartete Kompetenzverteilung zwischen Zentralregierung und Lokalgewalten und die dadurch geförderte praktische Vorstellung davon, „was Regierung und Regieren ist", die Engländer unempfänglich für die abstrakten Grundsätze der andernfalls gefährlichen „novi homines" machen könnten.Etwas pointiert könnte man sagen, daß Hegel die Möglichkeit, daß sich in England trotz der vielen oberflächlichen Tumulte nichts ändern würde, mindestens ebenso schreckte, wie die Aussicht auf eine Revolution — wenn nicht physisch, dann jedenfalls philosophisch. Denn ein Störfall für seine Geschichtsphilosophie wäre England auch dann geblieben. Wirklich gefürchtet hat sich Hegel aber weder vor der einen noch vor der anderen denkbaren Folge der Reform. Seine Haltung blieb kühl und abwägend. Um des Kontrastes willen verweise ich auf einen anderen Beobachter in Preußen, dem die Ereignisse in England tatsächlich Angst machten — so sehr, daß er sich in apokalyptischen Visionen erging. Dieser Beobachter sei abschließend zitiert; „Die Wendung, die die Reform in England nimmt, caracterisirt die ganze Sache augenscheinlich als das, wofür ich sie immer gehalten habe, als eine reine Sache der Revoluzion, dieses Ungeheuers, welches erst seit 40 Jahren das Licht der Welt erblickt hat, und welches ich, wenn ich Apocalyptiker wäre, frischweg mit dem Thier par excellence vergleichen würde oder mit der Hure, welche mit den Königen gehuret und sie aus ihrem Kelch trunken gemacht hat."^ Es war der zukünftige preußische König Friedrich Wilhelm IV., der hier — noch voller Hoffnung, dem eigenen Sündenfall entgehen zu können — sein persönliches Schicksal prognostizierte.
^ Hegel: Reformbill. 488. Hegel: Reformbill. 505, 500. Friedrich Wilhelm IV. an Prinz Johann von Sachsen, 29./31. Mai 1832, zit. nach: Dirk Blasius: Friedrich Wilhelm IV. 1795—1861. Psychopathologie und Geschichte. Göttingen 1992. 2431.
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HEGELS SCHRIFT ÜBER DIE REFORMBILL IM KONTEXT DES DEUTSCHEN DISKURSES ÜBER ENGLANDS VERFASSUNG IM 19. JAHRHUNDERT Mathias Schmitz zum 60. Geburtstag Wer im Deutschland des 19. Jahrhunderts zum politischen System und zur politischen Kultur Großbritanniens Stellung nahm, der konnte dies kaum in politisch neutraler Weise tun. Aussagen zu diesem Thema standen mehr oder weniger unmittelbar in einem Diskurskontext, der von den politischen Strömungen der Zeit strukturiert wurde und oft genug schon die Wahrnehmung der britischen Verhältnisse verzerrte.^ Urteile über Großbritannien eignen sich deshalb für politische Standortbestimmungen derer, die sie abgeben, ebenso wie für Sondierungen der Diskursstruktur. Dies gilt natürlich auch für Hegels Schrift über die Reformbill, die sich schon durch ihren Publikationszusammenhang als ein aktueller politischer Redebeitrag zu erkennen gibt. Ich möchte im folgenden jedoch nicht von Hegels Ausführungen ausgehen, sondern meine Aufmerksamkeit dem Diskurskontext zuwenden, in dem sie stehen. Es geht mir nicht darum, in enzyklopädischer Manier möglichst viele Einzelpositionen zu referieren^, sondern um die Pro1 Dies gilt im übrigen auch für Frankreich. Vgl. hierzu: Günther Lottes: Das revolutionäre Zur Verschränkung von Wahrnehmungsprozessen und pohtiktheoretischen Disktirsen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Feindbild und Faszination. Vermittlerfiguren und Wahrnehmungsprozesse in den deutsch-französischen Kulturbeziehungen (1789—1983). Hrsg, von Hans-Jürgen Lüsebrink, Jänos Riesz. Frankfurt 1984. 13—24 sowie Gerhard R. Kaiser: Der Bildungsbürger und die normative Kraft des Faktischen. 1870/71 im Urteil der deutschen Intelligenz. In: ebd. 55— 74. 2 Vgl. hierzu die materialreichen und sorgfältigen Studien von Theodor Wilhelm: Die englische Verfassung und der vormärzliche deutsche Liberalismus. Stuttgart 1928 sowie Reinhard }. LaFrankreich als Trauma der deutschen Konservativen.
mer: Der englische Parlamentarismus in der deutschen politischen Theorie im Zeitalter Bismarcks (1857—1890). Ein Beitrag zur Vorgeschichte des deutschen Parlamentarismus. Lübeck, Hamburg 1963. Außerdem f. Klenk: Die Beurteilung der englischen Verfassung in Deutschland von Hegel bis Stahl. Phil. Diss. Tübingen 1930. Mit dem Akzent auf der Wahrnehmung und Verarbeitung der sozialen Entwicklung in England vgl. ferner Rudolf Muhs: Freiheit und Elend. Die
Diskussion der sozialen Frage Englands und ihr Stellenwert im Bereich grund- und freiheitsrechtlicher Werthaltungen im deutschen Vormärz. In: Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte. Beiträge zur Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte vom
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blemstruktur des Diskurses. Ich werde mich auch nicht auf das unmittelbare Umfeld der Hegelschen Schrift beschränken, sondern nehme die longue duree des Englanddiskurses in den Blick, um den historischen Ort der Position Hegels deutlicher zu machen. Von der Anglophüie der Aufklärung zum Modell England Dieser Ansatz führt zunächst von Deutschland weg in das Frankreich der mittleren Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts, das mit wachsender Faszination auf die andere Seite des Kanals blickte. Was war der eitel-sterile Glanz des französischen Absolutismus, der sein grand siede hinter sich hatte, gegen das Maß an Freiheit, Modernität und Prosperität, das England so selbstbewußt zur Schau stellte. Befand sich die Zukunft der Menschheit, die den Aufklärern so sehr am Herzen lag, in England nicht in besseren Händen als in Frankreich, dessen Ruhm als erste Kulturnation Europas doch nur auf einem Kulturbegriff gründete, welcher der höfischen Vergangenheit angehörte? Schließlich hatte die englische Nation die Fesseln der feudalen Vergangenheit erfolgreich abgestreift und sich die Ketten des unaufgeklärten Absolutismus gar nicht erst anlegen lassen. Ja mehr noch: Sogar der Erzfeind des neuen Denkens und der neuen Moral, die Kirche, schien auf dieser glücklichen Insel der Wahrheit und des Fortschritts in die Schranken verwiesen. Aus dieser Englandsicht erwuchs eine starke Tradition der Anglophüie, die in der französischen Büdungselite über das ganze 18. Jahrhundert hinweg lebendig bUeb und mit den weniger liberalen Strömungen im Denken der französischen Aufklärung teils einherging, teüs konkurrierte. Es ist bezeichnend, daß etwa Rousseau — das sei hier nur nebenbei bemerkt — vom englischen Modell unbeeindruckt blieb, wenngleich aus Gründen, die mit der englischen Wirklichkeit nicht viel zu tun hatten.^ Aus der Englandbegeisterung wurde bald mehr, als die aufgeklärte Intelligenz daran ging, den Gegenstand ihrer Bewunderung mit dem Licht der Vernunft des 18. Jahrhunderts auszuleuchten, um aus der englischen Erfahrung zu lernen. Dieses Unternehmen endete mit einer AbAusgang des Mittelalters bis zur Revolution von 1848. Hrsg, von Günter Birtsch. Göttingen 1981. 483-514. 3 Vgl. hierzu immer noch Kingsley Martin: French Liberal Thought in the Eighteenth Century. A Study of Political Ideas from Bayle to Condorcet. Ed. by J. P. Mayer. London 1962 (1929; 2. Aufl. 1954) sowie Michael Maurer: Aufklärung und Anglophüie in Deutschland. Göttingen, Zürich 1987. Bes. 28-29.
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straktion der historischen Wirklichkeit Englands zu einem Bündel politischer Theoreme, die analog den Maximen und Denkfiguren der klassischen politischen Philosophie als Bauanleitungen und Gebrauchsanweisungen für die Schaffung einer neuen politischen Ordnung dienen sollten. Ich kann auf den Prozeß der politiktheoretischen Verarbeitung der englischen politischen Kultur, der zu Beginn der Revolution in der Diskussion über die Verfassung von 1791 einen Höhepunkt erreichte, hier nicht im einzelnen eingehen, sondern muß mich mit einer schlagwortartigen Charakterisierung begnügen: Die politiktheoretische Umsetzung erfolgte noch weitgehend in den Bahnen der aristotelisch-humanistischen Tradition und blieb institutionenorientiert und mechanistisch. Ironischerweise kam einer der Schlüsselbeiträge zur politiktheoretischen Verarbeitung der englischen historischen Erfahrung von Montesquieu, dem Vater des Prinzips der Gewaltenteilung, das bekanntlich auf ein klares Mißverständnis der englischen politischen Kultur des 18. Jahrhunderts zurückgeht.4 Eine größere Tiefenschärfe wurde nur dort erreicht, wo der Versuch gemacht wurde, den Verfassungsbegriff weiter zu fassen und die Organisation des politischen Lebens über die monarchisch-parlamentarische Ebene hinaus in den Blick zu nehmen. Eür Deutschland ist hier vor allem die Darstellung der inneren Verwaltung Großbritanniens Vinckes zu nennen, der als Fazit seiner Betrachtung dem aufgeklärt-absolutistischen Dienstleistungsstaat den Selbstverwaltungsstaat englischer Prägung gegenüberstellte: „So sehen wir denn jetzt in völliger Opposizion mit dem von allgewaltiger Autorität festgestellten Grundsätze: die Regierung müsse alles für das Volk thun, nichts durch das Volk geschehen, — in Großbritannien nichts für das Volk, alles durch dasselbe geschehen, und durch dasselbe im vollesten Umfange seiner unbeschränkten Kraft mehr geschehen, als die regierende Gewalt in Schein und Wirklichkeit je irgendwo aufzuführen vermochte. Zwar sei das englische System für ^ Vgl. Elie Carcassonne: Montesquieu et les Mats sur la Constitution. Paris 1927. Ich sage ironischerweise, weil es so gar nicht in Montesquieus Absicht lag, Frankreich an irgendeinem Modell zu messen. Sein Ziel war es ja vielmehr, die Ordnung des Ancien Regime vor der vernichtenden Kritik des Rationalismus zu schützen, indem er die normative gegen die analytische Vernunft ausspielte. Er löschte den Durst des Publikums nach Vernunft, indem er vernünftige Gründe dafür angab, warum die Dinge so waren, wie sie waren, und warum sie — darin lag die Zauberformel — notwendigerweise und somit auch vernünftigerweise so waren. Indes sollte sich die normative Vernunft am Ende dann doch als stärker erweisen, nämlich als mächtig genug, Montesquieu mißzuverstehen — unter anderem dadurch, daß sie ihn zu einem der Väter des englischen Modells machte. 5 Ludwig von Vincke: Darstellung der inneren Verwaltung Großbritanniens. Hrsg. v. Berthold G. Niebuhr. 2. Aufl. Berlin 1848. 97. Die Schrift wurde 1808 verfaßt.
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Regierungsaufgaben ungeeignet, „welche planmäßige Wirksamkeit einer dieselben im Großen umfassenden gewaltigen Behörde erfordern"^. Dieser Nachteil wurde jedoch für Vincke durch das Selbstbestimmungsund Selbstentwicklungspotential der englischen Gesellschaft mehr als ausgeglichen: „Wer unparteiisch vergleichen, die Sache aus den Erfolgen erkennen will, der muß das Zeugnis geben, daß hier mehr geschehen ist als dort, hier weniger geschrieben und gedruckt, aber lebendiger gehandelt wird, hier mehr reges sichtbares Fortschreiten zum Nützlichen, Großen, Vortrefflichen, sich findet, hier weniger in Buchstaben und Formen erstirbt: — und es wird so immer sein und bleiben, die Regierungsweise immer die vorzüglichere, welche die Menschen am wenigsten den Druck der bürgerlichen Vereinigung empfinden läßt. . . Während das Verhältnis von König, Oberhaus und Unterhaus, die Repräsentativverfassung und die Rolle der Justiz in Frankreich wie in Deutschland die Aufmerksamkeit sowohl der Konservativen wie der Liberalen auf sich zogen, zeigten sich die Reformbürokraten des aufgeklärten Absolutismus von der englischen Lokalverwaltung fasziniert — einerseits als Schule der Partizipation für eine auf die Teilnahme am staatlichen Leben gänzlich unvorbereitete Bevölkerung, andererseits als Surrogat für eine Nationalrepräsentation, von der zumindest nicht ohne weiteres angenommen werden konnte, daß sie die Modernisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse von oben mittragen würde. Die kommunale Selbstverwaltung hat in Deutschland seit den Preußischen Reformen in der Tat eine wichtige Rolle bei der Umgestaltung der politischen Verfassung gespielt.® Ob bei den Konservativen, bei den Liberalen oder den aufgeklärten Reformbürokraten, die Englandwahmehmung blieb stets durch die jeweiligen politischen Interessen gebrochen. Auf lange Sicht erwies sich das Bild, das die politische Theoriebildung von England zeichnete, als einflußreicher als die in Großbritannien real vorhandene politische Kultur samt ihren Entwürfen zur theoretischen Selbstverständigung. Generationen von französischen und später deutschen politischen Denkern haben aus den Abstraktionen und Konzeptualisierungen, mit denen die französische Aufklärung das Phänomen England zu fassen versucht hatte, ihre Kenntnisse und Urteile über die englische politische Kultur bezogen. Es störte wenig, daß diese Denk- und Argumentationsmuster sich ® Ebd. 96. 7 Ebd. 98. ® Vgl. Heinrich Heffter: Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1950.
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von der historischen Erfahrung, aus der sie gewonnen waren, gelöst und eine Eigendynamik gewonnen hatten, die zu einer Verfassungsdiskussion in den aus dem politischen Humanismus wohl vertrauten Kategorien der politischen Mechanik verführte. Ein nicht minder wichtiger Aspekt der politiktheoretischen Verarbeitung der englischen historischen Erfahrung betraf die neue Dimension der politischen Praxis, die das Experiment der Einführung englischer politischer Formen in Frankreich eröffnete. Wenn die Engländer im Verlauf ihrer Geschichte, augenscheinlich eher durch Zufall als durch Vernunftanstrengung, auf ein politisch-soziales System gestoßen waren, das Freiheit, Fortschritt, Reichtum und Glück produzierte, war es dann nicht sinnvoll, dasselbe nachzubauen, um Frankreich diese Segnungen ebenfalls zu bescheren? An dieser Stelle kamen zwei Grundannahmen des Denkens der französischen Aufklärung ins Spiel, die zu einer systematischen Unterschätzung der Widerständigkeit der Realität Anlaß gaben: einmal der Glaube an die Unbesiegbarkeit der Vernunft, dem eine ebenso starke Verachtung aller unvernünftigen Realität entsprach; dann die aus den Naturwissenschaften auf die soziale Welt übertragene Vorstellung, daß gleiche Versuchsanordnungen zu gleichen Resultaten führen müßten. Zwar waren die Denker der französischen Aufklärung nicht so blind, die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen in England und Frankreich ganz zu ignorieren. Und sie waren auch bereit, den Versuchsaufbau, sprich das ModeU, dementsprechend zu modifizieren. Nur durften die Konzessionen an die Umstände das ModeU nicht bis zur Unkenntlichkeit entstellen. Schließlich hatten die Lehren, die man aus dem englischen Beispiel zog, die Sanktion der Vernunft erhalten und konnten insofern einen Anspruch auf universelle Gültigkeit erheben.^ Der Preis, den die Anhänger des englischen Modells für ihre Unterschätzung des historischen Faktors bezahlen sollten, war die Revolution. Aus heutiger Sicht und ganz besonders vor dem Hintergrund der neueren Revolutionsforschung ist natürlich klar, daß das Experiment mit dem englischen ModeU in die gemäßigte erste Phase der Revolution gehört. Ja es fand sogar im konservativen Lager Freunde, etwa Jacques Mailet du Pan oder Joseph Mounier. Noch bezeichnender ist vielleicht, daß das Frankreich der Restauration auf der Suche nach einem historischen Kompromiß mit der revolutionären Vergangenheit wieder auf das engli® Zur Verfassungsdiskussion vgl. Jacques Godechot: Les institutions de la France sous la Revolution et l'Empire. Paris 1968. 74 ff. u. R. K. Gooch: Parliamentary Government in France: Revolutionary Origins, 1789—1791. Ithaca 1960.
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sehe Beispiel zurückkam. Für die Zeitgenossen und für die unmittelbar folgenden Generationen aber blieb die Revolution vorerst noch wesentlich ein Block, wie Clemenceau später einmal formulierte. Die Wendung zur Gewalt, die sie genommen hatte, und die politische Instabilität, zu der sie Frankreich über die Revolutionsepoche hinaus verurteilte, schienen die logische Folge eines ursprünglichen Bruchs mit dem historischen Prozeß. Von der Modellverfassung zur Modellgeschichte
Gerade im Deutschland des 19. Jahrhunderts wurden sowohl die Perzeption Englands als auch das Licht des englischen Modells fortan durch das Prisma der Revolutionserfahrung gebrochen. Die englischen Verhältnisse verfielen aber keineswegs einer politischen Stigmatisierung wie die Revolution oder Frankreich, das trotz Restauration in konservativen Kreisen mit tiefem Mißtrauen beobachtet wurde. Es kam im Gegenteil zu einer spezifisch konservativen Umdeutung der politiktheoretischen Lehren, die aus der englischen Erfahrung zu ziehen waren. Und diese sollte nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie für das konservative Lager Bedeutung erlangen. 10 Entscheidend war hierfür natürlich, daß England seit 1793 ohne zu zögern und ohne zu wanken auf der Seite der Gegenrevolution gestanden hatte. Wenn die alten Eliten Kontinentaleuropas nach den apokalyptischen Jahren der Revolution und der Reform nun nach der Niederwerfung Napoleons endlich an das Werk der Restauration gehen konnten, dann verdankten sie dies nicht zuletzt dem kompromißlosen und unermüdlichen Einsatz Englands. Und gab es, abgesehen davon, nicht wirklich zu denken, daß England allein sich als immun gegen das Virus der Revolution erwiesen hatte und auf die falschen Versprechen der selbsternannten Menschheitsbeglücker nicht hereingefallen war? Die Berührungsängste der Hochkonservativen gegenüber der politischen Kultur dieser „merkwürdigen Nation", wie Adam Müller formulierteii, blieben gleichwohl zu groß, um der englischen politischen Kultur etwas abzugewinnen. Adam Müller etwa half sich damit, daß er das Vgl. grundsätzlich Revolution und Gegenrevolution 1789—1830. Zur geistigen Auseinandersetzung in Frankreich und Deutschland. Hrsg, von Roger Dufraisse. München 1991 mit einer Auflistung der wichtigsten Literatur, vgl. VIII, Anm. 3. 11 Adam Müller: Über die inneren Verhältnisse von Großbritannien im Winter 1816. In: Deutsche Staats-Anzeigen. Leipzig 1816. Bdl.2.
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englische Repräsentativsystem altständisch uminterpretierte. England sei, schrieb er, „im Besitze einer ursprünglich deutschen und ständischen Verfassung, die allen Forderungen an eine vollendete Einrichtung der bürgerlichen Angelegenheiten entsprechen würde, wenn sie nicht im direkten Widerspruch mit ihrer Natur und ihrem Geiste, insbesondere seit Montesquieu und de Lolme, von ganz Europa und der beträchtlichen Majorität der Engländer selbst für eine gewöhnliche repräsentative Verfassung gehalten würde". Es sprach nach Müller für die innere Beharrungskraft dieser Verfassung, daß sie trotz dieser Umdeutungen allen Versuchen einer Parlamentsreform erfolgreich widerstanden hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Hochkonservativen in Deutschland, anders als ihre Gesinnungsgenossen in Frankreich, den Verfassungskampf noch nicht verloren gegeben. Sie hatten sich noch nicht hinter die Bastion des Veto-Königtums zurückgezogen und vertraten ihre antiabsolutistische Verfassungsaltemative noch offensiv. Nur ein unabhängiger Kopf wie August Wilhelm Rehberg schlug leisere Töne an und konnte auf den Gedanken kommen, die Unzulänglichkeit der französischen Verfassung durch einen Vergleich mit den englischen Verhältnissen zu demonstrieren. So brilliant seine Analyse der unterschiedlichen psychologischen Wirkungen des in der französischen Verfassung vorgesehenen Vetorechts und des in England bestehenden Zustimmungsrechts des Königs im Gesetzgebungsverfahren war. Schule machte dieser Ansatz im konservativen Lager nicht. Auf lange Sicht war die Auseinandersetzung mit der englischen politischen Kultur für das konservative Lager zu unbequem und zu unberechenbar. Wenn es denn einer Außenorientierung zur Legitimierung innenpolitischer Optionen bedurfte, wandten sie sich lieber dem Modell Rußlands zu.^^ Was die frühen deutschen Konservativen statt dessen an England zu interessieren begann, das war seine kontinuierliche und organische historische Entwicklimg. Sie gewannen der englischen historischen Erfahrung eine ganz neue politiktheoretische Seite ab, indem sie nicht mehr das englische Verfassungsarrangement, sondern den Typus der englischen historischen Entwicklung konzeptualisierten und das englische 12 Ebd. 13 August Wilhelm Rehberg: Sämtliche Schriften. 4 Bde. Hannover 1831; bes. Bd 2., bes. 32 ff. Zu Rehberg vgl. Ursula Vogel: Konservative Kritik an der Bürgerlichen Revolution. August Wilhelm Rehberg. Darmstadt, Neuwied 1972. i'i Vgl. die anregende Studie von Peter Jahn: Russophilie und Konservativismus. Die russophüe Literatur in der deutschen Öffentlichkeit 1831—1852. Stuttgart 1980.
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Modell, wie sie es sahen, vom Kopf auf die Füße stellten. Hierbei kam den Schriften Edmund Burkes, die eben diesen Aspekt hervorhoben, eine Schlüsselrolle zu. Burke mag heute als ein Klassiker des englischen politischen Denkens geführt werden und in Darstellungen und Anthologien des englischen Konservativismus einen entsprechenden Platz behaupten. Zu seiner Zeit stand er auf dem Kontinent höher im Kurs als in seinem Heimatland, das an der Art des Jakobinerfressers keinen rechten Geschmack fand. Friedrich Gentz, der Burke ins Deutsche übersetzte, verdankte diesem entscheidende theoretische Impulse. Der preußische Außenminister und Kronprinzenerzieher Ancillon erblickte das wahre Wesen der englischen Verfassung nicht in der Anordnung und dem Zusammenspiel ihrer Institutionen, sondern darin daß sie allmählich und organisch gewachsen sei: Die „mit Recht gepriesene, aber noch immer zu wenig gekannte, und in ihren Tiefen ergründete, englische Verfassung" sei ein Werk der Zeit. „Viele, auch von ihren Lobrednern, verkennen ihr wahres Wesen, und suchen dasselbe in Nebendingen, sie nehmen Wirkungen für Ursachen, Ursachen für Wirkungen an, und haben von der englischen Verfassung eine so flache und falsche Ansicht, daß sie behaupten, nichts wäre leichter, als sie allenthalben zu verpflanzen: das Geheimnis bestände ja nur darin, daß man zwei Kammern bilde, ein Oberhaus und ein Unterhaus.Die englische Entwicklung gab diesem vorsichtigen und keiner liberalen Neigung verdächtigen Konservativen freüich auch Anlaß, sich die Erage zu stellen, ob das Geheimnis der Revolutionsprophylaxe nicht darin liege, den in der Gesellschaft angesammelten sozialen und politischen Sprengstoff durch vorsichtige, aber zeitige Reformen zu entschärfen — wie reduziert sein Reformbegriff auch immer gewesen sein mag.^^ In der Praxis hat die Strategie der Revolutionsprophylaxe und des geordneten, gleichsam optimierten Rückzugs vor den Kräften des Wandels als geschichtsphilosophische Lehre aus der englisch-französischen Modernisierungserfahrung in erster Linie bei den bürokratischen Eliten Deutschlands einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Die Hochkonservativen dagegen hatten mit ihrer Eixierung auf totale BesitzstandswahVgl. Gentz' Einleitung Über den Einfluß politischer Schriften, und den Charakter der Burkischen zu seiner Bearbeitung von Burkes Betrachtungen über die französische Revolution. 3. Aufl. Braunschweig 1838 sowie seine Schrift Über die Moralität in den Staatsrevolutionen, in; Friedrich Gentz: Ausgewählte Schriften. Bd 2; Politische Abhandlungen. Stuttgart, Leipzig 1837. Vgl. auch Ludwig Elm: Konservatives Denken 1789—1848/49. Darstellung und Texte. Berlin 1989. 1® Friedrich Ancillon: Über Souveränität und Staatsverfassungen. Ein Versuch zur Berichtigung einiger politischer Grundbegriffe. 2. Aufl. Berlin 1816. 57 f. 1^ Friedrich Ancillon: Über die Staatswissenschaft. Berlin 1820. XXIIl ff.
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rung und mit ihrer Interpretation der Welt als den Menschen nur zur treuhänderischen Verwaltung übergebenen Schöpfung Schwierigkeiten, zwischen Reformen in konservativer Absicht und Nachgeben gegenüber der Revolution zu trennen. Dies zeigt sich zum Beispiel an der Reaktion des Berliner Politischen Wochenblatts auf die Parlamentsreform von 1832, die in diesem Organ der preußischen Ordo-Konservativen nicht als Anpassung der englischen Verfassung an neue Zeitverhältnisse, sondern als konstitutioneller Dammbruch gewertet wurde. Englands Rolle bei der Niederschlagung der Revolution hatte auf den deutschen Liberalismus, für den die Frage der Außenorientierung untrennbar und unmittelbar mit Positionen im politiktheoretischen Diskurs verknüpft blieb, einen nicht minder nachhaltigen Einfluß. Auf der einen Seite profitierten die Liberalen davon, daß die Berufung auf englische politische Erfahrungen nicht ganz so selbstverständlich verworfen werden konnte wie auf solche, an denen der Blutgeruch der Französischen Revolution hing. Auf der anderen Seite waren weder das englische Engagement auf Seiten der Konterrevolution noch die harten Tatsachen der englischen Europapolitik nach dem Sturz Napoleons mit dem Bild der liberalen Musternation zu vereinbaren. George Cannings Außenpolitik und die Parlamentsreform von 1832 trugen zwar dazu bei, das Verhältnis der Liberalen zu England zu entspannen, konnten letzte Zweifel aber nicht ausräumen. Umgekehrt sprach gegen die Orientierung an Frankreich nicht nur die innenpolitisch belastende Stigmatisierung seiner revolutionären Vergangenheit, sondern auch die Tatsache, daß das napoleonische Hegemonialstreben dem sich entfaltenden deutschen Nationalbewußtsein ein antifranzösisches Sentiment implantiert hatte. Die komplizierte Gemengelage der Orientierungen und Motivationen tritt in Ernst Moritz Arndts kleiner Schrift Über das Verhältnis Englands und Frankreichs zu Europa geradezu exemplarisch hervor. Dort wurde gewarnt, daß „Englands Verfassung . . . für England die beste Verfassung" sei „und nicht für andere Staaten". Dies könne nicht „genug gesagt werden, weil es auch unter uns Menschen gegeben hat, die meinen, wenn sie alles engüsieren, das Vollkommenste zu machen."!^ Ein paar Sätze weiter schwelgte Arndt: „So hat England durch Beispiel und Lehre als eine Lichtsonne der Freiheit wohltätig auf die Welt gewirkt; . . . Auf uns Deutsche hätte dieses Land doppelt wirken sollen, weil seine Freiheit urVgl. Wolfgang Scheel: Das „Berliner Politische Wochenblatt“ und die politische und soziale Revolution in Frankreich und England. Göttingen 1964, 128 ff. Ernst Moritz Arndt: Über das Verhältnis Englands und Frankreichs zu Europa, o. O. 1813. 52.
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sprünglich germanisch, aus germanischen Bräuchen und Weisen erwachsen, auch nachher aus germanischen Bestandteilen der Völker und Gesetze größtenteils entwickelt ist."20 Vor allem aber beeindruckte Arndt, daß England seit 1793 „für die europäische Freiheit und Ehre gestritten" habe.2i Auf den ersten Blick hat es den Anschein, als hätten die deutschen Liberalen in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nichts anderes getan, als die bisweilen höchst technische Debatte über die beste Verfassung fortzusetzen, die die französische Aufklärung begonnen hatte.22 Aber dieser Eindruck ist falsch. Die Tiefenstruktur des aufklärerisch-liberalen Diskurses hatte sich gewandelt — und zwar in einer Weise, die den Status des englischen Modells im deutschen Verfassungsdenken des 19. Jahrhunderts entscheidend beeinflußen sollte. Hatte im Frankreich des 18. Jahrhunderts und zu Beginn der Revolution die pure Vernünftigkeit des Regelmechanismus im englischen Verfassungsarrangement im Vordergrund gestanden, so besaßen die institutioneilen Optionen der deutschen Liberalen nun eine gesellschaftliche Wertigkeit, welche die liberale Einschätzung der Macht- und Legitimitätsverhältnisse in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts widerspiegelte, ln diesem Zusammenhang erwies es sich als unschätzbarer Vorteil des englischen Modells, daß es eben den sozialen und politischen Kräften einen eigenen Platz im Verfassungsgefüge zuwies, die gemäßigte Liberale wie Dahlmann oder Welcher institutionell in eine neue politische Ordnung integrieren wollten, sei es daß sie diese für zu stark, für zu legitim oder auch für verfassungspolitisch nützlich hielten. Welcher etwa rechtfertigte, hierin an genuin englische, aber deshalb nicht weniger realitätsfeme Verfassungslehren des ausgehenden 17. und des 18. Jahrhunderts anknüpfend, die Adelskammer aus ihrer Mittlerfunktion zwischen Monarchie und Volksvertretung. 23 Jedenfalls gab die englische Verfassung, wenn sie nur richtig mißverstanden wurde, ein ideales Schnittmuster für einen historischen Kompromiß mit den alten Eliten und der Monarchie ab. Entschiedenere Liberale wie Rotteck oder Murhard waren sich dieser Gefahr wohl bewußt. Rotteck etwa teilte den Respekt seines Kollegen Welcher für die Verfassungsphysik des englischen Modells nicht. Seiner 20 21
Ebd. 53. Ebd. 94.
22 Th. Wilhelm (wie Anm. 2). 23 Carl Theodor Welcher: (Art.) Adel, in: Staatslexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften. Hrsg, von Carl von Rotteck und Carl Welcker. 3. Aufl. Altona 1834—1843. Bd 1. 345 f.
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Auffassung nach reichten weder die historische Wirklichkeit Englands noch eine auf dieser Grundlage entwickelte politische Theorie an den Erkenntnisstand heran, auf den die französische Aufklärung die Staatswissenschaft geführt hatte. Die Vorbildfunktion des englischen politischen Systems war für ihn nur noch von theoriegeschichtlichem Interesse. Wohl hatte England der politischen Vernunft einen wichtigen Impuls gegeben, einen Weg gewiesen. Aber auf diesem Weg hatte die französische Staatstheorie der Revolution Fortschritte erzielt, welche die Orientierung an einem Modell England anachronistisch erscheinen ließ.^'* Murhard ging sogar noch einen Schritt weiter. Er leugnete, daß das englische Verfassungsarrangement losgelöst von seinem sozialen Kontext interpretiert werden dürfe. Statt dessen lenkte er den Blick auf die Tatsache, daß der soziale Kontext, in dem die englischen Institutionen wirkten, ihre Funktion gründlich veränderte. Anders gesagt verlangte Murhard eine klare Unterscheidung zwischen der institutionellen Oberflächen- und der gesellschaftlichen Tiefenstruktur der englischen Verfassung, die nach seinem Urteil so viel nicht miteinander zu tun hatten.25 Es ist bezeichnend, daß Murhard nach der Reform von 1832 dem englischen System sehr viel positiver gegenüberstand und die englische Geschichte ganz im Sinne des whig view als eine Aufforderung zu kontinuierlichem politischen Fortschritt interpretierte: „Wie der Bildhauer an seiner Lieblingsstatue nie zu bessern müde wird, so — bemerkt ein neuerer englischer Publizist — wurden die Engländer in allen Epochen ihrer Geschichte nie lässig, den Bau ihrer Verfassung mehr und mehr zu vervollkommnen. Als man in der letzten Zeit angefangen hatte, diese Kunst weniger fleißig zu üben, da zeigten sich bald Übel der beunruhigendsten Art, welche unvermeidlich aus dem vorübergehenden Stillstand erwuchsen und für die Nachlässigkeit in diesem straften."25 Der rationalistische Zuschnitt der Reformbül schien Murhard ein Schritt in die richtige Richtung. Aber ganz wurde er seine Zweifel nicht los. Er spürte, auch wenn er das so explizit nicht formulierte, daß die Engländer wohl wieder einen Weg finden würden, das Diktat der Vernunft zu umgehen.27 Carl Rotteck: Lehrbuch des Vernunftrechts und der Staatswissenschaft. Bd 2: Lehrbuch der allgemeinen Staatslehre. 2. Aufl. Stuttgart 1840. 25 Friedrich Murhard: Das Recht der Nationen zur Erstrebung zeitgemäßer, ihrem Kulturgrade angemessener Staatsverfassungen. Frankfurt 1832. 347 ff, bes. das Urteil über die Glorreiche Revolution 349 ff. 25 Friedrich Murhard: (Art.) Englands Staatsverfassung. In: Staatslexikon (wie Anm. 23), 170 f. 22 S. etwa Murhards Einschätzung der Entwicklung der pohtischen Kultur nach der Parlamentsreform, ebd. 150.
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So führte auch die Debatte innerhalb des liberalen Lagers zu einer Rehistorisierung des englischen Modells. Dies wiederum hatte zur Folge, daß es in den Augen der entschiedeneren Liberalen, welche die normative Vernunft auf dem Altar des historischen Prozesses nicht opfern wollten, an Attraktivität verlor. Sie richteten den Blick auf Frankreich oder wie im Fall Rottecks auch nach Amerika, wo die Kräfte der Geschichte entweder durch die Revolution schon einmal überwunden worden waren oder es überhaupt keine nennenswerten historischen Voraussetzungen gegeben hatte. Zugleich bekam der Bezug auf das englische Modell eine eher konservative Konnotation. Das machte die Antwort auf die Frage, was die Implementierung des englischen Modells in der Praxis bedeuten würde, um so delikater. Für die gemäßigten Liberalen war die Schlußfolgerung des radikalen Flügels, daß eine Gesellschaft, die sich als reformunfähig erwies, eben auf revolutionärem Wege verändert werden müsse, alles andere als selbstverständlich. Für sie bestanden eher begründete Zweifel an der Anwendbarkeit eines politischen Modells, das nur auf dem Wege der Revolution in die Praxis umgesetzt werden konnte. Auf der anderen Seite waren sie sich aber auch darüber im klaren, daß sich ohne politischen Druck, der auch den Rechtsbruch nicht ausschließen durfte, wenig ändern würde. Der Respekt vor dem historischen Prozeß und die Forderung nach eindeutigen und notfalls erzwungenen Veränderungen in der politischen Ordnung mußten also irgendwie in Einklang gebracht werden. Dahlmann versuchte es mit einer historischen Theorie, die wiederum auf England Bezug nahm und der konservativen die liberale Deutung der historischen Entwicklung Englands entgegenstellte. England und Deutschland, so argumentierte er, hätten in der fernen germanischen Vergangenheit gemeinsame freiheitliche Wurzeln. In England sei aus diesen Wurzeln in einem organischen Prozeß der Baum der Freiheit gewachsen. Natürlich habe es Rückschläge gegeben wie die Normannische Eroberung, die der angelsächsischen Freiheit den Garaus gemacht habe, oder die Experimente der Tudors und Stuarts mit dem Absolutismus. Aber diese retardierenden Momente im Drama der Entfaltung der Freiheit seien immer in einer Weise beseitigt worden, die den linearen und
28 Vgl. zur Problematik im allgemeinen Michael Neumüller: Liberalismus und Revolution. Das Problem der Revolution in der deutschen liberalen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts. Düsseldorf 1973.
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organischen Geschichtsverlauf nicht wirklich zu stören vermochten.^^ Der große Unterschied zwischen der englischen und der französischen Revolution lag für Dahlmann darin, daß die englische im Einklang mit dem historischen Prozeß erfolgt war, die französische aber einen Bruch herbeigeführt hatte. In seinem Buch über die Englische Revolution, das die zwei Jahrhunderte von Heinrich VII. zu Wilhelm III. umspannt, schloß Dahlmann mit der These, daß die Glorreiche Revolution nur eine unter den Edwards bereits erreichte historisch-politische Entwicklungsstufe wiederhergestellt und eben dadurch die Grundlage für die weitere konstitutionelle Entwicklung der englischen Freiheit geschaffen habe.^o In seinem folgenden Buch über die Französische Revolution endete Dahlmann mit der Metapher, daß Gott die französischen Revolutionäre wie ungelehrige Schüler züchtige, weil sie den Versuch unternommen hätten, in einem historischen Kontext, in dem die Monarchie so tief verwurzelt sei, Republiken nach klassischem Muster zu errichten. In Deutschland dagegen war die freiheitliche Tradition nach Dahlmann durch die Revolution der absoluten Monarchie unterbrochen worden, die indes nur Unruhe und Instabilität hervorgebracht habe, weil der Absolutismus der wahren Natur des deutschen Charakters fremd sei. So versuchte Dahlmann den Schwarzen Peter der Revolution, des Bruchs mit der Geschichte, dem Absolutismus und seinen Erben zuzuschieben und identifizierte die liberale Erneuerung Deutschlands mit der Rückkehr zu einer organischen historischen Entwicklung. Mit anderen Worten: Die liberale Revolution erschien als die echte deutsche Konterrevolution, welche fürderhin politische Stabilität garantieren werde, weil sie die Harmonie zwischen der Gegenwart und der wahrhaft normativen Vergangenheit des deutschen Volkes wiederherstellen werde. Dahlmann war schließlich so besessen von dem Gedanken der historischen Kontinuität, daß er die Parlamentsreform von 1832 mit einigem Mißtrauen betrachtete. Wie ein englischer Konservativer warnte er vor einem allzu raschen politischen Wandel, weil er das empfindliche englische Verfassungsgewebe zerreißen könne. Erst später erkannte er in der Great
Vgl. hierzu Klaus von See: Die Ideen von 1789 und die Ideen von 1914. Völkisches Denken in Deutschland zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg. Frankfurt 1975. 32 ff. 30 Friedrich Christoph Dahlmann: Geschichte der englischen Revolution. 4. Aufl. Leipzig 1847. 11 u. 380 ff, 31 Friedrich Christoph Dahlmann: Geschichte der französischen Revolution bis auf die Stiftung der Republik. Leipzig 1847. 474.
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Reform Bill einen wichtigen Beitrag zur Modernisierung Englands, das nach der Reform wesentliche Fortschritte machen würde. Der Gedanke der absolutistischen Revolution hatte allerdings seine Tücken und war nicht umsonst auch in altständischen und hochkonservativen Kreisen, die das innovative Potential der absolutistischen Monarchie fürchteten, populär. Denn er zwang entweder zu der Forderung nach der Rückkehr zum ständestaatlichen Status quo oder zu der problematischen Annahme, daß sich in den über eineinhalb Jahrhunderten absolutistischer Herrschaft gleichsam unterirdisch eine freiheitliche Grundströmung nicht nur erhalten, sondern weiter entfaltet habe, mit der die liberale Bewegung nun rechnen könne. Dahlmann ließ sich hierauf nicht ein, sondern meinte, daß intensive Besinnungsarbeit zum einen den Gefahren des Kontinuitätsverlusts wehren und zum anderen den Mangel an politischem Bewußtsein in der deutschen Bevölkerung beheben könne, welcher der liberalen Sache so hinderlich sei.^^ ln letzter Instanz nützten dergleichen Martipulationen des historischen Arguments freilich wenig. Auch die normative Transformation der germanischen Frühzeit, die später in einer ganz und gar nicht liberalen Vorstellungswelt bedeutsam werden sollte, konnte nicht verhindern, daß die Historisierung des Verfassungsdiskurses dem pragmatischen Konservativismus der bürokratischen Eliten in die Hände arbeitete, in deren Augen England nicht wegen seines Verfassungsmodells, sondern als historischer Entwicklungstypus von Interesse war. In diesem Sinne formulierte Leopold von Ranke 1832, zwei Jahre nach der französischen Juli-Revolution, in einer vergleichenden Analyse der politischen Verhältnisse in Frankreich und Deutschland in der Historisch-politischen Zeitschrift: „Nachahmung ist bei jeder menschlichen Tätigkeit bedenklich und hemmend; in Staatseinrichtungen aber ist sie — es kann nicht anders sein — höchst gefährlich. Wie schwer ist es schon irgend eine Idee, sie sei so rein und angemessen wie sie wolle, ins Leben zu führen! Sowie man aber nachahmt und herübemimmt, hat man es überdies nicht mehr mit reinen Gedanken, mit dem Ideale zu thun: man sucht die Formen, die ein Fremdes Leben hervorgebracht hat, auf das eigene zu übertragen. Was uns als Idee erscheint, es ist oft nur das Abstractum einer fremden Existenz. Wie aber dann? Sollte es nicht sein Prinzip auch bei 32 Friedrich Christoph Dahlmann: Die Politik auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustän-
de zuriickgeführt. Göttingen 1835, Bd 1, 65 ff, 70.
33 Ein Beispiel für solche Besinnungsarbeit lieferte Dahlmann schon früh, nämlich in der Schrift Ein Wort über Verfassung, abgedruckt in: Dahlmann: Kleine Schriften und Reden. Stuttgart 1896. Vgl. bes. 58 und 65.
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uns geltend machen? Immer tiefer und tiefer wird die Wirkung gehen, und was in einem anderen Lande natürlich ist, kann das unsere zur Revolution führen. Als man die Mißbräuche des altfranzösischen Staates abzuschaffen unternahm, war es ein großes Übel, daß man englische, ja nordamerikanische Formen ins Auge faßte. Jene Gedanken, die in Nordamerika aus dem Dasein unmittelbar hervorgingen, es reinigten und belebten, haben dazu beitragen müssen, das alte Frankreich von Grundaus zu zerstören. "34 Damit war die politiktheoretische Quintessenz des Flistorismus formuliert. England stand eine große Zukunft bevor, während Frankreich für seine Mißachtung des historischen Entwicklungsgesetzes mit einer endemischen politischen Instabilität bezahlte. Deutschland konnte daraus nur eine Lehre ziehen: Die wahre Herausforderung des 19. Jahrhunderts lag in der Schaffung des „ächt deutschen" Staates.35 Verwissenschaftlichung und Archaisierung des englischen Modells in der staatsrechtlich reduzierten Betrachtung
Den vormärzlichen Bürokratien gelang diese Gratwanderung zwischen Innovation und Tradition, die Aussöhnung der Erneuerung mit dem historischen Prozeß freilich nicht. Die Strategie der Revolutionsprophylaxe durch defensive Modernisierung scheiterte, weil sie keine Antwort auf die nationale Frage gab und mit der gesellschaftlichen Entwicklung nicht Schritt hielt. Mit der Revolution von 1848 wurde in der Geschichte der deutschen politischen Kultur ein neues Kapitel aufgeschlagen. Zwar hatte der deutsche Liberalismus keinen glanzvollen Sieg errungen. Aber er hatte den Kampf um die Neuordnung der politischen Verhältnisse in Deutschland auch nicht ganz verloren. Die alten Eliten hatten weitreichende Konzessionen gemacht, darunter immerhin die Konstitutionalisierung Preußens. Und sie boten dem Liberalismus, obwohl er die politische Irütiative verloren hatte, die institutioneile Integration in einem Verfassungssystem an, das durchaus im liberalen Sinne entwicklungsfähig war und sich auch tatsächlich so entwickeln sollte. Mehr noch: Auch die Konservativen machten sich den Grundsatz der Realpolitik zu eigen. Sie begriffen sehr schnell, daß sie das neue Forum der Politik nicht ihren Gegnern überlassen durften. So wenig sie ihre Vorbehalte gegenüber Leopold von Ranke: Frankreich und Deutschland (1832). In: Ranke: Zur Geschichte Deutschlands und Frankreichs im neunzehnten Jahrhundert. Sämtliche Werke 2. u. 3. Gesamtausgabe.
Leipzig 1887. Bd 49/50. 72. 35 Ebd. 71.
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dem Parlament und der Vorstellung von Politik, die sich damit verband, aufgaben, so schnell lernten sie doch — freilich immer in Sichtweite ihrer Fliehburgen, Militär, Bürokratie und Krone — die Regeln des parlamentarischen Spiels zu beherrschen. Das waren günstige Voraussetzungen für eine umfassende Rezeption des englischen Modells. Zum einen schien es in verfassungsrechtlicher und institutioneller Hinsicht den politischen Gegebenheiten im nachrevolutionären Deutschland hervorragend zu entsprechen. Zum anderen empfahl es sich allein schon deshalb, weil es anders als die ewigen französischen Verfassungsprovisorien lange und erfolgreich politische Stabilität garantiert hatte — eine kaum zu unterschätzende Eigenschaft in einem Land, daß so intensiv über die Gefahren revolutionärer Umbrüche nachgedacht hatte und nun mit dem Gedanken leben mußte, daß die Revoluhon keine rein französische Krankheit mehr war, sondern seit 1848 auch zur deutschen historischen Erfahrung gehörte. Die politische Öffentlichkeit setzte sich in den 1850er und 1860er Jahren denn auch noch einmal intensiv mit den englischen Verhältnissen auseinander. 36 Das geschah freilich in einer Weise, die den Stellenwert der Berufung auf England im deutschen Verfassungsdiskurs noch einmal veränderte und die ganze Komplexität der Perzeptions- und Rezeptionsproblematik zu Tage treten läßt. Auf der einen Seite sorgte Rudolf von Gneist für eine methodische und inhaltliche Innovation in der Auseinandersetzung mit dem englischen Modell. Er bemühte sich, die Kritik des Historismus am Transfer politischer Formen von einem historischen Kontext in den anderen, die den Verfassungsdiskurs der Liberalen so sehr belastet hatte, produktiv aufzuheben. Er brach nämlich den historistischen Generalvorbehalt auf, indem er mit der Eorderung nach einer eingehenden Analyse der Funktionsvoraussetzungen der politischen Ordnung Englands ernst machte. Der Hypostasierung des historischen Prozesses begegnete er mit dem Argument, daß die nicht zu leugnenden Transferprobleme vor allem deshalb aufträten, weil bei der Analyse des Modells einige für seine Funktionsfähigkeit wichtige Elemente übersehen worden seien. „Die Selbsttäuschung, in welcher sich ältere constitutionelle Theorien bewegten", schrieb Gneist in der Vorrede zur zweiten Auflage seiner Geschichte des Self-Government, „beruhte hauptsächlich darauf, daß die Zwischenglieder, mit welchen sich Verfassung und Verwaltung aneinander ketten, nicht klar gelegt waren, und daß deshalb die Bewegung, welche 36 Vgl. hierzu umfassend Lamer (wie Anm. 2),
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durch die äußerliche Anfügung von Parlamentskörpern an den geschlossenen Beamtenstaat des Continents entsteht, nicht hinreichend gewürdigt und nicht richtig berechnet wurde". „Der Mangel der älteren Theorien und des daraus von Zeit zu Zeit hervorgehenden , Allgemeinen Staatsrechts' beruhten auf der Verkennung der gesellschaftlichen Grundlagen des wirklichen Staats.Gneists Popularisator Eduard Fischei sprach von „naiven Anschauungen von der englischen Verfassung, welche jeder Kritik enthusiastisch den Weg versperrten''^^ und sah auch in Vincke einen „stark ideahstische(n) Darsteller".3^ Gneists Lebenswerk wurde so die Erforschung der politischen Infrastruktur der parlamentarischen Ordnung Englands. In einem voluminösen Werk nach dem anderen hämmerte er seinen Lesern ein, daß das Erfolgsgeheimnis des englischen politischen Systems darin liege, daß es auf dem soliden Fundament der lokalen und regionalen Selbstverwaltung erbaut sei. Selfgovernment war für Gneist der Schlüssel zum richtigen Verständnis der englischen politischen Kultur. Denn Selfgovernment strukturierte die amorphe Gesellschaft, schuf korporative Identitäten, disziplinierte die Aristokratie in konkreten und alltäglichen Pflichten und wirkte darüber hinaus ganz grundsätzlich als Schule der Politik.40 Gneist gab sich freilich nicht der Illusion hin, daß in Preußen oder Deutschland auf einen Schlag eine vergleichbare Infrastruktur geschaffen werden könne. Aber er hielt manche der in Deutschland vorhandenen Formen der kommunalen Selbstverwaltung in diesem Sinne durchaus für entwicklungsfähig. Auf der anderen Seite geriet die Auseinandersetzung mit dem englischen Modell in der deutschen Verfassungsdiskussion der 1850er und 1860er Jahre auf Bahnen, die den Modemisierungsimpuls, der bislang von der Englandorientierung ausgegangen war, entscheidend abschwächte und in gewisser Weise sogar in sein Gegenteil verkehrte. Denn was dort als englisches Modell gehandelt wurde, das hatte mit dem zeitgenössischen parlamentarischen System wenig zu tun und stellte in vielen Punkten eher eine Abstraktion der Verfassungsverhältnisse des 17. Jahrhunderts dar. Die interessanten Ansätze zu einer Theorie der 37 Rudolf Gneist: Geschichte und heutige Gestalt der englischen Communalverfassung oder des Selfgovernment. 2. völlig umgearbeitete Aufl., 2 Bde, Berlin 1863, IX u. X. 38 Eduard Fischei: Die Verfassung Englands. 2. verb. Aufl. Berlin 1864. V. 39 Ebd. 6. ^ Vgl. bierzu besonders die Dritte Abteilung seiner Gescbicbte der englischen Communalverfassung, die noch einmal das Wesen des Selfgovernment in vergleichender Perspektive zusammenfaßt und die anwendbaren Grundsätze herausarbeitet: ebd. Bd 2. 1209 ff.
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parlamentarischen Repräsentation, die Robert von Mohl unmittelbar vor und nach der Revolution von 1848 entwickelt hatte, kamen nicht zum Tragen.41 Ein Grund hierfür liegt sicherlich darin, daß die Interpreten und Vermittler der englischen Verfassungsgeschichte in jenen Jahren in den Kategorien der deutschen Staatsrechtslehre dachten. Es war ihnen zwar nicht fremd, zwischen Verfassungstheorie und Verfassungswirklichkeit zu differenzieren. Aber allein diese Unterscheidung war dem Gegenstand schon unangemessen und verstellte den Blick für die elementare Bedeutung von staatsrechtlich nicht sanktionierten Verfassungsübungen im englischen politischen Leben. So mußte der Versuch, die ungeschriebene englische Verfassung niederzuschreiben, zu einem systematischen historiographischen Mißverständnis geraten. Nicht einmal ein so ausgewiesener Kenner der englischen Verfassungsgeschichte und des englischen Verfassungsrechts wie Rudolf von Gneist, der, wie gezeigt, in anderem Zusammenhang überaus differenziert zu analysieren und zu argumentieren wußte, brachte es über sich, solchen Konventionen Verfassungsrang zuzubilligen, solange sie nicht durch Statut sanktioniert waren. So diagnostizierte er zwar klar, daß das Unterhaus im Verlauf der letzten 150 Jahre zum alleinigen Gravitationszentrum der englischen Politik geworden war, aber er sah darin eben nur einen auch nach anderthalb Jahrhunderten noch staatsrechtlich unverbindlichen und grundsätzlich revidierbaren Verfassungsbrauch.^ Der Jurist Gneist ließ hier den Politikwissenschaftler Gneist im Stich. Kein Wunder, daß ein solcher Ansatz dem deutschen Publikum einen ganz schiefen Eindruck von den politischen Kräfteverhältnissen in England und im besonderen vom relativen politischen Gewicht der Krone und des Oberhauses verschaffte. Eben dieser Umstand gibt zu denken. Es lag keineswegs nur am staatsrechtlichen Erkenntnisraster, wenn die Historiker und Theoretiker des englischen Modells in den 1850er und 1860er Jahren zu einer systematischen Eehleinschätzung der zeitgenössischen englischen Verfassungsverhältnisse gelangten. Vielmehr stand die deutsche Englandperzeption nach 1848 ganz unter dem Eindruck der Macht- und Legitimitätsverteilung, die der historische Kompromiß im Gefolge der Revolution hervorgebracht hatte. Die Orientierung an einem englischen Modell, S. Robert von Mohl: Politische Schriften. Eine Auswahl hrsg. von Klaus von Beyme. Köln, Opladen 1966. Kap. V. S. die Würdigung bei Lamer: Parlamentarismus (wie Anm. 2). 13 ff.
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das, sofern es denn überhaupt eine historische Grundlage besaß, mehr dem 17. als dem 19. Jahrhundert zuzurechnen war, war der Herausbildung eines parlamentarischen Systems sicherlich nicht förderlich. Sie sollte vielmehr dazu beitragen, jene dichothomische Kombination von bürokratisch-monarchischem Staat und parlamentarischer Repräsentation im Reichstag, die oft als Pseudokonstitutionalismus bezeichnet wird, für die Liberalen akzeptabel zu machen. Aber sie schloß auch nicht aus, daß sich innerhalb des spezifisch deutschen Verfassungskompromisses ein kräftiges parlamentarisches Leben entwickelte, von dem der preußische Verfassungskonflikt der 1860er Jahre beredtes Zeugnis ablegt.43 Es kommt nicht von ungefähr, daß diese Stemstunden des deutschen Liberalismus lebhaft an die Verfassungskämpfe im England des 17. Jahrhunderts erinnern. Wer in diesen Kategorien dachte, der konnte sich letztlich aber auch mit Bismarcks Indemnitätsvorlage als einer Restauration des Verfassungskompromisses abfinden. Darin kommt die ganze Doppelbödigkeit der Rezeption einer — wie gesagt — archaischen Version des englischen Modells zum Ausdruck. Einerseits wirkte es ganz ohne Zweifel stabilisierend auf den historischen Kompromiß nach 1848 und gab dem Liberalismus Impulse. Andererseits verschleierte es die Unausweichlichkeit eben der Konflikte, die in England das parlamentarische System hervorgebracht hatten.^ Während sich die Liberalen mühten, ihre archaisierende Version des englischen Modells in den Dienst der Modernisierung der deutschen politischen Kultur zu stellen, verstanden es die Konservativen, allen voran Bismarck selbst, eine sehr moderne Kritik der jüngeren Entwicklungen im englischen Verfassungsleben für den entgegengesetzten Zweck zu nutzen. Im Zentrum ihrer Argumentation stand die Beobachtung, daß daß die vielgerühmte Trinität von King, Lords und Commons zu einer leeren Formel verkommen sei und in Wahrheit das Unterhaus alle Macht an sich gerissen habe.'^^ Aus dieser Beurteilung, die den Kern der Sache besser traf als die meisten Analysen aus dem liberalen Lager, sprach freilich alles andere als Resignation. Die Konservativen gaben keineswegs zu erkennen, daß sie sich mit einer englischen Zukunft des deutschen ^ Vgl. hierzu Günther Grünthal: Parlamentarismus in Preußen 1848/49—1857/58. Preußischer Konstitutionalismus — Parlament und Regierung in der Reaktionsära. Düsseldorf 1982. ** Vgl. hierzu auch Helgard Hoffmeister: Zur Beurteilung des englischen Parlamentarismus durch die junkerlich bourgeoise Ideologie nach 1871. ln: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin. 3 (1984), 289—295; dort besonders die Ausführungen zu Walcker 292 ff. ^5 Lamer: Parlamentarismus (wie Anm. 2). 27 ff, bes, 35 ff.
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Parlamentarismus schon abgefunden hatten. Im Gegenteil: Ihre Parlamentarismuskritik sollte nicht nur belegen, wie Recht sie mit ihren Zweifeln an der Praktikabilität der liberalen Verfassungsideale schon immer gehabt hatten, und darüber hinaus bei den Liberalen die Einhaltung des historischen Kompromisses anmahmen. Der aktuelle Stand der englischen Verfassungsentwicklung sollte die Liberalen auch unter Verdacht stellen, ein falsches Spiel gespielt zu haben, als sie England als Modell für den Verfassungsausgleich offerierten. So verstrickte die Sorge um den historischen Kompromiß die Liberalen nur noch tiefer in ihre archaisierenden Interpretationen der englischen Verfassung. Die Entfaltung der parlamentarischen Regierung in den Jahrzehnten nach der Parlamentsreform von 1832 mit all ihren irritierenden Begleiterscheinungen wie dem Mehrheitsprinzip, dem Kabinettssystem, der Interessenrepräsentation und der Parteienherrschaft konnten sich aus dieser Perspektive nur als historische Fehlentwicklungen ausnehmen. Diese Schlußfolgerung freilich ging selbst gemessen an der noch jungen Geschichte des deutschen Parlamentarismus zu weit. Aber es ist nicht zu verkennen, daß der deutsche Liberalismus mit den genannten Phänomenen seine liebe theoretische Not hatte. Nicht nur bei Gneist stellten sich seine theoretischen Prämissen der politikwissenschaftlichen Analyse immer wieder in den Weg. Überdies mehrten sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts im politischen Leben Englands die Züge, die Zweifel daran aufkommen ließen, ob die liberale Musternation noch auf dem richtigen Weg sei. Beispielsweise schockierten die Reformen in der englischen Lokal- und Regionalverwaltung am Ende des Jahrhunderts nicht nur den alten Gneist, der darin sicherlich nicht nur eine Gefahr für England, sondern ebenso einen Affront gegen sein um die Idee des Selfgovernment kreisendes wissenschaftliches Lebenswerk erblickte. Auch die jüngere Generation der Staatsrechtslehrer zeigte sich, wie etwa Bornhak, betroffen. 47 All diese Faktoren trugen dazu bei, daß die historische und theoretische Auseinandersetzung mit England als dem historischen Modellfall des liberalen Verfassungsstaates im deutschen Verfassungsdenken der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts an Bedeutung verlor. Hinzu kam, daß das Zeitalter der Klassik in der politischen Theoriebildung zu Ende ging und daß der Sozialismus — die neue politische und theoreti« Vgl. ebd. bes. 80 ff u. 85 ff.
^ Conrad Bornhak: Die sozialen Grundlagen des öffentlichen Rechts in England. In: Zeitschrift Die neueren Verwaltungsre-
für die gesamte Staatswissenschaft 49 (1983), 645—666 sowie ders.: formen in England. In: Preußische Jahrbücher 63 (1889) 84 ff.
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sehe Kraft, die die alten Fronten aufbrach — an dem aus seiner Perspektive eher abstrus anmutenden Überbauphänomen der englischen Verfassung wenig Interesse hatte. Statt dessen rückten nun — und nicht nur in der sozialistischen Denktradition — Wirtschaft und Gesellschaft der ersten Industrienation Europas in den Vordergrund des gesellschaftswissenschaftlichen Diskurses. Hegels Schrift über die Reformbill im Kontext des deutschen Englanddiskurses
Hegels Schrift über die Reformbill liegt quer zu dem Diskurs, dessen Linien ich — freilich in groben Umrissen — nachzuziehen versucht habe. Denn in einem waren sich Konservative und Liberale einig, ob sie nun davor erschraken oder ob sie darauf mit Bewunderung schauten — und das war Englands Modernität und Überlegenheit. Genau in diesem Punkt jedoch war Hegel ganz anderer, ja entgegengesetzter Meinung. Sein Bild Englands war das eines Landes, das im historischen Prozeß der Entfaltung der Vernunft zurückgeblieben war und den Sprung, den auf dem Kontinent Frankreich und Deutschland, wenngleich in unterschiedlicher Weise, schon getan hatten, erst noch tun mußte. Das Modernitäts- und Rationalitätsdefizit Englands war für Hegel dabei keineswegs nur auf das politische System beschränkt, über dessen Eigentümlichkeiten er sich gut informiert zeigte. Es kennzeichnete die englische Gesellschaft im ganzen. Hegel verwies in diesem Zusammenhang auf das englische Recht, das nicht wissenschaftlich durchgebüdet seP®, auf die kirchlichen Verhältnisse, wo der Kirchenzehnt unter dem Schutz des Eigentumsrechts noch immer fortbestehe“*^, und bezog schließlich sogar die Agrarverfassung in sein Spektrum der Modernitätsdefizite ein: „Die gutsherrlichen Verhältnisse .. . gehen in England seit langem nicht mehr bis zur Hörigkeit der ackerbauenden Klasse, aber drücken auf die Masse derselben so sehr als die Leibeigenschaft, ja drükken sie zu einer ärgern Dürftigkeit als die Leibeigenen herab, Hegel nahm also nicht die Ebene der Pächter, sondern die der Landarbeiter in den Blick und maß den gesellschaftlichen Wirkungen der personenrechtlichen Gegebenheiten ungewöhnlich wenig Bedeutung zu. Sein ArguG. W. F. Hegel: Über die englische Reformbill. In: Politische Schriften. Hrsg, von Jürgen Habermas. Frankfurt a. M. 1966. 282. Vgl. speziell hierzu: H. Zumfeld: Hegel und der englische Staat. Mit besonderer Berücksichtigung der ReformbUl-Schrift. Diss. phil. Köln 1952. Hegel: Reformbill. 287 ff. 50 Ebd. 292 f.
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mentationsziel tritt dort noch klarer hervor, wo er die englischen mit den irischen Verhältnissen vergleicht. An Irland, im Hinterhof der englischen Prosperität, ließ sich am deutlichsten zeigen, daß es mit dem Mythos England so weit nicht her war, daß die Englandorientierung des politischen Diskurses, geschichtsphilosophisch gesehen, ganz grundlos war. Worunter die englische Gesellschaft und im besonderen die englische politische Kultur nach Hegel litten, das war der „Charakter des Positiven"5i; „Allein zu keiner Zeit mehr als heutigestags ist der allgemeine Verstand auf den Unterschied geleitet worden, ob die Rechte noch nach ihrem materiellen Inhalte nur positiv, oder auch an und für sich recht und vernünftig sind, und bei keiner Verfassung wird das Urteil so sehr veranlaßt, diesen Unterschied zu beachten, als bei der englischen, nachdem die Kontinentalvölker sich so lange durch die Deklamationen von englischer Freiheit und durch den Stolz der Nation auf ihre Gesetzgebung haben imponieren lassen."^2 Hier wird Hegels Entmythologisierungsabsicht explizit. Das englische Beispiel demonstrierte insofern, daß der historische Prozeß nicht gleichsam ex opere operato vernünftige Verhältnisse hervorbrachte, sondern daß Geschichte als Menschenwerk der Vernunftanstrengung der historischen Akteure bedurfte. Hegel distanzierte sich damit von der spezifischen Hypostasierung der Geschichte, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowohl bei konservativen als auch bei liberalen Autoren beobachten läßt. Historische Zustände bHeben für ihn immer auch meßbar — an einer absoluten Norm der Vernünftigkeit und der Moralität ebenso wie am Entwicklungsstand anderer Gesellschaften. In beiden Hinsichten bestand England Hegels Prüfung nicht. Wenn dem so ist, wäre freilich anzunehmen, daß Hegel die Reformbill als einen Schritt in die richtige Richtung begrüßte, einen Schritt, der Irrationalität, Modernitätsdefizite, überholte Geschichte abbaute. Hegel befand sich in diesem Punkt indes in einem Dilemma: Einerseits konnte er nicht umhin, die Defizite der Reformbill, die Konzessionen, die an manche Parlamentsmagnaten gemacht wurden, hervorzuheben. Gerade diese pragmatischen, einen historischen und politischen Kompromiß signalisierenden Züge der Reformbill hat Hegel als eher störend empfunden.^3 Andererseits weckte die Reformbill in Hegel die Befürchtung, daß 51 Ebd. 282. 52 Ebd. 53 Ebd. 318.
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sie einen revolutionären Prozeß auf den Weg bringen könnte. Zum einen erwartete er eine grundlegende Revision des parlamentarischen Konsensus, der die bisherige politische Kultur getragen hatte. In den neuen Wahlberechtigten sah er die Träger neuer Ideen, die mit den Interessen der herrschenden Oligarchie letztlich nicht vereinbar sein würden, obwohl der Grundkonflikt zwischen dem Reich des Positiven und dem Reich der Ideen nach Hegels Ansicht im Land der nüchternen Engländer weniger ausgeprägt in Erscheinung treten würde. Zum anderen sah Hegel die Gefahr, daß die Neubestimmung der politischen Funktion der parlamentarischen Opposition in der durch die Reform veränderten politischen Kultur den Ideologen, den hommes ä principes, zum Nachteil einer kompetenten Führung der Staatsgeschäfte größeren Einfluß einräumen könnte.^ Von der Konfrontation einer nicht vernünftig legitimierten Herrschaftspragmatik mit einer auf die Unterstützung des neuen Elektorats und der neuen Öffentlichkeit zielenden Prinzipienpolitik erwartete Hegel nichts Gutes. Seine Befürchtungen wirken, werden sie als Kommentar zur politischen Situation in England gelesen, allerdings ein wenig übertrieben. Ihr — wie ich meine — eigentlicher Sinn enthüllt sich erst auf den letzten Seiten der Hegelschen Schrift. Hegel prognostizierte dort nämlich, daß dieser Konflikt in England besonders hart ausgetragen würde, weil es zwischen der Privilegienpartei des positiven Rechts und den homines novi der neuen politischen Kultur keine vom Publikum unabhängige Vermittlungsinstanz gebe, die den Rationalisierungsprozeß des politischen und sozialen Systems steuern und den Konkurrenz- und Kampfcharakter der Geschichte zugunsten einer Optimierung der vernünftigen historischen Entwicklung suspendieren könne. Dieses Defizit hatte seinen Grund für Hegel darin, daß in England die Monarchie schon zu sehr an politischem Gewicht verloren hatte, um noch zur Legitimitätsquelle einer aufgeklärten und sachkompetenten Bürokratie werden zu können. Anders gesagt: In England gab es niemanden, der den historischen Prozeß für die Menschen in die Hand nehmen und sie unabhängig von ihren politischen Willensäußerungen zufriedenstellen konnte. Hegels Kommentar zur ReformbUl reflektiert insofern das im Deutschland der Reformen von oben seit den Tagen des aufgeklärten Absolutismus ausgeprägte Spannungsverhältnis zwischen Vernunft und politischer Partizipation. In einer sensiblen politischen Lage, ein Jahr 54 Ebd. 318 f. 55 Ebd. 321.
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nach der Juli-Revolution in Frankreich und unmittelbar vor einer einschneidenden Reform der englischen Repräsentativverfassung, die weitere Reformen nach sich ziehen würde, stellte Hegel dem Modell England das Modell Deutschland gegenüber — ein Modell, das einen Weg empfahl, die Steuerung des historischen Prozesses als Entfaltungsgeschichte der Vernunft zu optimieren.
II Hegel und die Reformbill
NORBERT WASZEK (PARIS)
AUF DEM WEG ZUR REFORMBILL-SCHRIFT Die Ursprünge von Hegels Großbritannienrezeption Für Hiroshi Mizuta, zum 75. Geburtstag „Des Herrn Prof. Hegel Ansehen und Einfluß nimmt noch immer zu; die Ministerien glauben in seiner Philosophie eine ganz legitime staatsdienerische, preußische zu besitzen und zu handhaben. Wie viel Freiheit, Konstitutionssinn, Vorliebe für England in dieser Richtung lebt und wirkt, ahnden sie nicht." K. A. Vamhagen von Ense (26. 12. 1826)i Die Einsicht, die Hegels Zeitgenosse und Freund, Varnhagen, in dem Satz artikuliert, der vorliegendem Beitrag als Motto dient, ist kein Gemeinplatz in der Galerie tradierter Hegel-Bilder und -deutungen geworden; sie ist vielmehr eine Einsicht, die in der modernen Hegelforschung erst rehabilitiert werden mußte und zwar oftmals gegen erhebliche Widerstände.^ Aus den vielfältigen Gründen, die sich für das Verschwinden der Varnhagenschen Auffassung anführen ließen, sei hier nur derjenige erwähnt, der implizit schon bei Varnhagen selbst anklingt: die Dominanz des Themenkomplexes Hegel und Preußen.^ Glaubten zunächst einige Ministerien, wie Varnhagen sich ausdrückt, Hegels Philosophie als eine staatsdienerische, preußische vereinnahmen zu können, sahen Freund und Feind in Hegels Denken bald danach das Gegenteil, d. h. dessen freiheitlich-oppositionelle Züge.'* Unabhängig von der Stellung, ^ Karl August Vamhagen von Ense: Blätter aus der preußischen Geschichte. Bd 4. Leipzig 1869. 160 (unsere Hervorhebung; N. W.). 2 Ein schlagendes Beispiel für die gegenläufige Tendenz bietet Norberte Bobbio, der trotz aller Sachkenntnis von Hegels Anglophobie spricht; N. Bobbio: Studi hegeliani. Torino 1981. 121. 3 Eine ausgewogene Darstellung des Verhältnisses von Hegel und Preußen bietet Otto Pöggeler: Hegels Begegnung mit Preussen. In: Hegels Rechtsphilosopohie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte. Hrsg, von Hans-Christian Lucas und Otto Pöggeler. Stuttgart-Bad Cannstatt 1986. 311—351. * Vgl. hierzu die breite Rezeptionsgeschichte von Hegels politischer Philosophie, die Henning Ottmann bietet: H. Ottmann: Individuum und Gemeinschaft bei Hegel. Bd 1 (alles): Hegel im Spiegel der Interpretationen. Berlin, New York 1977; spezieller zum Verhältnis von preu-
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die in diesen Kontroversen einzunehmen wäre, geriet die Auseinandersetzung um Hegel damit auf ein Terrain, auf dem Varnhagens Auffassung gar nicht mehr angemessen erörtert werden konnte. Auch mit R. Haym und J. Ritter, den doch wohl einflußreichsten Interpretationen von Hegels politischer Philosophie des 19. bzw. 20. Jahrhunderts, blieb die Debatte auf Gleisen, die von der Perspektive Varnhagens wegführen. Wie schon angedeutet, war Haym zwar nicht der erste, der Hegel als „Preußischen Staatsphilosophen" und als „Philosophen der Restauration" diffamierte, doch dominierte seine Version der Akkommodationsthese, und nicht etwa die sachlich gediegenere Darstellung von Karl Rosenkranz, das Hegel-Bild mehrerer Generationen.^ Erst vor dem Hintergrund dieser dominanten Hegelkritik Haymscher Provenienz wird die Stoßrichtung von Joachim Ritter vollständig nachvollziehbar: es folgt aus dem Widerspruch gegen die Identifikation von Hegel und Restauration, daß Hegel so nachdrücklich mit der Französischen Revolution in Verbindung gebracht wird.^ So erfolgreich wie Ritter mit diesem Gegenzug gewesen ist,7 so hat der signalhafte Titel seines Werkes für unsere Perspektive eine negative Nebenwirkung gehabt: obwohl Ritter deutlich auf Hegels Auseinandersetzung mit den britischen Ökonomen hinweist, ^ ist Hegel in der Folge sehr einseitig auf Frankreich festgelegt worden. Demgegenüber kann es zwar nicht darum gehen, den Erfahrungsgehalt britißischer Regierung und den politischen Optionen der Hegelschule: N. Waszek: Die Hegelsche Schule. In: Pipers Handbuch der politischen Ideen. Hrsg, von I. Fetscher und H. Münckler. Bd 4. München, Zürich 1986. 232-246, 252-254. 5 Rudolf Haym: Hegel und seine Zeit. Vorlesungen über Entstehung und Entwicklung, Wesen und Werth der Hegel'sehen Philosophie. Berhn 1857; zu Hayms Deutung und deren Motiven vgl. Hans-Christian Lucas: ,Wer hat die Verfassung zu machen, das Volk oder wer anders?' Zu Hegels Verständnis der konstitutionellen Monarchie zwischen Heidelberg und Berlin. In: Lucas/Pöggeler: Hegels Rechtsphilosophie (s. Anm. 3). 175—220, hier 177—184. - Karl Rosenkranz entfaltete seine Hegeldeutung insbesondere in den folgenden Werken: G. W. F. Hegels Leben. Berlin 1844; Apologie Hegels gegen Dr. Haym. Berlin 1858; Hegel als deutscher Nationalphilosoph. Berhn 1870. ® Joachim Ritter: Hegel und die Französische Revolution. (1957) 3. Aufl. Frankfurt 1972. 18: „Es gibt keine zweite Philosophie, die so sehr und bis in ihre innersten Antriebe hinein Philosophie der Revolution ist wie die Hegels." Es ist charakteristisch, daß Ritters Buch mit einer Kritik an Haym beginnt; vgl. N. Waszek: 1789, 1830 und kein Ende. Hegel und die Französische Revolution. In: Französische Revolution und Pädagogik der Moderne. Hrsg, von U. Herrmann und J. Oelkers. Weinheim, Basel 1989. (Zeitschrift für Pädagogik. Beiheft 24). 347—359, hier 348—350: „Joachim Ritter revisited". ^ Vgl. H. Ottmann (s. Anm. 4), 299 f: „der westlich ,liberalen' Deutung Hegels als des Lehrers des ,modernen' freiheitlichen Rechtsstaates hat Joachim Ritter in Deutschland so zum Durchbruch verholfen, daß die hegelianisch mittlere Hegelauslegung fast zum akademischen NormalfaU geworden ist." ® Vgl. z. B. Ritter (Anm. 6), 52 f.
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scher Politik, der in Hegels politischer Philosophie nachweisbar ist, gegen den französischen Erfahrungsgehalt von ,ancien regime' bis zur Julimonarchie auszuspielen^, doch gilt es, Hegels britische Quellen neben seinen französischen zu rehabilitieren. Indessen erschöpft weder der politische noch der politisch-ökonomische Kontext die Großbritannienrezeption Hegels. Eine angemessene Darstellung dieser Rezeption, das sei hier wenigstens angedeutet, müßte mindestens sieben Themenkomplexe umfassen!'’:
1) Hegels Interesse an und seine Reaktionen auf das politische Leben Großbritanniens!!, von den Anspielungen auf Pitt in den Anmerkungen zu Gart (1798)!2 bis zum ReformbUl-Aufsatz (1831); 2) Seine Auseinandersetzung mit den sozialen Verhältnissen Großbiitanniens!^ und sein sich daran anknüpfendes Studium der schottischen Ökonomen und Gesellschaftstheoretiker (Ferguson, Hume, Steuart, Smith)!4; ® Eine solche Vorgehensweise wäre schon deshalb unangemessen, weil auch die britische Innenpolitik der Zeit von der Auseinandersetzung mit und den verschiedenen Stellungnahmen zur Französischen Revolution entscheidend geprägt wurde; vgl. hierzu: }. H. Plumb: England in the Eighteenth Century. Harmondsworth 1950. 155: „Apart from the Industrial Revolution, there was no profounder influence than the French Revolution in moulding the course of English history in the eighteenth Century, and the development of its political expression in the nineteenth"; N. Waszek: Fox und Pitt. Spannungsfeld britischer Politik im Spiegel des Hegelschen Denkens. In: Lucas/Pöggeler: Hegels Rechtsphilosophie (s. Anm. 3). 111-128, hier 117. Zu diesem Thema gibt es bislang einerseits grobe Umrißzeichnungen, wie z. B. Horst Höhne: Hegel und England. In: Kant-Studien. 36 (1931), 301—326; andererseits Detailstudien wie die in den folgenden Anmerkungen genannten Arbeiten. 11 Z. A. Pelczynski: Introductory Essay. In: Hegel's Political Writings. Translated by T. M. Knox. Oxford 1964; Ders.: Hegel and British Parliamentarism. In: Lucas/Pöggeler: Hegels Rechtsphilosophie (s. Anm. 3). 93—110; Michael J. Petry: Hegel and the ,Morning Chronicle'. In: Hegel-Studien 11 (1976), 11—80; Ders.: Propaganda and analysis: the background to Hegel's article on the English Reform Bill. In: The State and Civil Society. Studies in Hegel's Political Philosophy. Hrsg, von Z. A. Pelczynski. Cambridge 1984. 137-158; Walter Jaeschke: Hegel's Last Year in Berlin. In; Hegel's Philosophy of Action. Hrsg, von L. S. Stepelevich und David Lamb. Atlantic Highlands, N. J. 1983. 31—48. Hegels erste Druckschrift. Vertrauliche Briefe über das vormalige staatsrechtliche Verhältnis des Waadtlandes (Pays de Vaud) zur Stadt Bern von Jean-Jacques Cart. Aus dem Französischen übersetzt und kommentiert von G. W. F. Hegel. Faksimiledruck der Ausgabe von 1798 mit einem Nachwort von Wolfgang Wieland. Göttingen 1970. 72 und 81 f. 13 Siehe Hegels Lektüre einschlägiger Artikel im Moming Chronicle und in der Quarterly Review; vgl. dazu: M. }. Petry (s. Anm. 11); G. Gilbert: The ,Morning Chronicle', poor laws, and Political Economy. In: History of PoUtical Economy 17 (1985), 507—521 (ohne Hegel-Bezüge, aber informativ über die sozialökonomischen Gehalte des Morning Chronicle); N. Waszek: Hegels Exzerpte aus der ,Quarterly Review'. In: Hegel-Studien 21 (1986), 9—25. 1^ Neben der marxistischen Tradition vgl. hierzu: Paul Chamley: Economie politique et Philosophie chez Steuart et Hegel. Paris 1963; M. Riedel: Die Rezeption der Nationalökonomie. In: Ders.:
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3) Seine Rezeption englischer (Shakespeare^^, Milton) und schottischer Literatur (z. B. Sir Walter Scott^^) und der ästhetischen Theorien von Shaftesburyi^ und Henry Home (Lord Karnes); 4) Seine Präsentation britischer Philosophen (Bacon, Hobbesi^, Locke, Berkeley, Hume, „Schottische Schule", etc.) in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie; 5) Seine Lektüre der britischen Historiker (Gibbon^^, Hume^o, Robertson) und seine Beurteilung von Englands Rolle in der Weltgeschichte2i;
6) Seine Erörterung der rechtlichen Verhältnisse und der englischen Rechtstheoretiker22; 7) Seine Auseinandersetzung mit der britischen Naturwissenschaft (z. B. Newton23) und Medizrn^^. Aus dieser breiten Rezeption sei unter dem Titel „Auf dem Weg zur ReformbUl-Schrift" im Folgenden eine entwicklungsgeschichtliche These zu Hegels Auseinandersetzung mit britischen Verhältnissen vorgetragen. Durch eine Betrachtung der Ursprünge dieser Auseinandersetzung soll vermieden werden, daß Hegels Großbritannien-Bild verkürzt, nämlich nur vom Ende her wahr genommen wird. Hegels Auseinandersetzung mit den schottischen Ökonomen und Gesellschaftstheoretikem (Adam Ferguson, David Hume, Sir James Steuart Studien zu Hegels Rechtsphilosophie. Frankfurt/Main 1969. 75—99; Henri Denis: Logique hegelienne et systmtes economiques. Paris 1984; N. Waszek: The Scottish Enlightenment and Hegel's Account of ,Civil Society'. With a foreword by Duncan Forbes. Dordrecht, Boston, London 1988. (Inter-
national Archives of the History of Ideas. Bd 120). Emil Wolff: Hegel und Shakespeare. In; Vom Geist der Dichtung. Hrsg, von Fritz Martini. Hamburg 1949. 120-179; H.-C. Lucas: Shakespeare. In: Hegel in Berlin. Ausstellungskatalog. Hrsg, von O. Pöggeler. Wiesbaden 1981. 246—253; F. Nicolin: Welche Shakespeare-Ausgabe besaß Hegel? In: Hegel-Studien 19 (1984), 305 —311. 15 N. Waszek: Hegels schottische Bettler. In: Hegel-Studien 19 (1984), 311—316, hier 315 f. 1^ C. F. Weiser: Shaftesbury und das deutsche Geistesleben, Leipzig, Berlin 1916. 1® Ludwig Siep: Der Kampf um Anerkennung. Zu Hegels Auseinandersetzung mit Hobbes in den Jenaer Schriften. In: Hegel-Studien 9 (1974), 155—207. 1^ Philippe Müller: Incidence sur Hegel de la lecture de Gibbon, ou: comment le phüosophe se releve ä lui-meme par la lecture de l'historien. In: Studia Philosophica 41 (1982), 161—176. N. Waszek: Hume, Hegel and History. In: Clio 14 (1985), 379 —392. 21 Hans-Christian Lucas: Die ,tiefere Arbeit'. Hegel zwischen Revolution und Reform. In diesem Bande: 207—234. 22 Dazu: M. /. Petry 1976 (s. Anm. 11); N. Waszek: Hegels Exzerpte aus der ,Edinburgh Review' 1817-1819. In; Hegel-Sfudien 20 (1985), 79-112. 23 M. /. Petry: Hegel's Criticism of Newton. In: Clio 13 (1984), 331—348; Hegel and Newtonianism. Hrsg, von M. J. Petry. Dordrecht, Boston 1993. 2'* Die Anmerkungen von M. J. Petry zu seiner englischen Ausgabe von Hegels Naturphilosophie sind hier eine reiche Fundgrube: Hegel's Philosophy of Nature. 3 Bde. London, New York 1970.
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und Adam Smith) wurde traditionell am Ende von Hegels Frankfurter Aufenthalt und in seiner Jenaer Periode angesiedelt.Entscheidend für diese Datierung war einerseits das Datum des verlorenen Steuart-Kommentares, das Karl Rosenkranz überliefert^^, andererseits die früheste Nennung von Adam Smith in einem Hegelschen Manuskript, dem 22. Fragment der Jenaer Systementwürfe I (GW. Bd 6. 323). Diese Datierung der Auseinandersetzung erscheint indessen als zu konservativ, weil darin die beiden gesicherten Daten (Frühjahr 1799, Wintersemester 1803/04) verabsolutiert werden. Daß die Auseinandersetzung spätestens dann geführt wurde, sagt noch nichts darüber, wann sie eingesetzt hat. Abgesehen davon, daß Hegel schon in seinen Stuttgarter Gymnasialjahren Adam Ferguson gelesen haG^, wenngleich es sich dabei um die deutsche Übersetzung der Institutes of Moral Philosophy (die Christian Garve unter dem Titel Grundsätze der Moralphilosophie Leipzig 1772 vorlegte) gehandelt haben dürfte und nicht um den originelleren und einflußreicheren Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft — An Essay on the History of Civil Society'^, sind hier die Gründe vorzutragen, die dafür sprechen, daß die Wurzeln von Hegels Interesse an den schottischen Ökonomen in seinen Berner Jahren zu suchen sind.^^ Daß Hegels Berner Jahre nicht so pauschal kritisiert werden können, wie dies etwa Ha5un und Hugo Falkenheim taten^^, haben schon Her25 Siehe z. B. die wichtigste marxistische Studie zu diesem Thema: Georg Lukacs: Der junge Hegel. Über die Beziehungen von Dialektik und Ökonomie. (1948) Frankfurt/Main 1973. Insbesondere die Abschnitte: „Die ersten ökonomischen Studien" und „Die Oekonomie der Jenaer Periode". Bd 1, 273-291; Bd 2, 495-523. 25 K. Rosenkranz 1844 (s. Anm. 5), 86: „Alle Gedanken HegeTs über das Wesen der bürgerlichen Gesellschaft, über Bedürfniß und Arbeit, über Theilung der Arbeit und Vermögen der Stände, Armenwesen und Polizei, Steuern u. s, w. concentrirten sich endlich in einem glossirenden Commentar, zur Deutschen Übersetzung von Stewart's [sic! Rosenkranz übernimmt diese Schreibweise des Namens von der deutschen Übersetzung des Buches; N. W.] Staatswirthschaft, den er vom 19. Februar bis 16. Mai 1799 schrieb und der noch vollständig erhalten ist." Da der Kommentar Rosenkranz offenbar noch Vorgelegen hat, dürfte er an dessen Verlust nicht ganz unbeteiligt gewesen sein, was dann deutlich belegen würde, daß Rosenkranz an den ökonomischen Interessen seines Meisters nur geringen Anteil nahm. 22 Dazu: K. Rosenkranz 1844 (Anm. 5), 14; Dokumente zu Hegels Entwicklung. Hrsg, von Johannes Hoffmeister. 2. Aufl. Stuttgart—Bad Cannstatt 1974. 422; Waszek: Scottish Enlightenment (Anm. 14), 103. 25 Wie Raymond Plant und Bemard Cullen dachten: R. Plant: Hegel. London 1973. 17; B. Cullen: Hegel's Social and Political Philosophy. Dublin 1979. 3. 2* Die verdienstvolle neue Arbeit von Martin Bondeli: Hegel in Bern. Bonn 1990. (Hegel-Studien. Beiheft 33). liefert auch für diese Fragestellung Material, ohne sie jedoch explizit zu thematisieren. 50 R. Haym (s. Anm. 5), 63 sprach von „unwürdigen Zuständen", Hugo Falkenheim noch härter von „Fronjahren": H. Falkenheim: Eine unbekannte politische Druckschrift Hegels. In: Preußische Jahrbücher. 138 (1909), 193—210, hier 203. Selbst M. Bondeli, der sonst ausgewogen
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mann Glöckner und Hans Strahm gezeigt^!. Bei denjenigen, die Hegels Aufenthalt in der Schweiz düster zeichnen, stehen immer wieder Hegels Briefe an Schelling und die darin enthaltenen Klagen im Mittelpunkt. So beklagt sich Hegel Ende 1794 über seine „Entfernung von den Schauplätzen literarischer Tätigkeit" und darüber, daß ihn seine „zu heterogene und oft unterbrochene Beschäftigung ... zu nichts Rechtem kommen" ließ; ein Jahr später jammert er über seine „Entfernung von mancherlei Büchern und die Eingeschränktheit seiner Zeit".^^ Die erste Regel der Quellenkritik hätte hier doch wohl sein müssen, bei der Prüfung des Gehalts dieser Briefe den Empfänger zu berücksichtigen. Aus Schellings früher Karriere, seinen vielfältigen Aktivitäten und Projekten resultiert für Hegel ein gewisser Rechtfertigungszwang: er fühlt sich genötigt, sich sozusagen dafür zu entschuldigen, keine vergleichbaren Ergebnisse vorzeigen zu können. Schellings Erfolg, dies scheint auch der Ton von Hegels späteren Briefen zu bestätigen, macht Hegel im Hinblick auf seine eigenen Bemühungen schüchtern und bescheiden.^s Was bleibt, nach dieser nötigen Einschränkung, an Hegels Klagen gültig? Gewiß war er fern von Jena und Weimar, dem damals wichtigsten Zentrum des kulturellen Lebens in Deutschland. Aber daß seine Beschäftigung „zu heterogen" war, lag bereits in seiner Weise des Philosophierens begründet, nicht in den äußerlichen Bedingungen seiner Berner Existenz. Auch seine Klagen darüber, bei eigenen Arbeiten „unterbrochen" zu werden und zu wenig Zeit dafür zu haben, können nicht unbefragt übernommen werden. Strahm und Bondeli zeigen, daß Hegel durch seine Lehrtätigkeit im Hause Steiger — er hatte zwei Zöglinge: ein achtjähriges Mädchen (welches zudem noch eine Gouvernante hatte) und einen sechsjährigen Jungen — nicht übermäßig beansprucht wurde, und betonen, daß
urteilt, ist nicht ganz hei davon, Rahmenbedingungen des Hofmeisterberufes (und die besonderen Verhältnisse HölderUns) auf Hegels Situation zu Überhagen, ohne daß es dafür speziellere Belege gäbe: Bondeli (Anm. 29), 58 f. 31 Hermann Glöckner: Hegel. Bd 1. Stuttgart 1929. 271; Hans Strahm: Aus Hegels Berner Zeit. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 41 (1932), 514—533. 32 Briefe von und an Hegel. 4 und 5 Bdn. Hrsg, von Johannes Hoffmeister und Friedhelm Nicolin. 3. Aufl. Hamburg 1969—1981. Hier Bd 1. 11 und 17. (Sigle: Hegel: Briefe.) 33 Vgl. zum Beispiel seine Briefe vom 30. 8. 1795: „Bemerkungen über Deine Schrift kannst Du von mh nicht erwarten. Ich bin hier nur ein Lehrling" und vom 2. 11. 1800: „Deinem öffentlichen großen Gang habe ich mit Bewunderung und Freude zugesehen; Du erläßt es mh, entweder demütig darüber zu sprechen oder mich auch Dh zeigen zu wollen; ich bediene mich des Mittelworts, daß ich hoffe, daß wir uns als Freunde wieder finden werden." Hegel: Briefe Bd 1. 32 und 59.
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Hegel sehr wohl über „Freiräume zum Selbststudium" verfügte.Einer besonderen Erklärung bedarf schließlich der beklagte Mangel an Büchern, denn Hegel hätte in den Wintermonaten die berühmte Berner Stadtbibliothek benutzen können^^, und im Sommersitz der Steigers in Tschugg stand ihm mit der noch zu behandelnden Hausbibliothek eine wahre Schatzkammer zur Verfügung. In der Folge von Emst Bloch und Jacques D'Hondt hat Martin Bondeli in Hegels Klage über fehlende Bücher gar Hegels Absicht sehen wollen, bestimmte Ausgangspunkte seiner praktischen Philosophie zu verdecken.^6 Die einfachere Erklämng ist doch wohl plausibler, daß sich Hegels Klage nur auf ganz bestimmte Bücher bezieht, nämlich die Neuerscheinungen auf dem Gebiet der spekulativen Philosophie.^^ Die Hausbibliothek der Steigers in Tschugg^s bot nun gerade im Hinblick auf Großbritannien reiche und vielfältige Schätze.Dies ist insofern kein Zufall, als die von Steigers nicht nur „weitgereiste Männer von ungewöhnlicher Bildung waren" und diverse ausländische Beziehungen pflegten, sondern auch verschiedentlich „Studienjahre in England" absolvierten.Aufbauend auf Beständen, die sein Vater und Großvater angeschafft hatten^i, war die Bibliothek größtenteils von Christoph Steiger
34 Bondeli (s. Anm. 29), 58 f und Strahm (s. Anm. 31), 524. Neben diesen Belegen für die Freiräume könnte man auch fragen, wann Hegels Arbeiten der Schweizer Jahre denn sonst entstanden wären? 35 Dokumente über Hegels Benutzung dieser Bibliothek sind leider nicht erhalten; vgl. Strahm (Anm. 31), 526. 3* Ernst Bloch: Leipziger Vorlesungen. Bd 4. Frankfurt/Main 1985. 258; Jacques D'Hondt: Hegel Secret. Paris 1968. passim; Bondeli (Anm. 29), 64 f. 3^ Auch H. S. Harris reduziert die Legitimität der Hegelschen Klage schon auf „the current Works that Schelling and Hölderlin were exdted about"; H. S. Harris: Hegel's Development. Toward the SunUght 1770—1801. Oxford 1972. 156. Ein weiterer Brief Hegels an Schelling bestätigt diese Auffassung, indem Hegel darin den Mangel einer Bibliothek mit seinem geplanten Studium der Wissenschaftslehre Fichtes in Zusammenhang bringt (Hegel: Briefe. Bd 1. 25). 3* Zu der uns nicht nur ein gedruckter Versteigerungskatalog vorliegt: Catalogue de la precieuse bibliotheque de feu M. l'Avoyer Christophe de Steiger de Tschugg. Bern 1880 (Dr. Helmut Schneider und ich bereiten einen Reprint dieses Kataloges vor), sondern auch die Spezialuntersuchung von Hans Haeberli: Die Bibliothek von Tschugg und ihre Besitzer. In: Festgabe Hans von Greyerz zum 60. Geburtstag 5. April 1967. Hrsg, von E. Wälder, P. Gilg, U. Im Hof, B. Mesmer. Bern 1967. 731—745 sowie, aus dem Umkreis der Hegelforschung, die Arbeiten von H. Strahm (s. Anm. 31) und Bondeli (s. Anm. 29), hier 62—66. 39 Vgl. H. Haeberli (s. Anm. 38), 742: „typisch für Tschugg ist die gute Vertretung des englischen Sprachgebietes." ® H. Strahm (Anm. 31), 205; vgl. H. Haeberli (Anm. 38), 735 imd 738. 41 Vater (1694—1765) und Großvater (1651—1731) hießen beide ebenfalls Christoph; zu den Anfängen ihrer Büchersammlung vgl. H. Haeberli (s. Anm. 38), 732— 734.
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von Tschugg (1725—1785)^^ angelegt worden. Dieser Christoph Steiger und sein ältester, früh verstorbener Sohn (1753—1772), also der Vater und der Bruder von Hegels Arbeitgeber, waren ausgesprochen anglophil und machten Bildungsreisen nach England. Der Vater hielt sich 1750 nicht nur in London, sondern auch in Oxford und Cambridge auf. In seinen Briefen an einen englischen Freund, Antony Williams, von denen sich Kopien in der Berner Burgerbibliothek erhalten haben, schwärmt er nicht nur von der englischen Sprache und englischer Freiheit, er gibt auch eine Liste der englischsprachigen Bücher, die er seit seiner Abreise von London gelesen hat und die später ihren Platz in der Familienbibliothek fanden: Hume, Bolingbroke, Blackmore, Milton u. a.^^ Seinen Sohn ließ er im Jahre 1771/72 als ,gentleman commoner' gar die Universität Oxford besuchen.44 Die Affinitäten der Familie Steiger mit Großbritannien wurden von Vater und Sohn quasi institutionalisiert, indem sie in großem Stil einschlägige Bücher sammelten und der Hausbibliothek eingliederten.Im Versteigerungskatalog finden wir 190 (85 Katalognummern) englischsprachige Bücher, darunter nicht nur die großen Namen der englischen Literatur (Addison, Dryden, Fielding, Gay, Goldsmith, Gray, Johnson, Milton, Pope, Shakespeare, Smollet, Steele, Swift, Thomson und Young) und die ästhetischen Schriften von Shaftesbury und Henry Home (Lord Karnes), sondern auch viele der bedeutendsten politischen und historischen Autoren (Bacon^^, Bolingbroke, Gibbon^^, Harrington, Hobbes, Hume, Locke, Robertson).^7 Nachdem die Verfügbarkeit einschlägiger Materialien damit hinreichend belegt ist, bleibt noch der Nachweis zu erbringen, daß Hegel diese auch wirklich benutzt hat. Ein Blick in Hegels eigene Bibliothek^® bietet hier weiteren Aufschluß. Eine Reihe der britischen Autoren, die sich in ^ Nicht von Niklaus Friedrich von Steiger, wie Falkenheim und Rosenzweig dachten; vgl. H. Falkenheim (s. Anm. 30), 206; F. Rosenzweig: Hegel und der Staat. 2 Bde. München, Berlin 1920. Bd 1. 47; H. Strahm (s. Anm. 31), 523. H. Haeberli (s. Anm. 38), 735. ^ Ebd. 738. Eine Liste aller englischsprachigen Bücher im Versteigerungskatalog bietet Anhang V meiner Studie Scottish Enlightenment.. . (s. Anm. 14), 283—286. ^ Bacon und Gibbon finden sich zwar nicht im Auktionskatalog, waren aber in der Bibliothek; vgl. H. Strahm (s. Anm. 31), 531 und M. Bondeli (s. Anm. 29), 63. Nach Bondeli (ebd.) läßt sich sogar für die ganze Bibliothek von einer „thematischen Ausrichtung auf politische Philosophie und Sozialphilosophie" sprechen; ähnlich schon H. S. Harris (s. Anm. 37), 156: „he had the use of quite a good Ubrary and one which suited him very well“ (unsere Hervorhebung; N. W.). ‘‘s Siehe: Verzeichniß der von dem Professor Herrn Dr. Hegel und dem Herrn Dr. Seebeck hinterlassenen Bücher-Sammlung. Berlin 1832 (Herr Professor Dr. Friedhelm Nicohn bereitet eine annotierte Ausgabe dieses Kataloges vor).
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der Bibliothek in Tschugg befanden, begegnen uns nämlich in Hegels eigener Bibliothek wieder. Für einen Autor wie Shakespeare mag diese Tatsache wenig besagen, andere Überschneidungen, wie z. B. Bolingbroke und Robertson, sind aber doch bedeutungsträchtig, weil diese Autoren in Hegels Bildungsgang vor den Schweizer Jahren noch nicht aufgetaucht waren. Es drängt sich also die Vermutung auf, daß Hegel diese Bücher zuerst in Tschugg studiert oder zumindest angesehen hat und sich dann entschied, sich eigene Ausgaben dieser Autoren anzuschaffen. Eine Analyse der englischen Bücher in Hegels eigener Bibliothek ermöglicht aber noch weitere Beobachtungen. Nach unserer Zählung^^ besaß Hegel 59 englischsprachige Bände, wovon 29 in den 1790er Jahren in Basel erschienen waren. Zugegeben, Basel war für den Reprint englischer Bücher ein wichtiger Ort. Daß die Schweizer Editionen stärker als alle anderen Druckorte (inkl. London) vertreten sind, scheint mir dennoch bemerkenswert. Auch die Erscheinungsjahre sind interessant: aus den 1790er Jahren besaß Hegel mehr englische Bücher als aus allen späteren Lebensabschnitten (einschließlich Berlin, wo es Hegel finanziell leichter gefallen wäre, sich einen Bücherwunsch zu erfüllen). Die Schlußfolgerung drängt sich auf, daß die Bibliothek Tschugg und andere noch zu erörternde Bedingungen in der Schweiz für Hegel einen Stimulus bildeten, sich mit britischen Autoren und Verhältnissen auseinanderzusetzen, oder zugespitzt, die Schweiz bildete für Hegel eine Brücke nach Großbritannien. Unter den weiteren Bedingungen, die zu diesem Ergebnis beigetragen haben mögen, ist zunächst mit Hans Strahm daran zu erinnern, daß die englischen Verbindungen der Steigers kein Einzelfall gewesen sind: „Der Einfluß Englands war in Bern besonders stark, wichtiger noch als der französische. Bei der Beurteilung des bernischen Geisteslebens im 18. Jahrhundert muß man berücksichtigen, daß sich die Interessen weder nach Weimar noch nach Jena oder Berlin orientierten, wohl aber in starkem Maße nach England und nach Paris."™ Andererseits wäre es naiv, bei den Englandkontakten und -aufenthalten von Berner Patriziern nur an kulturelle Interessen zu denken und darüber die wirtschaftlichen Interessen, und, spätestens mit der Franzö-
Eine Auflistung der englischen Bücher in Hegels Bibliothek veröffentlichte ich zuerst im Bulletin of the Hegel Society of Great Britain 7 (1983), 26 f — jetzt in Scottish Enlightenment.. . (s. Anm. 14), Appendix IV, 282 f. 50 H. Strahm (s. Anm. 31), 532.
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sischen Revolution, die diplomatisch-militärischen Motive^^, die dabei sicher auch eine Rolle spielten, zu vernachlässigen. Mit den politischen und ökonomischen Aspekten dieses Verhältnisses berühren wir aber genau die zeitgenössischen Interessen Hegels, der, wie uns Rosenkranz berichtet^i'*, damals „die Finanzverfassung Berns bis in das kleinste Detail, bis zum Chausseegeld usw. durchgearbeitet" hat. Aus diesem Themenkreis von Hegels damaliger Arbeit sind, neben den noch näher zu erörternden Anmerkungen zu Carts Briefen^^^ leider nur ganz wenige Manuskripte Hegels erhalten, die zudem erst seit einigen Monaten allgemein zugänglich sind^s. Martin Bondeli, der die Exzerpte in GW Band 3 übrigens nicht mehr berücksichtigen konnte, hat die zitierte Ausführung von Rosenkranz näher analysiert und dabei insbesondere die Rede von der „Finanzverfassung Berns" als „irreführend" kritisiert, weil in Bern „damals keine öffentlich zugängliche, kodifizierte Finanzverfassung" existierte. „Die bernischen Finanzverhältnisse basieren auf einem Gewohnheitsrecht, das . . . weitgehend geheimgehalten wird." So sehr ihm in dieser Korrektur zuzustimmen ist, so bedenklich zweifelhaft erscheint die These, die er daran anknüpft, daß es sich bei Hegels einschlägigen Studien also nur „um eine Skizzierung sehr allgemeiner, offenliegender Finanzregelungen und wohl eher nebensächlicher Details des bernischen Finanzwesens gehandelt haben" dürfte.^ Die Rede von den „nebensächlichen Details" und die darin übernommene, weitverbreitete Tendenz, derartig empirische Studien Hegels zu vernachlässigen, auszuklammem oder gar ganz zu ignorieren, berührt die grundsätzliche Methodenfrage, wie Hegelforschung oder, noch allgemeiner ausgedrückt, wie Philosophiegeschichte zu betreiben sei.^^ Wenn die Finanzen Berns, Ein moderner Nachkomme der Steigers beschreibt sehr schön, wie sich damals in Bern eine an England und Preußen orientierte „Kriegspartei" und eine francophile Partei gegenüberstanden; Kurt von Steiger: Schultheiß Niklaus Friedrich von Steiger. Bern 1976. Besonders 101 ff; vgl. Bondeli (s. Anm. 29), 28. 51a K. Rosenkranz 1844 (s. Anm. 5), 61. 52 Siehe Anm. 12 und vgl. dazu N. Waszek: Fox und Pitt (s. Anm. 9); Bondeli (Anm. 29), 29 ff. 53 Mit der von Friedhelm Nicolin besorgten Edition der „Exzerpte zum Berner Staatswesen" im Rahmen der historisch-kritischen Ausgabe: GW. Bd 3. Hamburg 1991, 221—233. 5* Bondeli (s. Anm. 29), 30 (unsere Hervorhebung; N. W.). 55 Die weiteren Implikationen dieser Fragestellung kann ich hier nicht ausführen. Meine eigenen Affinitäten, dies sei hier wenigstens angemerkt, liegen bei den älteren Vertretern der Cambridger Schule der ,history of Ideas', insbesondere bei Duncan Forbes. Eine hier treffende, programmatische Erklärung zur Methode der Ideengeschichte von Forbes sei hier zitiert: „if one is to leam from the study of an old battle or campaign, one must recreate its every detail with the utmost care and precision, no matter that the uniform, weapons, forma tions and tactics are wholly outmoded and ,irrelevant'. FaUure to account for any of these
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darauf ist nachdrücklich zu bestehen, Hegel so wichtig waren, daß er sich damit näher beschäftigte, so müssen sie auch für den modernen Hegelforscher wichtig sein, unabhängig davon, wie ,irrelevant' oder ,veraltet' derartige Einzelheiten aus anderen Perspektiven sein mögen. Zur Sache selbst führt Bondeli dann weiter aus, daß die anachronistischen Wirtschaftsstrukturen, die Hegel in Bern vorfand, ihn kaum zum Studium der modernen politischen Ökonomie veranlaßt haben könnten^^, und verlegt, im Anschluß an Paul Chamley^^, die Anfänge dieses Studiums nach Frankfurt. Ohne die Beurteilung der Berner Verhältnisse in Zweifel zu ziehen, scheint auch hier die weiterführende These anfechtbar. Wenn sich Hegel erwiesenermaßen mit den ökonomischen und politischen Bedingungen der Schweiz auseinandersetzt, die bereits selbst auch zu britischen Perspektiven führten, wenn ihm zudem die Steigersche Hausbibliothek vielfältige Anregungen in dieser Hinsicht zu bieten hatte, dann dürfte es auf der Hand liegen, daß sich Hegel schon damals dem Land zuwandte, das nicht nur in industrieller und kommerzieller Hinsicht am weitesten fortgeschritten war, sondern darüber hinaus auch eine eigenständige politische Zivilisation hervorgebracht hatte: Großbritannien. Vor dem Versuch, diese entwicklungsgeschichtliche These durch weitere Einzelbelege zu erhärten, sei sie noch durch eine systematische Überlegung über den Status der Ökonomie als Wissenschaft bei Hegel ergänzt. In seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts und den entsprechenden Vorlesungen hat Hegel immer besonders hervorgehoben, daß die Ökonomie eine Wissenschaft sei, „die dem Gedanken Ehre macht", weil sie aus der Vielfalt der empirischen Erscheinung, „aus dieser Masse von Zufälligkeiten die Gesetze findet. Wie sich beim Planetensystem nur eine unregelmäßige Bewegung dem Auge zeigt und doch die Gesetze darin erkannt worden sind."^® Die Parallelisierung von Astronomie und Ökonomie mit den klassischen öbertönen, daß hinter dem scheinbaren Chaos an der öberfläche ein geordneter Kosmos zu finden ,irrelevant' matters may make a useless nonesense of the whole." Duncan Fcrrbes: Hume's Philosophical Politics. Cambridge 1975. VIII. ^ Bondeli (Anm. 29), 36: „Selbstverständlich hat er mit dem Staate Bern keine ökonomischen Verhältnisse vorliegen, die zum Studium von Begriffen der , politischen Ökonomie' wie Arbeit, Tausch, Wert usw. Anlaß geben." P. Chamley 1963 (s. Anm. 14) und: Les origines de la pensee economique de Hegel, ln: Hegel-Studien 3 (1965), 225-261, hier 228 ff. 5® Von Griesheim-Nachschrift der Vorlesung von 1824/25. Zitiert nach G. W. f. Hegel: Vorlesungen über Rechtsphilosophie. 1818—1831. 4 Bde. Hrsg, von Karl-Heinz Ilting. Stuttgart—Bad Caimstatt 1973—74. Hier Bd 4. 487; vgl. Grundlinien § 189 und Zusatz. — Joachim Ritter (s, Anm. 6), 54 spricht in diesem Zusammenhang von dem induktiv-hermeneutischen Charakter, den Hegel der Ökonomie zuschreibt.
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ist, bedeutet aus Hegels Munde höchstes Lob. Rekonstruiert Hegel in diesem Lobe aber nicht auch ein Stück seines eigenen Entwicklungsganges? Wenn sich Hegel in Bern, und darüber scheint sich die Hegelforschung von Rosenkranz bis Bondeli einig zu sein, den wirtschaftlichen Fragen zunächst über empirische Studien näherte, dann suchte und bedurfte er zumindest, und zwar genau zu diesem Zeitpunkt, der hermeneutischen Hilfestellung, für die er die moderne Ökonomie in seinen reifen Berliner Jahren dankbar lobt. Unter den weiteren Belegen, die für Hegels Rezeption britischer Verhältnisse in den Schweizer Jahren sprechen, ist in diesem Zusammenhang zunächst noch an die Adam Smith-Ausgabe zu erinnern, die Hegel selbst besaß: es handelt sich dabei um eine vierbändige englischsprachige Ausgabe, die 1791 in Basel erschienen war.^^ Wie sich seinen Exzerpten englischer Zeitschriften®^ und anderen Belegen^! entnehmen läßt, brachte es Hegel für damalige Verhältnisse zu recht gediegenen Englischkenntnissen. Mit der Originalversion des Werkes von Smith scheint Hegel jedoch zumindest am Anfang seine Mühe gehabt zu haben, denn die Wiedergabe des berühmten Argumentes von der Arbeitsteilung, die Hegel in dem erwähnten Jenaer Fragment bietet, beinhaltet drei kleinere Versehen. Warum besorgte sich Hegel nicht eine deutsche Übersetzung? Eine erste Übersetzung hatte Johann Friedrich Schiller (1737—1814) schon seit dem Erscheinungsjahr des Originals, 1776, begonnen vorzulegen.p)aß Hegel diese Ausgabe nicht kaufte, mag an ihrer schon von Zeitgenossen kritisierten Übersetzung gelegen haben. In den Untersuchungen zu Adam Smith' Einfluß in Deutschland hat sich seit den klassischen Studien von Wilhelm Roscher^ zumindest die Auffassung durchgesetzt, daß 59 Versteigerungskatalog (s. Anm. 48), Nr 239 —242. 50 Siehe: M. /. Petry 1976 (s. Anm. 11); N. Waszek 1985 und 1986 (s. Anm. 22 u. 13). 51 H.-C. Lucas konnte zeigen, daß Hegel gelegentlich englische Zitate selbst übersetzt. Lucas: Shakespeare (s. Anm. 15), hier 248. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch Hegels Brief an seinen Sohn Karl vom 12. 10. 1822: „Es ist recht gut, daß Du Clarke'sehe Stücke übersetzt hast, und ich will sie, wenn ich nach Hause [komme], durchsehen ..." Hegel: Briefe. Bd 2. 363. Vgl. N. Waszek (s. Anm. 14), 84-100. 52 N. Waszek: Adam Smith and Hegel on the Pin factory. In: The Owl of Minerva. Journal of the Hegel Society of America 16 (1985), 229—233; jetzt in Waszek: Scottish Enlightenment (s. Anm. 14), 129 ff. 53 Untersuchung der Natur und Ursachen non Nationalreichthümern. Übersetzt von J. F. Schiller unter Mitarbeit von Ch. August Wichmann. Leipzig 1776 und 1778; ein dritter Band, mit Ergänzungen und Korrekturen, erschien 1792. 54 W. Roscher: Die Ein- und Durchführung des Adam Smith'schen Systems in Deutschland. In: Berichte über die Verhandlungen der Königlich-Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaft zu Leipzig. 19 (1867), 1—74; Ders.: Geschichte der Natwnal-Oekonomik in Deutschland. München,
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die unzulängliche Qualität dieser ersten Übersetzung die Aufnahme Smith'scher Ideen in Deutschland verzögert hat. Wie dem auch sein mag, legte kein geringerer als Christian Garve (1742—1798), dessen Ferguson-Ausgabe Hegel gekannt hat, den er schon in Stuttgart umfangreich exzerpierte und der ihm sicher auch aus anderen Quellen vertraut war^^, schon in den Jahren 1794—96 eine vielbeachtete Neuübersetzung vor, mit der es sich Hegel erspart hätte, sich durch das Original zu quälen. Ich gehe also mit H. S. Harris davon aus, daß sich Hegel die Basler Ausgabe vor oder spätestens 1796 angeschafft hat.^ Ein weiterer Beleg dafür, daß sich Hegel schon damals mit den politischen und ökonomischen Bedingungen Großbritanniens auseinandergesetzt hat, dürfte in dem wenig beachteten, dichten Manuskript über Hume als „Geschichtsschreiber neuerer Zeiten" liegen, das uns Rosenkranz überliefert^^ und als in die Schweizer Periode gehörig präsentiert^. Johannes Hoffmeister zog diese Datierung in Zweifel und ordnete in seiner Edition alle , historischen Fragmente' recht pauschal den Frankfurter Jahren zu.^^ ln der historisch-kritischen Ausgabe der Gesammelten Werke soll dieses Fragment als „nicht näher datierbar" in Band 2 erscheinen. Jenseits des Datierungsproblems, das sich in Ermangelung des Originalmanuskriptes wohl nicht endgültig entscheiden läßt, verdient dieser frühe Hegeltext nicht nur im Kontext von Hegels Großbritannienrezeption weitere Aufmerksamkeit, sondern scheint darüber hinaus auch für die Genese von Hegels geschichtsphüosophischen Überzeugungen von großer Bedeutung zu sein.^^ Für unsere Überzeugung, daß dieses Manuskript in die Schweizer Jahre gehört, spricht nicht nur, daß Hegel Berlin 1874. 593—625, 651—699, 843—911; vgl. hierzu: N. Waszefc; Adam Smith in Germany, 1776—1832. In: Adam Smith — International Perspectives. Hrsg, von H. Mizuta und Ch. Sugiyama. London 1992. 163—180. Das Garve-Exzept in: GW. Bd 3. 126—162. Zur Auseinandersetzung des jungen Hegel mit Garve und Ferguson vgl. N. Waszek: Der junge Hegel und die ,quereile des anciens et des modernes': Ferguson, Garve, Hegel. In: Idealismus mit Folgen. Festschrift zum 65. Geburtstag von Otto Pöggeler. Hrsg, von H.-J. Gawoll und Chr. Jamme. München 1994. 37—46. ^ H. S. Harris: The Social Ideal of Hegel’s Economic Thought. In: Hegel's Philosophy of Action. Hrsg, von L. S. Stepelevich und David Lamb. Atlantic Highland, N. J. 1983. 49—74, hier 53 f. 6’’ K. Rosenkranz 1844 (s. Anm. 5), 529 f; der Text, dessen Manuskript nicht erhalten blieb, ist heute am leichtesten zugänglich in: G. W. F. Hegel: Theorie Werkausgabe. Bd 1. Frankfurt/Main 1971. 446. Rosenkranz ebd. 60. Dokumente zu Hegels Entwicklung (s. Anm. 27), 257—277. ^0 Eine Präsentation und Deutung dieses Manuskriptes versuchte ich in Hume, Hegel, and History (s. Anm. 20); eine deutsche Übersetzung dieses Aufsatzes ist in Vorbereitung.
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in Tschugg zwei wichtige Hume-Editionen vorlagen^i, sondern auch die vielfältigen inneren Bezüge zu dem eindeutig aus Bern stammenden Manuskript „Man mag die widersprechendste Betrachtungen"72. Beide Texte weisen eine für den damaligen Hegel typische Ambivalenz auf: einerseits stimmt Hegel darin nämlich einen Lobgesang auf den Rechtsstaat an, auf den die Freiheitsrechte garantierenden Staat, aber gleichzeitig übt er in diesen Texten auch scharfe Kritik am „Maschinenstaat". Schließlich sei hier präzisiert und zugespitzt, was der Verf. 1985 aus dem Spannungsfeld Fox und Pitt in Hegels Denken für seine erste Druckschrift, die annotierte Übersetzung zu Carts Briefen in Bochum vortragen durfte. Damals ging es darum, die Anspielung auf Englands Politik, die Hegel in der ersten Anmerkung seiner Cart-Ausgabe macht^^^ näher zu erläutern. Heute sei, um die These von den Schweizer Ursprüngen der Hegelschen Auseinandersetzung mit den schottischen Ökonomen zu erhärten, dem hinzugefügt, daß der größere Kontext dieser Anspielung ein politico-ökonomischer ist. Hegel kritisiert dort nämlich den Berner Staat, der die Landbevölkerung des Kantons zwar niedrig besteuert, aber politisch bevormundet und erinnert mahnend an die Erfahrung der Boston Tea Party, ganz ähnlich wie er im Vorwort seiner Cart-Edition schreibt: „discite justiciam moniti — die Tauben aber wird ihr Schicksal schwer ergreifen".
Versteigerungskatalog (s. Anm. 38), Nr 630 und 631. Es handelt sich dabei um: Essays, moral and political. London 1748 und um eine 1754 in Amsterdam erschienene französische Übersetzung der Political Discourses (1752). Für nähere Einzelheiten zu diesen Ausgaben siehe: T. E. Jessop: A Bibliography of David Hume and of Scottish Philosophy from Francis Hutcheson to Lord Balfour. London 1938. 17 und 24 f. 72 Siehe GW. Bd 1. 281-351. 73 Hegels erste Druckschrifl (s. Anm. 12), 81 f; vgl. Waszek: Fox 74 Hegels erste Druckschrift, unpaginierte „Vorerinnerung".
und Pitt
(s. Anm. 9), 119 f.
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HEGELS WAHRNEHMUNG ENGLANDS „But of all nations the English are perhaps the least nation of pure philosophers" Walter Bagehot „Our kings (i. e. the English kings, E. V.) are political kings." Wäre Hegel diese aus dem politischen Traktat von 1710 eines anonym bleibenden und nicht zu identifizierenden Autors^ stammende Bemerkung bekannt geworden, dann hätte er zweifellos gesagt; Selbstverständlich! Der Monarch ist als „die Spitze und der Anfang — d. i.: das Prinzip, E. V. — des Ganzen" der politischen Verfassung des Staates selbst etwas eminent Politisches. Er ist, so gesehen, die die drei Momente der Totalität dieser Verfassung personal in sich begreifende Identität des Politischen, als welche der Staat politisch existiert. Er nimmt diese Position ein, sofern der philosophisch-spekulative Gedanke der in sich selbst begründeten Idee sie denkend betrachtet. Man braucht nur die entsprechenden Paragraphen (§§ 273 ff) der Grundlinien der Philosophie des Rechts, Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse von 1820/1821 oder jede andere der jetzt veröffentlichten Vorlesungsnachschriften zu konsultieren. Aber der Satz „Our kings are political kings" sagt etwas ganz anderes und eigentlich das Gegenteil. Er bringt ein zentrales Stück, in Wahrheit das Fundament, der realen Verfassung Englands — ,England' hat bekanntlich keine geschriebene Verfassung, jedenfalls nicht im Sinne der , Constitution of the United States of America' oder des , Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland' — zum Ausdruck. In diesem Satz legt sich ein bis in die Gegenwart reichendes Verfassungsverständnis Englands dar. Der Satz sagt, allerdings in einer zunächst von einer anderen politischen Apperzeption, nämlich etwa der im deutschen Kulturkreis herrschenden, her unverständlichen Kürze, was als das Politische 1 The Judgment of Whole Kingdoms and Nations. London 1710. Als Autor gilt Lord Somers, was sich allerdings nicht bestätigen läßt. Die Stelle ist mir bekannt geworden durch: G. Stourzh: Wege zur Grundrechtsdemokratie. Studien zur Begriffs- und Institutionengeschichte des liberalen Verfassungsstaates. Wien, Köln 1989. (Studien zu Politik und Verwaltung. 23.) 3. (Im übrigen: Wenn von .England' im folgenden die Rede ist, dann ist gegebenenfalls Großbritannien gemeint!)
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wahrgenommen und als was das Politische verstanden wird. Die Grundthese dieses Beitrags ist die, daß bei Hegel unter dem Politischen etwas anderes oder dieses anders verstanden wird, als dies durchgängig in der englischen politischen Apperzeption der Fall ist, und daß diese Dissonanz seine Wahrnehmung der englischen politischen Institutionen und Zustände in hohem Maße bestimmt. Die Frage richtet sich ausdrücklich nicht darauf, ob Hegel ein Anglophile gewesen ist oder nicht: Er hat zweifellos gewisse englische Institutionen wie das Zweikammersystem und andere geschätzt. Sie geht auch nicht auf den — beträchtlichen — Umfang seiner Englandkenntnisse. Vielmehr soll der Horizont seiner Wahrnehmung der englischen politischen Institutionen und Zustände erörtert werden. Man kann bei Hegel und seinem Verständnis der Verfassungsverhältnisse Englands von einer kognitiven Dissonanz^ sprechen, genauer: von einer Dissonanz in der Wahrnehmung des politischen Charakters und der politischen Qualität der ,Verfassung' im Verhältnis zur Selbstauslegung, die in dieser Kultur vorgetragen wird. Eine solche apperzeptive Dissonanz ist, wenn sie so erheblich ist und die zentralen Konzepte und Kategorien betrifft, nicht einem bloß privaten intellektuellen Mißverständnis zuzuschreiben. Sie ist vielmehr der Ausdruck wechselseitiger Wahrnehmungen unterschiedlicher politischer Kulturen und sagt „mehr über die beobachtende, als über die zum Objekt erhobene Nation aus"^. Andererseits läßt sich aus der Betrachtung einer solchen apperzeptiven Dissonanz ein Kriterium gewinnen, welches der Beurteilung des politischen Charakters und der politischen Qualität dieser bei allen okzidentalen Gemeinsamkeiten doch differenten politischen Kulturen zugrunde zu liegen vermag. Freilich wäre dazu die Ausbildung kategorialer Schemata erforderlich, die schließlich an einem authentisch verfaßten Begriff des Politischen angebunden werden müßten, der sich seinerseits wiederum nur aus der Erfahrung solcher apperzeptiven Dissonanzen und der differenten Apperzeptionen des Politischen in den unterschiedlichen Kulturen gewinnen ließe. Darauf soll hier aber nur hingewiesen werden. 2 Dieser Ausdruck stammt aus der Psychologie: L. Festinger: A Theory of Cognitive Dissonance. Evanston, DL, 1957. Barbara W. Tuchmann verwendet ihn in ihrem schönen Buch: The March of Folly. From Troy to Vietnam. London 1984. 303 und 346 f, in politischer Perspektive. Meine Verwendung des Ausdrucks unterscheidet sich von beiden. 3 W. /. Mommsen: Zur Entwicklung des Englandbildes der Deutschen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. In: Studien zur Geschichte Englands und der deutsch-britischen Beziehungen. Festschrift für P. Klucke. Flrsg. von L. Kettenacker, Fl. Schlenke, H. Seier. München 1981. 375.
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Der Satz „Our kings are political kings" nimmt eine Bestimmung auf, die der Chief Justice of the Court of the King's Bench, Sir John Fortescue, im 15. Jahrhundert, keineswegs allein stehend, sondern einer allgemeinen Auffassung Ausdruck gebend, vorgenommen hatte. Danach ist England, und das im Unterschied zu den Monarchien des Kontinents, hier vor allem zu Frankreich, ein „dominium sive regimen regale et politicum"4. Der König, der nicht einfach herrschaftlich dominiert (regaliter dominans), sondern politisch regiert (politice regnans), bedarf zu dieser Regierung, vor allem zur Änderung der Gesetze, zumal derjenigen, die sich auf Steuererhebung beziehen, der aktiven Zustimmung der Gemeinde, des ,Volkes': „The secounde kynge (i. e. derjenige König, der sein Regiment politice ausübt, E. V.) may not rule his peple bi other lawes than such as thai assenten unto. And therefore he mey sett uppon thaim non imposicions withowt thair owne assent."^ Das politische Moment besteht also nicht in einer herrschaftskategorialen Dominanz, sondern in einer konstitutiven Partizipation der Gemeinde. Es handelt sich um ein Konzept des Politischen (um den Titel eines , Begriffs des Politischen' zu vermeiden, der für die englischen Zustände zu starr zu sein scheint), das bei allen Veränderungen bis heute in diesem Kulturkreis in Geltung ist. In diesem Konzept liegt das Schwergewicht in der Bestimmung des Politischen nicht auf dem herrschaftlichen (im deutschen Kulturkreis: staatlichen) Moment, sondern umgekehrt wird das herrschaftliche Moment im Verlauf eines geschichtlichen Prozesses schließlich von dem so qualifizierten politischen Moment her bestimmt werden. Das ist der Grund dafür, daß in der Selbstauslegung der politischen Wahrnehmung in England nicht die Kategorie des Staates zur Herrschaft gelangt. In der politischen Wahrnehmung Englands nimmt die real existierende Verfassung den Primat vor dem ,Staat' ein, wenn diese Kategorie überhaupt anwendbar ist. Zentral ist sie jedenfalls nicht. IDie das politische Moment qualifizierende Zustimmungsabgabe geschieht im Parlament, von dem ein späterer Verfassungsjurist der Tudorzeit, Sir Thomas Smith, in Fortbildung der Bestimmungen von Forte^ Sir John Fortescue: De laudibus legum Anglie (1468/71). Ed. by B. Shrimes. Cambridge 1949; Ders.: The Govemance of England (nach 1471). Ed. by Ch. Plummer. Oxford 1885; beidesmal passim. 5 The Govemance (wie vorige Anm.), 169. Die Formel vom regimen regale et politicum geht über den Continuator von ,De regimine principum' des Thomas von Aquin, Ptolomaeus von Lucca, auf Aristoteles zurück; F. Gilbert: Sir John Fortescue's ,Dominium regale et politicum'. In: Medievalia et Humanistica. 2 (1944). 88—97. Zur Literatur, außer G. Stourzh (wie Anm. 1), W. Nippel: Mischverfassungstheorie und Verfassungsrealität in Antike und früher Neuzeit. Stuttgart 1980. (Geschichte und Gesellschaft. Bochumer Historische Studien. 21). Bes. 169 ff.
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scue sagen wird: „For everie Englishman is entended to bee there present, either in person or by procuration and attomies, of what preheminence, state, dignitie, or qualitie soever he be, from the Prince (be he King or Queene) to the lowest person of Englande. And the consent of the Parliament is taken to be everie mans consent. Das politisch-parlamentarische Moment darf man sich natürlich nicht allzu , demokratisch' vorstellen — ganz im Gegenteil! Die Gegenwart jedes Engländers im Parlament war, um eine Formel des englischen politischen Denkens zu verwenden — bis auf die Mitglieder des Oberhauses, die bekanntlich durch einen ,Writ of Summons' persönlich angesprochen wurden —, ausschließlich ,virtuell'7, d. h. sie war nicht quantitativ, also letztlich numerisch, sondern qualitativ bestimmt. ,Präsent' war jeder Engländer nur hinsichtlich seiner (alt-)ständischen Qualität. Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts handelt es sich bei der realen Verfassung Englands um ein duales oder elliptisches System mit zwei Brennpunkten, und die Frage mußte aufkommen, von welchem der beiden Brennpunkte aus denn die wirkliche Macht ausgeübt wird. Bei der intellektuellen Auseinandersetzung über diese Frage spielt die Fortescue-Formel eine wichtige Rolle.® Bekanntlich lautet die Antwort schließlich, aber dieser Prozeß dauerte sogar zur Zeit Hegels noch an: vom Parlament und den in ihm vertretenen Interessen, vor allem von dessen unterem Haus und endlich von dessen Mehrheitsführer. Gesiegt hatte in diesen Auseinandersetzungen also dasjenige Moment, welches bei Fortescue als das des Politischen verstanden worden war! Wenn dieser Prozeß sich vollenden sollte, und dabei spielen die Wahlrechtsreformen eine wesentliche Rolle, dann ,herrscht' das Parlament — in Wahrheit das Unterhaus, dessen Mehrheitsfraktion und der von ihm gestellte Premierminister — wirklich, nämlich so sehr, daß für den König — oder die Königin — eine andere Position gesucht werden muß. Andererseits saugt diese Konstellation sozusagen alle partizipativen, , demokratischen', Momente auf, und das ermöglichte es, in allen anderen Bereichen massive Standes- und Klassenverhältnisse weitgehend zu bewahren. ® Sir Thomas Smith: De Republica Anglorum (1565). Ed. by L. Aiston. Cambridge 1906. II, 1, 49. ^ Zum Konzept der .virtual representation' im englischen Verfassungsdenken im Unterschied zu dem der ,actual representation': H. F. Pitkin: The Concept of Representation. U. of California Press 1972, passim. * Zum Weiterwirken der Fortescue-Formel in den Auseinandersetzungen um die reale Verfassung Englands in der englischen ,Sattelzeit' des 17. Jahrhunderts: G. Stourzh: Staatsformenlehre und Fundamentalgesetze in England und Nordamerika. In: Ders.: Wege zur Verfassungsdemokratie (wie Arun. 1). 4, Anm. 12 und 30, Anm. 71.
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Denn das Eigentümliche der auf die entscheidende Frage nach dem realen Primat in der Machtsphäre gegebenen Antwort ist ja, daß das elliptisch-duale System selbst formal bestehen bleibt — schwer begreiflich für jede kontinentale Perspektive. Walter Bagehot faßt 1857 die Realität der Verfassung Englands, zu der sie zu Lebzeiten Hegels kräftig auf dem Weg war, in die berühmte Unterscheidung eines „dignified part of government, . . . by which it gains authority, . . . which brings it force, .. . which attracts it motive powers" (die Krone), und eines „efficient part of government, . . . through which it uses authority, . . . which only employs that power" (das Parlament, in Wirklichkeit der Premierminister), zusammen.^ „The Queen" — das war zu Zeiten von Bagehot die Königin Victoria — „reigns, but she does not govem."io Das ist offensichtlich bis heute so geblieben, und so haben die , Engländer' immer noch eine Königin, die sie möglicherweise längst verloren hätten oder losgeworden wären, wenn nicht ihre reale Verfassung sich in dieser politischen Richtung entwickelt hätte. Gemäß der Position, die bei Hegel der Monarch im System der Verfassung als „der Organisation des Staates und der Prozeß seines organischen Lebens in Beziehung auf sich selbst" (§ 271 Rph.) innehat, ist er genötigt, auch in bezug auf England den Monarchen für das fundamentale Moment der Aktualität und Effektivität zu halten. „Der monarchischen Gewalt kommen (in England, E. V.) die hauptsächlichsten Zweige der höchsten Staatsgewalt zu."ii Hegel kann sich den nur noch symbolischen Charakter der Stellung des englischen Monarchen im Verfassungssystem — „so ist der Anteil des Monarchen an der Regierungsgewalt mehr illusorisch als reell" — nur so erklären, daß der Monarch ülegitimerweise aus „Etikette" die Regierungsgewalt dem Parlament überlassen habe.^^ Innerhalb dieses Systems, seiner traditionellen Formen und seiner sozialen Hierarchien bildet sich seit dem 17. Jahrhundert in England in zunehmender Stärke die civil society aus oder nimmt eine gegenüber älte5 Walter Bagehot: The English Constitution. London 1964. 61 (Wortlaut leicht verändert). Das Motto, das diesem Essay vorangestellt ist, stammt aus dem gleichen Text, dort 91. Ich versage es mir nicht, ein anderes Zitat aus einem vergleichbaren Selbstbewußtsein zu bringen: „An indifference to logic where it is hkely to lead to serious trouble is one of the strongest of English characteristics" (Sir Winston Churchill: Malborough. His Life and Times. Vol. 2. 545). 10 W. Bagehot: The English Constitution (wie vorige Anm.). 241; s. Verf.: Überlegungen zur Semantik von ,Regierung' und ,Regieren'. In; Regieren in der Bundesrepublik. Konzeptionelle Grundlagen und Perspektiven der Forschung. Hrsg, von Hartwich u. Wewer. Opladen 1990. 65 ff. 11 Über die englische Reformbill. In: Politische Schriften. Nachwort von J. Habermas. Frankfurt am Main 1966. 309. 12 Ebd. 310.
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ren Mustern neue Gestalt an. Die soziale Basis der civil society besteht jetzt mehr und mehr in mittelbürgerlichen Schichten, und von ihnen geht auch der Prozeß der Industrialisierung aus. Das Problem bestand darin, wie die civil society in das partizipatorische — das ,politische' — Modell eingebracht werden konnte. Das Konzept der civil society, das im übrigen bis in die aristotelischen Grundmuster zurückreicht, darf nicht von den deutschen Verhältnissen her ausgelegt werden, die von einer Unterscheidung von politischem , Staat' und unpolitischer , (bürgerlicher) Gesellschaft' ausgehen, eine Unterscheidung, an die sich auch Hegel hält. Ohne es hier vollständig auszulegen, sei so viel angedeutet, daß es die politische Selbstbestimmung (Selfgovernment) der Gesellschaft einschließt, wobei diese nicht autoreflexiv, sondern transitiv verstanden werden muß: die Gesellschaft bestimmt selbst darüber, von wem sie regiert werden will. Im Konzept der civil society bleibt also das aktiv partizipatorische Moment des englischen Politikverständnisses erhalten: es handelt sich um die civil or political society. Im Angesicht des seine soziale Position verstärkenden Bürgertums erhebt sich die Frage, wie und auf welche Weise die Mitglieder dieser Gesellschaft neu zu bestimmen sind, und um diese lange aufgeschobene Frage geht es in den Wahlrechtsreformen. Sie waren dazu bestimmt, die bürgerlichen Schichten stärker in die zuvor und lange andauernd noch aristokratisch bestimmte politische Nation zu inkorporieren. Das Resultat war nicht etwa eine Demokratisierung — sie, d. h. die Beteiligung der Arbeiterschaft sollte gerade verhindert werden —, sondern die endgültige Verlagerung des Machtzentrums in das Unterhaus und seinen Mehrheitsführer. Aber der Prozeß der Erweiterung der politischen Nation war eröffnet, und in der für England kennzeichnenden Dialektik von Beharrung und Wandel wird es dazu kommen, daß sich schließlich die Zivilgesellschaft zu den Unterschichten hin erweitert und trotz der Beibehaltung erheblicher sozialer und damit verbunden auch politischer Privilegien zivilpolitisch demokratisiert. Die Zivilgesellschaft organisiert ihre politische Verfassung selbst. Sie setzt sich jedenfalls nicht dem Staat als der herrschaftskategorial verfaßten Machtordnung gegenüber und '3 John Locke: Second Treatise of Government. No. 77 ff. Ed. by Peter Laslett. Cambridge 1970. 336 ff. Gegenwärtig wird das Konzept der Zivilgesellschaft von den desUlusionierten Marxisten in Gebrauch genommen J. L. Cohen/A. Arato: Civil Society and Political Theory. Cambridge, Mass. 1992. Dabei spielt das ,deutsche' Mißverständnis eine entscheidende RoUe; dazu: A. Sölter: Zivilgesellschaft als demokratietheoretisches Konzept, ln: Jahrbuch für Politik 3 (1993), 145-180. G. Niedhart: Geschichte Englands im 19. und 20. Jahrhundert. München 1987. Bes. 78 ff: Stabilität und Wandel des politischen Systems.
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entgegen, sondern verfaßt sich politisch, sofern sie eben selbst darüber bestimmt, durch wen und wie sie regiert werden soll. Diesen ganzen komplizierten Komplex, der mehr historische Tradition — ,Positivität' — enthält, als ihm lieb, d. h. vertraut sein kann, visiert Hegel vom Konzept der ,Staatsgesellschaft'i^ her an. ,Staatsgesellschaft' aber ist ein kontinentales, vor allem ein im deutschen Kulturkreis erarbeitetes Konzept.i^ Es tritt in einer ganzen Reihe von Varianten auf, affirmativen ebenso wie kritisch-negativen. Gemeinsam ist allen diesen Varianten die absorptive Identifikation des Politischen mit dem Staat: er ist der politische Staat, weil er das Politische ist. Es ist im höchsten Maße fraglich, ob dieses Konzept überhaupt auf die anders gearteten politischen Zustände Englands angewandt werden darf.^^ Denn gerade die Identifikation des Politischen mit dem Staat ist, wie gezeigt, der englischen politik-kulturellen Apperzeption und den auf sie begründeten Institutionen fremd. Während in England das politische Moment und seine Apperzeption von der real existierenden Verfassung her bestimmt ist, ist in Deutschland auch apperzeptiv die Verfassung vom real existierenden Staat her bestimmt, der fast absoptiv mit dem Politischen identifiziert wird: hier liegen die tieferen Gründe für die apperzeptiven Dissonanzen. In Hegels spekulativem politischem Denken ist aus seinem Bezug auf die traditionelle politische Apperzeption im deutschen Kulturkreis erheblich mehr historisch-kulturelle ,Positivität' stehen geblieben, als er wahrnehmen konnte. Hegel steht mit seinem politischen Denken ganz in der Tradition der deutschen Staatsauffassung, und er hätte der diesem Verständnis adäquat Ausdruck gebenden Formulierung Georg Jellineks: „,Politisch' heißt , staatlich'; im Begriff des Politischen hat man bereits den Begriff des Staates gedacht"^®, unbedenklich zugestimmt, diesmal, von seinem Wahrnehmungshorizont her, mit völligem Recht. Wie weit entfernt dagegen die englische politik-kulturelle Wahrnehmung von diesem Kon15 Über die englische Reformbill (wie Anm. 11), 285. 15 Die Fremdheit des englischen Verfassungsdenkens — übrigens auch die des amerikanischen! — gegenüber dem Konzept der Staatsgesellschaft läßt sich vielfach belegen. Hier nur dieser eine Beleg: „the concept of the state was not firmly grounded in American or British experience" (K. Dyson: The State Tradition in Western Europe. Oxford 1980. 4). 17 Die älteren Untersuchungen zu Hegels England-Bild übersehen das, was hier ,apperzeptive Dissonanz' genannt wird: G. Lasson: Der preußische Staat und die englische Verfassung nach dem Urteil Hegels. In: Monatshefte der Comenius-Gesellschaft (N. F.) 7 (1915), 24, 147 ff; H. Höhne: Hegel und England. In: Kant-Studien. 36 (1931), 301 ff; H. Zumfeld: Hegel und der englische Staat, mit besonderer Berücksichtigung der Reformbill-Schrift. Diss. Köln 1952. 1® G. Jellinek: Allgemeine Staatslehre (1900). 3. Aufl. Leipzig 1913. 180.
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zept ist, läßt sich an der leicht irritierten Feststellung von Helmut Quaritsch ablesen; „Die englische Staatsrechtslehre hat sich .. . niemals genötigt gesehen, den Staat in eine juristische Person zu verwandeln"!^; geschweige, daß diese Personalität als reales Universalsubjekt und nicht als bloß technisches Zuschreibungssubjekt ausgelegt wird^o, und ganz abgesehen davon, daß es in England die Disziplin der Staatsrechtslehre, der scientia regia des deutschen politischen Denkens nach dem sogenannten Zusammenbruch des Deutschen Idealismus, die für sich die autoritative Feststellung dieses Staatssubjekts reklamiert, nicht gibt, weil es deren Objekt, eben den Staat als das mit Herrschaftsrecht ausgestattete Rechtsherrschaftssubjekt, nicht gibt. Was es gibt, das ist das Constitutional Law — aber das ist etwas anderes, zumal es zu gut wie ausschließlich konkret auf, England' bezogen ist und sich nicht zu einem allgemeinen Verfassungsrecht nach Analogie der deutschen ,AUgemeinen Staatslehre' erweitert! Die Selbstwahmehmung der Verfassungsverhältnisse in der englischen politischen Kultur ist eine gänzlich andere als die kontinentale, hier vor allem die deutsche Fremdwahmehmung, und aus diesen Apperzeptionsdifferenzen erwächst die kognitive Dissonanz. Hegel wird nicht müde, das Ausbleiben einer philosophischen, ,wissenschaftlichen' Staatsrechtslehre und den Mangel an disziplinär geschulten Beamten in England zu rügen. Der Zusammenschluß der Identifikation des Politischen mit dem Staat und der diese Identifikation auf den Begriff bringenden ,wissenschaftlichen', bei Hegel spekulativ-philosophischen, Staatsrechtslehre ist selbst aber nicht in theoretischer Anstrengung erarbeitet, sondern folgt aus der traditionellen politik-kulturellen Wahrnehmung, welche auf die realen Verhältnisse in Deutschland bezogen ist. Die — philosophische oder juristische — Staatsrechtslehre bringt nur auf den Begriff, was die Wahrnehmung ihr vorgegeben hat. Was die Zentralität des Staatbegriffs für das politische Denken Hegels angeht, so ist sie politik-kulturell, historisch-, positiv' kodiert, und nicht durch philosophische Reflexion konstituiert.
H. Quaritsch: Staat und Souveränität. Bd 1; Die Grundlagen. Frankfurt am Main 1970. 499. 20 Dieses Personalkonzept setzt sich im 19. Jahrhundert in der deutschen Staatsrechtslehre durch. Die Bedeutung, die dabei dem hegelschen Denken zukommt, ist noch reichlich unerforscht. Es gibt nur eine einzige neuere Schrift, die diesem Thema nachgeht; U. Scheuner: Hegel und die deutsche Staatslehre des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Studium Berolinense. Gedenkschrift zur 150. Wiederkehr des Gründungsjahres der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Hrsg, von H. Leussink u. a. Berlin 1960. 129 ff.
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Zugehörig zu dieser politik-kulturellen Wahrnehmung ist die Trennung von Staat und Gesellschaft, die längst vor Hegel vollzogen ist.^i Sie entspricht gleichfalls den realen politischen Zuständen in , Deutschland', d. h. in den deutschen territorialen Fürstenstaaten: „der absolutistische Staat schafft die apolitische Gesellschaft, in dem er sich als Monopol legitimer Gewalt konstituiert. "22 Einen geradezu klassischen Ausdruck hat diese Differenzierung in einem Ausspruch von Ernst Ferdinand Klein, eines Mitarbeiters von Svarez am preußischen Allgemeinen Landrecht, gefunden: „Man kann wohl nicht sagen, daß die bürgerliche Freyheit ohne die politische keinen Werth habe; vielmehr ist sie so sehr die Hauptsache, daß man der politischen Freyheit nur insofern einen Werth beylegen kann, als sie zur Unterstützung der bürgerlichen gereicht. "23 Darin ist eine Unterscheidung von ,politisch' und ,bürgerlich' untergebracht, die in dem englischen Vokabular und der in ihm lüedergelegten Apperzeption von , civil or political' schlechterdings undenkbar ist. Es ist augenscheinlich hier, daß der Kern der prinzipiellen Dissonanz der politischen Apperzeptionen im englischen und im deutschen Kulturkreis zu suchen ist. Die hegelsche Differenzierung von ,Bürgerlicher Gesellschaft' und , Staat' wiederholt aber nicht einfach die traditionelle der deutschen politik-kulturellen Wahrnehmung. In sie ist Hegels Aufnahme der Political Economy der englischen, besser schottischen Moralphilosophie eingegangen. An der klassischen Interpretation24 dieses Vorganges ist eine Reihe von Modifikationen vorgenommen worden.25 Sie machen deutlich, so kann ihr Ergebnis etwas verkürzt zusammengefaßt werden, daß H. Dreitzel: Protestantischer Aristotelismus und absoluter Staat. Die ,Politica' des Henning Arnisaeus (ca. 1575—1636). Wiesbaden 1970. Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. 55. Bes. 336 ff. 22 Ebd. 338. 23 E. F. Klein: Freyheit und Eigenthum. Abgehandelt in acht Gesprächen über die Beschlüsse der Französischen Nationalversammlung. Berlin, Stettin 1790. 164. In einer Erörterung dieser Stelle äußert sich Hans Maier so: „Die Trennung von bürgerlicher und politischer Freiheit ist für die deutsche Tradition des ,Rechtsstaates' symptomatisch geworden" (Maier: Der Bürger im Obrigkeitsstaat. In: Ders.: Politische Wissenschaß in Deutschland. Lehre und Wirkung. Erweiterte Neuausgabe. München, Zürich 1985. 275, Anm. 40). 2'* G. Lukdcs: Der junge Flegel und die Probleme der kapitalistischen Gesellschaß. Berlin 1954; M. Riedel: Die Rezeption der Nationalökonomie. In: Ders.: Studien zu Hegels Rechtsphilosophie. Frankfurt am Main 1969. 75 ff (jetzt auch in: Ders.: Zwischen Tradition und Revolution. Studien zu Hegels Rechtsphilosophie. Stuttgart 1982). 25 N. Waszek: Hegel's Account of the Market Economy and its Debts to Scottish Enlightenment. In: Hegel-Jahrbuch 1986. Bochum 1988. 57 ff; Ders.: The Scottish Enlightenment and Hegel's Account of,Civil Society'. Dordrecht [etc.] 1988; B. P. Priddat: Hegel als Ökonom. Berlin 1990. (Volkswirtschaftliche Schriften. 403).
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Hegel nicht so ohne weiteres als „auf dem Stand der modernen Nationalökonomie" stehend erblickt werden kann, wie Karl Marx das gemeint hat.Beiläufig: Wenn Marx das so gemeint hat, dann steht er selbst nicht auf diesem Standpunkt! Man kann sich sicherlich darüber streiten, wie gewichtig der Anteil der eher kameralistisch-polizeiwissenschaftlich geprägten Grundrichtung des Inquiry into the Principles of Political Economy von James Steuart (1757), zu dessen deutscher Übersetzung (Untersuchung über die Grundsätze der Volkswirtschaßslehre, 1769) Hegel seinen verlorengegangenen Kommentar geschrieben haü^, an der Formierung der ökonomischen Überlegungen Hegels und seiner Theorie der , Bürgerlichen Gesellschaft' gegenüber der autonomen politik-ökonomischen Theorie von Adam Smith gewesen ist. Vermutlich las er Adam Smith schon im Lichte von James Stuart, denn dessen Vorstellungen ließen sich leichter mit den traditionell wohlfahrtsstaatlich-etatistisch orientierten deutschen vereinbaren. Jedenfalls kann am Stehenbleiben massiver polizeiwissenschaftlicher Momente in Hegels Theorie der , Bürgerlichen Gesellschaft' kein Zweifel bestehen. Aber es ist nicht so sehr diese Problematik, die hier von Interesse ist. Mit der klassischen Political Economy, als deren Vertreter Adam Smith angesehen werden kann, ist zumindest im Ansatz ein zivilpolitisches Konzept verknüpft: sie ist eben Political Economy.^8 Das Ökonomische, dieses Ökonomische, ist an ihm selbst etwas Politisches und zwar im zivilen Sinn. Man müßte den Sachverhalt so formulieren: Auch als ,market society' ist die , civil society' als eine ,political society' verfaßt, und setzt sich nicht eine obere Instanz ,Staat' als das von ihr ünterschiedene gegenüber. Hegels Erläuterung im Zusatz zum § 258 der , Rechtsphilosophie („Wenn der Staat mit der bürgerlichen Gesellschaft verwechselt und seine Bestimmung in die Sicherheit und den Schutz des Eigentums und der persönlichen Freiheit gesetzt wird, so ist das Interesse des Einzelnen als solcher der letzte Zweck, zu welchem sie vereinigt sind, und es folgt hieraus ebenso, daß es etwas Beliebiges ist, Mitglied des Staates zu sein") ist der klarste Ausdruck seines Verständnisses — oder eben Mißverständnisses — der englischen Verfassungszustände. Die ZivilgesellK. Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte. MEGA I, 3. 151. 27 K. Rosenkranz: Hegels Leben. Berlin 1844, 86. 28 D. Brühlnteier: Adam Smith als politischer Denker im Kontext von Liberalismus, Institutiormlismus und Republikanismus. In: Der andere Adam Smith. Beiträge zur Neubestimmung von Ökonomie als Politischer Ökonomie Hrsg, von A. Meyer-Fage u. P. Ulrich, Bern, Stuttgart 1991. (St. Galler Beiträge zur Wirtschaftsethik. 5.) 277 ff.
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Schaft ist politisch im Parlament präsent, und diese Präsenz bestimmt die reale Konstitution Englands. „Der Staat ist (in England, in Großbritannien, E. V.) . . . nicht abgehoben von der Gesellschaft, die sich im Common Law und im Parlament organisiert". Es ist „die nicht im Gegensatz zum Staat stehende bürgerliche Gesellschaft, über die und durch die Politik wahrgenommen wird".^^ Eigentlich dürfte der Terminus , Staat' hier gar nicht verwendet werden, und das englische Verfassungsdenken ist auch außerordentlich zurückhaltend bei der Verwendung dieses Begriffs und spricht lieber von ,govemment' oder ,constitution', noch personalistischer von ,The Crown'! Es macht die größte apperzeptive Dissonanz aus, daß Hegel auf Grund seiner traditionell etatistischen Wahrnehmung des Politischen den Zusammenhang von zivilem und politischem Moment in der realen Verfassung Englands nur negativ zu beurteilen vermag, und er vererbt diese Dissonanz an Karl Marx, der sie dadurch noch weiter vergrößert, daß er das Politische ökonomisch und das Ökonomische politisch mißversteht, nämlich den Staat als das entfremdete Instrument zur Aufrechterhaltung der ökonomischen Herrschaft der Bourgoisie und die kapitalistische Ökonomie als das entfremdete Instrument zur Aufrechterhaltung ihrer politischen Herrschaft. Die Implikation der Differenzierung von unpolitischer , Bürgerlicher Gesellschaft' und politischem ,Staat' ist die, ein zivilpolitisch qualifiziertes Projekt nicht aufkommen zu lassen oder nicht wahrnehmen zu können. Es ist hier nicht der ört, die politischen Implikationen und Konsequenzen des Konzepts einer zivilpolitisch verfaßten Gesellschaft und die damit verbundenen — erheblichen — Probleme auszuarbeiten. Es läßt sich nur darstellen, wie Hegel die Realität dieses Konzepts wahrnimmt. Die dissonante Wahrnehmung der Rolle der englischen Monarchie ist nur ein Beispiel. Andere ließen sich vielfach aufführen. Da ist die oftmals ausgesprochene Rüge, daß die reale Verfassung Englands nicht auf Prinzipien eines „vernünftigen Staatsrechts" gegründet sepo, folglich auch kein allgemeiner Stand von Beamten in diesem Staats- und Verwaltungsrecht erzogen und ausgebildet werden könnte, auf daß er das Vernünftig-Allgemeine zu repräsentieren vermöchte. Die englischen Rechtsinstitutionen werden als solche des bloßen Privatrechts deklariert.^i Es G. Niedhart: Gegenwärtige Vergangenheit, Geschichte als Identifikation und Erblast in der britischen Politik. In: Der Bürger im Staat 41/1 (1991), 214. 20 Über die englische Reformbill (wie Anm. 11), 284. 21 In der Tat beruht einer der größten Unterschiede — Dissonanzen! — zwischen der kontinentalen und der englischen politischen Apperzeption in der gänzlich anderen Auffassung
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ist augenscheinlich, daß das prinzipielle Fehlen einer das Vernünftig-Allgemeine der spekulativen Idee repräsentierenden Staatlichkeit, die sich oberhalb der und gegen die Gesellschaft mit ihren Meinungspluralismus und ihrem Interessenpartikularismus gesetzt hat, Hegel zu dem Urteil führen mußte, daß in England „die Staatsrechte . . . bei der privatrechtlichen Form ihres Ursprungs und damit bei der Zufälligkeit ihres Inhalts stehengeblieben" sind.^^ Hegel bemerkt vorwurfsvoll die starke Privilegierung der sozial und politisch herrschenden Klassen und bedenkt sie mit heftigen moralischen Korruptionsvorwürfen. Das Maß, welches er bei diesen und anderen Urteilen anlegt, ist das der kontinentalen, besonders der deutschen Staatsgesellschaft, und der auf sie bezogenen Theorie, der — philosophischen oder juristischen — Staatsrechtslehre. Die englische Wahlrechtsreform von 1832, auf die sich Hegels Reformbill-Schrift bezieht, war keineswegs, wie Friedrich Engels meinte^^ Ausdruck dafür, daß nun „die Bourgeoisie zur Herrschaft gekommen" wäre. Sie sollte dem Erhalt der beherrschenden Position der auch im Unterhaus führenden classa politica der Aristokratie dienen, die sich allerdings schon lange gegenüber dem Bürgertum geöffnet hatte. Das konnte nur gelingen, sofern der Kreis des zugelassenen Teils der Bevölkerung erweitert wurde. Und so führte diese wie auch die nachfolgende Wahlrechtsreform schließlich dazu, daß sich die politische Nation zur Gesamtnation erweiterte, ohne daß deshalb eintrat, was Hegel befürchtete, daß nämlich „statt einer Reform eine Revolution" herbeigeführt wurde^^. Die Reformbill von 1832 (und die weiteren Wahlrechtsreformen) stellt die Repräsentation von einer qualitativen auf eine wenigstens im Ansatz quantitative um.3^ Nun ist nicht nur jeder Engländer qualitativ im Parlament präsent, sondern alle sind es dem Ansatz nach in quantitativ numerischer Identität (wobei man sogleich hinzufügen muß, daß diese quantitative numerische Identität nach dem immer noch geltenden reivom Recht; W. Fikentscher: Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung. Bd 2; Anglo-Amerikanischer Rechtskreis. Tübingen 1975, und N. Reich: Sociological Jurisprudence und Legal Realism im Rechtsdenken Amerikas. Heidelberg 1967. Das unter dem Konzept des ,govemment of law' Gemeinte darf nicht mit der Rechtsherrschaft des Staates als des Herrschaftsrechtssubjekts verwechselt werden. Alle .Regierung' (.government' in diesem Sinne meint bekanntlich alle Instanzen und Kompetenzen des politischen Systems) ist immer noch eine ,adnunistration by men over men'! 32 Ebd. 283. 33 F. Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England. In: K. Marx/F. Engels: Werke (MEW). Bd 2. 495. 34 Über die englische Reformbill (wie Anm. 11), 321. 35 Siehe den Beitrag von Peter Wende: Die Diskussion der Reformvorschläge im britischen Parlament in diesem Band.
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nen Mehrheitswahlverfahren selbst heute sich nicht in vollkommener Reinheit auswirkt). Dieses Repräsentationsverständnis ist Hegel fremd, ja unheimlich, weil es für ihn den zerstörerischen Übergriff des bloß Partikularen auf das Vernünftig-Allgemeine bedeutet. Der politisch entscheidenden Frage, wer dieses Vernünftig-Allgemeine feststellen kann oder darf, begegnet er mit dem Konzept der spekulativen philosophischen Idee des Staates und des allgemeinen Standes, der in seinem Wissen ausgebildet ist. Es ist eine Instanz außerhalb des Politischen selbst, sofern darüber in der spekulativen Reflexion entschieden wird. Auf jeden Fall bleibt das (neu-)ständische Repräsentationsverständnis Hegels qualitativ bestimmt. Schroff ausgesprochen ist daher bei Hegel der Abscheu vor der Intensität der öffentlichen Auseinandersetzungen über die Interessen- und Meinungsdifferenzen. „Der Nationalstolz überhaupt hält die Engländer ab, die Fortschritte, welche andere Nationen in der Ausbildung der Rechtsinstitutionen gemacht, zu studieren und kennenzulernen; der Pomp und Lärm der formellen Freiheit, im Parlamente und in sonstigen Versammlungen aller Klassen und Stände die Staatsangelegenheiten zu bereden und in jedem darüber zu beschließen, sowie die unbedingte Berechtigung dazu, hindert sie oder führt sie nicht darauf, in der Stille des Nachdenkens in das Wesen der Gesetzgebung und der Regierung einzudringen, (bei wenigen europäischen Nationen herrscht solche ausgebildete Fertigkeit des Räsonements im Sinne ihrer Vorurteile und solche Seichtigkeit über Grundsätze)."36 Wie ein Kommentar hierzu liest sich, was der General von Clausewitz, dem gleichwohl der Parlamentarismus Englands als das Vorbild einer preußischen Verfassung vorschwebte, zu einem früheren Zeitpunkt durchaus in kritischer Absicht sagen konnte: „Dieses Leben und Weben, dieses Treiben und Reiben, dieses Ringen und Erschwingen, diese Furcht und Hoffnung, dieses Zusammenhalten der Freunde und Verfolgen der Feinde, diese Begeisterung seiner selbst, dieses Fortreißen der Anderen, endlich dieses geschickte Eingreifen durch die eine oder andere Gewaltsamkeit — das ist ein reiches, blühendes Staatsleben, das erinnert an das Forum des alten Roms und an Athens öffentliche Plätze. Gegen eine solche Vorstellung des Bürgerlebens mußte das stille Besorgen seiner Privatgeschäfte als eine wahre Stagnation erscheinen. "3^ Das war durchaus kritisch gemeint und zeigt, 36 Über die englische Reformbill (wie Anm. 11), 298. 37 C. von Clausewitz: Umtriebe. In: Ders.: Politische Schriften und Briefe. Hrsg, von H. Rothfels. München 1922. 164. Zum Vorbildcharakter der englischen Verfassung: Brief Gneisenaus an Hardenberg vom Dezember 1819 (in: G. H. Pertz/H. Delbrück: Das Leben des Generalfeldmar-
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daß es sich bei der Einschätzung der englischen Verfassungszustände und des zugehörigen politischen Systems aus einer deutschen, am Staatskonzept orientierten Perspektive, nicht um eine einmalige Ansicht handelt.38 Was den Kern der englischen politischen Apperzeption ausmacht, ohne Anhalt an einem spekulativ ausgedachten Staatskonzept oder gar einer „Wirklichkeit der sittlichen Idee" die Zivilgesellschaft selbst über sich entscheiden zu lassen, indem sie die dazu befugten und befähigten Instanzen und Kompetenzen bestimmt — Self-Govemment —, erscheint Hegel als bloße „formelle Freiheit". Das ist ein geradezu klassisches Argument gegen alle Institutionen der ,westlichen politischen Kultur' geblieben. Als bloß ,formelle Freiheit' muß die politische Selbstorganisation der Zivilgesellschaft erscheinen, sofern sie nicht von außen und von einem Höheren her, sondern aus sich selbst, aus nichts als ihrem zivilen Charakter, der in hohem Maße in der Anerkennung der Vernünftigkeit ihres Meinungspluralismus und Interessenpartikularismus besteht, ihre politische Verfassung konstituiert. Der schon einmal erwähnte Walter Bagehot, dem man eine immer noch belehrende Darstellung der realen englischen Verfassung verdankt, kennzeichnet diese einmal als „govemment. . . by . . . opinion"^^, und das ist so zu verstehen, daß darunter nicht die Faktizität der Meinung(en) angesprochen wird, sondern ihre Konstitutionsleistung für den politischen Verband. Die politische Qualität und der politische Charakter des Verbandes beruhen auf der verfaßten Meinung. Etwas anderes steht überhaupt nicht zur Verfügung, schon gar keine spekulative, sich selbst bestimmende Idee. In einem anderen Grundsatz des anglo-amerikanischen politischen Denkens spricht sich das so aus: „all governments
Neithardt von Gneisenau. Bd 5. Berlin 1880. 401 f), in welchem Gneisenau seine und seines Freundes Clausewitz politische Vorstellungen erörtert. ^ Zur allgemeinen Einschätzung der englischen Verfassung in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts; Th. Wilhelm: Die englische Verfassung und der vormärzliche deutsche Liberalismus. Stuttgart 1928. Vor allem die Schriften R. von Gneists zum Englischen System wären beizuziehen: A4. Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd 2: 1800—1914. München 1992. 385 ff. Wozu sich die Wahrnehmung einer Dissonanz steigern konnte, legt K. Schwabe: Wissenschaft und Kriegsmoral. Die deutschen Hochschullehrer und die politischen Grundfragen des Ersten Weltkrieges. Göttingen [etc.] 1969, dar, wo gezeigt wird, daß als der eigentliche intellektuelle Gegner nicht der ,Erbfeind' Frankreich, sondern vielmehr England mit seiner Verfassung erblickt wurde, deren bloßer Formalität das Konzept einer ,deutschen Freiheit' entgegengesetzt wurde. The English Constitution (wie Anm. 9), 171; er spricht auch von „govemment by discussion" (ebd. 310) und „govemment by persuasion" (ebd. 206). Schalls
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rest on opinion"^. Die Zivilgesellschaft muß ihre politische Qualität aus ihrem eigenen Meinungscharakter konstitutieren. Nichts ist dem hegelschen Denken und überhaupt der politischen Apperzeption im deutschen Kulturkreis fremder! Man kann die Schärfe der apperzeptiven Dissonanz in der Wahrnehmung Englands durch Hegel nicht klarer zum Ausdruck bringen, als indem man mit dieser Bestimmung die Theorie der öffentlichen Meinung konfrontiert, die Hegel in den Paragraphen 301 ff der Rechtsphilosophie von 1820/21 vorträgt. Es ist Hegel alles daran gelegen zu verhindern, daß die Meinung zu einem konstitutiven Moment der politischen Verfassung wird, nämlich zu einem Moment, durch das sich die Verfassung politisch und als politische konstituiert. Im § 316 Rph heißt es daher; „Die formelle, subjektive Freiheit, daß die Einzelnen als solche ihr eigenes Urteilen, Meinen und Raten über die allgemeinen Angelegenheiten haben und äußern, hat in dem Zusammen, welches öffentliche Meinung heißt, ihre Erscheinung. Das an und für sich Allgemeine, das Substantielle und Wahre, ist darin mit seinem Gegenteile, dem für sich Eigentümlichen und Besonderen des Meinens der Vielen, verknüpft; diese Existenz ist daher der vorhandene Widerspruch ihrer selbst, das Erkennen als Erscheinung; die Wesentlichkeit ebenso unmittelbar als die Unwesentlichkeit". Man kann diese Sätze als eine Interpretation der Verfassung Englands lesen, man muß dabei allerdings den Sinn mitlesen, mit dem Hegel solche Termini wie ,Zusammen', die ,Vielen', ,Erscheinung' in politischem Kontext verwendet. Die Konzepte von politischem Staat, politischer Verfassung, des Monarchen und der neuständischen Repräsentation, die Hegel in seiner politischen Philosophie — die ja keineswegs diesen Titel trägt! — entfaltet, sind dazu bestimmt, das Eindringen der Meinung in die politische Konstitution des Verbandes auszuschließen. Und ebenfalls wird die Einsicht in diese Konstitution nicht der Meinung überlassen, sondern der ,Wissenschaft' in dem Sinne, den Hegel damit verbindet, so wie ja auch die Majestät des Monarchen „nur", d. h. ausschließlich, spekulativ erdacht werden kann (§ 281 Zusatz). Soll das etwa heißen, daß es dazu der Spekulation bedarf? Es ist offensichtlich, daß von einer solchen Konzeption der Staatsgesellschaft her die zivilpolitisch qualifizierte Gesellschaft Englands und ® Verf.: ,That all Governments Rest on Opinion". In: Social Research 43 (1976) 46 ff. In dieser Fassung stammt der Satz von James Madison (aus dem 49. der sogenannten ,FederaUst'-Essays).
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ihre politischen Institutionen nicht angemessen apperzipiert werden können. Es handelt sich bei dieser um etwas ganz und gar Unphilosophisches, dafür aber um etwas sehr Politisches. England, so noch einmal Walter Bagehot, ist „a country where the mind of the nation is steadily political"'*!. Von einer Kultur her, deren Selbstverständnis in hohem Maße philosophisch geprägt ist, so zwar, daß auch und gerade die in ihr entwickelten politischen Konzepte einer philosophischen Begründung fähig sein müssen, ist schwer zu sehen und einzusehen, daß und wie es so etwas wie eine Selbstbegründung des Politischen, d. h. dessen Autonomie, geben kann. Aber in Beziehung auf das Politische ist Philosophie selbst keineswegs autonom, nämlich niemals unabhängig von dem Kontext, der von der politischen Apperzeption der Kultur gebildet wird, von der sie selbst ein Moment ist.
■*1 The English Constitution (wie Anm. 9), 230.
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DIE „TIEFERE ARBEIT" Hegel zwischen Revolution und Reform In memoriam E. J. Fleischmann Wenn man einer bekannten Fama glaubt, dann war Hegel stets (d. h. seit seiner Tübinger Zeit bis an sein Lebensende) ein treuer Anhänger der Französischen Revolution, schließlich habe er pünktlich sein Glas auf die Eroberung und Zerstörung der Bastille als Bollwerk des Feudalismus erhoben.! Für diese Fama gibt es viele Zeugnisse, die hier aber nicht eigens herangezogen zu werden brauchen. Daneben gibt es noch eine andere Fama, die dann zu späteren (vielleicht schlimmeren) Begleiterzählungen geführt hat. Den Kern bildet der massive Vorwurf von Rudolf Haym, daß Hegel die preußische Reaktion in ihrer schlimmsten Art insbesondere in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts, letztlich aber in seinem gesamten philosophischen System sanktioniert, ihr durch seine Philosophie sogar einen gewissen geistigen Rang geschaffen habe. Dieser Vorwurf kann mittlerweile als ausgeräumt gelten.^ In neuerer Zeit ist eine neue Form des Akkomodationsvorwurfs aufgekommen: Hier ergibt sich nun das Bild, daß Hegel in Heidelberg, als er erstmals seine Konzeption einer Rechtsphilosophie außerhalb der Enzyklopädie entwickelte, ein fort1 Dafür, daß man diese Gewohnheit auch kritisch beleuchten kann, vgl. /. Habermas: Hegels Kritik der Französischen Revolution. In: ders.: Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien. Neuwied, Berlin 1963, 1969. 89: „Hegel hat die Französische Revolution und deren Kinder nicht weggescholten, er hat sie hinweggefeiert: ..." ^ Eine Metakritik der Kritik Hayms findet sich in /. Ritter: Hegel und die französische Revolution. (Opladen 1957), Frankfurt a. M. 1965, vgl. insbesondere 7—12; zur Entstehungsgeschichte dieser Kritik vgl. H. Kimmerle: Zum Hegel-Buch von Rudolf Haym. — In: Hegel-Studien 5 (1969), 259—264; vgl. dazu ferner vom Verf. „Wer hat die Verfassung zu machen, das Volk oder wer anders?" Zu Hegels Verständnis der konstitutionellen Monarchie zwischen Heidelberg und Berlin. In: Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte. Hrsg, von H.-C. Lucas u. O. Pöggeler. Stuttgart-Bad Cannstatt 1986. 175—220; ferner: Philosophie und Wirklichkeit. Einige Bemerkungen wider die Legende von Hegel als ,preußischem Staatsphilosophen'. In: Zeitschrift für Didakhk der Philosophie 9 (1987), H. 3 [Sonderheft: Hegel], 154—161.
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schrittlicher und liberaler Denker war, während er dann aus Angst vor der Zensur alle liberalen Teile aus seinem Konzept entfernt habe, um sich dem machthabenden Trend der Restauration oder Reaktion zu akkomodieren. Auch dieser Vorwurf gegen Hegel läßt sich nur schwerlich aufrechterhalten oder gar beweisen.^ Wenn die Erzählungen und Vorwürfe jedoch zuträfen, dann wäre allerdings hier das Thema falsch gewählt — es müßte sodann vielmehr heißen: Hegel zwischen Revolution und Reaktion. Aber wir gehen hier damit um, daß beide Vorstellungen Legenden darstellen, wobei freilich der Akkomodationsvorwurf als noch weiter in das Reich der Sagen gehörend gelten muß. (Im folgenden wird nicht ausführlich dargestellt werden können, inwiefern die durch Joachim Ritter vorgezeichnete Bindung Hegels an die Französische Revolution eine einseitige, fast entstellende Darstellung der wahren Verhältnisse bedeutet. Hegel ist viel europäischer als Ritter im Blick auf Frankreich, aber natürlich auch als Haym im Blick auf Preußen meintA) In den folgenden drei Abschnitten soll erläutert werden, inwiefern Hegel den Gedanken der Revolution mit dem der dauerhaften Reform verbindet: I. Hegels Berliner Stellung zwischen Revolution und Reform. II. Entwicklungsgeschichtliche Hinweise zu Hegels Verhältnis von Revolution und Reform von der frühen bis zur Heidelberger Zeit. III. Die Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte und die angebliche Revolutionsfurcht des alten Hegel in der Schrift Über die Reformbill. I. Als erster Zugang zu einem Verständnis von Hegels Haltung zu Revolution und Reform soll hier auf eine Formulierung aus seiner „Vorrede" zur ersten Version seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (Heidelberg 1817) hingewiesen werden, wobei zunächst daran 5 Gegen diese Version vgl. H.-C. Lucas u. U. Rameil: Furcht vor der Zensur? Zur Entstehungs- und Druckgeschichte von Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, ln: Hegel-Studien 15 (1980), 63-93. ■* Vgl. dagegen z. B. die Beiträge in dem Sammelband Hegels Rechtsphilosophie ... (s. Anm. 2); vgl. ferner (neuer und vieüeicht thesenhafter) N. Waszek: 1789, 1830 und kein Ende. Hegel und die Französische Revolution, ln: Zeitschrift für Pädagogik Beiheft 24: Französische Revolution und Pädagogik der Moderne. Aufklärung, Revolution und MenschenbUdung im Übergang von Ancien Regime zur bürgerlichen Gesellschaft. Hrsg, von U. Herrmann u. J. Oelkers. Weinheim, Basel 1989. 347—359; zu Hegels Kenntnisnahme großbritannischer Verhältnisse und Ideen vgl. N. Waszek: The Scotish Enlightenment and Hegel's Account of „Civil Society". Dordrecht 1988. (International Archives of the History of Ideas. 120.)
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zu erinnern ist, daß Hegel in den zwei folgenden Fassungen dieses Werks, zuletzt also 1830, diese „Vorrede" jeweils mit abdrucken ließ. Daraus müßte man eigentlich schließen dürfen, daß Hegel sich zumindest bis 1830 nicht von diesen Formulierungen distanziert hat. Hegel spricht in dieser „Vorrede" von der ,jugendlichen Lust der neuen Epoche', „welche im Reiche der Wissenschaft wie in dem politischen auf gegangen" sei. Als dieses geschichtswendende Ereignis, das eine ,neue Epoche' einleitet, versteht Hegel in der Tat die Französische Revolution, die er dementsprechend auch als ,welthistorische Begebenheit' bezeichnen kann.^ Es wird im folgenden dem genau nachzugehen sein, was ,neue Epoche' und deren Aufspaltung in den wissenschaftlichen und den politischen Bereich näher bedeutet. Es folgt dann eine bemerkenswerte Relativierung: „Wenn diese Lust die Morgenröthe des verjüngten Geistes mit Taumel begrüßte, und ohne tiefere Arbeit gleich an den Genuß der Idee ging und in den Hoffnungen und Aussichten, welche diese darbot, eine Zeitlang schwelgte, so versöhnte sie leichter mit ihren Ausschweifungen, weil ihr ein Kern zu Grunde liegt, und der oberflächliche Dunst, den sie um denselben ausgegossen, sich von selbst verziehen muß." (Jub 6, 8 f)^ Es ist dies einer der kurzen Texte, in denen Hegel eine Flut von Bildern über uns verströmt, uns schwelgen läßt — und uns dann die harte Arbeit aufgibt, all diese Bilder oder Metaphern, z. T. mit HUfe seiner anderen Texte, aufzuschlüsseln, wenn wir nicht bei dem momentanen Genuß stehenbleiben wollen. Er sagt ja hier schon selbst, was uns eigentlich bevorsteht: die „tiefere Arbeit". — Man denkt sogleich an die bekannte Formel von der „Arbeit des Begriffs". Der Text ließe sich vielleicht lesen als eine verkürzte Lebens- und Entwicklungsgeschichte des Autors Hegel selbst. Aber dann müßten wir glauben, daß er zunächst einem Taumel der Revolution anheimgefallen sei, den „Genuß der Idee" frei aufgenommen und gleichermaßen in „den Hoffnungen und Aussichten" des revolutionären Denkens ,geschwelgt' habe. In der Tat scheint dies gut zu der anderen Legende zu passen, die da berichtet, daß die Tübinger Stiftler, allen voran die drei 5 G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Mit einem Vorwort von E. Gans u. K. Hegel. In: Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden. Bd 11. Stuttgart 1928. 563. (Sigle im folgenden: Jub. Die Paginierung der Werke wird im Kolumnentitel von Jub mitgeteilt.) * G. W. F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1827). Gesammelte Werke. Bd 19. Hrsg, von W. Bonsiepen u. H.-C. Lucas. Hamburg 1989. 20; vgl. die Ausgabe von 1830 in: Gesammelte Werke. Bd 20. Unter Mitarbeit von U. Rameü hrsg. von W. Bonsiepen u. H.-C. Lucas. Hamburg 1992. 24. (Sigle: GW)
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Freunde Hegel, Schelling und Hölderlin, begeistert einen Freiheitsbaum aufgepflanzt hätten und um diesen getanzt wären7 Mittlerweile aber ist Hegel offenbar zu der , tieferen Arbeit' übergegangen, die Wirklichkeit philosophisch-systematisch zu erfassen, wie dies programmatisch insbesondere aus seiner „Vorrede" zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts zum Ausdruck kommt. Es wird im folgenden zu zeigen sein, daß dies — auch wenn man es als Grundtendenz von Hegels Entwicklung ansehen würde — keineswegs bedeuten müßte, daß Hegel sich etwa von einem revolutionären Träumer zu einem realistischen Reaktionär entwickelt habe. Auf das Zitat bezogen müßte zunächst gefragt werden, was „Genuß der Idee" bedeuten solle. Im Vergleich zu der dreifachen Forderung der Französischen Revolution nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit kann man Hegels Entscheidung eventuell als Verarmung bezeichnen, denn für ihn macht letztlich die Forderung der Freiheit allein den Kern der Revolution aus, — allerdings auch die Befreiung von einem nur durch das historische Herkommen gerechtfertigten System von Privilegien. In den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie heißt es dementsprechend: „Das Prinzip der Freiheit des Willens also hat sich gegen das vorhandene Recht geltend gemacht." (Jub 11, 556) Der ,Gegner' Hegels wird in diesem Zusammenhang ebenfalls klar mit den Inhabern und Verteidigern von willkürlich erteilten oder errungenen Privilegien benannt: „Der ganze Zustand Frankreichs in der damaligen Zeit ist ein wüstes Aggregat von Privilegien gegen alle Gedanken und Vernunft überhaupt." (Ebd.) Insofern wird in der Tat von Hegel ein auf Vernunft gegründetes Recht gegen das auf bloßem Herkommen und auf bestehenden Machtverhältnissen gegründete Recht gedacht.® ^ Vgl. dazu das zweifelnd ausgesprochene Zeugnis des Hegel-Schülers Johann Eduard Erdmann: „.. . wenn wir auch die Nachricht, daß beide [Schelling und Hegel] sich an der Errichtung eines Freiheitsbaumes beteiligt haben sollen, nicht viel mehr Gewicht legen, als auf die Erzählung eines Coätanus, daß Hegels Liebhngswort in jener Zeit ,Kopf ab' gewesen sei, so steht doch fest, daß es gerade die politische Stimmung war, „die den gravitätischen Magister mit dem eben auf die Universität kommenden munteren Genie [Schelling] enge verband." Siehe: Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen. Hrsg, von G. Nicolin. Hamburg 1970. 17. Vgl. ebd. 16 das Zeugnis von Christoph Theodor Schwab: „Hegel galt für einen derben Jacobiner". Vgl. ferner die Eintragungen in Hegels Tübinger Stammbuch, z. B. Nr. 60: „Vive Jean-Jacques."; Nr. 68: „Vive la liberteü"; Nr. 73: „Vaterland und Freiheit!"; Nr. 75: „S'il avait un gouvernement des anges, Us se gouvemoient democratiquement."; Nr. 78: „Tod dem Gesindel!"; Nr. 93: „ln tyrannos!" Zitiert nach Briefe von und an Hegel. Bd4, T. 1. Hrsg, von F. Nicolin. Hamburg 1977. 135 ff. ® Vgl. vom Verf. Recht der Vernunft versus privates Recht. Vorläufige Überlegungen zur Vorgeschichte von Hegels „Grundlinien der Philosophie des Rechts". In: Hegel-Jahrbuch 1984/ 85. Bochum 1988. 81-96.
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Die Blutstürze der Französischen Revolution werden in der Enzyklopädie-Vorrede nur sehr indirekt und vergleichsweise verharmlosend erwähnt, wenn Hegel von „ihren Ausschweifungen" spricht, die als „der oberflächliche Dunst" um den Kern der Revolution „ausgegossen sich von selbst verziehen" müßten. Es wird noch zu zeigen sein, daß Hegel sich bereits früh gegen den Terror der Sansculotten wandte, über den ihn z. B. Oelsner sehr früh unterrichtete; dies hat ihn jedoch nicht davon abbringen können, den „Kern" der Revolution, die Entwicklung von neuen Freiheits- und Rechtsverhältnissen auf der Grundlage der Vernunft, nachhaltig zu verteidigen. Der Formel, Hegel habe „die Revolutionierung der Wirklichkeit unter Abzug der Revolution" gewollt, die Jürgen Habermas geprägt und zu der weiteren zugespitzt hat: „Hegel will die Revolutionierung der Wirklichkeit ohne Revolutionäre"^, kann gleichwohl nicht gänzlich zugestimmt werden, da Hegel ungefähr seit der Verfassungs-Schrift ein kühler Betrachter noch so schrecklicher historischer Ereignisse wird. Dem entspricht beispielsweise die kalte, an Machiavelli orientierte Feststellung: „Der Verwesung nahes Leben karm nur durch das gewaltsamste Verfahren reorganisiert werden. — Der Philosophie bleibt die Aufgabe, durch ihre , tiefere Arbeit' den begrifflichen ,Kern' der revolutionären Vorgänge herauszustellen. Dieser „Kern", die „Hoffnungen und Aussichten" (GW 19, 20; Jub 6, 8) auf Freiheit, auf einen Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit, der ein Fortschreiten der Entwicklung der Institutionen verbürgen soll, welche die Freiheit garantieren, sind es also, die Hegel an der Französischen Revolution festhalten lassen. In dieser Hinsicht muß man Joachim Ritters Urteil zustimmen: „Hegel hat immer die französische Revolution bejaht; es gibt nichts Eindeutigeres als diese Bejahung, und doch wird das übersehen . . . "11 Es gibt nun allerdings auch eindeutige Zeugnisse (man bedenke das Jenaer Briefwort von der „Weltseele" zu Pferdei^), daß Hegel ein entschlossener Anhänger Napoleons wurde; allerdings stellte dies für ihn offenbar keinen Widerspruch zu der Bejahung der Revolution dar, weil Napoleon in Hegels Sicht die Erfolge der Französischen Revolution erst in gültige Gesetzesform gebracht und den so zu verstehenden „Code civil" im Zuge seiner Eroberungen über Europa verbreitet hat.i^ ^ Vgl. /. Habermas: (wie Anm. 1). 91, 105. 10 G. W, f. Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Bd 1: Frühe Schriften. Hrsg, von E. Moldenhauer und M. Michel. Frankfurt a. M. 1971. 555. (Sigle: MM.) 11 ]. Ritter (wie Anm. 2). 22. 12 Vgl. Briefe von und an Hegel. Hrsg, von J. Hoffmeister. Hamburg 1952. Bd 1. 120. 10 Vgl. dazu den Brief an Niethammer vom 29. 8. 1807, in; Briefe. Bd 1. 185.
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Unter diesen Bedingungen ist es dann allerdings schwierig, Ritters pauschalem Urteil zuzustimmen, denn in vielfacher Hinsicht muß man in Napoleon ja auch den Beginn der Reaktion erkennen^^, wie z. B. Fichte Napoleon seine Franzosen heimtückisch um die Früchte ihrer Revolution bringen sah^^. Die Französische Revolution bleibt für Hegel auch in der postnapoleonischen Zeit weiterhin Epochenwendung, aber ihre Quelle macht zugleich ihre Insuffizienz für ihn aus: „Man hat gesagt, die französische Revolution sey von der Philosophie ausgegangen, und nicht ohne Grund hat man die Philosophie Weltweisheit genannt." (Phil. d. Gesch., Jub 11, 556) Hier ist noch einmal der Zusammenhang „der Lust der neuen Epoche" aus der „Vorrede" der Enzyklopädie von 1817 angesprochen, „welche im Reiche der Wissenschaft wie in dem politischen aufgegangen" sei. (Jub 6, 8; GW 19, 20) Von dem Abhängigkeitsverhältnis der Französischen Revolution von der Philosophie der Aufklärung sieht Hegel letztlich auch deren unheUvoUe Schwäche ausgehen (besonders eindrücklich wird dies in den Ausführungen der Phänomenologie des Geistes mit dem Titel „Die absolute Freiheit und der Schrecken"!^ abgehandelt): „Aber diese Philosophie ist niu ein abstractes Deriken, nicht concretes Begreifen der absoluten Wahrheit, was ein unermeßlicher Unterschied ist." (Jub 11, 556) In der Abstraktion sieht Hegel aber, wenn sie in die Politik hineinwirkt, geradezu definitorisch die Quelle des Fanatismus, der sich in seiner Einseitigkeit gegen alle Konkretion wendet, um diese in Abstraktionen zu zerreißen: „Fanatismus, das ist, eine Begeisterung für ein Abstractes, für einen abstracten Gedanken, der negirend sich zum Bestehenden verhält. Der Fanatismus ist wesentlich nur dadurch, daß er verwüstend, zerstörend gegen das Concrete sich verhält." (Jub 11, 456) Die Vorlesung über die Philosophie der Geschichte ist eine in Berlin im Wintersemester 1822/23 erstmalig gehaltene Vorlesung, gehört also in Vgl. E. Fleischmann: Hegel et la Restauration en France. In: Hegels Rechtsphilosophie (s. Anm. 2). 77: „Tournons-nous maintenant vers iere napoläonienne qui est dejä pratiquement le debut de la Restauration. Ce regne est caractörise par iautocratie, les conquetes — d'aiUeurs tres ephemeres — et par l'instauration d'un nouvel ordre civil. Bonaparte n'a pas participe ä la Revolution: il a recolte les fruits de sa dissolution et il en etait juge ..." 15 Fichte befindet zunächst, daß die „französische Nation ... im Ringen nach dem Reiche der Freiheit und des Rechts begriffen" gewesen sei, danach zählt er einige Gründe auf, warum Frankreich an diesem Ziel gescheitert sei. Als Inbegriff dieses Scheiterns erklärt er Napoleon: „Was er dagegen gethan, wie er listig und lauernd die Nation um ihre Freiheit betrogen, braucht hier nicht ausgeführt zu werden." — Fichtes Werke. Hrsg, von I. H. Fichte. (Neudruck.) Bd 4. Berlin 1971. 429 f. 15 G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Gesammelte Werke. Bd 9. Hrsg, von W. Bonsiepen u. R. Heede. Hamburg 1980. 316—323.
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das System des reifen Hegel — und auch hier hören wir ein unerhörtes Lob der Französischen Revolution, das im übrigen ohnehin sehr berühmt ist: „So lange die Sonne am Firmamente steht und die Planeten um sie herum kreisen, war das nicht gesehen worden, daß der Mensch sich auf den Kopf, das ist auf den Gedanken stellt, und die Wirklichkeit nach diesem erbaut. Anaxagoras hatte zuerst gesagt, daß der nous die Welt regiert; nun aber erst ist der Mensch dazu gekommen zu erkennen, daß der Gedanke die geistige Wirklichkeit regieren solle. Es war dieses somit ein herrlicher Sonnenaufgang. Alle denkenden Wesen haben diese Epoche [lies: Epochenwende; H.-C. L.] nütgefeiert. Eine erhabene Rührung hat in jener Zeit geherrscht, ein Enthusiasmus des Geistes hat die Welt durchschauert. Nachdem er diesen Enthusiasmus noch einmal gefeiert hat, wendet sich Hegel allerdings den konkreten Ergebnissen der Revolution zu, d. h. den objektiven rechtlichen Folgen, m. a. W. er fragt nach den Gesetzen, die sich zur Regelung der neuen Freiheit gegenüber der alten auf Privilegien basierenden Ordnung wirklich ergeben haben; fraglich sind für ihn: „Die Gesetze der Vernünftigkeit, des Rechts an sich, die objektive oder die reelle Freiheit: hierher gehört Freiheit des Eigenthums und Freiheit der Person." (Jub 11, 558) Ein auch nach der Revolution und den Revolutionskriegen bleibendes Problem besteht für Hegel in der Vermittlung oder Versöhnung des Geistigen mit dem Wirklichen bzw. darin, „daß in dem Staate neben dem Regiment der wirklichen Welt auch das freie Reich des Gedankens selbständig emporblühe". In der hier zitierten Berliner Antrittsvorlesung vom 22. Oktober 1818 scheint Hegel zu meinen, dieses Problem sei durch die Reformen in Preußen im Zuge der Befreiungskriege und der Zeit danach einer Lösung nähergebracht worden. Insofern meint er, in Preußen habe „die sittliche Macht des Geistes . . . ihr Gefühl als Gewalt und Macht der Wirklichkeit geltend gemacht" (BS 4 f), und in diesem Gefühl sieht er „alles Rechtliche, Moralische und Religiöse“ konzentriert (BS 5). Damit wird dieses ,Gefühl' (an anderer Stelle wird Hegel von „Gesinnung" spreJub 11, 558; zu dem an Kopemikus — und Kant — erinnernden Bild vgl. Anm. 20. Der Text entspricht im wesentlichen der Nachschrift von Karl Hegel (497 f), vgl. Anm. 44. — Zur Fraglichkeit eines nachhaltigen Erfolges der Französischen Revolution vgl. G. Planty-Bonjour: Du regime repr^sentatif seien Sieves ä la monarchie constitutionelle seien Hegel. In: Hegels Rechtsphilesephie .. . (s. Anm. 2) 34: „Ce ,magnifique lever de soleil' que tut la Revolution francaise ne peut faire oubUer que cette meme r^volution fut impuissante ä produire la Constitution d'un Etat moderne. Hegel a eu raison de le souligner." G. W. F. Hegel: Berliner Schriften. 1818—1831. Hrsg, von J. Hoffmeister. Hamburg 1956. 4. (Sigle: BS.)
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chen) zu dem eigentlich Substantiellen gegenüber der „Flachheit des Lebens" und der „Schalheit der [bloß individuellen, H.-C. L.] Interessen"; insofern entspricht der postnapoleonischen Zeit ein , tiefes und allumfassendes Wirken' des Geistes in der Wirklichkeit; Hegel nennt dies auch den ,tieferen Ernst': „Dieser tiefere Ernst, der in das Gemüt überhaupt gekommen ist, ist denn auch der wahrhafte Boden der Philosophie. “ (BS 5) Ein solches Urteil über Preußen wird sich freilich bei Hegel so nicht wiederholen, vielmehr sieht er sich gegen Ende seines Lebens erneut vor das Problem gestellt, daß die durch die Revolution gestellten Aufgaben letztlich immer noch nicht gelöst worden sind. Als Hauptproblem gilt ihm in der letzten Fassung seiner Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (von 1830/31) das Verhältnis von Allgemeinem und Einzelnem in der Gestalt von Regierung und Gesinnung, und er greift historisch weit zurück, um die neu entstandene Problemlage beleuchten zu können: „Plato in seiner Republik setzt Alles auf die Regierung und macht die Gesinnung zum Principe, weshalb er denn das Hauptgewicht auf die Erziehung legt. Ganz dem entgegengesetzt ist die moderne Theorie, welche Alles dem individuellen Wülen anheimsteUt. Dabei ist aber keine Garantie, daß dieser Wille auch die rechte Gesinnung habe, bei der der Staat bestehen kann." (Jub 11, 560) Der Bestand der modernen Staaten ist also offenbar darum nicht auf Dauer gewährleistet, weil es an der rechten Gesinnung fehlt. — Dem Prinzip, daß alle im Staat durch den Monarchen vertreten werden, dem auch die letzte Entscheidung zukommt, tritt unter dem Panier der Freiheit der Wille der Vielen bzw. Aller entgegen, an den Beschlußfassungen beteiligt werden zu wollen. Der Mittelweg der repräsentativen Demokratie scheint Hegel auch keine gültige Lösung dieses Dilemmas zu bieten: „Die Wenigen sollen die Vielen vertreten, aber oft zertreten sie sie nur." 0ub 11, 559) Die von dem Liberalismus (bzw. dem politischen Atomismus) ausgehende Gefahr besteht für Hegel vor allem darin, daß in dieser Tradition politisch „nichts Festes von Organisation aufkommen" könne. (Jub 11, 563) Entsprechend fürchtet Hegel eine unaufhörliche Kette von Revolutionen und Verfassungserneuerungen auf sein Zeitalter zukommen: „Den besonderen Verfügungen der Regierung stellt sich sogleich die Freiheit entgegen, denn sie sind besonderer Wille, also Willkür. Der Wille der Vielen stürzt das Ministerium, und die bisherige Opposition tritt nunmehr ein; aber diese, insofern sie jetzt Regierung ist, hat wieder die Vielen gegen sich. So geht die Bewegung und Unruhe fort." 0ub 11, 563) Die vorher angesprochene „tiefere Arbeit" sowie der „tiefere Ernst" als das Versöhnen der Gegensätze sind in Wahrheit weder durch die Revo-
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lution noch seither durch andere Geschehnisse geleistet worden, sondern sie bestehen als Aufgabe für die Zukunft weiter: „Diese Collision, dieser Knoten, dieses Problem ist es, an dem die Geschichte steht, und den sie in künftigen Zeiten zu lösen hat." (Ebd.) — Ritter weist völlig zu Recht darauf hin, daß dies einige der wenigen Stellen sei, an denen Hegel überhaupt von der Zukunft spreche; „Er tut dies hier im Hinblick auf die ungelösten Probleme der durch die Revolution konstituierten Gesellschaft und ihrer politischen Ordnung. II. Zwei unbestreitbare Ausgangspunkte für Hegels Denken haben einerseits die Revolution in Frankreich und andererseits die Revolution der Denkungsart^o in Kants Kritik der reinen Vernunft bedeutet. Ein frühes Zeugnis für die Verbindung dieser beiden Komponenten ist die Briefmitteilung von Hegel an Schelling vom 16. April 1795, in der es heißt: „Vom Kantischen System und dessen höchster Vollendung [an wen hier als Vollender gedacht ist, kann nicht eindeutig festgelegt werden, es muß jedenfalls nicht unbedingt allein Fichte sein; H.-C. L.] erwarte ich eine Revolution in Deutschland, die von Prinzipien ausgehen wird, die vorhanden sind und nur nötig haben, allgemein bearbeitet, auf alles bisherige Wissen angewendet zu werden. In dem gleichen Brief beklagt Hegel; „Religion und Politik haben unter einer Decke gespielt, jene hat gelehrt, was der Despotismus wollte" und daß „gegenwärtig der Geist der Verfassungen nüt dem Eigennutz einen Bund gemacht, auf ihn sein Reich gegründet" habe. (Ebd. 24) Hegel verknüpft also gut sichtbar bereits in seinen frühen Ansätzen die geistige mit der ihr folgenden politischen Revolution — und benennt mit dem „Eigennutz", später wird der Titel „Privilegien" vorgezogen, den Gegner seines Denkansatzes, aber auch seiner politischen Zielvorstellung. In dem Fragment „Jedes Volk . . .", ebenfalls aus der Berner Zeit, werden diese Zusammenhänge, wieder unter dem von Hegel gefeierten Titel „Revolution", auf eine andere epochale Wende projiziert, nämlich auf /. Ritter (s. Anm. 2). 21. ^ Vgl. dazu 1. Kant: Kritik der reinen Vernunft. B XVI—XXII; dort verwendet Kant selbst die Ausdrücke „veränderte Methode", „Umänderung der Denkungsart" und „Revolution" in gleicher Weise und parallelisiert sie mit der Wendung, die Kopernikus dem Denken über das Verhältnis von Sonne und Erde gegeben hat. 21 Briefe von und an Hegel. Bd 1. 23 f.
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das erfolgreiche Auftreten des Christentums: „Die Verdrängung der heidnischen Religion durch die christliche ist eine von den wunderbaren Revolutionen, deren Ursachen aufzusuchen den denkenden Geschichtsforscher beschäftigen muß. Den großen in die Augen fallenden Revolutionen muß vorher eine stille, geheime Revolution in dem Geiste des Zeitalters vorausgegangen seyn, die nicht jedem Auge sichtbar, am wenigsten für die Zeitgenossen beobachtbar, und ebensoschwer mit Worten darzustellen als aufzufassen ist."22 Der ursächliche Zusammenhang einer vorhergehenden geistigen , stillen, geheimen' Revolution mit einer dann erst nachfolgenden politischen, wie er aus späteren Zeugnissen immer wieder deutlich wird, steht Hegel offenbar bereits zu dieser Zeit vor Augen. Freilich sieht er diese frühe ,Revolution' scheitern. (Vielleicht hat er dabei auch schon ein Scheitern der für ihn gegenwärtigen Revolution vor Augen?) „Zu einer solchen durch ein göttliches Wesen zustandezubringenden Revolution, wobei die Menschen sich ganz passiv verhielten, machten auch die ersten Ausbreiter der christlichen Religion Hoffnung, und als diese Hoffnung endlich verschwand, so begnügte man sich jene Revolution des Ganzen am Ende der Welt zu erwarten." (GW 1, 371; Nohl 224) Das Verlagern der Revolution als des Gerichts an das Ende der Weltgeschichte verursacht Hegel offenbar bereits zu dieser Zeit Mißvergnügen; er wird später zu seiner eigenen Konzeption der ,Geschichte als des Weltgerichts'^^ finden, die dieser Verlagerung an das Ende grundsätzlich widerspricht. Es ist jedoch auch bereits aus der Berner Zeit bekannt, daß Hegel die blutigen Auswüchse der Jacobiner-Herrschaft verurteilt. So nimmt er Weihnachten 1794 in seinem Brief an Schelling Bezug auf aktuellste Pariser Ereignisse und fragt aber auch danach, ob Schelling und seine Freunde sich noch weiter über die französischen Ereignisse informiert halten: „Daß Carrier guillotiniert ist, werdet Ihr wissen. Lest Ihr noch französische Papiere? . . . Dieser Prozeß ist sehr wichtig und hat die ganze Schändlichkeit der Robespierroten enthüllt. ^ G. W. F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd 1: Frühe Schriften I. Hrsg, von F. Nicolin u. G. Schüler. Hamburg 1989. 365; vgl. Hegels theologische Jugendschriften. Hrsg, von H. Nohl. Tübingen 1907. (Nachdruck: Frankfurt a. M. 1966.) 220. ^ Vgl. vom Verf. Die Weltgeschichte als das Weltgericht. Zur Modifikation von Hegels Geschichtsbegriff in Heidelberg. In: Hegel-Jahrbuch 1981/82. Rom 1986. 82—96. Briefe von und an Hegel. Bd 1. 12. — Es handelte sich um einen Prozeß im Rahmen der Verfolgung von Jakobinern und Sansculotten in der Zeit des Thermidorkonvents. Carrier war in Nantes als besonders grausamer Vertreter des Terrors hervorgetreten. Vgl. A. Soboul: Die Große Französische Revolution. Ein Abriß ihrer Geschichte (1789—1799). 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1976. 308, 391 f.
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Versuche eines direkten Zugriffs Hegels auf das politische Geschehen seiner Zeit signalisieren seine erste Druckschrift, die 1798 anonym veröffentlichte (bereits in Bern angefertigte) Übersetzung und Kommentierung der sogenannten Carf-Briefe, die gegen die Verwaltungspraxis, welche die Stadt Bern gegenüber dem Waadtland ausübte, Stellung bezieht, und das unveröffentlicht gebliebene Fragment einer Flugschrift zu den Landständen in Hegels Heimat Württemberg, ebenfalls aus dem Jahr 1798, also aus der Frankfurter Zeit.^s In beiden Schriften werden ausserfranzösische Verhältnisse dem Ringen um ein auf Vernunft basierendes Recht, um ein allgemeines Freiheitsrecht, das von der Französischen Revolution seinen Ausgang genommen hatte, also den revolutionären Grundbestrebungen der Zeit zugeordnet. Freilich kann man möglicherweise bereits in diesen Ansätzen eine Eingrenzung des Revolutionskonzepts auf einen rechtlich-politischen Rahmen gegenüber dem früher mitvertretenen Konzept einer auch kulturellen und sozialen Revolution erkennen^ö, damit wird das Gesamtkonzept des revolutionären Wandels letztlich an den real erzielten dauerhaften Reformen hinsichtlich der politischen Freiheit bemessen bzw. Hegels politisches Grundkonzept wird eigentlich bereits jetzt zu einem reformistischen, obgleich er sich im Rahmen der württembergischen Auseinandersetzungen den vergleichsweise radikalsten (wenngleich doch letztlich reformistisch bleibenden) Kreisen der Opposition gegen den Fürsten verbunden fühlt.^^ Dieser Wandel geht einher mit einer gewissen Ernüchterung über die französische Eroberungspolitik und den damit verbundenen , Länderschacher' auf dem Rastatter Kongreß. Diese Ernüchterung spricht noch sehr deutlich aus den einleitenden Formulierungen der Fragmente, die unter dem Titel Verfassungs-Schriit bekannt sind. Wenn das Fragment zu den Württemberger Verhältnissen von 1798 noch die Frustration einer gewissen politisch-aktionistischen Tendenz verriet, so hat sich diese nun offenbar verloren. Dieser Positionswechsel wird programmatisch in der ,Einleitung' der Verfassungs-Schiih formuliert: „Die Gedanken, welche 25 Zu diesen beiden Schriften vgl. vom Verf. „Sehnsucht nach einem reineren, freieren Zustande". Hegel und der württembergische Verfassungsstreit. In: „Frankfurt aber ist der Nabel dieser Erde". Das Schicksal einer Generation der Goethezeit. Hrsg, von Ch. Jamme u. O. Pöggeler. Stuttgart 1983. 73—103. Speziell zu den Cart-Briefen vgl. den Abschnitt „Der politisch-soziale Hintergrund des Berner Hegel — Seine Antwort mittels der ,Vertraulichen Briefe'" — in: M. Bondeli: Hegel in Bern. Bonn 1990. (Hegel-Studien. Beiheft 33.) 25—36. 25 Vgl. M. Bondeli: Zu Hegels praktischer Philosophie der Französischen Revolution. In: Hegel-Jahrbuch 1991. Bochum 1991. 353-360, bes. 358. 22 Vgl. den in Anm. 25 genannten Artikel des Verf. „Sehnsucht. . .", in dem solchen Zusammenhängen eigens nachgegangen wird.
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diese Schrift enthält, können bei ihrer öffentlichen Äußerung keinen anderen Zweck noch Wirkung haben, als das Verstehen dessen, was ist, und damit die ruhigere Ansicht sowie ein in der wirklichen Berührung und in Worten gemäßigtes Ertragen derselben zu befördern." (MM 1, 463) Die Formel vom „Verstehen dessen, was ist" und die darauf folgende Formulierung scheint nun allerdings jede Form einer Verbundenheit von Philosophie, jedenfalls seiner Philosophie, und Revolution zu verbieten, daran kann auch die folgende Variante nicht viel ändern, sondern sie scheint die kontemplative Grundhaltung noch zugespitzt darzustellen: „Denn nicht das, was ist, macht uns ungestüm und leidend, sondern daß es nicht ist, wie es sein soll; erkennen wir aber, daß es ist, wie es sein muß, d. h. nicht nach Willkür und Zufall, so erkennen wir auch, daß es so sein soll." (Ebd.) Dem entspricht in der Verfassungs-Schiiit eine kritische Zuordnung der Ursachen und Auswirkungen der Französischen Revolution zu einer mechanistischen, als nur von der Spitze her funktionierend vorgestellten Staatskonzeption. Es ist dabei allerdings zu bedenken, daß Hegels Kritik gegen Frankreich in diesem Zusammenhang dennoch der Revolution verbunden bleibt, indem er gegen einen obrigkeitsstaatlichen Maschinenstaat ist. Jedenfalls spricht er gegen den „Ton der Pedanterie des Herrschens", den er der ,französischen Republik' zuordnet, und verurteilt gleichzeitig die „Dürre in einem anderen, ebenso geregelten Staate" und bezieht sich dabei auf Preußen. (MM 1, 484) Trotz aller Skepsis, die auf diese Weise sichtbar wird, geht Hegel auch zu dieser (durch seine Ernüchterung geprägten) Zeit davon aus, daß die Französische Revolution das Verständnis von Freiheit dadiurch weitergebracht habe, daß sie „die Begriffe über Freiheit" gereinigt habe: „Da seit zehn Jahren ganz Europa seine Aufmerksamkeit auf das fürchterliche Ringen eines Volkes nach Freiheit heftete und ganz Europa in allgemeiner Bewegung des wegen war, so kann es nicht anders sein [als] daß die Begriffe über Freiheit [MS: über Begriffe] eine Veränderung erlitten und [sich] aus ihrer vorherigen Leerheit und Unbestimmtheit geläutert haben." (MM 1, 570) Nun scheint freilich die Skepsis gegenüber der Französischen Revolution fast eingeebnet. Die Blutstürze werden nicht mehr erwähnt, und der gesamte Vorgang erscheint als Reinigung, als Läuterung. Die Schrift bleibt jedoch in sich widersprüchlich, indem der Zusammenhang von Freiheitsstreben und militärischer Gewaltanwendung angeprangert wird. „Es ist aber sichtbar, daß durch den zehnjährigen Kampf und das Elend eines großen Teils von Europa soviel wenigstens an Begriffen ge-
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lernt worden ist, um gegen ein blindes Geschrei von Freiheit unzugänglicher zu werden/' (MM 1, 572) Hier scheint Hegel sich nun endgültig von der Revolution zu verabschieden; „In diesem blutigen Spiel ist die Wolke der Freiheit zerflossen ..." (Ebd.) In der Tat entwickelt Hegel zu dieser Zeit einen Etatismus, von dem er nie wieder ganz ablassen wird. Es ist nicht eindeutig zu entscheiden, auf welche philosophischen Einflüsse Hegel in dieser Hinsicht zurückgreift, es spricht jedoch manches für einen Einfluß von Spinoza.28 Ohne sich hier zu einer spinozanischen Ontologie zu entscheiden, weist Hegel doch in derselben Schrift auf „die Wahrheit" hin „die in der Macht" liege (MM 1, 529). Im Übergang nach Jena treten, obwohl Hegel zunächst noch an der Verfassungs-SchnÜ fortarbeitet, die genuin philosophischen Interessen stärker in den Vordergrund, politische Zielsetzungen können allenfalls in zweiter Linie bedeutsam werden. So jedenfalls ließe sich die berühmte Briefstelle vom 2. November 1800 lesen: „In meiner wissenschaftlichen Bildung, die von untergeordneten Bedürfnissen der Menschen anfing, mußte ich zur Wissenschaft fortgetrieben werden, und das Ideal des Jünglingsalters mußte sich zur Reflexionsform, in ein System zugleich verwandeln; ich frage mich jetzt, während ich noch damit beschäftigt bin, welche Rückkehr zum Eingreifen in das Leben der Menschen zu finden ist." (Briefe. Bd 1. 59 f) Das sogenannte System der Sittlichkeit und die verschiedenen Ausführungen zur Realphilosophie belegen Hegels fortschreitende Bemühungen um das philosophisch-systematische Erfassen der politischen Wirklichkeit, insbesondere im Blick auf Staat und Verfassung. Das philosophisch-spekulative Aufarbeiten der Ereignisse der Französischen Revolution erfolgt für die Jenaer Zeit eigentlich erst in der Phänomenologie des Geistes. In deren „Vorrede" wird in ausführlichen, metaphemreichen Formulierungen die von der Französischen Revolution ausgehende Epochenwende, also ein noch immer aktuelles Geschehen, in die ständig ,fortschreitende Bewegung' des Geistes einbezogen. Das Entstehen des Neuen und Anderen in der Geschichte des Geistes, somit die Brüche werden dabei gleichzeitig bezogen auf die bleibende Einheit des Geistes und auf
28 Vgl. die in Anm. 25 genannte Schrift des Verf. „Sehnsucht..." (besonders die einleitenden und abschließenden Teile).
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das Kontinuum seiner Bewegung.^^ Unter dem Eindruck der Epochenwende schildert Hegel seine Gegenwart als „eine Zeit der Geburt und des Uebergangs zu einer neuen Periode" (GW 9, 14) und betont, daß der Geist „mit der bisherigen Welt seines Daseyns und Vorstellens gebrochen" habe (ebd., meine Hervorhebung). Gleichzeitig hebt er jedoch mit großer Ausführlichkeit die Langsamkeit der Vorbereitung des Bruchs (man erinnert sich an seine Berner Formulierung von der , stillen, geheimen Revolution', die den , großen, ins Auge fallenden Revolutionen' vorauszugehen haben) und die Blitzartigkeit der eigentlichen Ruptur hervor; „Aber wie beym Kinde nach langer stiller Ernährung der erste Athemzug jene Allmähligkeit des nur vermehrenden Fortgangs abbricht, — ein qualitativer Sprung und itzt das Kind gebohren ist, so reifft der sich bildende Geist langsam und stille der neuen Gestalt entgegen, . . . Diß allmählige Zerbrökeln, das die Physiognomie des Ganzen nicht veränderte, wird durch den Aufgang unterbrochen, der ein Blitz in einemmahle das Gebüde der neuen Welt hinstellt." (GW 9, 14 f) Wie das Neue einer langwierigen Vorbereitung seines Aufgangs bedarf, so bedarf es für Hegel auch einer Phase der Konsolidierung des Neuen und Anderen zu einem in sich differenzierten konkreten Ganzen. (Die Metaphorik soll nun den gestalterischen Prozeß verdeutlichen und wird wohl daher z. T. architektonisch.) „So wenig ein Gebäude fertig ist, wenn sein Grund gelegt worden, so wenig ist der erreichte Begriff des Ganzen das Ganze selbst. . . Der Anfang des neuen Geistes ist das Product einer weitläufigen Umwälzung von mannichfaltigen Bildungsformen, der Preis eines vielfach verschlungenen Weges und eben so vielfacher Anstrengung und Bemühung . . . Die Wirklichkeit dieses einfachen Ganzen aber besteht darin, daß jene zu Momenten gewordne Gestaltungen sich wieder von neuem, aber in ihrem neuen Elemente, in dem gewordenen Sinne entwickeln und Gestaltung geben." (GW 9, 15) Man kann dies freilich so lesen, daß Wandel, Revolution und Reformen (als bleibendes Ergebnis der Ruptur) für Hegel stets aufeinander bezogen bleiben. — Werm das Neue jedoch im Zustande der (anfänglichen) Abstraktion verharren will, der sich nach der Ruptur zunächst ergibt, bleibt seine Tätigkeit letztlich dabei stehen, die bisherige Welt „in die Vergangenheit zu versenken" (GW 9, 114). Im Abschnitt „Die absolute Freiheit und der Schrecken" wird dies (mit einem noch näheren Blick auf die Vgl. vom Verf, Kontinuität, Einheit und das Neue. Überlegungen zu Hegel und Thomas S. Kuhn, ln: Logik und Geschichte in Hegels System. Hrsg, von H.-C. Lucas u. G. Planty-Bonjour. Stuttgart-Bad Cannstatt 1989. 259—292.
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französischen Verhältnisse) genauer ausgeführt: „Kein positives Werk noch That kann also die allgemeine Freyheit hervorbringen; es bleibt ihr nur das negative Thun; sie ist nur die Furie des Verschwindens . . . Das einzige Werk und That der allgemeinen Freyheit ist daher der Tod . . . der kälteste, platteste Tod ohne mehr Bedeutung, als das Durchhauen eines Kohlhaupts oder ein Schluck Wassers." (GW 9, 319 f) Diese auf Abstraktion beruhende, bloß negative Wirksamkeit der Revolutionsregierungen kann für Hegel nur überwunden werden, wenn in der und durch die Regierung wirklich die Allgemeinheit repräsentiert wird, wenn also die Regierung selbst nicht Partei (oder „Faction", wie Hegel schreibt — ebd. 320) ist. Dieser andere Status der Regierung ist aber nur als Resultat eines weiteren wesentlichen Übergangs im Fortschreiten des Geistes denkbar: „Wie das Reich der wirklichen Welt in das Reich des Glaubens und der Einsicht übergeht, so geht die absolute Freyheit aus ihrer sich selbst zerstörenden Wirklichkeit in ein anderes Land des selbstbewußten Geistes über, . . . (GW 9, 323) Dieses , andere Land' des Geistes muß allerdings nicht wortwörtlich oder geographisch genommen werden, sondern kann angemessener als , Sphäre' verstanden werden, die der Geist auch im geographisch gleichen Land erreichen kann. Auf diese ,Sphäre' verweist einerseits die Konsolidierung der Regierung unter dem Direktorium, noch entscheidender aber für Hegel unter der Herrschaft Napoleons. — ln Heidelberg wird Hegel dann neue Akzente setzen, die allerdings auch nur von zeitlich begrenzter Gültigkeit sind. Hegel greift mit seiner Rezensionsschrift über die im Druck erschienenen Verhandlungen in der Versammlung der Landstände des Königreichs Württemberg im Jahre 1815 und 1816. I.—XXXIII. Abtheilun^^ erneut in politische Verwicklungen in seiner näheren Heimat ein. Nunmehr geht es um Verhältnisse, die sich erst nach der Auflösung des Deutschen Reiches als Staatsverband ergeben konnten. Württemberg wurde 1806 gebietsmäßig stark arrondiert und erlangte die Königswürde, hatte aber gemäß der Bundesakte vom 8. Juni 1815 die Einführung einer Verfassung zu gewährleisten. Für Hegel ersteht so dem König und den neuerlich einberufenen Landständen „die Aufgabe, die Wirtembergischen Lande zu einem Staate zu errichten"Er versteht dies Ereignis, ohne daß ihm bereits eine ausgearbeitete Philosophie der Geschichte zur Verfügung stünde, unter 30 Zum folgenden vgl. näher vom Verf. „Wer hat die Verfassung ..." (s. Anm. 2), besonders 201 ff. 31 G. W. f. Hegel: Schriften und Entwürfe! (1817—1825). Gesammelte Werke. Bd 15. Hrsg, von F. Hogemann u. Ch. Jamme. Hamburg 1990. 31. (Im folgenden: GW 15.)
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einer denkbar weitgreifenden Perspektive, nämlich derjenigen der Staatengründung im Laufe einer schon begonnenen Geschichte: „Solche Epochen sind höchst selten, eben so selten die Individuen, welchen das Schicksal das ausgezeichnete Loos zutheilte, Staaten zu stiften." (GW 15, 31) Dabei rechnet Hegel seine Gegenwart insgesamt in immer neuen Formulierungen, die auf eine 25-jährige Dauer hinweisen, zur Tradition der Französischen Revolution und deren verpflichtendem Erbe. Die auf den Ausbruch der Revolution folgende Zeit wird wohl als furchtbarer Mörser, als Gericht, dargestellt, „um die falschen Rechtsbegriffe und Vorurtheile über Staatsverfassungen zu zerstampfen" (GW 15, 62), aber doch immer auch in der Doppelperspektive betrachtet, einerseits eine „abgelaufene, meist fürchterliche Wirklichkeit" zu repräsentieren, andererseits jedoch auch „eine kostbare vollständige Erfahrung gegeben" zu haben, „die Idee [eines Staates; H.-C. L] zu fassen". (GW 15, 32) Wieder mit Verweis auf die „letzten 25 Jahre" erinnert Hegel an „die Gefahren und Fürchterlichkeiten, welche sich an die Erschaffung neuer Verfassungen . . . geknüpft" hatten, und stellt derb-ironisch daneben die „gefahrlose Ruhe und NuUität, in welche die Institute der vormaligen [!] landständischen Verfassungen sich herabgebracht hatten." (GW 15, 33) Ohne den Verlauf der Französischen Revolution weiter zu berücksichtigen, da er letztlich die dauerhafte auf Vernunft beruhende Verfassung noch nicht erbracht hat, wenn man von der durch octroi erlassenen „Charte" absieht (vgl. GW 15, 77 f), verlegt Hegel den entscheidenden politischen und geistig-philosophischen Impuls doch immer wieder um 25 Jahre zurück, also auf den Ausbruch der Revolution mit dem Sturm auf die Bastille: „Man muß den Beginn der französischen Revolution als den Kampf betrachten, den das vernünftige Staatsrecht mit der Masse des positiven Rechts und der Privilegien, wodurch jenes unterdrückt worden war, einging; ..." (GW 15, 61) Daran gemessen haben die württembergischen Landstände hinsichtlich ihrer alten Rechte und Privilegien „nichts vergessen" und hinsichtlich der neuen, an einer Rechts- und Verfassungsbegründung auf dem Boden der Vernunft ausgerichteten Bewegung (wieder bezogen auf „diese letzten 25 Jahre"), die von der Französischen Revolution ausging, „nicht gelernt", sie haben damit für Hegel „die für uns lehrreichsten [Jahre; H.-C. L.], weil ihnen unsere Welt und unsere Vorstellungen angehören, verschlafen". (GW 15, 61 f) Daß der auf Vernunft beruhende Gesetzesvorschlag für eine württembergische Verfassung nun von oben kommt, kann für Hegel den guten Sinn der Reformen nicht schmälern, wenn andere der Aufgabe „den Grundriß für eine zu entwerfende Gesetzgebung . . . wie die mosaischen
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Gebote oder die berühmten Droits de l'homme et du citoyen der neueren Zeit" (GW 15, 51) durch konkrete Gesetzgebung und Ausarbeitung einer Verfassung auf der Basis der Vernunft nicht nachzukommen bereit sind. Insofern vergleicht er unter der Hand den König von Württemberg mit seinem Verfassungsentwurf mit ehrwürdigsten Vergleichspartnern, nämlich Solon, Lykurg, Moses, aber auch mit Ludwig XVIII. von Frankreich. Alle diese prominenten Gesetzgeber sieht er „eine List" gebrauchen, „um den sogenannten Willen des Volks und die Erklärung dieses Willens über ihre Verfassung zu beseitigen", ihre Legitimation beruhe aber gerade nicht auf dem Volkswillen, sondern sie hätten „die göttliche oder königliche Autorität zum Grunde der Gültigkeit" der zu gebenden Verfassung gemacht. (GW 15, 77 f) Es scheint nun klar, daß Hegel die Lehre aus der postrevolutionären Zeit gezogen hat, daß erfolgreiche und dauerhafte Reformen eher von einer , Revolution von oben'zu erwarten seien. M. a. W., wenn die politisch aktiven Bürger nicht imstande sind, die Zeichen der Zeit, die durch den Ausbruch der Französischen Revolution gesetzt worden sind, zu entziffern, dann ist es eine legitime Aufgabe der Herrscher, im Sinne dieser Zeichen eine neue, auf Vernunft begründete Herrschaftsform qua Staatsverfassung zu schaffen. Diese Ansicht führt bei Hegel letztlich zu einem Verständnis von Revolution, das die umstürzende Bewegung von unten und von oben gleich bewertet, entsprechend heißt es in den Heidelberger Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft aus dem Wintersemester 1817/ 18: „Die Revolutionen gehen nun entweder vom Fürsten oder von dem Volk aus."32 Damit steht vollkommen in Einklang, daß Hegel die von Ludwig XVIII. von Frankreich erlassene Charte constitutioneile von 1814 als die Verfassung feiert, die dem Geist der Zeit entspreche, während man inzwischen die Charte als „eine von der Krone oktroyierte Verfassung", in der „lediglich als ,Gnadengeschenk' [ein Teil] der [dem König] zukommenden Machtbefugnisse ... an andere Staatsorgane" verliehen worden sei, erheblich skeptischer beurteilen würde.33 Hegel jedoch vergleicht laut dem Text dieser Vorlesungsnachschrift Ludwig XVIII. mit Moses, Solon und Theseus und sieht den Oktroi aus dem Volksgeist er32 G. W. F. Hegel: Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft. Heidelberg 1817/18 mit Nachträgen aus der Vorlesung 1818/19. Nachgeschrieben von P. Wannemann. [Hrsg, von den Mitarbeitern des Hegel-Archivs.] Hamburg 1983. 220. (Sigle; Wa.) 33 C.-F. Menger: Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit. Eine Einführung in die Grundlagen. 3. Aufl. Heidelberg, Karlsruhe 1981. 123. Vgl. ferner: Les Constitutions de la France depuis 1789. Hrsg, von J. Godechot. Paris 1979. 209 ff. Hier wird die Charte, vielleicht eher im Sinne Hegels, als Kompromiß zwischen Prinzipien des Anden Regime und der Revolution verstanden (215).
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wachsen: „Daß er dem Volk die Verfassung gab, war nur der Akt der Autorität, der Inhalt aber war der geläuterte Volksgeist. Und nun ist die Charte der Leuchtturm, . . (Wa 190 £, 134 Anm.) In der welthistorischen Skizze am Schluß der Vorlesung, welche bereits die Vier-Reiche-Gliederung aufweist, läßt Hegel dann das vierte Reich im Erreichen der konstitutionellen Monarchie gipfeln, „der Staat als konstitutionelle Monarchie" ist für ihn „ein Bild und die Wirklichkeit der entwickelten Vernunft". (Wa 264, 170) Im Anschluß an diese Vorlesung wäre nun der Text der Grundlinien der Philosophie des Rechts daraufhin zu untersuchen, wie dort der „Organismus des Staates" in der Ausbildung von Verfassungen im Sinne der konstitutionellen Monarchie in Hegels Gegenwart seinen Kulminationspunkt zugewiesen bekommt: „Die Ausbildung des Staats zur konstitutionellen Monarchie ist das Werk der neueren Welt, in welcher die substantielle Idee die unendliche Form gewonnen hat."^^ Ein ausführliches Eingehen auf diesen zentralen Text würde hier jedoch den Rahmen sprengen, ohnehin scheint es vielversprechender, Hegels letzte politische Schrift vor dem Hintergrund seiner geschichtsphUosophischen Vorlesungen zu lesen als vor dem Hintergrund der Rechtsphilosophie. III. Hegel hat seine Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, turnusmäßig alle zwei Jahre, fünfmal in Berlin vorgetragen — und zwar in den Wintersemestern 1822/23, 1824/25, 1826/27, 1828/29 und 1830/31.36 Wie ^ G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Mit Hegels eigenhändigen Randbemerkungen in seinem Handexemplar der Rechtsphilosophie. Hrsg, von J. Hoffmeister. Hamburg 1955. 236, 273 Anm. ^ Damit wird M. J. Petry widersprochen, wenn er die Reformbill-Schrrft vor dem politischen Hintergrund Preußens und dem philosophischen Hintergrund der Grundlinien gelesen wissen wiU; „If we are looking for the more purely philosophical background of Hegel's assessment of the Reform BiU, it is natural that we should tirrn to his main work on political theory, the Philosophy of Right.“ M. }. Petry: Propaganda and analysis: the background to Hegel's article on the English Reform Bill, ln: The State and Civil Society. Studies in Hegel's Political Philosophy. Ed. by Z. A. Pelczynski. Cambridge usw. 1984. 147. Natürlich hat Petry Recht, wenn er die Suche nach der Darstellung, was derm für Hegel eine konstitutionelle Monarchie ausmache, auf die Grundlinien verweist, aber das Haupt-Argument der ReformbiU-Schrift ist eben doch ein welthistorisches, das aber letztlich auch dem Umkreis der Rechtsphilosophie entstammt. ^ Zur allgemeinen Darstellung dieser Vorlesungen und der uns erhaltenen Quellen vgl. F. Hespe: Hegels Vorlesungen zur „Philosophie der Weltgeschichte", ln: Hegel-Studien 26 (1991), 78-87.
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bei anderen Vorlesungen Hegels, die sich nur lose an das Kompendium (meist die Enzyklopädie) anschließen, ergeben sich hier für die verschiedenen Jahrgänge unterschiedliche Inhalte und Schwerpunkte der Darstellung, wenn man einmal von dem durch die Rechtsphilosophie vorgegebenen Grundschema der Vier-Reiche-Lehre absieht. Man kann daher bei aller Kontinuität doch auch beim reifen Hegel so etwas wie eine Entwicklungsgeschichte seines Denkens ausmachen, die sich bis zu seinem plötzlichen Tode hinzieht. Bereits die beiden ersten Herausgeber dieser Vorlesungen im Rahmen der Werke^'^ stellen gravierende Unterschiede hinsichtlich der frühen und der späteren Versionen fest; so konstatiert Eduard Gans in seinem Herausgeber-Vorwort: „Erst im Jahrgange 1830/ 31 kam Hegel dazu, etwas weitläufiger von dem Mittelalter und der neueren Zeit zu handeln, und die Darstellung im Buche ist meist diesem letzteren Vortrage entlehnt." 0ub 11, 15) Karl Hegel, der Herausgeber der zweiten Auflage, berichtet im Vorwort zru zweiten Ausgabe noch über ganz andere Unterschiede: „Da . . . eine jede Vorlesung bei ihm eine neue That des Gedankens war, so giebt auch jede nur den Ausdruck derjenigen philosophischen Kraft, welche den Geist zur Zeit belebte; und so zeigt sich wirklich in den ersten beiden Vorträgen von 1822/23 und 1824/25 eine weit ergreifendere Energie der Idee und des Ausdrucks, eine viel reichere Ausstattung an schlagenden Gedanken und treffenden Bildern, als in den späteren zu finden ist, wo jene erste Begeisterung, welche die Gedanken bei ihrer Entdeckung begleitet, durch die Wiederholung an lebendiger Frische nm verlieren konnte." 0ub 11, 18) — Bekanntlich haben solche Erkenntnisse die frühen Herausgeber jedoch nicht daran gehindert, verschiedene Nachschriften zu einem integralen Text zu kompilieren und die soeben bezeichneten Unterschiede durch diese Editionstechnik wieder zu verwischen bzw. zu eliminieren. Wollen wir uns heute ein Bild der Entwicklung verschaffen, müssen wir also auf die Vorlesungsnachschriften zurückgreifen, die uns erhalten sind. Uns soll hier im Blick auf Revolution und Reform bei Hegel nur der Teil der Vorlesung, der ,die Periode der neuern Zeit' behandelt, interessieren. Für die Vorlesung von 1822/23 liegt eine mit dem Namen von
G. W. F. Hegel: Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden . .. Bd9. Hrsg, von E. Gans. Berlin 1837; 2. Auflage besorgt von K. Hegel. Berlin 1840. (Jub 11 gibt die 2. Aufl. wieder).
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Griesheim verbundene zweibändige Nachschrift vor.3® In dieser Vorlesung ist mit der Lutherschen Reformation zwar „die christliche Freiheit wirklich geworden", aber der Folgezeit bleibt doch noch die Aufgabe, diese Freiheit zu der des Geistes zu machen: „Wenn man die subjektive Freiheit bloß ins Gefühl setzt, so bleibt man bei dem natürlichen Willen stehen, der fühlende Willen, ist der natürliche Willen. Das neue Panier um das sich die Völker sammeln ist das des freien Geistes, und dies bezeichnet die Periode der neuen Zeit, . . (G II, 279) Die politische Freiheit bleibt demnach jedoch stets auf die in der Religion entwickelte Freiheit bezogen: „So kann man sagen, daß die Verfassung der Staaten auf Religion gegründet ist. . . der Inhalt des Staats ist nichts anderes als die Erscheinung der Religion." (G II, 281) Insofern ist das Grundinteresse der neueren Zeit auf die weltUche Verwirklichung der neuen Kirche gerichtet (vgl. G II, 290), sobald jedoch „der Verstand mit seinen Gesetzen" auftritt, wendet er sich „als Aufklärung gegen die Religion" (G II, 305) und auf diese Weise „tritt jetzt die Vorstellung eines allgemeinen Staatszwecks als Höchstes, Geltendes ein" (G II, 306 f). In diesem Zusammenhang wird Friedrich II. von Preußen als „eine [übrigens die letzte, denn Napoleon wird in dieser Nachschrift überhaupt nicht genannt; H.-C. L.] welthistorische Person" und als „ein philosophischer König" gelobt, „weil er den allgemeinen Zweck festgehalten hat." (G II, 307) Im folgenden wird die Revolution den von Hegel so genannten „constitutionellen Kriegen" und der Aufklärung zugeordnet: „Diese Revolution hat im Gedanken ihren Anfang und Ursprung genommen, der Gedanke, allgemeine Vorstellungen als Letztes armehmend, und dies im Widerspruch mit dem findend, was da ist, hat sich empört." (G II, 309 f) Allerdings führt Hegel das Eintreten der revolutionären Gewalt auf das Ausbleiben der Reformation zurück: „Die Revolution tritt also in den romanischen Ländern hervor, wo aber Freiheit der evangelischen Kirche ist, da ist Ruhe, denn mit der Reformation haben sie ihre Revolution gemacht." (G II, 312) Die Konklusion gibt nun ein gewisses Rätsel auf; bei Griesheim heißt es in der Folge: „Ohne Änderung der Religion aber kann keine politische Revolution erfolgen." (G II, 312) Wenn man hier geneigt ist, das Wort „Revolution" im Sinne von , dauerhafte Reform' zu lesen, dann findet man dafür in der Nachschrift von Heinrich Gustav Hotho aus dem gleichen Semester eine befriedigende Bestätigung. Der entsprechende 38 Die Transkription von Herrn Prof. Dr. O. Pöggeler wurde mir freundlicherweise von Herrn Dr. H. Schneider zur Einsicht überlassen; der hier allein interessierende zweite Band wird mit der Sigle „G II" zitiert.
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Satz heißt dort im Zusammenhang: „Bei diesen Revolutionen ist hier herauszuheben, daß sie pol[itische] Revolutionen] ohne Aenderung der Religion] gemacht sind. Ohne Aenderung aber der [gestr.: alten] Religion kann keine wahrhafte politische Veränderung geschehen. "39 Die Reformation wird so grundsätzlich gegen die gewaltsamen neueren Revolutionen, unter welche die Französische Revolution als ein Beispiel von vielen gerechnet wird, als die allein wirksame Grundlage bleibender Reformen gestellt, während die Revolutionen nur zum „Umsturz der Throne" geführt haben, was inzwischen „wieder zunichte gemacht" worden ist (vgl. G II, 312). Entsprechend werden die evangelischen Länder als nicht der Revolution bedürftig gelobt: „In den evangelischen Ländern ist die Revolution vorbei, denn es ist das vorhanden, daß das, was geschehen soll, durch Einsicht und Bildung geschehe." (G II, 313) Zum Abschluß dieses Gedankens werden die protestantischen Länder parallelisierU^. ^^Die protestantischen Länder sind nach ihrer äußeren Verfassung sehr verschieden, aber das wesentliche Prinzip ist vorhanden, daß das, was gelten soll im Staate, muß von der Einsicht ausgehen und ist dadurch berechtigt. " (G II, 313 f) Also ist demnach auch England nicht der Revolution oder weiterer Reform bedürftig. Da das Kolleg von 1824/25 in der Nachschrift v. Kehlers nur sehr rudimentär überliefert und die Nachschrift von Jules Correvon mir nicht bekannt isU3^ gehe ich über zu dem Kolleg von 1826/27 in den Nachschriften von J. E. Erdmann und J. Hube^^ Auch in dieser Vorlesung wird die überwältigende Bedeutung der Reformation für die „letzte Periode der Geschichte des Germanischen Reichs"^3 ^^das Reich des Geistes" betont. (H II, 219) Jetzt werden die protestantischen Staaten jedoch nicht mehr fraglos parallelisiert, und bei der „Bestimmung der Principe von einzelnen Staaten" (H II, 223) schneidet England überhaupt nicht gut ab: „Wie wir in Frankreich das abstracte Denken aufkeimen gesehen haben. 39 Eine Reproduktion des Manuskripts Hotho wurde mir freundlicherweise von Herrn Dr. H. Schneider zur Einsicht überlassen, die Transkription ist meine eigene. ® Ob Hegel diese ParalleUsierung der Anglikanischen Staatskirche mit den anderen protestantischen Kirchen zu Recht vornimmt, muß hier als offene Frage stehenbleiben. Vgl. F. Hespe: Hegels Vorlesungen . . . (s. Anm. 36). ^ Die zweibändige Nachschrift Hube in der Transkription von Herrn Prof. Dr. O. Pögge1er wurde mir freundlicherweise von Herrn Dr. H. Schneider zur Einsicht überlassen; Herrn Dr. F. Hespe danke ich dafür, daß er mir die gleiche Nachschrift in der Transkription der Marburger Hegel-Arbeitsgruppe, wie auch die Nachschrift Erdmann, zugänglich gemacht hat. (Zitiert als „HII" und „E".) "*3 E 200: „letzte Periode der Geschichte der germanischen Zeit. . . das Reich des Geistes".
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ist in England die Particularität das Hauptmoment des Princips. In keinem Lande haben sich die FeudalRechte so lange erhalten wie in England. Die Regierung ist bis jetzt noch in Händen der Aristocratie. Es giebt so zu sagen kein Allgemeines Staatsrecht in England.^ Die Freyheit ist in einem äusseren Zwecke in dem Rechte des Eigenthums vorhanden. Das Recht ist nur für die Reichen, und die Staatsmacht wird nur als Mittel für particulaire Zwecke betrachtet." (H II, 230) Hier kann also offenbar überhaupt nicht mehr die Rede davon sein, daß kein protestantisches Land weiterer Reformen, möglicherweise sogar einer Revolution bedürftig sein könne. Ein Blick auf die historisch-politische Begründung der Französischen Revolution läßt gegenüber diesem England ohne allgemeines Staatsrecht und mit einer völligen Herrschaft von Privilegien einen ganz anderen Verdacht aufkeimen. Nachdem Hegel im Rahmen einer in diesem Kolleg neu eingeführten Periodisierung unter dem Titel: „Prinzip der Herrschaft des Gedankens" (E 206) Descartes als erste Quelle der Aufklärung in Frankreich aufgezeigt hat und deren Grundsatz so zusammenfaßt, „daß keine Auctorität für den Menschen gelte als die Vernunft" (HII, 239), wird die Französische Revolution in Abhängigkeit von den Prinzipien der Aufklärung eingeführt: „Die Quelle der französischen Revolution ist das vollkommene Bewustseyn von diesen Principien des francösischen Volckes. Gegen das alte legalisirte hohle Unrecht hat sich das allgemeine Bewustseyn erhoben. Die französische Revolution hat den Gedanken zur Grundlage gelegt, dass der Staat erbaut werden soll auf dem Grunde des Rechts an und für sich, dieses war noch nie ausgesprochen worden solange die Sonne die Menschen Erde beleuchtete." (HII, 242; E 210 ergänzt nach etwas abweichender Formulierung: und es ist nicht sich zu wundern über die Begeisterung, die das hervorgebracht hat.") Erst nachdem der Zusammenhang von abstrakter Freiheit, Fanatismus und Liberalismus getadelt worden ist, folgt, hier nun übrigens ohne Verweis auf die ,Charte constitutionelle', das Statement: „Die constitutioneile Monarchie ist die vernünftige Freyheit." (HII, 243 f) Mit einem Verweis auf Napoleon endet die mehr historische Betrachtung, um in allgemeinen geschichtsphilosophischen Überlegungen zu gipfeln, die gegenüber der frühesten Fassung nun die Rolle des Geistes in der Weltgeschichte hervorheben. — Die Reformation ist wohl das bestimmende, aber zugleich auch ein politisch weiter zu bestimmendes Grundelement der neueSO
^ Vgl. dazu E 205: „Im englischen Staatsrecht ist kein allgemeiner Gedanke. England ist daher am meisten zurück in Ansehung des Rechts pp."
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ren Zeit geworden. England scheint nicht mehr mit den anderen protestantischen Ländern, sondern eher mit dem Frankreich vor der Revolution parallelisierbar zu sein. Von dem Kolleg 1828/29 sind keine Nachschriften bekannt, wir gehen daher zu der letzten Vorlesung über die Philosophie der Weltgeschichte von 1830/31 über^®^ aus der bereits in Teil I zitiert wurde. Erst in dieser Version erlangt die Darstellung des dritten Teils der , germanischen Welt' den Umfang und die dreigliedrige Aufteilung, die wir aus der Edition der Werte und der davon abhängigen Ausgaben kennen. Die Gliederung nimmt sich folgendermaßen aus: Dritter Abschnitt. Die neue Zeit. 0ub 11, 519 — „Illte Periode der neuem Zeit," A 440). Erstes Capitel. Die Reformation (Jub 11, 519) — „Auch hier sind wieder drei Puncte oder Perioden zu unterscheiden, nemlich I. Die Reformation selbst." A 440). Zweites Capitel. Wirkung der Reformation auf die Staatsbildung (Jub 11, 536 — „Das zweite ist die andere, die weltliche Seite, die wir zu betrachten haben. Hier haben wir zunächst die Staatenbildung kurz zu sehen, die Fortbildung und das Aufgehen des Allgemeinen, des Denkens, der Allgemeinheit des Gedankens." A451f) Drittes Capitel. Die Aufklämng und Revolution. (Jub 11, 548 — „Mit diesem Princip der Freiheit im Denken gehen wir denn über zu dem letzten Stadium der Weltgeschichte, zur Form unsers Geistes, unserer Tage." A 475) Die Reformation bringt zwar das Gmndprinzip der , neuern Zeit' hervor, das in ihr entwickelte Freiheitskonzept („der Mensch gehorcht in seiner Besonderheit seinem eignen Wesen, sofern dies Vernunft ist, mithin ist er frei, gehorcht mit Freiheit" — A 445) muß sich jedoch erst zur wahrhaften Konkretion entwickeln: „Es ist aber noch zu finden, was das System der Gesetze der Freiheit sei? Dies hat sich ferner noch zu entwickeln, und hierzu konnte das Rönüsche Recht nicht genügen. Auch das erste Auftreten der Reformation enthielt dies System noch nicht in sich; vielmehr später hatte es sich zu entwickeln." (A 446) Die Reformation bleibt so zwar Quelle des Grandprinzips der neuern Zeit, aber dies Prinzip bleibt in diesem Rahmen doch auch anfängliches Prinzip, das der Fortentwicklung bedürftig ist. Der „rein freie WUle" wird nun von Hegel als „das letzte Princip" erkannt, das „nun erfaßt worden" sei, „und daß der rein freie WUle das Letzte sei, die substantielle Grundlage aUes ■*5 Hier wird zurückgegriffen auf die Nachschriften von Ackersdijk (Sigle „A") und Karl Hegel (Sigle „KH"), deren Transkriptionen durch die bereits genannte Marburger Hegel-Arbeitsgruppe mir Herr Dr. F. Hespe dankenswerterweise zur Verfügung stellte. Von der Nachschrift KH lag mir auch eine Transkription von Herrn Prof. Dr. O. Pöggeler vor, die mir Herr Dr. H. Schneider freundlicherweise zur Verfügung stellte.
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Rechts, ist erkannt worden". (A 476) Die Französische Revolution, die in der Vorlesung von 1822/23 lediglich als eine unter mehreren erwähnt wurde (G II, 311 f) und von der in der Vorlesung von 1826/27 lapidar festgesteUt wurde: „Das einzelne der Revolution geht uns nichts an." (E 210), wird nun eigens in ihrem Zusammenhang mit der Aufklärung und deren Abstraktionen untersucht, überblickartig in ihrem Gang dargestellt und schließlich auf ihre welthistorische Dimension hin analysiert. Natürlich entstammt auch das jubelnde Lob des ,herrlichen Sonnenaufgangs' diesem Kolleg (s. o. S. 213; vgl. KH 497). Als primärer Grund für das Ausbrechen der Revolution wird von Hegel der reformfeindliche Katholizismus der Herrschenden benannt; „Der Hauptgrund von Allem aber war, daß die Regierung noch katholisch war, mithin die religiöse Verpflichtung den Reformen [man möchte ergänzen: den notwendigen Reformen; H.-C. L.] entgegenstand. Der Gedanken, Begriff des Rechts, machte sich als Macht geltend, gegen die das alte Gerüst des Unrechts keinen Widerstand leisten konnte." (A 481) Der ,Gang der Französischen Revolution' wird von Hegel im übrigen nicht zuletzt darum verfolgt, weil er der Meinung ist, daß das revolutionäre Geschehen noch 1830 nicht zu seinem Abschluß, also zu dauerhaft wirksamen Reformen, gekommen sei: „obwohl noch heutzutage der revolutionaire Zustand fortdauert". (A 485) Für Frankreich gilt denn weiterhin, daß der Widerspruch von katholischer Gesinnung und modernen freiheitlichen Vernunftprinzipien nicht aufgelöst wurde und so keine dauerhafte Reform erreicht werden konnte; dies zeigt sich Hegel insbesondere im Blick auf das Schicksal der , Charte constitutionelle', die er in Heidelberg noch so sehr gelobt hatte (s. o. S. 223) und die er nun durch die Julirevolution außer Kraft gesetzt sieht: „. . . in Frankreich ist wiederum [nach dem Sturz Napoleons; H.-C. L.] eine constitutionelle Monarchie, mit der Charte zu ihrer Grundlage, errichtet worden ... Es wurde eine fünfzehnjährige Farce gespielt. Wenn nämlich auch die Charte das allgemeine Panier war, und beide Theüe sie beschworen hatten, so war doch die Gesinnung der einen Seite eine katholische, welche es sich zur Gewissenssache machte, die vorhandenen Institutionen zu vernichten. Es ist so wieder ein Bruch geschehen, und die Regierung ist gestürzt worden." (Jub 11, 562; A487 f ist hier wesentlich weniger ausführlich, der Text ähnelt stark KH 503 f, aber die wichtige Formulierung mit der „Farce" fehlt auch hier.) Mit den ,vorhandenen [man möchte hier ergänzen: freiheitlichen; H.C. L.] Institutionen', dies kann man nicht zuletzt mit Blick auf die Rechtsphilosophie sagen, spricht Hegel an, worin er die wahrhaft blei-
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benden Reformen erblickt, aber die bisher errichteten freiheitlichen Institutionen erweisen sich gerade in seiner Gegenwart von 1830 als nicht dauerhaft. Er klagt daher über die fortdauernde Unruhe seiner Zeit: „Endlich nach vierzig Jahren von Kriegen und unermeßlicher Verwirrung könnte ein altes Herz sich freuen, ein Ende derselben und eine Befriedigung eintreten zu sehen. Allein ..." (Jub 11, 562 f, vgl. KH 504) Auch der Blick auf England kann Hegel im Sinne der Dauerhaftigkeit freiheitlicher Institutionen keinen Frieden verschaffen, denn für ihn ist die „Englische Verfassung ... im Ganzen dieselbe geblieben seit der Feudalherrschaft, sie beruht fast nur auf alten Privilegien". (KH 506) Als Prinzip der neuesten Zeit hat Hegel aber gerade aufgestellt, daß das allein auf Vernunft gegründete Recht an die Stelle des alten auf Privilegien gegründeten (Un-)Rechts zu treten habe. Insofern kann er auch mit großer Skepsis feststellen; „Hinsichtlich der Institutionen, des Privatrechts ist England daher weit hinter den anderen civUisierten Staaten [. . .]" (KH 506) Die Werke formulieren noch härter: „. . . von Institutionen der reellen Freiheit ist nirgends weniger als gerade in England." (Jub 11, 566)^ Wie dann auch in der Reformbill-Schiiit beklagt Hegel das allgemeine System von Käuflichkeit und Bestechlichkeit in England: „bei den Parlamentswahlen verkaufen die Wähler ihre Stimmen, eben so herrscht auch die größte Bestechlichkeit in den Gerichten. Aber eben auf diesem Zustand beruht es allein, daß in England eine Regierung vorhanden ist, wie Frankreich sie nicht hat" (KH 506 f); bzw. „Die Stimmen im Parlamente, die Officierstellen, werden verkauft, alles ist bestechlich; daß aber in England eine Regierung vorhanden ist, wie es sie in Frankreich nicht ist, beruht auf dieser Parlamentseinrichtung." (A491; dabei geht Hegel davon aus, daß in England in Wahrheit das Parlament die Regierung darstelle — vgl. HK 506 -, eine Regelung, die weder im Sinne der Lehre von der Gewaltenteilung noch nach Hegels Staatsphilosophie als angemessen gelten kann.) — Die Bedenken, die Hegel in der Vorlesung hinsichtlich der ,ReformbiU' ausspricht, werden wir in gewisser Hinsicht in zugespitzter Form in der Reformbill-Schnit erneut antreffen. Der Text der Werke fragt nach dem möglichen Fortbestand der Regierung: „Es ist die Frage, in wiefern die jetzt vorgeschlagene Reform, consequent durchge^ Ich kann insofern Z. A. Pelczynski kaum zustimmen, und das gilt besonders auch im Blick auf die Reformbill-Scimft, wenn dieser behauptet; „I believe that Hegel sees Britain to be the modern European state where this model of free public Ufe corresponds most closely to reality, where the state actualizes ,concrete freedom' most fuUy." Siehe Z. A. Pelczynski: Hegel and British Parliamentarism. In: Hegels Rechtsphilosophie... (s. Anm. 2) 93—110, hier 108. (Vgl. dazu auch o. S. 24).
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führt, die Möglichkeit einer Regierung noch zuläßt." (Jub 11, 567) Karl Hegels Text verdeutlicht intensiv den Zusammenhang von Regierung und Aristokratie als beklagenswerten Zustand und fragt von daher nach dem möglichen Fortbestand: „Die Aristokratie hat so die einträglichen Stellen zu vertheilen und hat die Majorität in Händen, dadurch ist die Regierung überhaupt möglich. Die Frage ist jetzt, ob nach der Reform dieselbe auch noch möglich sey." (KH 507) ln der Reformbill-Sch.nit, der wir uns abschließend kurz zuwenden woUen, werden eine ganze Reihe von Argumenten aus den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte wieder aufgenommen, weiter ausgeführt und zum Teil, besonders was den Vorwurf der Käuflichkeit und Bestechlichkeit betrifft, erheblich verschärft. Im wesentlichen werden die englischen Verhältnisse an den politischen Kategorien gemessen, die für Hegel seit 1789 in Europa aufgegangen sind und die er 1817 bereits den Württembergischen Ständevertretern mahnend vor Augen gehalten hatte (s. o. S. 222). Insofern spielt die Reformbill zunächst für Hegel die positive Rolle, „Gerechtigkeit und Billigkeit dadurch zu bringen, daß an die Stelle der gegenwärtigen bizarrsten, unförmlichsten Unregelmäßigkeit und Ungleichheit, die darin [sc. in der Erwählung der Parlamentsmitglieder] herrscht, eine größere Symmetrie gesetzt werde." (BS463) „Gegen die Hartnäckigkeit der Privilegien" (BS 464) sieht Hegel nun den „Versuch der Verbesserung" insbesondere auf die „Veränderung der Institutionen" (BS 466) abzielen. Man kann also davon ausgehen, daß zumindest der erste Teil der Schrift die Intention der Reformbill gutheißt, da er nach Hegels Einsicht der Grundtendenz der Zeit entspricht, die er zur Orientierung noch einmal kurz zusammenfaßt: „Allein zu keiner Zeit mehr als heutigestags ist der allgemeine Verstand auf den Unterschied geleitet worden, ob die Rechte noch nach ihrem materiellen Inhalte nur positiv, oder auch an und für sich recht und vernünftig sind, und bei keiner Verfassung wird das Urteil so sehr veranlaßt, diesen Unterschied zu beachten, als bei der englischen, nachdem die Kontinentalvölker sich so lange durch die Deklamationen von englischer Freiheit und durch den Stolz der Nation auf ihre Gesetzgebung haben imponieren lassen." (BS468) Zweifellos steht der zweite Teil der Schrift dem ersten insofern entgegen, als Hegel sich nun trotz der vielschichtigen Kritik an den britischen Verhältnissen auch kritisch gegenüber der Reformbill selbst äußert.^^ Zu dieser Zweiteilung der Schrift vgl. auch M. ]. Peiry: Propaganda and analysis . . . (s. Anm. 35). 138.
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Was er zunächst fürchtet, ist der uneinheitliche Charakter der Bül, in welcher er „ein Gemisch von den alten Privilegien und von dem allgemeinen Prinzip der gleichen Berechtigung aller Bürger" (BS 487) erkennt, sie habe auf diese Weise „den Widerspruch des positiven Rechts und des abstrakten Gedankenprinzips in sich aufgenommen" (BS 487 f). Aus dieser unklaren Konzeption der Reform sieht er die Gefahr der Ausuferung des Wandels erwachsen, weshalb er zu bedenken gibt: . in seiner Konsequenz durchgeführt, würde es mehr eine Revolution, als eine bloße Reform [laut Hoffmeister besagt das Ms.; Reformation] sein." (BS 488) Es ist eigens zu bedenken, daß Hegel, der sonst die These vertritt, daß in protestantischen Staaten keine Revolution im Sinne der französischen Verhältnisse nötig sei, hier doch eine solche Möglichkeit für einen protestantischen Staat erahnt.^s Was er sich als wahrhafte Reform denkt, mißt Hegel, vielleicht überraschenderweise, an deutschen Verhältnissen, nämlich „die wirkliche, ruhige, allmählige, gesetzliche Umbildung jener Rechtsverhältnisse". (BS 499) Wenn es aber nur die „novi homini" sind oder „die neue Klasse" (BS 500), welche durch den politischen Wandel auf den Plan gerufen werden, dann sieht Hegel gerade diesen berechtigten Teil der Bestrebungen der ReformbUl gefährdet. Er erblickt daher einen ,,eigentümliche[n] Zwiespalt" in der Tendenz der „neuen Männer", denn, insofern die Stellung des Königs durch das starke Parlament ohnehin so geschwächt ist, wie sie es in Frankreich erst nach dem heftigsten Ausbrechen revolutionärer Gewalt war, kann in Hegels Sicht „die Neuerung der ReformbUl . . . daher nur die effektive Regierungsgewalt treffen, welche im Parlament etabliert ist". (BS 503) Da sich der Streit zwischen Konservativen („den Interessen der positiven PrivUegien") und den Reformern („den Forderungen der reellen Freiheit") im Parlament vollzieht, das nach Hegels Einsicht in England mit der Regierung gleichzusetzen ist, und „das monarchische Element hier ohne die Macht ist", könnten die Reformer als auf eine dritte Macht nur auf das Volk zurückgreifen. (BS 506) ln Hegels Entwürfen heißt es aber dazu: „Das englische Volk ist das am wenigsten politische; das politische Leben ganz schwach." (BS 782) ln einem möglichen Rückgriff auf das Volk als dritte, entscheidende Kraft erblickt Hegel daher die Gefahr der Zerstörung von Parlament (und Regierung, man vergleiche den Abschluß der Behandlung Englands in der Vorlesung von 1830/31, s. o. S. 234). Insofern sieht Hegel hier nun die Gefahr, daß eine Opposition ^ Darauf hat m. W. zuerst F. Hespe hingewiesen, vgl. f. Hespe: „Die Geschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit". In: Hegel-Studien. 26 (1991), 177—192.
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„würde verleitet werden können, im Volke ihre Stärke zu suchen und dann statt einer Reform eine Revolution herbeizuführen". (BS 506) Eine solche Revolution könnte für Hegel aber offenbar kein neues Prinzip hervorbringen, sondern nur einen Machtwechsel erzwingen. Zum Abschluß sei auf eine Kontinuität bzw. Parallelität hingewiesen, auf die bereits Norbert Waszek aufmerksam gemacht hat. In der ersten Württembergschrift von 1798 warnt Hegel bereits mit Blick auf Württemberg vor allgemeinen Volkswahlen, wenn nicht grundsätzliche Reformen vorausgegangen sind: „. . . solange alles übrige in dem alten Zustande bleibt, solange das Volk seine Rechte nicht kennt, solange kein Gemeingeist vorhanden ist, würden Volkswahlen nur dazu dienen, den völligen Umsturz unserer Verfassung herbeizuführen." (MM 1, 273)“*^ Der Verweis auf den „völligen Umsturz" ist dabei aber, wohl ähnlich wie auch der Hinweis auf die mögliche Revolution in der Reformbill-Schiiit, eher als Warnung denn Prophezeihung zu verstehen. Für Hegel bleibt bis an sein Ende die Französische Revolution die paradigmatische Revolution, weil durch sie neue Prinzipien in die geschichtliche Welt getreten sind. Danach bleibt für ihn allein der Weg der Reformen, die sich an diesen neuen Prinzipien auszurichten haben. Insofern ist er gleichzeitig Philosoph der Revolution und der Reform, aber eben keineswegs ein Philosoph der permanenten Revolution. Revolutionen, die weitergehende demokratische Prinzipien und dauerhafte Republiken zum Durchbruch bringen könnten, scheint er voller Sorgen zu erahnen, sie entsprechen seinem Denken jedoch nicht.
■** Waszek weist übrigens nach, daß diese Hegelsche Überzeugung auf britischem Boden, nämlich im Denken von Charles James Fox erwachsen sei: N. Waszek: Fox und Pitt. Spannungsfeld britischer Politik im Spiegel des Hegelschen Denkens, ln: Hegels Rechtsphilosophie . . . (s. Anm. 2) 111—128, hier 121. Vgl. ferner vom Verf.: Sehnsucht nach einem reineren, freieren Zustande (s. Anm. 25). 99, 88.
HOWARD WILLIAMS (ABERYSTWYTH/WALES)
POLITICAL PHILOSOPHY AND THE PHILOSOPHY OF HISTORY IN HEGEL'S ESSAY ON THE ENGLISH REFORM BILL Why might Hegel have wanted to write the essay on the English Reform Bill at all? His main interests were always philosophical. The author of such exhaustively philosophical works as the Phenomenology of Spirit and the Science of Logic might well have thought the dispute about the undermining of certain privileges in the English House of Commons beneath his notice. There is of course Hegel's penchant for writing the occasional piece on day to day politics, evident as early as 1801 in his composition on the German Consititution, which may partially account for his interest. But these earlier political writings, motivated no doubt by a healthy interest in current affairs, are generally about Germany and events which may have affected Hegel personally quite closely. In terms of Hegel's philosophy the engagement with the English Reform Bill is difficult to understand. Hegel gives a full account of what he thinks should be the political philosophePs attitude to current politics in the Preface to the Philosophy of Right P This attitude is seemingly not very positive. Hegel gives the very strong Impression in the Preface that he finds the direct involvement of philosophers in politics distasteful. This distaste makes itself apparent in his reaction to the political activity of Professor Fries of Jena. In Hegel's opinion Fries had misguidedly allowed himself to get involved in the Wartburg Festival and other Student demonstrations for the widening of democracy in Germany.^ Fries involvement in these events had whoUy undesirable consequences. Hegel saw it as undermining the public credibility of philosophy and as the meddling of philosophy in an area in which it had no special competence. Hegel's view is that if philosophy has any special insight to offer into the complexities of political life this insight always arrives too late to be of any practical value. He argues that it is only retrospectively 1 Philosophy of Right, Tr. by T. M. Knox. Oxford 1969. 11—13. — Howard Williams: Politics and Philosophy in Hegel and Kant. In: Hegel's Critique of Kant. Ed. by Stephen Priest. Oxford 1987. 195 -205. 2 S. Avineri: Hegel's Theory of the Modern State. Cambridge 1972. 119—21.
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that philosophical analysis can be sound. In terms of the present the philosopher is as much in the dark as any other Citizen as to the significance and outcome of events. Given these powerful reasons why Hegel might not wish to comment on events in England, how do we account for the essay which Hegel published in a serialized form in a prominent Berlin newspaper Die Preussische Staatszeitung? There are two possibilities which seem to occur: 1. It may be that Hegel is writing in the past mode about events that have already occurred. In which case Hegel might see himself as providing philosophical insight, but not philosophical insight that can now allow for change for the better. Thus the essay might be a retrospective philosophical work written for intellectual satisfaction. 2. The essay is not primarily in a philosophical mode. Hegel may see himself contributing as a layman to a current debate about the feasibility of reform in Britain and its impact on Prussia. If this is so, no specialist philosophical knowledge is involved. Hegel might be taken as hying to show that he has good political insight which those with a practical political bent might wish to share. In other words, Hegel might see himself writing as a concerned layman commenting on events that are of great interest to him. If this is the mode in which the essay is written it may then involve recommendations. I find it difficult to discern from what I know of the historical circumstances which of these two possible interpretations is correct. If we foUow the evidence of the text itself then it seems that no precise situating of the essay is open to us. At the beginning of the piece Hegel modestly says this: 'the aim of this essay is to assemble here those higher aspects of the matter which have been discussed in the parliamentary debates up tili now.'^ Typically Hegel gets directly to the substance of his discussion and allows his themes to emerge as he proceeds. What he says implies that he is attempting more than a joumalistic summary and that some interesting synthesis may emerge. At this Stage my hypothesis is that the essay involves a combination of the two approaches mentioned above. Hegel may well be coming at the Problems of British politics as a philosopher, but also unprepared to throw off his Standing as an educated layman. But this in itself is an interesting proposition. In the Philosophy of Right Hegel rules out the 3 The English Reform Bill. In; Hegel's Political Writings. Tr. by Z. A. Pelczynski. Oxford 1969. 295.
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direct participation of philosophers in politics and is also in that work wary of the expression of public opinion. The standpoint of the educated layman is likely to fall into the sphere of public opinion and the standpoint of the phüosopher has seemingly nothing to offer the practicing politician in the present. Hegel has then to work for the space in which his intervention is to be welcomed. We might begin to help him find this space if we note that in the Preface to the Philosophy of Right Hegel is ruling out a certain kind of direct intervention in politics on the part of philosophy. Although he may give the appearance of cutting off philosophy from Contemporary political action what he says does not imply such a global prohibition. Fries's intervention in politics was after all a pretty dramatic one. Fries joined his students on the streets and sought to give greater credibility to their cause by lending his academic weight to their case.^ Apparently Fries's involvement caused a greater stir in German life and did not wholly redound to his credit. Hegel in his comments on Fries was anxious that philosophy should preserve for itself a sphere independent of political life and seemed to believe that this was imperüled by the kind of responsibüities Fries undertook. The implication is that philosophers might have a quieter, more unassuming role to play in national political life. In Fries's defence we might controversially want to say that there is a heavily biased form of intervention in Hegel's political philosophy. We might see this bias as one towards support for the main aspects of the existing state of affairs. In his accusations against Fries Hegel does come across as a conservative anxious to preserve existing institutions against undue pressures and threats. No doubt this would be a crude criticism of Hegel, more in the style of Fries's Student supporters, but Hegel cannot wholly escape the Suggestion that he is to some extent practically involved in politics like Fries, and that on the side of the established authorities. There is a genuine dilemma here. From an onlooker's point of view Hegel seems not to have entirely escaped the influence of historical events upon his political theory. At one level it appears as though political philosophy and the philosophy of history are torn apart by
^ S. Amneri: Hegel's Theory of the Modern State. Cambridge 1972. 120—22. For a different view of Fries's role in the events leading up to the Wartburg Festival see Encyclopaedia of Philosophy. Ed. by Paul Edwards. New York 1967. 253—55.
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Hegel. But at another level it appears they are intimately brought together. This requires explaining. The philosophy of history is a story about the past. The writing of history itself tries to confer significance upon individual events in the past. ln contrast the philosophy of history attempts to confer significance on the past as whole. Hegel has such a story which is the story of the unfolding of spirit (Geist) which has as its consequence the development of human freedom. Side by side with this Hegel also presents a political philosophy. Political philosophy has to do with the present and it deals with the nature of right or justice in human society. Hegel's main stress is upon the distinction between the philosophy of right and the philosophy of history. In Hegel's exposition the philosophy of history is considered only after the concept of right has been presented. The philosophy of history is seen as a higher level of philosophy which only feeds into the philosophy of right retrospectively. Political philosophy deals with justice after it has embodied itself in a certain social form. It deals with freedom as it has appeared and not as it may appear in the future. Hegel then denies political philosophy access to the future and, perversely, access to the past since the insights afforded by the study of the past development of world history cannot be read into the present.^ This is the prima fade picture. The philosophy of history and political philosophy are kept in separate compartments. But this is the picture only from the standpoint of political philosophy. From the standpoint of the philosophy of history the Situation is different. In the philosophy of history one form of appearance of right and freedom forms the basis of a higher form. The animating force of historical development is a sense of dissatisfaction with the present. From the standpoint of the phüosophy of history the present is seen always as imperfect and it is the desire for perfectibility that pushes the human species forward. Because history is seen as the product of spirit there is an inner logic to events that presses mankind forward.^ Philosophically dissecting the present state of affairs does then have a significance from a practical point of view. Although discerning the tendencies of the present does not provide one with a policy that can be implemented it does allow one to note where future development might 5 H. Williams: Political Philosophy and World History. In: Bulletin of the Hegel Society of Great Britain 23-4 (1991), 51-61. ® Hegel: Philosophy of History. New York 1956. 57. — H. Williams: International Relations in Political Theory. MUton Keynes 1991. 100.
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lie. Thus the essay on the English Reform Bill might be seen as an attempt to engage with English politics to see where its immanent tendencies towards improvement might lie. There is no direct attempt to recommend yet there are practical implications since certain possible dead ends are pointed out and certain other more promising spheres of development are highlighted. The difficulty with this, if it does possibly represent Hegel's intention, is that the approach lies uneasily between that of the philosophy of history and political philosophy. Hegel is neither dealing with the debate about the Reform Bill as a past event where distinct tendencies towards the development of freedom can be pointed out nor is he dealing with the debate as evidence of the rationality of justice in England. We might escape this conclusion by regarding the essay entirely as journalistic piece. But if we were to do so this would take from it its distinctive character as the writing of a distinguished philosopher. Another way of considering the essay is to foUow Michael Petry by regarding it as a combination of analysis and Propaganda.^ Where Hegel is criticising the British state of affairs in the essay Petry sees him as implicitly praising Prussian arrangements.® According to Petry, the object of Hegel's Propaganda is to undermine Prussian and French liberalism. Hegel seemingly wants to defend the policies of the authorities in Prussia by showing the weakness of attempted liberal reforms in practice. Thus developments in Britain allow Hegel the opportunity to express wamings and objections. The objective analysis found in the essay from Petry's perspective gives Hegel a platform from which to attack a political ideology he dislikes. If we were to conclude with Petry that the essay is Propagandist then it would certainly faU outside the ambit of what Hegel regards as political philosophy in the Philosophy of Right. There is a difficulty for Hegel in the relationship between philosophy and current events. The difficulty concerns the intersection between political philosophy and the philosophy of history. In the philosophy of history the role of negative forces is recognised in bringing about higher stages of cultural and political development. Many of these negative forces are extremely disruptive at the first time of their appearance, and their positive element is only gradually recognized. Napoleon (who ^ M. J. Petry: Propaganda and analysis: the background to Hegel's article on the English Reform Bill. In: The State and Civil Society. Ed. by Z. A. Pelczynski. Cambridge 1984. 137—159. ® Ibid.
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Hegel greatly admired) was generally regarded as a disruptive force in European politics by the established powers.^ In bis philosophy of history Hegel might do full justice to Napoleon's achievements, however, it is difficult to see how Hegel might accomodate his presence in his political philosophy. Hegel's great difficulty is that he can allow for the disruption of the established Situation in the past but not in the present. The task of political philosophy is to portray what is rational in the present. And if there is a disruptive force of a Napoleonic kind posing Problems for present stability then it has probably to be presented as purely negative. If we stick to the official account of the role of political philosophy as given in the Philosophy of Right this contradiction is unavoidable for Hegel. As a political philosopher he has to be a passive bystander in the present. Indeed, more than this, the job of the political philosopher is to defend the established authorities, in other words, to emphasize what is rational in the present. But it seems from the Reform Bill essay that HegeTs instincts teil him differently. ln the essay we can see him hinting at various ways in which the insights of political philosophy can be brought to bear upon practical problems. The essay on the Reform Bill is full of suggestions as to how political life in Britain might be improved. The essay also has many recommendations as to which are the most valuable institutions in Prussian and German society. These suggestions and recommendations tend on the whole to fall in with the structure of the Philosophy of Right. For example, the essay discusses in some detail the strengths and weaknesses of the demands of public opinion.^o Hegel comes to simUar conclusions as he does in the Philosophy of Right. Public opinion, he argues, plays and important role in drawing attention to issues and demonstrating a desire for citizenship in the population at large but it is not a good guide to political action. Wisdom is not to be found in the opinion of the mass. Public opinion is 'impracticable, or, if practicable, pernicious'.ii It is also highly unreliable. What the public wants today it might tomorrow fully repudiate. In the second place, throughout the essay Hegel refers to the importance of a properly worked out System of law. In the Philosophy of Right Hegel stresses the need for the intelligibility and ® S. Avineri: Hegel and the Modern State, 63—6. 10 English Reform Bill, 295—6. 11 Ibid. 296.
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openness of the legal System. A state which falls to make clear to its dtizens what the law is and what future changes might imply is not a rational state.Such a state invites ignorance and disrespect for the law. From this point of view Hegel finds British law inadequate since it relies a great deal on common law and precedent. He sums up his disdain for such a System with the term positive law. Positive law is law which is not based upon rational principles. Hegel acknowledges that all laws once enacted have their positive side, but he finds that in England everything rests on this established legal right. Established legal rights in the form of Privileges stand in the way of badly needed improvements. The law gets in the way of its own successful Operation. Hegel's, probably correct, conclusion is that England is badly in need of 'the scientific remodelling of law'.i^ There is a great deal of gentle advice of this nature in the Reform Bill essay. This does not mean that political philosophers are recommended to action. In Hegel's view the only legitimate political actors are those in a constitutional position to wield power and act. Citizens as citizens have no right either to set the political agenda nor to intervene directly to have their way. Those who do things in politics must be those who are professionally competent to act. And it is within this circle of civil servants, individuals dose to the crown and the people's responsible representatives that Hegel finds himself at home. They are his audience and they are those who do act and should act according to the rational principles he presents. Since many of those individuals could not have the time and possibly the inclination to reflect on politics (especiaUy in the comparative manner evident in the essay) in the way that Hegel does, it seems an inescapable conclusion to draw that Hegel is recommending how this political dass should act. Corresponding with this politically effective audience Hegel assumes also (and this is a more dangerous assumption) that there is a path of rationality in politics that the trained and astute observer can discem. Their is an air of impatience about Hegel's criticisms of British politics that 1 find worrying. Although politidans are not supposed to listen directly to the voice of the phUosopher Hegel is seemingly annoyed that they are not heeding the kind of advice he might give. Hegel's impatience seems to be motivated by his undoubted insight into political affairs. ln many respects Hegel does know what is wrong with the British 12 Philosophy of Right, paragraph 215, p. 138. 13 English Reform Bill, 300.
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political scene^^, but he ought not to regard this is an unique oracular insight. Hegel rightly compares the 'crass ignorance of fox-hunters and the landed gentry' to the superior knowledge gained by a 'scientific education'15, but the implication that a scientific education would come up with the one and best possible course of action is somewhat optimistic. Hegel attacks the ten pound property qualification as an inadequate basis on which to judge the suitability of individuals to vote.^^ As in the Philosoph}/ of Right Hegel sees representation as a difficult issue within the modern state. Such is Hegel's regard for the sound knowledge of the specialist and the benefits it can bring to govemment one gains the impression that he would ideally like to reduce representation to a minimum. Hegel fears that open and very wide representation will bring into govemment unsuitable interests and poorly experienced individuals. This is a worry he has with the Reform Bill. In particular, he is concemed that the extension of the franchise will bring to parliament too many men of ideas and too few men of political wisdom. None the less, Hegel swallows the objections he might have to representation and accepts it as a fundamental part of the modern state. Given that Hegel believes the spirit of the modern state requires representation he is still left with the difficulty of who to accept and who to leave out. He cannot agree that the proposals included in the Reform Bill are the right ones. 'In fact', he says, 'the Bill is a hotch-potch of the old privUeges and the general principles of the equal entitlement of all citizens to vote for those by whom they are represented.'i® Hegel finds both extremes of this mixture unacceptable. He does not think, on the one hand, that wealth and position entitle an individual to vote, nor, on the other hand, does he think that simply everyone is entitled to vote. The voting of representatives is an extremely important function. And in this respect the unreformed English System with its rotten boroughs, bribery and uncontested seats is a farce. The entitlement to vote should be cherished and its secrecy and value strongly safeguarded. As in the Philosoph}/ of Right Hegel suggests to the political dass that they should weigh very carefully who should be given the vote. It is important that all the main interests in society should be taken into 15 15 1^ 1®
S. Avineri: Hegel's Theory of the Modern State, 208. English Reform Bill, 310—11. English Reform Bill, 311. English Reform Bill, 318. English Reform Bill, 315.
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account.i^ Hegel appears to favour a System of representation which would take on an organic form. This would be representation according to the various classes of civil society. Hegel would like to see representatives emerge from the key social classes such as the merchants, the bankers, the manufacturers and the landowners. He cites with approval the constitutions of Sweden and Italy which display this feature.20 As against this qualitative feature of any System of representation, which seems most important to Hegel, the quantitative issue of as to how many individuals in these social groups are entitled to vote seems to be insignificant. But Hegel does demonstrate an antipathy to a mass entitlement to vote. He is anxious that a large extension in the number of those entitled to vote will lead to indifference about the Casting of an individual vote. This would be out of keeping with the constitutional significance of voting. The Citizen should take seriously his moment of participation in the affairs of the state, but if thousands enjoy the same privUege then the seriousness of the occasion is undermined. In my view, Hegel does not handle this facet of the activity of a modern state very well. It is true that universal suffrage does bring with it the possibility of mass abstensions, but this is not because voting itself is less significant. Each vote stUl counts and does so to each individual. It is the citizen's failure to meet his obligations which leads to a low level of participation. If one feels that other's right to vote diminishes the value of one's own vote, then one may just as well be prevented from voting if the franchise extends to tens or to millions of individuals. The extension of the franchise ought not to lead to indifference on the part of the individual voter since the moment of participation in the affairs of the state — which Hegel rightly cherishes — still occurs. HegeTs desire to see the individual's rational involvement in the state has to be taken more seriously. Underlying his critique of the extension of the franchise is HegeTs wish to see voters well-educated and weU-informed. Ignorant voters can be swayed by rhetoric and money. Hegel points out that the ten pound qualification to vote can be just as easily bought as parliamentary seats in the rotten boroughs.^i Modern elections have created a new species, the individual Sovereign voter. This individual sovereign voter can cast his vote as he pleases, and he English Reform Bill, 314. ^ English Reform Bill, 314. English Reform Bill, 316.
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may choose for himself what pleases him. The individual sovereign voter is not bound to act as a responsible Citizen and to vote with the public interest and his own interest at heart. Thus voters may well bestow their vote upon a candidate as a favour in return for other possible favours. The danger Hegel sees in this is that 'electors see in their right a property which accrues to the benefit of those alone who wish to be elected to parliament'.22 Thus electors are tempted to cast a vote for the candidate who offers the best retum on their property. When voting occurs solely from this perspective the duties of citizenship are all but lost sight of. Such marketing of votes makes both the philosophy of history and political philosophy irrelevant to the Citizen. The Standpoint adopted is the narrow one of immediate self-interest. Hegel senses in the English Situation an antipathy to rational forms of govemment. This comes out in the diminished role of the crown in the English Constitution. Hegel favours an active monarch who arbitrates the various Interests of civil society.^^ Hegel also thinks a good monarch can fadlitate the transition from feudal social relations to modern social relations. He associates this transition with a move from positive law based upon privUege to a rational System of law based upon open public debate. The monarch can stand to one side of the particular interests which involve themselves in such debates and guide reform in the right direction. But in England the power of the crown is ceremonial rather than actual. The sovereign political functions of the crown are to a large extent in the hands of the House of Commons. Hegel thinks this has had a very damaging effect upon British politics. A stronger crown, for instance, might have allowed a more effective intervention in the parlous affairs of Ireland.24 The domination of Irish affairs by landed interests which in their tum dominated the Houses of parliament prevented any effective reform. The crown in Britain was not a power above particular classes, because of the strength of the House of Commons it was a power dominated by particular classes. Hegel sees no chance that any of the reforms put before parliament will change this position and he greatly regrets this. Not that the reform will leave unaffected the distribution of power in parliament. Hegel thinks that the reform is bound to affect the balance 22 English Reform Bill, 317. 23 H. Williams and M. Levin: Inherited Power and Populär Representation. In: Political Studies 35 (1987), no. 1, 103-115. 2'* English Reform Bill, 308.
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between the men of ideas (hommes ä principes) and the men of practical wisdom (hommes d'etat) in the House of Commons. He fears that the number of men of ideas or principle will increase at the expense of those with an intimate knowledge of the workings of the state. Men of principle can bring to government valuable insight and enthusiasm. But they are not entirely to be welcomed. Going on the recent history of France such men of principle can bring with them instability. Their adherence to principle can encourage dissatisfaction and impatience in their supporters outside parliament. And if the reformed House of Commons cannot accommodate those principles it may lead to the masses seeking change in less constitutional ways. Hegel closes his essay with the thought that the election of men of principle to parliament might lead not to 'reform but revolution'.^s Here then is the strongest advice to Hegel's readers. He wams against reforming the electoral System too radically as this may lead to a greater irresponsibility in the people and their representatives. This advice seems to come from Hegel's perspective as a political philosopher. From the Standpoint of his philosophy of history this apparently negative change might lead to future improvement. But Hegel cannot recommend the positive jump to the future. Political philosophy seems then to play a prominent part in Hegel's essay on the Reform Bill. The stmcture of political activity outlined in the Philosophy of Right provides the basis on which English political life is evaluated. Where the Reform BiU's proposals meet with the requirements of principle set out in the Philosophy of Right then Hegel approves of those changes. Where the Bill's stipulations fall short of those requirements then the Bill is criticized. But Hegel does not go on to imply that these criticisms should immediately lead to corrective political action. Here the rather delicate relationship between politics and history comes into play. The forces that mould future political development are not immediately philosophical in nature. Hegel does not expect the members of the English ruling circles to take up his suggestions. But there is an implication that something of the sort wUl have to be done eventually if the sodety is to prosper and they are to retain their power and influence. However, the way in which this necessity imposes itself upon these English ruling circles is not explored by Hegel. Possibly Hegel's appeal to the Prussian ruhng dass is more direct. We can read into the essay warnings about what might occur in Prussia if 25 English Reform Bill, 330.
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certain paths are not foUowed. In this respect the essay might have a Propagandist element. Hegel seems to imply, for instance, that it would be a mistake for Prussia to widen its franchise in the proposed English manner. On the whole, though, the extent to which Hegel regards the principles outlined in the Philosophy of Right as the model for modern society is played down. He seems not to want openly to suggest what his rulers should do. This falls in with the position outlined in the Preface to the Philosophy of Right. But the Claims for objectivity made on behalf of that work seem to suggest a strong commitment on HegeTs part to the principles he presents. Who, though, is to be the agent that brings about the changes Hegel thinks are necessary? Possibly Hegel leaves the major role to history itself in the vindication of his ideas. I have suggested that the Philosophy of Right and the essay on the Reform Bill might be taken together as an expression of HegeTs views on politics. It seems to me that there are very few discontinuities between what Hegel says in the two writings.^^ And for those so Lnclined there are a number of practical implications about the politics of the day which can be drawn from a combined reading of the works. These implications might also be seen as having some relevance for today's politics. As I see it, those implications are: 1. The extension of the franchise is not of itself a solution to pressing political Problems.
2. Representation has to be carefuUy thought out if it is to be legitimate and effective. Representation on the basis of geographical districts and numerical equality is not necessaiily the best. 3. A power separate from the representatives with a sovereign Status has to exist to make representation work. The sovereignty of parliament as experienced in the United Kingdom creates difficulties. There is the possibility of conflict between the role ministers have to play as members of the government and the role they have to play as members of parliament. Populär appeal and ministerial responsibility may become confused. The Prime Minister has, for instance, to appeal both to party and the nation. 4. Where the representatives have sovereign power in their hands the possibility arises that a part of civil society can prevail over the remainder. This may lead to factional government. This is contrary to the view taken by Petry in his article Propaganda and Analysis: Hegel on In: The State and Civil Society. Ed. by Z. A. Pelczynski. Cambridge 1984. 147 and 158. the Reform Bill.
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5. Just as the executive should be independent of civil society so civü society should constitute a separate sphere from government. English society is strongly praised by Hegel for the independence of its civil society. However, a consequence of this strength appears to be the weakness of central government. 6. The state should play an active role in dealing with social problems. For instance, Hegel thinks the English government should have intervened more effectively to deal with the problems of Ireland. 7. The obligations of citizenship are to be taken seriously. HegeTs concerns about the widening of the franchise arise from his scepticism about the Intelligence and social responsibility of the man in the Street. He thinks evidence of responsibility should be shown first before the full rights of citizenship are accorded. I cannot say that I agree entirely with each of HegeTs suggestions. But all are interesting. They are particularly interesting in the light of the recent transition of Eastem European countries to liberal democracy. Many have experienced difficulties in those areas about which Hegel expresses concern. The democratization of politics has seemingly not automatically led to the resolution of political problems; there have been difficulties about the Systems of proportional representation adopted by these States; many of these States have struggled to produce a sovereign power which is free of the pressures of parliamentary representation; many of these States express a strong desire to create an independent civil society but are finding the process a great deal more difficult than was first envisaged. In one area I would entirely agree with Hegel. The obligations of citizenship are difficult and have to be taken seriously. Issues of government are complex and are not necessarily resolved by following one unique kind of policy. There may be many policies which have an equal chance of success. In issues of government the failure of policy is always possible. Representative democracy works best with an educated and tolerant public to Support it. And it is not only the new democracies of eastern Europe who are finding it difficult to bring into being and sustain such a well-informed and responsible citizenship. In the nature of things it is impossible to provide a conclusive answer to the question raised at the beginning; Why did Hegel write the Reform Bill essay? At best, we can only guess at the motives of others in acting and very offen we are not very clear about our own. Hegel does not state unambigously in the essay what his motives are, but so far as it is possible to discem from his writings he appears to want to bring to bear philosophy upon practical matters. My Impression is that the essay
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represents not only a profound piece of political commentaiy but also demonstrates excellent philosophical insight. Despite bis own strictures to the contrary, Hegel shows one way in which philosophy and history might be successfully connected.
NORBERT MADÜ (KÖLN)
DAS ENGLISCHE REFORMGESETZ UND DIE BEDEUTUNG DER ÖFFENTLICHEN MEINUNG IN HEGELS RECHTSPHILOSOPHIE HegeTs Schrift Über die englische ReformbilU kann als ein wesentliches Resultat seiner Rechtsphilosophie bezeichnet werden.^ Diese beiden Schriften sind grundlegend für Hegels Verständnis der öffentlichen Meinung. Die Theorie der öffentlichen Meinung ist für jede moderne Staatstheorie wie auch für jede andere politische Theorie unentbehrlich. Wir erinnern an David Humes Behauptung, daß „the governors have nothing to Support them but opinion. It is therefore on opinion only that government is founded: and this maxim extends to the most despotic and most miÜtary governments as well as to the most free and most populär. Die Theorie der öffentlichen Meinung ist die Basis der Politik im anglo-amerikanischen Denken. Diese Theorie ist es auch, die die Basis der gesamten Argumentation bildet, welche hinter der englischen Reformbill steht. Butler beschrieb diesen Umstand wie folgt: „Nowadays, when a Statesman wishes to tnaugurate a new movement or generally to submit his point of view to his countrymen, he addresses a mass meeting in the Albert Hall or the Free Trade Hall, or some other such populär gathering."4 Dies geschah mit dem Ziel, die Masse des Volkes zu überzeugen, seine Meinung zu ändern, um ein Mandat zu gewinnen. Im Unterschied zum anglo-amerikaiüschen Raum gibt es im deutschen Kulturkreis keine Theorie der öffentlichen Meinung in diesem Sinne. Der Staat wird in Deutschland im 18. Jahrhundert (also in der Zeit Hegels) immer noch als eine Art Maschine begriffen, eine Metapher, die es sowohl im anglo-amerikaiüschen als auch im französischen Raum so nicht gibt. Im Zentrum dieses Denkens steht der Staat als das souveräne, autarke und kompetente Entscheidungssubjekt mit Rechtsherrschaftsquali1 G. W. F. Hegel: Über die englische Reformbill. In: Berliner Schriften 1818—1831. Frankfurt 1970. Werke 11. 83 ff. (Reformbill) 2 Vgl. M. ]. Petry: Hegel arid the Moming Chronicle. In: Hegel-Studien 11 (1976), 14. 3 D. Hume: Of the first principles of Government. In: Hume: Essays: moral, political and literary. Hrsg, von T. H. Green a. T. H. Grose. London 1875. Vol 1, 109—110. * ]. R. M. Butler: The passing of the great Reformbill. London 1914. 231.
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tät und Wohlfahrts- und Versorgungsfunktionen. Im anglo-amerikanischen Kulturkreis wird dagegen die konkrete, wirkliche Verfaßtheit, also die gelebte Verfassung, als politische ausgewiesen, was in seinem Kern also sehr pragmatische Züge annimmt. Das politische Moment liegt darin, daß nach Gesetzen regiert wird, denen (im Idealfall) alle ihre Zustimmung gegeben haben.^ I. Hegels Theorie der öffentlichen Meinung
Der Theorie der öffentlichen Meinung wohnt nach Hegel eine innere Spannung inne. Als Ansammlung einer Menge verschiedener individueller Meinungen ist die öffentliche Meinung unstrukturiert und uneinheitlich und wird deshalb wahrscheinlich, trotz oder gerade wegen ihres Ausdrucks subjektiver Freiheit, widersprüchlich, desorientiert und unzusammenhängend sein. Hegel erkennt zwar die Antinomie von Bindung und Freiheit gegenüber der öffentlichen Meinung als Problem — „Die öffentliche Meinung enthält daher in sich die Prinzipien der Gerechtigkeit, den wahrhaften Inhalt und das Resultat der ganzen Verfassung, in Form des gesunden Menschenverstandes"^ — sowie die wahrhaften Bedürfnisse und richtigen Tendenzen der Wirklichkeit. Zugleich macht sich aber im Bewußtsein „die ganze Zufälligkeit des Meinens, seine Unwissenheit und Verkehrung, falsche Kenntnis und Beurteilung"^ geltend. Wir wollen hier nicht das gesamte Hegelsche Konzept der öffentlichen Meinung vortragen, es aber herausstellen, daß er den positiven Aspekt hervorzuheben scheint, auch wenn seine Theorie der öffentlichen Meinung insgesamt sowohl positiven als auch negativen Charakter hat. Für Hegel ist die öffentliche Meinung eine Mischung von privaten Vorurteilen von Individuen: „wer die öffentliche Meinung, wie er sie hier und da hört, nicht zu verachten versteht, wird es nie zu Großem bringen. Diese negative Beurteilung der öffentlichen Meinung unterdrückte Hegel in gewissem Sinne in seiner Kritik der englischen ReformbUl.
5 Vgl. E. Vollrath: „That all governments rest on opinion." In: Social Research 43 (1976) 1, 46-61. * G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Frankfurt 1970. Werke 7. § 317, 483. (RPh) 7 Ebd. 8 RPh, § 318, 485.
Das englische Reformgesetz und die Bedeutung der öffentlichen Meinung
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Der Grund dafür mag, wie vorgeschlagen wurde, darin liegen, daß Hegel's Schrift über die Reformbill nicht auf philosophischen Prinzipien basiert, sondern auf denen des politischen Journalismus.^ Das kann in gleicher Weise von den meisten seiner politischen Schriften gesagt werden. Die Einschätzung seiner Reformbill-Schrift stimmt mit der Entwicklung seiner politischen Philosophie in ihrem systematischen Kontext überein — in diesem Fall mit seiner Rechtsphilosophie. Beide Schriften berühren sich in der Beurteilung der Frage der öffentlichen Meinung und ihrer Stellung in der Politik in großem Maße. Auch wenn es einen Widerspruch in seiner Beurteilung des Wertes der öffentlichen Meinung gibt, so scheint sich insgesamt doch eine Balance in beiden Schriften aufrechtzuerhalten. Einmal wirft Hegel ein Schlaglicht auf einen Aspekt und unterdrückt dafür einen anderen und umgekehrt. Hegel betrachtet sowohl die Idee der Repräsentation als auch die Souveränität des Volkes als liberalen Irrtum. Im Gegensatz dazu befürwortet er das Prinzip der Klassen- oder ständischen Repräsentation, besonders für England. Diese Ansicht findet sich sowohl in den Grundlinien als auch in der Reformbill-Schrift. Für Hegel ist es die Ansicht des traditionellen Engländers, daß die Hauptinteressen der Nation, die im Parlament repräsentiert werden, besser durch seine eigenen Vorschläge realisiert werden können als durch nationale Repräsentation. Nationale Repräsentation basiert auf dem subjektiven individuellen Willen. Das abstrakte Individuum steht hier dem universalen Staat gegenüber. Es findet keine Vermittlung durch Institutionen, Klassen oder Korporationen statt, noch ist es organisatorisch integriert in die Struktur des sittlichen Staates. Nach Hegels Ansicht ist das Grundproblem, das England zu lösen hat, bevor es andere Probleme lösen kann, die Änderung des Erscheinungsbildes des Privatrechts. Das sogenannte „öffentliche Recht" hat in England den Charakter des Privatrechts. Englands politische Bedingungen basieren hauptsächlich auf positivem Recht. Die politischen Institutionen tragen die Kennzeichen ihres privatrechtlichen Ursprungs. Was England benötigte, ist die Umwandlung dieser positiven privatrechtlichen Bestimmungen in öffentlich-rechtliche Institutionen — eine Entwicklung, die auf dem Kontinent in den zurückliegenden Jahren stattgefunden hatte. Hegels Vorschläge für die notwendige Gesamtverbesserung des englischen Systems sind im wesentlichen davon beeinflußt, daß er in den ^ Vgl. Petry (Anm. 2), 14.
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Engländern keine guten Philosophen zu sehen glaubt. Das ist auch der Grund, weshalb er sich nicht in eine systematisch-philosophische Erklärung jener Theorie einläßt, die man eine ,Theorie der öffentlichen Meinung' nennen könnte. Die einzig adäquate und zweckmäßige Sprache zur Kommunikation mit England ist die Sprache des Journalismus. Die Hegelsche Rechtsphilosophie ist ein Systemteil der Enzyklopädie — dort macht Hegel auch seine Einschätzung der englischen Philosophie bekannt. Hegels wichtigste Ansichten über die Reformbill finden sich bereits in den Grundlinien. Hegel entwickelt sie in jenen Paragraphen, die sich mit dem öffentlichen Interesse und der öffentlichen Meinung beschäftigen. Er betrachtet Fragen der Wahlen (RPh § 308), der Besteuerung (§ 299), der Rechtskodifizierung (§ 216), der Unterstützung der Armen (§ 241), die Funktion, Auswahl und Schulung der Beamten (§ 289) und der Funktion des englischen Königs (§ 275). Alle diese Themen der Rechtsphilosophie erscheinen wieder in der Reformbill-Schrift. Und sie sind Themen des öffentlichen Interesses. Die öffentliche Meinung über diese Fragen schlägt sich in den politischen Verhandlungen nieder. Es sind Themen, die in David Humes politisches Konzept eingingen, wenn er sagte: „Nothing is more certain, than that men are, in a great measure, governed by interest, and that even when they extend therr concem beyond themselves, it is not to any great distance . . Und so können wir Grey's Position und Bestreben verstehen, wenn er sagt, daß die Vorschläge der Reformbill wie folgt sein müssen; „. . . large enough to satisfy public opinion and to afford sure ground of resistance to further innovation."i2 Grey war überzeugt, daß die öffentliche Meinung keine zu großen Kompromisse in dieser Richtung tolerieren würde und dieses zu vermeiden war eine schwere Aufgabe. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unternahmen europäische Schriftsteller und Philosophen, besonders in Frankreich, eine Neubestimmung der Beziehungen zwischen Individuum und Staat. Das war ein Aspekt der „Europäischen Aufklärung". Die meisten ihrer Vertreter glaubten, daß die Autorität von Regierungen über die von ihnen Regierten ursprünglich auf einem ausdrücklichen Vertrag zwischen Regierenden und Regierten basierte. Die Regierten übertragen dadurch gewisse Rechte ihrer Unabhängigkeit und 10 G. W. F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften 1830. Hrsg. v. F. Nicolin u. O. Pöggeler. Hamburg 1969. § 8, 41. Vgl. auch Petry (Anm. 2). 11 D. Hume: Ofthe Origin of Government. In: Hume: A Treatise of Human Nature (1739). Hrsg. V. E. C. Mossner. Great Britain 1969. 585—586. 12 Zitiert nach E. ]. Evans: The Great Reformact ofl832. London 1983. 30.
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Eigeninitiative den Regierenden für wohltätige Gegenleistungen, die nur eine Regierung zuteil werden lassen konnte, z. B. Sicherheit und ein Rahmenwerk von Gesetzen, um die Gesellschaft vor inneren und äußeren Feinden zu schützen. Aus dieser Argumentationslinie heraus folgt, daß öffentliche Meinung die Grundlage der Regierung ist und gewöhnliche Menschen Grundrechte besitzen, die keine Regierung ihnen wegnehmen kann. Jean-Jacques Rousseau zum Beispiel argumentierte in seinem Buch Du Contrat Social (1762), daß jeder Vertrag zwischen Regierenden und Regierten auf dem Recht eines jeden Bürgers basiert, an der Wahl der Regierenden teilzunehmen. Demokratie war darum die einzige legitime Basis für die Ausübung von Autorität durch jede Regierung. Die Ideen von Rousseau und anderen Denkern der Aufklärung forderten direkt die Despoten heraus, die die meisten europäischen Staaten zu dieser Zeit regierten, aber sie hatten auch eine grundlegende Auswirkung in Großbritannien, das sicherlich keine Autokratie war, aber auch weit davon entfernt war, eine Demokratie zu sein.^^ Großbritannien war eine Art von Oligarchie, seit die Macht durch eine subtile Mischung von Monarchie, mit begrenzten aber nicht unerheblichen Befugnissen, und einem Parlament, welches von reichen Landbesitzern kontrolliert wurde, ausgeübt wurde. Die Krönung von allem war das Erscheinen eines Buches, welches sehr schnell bekannt wurde, nämlich The Rights of Man von Thomas Paine (1792). Es legte dar, daß das universelle Wahlrecht die einzige legitime Basis für eine Regierung sei. Es prophezeite den Zusammenbruch aller europäischen Monarchien, inklusive der britischen. Es befürwortete Abrüstung, weil Demokratien niemals Krieg gegeneinander führen müßten. Es schlug konfiszierende Steuern auf allen ererbten Reichtum vor. Landbesitz durch Erbschaft erschien Paine ein absurdes Konzept. Paine appellierte direkt an die öffentliche Meinung, indem er sein Publikum in der Arbeiterklasse suchte, die empfänglich war für die starke Vereinfachung, die für die Härten ihrer Lebensumstände die illegitimen Machtausübung durch die Regierung verantwortlich machte. Sie sollten wissen, daß legitimierte Autorität nur von den Regierten übertragen werden konnte, und die überwältigende Mehrheit hatte nach Paine's Auffassung nie die Möglichkeit dazu gehabt. Ohne dies direkt zu erwähnen, mußte Hegel diese Einwände im Kopf gehabt haben, wenn er sich mit der öffentlichen Meinung unter der Institution der Presse beschäftigte: „Preßfreiheit definieren als die Freiheit zu reden und zu 13 Vgl. ebd. 10.
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schreiben, was man will, steht dem parallel, wenn man die Freiheit als die Freiheit angibt, zu tun, was man will."i^ Ob er mit dieser Bemerkung eine Erwiderung auf Rousseau und Paine liefern wollte ist nicht ganz klar, aber sicher ist, daß er ihren Ansichten nicht voll zustimmte, wenn er sagte: „Es ist darum nicht für eine Verschiedenheit subjektiver Ansicht zu halten, wenn es das eine Mal heißt: vox populi, vox dei; . . . beides liegt zumal in der öffentlichen Meinung; . . . indem in ihr Wahrheit und endloser Irrtum so unmittelbar vereinigt ist, so ist es mit dem Einen oder dem Andern nicht wahrhafter Ernst. Um das klar genug deutlich zu machen, zitierte er Goethe wie folgt: „Oder bei Goethe: Zuschlägen kann die Masse, da ist sie respektabel; urteilen gelingt ihr miserabel."!^ Kein Wunder, daß Hegel dann in der Reformbill-Schriß erwähnt, daß das Volk eine Macht anderer Art sein würde, falls eine Parlamentsreform der öffentlichen Meinung die Türen öffnen würde. „Die andere Macht würde das Volk sein, und eine Opposition, die, auf einen dem Bestand des Parlaments bisher fremden Grund gebaut, im Parlamente der gegenüberstehenden Partei sich nicht gewachsen fühlte, würde verleitet werden können, im Volke ihre Stärke zu suchen und dann statt einer Reform eine Revolution herbeizuführen, Das scheint in Übereinstimmung zu sein mit vielen englischen Parlamentariern, die glaubten, daß eine gewalttätige Revolution alle etablierten Institutionen hinwegfegen würde, falls die Reformbill im Frühjahr 1832 verabschiedet würde. Chaos und Blutvergießen, so, wie die Franzosen dies 40 Jahre früher während der Terrorherrschaft erfahren hatten, würde Großbritannien heimsuchen. Sir Robert Peel, bis zuletzt ein Gegner der Reformbill, begründete seinen Einwand so: „1 was unwilling to open a door which I saw no prospect of being able to close.''^^ Hegel lehnt nicht, wie Robert Peel, die Idee einer Reformbill ab, sondern vielmehr die Art und Weise, wie sie in England vorgeschlagen wurde. Er lehnt die Reformbill ab, weil sie ihm ungeeignet scheint, zur Lösung der existierenden sozialen Konflikte beizutragen. Für eine wirkliche Lösung ist seiner Meinung nach ein differenzierteres Vorgehen nötig. Erst nach einer Überwindung der sozialen Mißstände könnte eine Reform des Wahlsystems sinnvoll und erfolgreich sein. Nach Hegels Meinung ist es nicht richtig, einen Teil des Syn 15 16 1^ 18 1*
RPh, § 319, 486. RPh, § 317, 484. Ebd. Reformbill, 128. Zitiert nach E. /. Evans: The Great Reformact of 1832. London 1983. 2. The Bulletin of the Hegel Society of Great Britain. Nr. 4. 1981. 23.
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Sterns zu reformieren, wenn das ganze System reformbedürftig ist. Er befürchtet, daß durch die Reformbill das Risiko einer Revolution größer werde, ln erster Linie hebt er die offensichtlichen Mißstände hervor. Dabei vernachlässigt er es, eine faire und umfassende Beurteilung der englischen Verhältnisse insgesamt zu geben. Diese Einseitigkeit scheint auch verantwortlich für die Übertreibungen zu sein, die er bei seiner Bewertung der politischen Entwicklung in Frankreich macht, wenn er hervorhebt, daß der Grund für die Julirevolution (1831) die fehlende Einsicht in die Tatsache ist, daß der Staat die wahre Form sittlichen Daseins darstellt. Sittliches Dasein und Freiheit waren abhängig von einer Verständigung zwischen „Überzeugung" und „Verfassxmg". Eine Verständigung, die auf der Einheit von Religion und Säkularismus, von abstrakter Subjektivität und einer Ethik des Staates, die durch den Staat vermittelt wird, beruht.20 Was ferner als eine Übertreibung angesehen werden kann, ist Hegels Behauptung, daß keine weitere Revolution in Ländern nötig sei, in denen eine Reformation stattgefunden habe. Dabei vergißt er, daß in England bereits eine Reformation stattgefunden hat. Trotzdem stünden die Engländer in ihrer Entwicklung noch weit hinter den Ländern Kontinentaleuropas zurück. Jeder hat das Recht auf seine eigene Meinung und darum läßt sich darüber streiten, ob das, was Hegel meinte, auch das war, was die Reformer in England meinten. Sir Robert Peel fragte einmal einen engen politischen Mitstreiter: „Do you not think that the tone of England . . . is more liberal.. . than the policy of the government? Public opinion never had such influence on public measures, and yet never was so dissatisfied with the share it possessed. It is growing too large for the channels it has been accustomed to run through . . . Can we resist for seven years . . . reform in parliament."2i Diese Frage berührte die Theorie der öffentlichen Meinung direkt, die die Engländer mit ihrer politischen Kultur und Hegel mit seinem deutschen Hintergrund unterschiedlich beantworten. Aber ebenso wichtig für die politische Weiterentwicklung ist der Austausch von sehr unterschiedlichen Ansichten. Die Antwort des englischen Volkes auf Robert Peel's Frage und seine Beobachtung des erhöhten Einflusses von öffentlicher Meinung ist „Republikanismus", während Hegels Antwort sein „Staatsrecht" ist, dargestellt in seiner Rechtsphilosophie. 20 Ebd. 2* Zitiert nach E. J. Evans: The Great Reformact of 1832. London 1983.
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II. Die öffentliche Meinung als das Prinzip des Republikanismus Die Institution der Republik basiert auf dem Prinzip von „All govemment rest on opinion", wie es bereits von James Madison dargelegt worden war.22 Die Republik ist eine neue Form von Staat, deren wesentliches Element die institutionalisierte Meinung ist. Allein damit ist aber das Konzept der Republik noch nicht erschöpfend dargelegt, welches nach Kant auch eine Gesetzesautonomie beinhaltet. Was den bloß „legalen" oder Hegelschen Staat (den deutschen „Rechtsstaat", die Regienmg durch die Gesetze) von der (quasi englischen) Republik unterscheidet, ist in der Hauptsache folgendes: daß alle politische Aktion in einer Republik mit Begriffen der institutionalisierten Meinung erklärt werden kann, was auch in einer Republik gilt, wo die Meinung korrupt ist. Diesen letzten Punkt erkennt Hegel nicht an, werm er in seiner Reformbill-Schrifl sagt: „Wenn aber auch die öffentliche Stimme von Großbritannien ganz allgemein für Reform in der Ausdehnung oder Beschränkung wäre, wie die Bill sie vorschlägt, so müßte es doch erlaubt sein, den Gehalt dessen zu prüfen, was solche Stimme verlangt. . . Als eine nächste Folge hat sich ergeben, daß die Besetzung einer großen Anzahl von Parlamentsstellen sich in den Händen einer geringen Zahl von Individuen befindet . . . daß ferner eine noch bedeutendere Anzahl von Sitzen käuflich, zum Teil ein anerkannter Handelsgegenstand ist, sodaß der Besitz einer solchen Stelle durch Bestechung, förmliche Bezahlung einer gewissen Summe an die Stimmberechtigten erworben wird oder überhaupt in vielfachen anderen Modifikationen sich auf ein Geldverhältnis reduziert. Es wird schwerlich irgendwo ein ähnliches Symptom von politischer Verdorbenheit eines Landes aufzuweisen sein."23 Es ist nicht schwer, auch woanders ähnliche Symptome von politischer Korruption zu finden, wie Hegel sie bemerkte, da in einer Regierung, die auf dem System der institutionalisierten Meinung basiert, alle politischen Aktionen im wesentlichen durch sie erklärt werden und nicht durch das jeweilige Verfassungsrecht. Hier erkennen wir sehr deutlich, daß Hegel ein Konzept herausstellt, das wesentlich durch den deutschen Hintergrund und die Auffassung des Rechtsstaats geprägt ist. Für die Republik ist die institutionalisierte Meinung nicht bloß ein wichtiges Element. Sie ist die eigentliche Basis ihrer Entstehung, und falls 22 The Federalist. Everyman's Library No 519. New York 1929. 257. Zitiert nach E. Vollrath: „That all governments rest on opinion." In: Social Research 43 (1976), 1. 23 Reformbill, 84, 85.
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dieses Element eleminiert wird, verschwindet die Republik selbst auch. Während der Reformbilldebatte in England wurde die Theorie der Kontrollen nun in die Richtung eines Republikanismus ausgelegt. Es wurde argumentiert, daß der König, die Lords und das Volk in ausreichender Weise im House of Commons repräsentiert werden müßten, wenn Stabilität gewährleistet werden sollte. Die Tories argumentierten dagegen, daß in ihrer eigenen Theorie das Volk schon reichlich repräsentiert sei. Wenn andere Beweise fehlen sollten, so würden die letzten beiden Parlamentsauflösungen hieran keinen Zweifel lassen.^4 Außer der steigenden Zahl von Mitgliedern des Volkes im Unterhaus und der größer gewordenen Sensibilität des Hauses für Stimmen von draußen, war im Volk eine mächtige Institution entstanden, die sehr wohl den Einfluß von König und Großgrundbesitzern wettmachte. Es konnten eigentlich keine Beschwerden über eine mangelnde Repräsentation des Volkes gemacht werden, stellte doch die Presse ebenfalls eine starke Kraft dar. Bis zu diesem Punkt lautete die offensichtliche Antwort, daß, falls der Wunsch des Volkes wirklich der nach einer Republik sein sollte, es sinnlos sei, diesen durch die Nominierung von Boroughs zu befriedigen. Fox war noch weiter gegangen und sagte, daß, falls die Krone eine Institution sein sollte, die mit dem nationalen Willen nicht übereinstimme, es nicht nur unpolitisch sei, sondern auch unberechtigt, sie künstlich zu unterstützen.25 Die Tories erwiderten darauf, daß das nüchterne und tiefbegründete Gefühl des Volkes stark mit seinen alten Institutionen zusammenhing, während zeitweise fehlende Loyalität von Agitatoren mißbraucht werden konnte. Die Gefahr eines House of Commons, welches zu gewissenhaft das Volk widerspiegelt, war, daß es ebenso seine Vorurteile und seine immer wiederkehrenden und auch sehr vergänglichen Leidenschaften reflektieren würde. Auf diese Weise konnte auch die Wahl von 1831 erklärt werden, bei welcher, im Gegensatz zu einem intakten Verfahren, Versprechungen von vielen Kandidaten zur Zustimmung zur ReformbiU erpreßt worden waren. Als Antwort auf diese Absonderlichkeiten schlug Hegel vor: „Um gründliche Vorkehrungen zu treffen, den drückenden Zustand der englischen Staatsverwaltung zu mindern, würde zu tief in die innere Verfassvmg der partikulären Rechte eingegriffen werden müssen; es ist keine Macht vorhanden, um bei dem enormen Reichtum der Privatpersonen /. R. M. Butler: The passing of the great ReformbiU. London 1914. 240. 25 Ebd., 241.
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ernstliche Anstalten zu einer erklecklichen Verminderung der ungeheuren Staatsschuld zu machen."26 Das war ähnlich den französischen Verhältnissen, und das Beispiel der Französischen Revolution durfte, nach Hegels Meinung, nicht vergessen werden. Die Revolutionsführer hatten nicht die geringsten Absichten, als sie den König entmachteten und guillotinierten; entsprechend war dann auch das Ergebnis. Getreu dem Prinzip, daß unkontrollierte Macht mißbrauchte Macht ist, argumentierten die Tories, daß es unvernünftig sei, eine ungeschwächte öffentliche Versammlung zu erwarten, die sich zurückhaltend gebärden würde. Sie müßte in Kürze degenerieren zu einer regelrechten Mob-Tyrannei, von der der Schritt zur Absetzung der Monarchie einfach und schnell vor sich gehen würde.27 Vielleicht war dies die Gefahr, der Hegel zuvorkommen wollte, wenn er sagte: „Daß alle einzelnen an der Beratung und Beschließung über die allgemeinen Angelegenheiten des Staates Anteil haben sollen, weü diese alle Mitglieder des Staates und dessen Angelegenheiten die Angelegenheiten aller sind, bei denen sie mit ihrem Wissen und Willen zu sein ein Recht haben — diese Vorstellung, welche das demokratische Element ohne alle vernünftige Form in den Staatsorganismus, der nur durch solche Form es ist, setzen wollte, liegt darum so nahe, weil sie bei der abstrakten Bestimmung, Mitglied des Staates zu sein, stehenbleibt und das oberflächliche Denken sich an Abstraktionen hält. "28 Während also für die Engländer öffentliche Meinung die alleinige Basis eines demokratischen politischen Systems ist, ist sie für Hegel nur ein Teil davon, ein Teil, der zwar vom Staat benötigt wird, um überhaupt Staat zu sein, aber auch ein Teil, der keine Vernunft in sich trägt. Vernunft und gute Ausbildung sind nach Hegels Ansicht essentielle Elemente in einem freien demokratischen Staat.29 Es gibt bei Hegel in der Reformbill, 93. 27 Wir erinnern uns, daß Robert Peel am 6. Juli 1831 sagte: „Without imputing dissatisfaction to the people, or a deliberate Intention on their part to undermine the monarchy or destroy the peerage, my belief is that neither the monarchy nor the peerage can resist with effect.. . of a House of Commons that is immediately obedient to every populär Impulse, and that professes to speak the populär wiU; and that all the tendencies of such an assembly are towards the increase of its own power and the intolerance of any extrinsic control." Vgl. J. R. M. Butler: The passing of the great Reformbill. London 1914. 241. Diese Bemerkung stimmt mit den Grundprinzipien von Republikanismus überein und ist eine Bestätigung der Rolle der öffentlichen Meinung im englischen poUtischen System. Es ist nicht so sehr das Verfassimgsrecht, sondern vielmehr die Öffentliche Meinung, die bestimmt, was geschieht — natürlich in Konfrontation mit den verschiedenen regierenden Klassen. 28 RPh, § 308, 477. 29 Ebd., vgl. auch § 301, 309 und 311.
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Rechtsphilosophie eine merkwürdig ambivalente Haltung zur öffentlichen Meinung: neben sehr positiven gibt es ganz negative Äußerungen, die der öffentlichen Meinung im Rahmen der Verfassung, insbesondere der gesetzgebenden Gewalt keinerlei Bedeutung zukommen lassen (Vgl. RPH §301). Die Engländer, deren Reformbill Hegel zu kritisieren versucht, denken, daß seine Ansicht nicht standhält, da das von ihnen praktizierte politische System Teil ihrer Geschichte ist. „If there are no barbarians to break in upon us, like the Picts and Scots, we have let the great body of the people grow up like barbarians in the midst of our civilisation. Neglecting almost all means of instüling into them bedtimes a dutiful veneration for the institutions of their forefathers . . . we have allowed the flagitious part of the press to act.. Dies war der Grundsatz, nach dem das Bekenntnis zum politischen Erbe Englands gemacht wurde, und Herbert Macaulay fügte seiner Antwort auf Hegels Erziehung der Massen folgendes hinzu: „. . . it is not necessary now to inquire whether; with universal education we could safely have universal suffrage. What we are asked to do is to give universal educations."^! Es ist darum weder Vernunft noch der Grad der Ausbildung der Bevölkerung, wie Hegel dies wollte, was die Reformer in England störte, sondern: „Our fervent wish, and, we will add, our sanguine hope, is that we may see such a reform . . . as may render the votes the express image of the public opinion of the middle Orders of Britain . . . that every decent farmer and shopkeeper might possess the effective franchise."32 Insgesamt kann man nicht behaupten, alle Felder und Punkte berührt zu haben, mit denen nachgewiesen werden kann, daß die Hauptthemen der englischen Reformbill von 1831 in großem Maße die Theorie der öffentlichen Meinung darstellen. Während die Engländer dazu tendierten, ihre nationalen Probleme durch den Gebrauch des republikanischen Prinzips des „all governments rest on opinion" zu lösen, versuchte Hegel, sowohl in seiner Reformbül-Schrift als auch in seiner Rechtsphilosophie Vorschläge zu machen, die auf dem Prinzip des deutschen Staatsrechts basieren, worin öffentliche Meinung als zweitrangig für die Staatsangelegenheiten gesehen wird, da es ihr an Vernunft und universeller Wahrheit mangele. Öffentliche Meinung basiert auf dem persönli30 Quarterly Review, January 1831. Zitiert nach /. R. M. Butler: The passing of the great Re-
formbill. London 1914. 262.
31 Rede vom 3. Mai 1832. Zitiert nach ]. R. M. Butler: The passing of the great Reformbill. London 1914. 263. 33 Edinburgh Reviews, October 1829.
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chen Empfinden, was subjektiv ausgerichtet ist und dem es darum an Objektivität mangelt. Für Hegel ist es notwendig, daß die von der Regierung Kontrollierten eine Antwort finden auf die Notwendigkeit einer ökonomischen, sozialen und rechtlichen Reform, bevor irgendeine Veränderung im Wahlsystem vorgenommen wird, die das Parlament den Radikalen öffnen würde. Hegel war nicht in dem Maße Gegner der Reformbill, wie einige vielleicht denken. Müller etwa behauptet: „Hegel ist radikaler als die englischen Reformer. Die englischen Radikalen tendierten dazu, die Bill als das beste zur Verfügung stehende Mittel zur Erreichung ihrer sozialen, rechtlichen und politischen Ziele zu sehen. Es gibt Gründe für die Annahme beider Ansichten. Die Klarheit der Beurteilung durch Hegel und die englischen Reformer ist auffällig.^ Beide sahen die Notwendigkeit einer Reform. Beide erkannten die Gefahr einer Revolution. Die französische Julirevolution von 1830 mußte als ein Signal gesehen werden. Eine sichere Methode für die Reformierung der alten Verhältnisse war unbekannt. Die Engländer konnten nicht so leicht ihre politische Kultur verleugnen, deren fundamentaler Charakter auf öffentlicher Meinung basiert und deren Geschichte zurückverfolgt werden kann bis zu den Zeiten Thomas Paines, John Lockes und David Humes. Hegel seinerseits wuchs auf in einem sozialen und politischen Milieu, dessen fundamentale Prinzipien auf dem Staatsrecht basierten. Dies beschrieb er in seiner Rechtsphilosophie und später in seiner Kritik der Reformbill.
33 G. E. Müller: Hegel — Denkgeschichte eines Lebendigen. München 1959. 355. 3^ G. Heimann: The Political Thought of Hegel and }. S. Mül. Thesis. University of Toronto 1966. Zitiert nach Petry (Anm. 2), 14.
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DIE REFORMBILL IN HEGELS SCHRIFT UND IN DAHLMANNS „POLITIK" Ein Vergleich zwischen Hegels Schrift über die Reformbill und deren Beurteilung in Dahlmanns Politik mag auf den ersten Blick wenig sinnvoll erscheinen. Sind doch beide in Form und Thematik, aber auch hinsichtlich ihrer schriftstellerischen Absicht so grundverschieden, daß ein adäquater Vergleichsmaßstab nicht leicht zu finden ist. Hegels Schrift ist ein relativ kurzer, auf publizistische Wirkung berechneter Zeitungsaufsatz, der ganz auf den aktuellen Anlaß bezogen bleibt, Dahlmanns Politik dagegen ein umfängliches, für didaktische Zwecke bestimmtes Buch, in dem ein weitgezogener Themenkreis abgeschritten wird. Gemeinsam ist ihnen nur, daß beide in zeitlicher Nähe zur englischen Parlamentsreform entstanden sind — Hegels Schrift während ihrer Beratung im Parlament, Dahlmanns Buch ein Jahr nach ihrer Verabschiedung. Wenn auch die Politik erst 1835 erschienen ist, so hat Dahlmann doch bereits 1833 mit der Niederschrift begonnen.^ Kein Zweifel, daß er damals unter dem frischen Eindruck des bedeutsamen zeitgeschichtlichen Vorgangs stand. Er wird denn auch von Dahlmann in seinen Ergebnissen ausführlich gewürdigt. Das Englandkapitel der Politik ist ein Kernstück des Buches. Es dürfte allein schon ausreichen, um Dahlmanns Vorstellung von Wesen und Werden der englischen Verfassung zu ermitteln. Diese Vorstellung bewegt sich im Rahmen seiner Staatsanschauung und Geschichtsansicht, die wir zunächst ins Auge fassen. Man hat Dahlmann dem sog. „organischen Liberalismus" zugeordnet, ja, in ihm den literarisch wirkungsvollsten Vertreter dieser Richtung im deutschen FrühkonstitutionaUsmus gesehen.^ „Liberal" in dem eingeschränkten Sinne einer durch Verfassung und Repräsentation gesicherten Staatsbürgerfreiheit — „organisch" in der Besinnung auf die geschichtlich gewachsene Tradition in Staat und Verfassung unter ent1 A. Springer: Friedrich Christoph Dahlmann. Bd 1. Leipzig 1870. 385. 2 Zur Problematik des Begriffs: E.-W. Böckenförde: Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert. Zeitgebundene Vorstellungen und Leitbilder. Berlin 1961. 95 ff.
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schiedener Ablehnung des abstrakten Vernunftrechts und der daraus abgeleiteten Verfassungsmodelle. Auch Dahlmann weist sie zurück, wenn es in der Einleitung zur Politik gleichsam programmatisch heißt: „Der Staat ist nichts Gemachtes . . . keine Erfindung, keine Aktiengesellschaft, keine Maschine . . . der Staat ist uranfänglich." Von hier aus erschließt sich auch der Sinn des vollständigen, etwas schwerfälligen Titels, den er seinem Hauptwerk gegeben hat: „Die Politik auf den Grund und das Maß der gegebenen Zustände zurückgeführt". Man erkennt die Nähe, in die Dahlmann hier zur Historischen Rechtsschule gerät. Mit ihr teilt er die Auffassung, daß sich Recht, Staat und Verfassung aus ihren historischen Grundlagen „organisch", d. h. gleichsam naturwüchsig entwickeln. Aber ebenso entschieden versagt er sich dem politischen Quietismus, der sich für manche Vertreter der historischen Rechtsschule aus dieser Lehre ergaben. Zeitlebens hat er sich von der Ansicht derer distanziert, „welche den Satz aufstellen, diese Einrichtung ist gut, denn sie ist historisch, "3 und mit Vehemenz hat er sich gegen die Ideologen der Restauration abgegrenzt, „die das Terrain, welches sie den flachen politischen Freigeistern glücklich abstritten, dadurch wieder einbüßten, daß sie die Geschichte da abschlossen, wo sie ihnen unbequem ward".^ Festhalten am Überkommenen und Aufnahme des Neuen liegen in Dahlmanns politischem Denken dicht beieinander. Das Gegebene ist für ihn zugleich „das von der Vergangenheit der Zukunft Aufgegebene"^; zu den „gegebenen Zuständen", auf die sich die historische Rechtsschule so gern beruft, gehört auch der Druck der „öffentlichen Meinung", die auf Einrichtung von Verfassungen drängt. In der Wiedererweckung des verkümmerten Ständewesens zu zeitgemäßeren Formen der Volksvertretung sieht er die große geschichtliche Aufgabe, die „das 18. Jahrhundert träge zurückgeschoben hat". So sind in Dahlmanns Wollen und Denken Politik und Geschichte unauflöslich miteinander verschränkt. Ihr Verhältnis, über das der junge Ranke damals reflektiert, ist ihm nicht zum Problem geworden. Sie sind für ihn „zwei Pole einer umfassenden Einheit"^. Staat und Verfassung lassen sich nur im Rückblick auf ihre historischen Grundlagen begreifen. „Daher drängt alle Behandlung von ^ F. C. Dahlmann: Erster Vortrag an der rheinischen Hochschule. 28. November 1842. In: Kleine Schriften und Reden. Stuttgart 1886. 314. ^ Die Politik. § 235. 5 H. Heimpel: Friedrich Christoph Dahlmann und die deutsche Geschichtswissenschaft. In: Jahr-
buch der Max Planck-Gesellschaft. Göttingen 1957. 78. ^ A4. Riedel: Der Staatsbegriff der deutschen Geschichtsschreibung in seinem Verhältnis zur klassischen Philosophie. In: Der Staat 2 (1963), 48.
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Staatssachen . . . zur Historie hin und durch sie auf unsere Gegenwart", weil auch bei historischer Betrachtung „keine neue Form des Lebens sich vernachlässigen läßt."^ Es fällt nicht leicht, unter der erdrückenden Fülle der von Dahlmann mitgeteilten historischen Fakten und verfassungsrechtlichen Einzelheiten die Leitlinien zu entdecken, denen seine Staatslehre folgt. Sie ergeben sich aus seiner Geschichtstheorie, die in den deskriptiven Partien des Buches immer wieder aufscheint. Sie beruht auf der Synthese von drei großen Potenzen, die in Dahlmanns Augen für den Gang der europäischen Geschichte bestimmend geworden sind: Antike, Christentum und Germanentum, denen wiederum die Begriffe Staat, Individuum und Volk jeweils zugeordnet sind. Die drei Potenzen treten in Dahlmanns Geschichtsbild nicht als chronologische Stufenfolge auf. Vielmehr werden Antike, christliche und germanische Welt als Einheit begriffen. Sie werden nicht jede für sich betrachtet, sondern miteinander verglichen und aneinander gemessen, so daß „die Mängel der einen an der Erscheinung der anderen herausgestellt werden".^ Nicht durch ein Studium der Geschichte, das es im professionellen Sinne in seiner Werdezeit noch gar nicht gab, ist Dahlmann zum Historiker geworden, sondern durch das Medium der klassischen Philologie. Es kann daher nicht wundernehmen, daß die Politik von der klassisch-antiken Staatslehre ausgeht. Vor allem Aristoteles „ist der große Lehrmeister in der Entwicklung von Dahlmanns Staatsbegriff".^ Gleich zu Beginn der Politik zitiert er den berühmten Satz des Aristoteles, daß der Mensch von Natur aus ein politisches Lebewesen, oder wie Dahlmann übersetzt, ein „Staatswesen" sei (§ 3). Der aristotelischen Staatslehre entnimmt er auch die Typologie der Verfassungen „nach der Zahl der regierenden Personen". Wenn er es auch für die Begründung seines eigenen Verfassungsideals nicht ausdrücklich herangezogen hat, so bleibt doch das klassische politische Schema der „gemischten" Verfassung, in der die drei Staatsformen miteinander verbunden sind, stets im Hintergrund seiner Vorstellung von einer „guten Verfassung". 7 Die Politik. § 15. * O. Westptwl: Einführung (zu Dahlmanns Politik). In: Klassiker der Politik 12 (1924), 13. Dem von M. Riedel in seiner Einleitung zu Dahlmanns Politik, Frankfurt a. M. 1968, 23 erhobenen Einwand gegen den von O. Westphal eingeführten Begriff „Potenzen" vermögen wir uns nicht anzuschließen. Er erscheint uns jedenfalls zutreffender als der von M. Riedel verwandte Begriff „Zeitalter". ® E. Höizle: Dahlmann und der Staat. In: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 17 (1924), 355.
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Was dieser Vorstellung in den antiken Verfassungen widerspricht, ist die alles Private in sich aufsaugende Ganzheit des Staates, die, wie in Platons Politeia und im spartanischen Staat „die höchsten denkbaren Opfer .. . der individuellen Bildung und der persönlichen Freiheit" fordert (§ 213). Aus dieser Abhängigkeit wird das Individuum erst durch das Christentum befreit — der zweiten großen Potenz in Dahlmanns Geschichtstheorie. Denn „das Christentum stellte den Staat notwendigerweise tiefer, als er bei Griechen und Römern stand . . . dem Staat bleibt höchstens die zweite Stelle, er kann nicht mehr im aristotelischen Sinne Architektonik sein" (§ 69). Das Christentum hat allmählich einen „Zusammenhang von Überzeugungen tmd Zuständen" bewirkt, durch den es der staatlichen Bevormundung entwachsen ist. Es formiert sich zur „bürgerlichen Gesellschaft seiner Bekenner" (§ 69). Es hat aber nur insoweit nach Rechten gefragt, als diese für die Behauptung der christlichen Freiheit notwendig waren. Es mißbilligte das antike Sklaventum, weil es den Menschen als Sache behandelte. Jedoch zur Formulierung von „natürlichen politischen Rechten aller Individuen im Staate" (§ 69) gelangte es nicht. Auch vermochte es allein nicht zu ersetzen, was der Spätantike gefehlt hatte: „der ruhende Volksgrund". Das römische Imperium gebot bei seinem Untergang nur über eine gleichförmige Masse von Bevölkerung — „Das Volk taten die Germanen hinzu" (§ 67). Wir berühren damit die dritte Potenz seiner Geschichtstheorie: das Germanentum, an dessen staatsbildenden Kräften der politische Lehrwert der Geschichte in Dahlmanns Augen am unmittelbarsten sichtbar wird. Es ist hier nicht der Ort, der Frage nachzugehen, inwieweit die äußeren Lebensumstände von Dahlmanns Herkunft und Werdegang zur Formung seines germanozentrischen Geschichtsbildes beigetragen haben. Sicher ist, daß er zum Exponenten einer Ideen- und Forschungsrichtung geworden ist, deren Vertreter in der konstitutionellen und nationalen Bewegung der Vormärzzeit unter dem Sammelnamen der „Germanisten" erscheinen. 10 Was sie alle verbindet, ist ihr „vom Nationalen und Politischen her bestimmtes Verhältnis zur Geschichte". Die enge Wechselbeziehung, die zwischen Beidem besteht, findet ihren deutlichsten Ausdruck in dem vielbeschworenen Mythos der „altgermanischen Freiheit", auf dessen lange, bis ins 16. Jahrhundert zurückreichende Vorgeschichte wir nicht eingehen. In der Aktualisierung dieses Begriffs Ausführliche Charakterisierung bei E.-W. Böckenförde: Die deutsche verfassungsgeschichtli-
che Forschung (wie Anm. 2), 92 f.
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äußert sich nicht nur eine politische Forderung, sondern auch die Berufung auf „eine geschichtliche Kontinuität, die geschichtliche Stetigkeit der Freiheit, welche man nur überdeckt, aber nie abgerissen glaubte, als unverlierbares Erbe des eigenen Volkes".Die Symbiose von Gesetz und Freiheit im germanischen volksgenossenschaftlichen Staatsverband wird so zum Vorboten und Vorbild der gesetzlichen Staatsbürgerfreiheit im modernen Verfassungsstaat. Für Dahlmann gewinnt das Prinzip der „altgermanischen Freiheit" noch einen weiteren, über seine innerdeutsche Bedeutung hinausweisenden, gewissermaßen welthistorischen Aspekt. Die germanischen Reichsbildungen der Völkerwanderungszeit heben sich schon durch ihre Weiträumigkeit von der Grundform der antiken Staaten deutlich ab. Diese blieben, so ausgedehnt sie auch durch Eroberung wurden, Hauptstadt-Staaten. Die germanischen Staaten dagegen sind schon aufgrund ihrer Größe „zum Unterbau unserer heutigen Staatengesellschaft geworden". (§ 68) Der beispielhafte Beitrag der germanischen Staatsbildungen ziu- gesamteuropäischen Geschichte erscheint ihm noch unter einem anderen Gesichtspunkt, der sich ihm wiederum im Rückblick auf die Antike erschließt. Haben sie doch, „unterstützt durch eine Kriegsverfassung . . . der dem Altertum eigenen Feindschaft zwischen Monarchie und Aristokratie für immer ein Ziel gesetzt". (§ 67) Wir berühren hier die Nahtstelle, an der in Dahlmanns Politik Verfassungslehre und Geschichtstheorie aufeinandertreffen. Im Entwicklungsgang der antiken Verfassungen traten ihre Grundformen — Monarchie, Aristokratie, Demokratie — meist gesondert und nacheinander hervor. „Untergang des Nationalkönigtums durch den Adel, dann Untergang des Adels durch das Volk" (§ 70). Dabei wurde deutlich, daß Monarchie, Aristokratie und Demokratie, jede für sich allein genommen, von einer „guten Verfassung" um so weiter entfernt blieb, je ungemischter sie in Erscheinung trat. Erst „aus dem ruhenden germanischen Volksgrunde treten Königtum und Adel nicht nur in endlich entschiedener Gestalt hervor, . . . sondern die Aristokratie erkennt auch die Unentbehrlichkeit des Königtums" (§ 70). Die Lehnsverfassung des Mittelalters schließlich macht Königtum und Aristokratie füreinander so unentbehrlich, „wie Feldherr und Kriegsheer es sind". Wir sehen, wie aus Dahlmanns „germanistischer" Interpretation der Geschichte das Bild der „guten Verfassung" entsteht, in der die geschichtlichen Größen von Königtum, Adel und Volk miteinander verbunden sind und in der somit aus dem Nacheinan'1 Ebenda, 86.
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der der klassischen Verfassungsformen ein Nebeneinander geworden ist: die durch ständische Beteiligung an der Gesetzgebung eingeschränkte, dadurch aber zugleich gestärkte Erbmonarchie. Der von Griechen und Römern zum rechten Zeitpunkt versäumte Übergang zur Monarchie erscheint ihm als der entscheidende geschichtliche Fortschritt, den die germanische Welt in das Staatsleben gebracht hat. „In der Probe der verschiedensten Zeiten und Verhältnisse" bewährt, besitzt die Monarchie als „verständlichste und gemütvollste aller Regierungsweisen" (§ 137) besondere Volkstümlichkeit. Hat sich doch oft genug „an die alte Treue für ein angestammtes Haus die Erhaltung des ganzen Staates geknüpft" (§ 137). Der Glaube an die Monarchie ist erst durch die absoluten Herrscher erschüttert worden, die „Regierung als imumschränkte Regierung verstanden" und „andemteils übersahen, daß die Erbmonarchie gerade in dem Verhältnis dieses Fürstenhauses zu diesem Volk seine natürliche Wurzel hat, keineswegs sich aber willkürlich sofort auf eingetauschte Seelen und geraubte Kronen überträgt". (§ 137). Für Dahlmann als Bürger seiner Zeit war die Monarchie erlebte Wirklichkeit. Ihr konstitutionelles Leitbild „war aber nicht ein gesehenes, sondern ein gelesenes". Wie bei Montesquieu, an dessen vergleichende Methode Dahlmanns Politik in mancher Hinsicht erinnert, führen die Linien seines Systems „von Griecherüand (Athen, Sparta) über Rom nach England". Schon 1815 sieht er in England die Grundlagen einer Verfassung „zu welcher alle neueuropäischen Staaten streben"i4 am reinsten ausgebildet. Sie bleibt für ihn auch weiterhin europagültiges Modell. So ist denn auch England der einzige Staat, dem in der Politik ein besonderes Kapitel gewidmet wird. Den fernen geschichtlichen Ursprung der englischen Verfassung führt Dahlmann auf die „altgermanische Freiheit" zurück, die von den Sachsen nach England verpflanzt wurde. Waren doch, wie Dahlmann meint, Freiheit und zugleich Gesetzlichkeit in der volksgenossenschaftlichen Ordnung der Sachsen am reinsten ausgeprägt. In der angelsächsischen Gründungsepoche der englischen Geschichte erscheint die spätere Fortentwicklung der Verfassung zur organischen Einheit von Königtum, Adel und freiem Volk bereits angelegt. Die Gewaltherrschaft der normannischen Eroberer hat den „schönen Keim" einer freien Verfassung wohl überdeckt, aber nicht entwurzelt. Die durchgehende Feudalisierung des Landes schuf den neuen Herrschern eine Machtbasis, 12 H. Heimpel: Fr. Chr. Dahlmann (wie Anm. 5), 74. 12 M. Riedel: Einleitung (wie Anm. 8), 20. 1^ fr. Chr. Dahlmann: Ein Wort über Verfassung. In: Kleine Schriften (wie Anm. 3), 18.
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von der aus sich die alte Volksfreiheit zwar zurückdrängen, aber nicht völlig unterdrücken ließ. Auch der normannische Lehnsstaat beruht auf dem Unterbau des angelsächsischen Volksrechts. Wie nirgends sonst in Europa hat das englische Lehnserbrecht ein Prinzip ausgebildet, dem Dahlmann fortdauernde verfassungsgeschichtliche Bedeutung beimißt: die Unteilbarkeit des Lehens zugunsten des Erstgeborenen. „Die Eolge war fast unbeweglicher Besitz des Grundeigentums in derselben Familie" (§ 74). Auch nachdem das Lehnswesen seine Bedeutung verlor, blieb dieses Prinzip bestehen. Es hat der englischen Aristokratie eine keiner kontinentalen Adelsschicht vergleichbare Sonderstellung gesichert „als ein lebendiger Teil der Staatsgewalt, die Fortdauer ihres erblichen Vorrechts stützend auf einem ungeheuren unveräußerlichen Grundvermögens, keinem Stande zu Leide, auch kein Selbstgefühl des Bürgerlichen verletzend, weil die jüngeren Söhne dem Bürgerstande angehören . . ." (§ 74). Durch die Umwandlung der Lehen in reine Erbzinsgüter ist die im Oberhaus vertretene Pairie zu einer „rein politischen Institution" geworden. Mit der Büdung einer Wahlkammer im Parlament tritt ein weiteres Verfassungsorgan hinzu, dessen „notwendiger Anteil an der allgemeinen Gesetzgebung" die drei Staatsgewalten in „eine organische Verbindung" bringt (§ 74). Es ist richtig bemerkt worden, wie sehr Dahlmanns Erklärung der Entstehung der beiden Häuser des Parlaments im „sozialständisch-konstitutionellen Schema des Vormärz verbleibt''^^. Während sich die ritterlichen Inhaber unverkäuflicher Lehen im Oberhaus versammeln, treten „Städte und wandelbarer Grundbesitz ihrem gemeinsamen Vorteil gemäß" in einer besonderen Kammer zusammen. Was Dahlmann hier auf die englischen Verhältnisse überträgt, ist eine Ansicht von parlamentarischer Repräsentation, die sich ihm aus der Diskussion um die Zusammensetzung der Kammern in den frühkonstitutionellen deutschen Einzelstaaten ergibt. Dahlmann erkennt auf ihrem deutschen Hintergründe die Zeichen einer Zeit, in der die alten „Standesklüfte" verschwunden sind, in der nicht mehr angeborenes Privileg, sondern „überall Wahl- und Berufswesen", den jeweiligen Anteil am öffentlichen Leben bestimmen. „Darum hat die Frage: ständisch oder repräsentativ wenig praktischen Wert mehr" (§ 142). An die Stelle der Standesmeinung ist die öffentliche Meinung getreten. Diese heißt „die alten Landstände zusammenrücken ... zu einer Volksvertretung, die allgemeine Gesetze und Geldabgaben bewilligt." 15 E.-W, Böckenförde: Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung (wie Anm. 2), 82. Anm. 6.
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(§ 142). Das Volk stellt sich Dahlmann in seiner Gliederung durch verschiedene Berufe dar, die „wie frei sie auch von den Einzelnen erwählt sein mögen, Stände von verschiedener Lebensrichtung bilden" (§ 143). Eine wahrhaft „volksgemäße" Vertretung müsse deshalb eigentlich aus „soviel Kammern bestehen, wie es Hauptberufe gibt." Er schiebt jedoch diesen Gedanken sofort wieder zur Seite in der richtigen Erkenntnis, daß eine solche, nach Berufsständen aufgegliederte Versammlung — mit „mehr Kurien also noch als im Mittelalter zu finden" — kaum in der Lage wäre, Mehrheitsentscheidungen zu treffen. Was ihm als zeitgemäße Form der Volksvertretung vorschwebt, ist eine korporative, aber keineswegs numerische Repräsentation der Gemeinden in Stadt und Land. Dabei ist ihm nicht entgangen, daß ein solches Organisationsprinzip im gesamtstaatlichen Verband kaum zu realisieren war. Zur letzten Klarheit über das in der Zusammensetzung der Wahlkammer zu berücksichtigende Verhältnis von Genossenschaftsgedanken und neuständischem Vertretungsprinzip ist er offenbar selbst nicht gelangt. Ihm fehlte — wie dem deutschen FrühkonstitutionaMsmus überhaupt — eine „geschlossene Konzeption einer parlamentarischen Repräsentation"!^ und damit erst recht der Begriffsapparat, um die Eigenart des im englischen Unterhaus verkörperten Vertretungsprinzips angemessen zu umschreiben. Daß es weder im altständischen noch im neuständischen Sinne zu interpretieren war, ist ihm offenbar nicht voll zum Bewußtsein gekommen. Auch die eigentümliche Dichotomie der englischen Wahlrechtsqualifikation — gleichförmig für die Vertreter der Counties, grundverschieden für die Vertretung der boroughs — scheint ihn nicht sonderlich beschäftigt zu haben. Die Politik bietet genug Beispiele dafür, in welchem Maße Dahlmann bestimmte Postulate des deutschen Frühkonstitutionalismus in das Bild verwoben hat, das er von der englischen Verfassung vermittelt. Umgekehrt hat die Anlehnung seiner Verfassungslehre an das englische Modell seine Vorstellung von den Voraussetzungen und Möglichkeiten einer „guten Verfassung" im Rahmen der deutschen Wirklichkeit entscheidend mitbestimmt. Daß er dabei von einer Interpretation der englischen Verfassung ausging, die auf der Insel selbst lange Zeit die herrschende war, ist bekannt genug. Blackstones Werk The Commentaries on the Laws of England galt noch ein halbes Jahrhundert nach seinem Er1* Erörterung von Dahlmanns Vorstellungen bei H. Brandt: Landständische Repräsentation im
deutschen Vormärz. Neuwied, Berlin 1968. 202 f.
Ebenda, 7.
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scheinen (1765) als die klassische Darstellung des englischen Staats- und Verfassungsrechts. Ihre Wiedergabe in sprachlich gefälliger Form durch den Genfer De Lolme in seinem Handbuch La Constitution de l'Angleterre (1771) haben die Grundgedanken von Blackstones, mit Gelehrsamkeit schwer befrachteten Werks in weite Kreise auch auf dem Kontinent getragen.i® Was Blackstone, der gelehrte Kenner des „Common Law", in seinem Hauptwerk vermitteln wollte, war eine Systematik des englischen Rechts, doch wurde sie von ihm in das staatsphilosophische Schema der Gewaltentrennung gezwängt. Das kanonische Ansehen von Blackstones Werk hat sicher dazu beigetragen, daß man auf dem Kontinent Staat und Verfassung Englands so lange mit den Augen Montesquieus sah: als das Zusammenspiel einer starken monarchischen Exekutive und einer zweigeteilten, auf wechselseitigen Ausgleich zwischen Adels- und Wahlkammer angewiesenen Legislative. Diese Interpretation der englischen Verfassung erhielt nun in Blackstones Werk die nachträgliche Sanktion durch eine allseits anerkannte wissenschaftliche Autorität, und man darf sich fragen, ob „Dahlmann an dem Teilungsschema festgehalten hätte, wenn Montesquieu sein einziger Gewährsmann gewesen wäre und wenn ihm nicht noch die englische Staatswissenschaft Pate gestanden hätte"i^. Dahlmanns Grundanschauung von der geschichtlich gewachsenen Harmonie des englischen Verfassungssystems ist durch die Reformbill von 1832 nicht erschüttert, sondern eher befestigt worden. Er hat ihr im Englandkapitel der Politik breiten Raum gewährt und ihre Ergebnisse ausführlich bis in technische Einzelheiten geschildert. Auffällig ist, daß er der „durchgreifendsten Veränderung", die sie bewirkte — der Erweiterung des Wahlrechts — nur zurückhaltend Lob spendet. Ja, es fehlt an anderer Stelle der Politik nicht an Hinweisen dafür, daß ihm die Reform in diesem Punkte eher zu weit gegangen ist. Es überwiegt die nüchterne Registrierung der Faktizität, die er — wie z. B. die Umverteilung der Wahlkreise — sogar tabellarisch erfaßt. Was die Reform auch an Neuerungen in der Zusammensetzung des Unterhauses und in der Gewichtung der parlamentarischen Vertretung von Stadt und Land erbracht haben mag, so bleibt doch die Architektonik der englischen Verfassung davon unberührt. Ja, sie erweist im „heutigen England" erst recht ihre volDahlmann hat De Lolmes Werk hoch geschätzt und ihn neben Locke, Blackstone und Burke zu den konstitutionellen Klassikern Englands gezählt. Vgl. seine Vorrede zu der von seinem Schwager Cholditz besorgten deutschen Übersetzung (1819) in: Kleine Schrißen (wie Anm. 3), 111 ff. Th. Wilhelm: Die englische Verfassung und der vormärzliche deutsche Liberalismus. 1928. 17.
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le Tragfähigkeit, denn „seine Verfassungsorgane waren nie gereinigter als jetzt" (§ 84). Der Wegfall einer Menge von „parUamentary boroughs" hat der Patronage der „Lords und der Reichen" die Verfügung über die Mehrzahl der Plätze im Hause" entzogen und dem englischen Parlament sein inneres Gleichgewicht wiedergegeben, so daß sich fortan die Regierung mit einem Parlament verständigen muß, „dessen beide Kammern jetzt gleichmäßig ihren Schwerpunkt in sich selber tragen" (§ 84). In der Reformgesetzgebung, die das englische Parlament innerhalb weniger Jahre auf den Weg gebracht hat — die Aufhebung der Testakte, die Katholikenemanzipation, die Reform des Unterhauses —, zeigen sich Dahlmann noch einmal die Vorzüge des Zweikammersystems. In einer allgemeinen Ständeversammlung wären diese Gesetze niemals einer widerstrebenden aristokratischen Minderheit abgetrotzt worden. Wenn sie zustande kamen, so nur durch „Versöhnung beider Häuser wie jetzt, ohne den Kunstgriff einer Pairs-Emennung bloß zu solchem Zwecke!" (§ 149). Vor allem liegt ihm daran, darzutun, daß auch der obersten Staatsgewalt, der „Macht des Körügtums", durch die Reformbill keine „Abnahme droht". Ist es doch nicht zuletzt „die Weisheit König Wilhelms IV." (§ 74), die sie zustande brachte. Sie hat das Parlament in ein „klares Verhältnis" zum Königtum gesetzt und damit den Übergang „zum mehr einheitlichen Staatswesen, wohin die Gegenwart drängt", eingeleitet (§ 84). So erscheint Dahlmann die Reform dem großen Kontinuum der englischen Geschichte bruchlos eingefügt. Trotz mancher Bedenken in einzelnen Punkten, stellt sie sich ihm im ganzen als letzte, den Zeiterfordernissen angepaßte Vollendung der englischen Verfassung dar. Als Dahlmann in der Politik seine Ansicht über die Ergebnisse der Parlamentsreform wiedergab, besaß er keine Kenntnis von Hegels Schrift, die, nur teilweise veröffentlicht, weithin unbeachtet geblieben war. Während Dahlmanns Urteil über die Reformbill erst im Rückblick auf das abgeschlossene Gesetzeswerk gewonnen wurde, ist Hegels Schrift während der parlamentarischen Debatte zwischen der zweiten und der dritten Lesung der Bill entstanden. Hegel schreibt unter dem frischen Eindruck des um die Bill entbrannten Meinungskampfes und seines Echos in der englischen Tagespresse. Ihr sind offenbar auch die zahlreichen anschaulichen Einzelbeispiele entnommen, mit denen er, nicht ohne ironischen Unterton, seine Analyse der englischen Zustände belegt. Kein Zweifel, daß er diese vornehmlich als Mißstände interpretiert. Ihre Wurzel erblickt er „in dem Charakter des Positiven, den die englischen Institutionen des Staatsrechts und Privatrechts überwiegend an sich tragen". Die Diskrepanz zwischen dem positiven, d. h. dem nun
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einmal gegebenen Recht und dem was „recht und vernünftig" ist, zwischen Form und materiellem Inhalt des Rechts, ist nirgends so groß wie in England. Seine Rechtsordnung besteht im Grunde aus einem „in sich unzusammenhängenden Aggregat von positiven Bestimmungen", die, großenteils privatrechtlichen Ursprungs, „bei der Zufälligkeit ihres Inhalts stehengeblieben sind". In England fehlt die wissenschaftliche Bearbeitung und Systematisierung des Rechts, wie sie in den zivilisierten Staaten des Kontinents — auch und gerade in den deutschen Ländern — in großen Gesetzeskodifikationen zutage getreten sind. Was sie zuwege gebracht hat, war der „große Sinn von Fürsten" und die „gehörige monarchische Macht", die allgemeinen Prinzipien des Rechts sowohl gegen „bloß positive Privilegien und hergebrachten Privateigennutz" wie gegen den „Unverstand der Menge" zum Durchbruch verholfen haben. England ist dagegen in seiner Rechtsentwicklung hinter den zivilisierten Staaten des Kontinents zurückgeblieben — vor allem deshalb, weil die Regierungsgewalt einer Oberschicht überantwortet war, die sich dem Verzicht auf ihre „einem vernünftigen Staatsrecht und wahrhafter Gesetzgebung widersprechenden Privilegien" widersetzte. In der vielbewunderten „Volksrepräsentation" dominiert neben „der rohen Ignoranz der Puchsjäger und der Landjunker" eine oberflächliche, aus Zeitungen und Parlamentsdebatten und aus der „Konversation" geschöpfte Bildung. Es ist die dilettantische und amateurhafte Behandlung der Staats- und Regierungsgeschäfte, die Hegel in England beobachtet und aufs schärfste kritisiert. Fehlt doch hier die Institution, in der er eine Grundvoraussetzung moderner Staatlichkeit erblickt und die er in den deutschen Ländern seiner Zeit bereits beispielhaft verwirklicht glaubt: ein durch Vorbildung und praktische Erfahrung qualifiziertes Berufsbeamtentum. Adlige Geburt und Reichtum an Grundvermögen dispensieren in Deutschland nicht mehr von diesen Vorbedingungen für die Teilnahme an Staats- und Regierungsgeschäften. In England erfüllt die politische Führungsschicht diese Vorbedingungen gerade nicht — am allerwenigsten ihre Spitzengruppe: die englische Aristokratie. Sie erscheint bei Hegel in ganz anderem Licht als bei Dahlmann, der ihre im Oberhaus verkörperte Sonderstellung als „lebendiger Teil der Staatsgewalt, gestützt auf einen ungeheuren, unveräußerlichen Grundbesitz" so hoch bewertet. Was Dahlmann als besonderer Vorzug des englischen Lehnserbrechts erscheint — die Unteilbarkeit des adligen Grundvermögens zugunsten des Erstgeborenen —, hat sich in Hegels Augen vornehmlich negativ ausgewirkt. Es hat die jüngeren Söhne der großen Adelsfamilien auf die Versorgung durch die reichen Pfründen
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der englischen Staatskirche hingewiesen und damit einer Entartung des englischen Kirchenwesens Vorschub geleistet, die er an mehreren skandalösen Einzelfällen demonstriert. Der Kirchenzehnte, in anderen protestantischen Staaten längst abgeschafft oder abgelöst, wird in England noch immer erhoben, erscheint aber seinem ursprünglichen Zweck entfremdet. Aus einer Abgabe für den Unterhalt der Geistlichen imd des Kirchenbaus hat er sich in einen „Ertrag von Privateigentum" verwandelt. Die Pflichten des geistlichen Amtes haben sich in „Rechte und Einkünfte" verkehrt. Die Entfremdung der anglikanischen Kirche von ihrem geistlichen Auftrag zeigt sich nirgends deutlicher als in Irland, wo „kraft des Eroberungsrechts" der katholischen Kirche Besitz und Einkünfte genommen und zum Eigentum der anglikanischen gemacht worden sind und die in ihrer Mehrzahl katholische Bevölkerung gezwungen ist, den Unterhalt der anglikanischen Kirchengebäude und des anglikanischen Kultus zu bestreiten — ein „in einer zivilisierten und christlich protestantischen Nation beispielloses Verhältnis." Als positives kontinentales Gegenbeispiel führt er die religionsrechtlichen Verhältnisse in Deutschland an, wo schon vor anderthalb Jahrhunderten der „Dreißigjährige Krieg und in neuerer Zeit die vernünftige Bildung" dazu führten, daß Fürsten imd Regierungen den andersgläubigen Untertanen ihre Kirchengüter beließen. Das grellfarbige Bild, das Hegel vom England seiner Tage entwirft, trägt unverkennbar die Züge eines „ancien regime", dessen Modernisierung auf dem Kontinent bereits der Spätabsolutismus eingeleitet hat und die sich in der Gegenwart durch „wirkliche, ruhige, allmähliche Umbildung" überkommener Rechtsverhältnisse fortgesetzt hat. Was so geschaffen wurde, sind „Institutionen der reellen Freiheit", die sich in ihrem Gewicht und ihrer Effizienz von dem „Pomp und Lärm der bloß formellen Freiheit" in England vorteilhaft unterscheiden. Das ist, mit wenigen Worten hier nur angedeutet, der breit ausgemalte Hintergrund, auf dem Hegel das Reformprojekt, seine Prinzipien und Dispositionen betrachtet. Hegel verkennt nicht, daß die projektierte Wahlrechtsreform eine bedeutende Modifikation der parlamentarischen Vertretung darstellt. Es bringt nicht nur eine gewisse Symmetrie in die bizarre Vielförmigkeit des englischen Wahlrechts, sondern enthält auch ein neues Prinzip, wonach „das privilegierte Wahlrecht nicht mehr in dieselbe Kategorie mit dem eigentlichen Eigentumsrechte" gesetzt wird. Die Reformbül stellt daiiüt einen Angriff gegen das Rechtsprinzip des „Positiven" dar, das in England so lange herrschend war. Sie hat sich aber dabei auf heterogene Grund-
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Sätze gestützt und ist somit „schlechthin inkonsequent in sich selbst geblieben". Ist doch die Bill „ein Gemisch von den alten Privilegien und von dem allgemeinen Prinzip der gleichen Berechtigung aller Bürger . . . zur Stimmgebung über diejenigen, von welchen sie vertreten werden sollen". Sie hat „den Widerspruch des positiven Rechts und des abstrakten Gedankenprinzips" in sich aufgenommen. Was sie an Resten des überkommenen Wahlrechts bewahrt, erscheint daher in noch „viel grellerem Licht der Inkonsequenz" als die alte Ordnung, in der „noch alle Berechtigungen insgesamt auf einem und demselben Boden des positiven Rechts fußten". In den Augen ihrer Verfechter war es der Vorzug der alten Ordnung, ja, sie empfing daraus ihre historische Legitimation, daß in der bisherigen Zusammensetzung des Unterhauses die unterschiedlichen Hauptinteressen der Nation, die agrarischen sowohl wie die kommerziellen zur Geltung kamen. Was aber das Prinzip der „interest representation" in England so fragwürdig macht, ist der Weg, auf dem Großhandel und Hochfinanz zu parlamentarischer Vertretung gelangen; über die Parlamentssitze von „Städtchen und Flecken" — d. h. durch Korruption und Bestechung. Wenn sie darüber Klage führen, daß ihnen dieser Zugang zu parlamentarischer Repräsentation durch die Bül verschlossen wird, so mag sie dabei ein „wichtiger Gesichtspunkt" leiten, hinter dem moralische Beweggründe zurücktreten. „Aber es ist der Mangel einer Verfassung, daß sie das, was notwendig ist, dem Zufall überläßt und dasselbe auf dem Wege der Korruption, den die Moral verdammt, zu erlangen nötigt". Eine sachlich angemessene und rechtlich einwandfreie Vertretung von Interessen, wie sie in „England nunmehr mächtig geworden sind", kann sich Hegel nur in anderer Form vorstellen. Nicht in einer Vertretung, in der „die Stände organisch unterschieden sind", wie damals noch im schwedischen Reichstag in Adel, Geistlichkeit, Städtebürger und Bauern. Eine solche altständische Gliederung entspricht „dem jetzigen Zustand der meisten Staaten" nicht mehr. Was Hegel vorschwebt, ist vielmehr ein Repräsentativsystem, in dem die „realen Grundlagen des Staatslebens, so wie sie wirklich imterschieden sind" nicht nur zur Geltung kommen, sondern „auch mit Bewußtsein und ausdrücklich herausgehoben" sind. Wie er sich die mögliche Konkretisierung eines solchen, den Zeitverhältnissen gemäßen Vertretungsprinzips denkt, wird an einem Beispiel demonstriert: der von Napoleon für das Königreich Italien bestimmten Konstitution, in der die „Berechtigung zur Repräsentation" auf die drei Klassen der „Possidenti, Dottori und Mercanti" verteilt war.
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Ein solches, am kontinentalen ausgerichtetes, berufsständisches Gliederungsprinzip ist natürlich im englischen Repräsentativsystem weder vor noch nach der Reformbill zu entdecken. Die „Stimmgebenden" sind eine ungeschiedene Menge von Einzelindividuen, deren einzige Qualifikation aus einer „Grundrente von 10 Pfund" besteht und die in ihrer überwiegenden Mehrzahl nur geringes Interesse an Parlamentswahlen bezeigen. Ihre Vertreter im Unterhaus sind aufgrund ihres freien Mandats nicht an den Wählerwillen gebunden, dem sie doch eigentlich untergeordnet sein sollten. „Ohne Instruktion, Verantwortlichkeit, ohne Beamte zu sein, beschließen sie über die Gesamtangelegenheiten des Staates." In dieser Machtvollkommenheit des Parlaments erkennt Hegel die besondere „Eigentümlichkeit", die der englischen Verfassung in ihrem gegenwärtigen Zustand innewohnt: das Auseinandertreten von monarchischer und effektiver Regierungsgewalt. Diese liegt eindeutig beim Unterhaus — der Anteil, der daran dem Monarchen zufällt, ist dagegen „mehr illusorisch als reell". Die bedeutenden Prärogative, die die Krone formal besitzt, sind faktisch in die Hände des Parlaments gelegt, das durch sein Budgetrecht über die Mittel verfügt, deren der Staat bedarf, um Krieg zu führen und Frieden zu schließen, eine Armee und diplomatische Vertretungen zu unterhalten. Nicht der Monarch ernennt die Minister, sondern der Präsident des Conseil, der wiederum auf den Mehrheitswillen des Hauses angewiesen ist, um sein Kabinett zu bilden. Hegel hat am frühesten und am schärfsten gesehen, was den meisten seiner Zeitgenossen — auch und gerade Dahlmann — noch nicht zum Bewußtsein gekommen war; die langsame, aber unaufhaltbare Denaturierung der konstitutionellen Monarchie dxrrch die Gewichtsverschiebung zwischen den verschiedenen Organen der englischen Verfassung auf Kosten der Krone zugunsten des Unterhauses.Was er in England im Werden begriffen sieht, ist eine Regierungsform, für die er noch keinen Namen hat, die er aber in der Sache richtig beschreibt: das später sogenannte „parlamentarische System"^!. „Das ,monarchische Prinzip'. . . hat in England nicht mehr viel zu verlieren", nachdem eins der wenigen „Überbleibsel königlich-monarchischer Disposition" — die freie VerfüH. Brandt: Landständische Repräsentation (wie Anm. 16), 244 Arun. 16 nennt einige Autoren, die „den parlamentarischen Charakter des englischen Systems ... in einigen wesentlichen Merkmalen durchaus richtig erkennt haben". Es handelt sich jedoch hier um wenig beachtete Ausnahmen, die hinter dem vorherrschenden Klischeebild der englischen Verfassung völlig zurücktreten. Das Wort kommt erst im nächsten Jahrzehnt auf. Zur Begriffsgeschichte vgl. H. Boldt: Parlament, parlamentarische Regierung, Parlamentarismus, ln; Historische Grundbegriffe. Bd4. Stuttgart 1978. 651 ff.
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gung über den Ertrag der Domänengüter — der Krone entzogen und in eine vom Parlament bewilligte Abfindungssumme verwandelt worden ist. Wie sich die Machtverschiebung zwischen Krone und Unterhaus in der englischen Verfassungswirklichkeit auf die parlamentarische Behandlung und schließliche Verabschiedung der Reformbill ausgewirkt hat, wird von Hegel an verschiedenen Beispielen verdeutlicht. Sein Blick verengt sich nicht auf den verfassungspolitischen Aspekt, den die Entstehungsgeschichte der Reformbill bietet. Was er darüber hinaus ins Auge faßt, sind die Entwicklungsmöglichkeiten, aber auch Gefahren, die das Reformwerk für das „bisherige gesellschaftliche System" Englands in sich birgt. Es kann sich, so scheint ihm, nach zwei verschiedenen Richtungen hin fortentwickeln, die in zwei gegensätzlichen Zukunftsprognosen angedeutet sind. Die eine — in Hegels Augen optimistische — baut auf den „praktischen Staatssinn" der Engländer, der sie für abstrakte Gedankenprinzipien unempfänglich macht. Gewiß sind diese in der Wahlrechtsreform mitenthalten und könnten, für sich genommen, eine „Unendlichkeit von Ansprüchen" auslösen. In der Erweiterung des Wahlrechts ist die Tendenz zu seiner fortschreitenden Ausdehnung gewissermaßen angelegt, „indem das Stimmrecht für sich das Verlangen und die Forderung einer allgemeinen Erteilung desselben aufregt". Gleichwohl sieht Hegel in solchen, aus dem Gedankenprinzip der Reform abgeleiteten Forderungen keine unmittelbare Gefahr, solange die „parlamentarische Macht" in der Lage ist, ihnen Schranken zu setzen und die alte politische Führungsschicht im Unterhaus ihren maßgeblichen Einfluß behält. Dieser scheint ihm zunächst nicht gefährdet — in der, wie sich zeigen sollte, berechtigten Erwartung, daß die „novi homines" aus sozialen Mittelschichten ihren von den Gegnern der ReformbiU in bedrohliche Nähe gerückten Einzug ins Parlament so bald nicht halten würden. Sollten indes die Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Volkssouveränität „in der gefährlichen Gestalt der französischen Abstraktion" auch in England Eingang finden, so ergäben sich daraus völlig veränderte Voraussetzungen für einen Fortgang der durch die Bill eingeleiteten Reformen. Hier liegt der Ausgangspunkt der anderen, der pessimistischen Prognose, die Hegel für die Fortentwicklung der politischen Kräfteverhältnisse in England stellt. Sind doch diese abstrakten Prinzipien von „einfacher Natur", dem schlichten Verstände sofort eingängig, mit etwas rhetorischem Talent leicht zu vermitteln und somit geeignet, auf eine politisch unwissende und unerfahrene Menge „eine blendende Wirkung" auszuüben. In der Bekundung solcher Grundsätze fände eine
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neue Klasse von Politikern die stärkste Stütze ihrer Popularität. Diese Klasse der von Hegel sogenannten „hommes ä principe" hat zwar in England noch nicht recht Fuß gefaßt, doch scheint ihr Aufstieg zu politischer Geltung „durch die Öffnung eines breiteren Weges für Parlamentssitze" bereits angebahnt. Durch ihren Zutritt würde ein neues Element des Zwiespalts in das Parlament getragen, und das heißt für Hegel: in das Zentrum der eigentlichen Regierungsgewalt. Die neuen, auf egalitäre Grundsätze eingeschworenen „hommes ä principe" würden sich zu einer Opposition formieren, „die auf einem dem Bestand des Parlaments bisher fremdem Grund gebaut" wäre. Diese Opposition geriete zwangsläufig in Konflikt mit den „Interessen" des bisherigen Systems und der es im Parlament repräsentierenden privilegierten Klasse. Dieser Konflikt würde um so gefährlicher sein, als in England die vermittelnde Instanz „zwischen den Interessen der positiven Privilegien und den Forderungen der reellen Freiheit" fehlt: die monarchische Macht, die anderswo den Übergang vom Privilegienstaat des ancien regime zum modernen Rechts- und Veiwaltungsstaat „ohne Erschütterung, Gewalttätigkeit und Raub" ermöglicht hat. Da diese, auf dem bisherigen System entgegengesetzte Grundsätze gestützte Opposition der herrschenden Majorität im Parlament nicht gewachsen wäre, würde sie Rückhalt bei der einzigen Macht suchen, die nach dem Verfall der monarchischen Gewalt noch zur Verfügung stünde: dem Volk, um dann „statt einer Reform eine Revolution herbeizuführen". Es sind die Worte, mit denen Hegels Schrift über die Reformbill schließt. Folgt man ihrem Gedankengang, so bemerkt man eine gewisse Unentschiedenheit des Urteils, das Hegel über das Reformwerk abgibt. Wenn er auch das Daseinsrecht, ja, die Notwendigkeit der Parlamentsreform anerkennt, so schreckt er doch immer wieder zurück vor ihren Risiken und möglichen Konsequenzen. Wie es Franz Rosenzweig etwas überspitzt formuliert, „fand er kein mutiges Nein für den bisherigen Zustand, kein entschlossenes Ja für die Reform"22. Es fällt daher nicht leicht, die Intention zu erkennen, die Hegel bei der Abfassung der Schrift geleitet hat. Ein solches Problem stellt sich bei Dahlmann nicht. Ist doch für ihn die Reform die eindrucksvolle Bestätigung eines längst vorgeformten Bildes der englischen Verfassung, zu dem er sich ohne Anflug von Revolutionsfurcht vorbehaltlos bekennt.23 ^ Fr. Rosenzweig: Hegel und der Staat. Bd 2. München, Berlin 1920. 236. 23 Während der Ausbruch der Julirevolution Hegel in Unruhe versetzte, hat sie Dahlmann wenn nicht begrüßt, so doch von ihr einen heilsamen Anstoß auf die Verfassungsentwicklung in Preußen erwartet und darüber einen Briefwechsel mit dem durch die Revolution tief
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Der scharfe Kontrast zwischen Hegels und Dahlmanns Einschätzung der Reform ist um so auffällige^ als sich beide in der Bewertung der institutionellen Grundlagen des werdenden Verfassungsstaates im Deutschland ihrer Zeit ziemlich nahekommen. Sind sie doch beide überzeugte Anhänger der konstitutionellen Monarchie und der Verkörperung ihrer Regierungsgewalt in einem starken Königtum. Beide teilen sie die Überzeugung, daß eine wie auch immer konzipierte Repräsentativverfassung der „Vernunft und Wirklichkeit" (Hegel) und den „gegebenen Zuständen" (Dahlmann) des Staatslebens entspricht. Was sie am tiefsten unterscheidet, ist nicht ihr Standort in der verfassungspolitischen Diskussion des deutschen Vormärz, sondern ihre Vorstellung von Kontinuität und Wandel im Verlauf langfristiger historischer Prozesse. Ihre so weit auseinandergehende Bewertung der englischen Parlamentsreform bietet ein lehrreiches Beispiel dafür. In Dahlmanns Augen hat sie an dem stolzen Bau der englischen Verfassung nur einige zeitgemäße Reparaturen angebracht, sie bleibt aber ein in sich fertiges, ja durch die Reform sogar gefestigtes Gebilde. Hegel dagegen sieht sie eingebettet in einen kontinuierlichen geschichtlichen Prozeß, in dessen Verlauf die Organe der englischen Verfassung eine tiefgreifende Gewichtsverschiebung erfahren haben, den der formale Fortbestand ihrer Funktionen nur verdeckt. Bei Dahlmann erscheinen sie eingefügt in den feststehenden Rahmen eines Trennungsschemas, das der englischen Verfassungswirklichkeit nicht entspricht. Auch Dahlmann ist kein blinder Bewunderer Englands und seiner politischen Kultur, und er verkennt ihre Mißstände nicht. Es sind zum Teil die gleichen, die auch Hegel kritisiert. Der Modellcharakter der englischen Verfassung jedoch bleibt davon unberührt. Solche Mißstände werden von Dahlmann wohl registriert, aber nicht in ihrem Zusammenhang dargestellt und begründet. Bei Hegel erscheinen sie dagegen als Ausfluß einer besonderen Gesellschaftsstruktur, deren Wesenszüge, wenn auch oft polemisch überzeichnet, in seiner Schrift deutlich hervortreten. Er bemerkt die „ungeheure Fabrikation" im England der industriellen Revolution, er erkennt den Dualismus von „landed" und „moneyed interest" im englischen Wirtschaftsleben, er kennzeichnet den nirgends sonst in solcher Schärfe anzutreffenden Klassenunterschied zwischen „ungeheurem Reichtum" und „ganz ratloser Armut". Eine derart scharfsichtige Beobachtung von Sachverhalten der sozialen und ökonomischen Wirklichkeit ist bei Dahlmann nicht zu finden. beunruhigten Niebuhr geführt. Vgl. H. Christern: Dahlmanns politische Entwicklung bis 1848. 1921. 91 f.
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Schon Heinrich von Treitschke, sein berühmtester Schüler, hat es „als die bedenklichste Lücke" in Dahlmanns politischer Bildung bezeichnet, daß „ihm, dem Sohne unserer großen aesthetischen Epoche . . . die derbe Prosa der Volkswirtschaft niemals recht vertraut" geworden sei.^^ Auch reiche sein Blick noch nicht in „die Tiefen des sozialen Lebens". Was in der sozialen Schichtung unterhalb von Bauerntum und Handwerk lag, ist eigentlich nie in seinen Gesichtskreis getreten. Gesteht er doch noch 1852 ein^s, „daß er mit den Massen und vor allem mit dem vierten Stande nichts recht anzufangen weiß". Es entsprach dem klassisch-aristotelischen Ansatz seiner Verfassungstheorie, daß in ihrem Rahmen eine vom Staat und seinen Institutionen losgelöste Erörterung „gesellschaftlicher" Phänomene noch nicht denkbar war. Wie im antiken Staatsdenken bilden für ihn Volk und Staat, Staat und Gesellschaft eine untrennbare Einheit, und wenn er von „bürgerlicher Gesellschaft" spricht, so tut er es im Sinne des althergebrachten Begriffs von „societas civilis", der Staat und Gesellschaft identisch setzt. Wer wie Ernst-Wolfgang Böckenförde in der „Trennung und dem Dualismus von Staat und Gesellschaft. . . das entscheidende Verfassungsproblem des Jahrhunderts" sieht, wird auch bei Dahlmann feststellen, was Böckenförde für den organischen Liberalismus in seiner Gesamtheit konstatiert: die völlige „Abwesenheit Hegels"^^. Es gehört zur Tragik seines Gelehrtenschicksals, daß Dahlmanns berühmtes Hauptwerk noch zu seinen Lebzeiten langsam in Vergessenheit geriet. Hatte es noch 1847 eine 2. Auflage erlebt, so verlor es doch nach der Jahrhundertmitte zusehends an Aktualitätsgehalt. Die „gegebenen Zustände", auf die es zugeschnitten war, hatten sich grundlegend gewandelt, die Verfassungsfragen, die es behandelte, waren großenteils abgetan. Uns erscheint Dahlmanns Werk heute in noch ungleich größerer zeitlicher Distanz. Nicht nur seine Sprache ist uns fremd geworden. 2'* Friedrich Christoph Dahlmann. In: Historische und politische Aufsätze. Bd 1. 5. Aufl. Leipzig 1886. 400. 25 In einem Brief an Gervinus v. 8. Dezember 1852. Zitiert nach M. Riedel: Einleitung (wie Anm. 8), 30. 25 Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung (wie Anm. 2), 97. Das will natürlich nicht besagen, daß Dahlmann überhaupt keine Kenntnis von Hegel genommen hat. In der Politik findet sich in der Fußnote zu § 103 ein Hinweis auf Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts. In der 2. Auflage der Politik von 1847 wird in § 237 Hegel zu den „vaterländischen Philosophen ersten Ranges" gezählt, deren „geringes praktisches Gewicht" für die Erörterung der großen politischen Gegenwartsfragen Dahlmann beklagt. Er verkennt nicht die „tiefen Blicke, welche Hegels Naturrecht auf verschiedene Staatsgebiete wirft", aber er vermißt sich nicht, „den roten Faden zu finden, der durch seine politischen Phasen geht". Vgl. auch M. Riedel: Der Staatsbegriff (wie Anm. 6), 63.
Die Reformbill in Hegels Schrift und in Dahlmanns „Politik"
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sondern auch der Umgang, den Dahlmann mit der Geschichte pflegt. Wer möchte verkennen, daß in ihm der „Impuls der Gegenwart" mächtiger war als genuiner historischer Sinn? Um seiner Leistung gerecht zu werden, ist zu bedenken, daß er noch im „Unschuldsalter der historischen Forschung"27 lebte und daß sein Geschichtsverständnis nach unseren Maßstäben ein „vorwissenschaftliches" war. Dennoch besitzt das Werk auch heute noch einen unverlierbaren historischen Erkenntniswert — nicht eigentlich für die Zustände, die es beschreibt, schon gar nicht für die englischen, die, wie wir meinen, Hegel schärfer und richtiger gesehen hat, sondern für die politische Begriffswelt des deutschen Vormärz, die es in einzigartiger Geschlossenheit und Eindringlichkeit repräsentiert.
27 H. Heimpeh Fr. Chr. Dahlmann (wie Anm. 5), 69.
ELISABETH WEISSER-LOHMANN (BOCHUM)
ENGLISCHE REFORMBILL UND PREUSSISCHE STÄDTEORDNUNG Repräsentative Staatsverfassung und vertikale Gewaltenteilung: V. Raumer, Steckfuß, Gans und Hegel I. Die Jxili-Revolution in Frankreich, Aufstände in Belgien und revolutionäre Umtriebe in Italien beunruhigen Anfang der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts die Staaten Europas. Die Furcht vor einem Ausbreiten der Unruhen begleitet nicht nur die Diskussion um die Reformbill in England, in Preußen steht die Auseinandersetzung um die Reform der Städteordnung unter ähnlichen Vorzeichen. Die aus dem Jahre 1808 stammende Steinsche Städteordnung wird von den einen als „Mikrokosmos", als die „lebendigste, praktische Vorschule einer repräsentativen Staatsverfassung" (J. v. Eichendorff) gefeiert, ja bejubelt als eine Errungenschaft bürgerlicher Freiheit, wie sie sich nur in Preußen etablieren konnte. Von den Gegnern wird sie perhorresziert als ein Vorbote jener verwerflichen demokratischen Einflüsse, die letztlich nur die Beseitigung der Monarchie zum Ziele haben. Die Auseinandersetzungen um diese Ordnung führen schließlich 1831 zu einer Revision der ursprünglichen Fassung. Hegels Interesse an der Kontroverse um die Städteordnung ist nachweisbar; er hatte sich alle entscheidenden Beiträge zu dieser Diskussion besorgt. Seine Absicht, in dieser Kontroverse Stellung zu nehmen, darf unterstellt werden. Von Lappenbergs Jahrbuch-Rezension zu Carl D. Hüllmanns Städtewesen des Mittelalters hat Hegel in diesem Zusammenhang ebenfalls studiert und sich umfangreiche Exzerpte angefertigt^ — Da Hegel selbst im Besitz der Jahrbücher war, konnten diese Exzerpte nur Vorarbeiten zu einer eigenen Stellungnahme sein; Hegels plötzlicher Tod verhinderte diese. Aus dem Umkreis Hegels hatte sich bereits sein Schüler Gans in einer umfangreichen Rezension zu dieser Auseinandersetzung geäußert. Welches spezi1 Vgl. G. W. F. Hegel: Berliner Schriften 1818—1831. Hrsg. v. J. Hoffmeister. Hamburg 1956. 715.
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fische Interesse konnte Hegel an der Kontroverse um die Städteordnung haben? Die revidierte Fassung der Preußischen Städteordnung vom 17. 3. 1831 sowie die vorausgegangene Diskussion machen deutlich, daß der preußische Reformkurs in eine Richtung steuerte, die — dies wird im folgenden zu zeigen sein — nur schwer mit Hegels Konzeption, wie sie die Grundlinien der Philosophie des Rechts entfaltet, in Einklang zu bringen ist. In dieser Situation war für Hegel eine Stellungnahme fast unvermeidlich geworden. Bereits die Reformbill-Schnit hatte vor den Konsequenzen falscher Reformen gewarnt: das Ausbreiten der Juli-Revolution war zu diesem Zeitpunkt noch keineswegs gebannt.^ Seit 1825 hatte Hegel nicht mehr selbst über seine Rechtsphilosophie gelesen, für das Wintersemester 1830/31 hatte er erstmals diesen Zyklus wieder angekündigt. Die Vorlesung mußte dann allerdings wegen „Unpäßlichkeit" ausgesetzt werden. Noch bevor diese Vorlesung ein Jahr später im Wintersemester 1831/32 richtig einsetzte, starb Hegel. Mit der Frage, welche Position Hegel angesichts der sich wandelnden Verhältnisse in Preußen eingenommen hätte, ist der Interpret auf die ReformFz7Z-Schrift und die weltgeschichtliche Vorlesung des Wintersemesters 1830/31 als die letzten Äußerungen Hegels zu diesen Fragen verwiesen. Für die Publizistik der Zeit waren Schriften über England immer auch eine kritische Auseinandersetzung mit den Verhältnissen in Deutschland. Bei Hegel findet der Vergleich mit Preußen nicht nur unterschwellig statt. Seine Darstellung der von vielen Zeitgenossen bejubelten englischen Verhältnisse erhebt im Gegenzug Preußen zum VorbUd. Vor diesem Hintergrund ist es aufschlußreich, die genannten Schriften Hegels als eine Antwort auf die im Zusammenhang mit der preußischen Städtereform-Debatte aufgeworfenen Fragen zu lesen. Eine Problematik, die von der Hegel-Forschung bisher vernachlässigt wurde. Der folgende Bei2 In einem Brief aus Paris berichtet Eduard Gans am 5. 8. 1830 über die Ereignisse der Juli-Revolution. Die Notizen Hegels auf der Rückseite dieses Briefes (vgl. H. Schneider: Dokumente zu Hegels politischem Denken 1830/31. In: Hegel-Studien 11 (1976), 85—87) entwickeln das Konzept zu einer Philosophie der Weltgeschichte. Diese Notizen sind Vorstudien zu der Niederschrift Die Vernunft in der Geschichte. Mag die Verwendung der Rückseite des Gansschen Briefes zufäUig sein (Papiemot), für W. R. Beyer sind Hegels Weltgeschichtskonzeption und seine Philosophie der Geschichte untrennbar mit den Juh-Ereignissen verbunden. Beyers These, zentrale Positionen der ReformbUl-Schrift seien unmittelbar in der Auseinandersetzung mit den Juli-Ereignissen formuhert, bleibt fraghch. Hegels Ablehnung von Partikularismus und Einzelaktionen findet sich auch schon in der Heidelberger Landständeschrift. Hegels Forderung nach Organisation und Zusammenschluß der Kräfte ist m. E. nur auf das Staatsganze bezogen — nicht aber auf eine revolutionäre Opposition. Vgl. W. R. Beyer: Der Stellenwert der französischen Juli-Revolution von 1830 im Denken Hegels. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 19 (1971), 628—693.
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trag wird zunächst die Situation in Preußen und die Revision der Ordnung im Jahre 1831 betrachten (II). Vor dem Hintergrund der zentralen Standpunkte innerhalb dieser Kontroverse, insbesondere der Stellungnahme seines Schülers Eduard Gans (III) soll Hegels Position auf der Grundlage der genannten Schriften rekonstruiert werden (IV). II. Der Wunsch, sich selbst von aUen finanziellen Verpflichtungen den Städten gegenüber zu befreien sowie die regional gültigen Sonderregelungen in einem allgemeinen Gesetz für alle preußischen Städte zu vereinheitlichen, hatte den Gesetzgeber 1808 dazu veranlaßt, die Konzessionen Napoleons für die preußischen Städte noch zu überbieten. Die Vorschläge der liberalen Königsberger Stadtverwaltung wurden in dieser Situation aufgegriffen und konnten durch das Wirken des Freiherrn von Stein für ganz Preußen Gültigkeit erlangen. Eine zentrale Neuerung gegenüber der Regelung, die das Landrecht für diesen Bereich vorsah, war die Anerkennung des Stadtbürgers und der städtischen Gemeinde als eines dritten Standes neben den Staatsdienern und dem Adel. Die Städteordnung beseitigte aUe Vorrechte, Privilegien und Konzessionen, denen das Landrecht noch vorrangige Gültigkeit vor den allgemeinen Regelungen zugestanden hatte. Diese Vereinheitlichung betraf keineswegs nur die Stellung der Stadtbürger und Gemeinden, auch das Bürgerrecht selbst war in diese Regelung mit einbezogen: „In jeder Stadt gibt es künftig nur ein Bürgerrecht. Damit war die bisherige Unterscheidung zwischen Groß- und Kleinbürgertum aufgehoben. Die zwischenstädtische Gleichstellung der Stadtbürger wurde dann 1811 im Rahmen des GewerbepoUzeigesetzes realisiert. Das Bürgerrecht des Einzelnen war fortan nicht mehr an die jeweilige Stadt, sondern an die Verleihung durch die Ständeschaft,Stadt' gebunden.^ Mit diesen Maßnahmen wurde eine Entwicklung eingeleitet, die schließlich vom lokal-korporativen Stadtbürgerrecht zu einem gesamtstaatlichen Stadtbürgertum führte.
3 Wilhelm Altmann: Ausgewählte Urkunden zur Brandenburgisch-Preußischen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte. II, 1. 2. Aufl. Berlin 1915. § 16.
1832 wurde diese Regelung dann in die allgemeine Deklaration der Städteordnung aufgenommen, vgl. Reinhard Koselleck: Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848. 2. Aufl. Stuttgart 1972. 562, 563, (zitiert als R. Koselleck: Preußen).
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Die Modernität der Städteordnung zeigt sich auch in den verfassungstechnischen Prinzipien. Bis zum Jahre 1808 standen die Magistrate der preußischen Städte zum einen in großer Abhängigkeit von den übergeordneten Behörden; zum anderen war die Bürgerschaft dem Magistrat gegenüber fast ohne Einfluß auf die Leitung der eigenen Angelegenheiten. Statt der Bürgerschaft hatten Zünfte und Korporationen ein bedeutendes Wort in der Verwaltung der städtischen Angelegenheiten mitzureden. Mit der Steinschen Neuordnung wurde die Bürgerschaft nun selbst mit den Angelegenheiten der Stadt betraut: sie wählte fortan die Stadtverordneten, denen wiederum die Wahl eines Magistrats oblag. Die Ordnung beseitigte jede korporative Bindung der Wählerschaft; die Wahlen erfolgten bezirksweise, aktive und passive Wähler waren identisch geworden. Als Repräsentanten der ganzen Gemeinde waren die Abgeordneten künftig nur ihrem Gewissen unterworfen — das Gewissen war ihre „Behörde". Zum anderen verwirklichte die Städteordnung die Gewaltenteilung: das Stadtparlament der Stadtverordneten besaß gegenüber dem Magistrat ein entscheidendes Übergewicht: „seine Beschlüsse, vor allem in Finanzfragen, waren für den nur exekutiven Magistrat bindend"^. Nach oben hin blieb der Magistrat allerdings auch weiterhin weisungsgebunden. Mit diesen Neuregelungen verwies die Städteordnung die alten Ansprüche zugunsten der Selbstverwaltung der Bürger in enge Schranken: „Der frühere Einfluß von Corporationen auf die Verfassung der Stadt hört gänzlich auf" — wie Savigny formulierte.^ Den Beamten übergeordneter Behörden verblieb lediglich, Erziehungsarbeit zu leisten sowie Belehrungen und Erläuterungen zu erteilen. Im übrigen hatten sie auf die Gesetzmäßigkeit der Kommunalordnung zu achten — jede weitere Einwirkung verbot sich für sie. Die neue Freiheit hatte allerdings auch ihren Preis, hatten die Städte doch in Zukunft keinerlei Anrecht mehr auf Finanzhilfen druch den Staat. Nach Maßgabe der obersten Behörden war die Städteordnung, so faßt R. Koselleck zusammen, „eine Schule nicht nur der Selbsttätigkeit sondern ebenso liberalen Verfassungshandelns".^ Mit dieser Zielsetzung konnte die Regelung — angesichts der massiven
5 R. Koselleck: Preußen, 565. ® Friedrich Karl von Savigny: Die preußische Städteordnung. In: Historisch-politische Zeitschrift. Hrsg. V. L. Ranke. 1,3. Hamburg 1832. 389—414. Hier zitiert nach dem Wiederabdruck in: F. K. v. Savigny: Vermischte Schriften in 5 Bänden. Bd 5. Aalen 1968. 189, (zitiert als Städteordnung). 7 R. Koselleck: Preußen, 567.
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Beschneidung alter Vorrechte — keineswegs auf die volle Unterstützung aller Kräfte rechnen. Am schnellsten konnte sich die Neuordnung in den Großstädten realisieren. Während es in den Kleinstädten zu erheblichen Problemen führte, die Selbstverwaltung in den gesetzlich vorgegebenen Bahnen durchzuführen, stärkte die neue Selbstverwaltung das Selbstbewußtsein der Großstädter. Ein spezifisch städtisches Standesbewußtsein grenzte sich immer häufiger gegen die „Übergriffe" der staatlichen Behörden ab; eine verminderte Folgsamkeit gegen obrigkeitliche Anordnungen machte sich allgemein breit. Ein Hauptpunkt der Kritiker der Städteordnung galt denn auch diesem Mißverhältnis: Die Städteordnung fördere den „Civismus" statt den „Patriotismus"; der Horizont des Spießbürgertums ende an den Stadtmauern, ohne je Staatsbürgertum zu werden — so Gans, Wehnert und Savigny. Das Staatsbürgerrecht im eigentlichen Sinne war auf Beamte, Akademiker, auf Bildungsbürger beschränkt. Der Kaufherr oder Handwerker blieb, auch nachdem der Stand der Städte eine innerstaatliche Vereinheitlichung erfahren hatte, von der Anerkennung als Staatsbürger ausgeschlossen. Andererseits war den Staatsbürgern, den Beamten, Eximierten und Rentnern, die Stadtbürgerschaft oftmals verwehrt. Als Schutzverwandte waren sie nicht nur von allen städtischen Verwaltungspflichten ausgeschlossen, darüberhinaus wurde ihnen auch noch ein Teil der Kommunalsteuem erlassen. „So sehr diese Bestimmung die armen Unterschichten gegen willkürliche Belastungen seitens der beschlußfähigen Vollbürger schützen sollte, so sehr bot dieselbe Bestimmung eine Prämie den Eximierten, sich jeder Beteiligung an der Stadtgemeinde zu enthalten."® An der Selbstverwaltung der Städte waren daher akademisch oder technisch gebildete Bürger kaum beteiligt; ein Zustand der Ende der zwanziger Jahre zunehmend Kritiker fand.^ Betrachtet man die Ende der zwanziger Jahre einsetzende Diskussion um die Städteordnung, so fällt der späte Zeitpunkt der Auseinandersetzung auf: die Regelung war zu diesem Zeitpunkt bereits zwanzig Jahre in Kraft. Inhaltlich konzentrierte sich die Auseinandersetzung — trotz der unterschiedlichen Zielsetzung der teilnehmenden Fraktionen — im wesentlichen auf drei Problempunkte: soll der Stand der „Stadtbürger" beschränkt werden, welcher Wahlmodus soll für die Abgeordneten des 8 Ebd. 574. * Dies zeigt die Vielzahl der öffentlichen Stellungnahmen im Zuge der Revisionsdiskussion. Allerdings blieb die Kritik ungehört: das revidierte Gesetz von 1831 dehnte den Umkreis der Eximierten sogar noch auf die „Medizinalpersonen" aus, vgl. § 130 der Revidierten Städte-Ordnung für die Preußische Monarchie. Berlin 1831.
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Stadtparlaments gültig sein und in welcher Weise sollen die Kompetenzen zwischen Magistrat und Stadtabgeordneten aufgeteilt werden? Im folgenden sollen zunächst jene Stellungnahmen und Kritiken, die Hegel direkt bekannt waren, vorgestellt werden. Es war der Historiker Friedrich von Raumer (1781 —1873), der mit seinen Überlegungen im Jahre 1828 die öffentliche Diskussion um die Städteordnung entscheidend in Gang brachte. In der Folge bildeten v. Räumers Einwände für viele Publizisten den Anlaß, ihre Position ebenfalls öffentlich darzutun. Mit Raumer ist eine weitere Verbindung zu Hegel hergestellt. Bereits während Hegels Nürnberger Zeit bestanden Kontakte zwischen Hegel und dem damaligen preußischen Staatsbeamten, Als Vertrauter Hardenbergs war Raumer an den Reformen unmittelbar beteiligt. Hardenberg hatte um den Reformkurs zu beschleunigen, eine Kommission eingesetzt für die Raumer die Instruktionen entwarf. 1811 bat Raumer Hardenberg um die Entlassung aus dem Staatsdienst, er trat eine Professur für Staatswissenschaften in Breslau an. 1819 wurde Raumer dann zum Professor der Staatswissenschaften und Geschichte in Berlin. Hegel und er waren damit fast gleichzeitig Kollegen an der Berliner Universität geworden. — Hegels Briefwechsel bezeugt einen engen Kontakt zu v. Raumer, ein Gedankenaustausch über die Problematik der Städteordnung hat zwischen beiden mit Sicherheit stattgefunden. Wie für Hegel so ist auch für Raumer die Problematik keineswegs auf Preußen beschränkt. Bereits 1810 hatte Raumer in Fragen der Steuerpolitik Das britische Besteuerungssystem in die Diskussion gebracht. Später schildern seine Briefe aus England die Situation der Städte in Großbritannien. Zu der längst überfälligen Neuordnung des englischen Rechts kommt es im September 1835. Die Vielseitigkeit und Mannigfaltigkeit dieser neuen Ordnung gibt, so Räumers Einschätzung, dem Gesetz eine noch größere Wichtigkeit als der Reformbill. Im Gegensatz zu dieser führe die Städteordnung durch ihren „natürlichen und gemäßigten Inhalt" kaum irgendeine Gefahr für die Einzelnen oder das Ganze mit sich. 12 Die Kriterien seines Urteils hatte sich Raumer bereits in der Auseinandersetzung um 10 Vgl. Briefe von und an Hegel. Bd 2; 1813—1822. Hrsg, von J. Hoffmeister. Hamburg 1953. 397 ff. 11 Die wichtigsten Forderungen dieser Kommission sind die Einführung einer Konsumtions- statt einer Einkommenssteuer, Gewerbefreiheit für Stadt und Land, Umgestaltung nicht aber Aufhebung des Zunftwesens, alle Bauern mit Ausnahme der Zeitpachtbauern erhalten ihr Gut als Eigentümer ohne Entschädigung der Gutsherrn, für Gutsbesitzer und neue Eigentümer tritt freie Disposition über ihr Grundvermögen ein. Vgl. W. Friedrich: Friedrich von Raumer als Historiker und Politiker. Diss. Leipzig 1929. 15. 12 F. V. Raumer: England. 2. Aufl. 2 Bde. Leipzig 1842. Bd 2. 508.
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die preußische Städteordnung erarbeitet. Bei allen Differenzen könnten die in Preußen beschrittenen Wege ein Modell für Großbritannien werden, Wenn Raumer 1828 in seiner Stellungnahme zur preußischen Städteordnungi4 die enge Anbindung des Bürgerstandes an Grundbesitz oder Gewerbe rügt, so kann er 1835 in seinen Briefen aus England diese Kritik wiederholen: Der Aufstieg vom Einwohner (inhabitant) zum Bürger (freemann) ist hier an die Aufnahme in eine Zunft gekoppelt, ln Preußen qualifiziert ein hohes Kapitalvermögen oder ein regelmäßiges Einkommen den Stadtbewohner noch keineswegs für den Bürgerstand. Angehörige dieser Gruppe bleiben vielmehr Schutzbefohlene der Stadt — was unter Umständen einem Privileg gleichkam, da den Schutzbefohlenen keinerlei Pflichten oblagen. Der Ausschluß der Geistlichen und Lehrer von allem Einfluß auf die Angelegenheiten der Gemeinden ist für Raumer das Produkt einer „bloß materialistischen Ansicht des öffentlichen Lebens"i5. Die Unterscheidung der Städteordnung von 1808 zwischen Staatsbürgerschaft und Stadtbürgertum entspräche keineswegs den Entwicklungen der Zeit: beide stünden vielmehr nicht grundsätzlich in Widerspruch, sondern seien sehr wohl miteinander vereinbar. Bezüglich der Zulassungsbeschränkungen zu den Wahlen des Stadtparlaments trifft vor allen Dingen die bloße Bindung des Wahlrechts an ein Mindesteinkommen von 150 bzw. 200 Talern auf Räumers Ablehnung. Hier werden von ihm zusätzliche, politische Kriterien gefordert, vor allem was die Gruppe der wählbaren Bürger betrifft, die ja laut Städteordnung grundsätzlich mit den Wahlberechtigten identisch sind. Gegen die rein arithmetische oder geometrische Aufgliederung der Bürgerschaft nach Bezirken will Raumer künftig „mehr organische" Elemente zur Belebung und Ausfüllung aller öffentlichen Kreise erschaffen sehen. In seiner Kri„Bei uns [wurden] durch des Königs segensreiche Reformen, viele der Übelstände abgeschafft . . ., über welche man in England klagt, und manches Gute bereits eingeführt. .., was man hier fordert. Gewiß wird der Kampf zwischen dem Veralteten und Neuen sehr lebhaft seyn, und die eine Partei, wie immer, zu viel erhalten, die andere zu viel ändern wollen; eine Reform der Corporationen ist aber so wesentlich mit allen andern Reformen verbunden, und liegt so in dem Interesse der entscheidenden Mehrzahl, daß sie sich gar nicht mehr hintertreiben läßt. Insbesondere wird das Monopol weniger Bevorrechteten einem allgemeinen Bürgerrechte, die Selbstwahl der Magistrate irgend einer freiem Bürgerwahl weichen müssen, und eine Controle vor allem der Finanzverwaltung eintreten. Unsere Städteordnung bezeichnet hier einen richtigeren Mittelweg, als die hiesigen Ultras ahnen." (Ebd. 405 f) F. V. Raumer: lieber die preußische Städteordnung nebst einem Vorworte über bürgerliche Freiheit nach französischen und deutschen Begriffen. Leipzig 1828. 15 Ebd. 29.
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tik erklärt er sich gegen „die atomistische Ansicht, wonach der Staat aus lauter Einzelnen besteht und bestehen soll, und jede Gesellung, jede Genossenschaft als verdammlich bezeichnet wird".i^ Die Ansicht, mit der Ausrottung alles Gemeinschaftlichen, GeseUigen sei auch alles Revolutionäre beseitigt, steht, so Raumer, der Anarchie und Revolution weit näher als die Bindung des Einzelnen an Gemeinschaften. Das genossenschaftliche Aneinanderschließen Gewerbetreibender, die Erziehung des Einzelnen in der Korporation sei vielmehr gerade in Zeiten des Umbruchs und der Instabilität nötiger als je zuvor. In der Bindung an die Gemeinschaft durchlaufe der natürhche Eigennutz eines jeden Gewerbetreibenden einen Läuterungsprozeß, der das Gemeinschaftliche bilde und lehre. Gereinigt gehe der Egoismus schließlich als Standesehre aus diesem Prozeß hervor. Mit der annähernd gleichen Verteilung von Rechten und Geschäften zwischen Magistrat und Stadtverordneten hat die Städteordnung für Raumer einen Mittelweg eingeschlagen zwischen den beiden Extrempositionen der Volkssouveränität, in der die von den Bürgern gewählten Stadtverordneten über alle Rechte verfügen, und der Willkürherrschaft der Magistrate. Dieser Mittelweg birgt aber auch den Konfliktfall: was soll geschehen, wenn Magistrat und Stadtverordnete sich nicht einigen können? Den Vorschlag, Magistrat und Stadtverordnetenversamnrlung in diesem Falle zu einer Körperschaft zu vereinigen und nach Kopfzahl über die streitige Sache zu entscheiden, weist Raumer zurück. Die eigentümlichen Vorzüge der organischen Gestaltung, wie sie sich in beiden Körperschaften ausdrückt, verschwindet, so Raumer, „in der unorganischen Mischerei''^^. In diesen Fällen sei es das Beste, es werde überhaupt nicht entschieden, denn die Zeit sei „die beste Lehrmeisterin". Man muß „die Ansichten erziehen", und es ist besser, so V. Raumer, „ein Gesetz komme etwas später als unverständlich und übereilt in die Welt".^® Räumers Stellungnahme zur preußischen Städteordnung zielt im wesentlichen auf eine Verbesserung jener Bereiche, die den Bürgerstand allzusehr nach ökonomischen Kriterien festlegen und einer flexiblen Ausrichtung auf ein politisch verstandenes Staatsbürgertum im Wege stehen. Die Mängel der preußischen Verordnung sind allerdings, vergleicht man sie mit der Situation der französischen Städte, eher zu vernachlässigen. Das hohe Niveau der preußischen Verordnung wird in der 16 Ebd. 38. 17 Ebd. 70. 18 Ebd. 73.
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Folgezeit immer wieder gegen die französischen Munizipalverfassung ausgespielt, sie wird zu einem Topos der Reformdiskussion in Preußen. Mit Karl Streckfuß meldet sich ein Praktiker zu Wort, der, wie er selbst betont, seit zwölf Jahren mit den Kommunalangelegenheiten des preußischen Staates vertraut ist. Als Mitautor ist er auch an der Erarbeitung der revidierten Fassung der Städteordnung, wie sie 1831 beschlossen wurde, beteiligt.!^ Räumers Vergleich der französischen und preußischen Verhältnisse findet seine Zustimmung. In der Tat sei die französische Kommunaleinrichtung weit davon entfernt, bürgerliche Freiheit zu verwirklichen, ruhe doch hier die ganze Verwaltung in den Händen eines von der Staatsbehörde ernannten Maire. Die Mitglieder der konsultativen Behörde, des Munizipalrates, würden weder von der Gemeinde gewählt noch könne dieser über seine Zusammenkünfte frei entscheiden; diese fänden ausschließlich auf Anordnung des Maire statt. Der einhelligen Zustimmung zu Räumers Kritik an den französischen Verhältnissen folgt die entschiedene Zurückweisung zentraler Kritikpunkte an den preußischen Verhältnissen, etwa der engen Anbindung des Bürgerrechts an Grundbesitz und Gewerbe. „Nach der jetzigen Lage der Gesetzgebung besteht also . . . das Bürgerrecht nicht in der Befugniß zum Grundbesitz und Gewerbebetrieb; vielmehr legen die letztem die Verpflichtung auf, das Bürgerrecht nachzusuchen und dasselbe bei der erforderlichen moralischen Qualifikation zu gewinnen, ohne daß jedoch die Befugniß, es freiwillig nachzusuchen, durch Gmndbesitz und Gewerbebetrieb bedingt ist."20 Für Streckfuß sind somit „nur Fremde", welche in der Stadt, ohne einen Wohnsitz im rechtlichen Sinne darin zu haben, sich vorübergehend aufhalten, vom Bürgerstand tatsächlich ausgeschlossen; sehr wohl könnten Staatsdiener, Geistliche, Schullehrer, Gelehrte, Justiz-Kommissarien, Pensionaire und Kapitalisten, wenn sie nicht wegen ihres Gmndbesitzes das Bürgerrecht nachsuchen müßten, es jederzeit gewinnen und damit aus der Reihe der Schutzverwandten in die der Bürger treten. Somit kann auch dieser Personenkreis, wenn das Interesse für die Gemeine und deren Angelegenheiten ihn dazu antreibt. Unter dem Pseudonym Leberecht Fromm veröffentlichte Streckfuß zahlreiche Übersetzungen. Seine Übersetzung von Ariosts ,Rasendem Roland', von Tassos ,Befreitem Jerusalem' vor allem aber seine Übertragung der Divina Coirunedia erlangten weite Verbreitung. Vgl. K. Streckfuss (Enkel): Adolph Friedrich K. Streckfuß. 1941. 20 Über die preußische Städteordnung. Beleuchtung der Schrift des Herrn Professor von Raumer unter gleichem Titel. Von Karl Streckfuß. KönigUch preußischer geheimer Ober-Regierungs-Rath. Berhn 1828. 35, 36.
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„an den städtischen Ehrenrechten in allen Beziehungen Theil nehmen. Der Zuwachs zur Bürgerschaft aus den niederen Klassen sei allerdings nicht immer zum Besten dieser Institution. „Wer täglich um seine Selbsterhaltung sich abmühen muß, mit aller Anstrengung kaum dem Bedürfnisse des Augenblicks abhelfen kann und durch die Sorge für den künftigen Tag gequält wird"22, könne wohl kaum für das Wohl der Gemeine sorgen. Streckfuß fordert in einer künftigen Neuordnung des Gesetzes die Verpflichtung zur Gewinnung des Bürgerrechts nur demjenigen aufzulegen, der ein „gewisses höheres Einkommen" vom Gewerbe beziehe, oder ein größeres Grundeigentum von einem zu bestimmenden schuldenfreien Wert erbe. Nicht gänzlich zurückweisen möchte Streckfuß v. Räumers Vorschläge zur Wiederherstellung von Gewerbe-Korporationen und deren Einfluß auf die städtischen Angelegenheiten; bevor deren Existenz allerdings weder gesetzlich noch real bestünde, sei nur schwer über deren politische Rechte in der Stadtverordnetenversammlung zu entscheiden; nicht vergessen werden dürften in diesem Zusammenhang aber auch die „ungeheuren Zunft-Mißbräuche" der Vergangenheit, damit „nicht, was ein Vorschritt sein soll, ein Rückschritt werde". Für Raumer war der korporative Zusammenschluß der Stadtbewohner in erster Linie ein Regulativ gegen die nivellierenden Tendenzen, die aus einer atomistischen Auffassung der Bürgerschaft hervorgehen. Wie wenig für Streckfuß tatsächlich die Notwendigkeit besteht, dieser Gemeinschaftsbildung den Weg zu bahnen, wird daran deutlich, wie entschieden er den Vorwurf v. Räumers, in der Städteordnung komme der Geist der VoLkssouveränität zur Verwirklichung, abwehrt. „Von Volkssouveränität ist bei der ganzen Sache die Rede nicht". Vielmehr sei die Städteordnung „eine Einrichtung zur Verwaltung der einer Monarchie angehörigen Städte, welche der Monarch in Folge Seiner Weisheit und Seines edlen Gemüths getroffen hat."^ Die Aushöhlung bestehender Gemeinschaften innerhalb der Bürgerschaft, wie sie die Städteordnung zur Folge hat, indem sie diesen Vereinigungen alle politische Bedeutung raubt, ist für Streckfuß als Problem überhaupt nicht vorhanden. Die Fundierung der Städteordnung auf dem atomistisch als Einzelnen betrachteten Stadtbewohner ist für V. Raumer gerade der Anlaß von „Volkssouveränität" zu sprechen und
21 Ebd. 37, 38. 22 Ebd. 48. 23 Ebd. 30.
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als Gegenmaßnahme die korporative Zusammenfassung in gemeinschaftsbüdenden Vereinigungen zu fordern. Auf Gegnerschaft stößt bei Streckfuß auch v. Räumers Vorschlag in Fällen, wo zwischen Magistrat und Stadtverordneten keine Einigung zu erzielen ist, auf eine Entscheidung überhaupt zu verzichten. V. Raumer hofft hier auf den Fortschritt der Zeit — diese werde von alleine neue Einsichten und Ffandlungsfähigkeit schaffen. Für Streckfuß hat sich die „unorganische Mischerei" der beiden Institutionen in der Praxis gut bewährt und sollte auch künftig nicht aufgegeben werden, denn, so Streckfuß, die „laufende Verwaltung ist. . . fortschreitend wie das Leben selbst". 24 In seiner Rechtfertigung und Berichtigung^^ nimmt v. Raumer zu diesen Einwänden Stellung. Raumer konzidiert zwar Ungenauigkeiten in einzelnen Formulierung, hält aber an seiner Kritik im wesentlichen fest. Eine neue Gewerbeordnung, so seine Hoffnung, werde die neuen Genossenschaften künftig auch in ein tätiges Verhältnis zu den städtischen Angelegenheiten treten lassen; der großen Gewalt, welche das Gesetz den Stadtverordneten beilege, müsse durch die feste Stellung des Magistrats ein Gegengewicht gegeben werden. Die sichere Stellung des Magistrats würde zusammen mit der Gliederung der Menge in Korporationen das entscheidende Instrumentarium gegen die Souveränität des Volkes in ihrer „ungeschlachten jakobinischen Gestalt" schaffen. III. In der von ihm selbst gegründeten Zeitschrift Beiträge zur Revision der Preußischen Gesetzgebung veröffentlichte Eduard Gans seine Rezension zur Debatte um die Preußische Städteordnung. Aus der Publikation wird nicht deutlich, zu welchem Zeitpunkt Gans diese Rezension verfaßt hat. Ein Datierungsversuch wird die Arbeit wohl dem Jahr 1829/30 zuordnen müssen: die jüngsten von Gans berücksichtigten Beiträge sind 1829 entstanden — der Beitrag seines Gegenspielers Savigny, 1832 erschienen, bleibt unerwähnt. Da Gans auch nicht auf die revidierte Städteordnung vom März 1831 eingeht, dürfte seine Schrift vor der Novellierung entstanden sein. Hegel war wohl auch mit dieser Schrift seines Schülers 24 Ebd. 96. 25 Zur Rechtfertigung und Berichtigung meiner Schriß über die preußische Städteordnung. Von Friedrich von Raumer. Leipzig 1828.
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vertraut — ein Exemplar der Gansschen Rezension befand sich neben den bereits vorgestellten Arbeiten ebenfalls in Hegels Bibliothek. Einführend erinnert Gans nocheinmal an Anlaß und Hintergrund der späten Auseinandersetzung um eine Verordnung, die bereits seit über zwei Jahrzehnten in Kraft ist. In den 1808 mit der preußischen Monarchie vereinigten und neu hinzugekommenen Provinzen hatte die Städteordnung bisher keine Gültigkeit — um der Vielfalt der in diesem Bereich gültigen Regelungen eine einheitliche Verordnung entgegenzustellen, sollte das Gesetz in verbesserter Form auch in diesen Regionen Gültigkeit erlangen. Vor dem Hintergrund dieser Ausweitung des bisherigen Gültigkeitsbereichs der Städteordnung, ihrer Anpassung an vielfältige, gänzlich anders strukturierte Verhältnisse muß diese späte Auseinandersetzung gesehen werden.^6 Neben den bereits vorgestellten Arbeiten stellt Gans seinen Lesern die anonym erschienene Schrift des Regierungsrath Wehnert^^, sowie fünf weitere Abhandlungen vor, von denen allein drei Schriften der Feder des Geheimen Regierungsrathes Horn entstammend^. Zusätzlich zieht er eine Metakritik des Landshuter Bürgermeisters Perschked^ sowie die Stellungnahme des Preußischen Regierungsrathes zu Düsseldorf, Heinrich 26 Die betroffenen Provinzen waren aufgefordert worden, Gutachten über die Anwendbarkeit der Grundsätze der Städteordnung von 1808 unter Berücksichtigung der vom Staatsminister gemachten Abänderungsvorschläge zu erstatten. Vgl. in diesem Zusammenhang die Bemerkungen Hüffers zu seinem Entwurf einer Städteordnung für die Provinz Westfalen. In: Johann Hermann Hüffer: Lebenserinnerungen, Briefe und Aktenstücke. Unter Mitwirkung von Ernst Hövel hrsg. von W. Steffens. Münster 1952. 394—399. Hüffer fordert etwa, daß „auch der Stand der Gutsbesitzer und der der Beamten für die Teilnahme an das Bürgertum und auch die Vertretung der Stadtgemeinde" gewonnen wird; die in der Städteordnung festgeschriebene „höhere Besteuerung der Hagestolzen", findet — so berichtet Hüffer der Behörde in Berlin — trotz einiger Gegner auch in Westfalen Unterstützung — (gemäß § 132 zahlen unverheiratete Bürger und Schutzverwandte männlichen Geschlechts, sobald sie 40 Jahre alt sind, zu allen direkten Kommunalsteuem die Hälfte mehr) — von dieser Bestimmung müßten allerdings, so die Forderung in Westfalen, die katholischen Geistlichen ausgenommen werden. (Zitiert als J. H. Hüffer: Lebenserinnerungen) 22 Heber die Reform der Preußischen Städteordnung; eine staatswissenschaftliche Abhandlung. Potsdam, bei Ferdinand Riegel 1828. 28 Bemerkungen zu der Schrift des Herrn Professor Friedrich von Raumer, über die Preußische Städteordnung, von Dr. Karl Friedrich Horn. Königsberg 1828; Sendschreiben an den Herrn Bürgermeister Perschke in Landeshut, veranlaßt durch dessen Metakritik der Kritiken über die Preußische Städteordnung, von demselben. Königsberg 1829; Die Preußische Städteordnung, verglichen rrüt dem Entwürfe zu einem neuen Kommunalgesetze für Frankreich, wie solches der französischen Deputirtenkammer am 9. Feb. 1829 von dem Minister des Innern vorgelegt worden ist, von demselben. Königsberg 1829. 25 Versuch einer Metakritik der Herren von Raumer, Streckfuß, Horn, Wehnert und Thiel, über die Preußische Städteordnung, als ein Commentar zu dem Gesetze, von Perschke, Bürgermeister zu Landeshut. Leipzig 1829.
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Christian Freiherr von Ulmenstein^o, in seine Beurteilung der Debatte ein. Die letztgenannten Arbeiten waren Hegel wohl nur durch die Rezension von Gans bekannt, keiner der genannten Titel ist nach seinem Tod in seiner Bibliothek aufgefunden worden. Wehnert wendet sich polemisch gegen die Städteordnung, die ihr Hauptziel, „planmäßige Vorbereitung" einer Staatsverfassung zu sein, nicht habe realisieren können. Aus der späteren preußischen Gesetzgebung spräche ein ganz anderer „frischer und kräftiger Geist", während die Städteordnung jetzt mit ihrem „rein demokratischen Elemente" isoliert von den übrigen Staatseimichtungen dastehe. Dieser andere Geist der Städteordnung trage auch Schuld daran, daß statt Patriotismus in den Städten nur Civismus und egoistische Interessen herrschen, „ln der Preußischen Städteordnung", so faßt Gans die Kritik Horns zusammen, „habe der Staat. . . ein Oberaufsichtsrecht, aber ein solches, das nicht eingreifend genug sey, um die Verwaltung der Gemeinde mit den hohem Interessen des Staates zu verbinden". Die Schrift des Landshuter Bürgermeisters Perschke ist der Diskussion um die Städteordnung wenig förderlich. Hat die Städteordnung in ihm doch einen allzu enthusiastischen Verteidiger gefunden, als daß von seinem Standpunkt aus fruchtbare Anregungen für eine Neugestaltung ausgehen könnten. Innerhalb der Diskussion spielen die Verteidiger die französischen Verhältnisse immer wieder gegen die Freiheitlichkeit der preußischen Städteordnung aus. Der preußische Regierungsrat in den Rheinlanden greift in seiner Schrift diese Argumente kritisch auf. V. Ulmenstein ist mit den französischen Verhältnisse bestens vertraut. Seine Überlegungen zur unterschiedlichen Stellung der Städte in Frankreich und Deutschland erweisen sich als unverzichtbar für das Verständnis der Gesamtdiskussion — dies umso mehr, als sein Gesichtspunkt bei den anderen Kritikern vollständig außer Acht bleibt. Für V. Ulmenstein sind die Preußische Städteordnung und die Französische Kommunalverfassung „Gegenfüßler" — beide gehen von vollständig verschiedenen leitenden Grundsätzen aus. Die Städteordnung sei der Mikrokosmos einer gewöhnlichen repräsentativen Staatsverfassung. ^ Die Preußische Städteordnung und die Französische Communaiordnung, mit Rücksicht auf die Schriften des Herrn Professor von Raumer, und des Herrn Geheimen Ober-Regierungsraths Streckfuß, von Heinrich Christian Freiherr von Ulmenstein, Königlichem Preußischem Regierungsrath zu Düsseldorf. Berlin 1829. 31 Eduard Gans: Ueber die Preußische Städteordnung. Eine Recension. In: Beiträge zur Revision der Preußischen Gesetzgebung. Hrsg, von Dr. E. Gans. Berlin 1830—32. 260—292. 277, (zitiert als E. Gans: Städteordnung).
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Die französische Kommunalverfassung sei dagegen nicht auf Repräsentation gegründet, sondern die Kommune muß „in der Repräsentation des Staates ihre Organe suchen".in Preußen stünden die oberen Behörden allein, die Mitwirkung einer Repräsentation bei der Verwaltung oder Gesetzgebung fehle vollständig. Ansichten und Wünsche des Volkes könnten sich nur auf städtischer Ebene artikulieren, vom Staatsganzen blieben sie ausgeschlossen. Aus der französischen Perspektive — und sie macht sich der Rheinländer Ulmenstein zu eigen — ist das hochgelobte preußische Stadtbürgerrecht eher ein Surrogat des nicht existierenden Staatsbürgerrechts. Mit letzterem wären all' jene von den Krihkem vorgebrachten Einwände bezüglich der Zulassungskriterien zum Bürgerstand mit einem Schlag beseitigt. Die Wiederherstellung der Zünfte oder korporativer Vereinigungen erscheint von diesem Standpunkt aus höchst überflüssig. Für v. Ulmenstein ist das Staatsbürgerrecht das „einzige in dem Staate anerkannte Bürgerrecht" — auf dieser Grundlage gibt es keine Unterschiede zwischen Bürgern, Schutzverwandten, Vorstädtern und Eximierten. Für Gans herrscht bei Ulmenstein „weit mehr Neigung zu dem System des Französischen Communalwesens als zu dem unserer Städteordnung"33. Anknüpfend an v. Ulmenstein greift Gans selbst den in den Rezensionen immer wieder vorgetragenen Vergleich zwischen der französischen Kommunalverfassung und der preußischen Städteordnung auf. Typisch für die Verhältnisse in Preußen sei nicht nur die Art und Weise, wie der Gegenstand in den vorgesteUten Arbeiten behandelt wird: verkenne doch „die Apotheose des Gesetzes" bei fast allen Autoren vollständig den eigentlichen Rang der Städteordnung. Denn es sei keineswegs die Städteordnung, die im preußischen Staat den Inbegriff bürgerlicher Freiheit ausmache. Die Fehleinschätzung des Ranges der Städteordnung rühre aus der Übertragung der Bedeutung, die die französischen Kommunen seit vielen Jahren einer Munizipalverfassung beimessen, auf die preußischen Verhältnisse. Wenn aber in Frankreich mit solcher Macht auf eine Kommunalverfassung gedrungen werde, so hänge dies „mit ganz anderen Beziehungen zusammen". Zum einen solle die Kommunalverwaltung dort nicht „bloß die Städte sondern alle Gemeinden umfassen" — damit ist die geplante Ordnung „also weiter und deswegen von größerer Wichtigkeit".^4 Zum anderen bestimmten in Frankreich zitiert nach E. Gans: Städteordnung, 278, 279. 33 Ebd. 282. 34 Ebd. 283.
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nach unten hin Zentralismus und Despotismus das Verhalten der Verwaltung. Einhalt könnte hier nur die mit der neuen Ordnung zu schaffenden Einrichtungen und Institutionen gebieten. Eine französische Kommunalverfassung begründe keine neue Freiheit, sondern würde sich in erster Linie als eine Schranke gegen Willkür und administrativen Despotismus zu erweisen haben. Die Grundsätze der Charte finden sich darüberhinaus keineswegs in der französischen Verwaltung realisiert; letztere bewege sich noch ganz in den Prinzipien des Kaiserreichs. Die Kommunalordnung könne hier nur das eine Ziel haben, die Verwaltung mit den Grundgesetzen mehr in Einklang zu bringen. Mit dieser Richtigstellung der französischen Verhältnisse ist auch die Bewertung der Städteordnung für Preußen neu zu gewichten. Diese könne zwar „im Kleinen die Natur des Staates" aufweisen, könne Mikrokosmos der Verfassung sein; jedoch lasse sich aus diesem Mikrokosmos nichts entwickeln. Für Gans gehört es zum „Charakter unserer Zeit, daß Alles von oben herab gesetzgeberisch festgestellt werden muß . . . historisch, das heißt von unten herauf, erzeugt sich bei uns nichts mehr: der Staat kann seine Bedingungen und Lebenselemente nicht mehr von den Städten oder Provinzen empfangen: er muß sie ihnen geben . . . Städterepubliken des Mittelalters lassen sich im neunzehnten Jahrhundert so wenig hervorrufen, wie der Feudalismus der Vergangenheit: beide sind durch den historischen Gang der Zeit an der reineren Idee des Staats und dessen Repräsentation durch den Monarchen, und an der culturgemäßen Ausbildung des Staatsbaues untergegangen. "3^ Nicht die Städteordnung ist für Gans der Ausdruck bürgerlicher Freiheit in Preußen. Die gesetzliche Organisation der Verwaltung, die preußischen Beamten als Organe des Gesetzes seien vielmehr im Vergleich mit Frankreich in die Waagschaale zu werfen. Die Beamten seien in Preußen keine Macht, die den Verwalteten gegenüber stehe. Die preußischen Beamten stellten vielmehr sowohl die Verwalteten selbst dar, als sie auch als Repräsentanten derselben zu betrachten seien. In diesem Aufbau des Beamtenstandes liege das eigentlich Verfassungsmäßige in Preußen, „während die Franzosen die Verfassung nicht in der Verwaltung sondern in der Gesetzgebung haben".36 Bei den Einzelfragen, die von den Verteidigern der Städteordnung aufgeworfen wurden, galt allgemein der Unterscheidung zwischen Schutzverwandten und Stadtbürgem die größte Aufmerksamkeit. Wie 35 Ebd. 284, 285. 3« Ebd. 286.
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die meisten Autoren wendet sich auch Gans gegen diese Trennung. Mit dieser Anordnung werden entscheidende Kreise von den Angelegenheiten der Stadt ferngehalten — die Städte darüberhinaus vom Staat isoliert. Die Städteordnung darf nicht zum Surrogat eines fehlenden Staatsbürgerrechts werden. Gans weist abschließend noch auf einen Mangel der bestehenden Städteordnung hin, der in seiner Tragweite von keinem anderen Autor erkannt wurde. Soll die Städteordnung ein wahrhaftes Moment der Freiheit sein, so muß die Öffentlichkeit zu den Versamnüungen der Stadtverordneten zugelassen werden — erst dann würden die jetzt Außenstehenden zu Mitträgern der öffentlichen Meinung.37 Der Überblick über die vorgetragenen Argumente und Einsichten macht deutlich, daß die Untergliederung in Schutzverwandte, Eximierte und Stadtbürger fast ausnahmslos von allen Kritikern abgelehnt wird. Den Schritt, statt des Stadtbürgerstandes für alle Bewohner der Stadt die Einführung eines Staatsbürgertums zu fordern, vollziehen allerdings nur Gans und v. Ulmenstein; beide sind mit den Grundprinzipien der französischen Verfassung bestens vertraut. Deutlich grenzt sich ihre Auffassung des modernen Staates von den anderen Autoren ab: Beide halten an der Notwendigkeit fest, den Staat und seine Verfassung in der Gegenwart von oben her, von der Spitze aufzubauen gegen die „historische" Gründung von unten. „Die preußische Regierung erscheint in dem Monopol, so sie dem materiellen Eigentum in der Städte- und ständischen Verfassung gegeben, mit sich selbst im Widerspruch — sie erschwert. . . dem Gebildeten den Weg zum öffentlichen Leben.Das Gesetz von 1831 (und hierauf bezieht sich Stein in dieser Anklage) hatte die vielfach geforderte Gleichstellung der Beamten mit den Stadtbürgem nicht vollzogen; insbesondere die westlichen Provinzen, für die v. Ulmenstein ja gesprochen hatte, wendeten sich vehement gegen die Ausgrenzung der Beamten aus der städtischen Gemeinschaft.^^ Das Stadtbürgertum blieb auch nach 1831, der Revision des Gesetzes, im Kern eine wirtschaftliche Interessengemeinschaft. Die politischen Rechte erfuhren im Zuge der Revision weitere Einschränkungen; die Stärkung der Stellung des Magistrats, die AufF. K. V. Savigny weist 1832 in seiner Besprechung der revidierten Fassung des Gesetzes ebenfalls auf diesen Mangel hin — ohne allerdings Gans und seine Rezension in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Vgl. F. v. Savigny: Städteordnung, 219. 38 Freiherr von Stein: Briefwechsel, Denkschriften und Aufzeichnungen. Hrsg, von Botzenhart, Bd vn, 7. 35 Noch 1843, so berichtet Koselleck, stimmten 59 gegen und nur 12 für die Exemtion der Beamten in der rheinischen Kommunalverfassung, vgl. R. Koselleck: Preußen, 575.
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Staffelung der Zensussätze für die Zulassung zum passiven Wahlrecht sowie die wiedereingeführte „polizeiliche" Oberaufsicht über die Städte schränkten das einst so liberale Gesetz zusätzlich ein. Die wirtschaftliche Freizügigkeit wurde zwar durch das Gesetz von 1831 vergrößert — das freie Besitz- und Gewerberecht wurde auf alle Einwohner ausgedehnt —, politischen Rechte, die einmal zur Selbständigkeit erziehen sollten, wurden jedoch zugunsten einer Bevormundung durch höhere Instanzen aufgegeben. Schon vor 1831 hatte allerdings die Macht der Stadtverordneten durch das Gewerberecht erhebliche Einbußen erfahren. 1823 etwa war angeordnet worden, daß die Versagung oder der Verlust des Stadtbürgerrechts den Genuß des Grundbesitzes und die Ausübung des Gewerbes in keiner Weise beeinträchtigen dürfe; der Wirtschaftsbürger wurde mit dieser Regelung dem politischen Stadtbürger übergeordnet. Dem freien durch keinerlei korporative Schranken gehemmten Wirken des Wirtschaftsbürgers war der Weg gebahnt. Reglementierend wirkte hier allein noch die „Polizei". Die Abkoppelung des Gewerberechts vom Stadtbürgerrecht reduzierten den politischen Gehalt des Begriffs „Bürger": politische Wahlfähigkeit und das Recht, städtische Ämter zu bekleiden, bleiben einzig vom Glanz des einst politischen Bürgertums. In dieser Form ging die Gewerbeordnung auch in die revidierte Fassung der preußischen Städteordnung ein: die Verweigerung des Stadtrechts konnte der freien ökonomischen Entfaltung der Einwohner keinen Abbruch mehr tun.^o Die enormen Kosten, die im Zuge dieser Reformen auf die Städte zukamen, waren von diesen allein zu tragen. Verantwortlich für die Not der Verarmten, war ihnen eine Beschränkung der Zahl der Zuwanderer versagt: Die liberale Wirtschaftspolitik wurde durch die Städteordnung von 1831 noch gestärkt, einschränkende oder hemmende Maßnahmen waren durch die Beschränkung der politischen Rechte der Städte nunmehr nicht mehr durchzusetzen. Konfusionen konnten in dieser Situation nicht ausbleiben; der unterschiedliche Entwicklungsstand, die divergierenden Rechtstraditionen in den verschiedenen preußischen Provinzen stellten nicht nur die Durchsetzung einer Gewerbeordnung unter erschwerte Bedingungen“*!; auch die allgemeine Durchsetzung der revidierten Fassung der Städteordnung stieß auf unüberwindliche Schwierigkeiten. In vielen Städten des Landes hatte die alte Zunftordnung noch volle Gültigkeit — die revidierte Städteordnung setz® Zu den hieraus erwachsenden Spannungen zwischen Stadt- und Wirtschaftsbürgertum vgl. R. Koselleck: Preußen, 594 ff. !! Diese konnte erst 1845 für ganz Preußen verwirklicht werden.
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te aber die Gewerbefreiheit bereits voraus. Hier waren auch angesichts der politischen Unruhen in den europäischen Nachbarländern Zugeständnisse unvermeidbar. Zusätzlich mußte die Einführung der revidierten Fassung der Städteordnung überall dort auf Widerstand stoßen, wo die Bürger sich seit 1808 der neuen städtischen Freiheit erfreuten — wie konnte hier ohne Gegenleistung eine Rechtsminderung durchgesetzt werden? In dieser Situation, die diurch den Druck der Julirevolution noch verschärft wurde, kam der Staat zu dem vermutlich einmaligen Entschluß, es den Städten selbst zu überlassen, für welche Ordnung sie sich entscheiden. Der Staat stellte ein Gesetz zur Auswahl mit der Folge, „daß die revidierte Städteordnung als gesamtstaatliches Gesetz geplant, schließlich eine neben zwei anderen Ordnungen wurde"^^ Von den westfälischen Städten wurde z. B. die Ordnung von 1808 bevorzugt, letztlich mußten sie sich aber in die Ordnung von 1831 fügen. Die Abwehr der Provinzen galt in erster Linie der Exemtion der Beamten, den staatlichen Eingriffsrechten und der Kontrolle durch den Landtag. Wirtschaftspolitisch waren die Provinzen meist an Idealen der Vergangenheit orientiert; die Beseitigung dieser Orientierung war aber ein Hauptzweck der revidierten Fassung des Gesetzes: der freien Einwohnergemeinde sollte künftig keine stadtväterlichen Beschränkungen hinsichtlich des Niederlassungsrechts mehr auferlegt werden. Die neue Zuzugsfreiheit zieht, so aber die Befürchtungen auf der anderen Seite, nur „fremdes Gelichter scharenweise heran, um das Erbe der Väter verzehren zu helfen".^3 In den Städten des Rheinlandes stieß vor allem die Trennung von Stadt und Land mit dem dort gültigen, einheitlichen Gemeinderecht auf Ablehnung. Die Rheinländer hatten dieses Recht 1800 im Zuge der Einführung der zentralistischen französischen Kommunalverfassung errungen — jetzt wollten sie darauf nicht mehr verzichten. Eine Fixierung ständischer Strukturen für das Land war mit ihrem Selbstverständnis nicht zu vereinbaren. Die starke Stellung des Bürgermeister hatte sich dort ebenfalls bewährt — und wurde von der Bevölkerung allgemein anerkannt. Das von der Rheinprovinz geforderte Dreiklassenwahlrecht fand in Berlin zunächst keine Zustimmung. Mit Beharrungsvermögen setzten die Rheinländer aber schließlich doch eine „klassengeschichtete Kommunalverfassung"^ durch. 1845 erhielten sie eine Stadt und Land
R. Koselleck: Preußen, 577. ^ /. H. Hüffer: Lebenserinnerungen, 394. ^ R. Koselleck: Preußen, 580.
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übergreifende Kommunalordnung, das neu eingeführte Dreiklassenwahlrecht wurde schließlich in ganz Preußen gültig.'*^ Nach einer über zehnjährigen Einführungszeit verfügte Preußen statt wie angestrebt über eine über drei verschiedene Stadt- und Gemeindeordnungen. Neben der Städteordnung aus dem Jahr 1808, gültig in den preußischen Stammprovinzen, hatte in Posen, Sachsen und Westfalen die revidierte Ordnung Einzug gehalten, während die Rheinlande für sich eine spezifische Kommunalverfassung durchgesetzt hatten.^6 Die divergierenden Ordnungen verhinderten nicht, daß sich die Stadtverordnetenversammlung in den vierziger Jahren allgemein zur Plattform des politischen Handelns in Preußen herausbildete. Aus den Stadtparlamenten gingen die Eingaben und Forderungen an den Landtag und König ab. Der Herausbildung eines staatlichen Verfassungsdenkens waren alle drei Modelle der in Preußen verwirklichten Stadtverfassungen förderlich. Weit mehr allerdings als die Städteordnungen trug die Gewerbepolitik mit ihrer allmählichen Auflösung des ständischen Gegensatzes zwischen Stadt und Land zur Überwindung bestehender Regionalismen bei und förderte ein gesamtstaatliches Denken. IV. Die politische Relevanz der Städte, ihre Entwicklung im Mittelalter ist von Hegel in den Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte gewürdigt worden. Ende der zwanziger Jahre erlangt dieses Thema für ihn zusätzlich durch die geschilderten Auseinandersetzungen in Preußen Bedeutung. Hegels Lektüre britischer Zeitungen^^, seine Exzerpte aus der Edinburgh Review machen deutlich, wie wenig das Problem auf Preußen begrenzt ist. Die 1817 veröffentlichten Documents connected with the Question of Reform in the Burghs of Scotland klagen die Mißstände an — Hegel war über diese Situation durch eine Rezension der Documents in der Edinburgh Review^ informiert. Ein aus dem Jahr 1469 stammendes Gesetz Zur Entwicklung der Kommunalverfassung, vgl. Georg-Christoph von Unruh: Die Entwicklung der Kommunalverfassung in Deutschland im Zeitalter des Konstitutkmalismus. ln: Städteordnungen des 19. Jahrhunderts. Hrsg. v. H. Naunin. Köln, Wien 1985. 1—18. Der Entstehungszeitpunkt der jeweiligen Ordnung, der Stand der wirtschaftlichen Entwicklung und das Sozialgefüge spiegeln sich jeweils in den drei Ordnungen wider. Vgl. hierzu R. Koselleck: Preußen, 582 ff. Vgl. M. /. Petry: Hegel and the Morning Chronicle. ln; Hegel-Studien 11 (1976), 11—80. 48 N. Waszek: Hegels Exzerpte aus der Edinburgh Review 1817—1819. In: Hegel-Studien 20 (1985), 106-110.
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schließt die Stadtbewohner von einer Entscheidung über ihre eigenen Angelegenheiten so gut wie aus. Die Wahl des neuen Stadtrats obliegt der alten Ratsversammlung — alte und neue Versammlung entscheiden schließlich über den neuen Magistrat und die Beamten. Lobbyismus, Korruption und Mißwirtschaft sind die Folgen. Eine Kontrolle der öffentlichen Haushalte, die Haftung der Gemeinden für ihre Finanzen wäre dringend gefordert — eine Veränderung können hier aber nur neue gesetzliche Bestimmungen des Parlaments bringen — so der Rezensent der Documents in der Edinburgh Review. Die Situation in den schottischen Städten fordert dringend die Beteiligung der Stadt- und Gemeindebewohner an ihren Angelegenheiten. Die Reform des Städtewesens bliebe allerdings auch für das Parlament nicht ohne Konsequenzen. Die Folgen wären allerdings, so versichert der Rezensent, ohne Gefahren: in den schottischen Städten werden die Parlamentarier von den Magistraten gewählt. ln seinem letzten Vorlesungszyklus über die „Philosophie der Weltgeschichte" greift Hegel das Problem ,Volkssouveränität und Monarchie' auf und weist nachdrücklich auf den entscheidenden Sachverhalt hin — die Kollision des Willens der Individuen, der Majorität, mit dem Willen des Monarchen sei in der Gegenwart in seiner Tragweite schon deshalb begrenzt, weil die Volksrepräsentanten nicht die Gesetze des Rechts als solche machten; diese seien in einem vernünftigen verfassungsmäßigen Zustand im wesentlichen schon vorhanden. Die Bedeutung dieser Kollision relativiere sich, da sie innerhalb eines vernünftigen Ganzen der Verfassung in einem nur begrenzten Bereich stattfinde; der Austragungsort dieses Konflikts bleibe im wesentlichen auf die Verwaltung beschränkt. Abgefedert würde diese Konfliktsituation zusätzlich durch die Gesinnung, den inneren Willen; es wäre letztlich das Gewissen, dem die Individuen in ihrer Entscheidung verpflichtet seien — dieses Gewissen verweise auf nichts Höheres als auf das Recht; dieses sei das Heilige in Beziehung auf weltliche Dinge und Angelegenheiten. In der Verpflichtung auf diese Gesinnung liege die „letzte Garantie, welche Regierung und Volk haben"49. Damit ist für Hegel die vernünftige Erörterung der Probleme, die sich aus dieser Kollision ergeben, eingebettet in historisch vorgegebene Rahmenbedingungen. Eine bestimmte Verfassungsrealität wird von ihm in diesem Zusammenhang vorausgesetzt. Wo diese wie in G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte WS 1830/31, in einer Nachschrift von Karl Hegel. Manuskript, 500. Für die Verfügungstellung der Transkription von Herrn Professor O. Pöggeler danke ich.
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England noch nicht verwirklicht ist, stellt sich für ihn weniger die Frage, was anzustreben ist, sondern auf welche Faktoren sich der Prozeß stützen kann und auf welche nicht. In der Kontroverse um die preußische Städteordnung ist es vor allem die Frage nach der politischen Bedeutung des Bürgerstandes, die eine Klärung verlangt und die den Bogen zu den Debatten in Schottland und England schlägt. Mit welchen politischen Rechten sollen die Stadtbewohner ausgestattet werden? Soll es neben der Stadt- auch eine Staatsbürgerschaft geben und welche politischen Rechten sollen mit dieser verbunden sein? Städteordnung und Reformbill-Debatte berühren sich für Hegel in diesem gemeinsamen Problemhorizont. Eine Rekonstruktion seiner Position soll nun abschließend — vor dem Hintergrund der Reformbill-Schrift — versucht werden. Die Entstehung der Städte — ein, so Hegel, Lieblingsthema der neueren Zeit — ist obwohl jeweils etwas durchaus Einzelnes, doch der Ausdruck eines allgemeinen Grundbedürfnisses. Wie die Kirche so sind auch die Städte die entscheidende Kraft in der Auseinandersetzung mit dem positiven Recht des Feudalsystems. Gegen Fürstenmacht und E)ynastien treten Kirche und Stadt mit ihrem ausgebildeten rechtlichen System als Prinzipien auf, die für die Heraufkunft einer neuen Zeit stehen. Der in den Städten neu etablierte rechtliche Zustand, die Verfassungen, wurde von Faktionen hervorgebracht: „man kam darin überein, daß ein Ausschuß von Bürgern die Magistratspersonen wählen sollte".p)ag Erstarken dieser beiden Kräfte ist für Hegel eine Vorbereitung für jene Entwicklung, die dann mit der Reformation das neue Zeitalter einleitet.^i Das Auftreten neuer Kräfte läßt das positive Recht fragwürdig werden, neue, vernünftige Rechtssetzungen lösen die tradierten Privilegien und Vorrechte ab. Der steigende Einfluß der Städte trug zur Ausbildung eines spezifisch städtischen Selbstbewußtseins bei, das Voraussetzung war für die Durchsetzung eines vernünftigen Rechts bzw. einer vernünftigen Verfassung. Aus den Prinzipien der Reformation ist der organische Staat, die Monarchie hervorgegangen. Nur auf dieser Grundlage konnten aristokratische Privilegien zurückgedrängt, konnten alte Herrschaftsrechte zugunsten des Staates und der Pflicht gegen den Staat geschmälert werden. Weder das Erstarken der Städte noch die Durchsetzung der Reformation hat überall in Europa den hier von Hegel entwickelten Verlauf ge50 Ebd., 426. 51 EHe Dreiteilung des Abschnitts „Neuere Zeit" in seiner weltgeschichtlichen Vorlesung scheint sich erst im Wintersemester 1830/31 durchgesetzt zu haben, vgl. den Beitrag von H.-C. Lucas: Die „tiefere Arbeit". Hegel zwischen Revolution und Reform, in diesem Band.
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nommen. Es war der „Grundcharakter der Nationen", so Hegel, der hier unterschiedliche Entwicklungen begünstigte. Ihre positiven Rechte und alten Privilegien werden der britischen Aristokratie von den Städten erstmals im Zuge der Reformbill-Debatte abgefordert.^2 Erstmals werden hier „öffentliche" Interessen gegen private Machenschaften geltend gemacht. Wie wenig das allgemeine Interesse sich in Englands Entwicklung Geltung zu verschaffen wußte, das zeigt die englische Verfassung mit ihrer ausgesprochen schwachen Stellung des Monarchen. Die englische Verfassung, so Hegel in der von Karl Hegel und Eduard Gans herausgegebenen Vorlesung über die Philosophie der Geschichte, „ist aus lauter particularen Rechten und besonderen Privilegien zusammengesetzt. Die Konsequenz hieraus ist, daß die Regierung in erster Linie die Interessen der besonderen Stände und Classen zu verwalten hat."53 Zwar ist in diesen Verhältnissen das allgemeine Interesse jeweils konkret mit dem Partikularen vermittelt — ein allgemeines System ist aber hier ebenfalls undenkbar, was sich daran zeigt, wie wenig die Engländer für allgemeine und abstrakte Prinzipien wie die der französischen Revolution empfänglich sind. Die Hauptfrage, die sich für Hegel daher angesichts der Reformbill stellt, ist, ob die vorgeschlagene Reform bei konsequenter Durchführung „die Möglichkeit einer Regierung noch zuläßt".Wie soll der „Sinn der Particularität", wie ihn von jeher die englische Aristokratie vertritt, durch allgemeine Prinzipien ersetzt werden können? Wer vor allem soll für diese allgemeinen Prinzipien eintreten? Hier wird nun die zweite Schwachstelle des englischen Systems bedeutsam: die Machtlosigkeit des monarchischen Elements. In anderen Staaten konnte der Übergang vom positiven zum vernünftigen Recht durch das monarchische Prinzip als einer höheren Macht vermittelt wer den. Die Regierungsgewalt liegt in England aber ausschließlich in den Händen des Parlaments. Vorausgesetzt die Reformen zeigen den gewünschten Erfolg und führen zu einer Neubesetzung des Parlaments, so stellt sich für den Kampf gegen die positiven Rechte unweigerlich die Präge, auf welche Macht sich dieser Kampf stützen kann. Findet dieser Kampf aufgrund der neuen Mehrheitsverhältnisse im Volk seine Stütze, so liegt die revo5^ Als Beispiel für das neue Selbstverständnis der Städte Englands könnte die Abberufung von Parlamentariern gelten, die sich nachweislich durch Bestechung einen Sitz unter den Abgeordneten verschafft haben. 53 G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Hrsg, von K. Hegel und E. Gans. 565. 54 Ebd. 567. 55 G. W. F. Hegel: Über die englische Reformbill, ln: Berliner Schriften 1818—1831. Werke 11. Frankfurt 1986. 128.
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lutionäre Umgestaltung der gesamten Verhältnisse weit näher als eine reforma torische. Es war Franz Rosenzweig, der in Hegels Urteil über die englische Reformbill eine gewisse Unentschlossenheit feststellte. In der Tat schildert Hegel einerseits die Korruptheit des englischen Systems ohne jegliche Beschönigungen; andererseits befürchtet er von einer konsequenten Umsetzung der Prinzipien der Reformbill unregierbare Verhältnisse. Hat das Parlament im Volk seine Stütze, so herrscht der Wille der vielen Individuen. Die wenigen gewählten Abgeordneten sollen für die Vielen beschließen. Der Konflikt ist unvermeidbar: „Die Wenigen sollen die Vielen vertreten, aber sie zertreten sie nur" — so formuliert Hegel in seiner letzten weltgeschichtlichen Vorlesung im Wintersemesters 1830/ 3156 _ revolutionäre Unruhen scheinen in einer solchen Situation geradezu unvermeidlich. — Sucht man nach den Parallelen zwischen Hegels Schrift Über die englische Reformbill und seinem Interesse an der Auseinandersetzung um die Städteordnung in Preußen, so sind es die Fragen der Verfassung, die Art und Weise der Beteiligung und der Mitbestimmung der Bürger, die ein Jahrzehnt nach dem Erscheinen der Grundlinien der Philosophie des Recht für Hegel nocheinmal in den Vordergrund treten. Ein Staat verdient nur dann seinen Namen, wenn seine Beschlüsse auch im ganzen Reich durchsetzbar sind — diese Einsicht wurde für Hegel seit seiner Kritik an der Ohnmacht des alten Heiligen römischen Reiches bestimmend. Die Einheit des Staates beruht allerdings nicht, so Hegel im § 268, auf physischer Gewalt. Wahre Stabilität besitzt ein Staatswesen dort, wo die Gesetze durch die Bürger anerkannt sind. Auf diesen Bestimmungen gründet die Hegelsche Gewaltenteilungslehre. Gewalt ist für Hegel nur insofern teilbar, als die Glieder Ausdruck eines unzweifelhaft Anerkannten sind. Erst dieser seiner Durchsetzung gewisse allgemeine Wille kann seine Befugnisse aufgliedern und sich selbst beschränken. Diese Form der Gewaltenteilung will keine gleichberechtigten selbständigen Teilgewalten, die sich gegenseitig kontrollieren und beschränken. Hegels Konzept der Gewaltenteilung orientiert sich vielmehr an „organischen" Modellen.^^ Der Wille kann Teile seiner Befugnisse an Teilgruppen abgeben — nach „unten" etwa ist eine DifferenzieG. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte WS 1830/31, in einer Nachschrift von Karl Hegel. Manuskript, 500. Vgl. L. Siep: Hegels Theorie der Gewaltenteilung. In: Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte. Hrsg, von H.-C. Lucas und O. Pöggeler. Stuttgart 1986. 387-420.
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rung auf die lokale (Städte und Gemeinden) oder soziale (Stände) Ebene möglich. In der gesetzgebenden Gewalt des Staates entfaltet — so die Grundlinien — das ständische Element seine wahrhafte Bestimmung. Das öffentliche Bewußtsein kommt hier zur Existenz: „Die eigentümliche Begriffsbestimmung der Stände ist deshalb darin zu suchen, daß in ihnen das subjektive Moment der allgemeinen Freiheit, die eigene Einsicht und der eigene Wille der Sphäre ... in Beziehung auf den Staat zur Existenz kommt". Zieht man in diesem Zusammenhang nocheinmal die geschilderte Auseinandersetzung in Preußen um die Städteordnung heran, so stellt sich die Frage, welcher Rang kann innerhalb einer vernünftigen Verfassung ständischen Vertretern aus Städten und Gemeinden beigemessen werden? Welche Rolle übernehmen sie im Rahmen dessen, was in der Diskussion der Zeit als „Repräsentation" bezeichnet wird? Innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft unterscheidet Hegel den auf das substantielle Verhältnis sich gründenden ackerbauenden von dem auf die besonderen Bedürfnisse sich gründenden gewerbetreibenden Stand. Ersterer ist auf dem Land beheimatet, während das Gewerbe seine Wirksamkeit in den Städten entfaltet. In der Vergangenheit war die politische Bedeutung der Stände für Hegel durchaus abstrakt; ihnen kam die Aufgabe zu, das „Extrem der empirischen Allgemeinheit" gegen das fürstliche oder monarchische Prinzip zu behaupten. Erst in der Moderne kommen sie als vermittelndes Moment zu ihrer vernünftigen Existenz. Die Repräsentation gruppenspezifischer Interessen im Staatsganzen bleibt im Hegelschen Verfassungsmodell auf die durch die Arbeitsteilung entstandenen Sphären beschränkt. Als eigenständige politische Kraft erfüllen die Stände innerhalb der gesetzgebenden Gewalt des Staates ihre eigentliche Bestimmung: in ihnen kommt, so Hegel in den Grundlinien der Philosophie des Rechts, „das subjektive Moment... in Beziehung auf den Staat zur Existenz" (§ 301, 471). Beide Stände vermitteln die besonderen Sphären, die einzelnen Individuen des Volkes mit dem Ganzen: „Ihre Bestimmung fordert an sie so sehr den Sinn und die Gesinnung des Staats und der Regierung als der Interessen der besonderen Kreise und der Einzelnen." (§302, 471) Im ständischen Element kommt der „Privatstand zu einer politischen Bedeutung und Wirksamkeit." Weder als ungeschiedene Masse noch als in Atome aufgelöste Menge sondern „als das, was er bereits ist", kommt der Privatstand zur Geltung. Politische Bedeutung erlangen die Städte im Zeitalter der Reformation. Ihr Verdienst ist die Einschränkung des positiven Rechts zugunsten einer allmählichen Durchsetzung vernünftiger Rechtsprinzipien. Zu den
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gestaltenden Kräften der „neuern Zeit" gehören die Städte für Hegel nur insofern, als sie das bürgerliche Gewerbe beheimaten und aus diesem die Korporationen hervorgehen. Die Landgemeinden mit ihren durchaus eigenständigen Problemen werden von Hegel in diesem Zusammenhang überhaupt nicht erwähnt. Die Landbevölkerung, das Bauerntum existiert einzig als „Stand der natürlichen Sittlichkeit. . . der das Familienleben und, in Rücksicht der Subsistenz, den Grundbesitz zu seiner Basis" hat. Die von Hegel aufgewiesenen Parallelen zwischen dem ackerbauenden Stand und dem fürstlichen Element treffen wohl eher für den adeligen Großgrundbesitz und sein „mit dem Majorat belastetes Erbgut", nicht aber für Kleinbauern und Landgemeinden zu. Zwar unterscheidet Hegel in einem Zusatz zum § 306 der Grundlinien zwischen dem gebildeten Teil dieses Standes und dem Bauernstand, ohne allerdings die entscheidenden Divergenzen im Politischen herauszuarbeiten und in seiner Verfassungskonzeption zu berücksichtigen. Den Problemen des freien Bauerntums, wie es etwa in Westfalen existierte, den Bedürfnissen der ländlichen Gemeinden wird diese einseitige Sicht nicht gerecht. Wie und vor allem wo sind deren Interessen vertreten? — In keiner der Hegelschen Kammern finden sich Fürsprecher dieser Interessen, innerhalb der gesetzgebenden Gewalt kommen sie nicht zur Geltung. Für die zentrale innerstaatliche Regierungsgewalt kommt es vor allem darauf an, daß sie die „Teilung der Geschäfte" realisiert: „sie hat es mit dem Übergang vom Allgemeinen ins Besondere und Einzelne zu tun, und ihre Geschäfte sind nach den verschiedenen Zweigen zu trennen", so Hegel in einer Erläuterung des § 290 seiner Rechtsphilosophie. In Korporationen und Kommunen treffen die besonderen und allgemeinen Interessen zusammen. Wenn diese Kreise im Mittelalter eine zu große Selbständigkeit gewonnen hatten, Staaten im Staate gewesen waren und sich als selbständige Körperschaften gerierten, so muß dies in der Gegenwart nicht notwendig der Fall sein. Für Hegel zeigt sich heute „die eigentliche Stärke der Staaten" in den Gemeinden. Denn hier träfe die Regierung auf berechtigte Interessen, die von ihr respektiert werden müßten. Die Administration kann solchen Interessen nur beförderlich sein, sie muß sie aber auch beaufsichtigen. Die tätige Wirksamkeit des Individuums in Gemeinde und Korporation vermittle die partikulären Interessen an die „Erhaltung des Ganzen". Wenn in der Vergangenheit diese Teile des Ganzen „von oben her organisiert" wurden, so wurde dabei „das Untere, das Massenhafte des Ganzen . . . mehr oder weniger unorganisch gelassen"; und doch ist es höchst wichtig, daß es organisch
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werde, denn nur so sei es Macht, sei es Gewalt, sonst sei es nur ein Haufen, eine Menge von zersplitterten Atomen. Die berechtigte Gewalt ist, so erläutert Hegel den Paragraphen 290 im Wintersemester 1824/25, „nur im organischen Zustande der besonderen Sphären vorhanden"^^. „Dieß Besondere", so führt er in diesem Zusammenhang weiter aus, „ist eine von den aUerwichtigsten Seiten und in Frankreich wird das Bedürfniß danach immer größer, doch kann man noch nicht von der Bureaucrasie der Ministerialregirung loskommen. So hängt das Weitere der Verfassung noch immer in der Luft, hat nicht den festen Fuß in den Wurzeln die organisch sind, die berechtigt, selbständig sind. Für die Willkühr der Regirungsgewalt ist nichts vorteilhafter als diese Zersplitterung in Atome, dies unorganische Sem."^^ Organisch wird die amorphe Masse zum einen im Aufbau einer Verwaltung, die die „berechtigten Interessen" der Bürger aufnehmen und in Entscheidungen kompetent und richtungsweisend umsetzen kann. Die französische Munizipalverfassung gestattet eine Aufnahme dieser Interessen nicht, mit der preußischen Verwaltung ist ein adäquates „verfassungsmäßiges" (Gans) Instrumentarium für diese Probleme geschaffen. Zum anderen verwirklicht sich diese Gliederung des Volkes in der Zusammenfassung der verschiedenen Interessen in den berufsständischen Zusammenschlüssen, den Korporationen. Im Unterschied zu den mittelalterlichen Zünften ist das Ausgangsprinzip in den modernen Ständen das Prinzip der Subjektivität. Diese kann sich hier zum „selbständigen Extrem der persönlichen Besonderheit vollenden" — „die vermittelnde Rückführung in die Einheit ist die Funktion der Stände: in ihnen kommt das subjektive Moment der allgemeinen Freiheit", das in der bürgerlichen Gesellschaft zur ungebundenen Entfaltung kommt, in „Beziehung auf den Staat zur Existenz".Hegels Begriff des Bürgertums bleibt somit an die Stadt und das Gewerbe gebunden — die neuen treibenden Kräfte — die Landbevölkerung und die Industriearbeiter — verbleiben in seiner Konzeption ohne vermittelnde Instanz außerhalb des Staates. Mußte der Appell, die Massen durch berufsständische Gliederung „organisch" zu integrieren, nicht verhallen — angesichts einer Realität, die mit Hegels Kategorien nur unzulänglich erfaßt wird? 58 G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Werke 7. Frankfurt 1986. § 290, 460. (Nach dieser Ausgabe wird im folgenden zitiert). 5® G. W. F. Hegel: Vorlesungen über Rechtsphilosophie. Hrsg. v. K.-H. Ilting. Bd4: Philosophie des Rechts nach der Vorlesungsnachschrift K. G. v. Griesheims 1824/25 [usw.]. Stuttgart 1974. 692, 693. Grundlinien. § 301, 471.
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Wenn sich Gans in seiner Rezension der Diskussion um die Städteordnung gegen den „historischen" Aufbau des Staates von unten wendet, so kann er sich in diesem Punkt der Zustimmung Hegels gewiß sein: der WUle des Einzelnen, wie er in der bürgerlichen Gesellschaft zur Geltung kommt, liegt nicht dem Willen des Staates voraus oder zugrunde: beide, einzelner und allgemeiner Wille stehen vielmehr in gegenseitiger Abhängigkeit, sie sind ohne den jeweils anderen gar nicht vorstellbar: der allgemeine Wille wird im Standesbewußtsein als der „Sinn und die Gesinnung des Staats und der Regierung mit den Interessen der besonderen Kreise und der Einzelnen zum Ausgleich gebracht''^!. Die „Repräsentation" entsandter Vertreter bezieht sich weder auf die politische Einheit noch auf die Einzelnen als Menge, sondern auf die „wesentlichen Sphären der Gesellschaft"^^ gie sind der Ausdruck für die Interessen bestimmter Gesellschaftskreise — sie sind keine Mandatarien, sondern „das Interesse selbst ist in seinen Repräsentanten wirklich gegenwärtig" — hierin liegt der zentrale Unterschied zur altständischen Repräsentation.^ In seiner 1832/33 gehaltenen Vorlesung Naturrecht und Universalgeschichte betont Gans die positive Bedeutung der Korporationen gegenüber den mittelalterlichen Zünften: „In der Zunft liegt die Tyranney des Allgemeinen über das Einzelne. Die Corporation ist das Allgemeine, Ehrenhaft, Sittliche, Standesgemäße, nicht das Zwingende."^ Erst die Korporation bringt das versittlichende Moment in die bürgerliche Gesellschaft. Besitzen die Korporationen, deren Bedeutung Gans auf den zweiten Stand beschränkt, aber über ihre erzieherische Funktion hinaus, auch politische Relevanz? Inwiefern können sie die Interessen ihres Standes repräsentieren? Auch Gans plädiert für ein Zwei-Kammern System, das Problem entsteht aber dort, wo die Frage zu entscheiden ist, wie die Wahl der Mitglieder der Kammern zu gestalten sei. Unter den Zeitgenossen gibt es, so referiert Gans, „zwei heftig sich bekämpfende Meinungen: Sollen sie nach Corporationen, Ständen, oder nach der Bevölkerung, nach der räumlichen Abtheilung gewählt werden?" Für die « Ebd. § 302. ® Giuseppe Duso: Der Begriff der Repräsentation bei Hegel und das moderne Problem der politischen Einheit. Baden-Baden 1990. 48. ® Vgl. Grundlinien der Philosophie des Rechts, §311. Christoph Jamme spricht in Abgrenzung vom altständischen Repräsentationsbegriff bei Hegel von einer „neuständisch-bürgerlichen Repräsentation", Ch. jamme: Die Erziehung der Stände durch sich selbst. Hegels Konzeption einer neuständisch-bürgerlichen Repräsentation in Heidelberg 1817/18. In: Hegels Rechtsphilosophie (wie Anm. 57). 149—173. ^ Eduard Gans: Naturrecht und Universalrechtsgeschichte. Hrsg. v. M. Riedel. Stuttgart 1981. 93.
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Vertreter der ersten Meinung vertritt „jeder aus der Corporation Gewählte . . . dieselbe"; die Gegner aber halten dagegen, daß in der bürgerlichen Gesellschaft die Stände im Staat verschwinden und alle zu Bürgern werden. Ein Jahr nach Hegel Tod und nach seiner Rezension zur Städtereform nimmt Gans in dieser Frage erneut Stellung, nun aber ohne jene Rücksichtnahme auf seinen Förderer, die in der Rezension zur Städtereform spürbar ist. „Wir nehmen als Hauptprinzip bei der Wahl die direkten Steuern an . . . Wir glauben, daß jeder ohne Bedingungen wählbar seyn muß". Mit diesem Votum stellt sich Gans zugunsten der französischen Konzeption gegen die Hegelsche ,Interessenvertretung'. Das französische Modell folgt den von Sieyes entwickelten Prinzipien. Das Verhältnis zwischen dem Volk und den gewählten Vertretern ist weder an einen genau festgelegten Auftrag — etwa die Übermittlung der Wählerwünsche an den König (Generalstände) noch an ein imperatives Mandat gebunden; aber es sind auch keine gemeinsamen Interessen, auf die sich das Vertrauen in die Vertreter gründen könnte. Das Volk selbst hat die Kontrolle über das Tun und Lassen seiner Vertreter zu übernehmen, um Notfalls durch Entzug des gegebenen Vertrauens seinem Willen Geltung zu verschaffen. Für Hegels Verfassungsideal sind dagegen „Genossenschaften und Korporationen" die eigentlichen Wurzeln der Repräsentativverfassung.Sein Eintreten für eine indirekte Wahl der Kammervertreter will dem Mißtrauen der Wählerschaft gegensteuern durch die Bindung von Wählern und Gewählten an eine gemeinsame Interessensphäre. Mit Hegel fordert allerdings auch Gans, daß alle Seiten der bürgerlichen Gesellschaft in der Ständeversammlung vertreten sein sollen — wie kann aber eine direkte Wahl die Erfüllung dieser Forderung gewährleisten? Hegels Votum für eine neuständisch-bürgerlichen Repräsentation gründet in dem Zweifel an der Leistungsfähigkeit direkter Wahlen. Politische Parteien im modernen Sinne waren Hegel nicht bekannt — diese übernehmen heute zum Teil jene Aufgaben, die Hegel den Korporationen übertragen wissen wollte: Interessenbindung und Vertrauensbildung. Wie aktuell Hegels Forderung nach Vertretung aller Sphären der Gesellschaft ist, zeigt sich in Auseinandersetzungen, wie sie heute etwa um die Quotenregelung geführt werden. In der Diskussion um die Städteordnung werden Hegels Intentionen in der v. Raumerschen Stellungnahme wiedergegeben. Sein Votum gegen die unorganische Gliederung der Wähler nach Wohnbezirken, das die Gewählten Vgl. Otto Pöggeler: Hegels Option für Österreich. Die Konzeption korporativer Repräsentation. In: Hegel-Studien 12 (1977), 83—129.
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nicht durch ein gemeinsames Interesse mit den Wählern verbindet, stimmt mit Hegels Forderung nach einer Interessenvertretung überein. Eine Aufhebung des Unterschieds von Stadt und Landbevölkerung zugunsten eines Staatsbürgertums, wie sie die rheinländisch-französischen Vertreter für ganz Preußen anstreben, ist weder mit der Hegelschen Ständegliederung noch mit der den Ständen übertragenen Vermittlungsfunktion zwischen Allgemeinem und Einzelnem zu vereinbaren. Die revidierte Städteordnung von 1831 mußte in ihrer gesamten Zielsetzung auf Hegels entschiedene Ablehnung stoßen: die in ihr angestrebten wirtschaftspolitischen Maßnahmen sollten das Individuum endgültig aus jenen Banden lösen, die für Hegel gerade eine Identität mit dem allgemeinen Wülen gewährleisteten.
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Personenregister
Fichte, Johann Gottlieb 212 Fielding, Henry 184 Fischei, Eduard 167 Fleischmann, Eugen Jakob 207 Fortescue, Sir John 193, 194 Fox, Charles James 8, 190 Frank, Edward 92 Friedrich II. der Große (von Preußen) 226 Friedrich Wilhelm III. 81 Friedrich Wilhelm IV. 150 Fries, Jakob Friedrich 235, 237 Gans, Eduard 11, 14, 79, 136, 225, 281, 283, 285, 291, 293-296, 302, 307 f Garve, Christian 181, 189 Gay, John 184 Gentz, Friedrich von 81, 82, 86, 96, 158 Georg III. Wilhelm Friedrich 64 f, 107 Georg rV. August Friedrich 31, 65 f Gibbon, Edward 180, 184 Glöckner, Hermann 181 f Goethe, Johann Wolfgang von 96, 254 Goldsmith, Oliver 184 Gneist, Rudolf von 166, 167 f, 170 Graham, Sir James Robert George 32, 64, 68 Grant, Charles 51, 64 Gray, Thomas 184 Grey, Charles, Earl of 8, 27, 32, 37, 49, 51, 55 f, 62, 64, 67 f, 80, 90, 94, 132, 252 Griesheim, Karl Gustav Julius von 226 Grote, George 72, 112 Gwyn, John 70 Habermas, Jürgen 211 Hamilton, William Gerrard 130 Hardenberg, Karl August Fürst von 81, 286 Harrington, James 52, 58, 144, 184 Harris, Henry Silton 189
Harrowby, Dudley Ryder, Ist Earl of 57 Haym, Rudolf 178, 181, 207 f Hegel, Karl 225, 232, 302 Heinrich VII. 163 Hirschmann, Albert O. 134 f, 144, 147 Hobbes, Thomas 69, 180, 184 Hobhouse, John Cam, Baron Broughton de Gyfford 33 Hodgskin, Thomas 72 Hoffmeister, Johannes 189, 233 Hölderlin, Johann Christian Friedrich 210 Home, Henry (Lord Karnes) 180, 184 Horn, Karl Friedrich 292 f Hotho, Heinrich Gustav 226 Hube, Joseph 227 Hüllmann, Carl C. 281 Humboldt, Wilhelm von 82 Hume, David 30, 33, 43, 69, 179, 180, 184, 189, 190, 249, 252, 260 Hunt, Henry 30, 87, 111, 147 Inglis, Robert Harry
147
Jeffrey, Francis 130, 144 Jellinek, Georg 197 Jenkinson, Robert Banks 109 Johnson, Samuel 184 Karnes, Lord (siehe: Home, Henry) Kehler, Friedrich Carl Hermann Victor von 227 Klein, Ernst Eerdinand 199 Koselleck, Reinhart 284 Kotzebue, August von 82 Knox, Thomas Malcom 13 Lappenberg, J. M. 281 Lennox, Charles 65 Lieven (Princess) 67 Littleton, Edward 93 Liverpool, Robert Banks Jenkinson, Earl of (Lord) 65 Locke, John 43, 63, 180, 184, 260 Lottes, Günther 12, 14 Lucas, Hans-Christian 12
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Personenregister
Louis XVIII. 84 Louis Phüippe 66 Ludwig XVIII. 223 Lykurg 223 Macaulay, Thomas B. 52 f, 57 f, 78, 87, 114, 116 f, 138, 143-145 Macaulay, Herbert 259 Macconell, Thomas 48, 59 Machiavelli, Niccolö 211 Mackintosh, James 114, 120 f, 143 Madu, Norbert 13 Malthus, Thomas R. 27 Manning, William 92 Marx, Karl 47, 95, 200 f Melbourne, Lord 90 Michelet, Karl Ludwig 7 Mül, James 10, 71, 73, 75, 77, 80, 89, 91-94, 111-114 Mill, John Stuart 72 Milton, John 180, 184 Mittermaier, Karl Joseph Anton 136 Mizuta, Hiroshi 177 Mohl, Robert von 103 f, 168 Montesquieu, Charles de Secondat, Baron de la Brede et de M. 153, 266, 269 Mounier, Joseph 155 Moore, David C. 47 Moses 223 Müller, Gustav Emil 260 Müller, Max 156 f Murhard, Friedrich 160 f Napoleon Bonaparte 159, 211 f, 221, 226, 239 f, 273, 283 Newton, Sir Isaac 180 Niebuhr, Barthold Georg 81 North, Fredrik, 2nd Earl of Guilford (Lord) 129 O'Connell, Daniel 33, 68, 87, 147 Oelsner, Konrad Engelbert 211 Paine, Thomas 65, 253, 260 Paley, William 107-109, 114, 120 Palmerston, Henry John Temple, 3. Viscount 51, 64
Pan, Jacques Mailet du 155 Parkes, Joseph 84 Perthes, Friedrich Christoph 86 Peel, Sir Robert 30, 33, 41, 54, 56, 87, 94, 138, 142 f, 148, 254 f Pelczynski, Zbigniew Andrzej 13, 118 Perschke, Wilhelm 292 Petry, Michael John 10, 117, 136, 239 Pitt William (d. J.) 8, 43, 65, 93, 179, 190 Pitt, William (d. Ä.), Earl of Chatham 43, 54 Place, Francis 70 Plato 214, 264 Pöggeler, Otto 12 Pope, Alexander 184 Ponsonby, John 68 Privy Seal, Lord 68 Price, Richard 65 Quaritsch, Helmut
198
Ranke, Leopold von 86, 164 Raumer, Friedrich von 13 f, 83, 281, 286-290, 308 Rehberg, August Wilhelm 157 Ritter, Joachim 178, 208, 211, 215 Robertson, William 180, 184, 185 Robespierre, MaxirnUien de 216 RomiUy, Samuel 70, 78 Roscher, Wilhelm 188 Rosenkranz, Karl 178, 181, 186, 189 Rosenzweig, Franz 276, 303 Rotteck, Karl Wenzeslaus Rodecker von 160, 162 Rousseau, Jean-Jacques 152—254 Russell, Lord John 28, 30, 32 f, 36, 43, 49, 57, 62-64, 66, 68, 74, 87, 140 f, 143, 146 Savigny, Friedrich Karl von 11, 86, 284 f, 291 Scarlett, Sir James 27, 143 SchelHng, Friedrich Wilhelm 182, 210, 216 Schüler, Johann Friedrich 188 Schlayer, Johannes 104
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Personenregister
Schmitz, Mathias 151 Scott, Sir Walter 180 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Earl of 180, 184 Shakespeare, William 180, 184 f Sheil, Richard Lalor 30, 147 Sheridan, Richard Brinsley 54 Skaiweit, Stephan 13 Smith, Adam 26, 38, 181, 188 f, 200 Smith, Sidney 131 Smith, Sir Thomas 193 Smollet, Tobias 222 Solon 223 Spencer, John 68 Spinoza, Benedictus de (Bamch de) 219 Stahl, Friedrich Julius 104 Steele, Richard 184 Steiger, Christoph 183 Stein, Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum 81, 96, 281, 283 f Steinmetz, Willibald 11 Steuart, Sir James 179—181, 200 Stewart, Dugald 114 Strahm, Hans 182, 185 Streckfuß, Karl 14, 281, 289 f Svarez, Carl Gottlieb 199 Swift, Jonathan 43, 184 Thomson, James 184 Tickeil, Richard 129 Treitschke, Heinrich von Twiss, Horace 33
278
Tocqueville, Charles Alexis Henri Clerel de 7 Ulmenstein, Heinrich Christian Freiherr von 292—294, 296 Varnhagen von Ense, Karl August 177 f Victoria 94, 195 Vincke, Ludwig von 153 f, 167 Vollrath, Ernst 12 Vyvyan, Richard Rawlinson 30 Waszek, Norbert 11 f, 117, 234 Wehnert, Gottlieb Johann Moritz 285, 292 f Weisser-Lohmann, Elisabeth 13 Welcher, Carl Theodor 160 Wellington, Arthur Wellesley, Duke of (Herzog) 28, 30-32, 37, 48-50, 66 f, 92 f Wende, Peter 10 Wethereil, Charles 142 Wilhelm III. 163 Wilhelm IV. 28, 32, 37, 48, 270 William IV. 67 Williams, Anthony 184 Williams, Howard 13 Wirsching, Andreas 11 Young, Edward 184 Young, Arthur 38 Zachariä, Karl Salomo
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