Der Göttinger Stadtfriedhof: Ein biografischer Spaziergang [1 ed.] 9783666301827, 9783525301821


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Der Göttinger Stadtfriedhof: Ein biografischer Spaziergang [1 ed.]
 9783666301827, 9783525301821

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Heidemarie Frank

Der Göttinger Stadtfriedhof Ein biografischer Spaziergang

Heidemarie Frank

Der Göttinger Stadtfriedhof Ein biografischer Spaziergang

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 23 Abbildungen und 1 Karte

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf‌bar. ISBN 978-3-666-30182-7 © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, 37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Blick auf die Parkanlage des Göttinger Stadtfriedhofs, Foto: © Reiner Frank, Göttingen Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de

Inhalt 7 Vorwort 9

Die alten Göttinger Friedhöfe

17

Georg Merkel

29

Friedrich Wöhler

37

Agathe von Siebold

47

Jacob Henle

57

Wilhelm Eduard Weber

67

Max Born

77

Rudolf von Jhering

85

Gottlieb Planck

95

Gerhard Leibholz

105

Felix Klein

113

Otto Wallach

119

Johann Emil Wiechert

125

Lou Andreas-Salomé

137

Richard Zsigmondy

143

Max von Laue

6  Inhalt 153

Adolf Windaus

159

Walther Nernst

169

Otto Hahn

181

Max Planck

193

Ludwig Prandtl

205

David Hilbert

217 Literatur 223 Danksagung 224 Bildnachweis

Vorwort Der Stadtfriedhof gehört zu meinen frühesten Erinnerungen. Wir wohnten ein paar Schritte von ihm entfernt und gingen dort hin und wieder spazieren. Seine besondere Atmosphäre hat sich mir damals eingeprägt. Die dunkle Fichtenallee (heute stehen dort Birken) habe ich nie vergessen. Durch die Engel und andere Figuren, die immer wieder hinter Sträuchern auf‌tauchten, war er für mich auf angenehme Art geheimnisvoll, aber nicht mit dem Tod verbunden. Vor meiner Einschulung zogen wir in ein anderes Stadtviertel und ich verlor den Friedhof über viele Jahre aus den Augen. Als ich bei meiner Vorbereitung auf die Tätigkeit als Stadtführerin bemerkte, wie viele bedeutende Persönlichkeiten auf dem Stadtfriedhof und auch auf den beiden alten Gemeindefriedhöfen ihre letzte Ruhe gefunden haben, begann ich mich mit dem Thema intensiver zu beschäf‌tigen. Ich sah die attraktive Anlage an der Kasseler Landstraße mit ihren schönen alten Bäumen und Sträuchern, die im Frühjahr so wunderbar blühen, wieder vor mir. Die Möglichkeit, an den Gräbern Universitätsund Stadtgeschichte aus einem anderen Blickwinkel wiedergeben zu können, reizte mich. Ich begann mit der Ausarbeitung der Führung, und das Thema wurde im November 1994 in das Programm der Führungen des Göttinger Tourismus-Vereins aufgenommen. Der Stadtfriedhof ist ein Ort voller Geschichte und Geschichten, viel mehr, als sich auf einem Rundgang schildern lässt. Manchmal begegnen mir Vorbehalte dem Ort und dem Thema gegenüber. Dann sage ich: »Ich erzähle vom Leben.« Göttingen, im Mai 2017

Heidemarie Frank

Die alten Göttinger Friedhöfe Um 1500 gab es in Göttingen elf »ehrliche« Friedhöfe. Sie umgaben die Gemeindekirchen St. Johannis, St. Jacobi, St. Albani, St. Marien und St. Nicolai. Dazu kamen die Begräbnisplätze des Dominikanerklosters in der Paulinerstraße, des Franziskanerklosters auf dem heutigen Wilhelmsplatz, der Hospitäler St. Crucis, St. Spiritus, St. Bartholomäi und der Georgskapelle. St. Bartholomäi war eine Stiftung des frühen 14. Jahrhunderts. Dieses Hospital diente der Unterbringung von Leprakranken und lag deshalb außerhalb der Stadt. Außerdem gab es einen Friedhof auf dem kleinen Freudenberg, dem heutigen Waageplatz, auf dem im Mittelalter wahrscheinlich Pesttote beigesetzt wurden. Wegen der Ansteckungsgefahr wurden an der Pest Verstorbene vor den Städten begraben. In Göttingen nutzte man dafür den unbesiedelten Bereich zwischen der alten Stadtmauer und der neuen Stadtbefestigung, dem Wall. »Unehrlich« Verstorbene wurden am Galgenplatz bei der Gerichtslinde an der Kasseler Landstraße beigesetzt. Als solche galten Hingerichtete, Selbstmörder, der Ketzerei Beschuldigte und Andersgläubige, die kein christliches Begräbnis erhielten. Die jüdische Gemeinde durfte sich 1550 wieder in Göttingen niederlassen. Ihr Friedhof lag wahrscheinlich schon damals nahe der Gerichtslinde, erstmals in einen Plan aufgenommen wurde er 1767. 1529 nahm Göttingen die evangelische Konfession an und die beiden Klöster wurden aufgelöst. Der Friedhof der Franziskanerkirche verlor seine Funktion. Die Kirche wurde u. a. als Zeughaus genutzt, verfiel zusehends und wurde 1820 im Zusammenhang mit der Umgestaltung des Klosterbereichs und des späteren Baus der Aula abgerissen, wodurch ein freier Platz entstand. Die Gebäude des Dominikanerklosters blieben erhalten. Der Rat richtete dort die Münze ein, die später ins aufgegebene Franziskanerkloster umzog. Mit der anschließenden Einrichtung einer städtischen Brauerei im ehemaligen Dominikanerkloster in der Paulinerstraße scheiterte der Rat. Auch eine

10  Die alten Göttinger Friedhöfe Bierschenke, die das beliebte Einbecker Bier verkaufte, hatte keinen Erfolg. Erst das Pädagogium, das dort 1586 einzog, sicherte den Erhalt der Gebäude. 1734 mußte es der gerade gegründeten Universität weichen, die diesen Standort noch heute nutzt. Der Friedhof wurde der Garnison zur Verfügung gestellt. Mit der Reformation von 1517 änderte sich die Einstellung zu den Toten und den Bestattungsorten. Protestanten lehnten den mittelalterlichen Totenkult ab. Für sie war es nicht mehr wichtig, nach dem Tod den Heiligen nahe zu sein, was durch eine Beisetzung in oder bei der Kirche als gewährleistet galt. Der innerstädtische Kirchhof war ein Teil des öffentlichen Lebens und bot den Angehörigen die Möglichkeit, sich täglich um das Seelenheil ihrer Verstorbenen zu kümmern. Martin Luther brach mit dieser Tradition. Nicht dem Menschen, sondern Gott sei das Seelenheil der Verstorbenen anvertraut. Deshalb forderte er, »das Begräbnis hinaus vor die Stadt zu machen. Denn ein Begräbnis sollte ja billig ein feiner stiller Ort sein, der abgesondert wäre von allen Örtern, darauf man mit Andacht stehen und gehen könnte, den Tod, das jüngste Gericht und Auferstehung zu betrachten und beten«.1 Bis zur Verlegung der Friedhöfe vor die Stadt dauerte es in Göttingen aber noch gut 200 Jahre. Erst im 18.  Jahrhundert rückten praktische Gründe, die dafür sprachen, in den Vordergrund. Die Kirchhöfe waren verwahrlost und überbelegt. Allein auf dem kleinen Friedhof des St. Crucis Hospitals an der Hospitalstraße wurden von Weihnachten 1625 bis Februar 1626 209 Tote begraben.2 1694 beschwerten sich Anwohner der Pauliner Straße: »welcher gestalt der also genannte Päbeler oder Paulinerkirchhof zum Pädagogio gehörig von itziger Garnison ungeachtet er gleichsam gepfropfet voller Leichen lieget demnach bey izigen häufigen sterben der Milice, da täglich nicht ein sondern zwey auch wohl mehr Soldaten und deren angehörige darauf begraben werden, immer mehr und mehr vollgescharret wirt, daß weil sie wegen der vorigen Särge, die noch nicht verweßet und worüber Sie die Ihrigen setzen müßen, nicht tief genug in die Erde kommen können, sondern kaum eine handbreit hoch Erde darüber werffen, die Leichen einen solchen gestank erregen, das wir uns in unsern Häusern kaum davor zu behalten wißen«.3

Die alten Göttinger Friedhöfe 11

Geruchsbelästigung stellte sich natürlich erst recht bei Bestattungen im Kircheninneren ein. Auch Sorgen um die Hygiene wurden jetzt zur Argumentation herangezogen. Man machte sich Gedanken um das Grundwasser und damit um die Wasserversorgung der Bevölkerung. Es galt inzwischen als erwiesen, daß »die schädlichen Ausdünstungen«4 gefährlich waren. Dem wollte sich der größte Teil der Bewohner nicht mehr aussetzen. Trotz allem gab es Widerstände gegen eine Verlegung der Friedhöfe. Die Pastoren hatten wegen der höheren Einnahmen nach wie vor ein starkes Interesse an Bestattungen in den Kirchen und auf den sie umgebenden Kirchhöfen. Bürger der Oberschicht wollten im Kircheninneren beigesetzt werden, um sich so von der Allgemeinheit abzuheben. 1734, im Jahr der Universitätsgründung, starben zwei neu zugezogene Dozenten. In einigen Universitäten Deutschlands wurde darauf‌hin davor gewarnt, nach Göttingen zu gehen. Das Wasser sei verseucht, weil man die Toten noch in der Stadt begrabe. Um den Erfolg der Universität nicht zu gefährden, wurden die Verhandlungen zur Verlegung der Friedhöfe auf Betreiben des Universitätskurators Münchhausen wieder aufgenommen. Pläne dazu soll es schon 1724, also zehn Jahre vor der Gründung der Universität gegeben haben, worüber es aber keinen schriftlichen Nachweis gibt. 1734 einigte man sich auf das Gelände des ehemaligen Bartholomäus-Hospitals an der Heer-Straße (jetzt Weender Landstraße). Dreizehn Jahre später konnte der Friedhof eröffnet werden. Er ersetzte die zentral gelegenen Kirchhöfe der Johannis- und Jacobigemeinde. Entlang der Straße ließ der Stadtrat Linden anpflanzen, die in Hamburg bestellt wurden, »weil dergleichen großblättrige Linden sich hiesiger Orthen herum nicht finden«5. Die Bepflanzung wurde von hygienischen, nicht ästhetischen Gesichtspunkten bestimmt. Linden sollten durch ihren Duft und ihre luftverbessernde Wirkung die Menschen vor den schädlichen Ausdünstungen aus den Gräbern schützen. Pappeln, die auf einem Stich vom Albani­friedhof (siehe S. 13) zu sehen sind, pflanzte man wegen ihrer Fähigkeit, tief zu wurzeln. Sie würden, so hoffte man, den Boden von den Verwesungssäften befreien.

12  Die alten Göttinger Friedhöfe Um dem Unmut der Bürger der Oberschicht zu begegnen, hielt man in der 1755 erlassenen Friedhofs- und Begräbnisordnung unter Punkt 1 fest: »Die freygelaßenen Stellen an denen vier Seiten der Mauer des Gottesackers wären denen Honoratioribus, Geistlichen, Magistrats und Militair Persohnen […] für ihre Leichen zu gönnen.«6 Damit schuf man für die »Honoratiori« die Möglichkeit, sich vom »Pöpel«, wie Professor Georg Gottlieb Richter sich in einem Schreiben an die Regierung in Hannover ausdrückte, abzugrenzen.7 Er ließ 1766 nach dem Tod seiner Frau einen Gruftbau an der westlichen Friedhofsmauer errichten. Auf dem Albanifriedhof fand die erste Beerdigung am 1. Advent 1784 statt. Die Stadt hatte der Albani-, Nikolai- und Mariengemeinde sowie dem St. Crucis Hospital das Gelände auf der ehemaligen Bleicherschanze vor dem Wall zwischen dem Albani- und Geismartor zur Verfügung gestellt. Die Mitglieder der Mariengemeinde protestierten gegen den zu weiten Weg und setzten einen eigenen Friedhof nördlich der Casseler Chaussee (jetzt Groner Landstraße) an der Leine durch. Alle drei Friedhöfe sind mehrfach erweitert worden. 1854, als Göttingen an das neue Eisenbahnnetz angeschlossen wurde, mußte die Mariengemeinde einen Teil ihres noch nicht belegten Erweiterungsgeländes für den Bahnhofsbau der Eisenbahnverwaltung wieder abgeben. Ihr neuer Friedhof wurde dem Bartholomäusfriedhof angegliedert und der bisherige 1921 im Zuge der Leineregulierung aufgegeben. Bis 1881 fanden auf dem Albanifriedhof 6 500 und auf dem Marienfriedhof 3 000 Bestattungen statt. Sowohl auf dem Bartholomäus- als auch auf dem Albanifriedhof sind heute noch Gräber von bekannten Göttinger Bürgern und Mitgliedern der Universität zu finden. 1851 schenkte der Kaufmann Ernst Vollmer der katholischen Kirche ein Gelände an der Weender Landstraße gegenüber dem Bartholomäusfriedhof für den ersten eigenen Friedhof. Die katholische Gemeinde, die nach der Reformation zunächst verboten worden war, durfte ab 1746 wieder Messen feiern. Ein Kirchen­bau, der aber als solcher nicht erkennbar sein durfte, wurde ihr 1789 in der Kurzen Straße gestattet. Ihr Friedhof ist

Die alten Göttinger Friedhöfe 13

C. A. Besemann, Aussicht vom Walle zu Göttingen gegen Mittag, 1804.

nicht mehr vorhanden. Er wurde 1963 im Zuge der Universitätsneubauten für das Geisteswissenschaftliche Zentrum eingeebnet. Die drei Friedhöfe reichten trotz mehrmaliger Zukäufe von Land für die wachsende Stadt bald nicht mehr aus. Oberbürgermeister Georg Merkel schrieb in seinen Erinnerungen: »Bei meinem Eintreffen in Göttingen fand ich nun alle Kirchhöfe in einem solchen Zustande der Überfüllung (Gebeine wurden fast bei allen Beerdigungen zu Tage gefördert), der Vernachlässigung, Unordnung und Verwilderung, daß der Pietät, wie der Sanität in unerhörter Weise Hohn gesprochen wurde.«8 Seine ursprüngliche Idee eines großen gemeinsamen kirchlichen Friedhofs mußte er wegen massiven Widerstandes aus kirch­ lichen, bürgerlichen und politischen Kreisen aufgeben. Darauf‌hin startete er ein heftig bekämpftes Verkoppelungsverfahren städtischer Parzellen in der Feldmark, suchte Grundstücks­ zukäufe der Kirchengemeinden zu ihren Friedhöfen zu ver­ hindern und thematisierte »bei jeder Gelegenheit die Thatsache der Ueberfüllung der Kirchhöfe« und »der Sanitätswidrigkeit der Zustände in Epidemiezeiten«.9 1877 stand ein ausreichend großes Gelände westlich der Gerichtslinde zur Verfügung. Die Stimmung der Bevölkerung, vor allem in universitären Kreisen, hatte sich inzwischen zugunsten eines neuen großen Friedhofs

14  Die alten Göttinger Friedhöfe gewandelt. »Auch die katholische Gemeinde beerdigte nach anfänglichem Widerstreben, nachdem ihr kleiner Friedhof vollbesetzt war, ihre Dahingeschiedenen freundnachbarlich auf dem gemeinsamen bürgerlichen Friedhofe.«10 Planung und Ausgestaltung des Friedhofs lagen in Händen des Stadtbaurats Heinrich Gerber, für die Bepflanzung war der Stadtgartenmeister August Ahlborn zuständig. Stilistisch orientierte man sich an den neuen Parkfriedhöfen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Am 15. Dezember 1881, dem Tag der ersten Bestattung, wurde der kirchenunabhängige städtische Central-Friedhof feierlich eingeweiht. Er umfaßte die Grabfelder 1–18 und hatte eine Fläche von 7,5 Hektar. Innerhalb der nächsten vier Jahre wurden der Albani- und Bartholomäusfriedhof und 1889 der Friedhof der katholischen Gemeinde geschlossen. An der östlichen Seite des damaligen Haupteinganges des heutigen Stadtfriedhofs lag die Leichenhalle, die bis 1900 auch als Kapelle diente. Die erste Leichenhalle Deutschlands war auf Betreiben des Arztes Christoph W. Hufeland, einem Schüler und Doktoranden Georg Christoph Lichtenbergs, 1792 in Weimar eröffnet worden. Auf die Notwendigkeit einer Leichenhalle in Göttingen hatte der Stadtphysikus Adolf Ruhstrat den Magistrat der Stadt bereits in einem Schreiben vom Juli 1833 hingewiesen: »Auf den kürzlich mir in die Hände gefallenen Aufsatz von Hufeland, überschrieben der letzte Liebesdienst (1833) glaube ich das wohllöbliche Magistrats-Collegium aufmerksam machen zu müssen. Hufeland sagt nämlich darin: ›Die letzte Liebe, welche wir den Verstorbenen zu erweisen haben, besteht darin, daß wir uns nicht eher von ihnen trennen, als bis wir gewiß von ihrem Tode überzeugt sind. Das sicherste Zeichen des Todes ist die anfangende Fäulnis. Dazu gehören aber nicht, wie man gewöhnlich annimmt, 2 oder 3 Tage, sondern es können 8 und mehrere Tage darüber hingehen.‹«11 Zum selben Thema schrieb das Göttinger Wochenblatt vom 7. März 1840: »Ebenso dringend erscheint das Erforderniß eines Leichenhauses nicht bloß um durch dieses Institut die mögliche Gefahr des lebendig Begrabens zu entfernen, sondern auch, um

Die alten Göttinger Friedhöfe 15

Klingelvorrichtung zur Entlarvung eines Scheintoten, Zeichnung aus: Schwabe, Das Leichenhaus in Weimar, 1834.

den ärmeren Classen der hiesigen Einwohner, welche häufig, bei zahlreicher Familie, nur einen Wohnraum besitzen, der Noth zu überheben, bei vorkommenden Todesfällen in ihrer Familie bis zum Begräbnis der Leiche mit dieser in ein und derselben Kammer oft Tage lang zubringen zu müssen.« Die erste Erweiterung des neuen Friedhofs wurde schon im Jahr 1900 notwendig. Sie erfolgte in Richtung Westen. Auch eine Kapelle, auf die man aus Kostengründen 1881 verzichtet hatte,

16  Die alten Göttinger Friedhöfe wurde jetzt gebaut. Sie wurde nach dem Vorbild des Bismarckschen Mausoleums in Friedrichsruh bei Hamburg in byzantinisch-spätromanischem Stil errichtet. Bis 1963 folgten sechs Erweiterungen und heute umfaßt der Friedhof 36 Hektar. Insgesamt haben ca. 65 000 Bestattungen stattgefunden. Seit der Eröffnung des Parkfriedhofs Junkerberg 1977 beläuft sich die jährliche Zahl der Bestattungen auf dem alten Stadtfriedhof auf durchschnittlich 200. »Hoch oben gelegen, mit herrlicher Aussicht ins weite Leinetal und nach den umgebenden Bergen, verspricht dieser Begräbnißplatz, zumal wenn die Anpflanzungen erst weiter gediehen, einer der schönsten und durch berühmte Namen interessanten Friedhöfe zu werden.«12 Das war die Zukunft, die der Initiator Merkel am Eröffnungstag dem städtischen Central-Friedhof vorhersagte. Auf dem folgenden biographischen Rundgang über den Stadtfriedhof werden einige bedeutende Göttinger Persönlichkeiten anhand ihrer Grabstätten vorgestellt. Die Göttinger Lebenswelten der Vergangenheit werden so vor dem Hintergrund des Friedhofs wieder ein Stück weit lebendig. Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

Zitiert nach Döring, Geschichte der alten Göttinger Friedhöfe, S. 97. Vgl. Kühn, Göttingen im Dreißigjährigen Krieg, S. 656, Fußnote 11. Zitiert nach Döring, Geschichte der alten Göttinger Friedhöfe, S. 99. Ebd., S. 101. Ebd., S. 105. Ebd., S. 117. Zitiert nach Döring, Grabmäler des 18.  Jahrhunderts in Göttingen, S. 116 f. Merkel, Erinnerungen, S. 52. Ebd., S. 53. Ebd., S. 54. Zitiert nach Stadtarchiv Göttingen, Verhandlungen. Merkel, Erinnerungen, S. 55.

Georg Merkel 7. Mai 1829 — 4. September 1898

»Dem Alten vom Berge«, wie Georg Merkel auch gern genannt wurde, haben die Göttinger es zu verdanken, daß sie im bewaldeten, schattigen Hainberg, statt auf kahlen, steinigen Hügeln spazieren gehen können. In den fünfundzwanzig Jahren, die er in Göttingen tätig war, hat er die Stadt in die Moderne katapultiert, hinterließ aber zum Kummer seines Nachfolgers Georg Calsow auch beträchtliche Schulden. Merkel kam 1829 in Hannover zur Welt, wo sein Vater Karl Christoph Merkel als Schatzrat und Generalsekretär der zweiten Kammer der Hannoverschen Ständeversammlung tätig war. Der Beruf des Vaters brachte es mit sich, daß Merkel schon früh mit nationalliberalem Gedankengut in Berührung kam, was sich auf seinen späteren Lebensweg auswirken sollte. Er besuchte in Hannover das Ratsgymnasium und machte 1849 in Osnabrück sein Abitur. Wie sein Vater entschied er sich für das Jurastudium und schrieb sich an der Universität Göttingen ein, wo sein Onkel, der für seine Zerstreutheit bekannte Professor Georg Julius Ribbentrop, Rechtswissenschaften lehrte. Merkel soll dadurch aber keine Vorteile genossen haben, im Gegenteil, es heißt, sein Onkel habe ihm besonders viel abverlangt. Nach seinem ersten Staatsexamen 1852 folgte die praktische Ausbildung in der Verwaltung und am Gericht. Er erhielt überall gute Beurteilungen und legte 1855 die zweite Staatsprüfung ab. Die Tätigkeit bei Gericht hatte Merkel als »unerquicklich und unbefriedigend«1 empfunden, und deshalb entschied er sich für eine Lauf‌bahn in der Verwaltung. Er fand eine Anstellung als Stadtsekretär der Königlichen Residenzstadt Hannover, eine Beschäftigung, die er, der sich politisch im liberalen und gemäßigt demokratischen Spektrum bewegte, länger als geplant ausüben mußte. »Ich hatte 1856 den städtischen ­Posten

18  Georg Merkel nur ­angenommen, um dort als junger Beamter den Communaldienst kennen zu lernen und praktisch mich volkswirtschaftlich auszubilden. Aber – der allmächtige Minister von Borries hatte ausdrücklich erklärt: ›Der Stadtsecretär Merkel als Mitglied des Nationalvereins wird niemals in irgendeinem Staatsdienst angenommen.‹ So war ich zehn Jahre lang an meine arbeitsreiche Stadtsecretärstelle und die widerwärtige, unglückselige, kleinstaatliche Oppositionspolitik gebannt, die damals mit Gefahren verknüpft war, welche jetzt der im politischen wie sozialen Wohlleben schwimmende Liberale gar nicht kennt«, schrieb er in seinen Erinnerungen von 1897.2 Gleich nach seiner Gründung 1859 war Merkel in den Deutschen Nationalverein eingetreten. Im Januar 1856 hatte Merkel Sophie, die Tochter des Göttinger Chemieprofessors Friedrich Wöhler, geheiratet. Das Paar bekam fünf Töchter, von denen eine kurz nach der Geburt starb. Durch seine Schwiegereltern blieb Merkel seiner Studienstadt weiter eng verbunden. Franziska, die älteste Tochter, erinnerte sich gern an die Weihnachtsfeste bei den Göttinger Großeltern. Die Fahrten dorthin prägten sich ihr besonders ein. »Da mußten wir große Strecken über das ›große Wasser‹, so hießen für uns die Überschwemmungsstrecken zwischen Salzderhelden und Elze. […] Das Wasser stand oft zu beiden Seiten an den Schienen und schlug dann bis an die Räder hinauf.«3 Nach der Schlacht bei Langensalza 1866, die das Ende des Königreichs Hannover bedeutete, wurde Merkel von der Stadt Hannover und der preußischen Regierung für fünf Monate mit der Organisation und Verwaltung der Lazarette Langensalzas und der umliegenden Dörfer beauf‌tragt. Zuvor war er nach dem Sturz des Ministers Borries 1865 in den Staatsdienst aufgenommen worden. Anfang 1867 trat er seine Stelle als Regierungsrat im Statistischen Amt in Berlin an und noch im selben Jahr wurde er Mitglied der neu gegründeten Nationalliberalen Partei. Von Berlin aus bewarb Merkel sich erfolgreich auf die öffentlich ausgeschriebene Stelle des Syndikus in der Heimatstadt seiner Frau. Nach fünfzehn Jahren in der Verwaltung trat er am 24. September 1868 sein Amt als Göttinger Stadtsyndikus

Georg Merkel 19

an. »So kamen wir für immer in das gute, alte Nest mit seinen schwebenden Öllaternen und seinem die Straßen unsicher machenden Rindvieh«, erinnerte sich seine Tochter Franziska.4 Sie bezogen zunächst ein Gartenhaus im Düsteren Eichenweg 15. Merkel kam mit der Vorstellung, »daß diese Stadt hoher Intelligenz […] ausgestattet sein werde mit allen communalen Einrichtungen in vollkommenster Weise, so daß mir freie Zeit genug bleiben werde, um fleißig das abgebrochene Studium der Volkswirtschaft wieder aufzunehmen […]. Diese Hoffnung mußte ich aber nach wenigen Wochen völlig aufgeben, indem ich mich zu meinem Erstaunen davon überzeugen mußte, daß auch Göttingen und seine Verwaltung an der allgemeinen Versumpfung des deutschen Städtewesens seit dem dreißigjährigen Kriege leide, daß es ganz arm an communalen Einrichtungen auf allen Gebieten, und daß hier Alles zu schaffen sei bei beschränkten Mitteln.«5 Seine Anregungen scheiterten zunächst

20  Georg Merkel »vollständig an den kleinbürgerlichen Anschauungen der Vertreter der Bürgerschaft. […] Das ganze Jahr war ein thatenloses […]«6. Nur die Anstellung eines Stadtbaumeisters konnte er durchsetzen. Es war »der mir wohlbekannte Ingenieur Gerber aus Hannover«.7 Nach Abschluß seines Studiums hatte Heinrich August Anton Gerber in Paris, Rio de Janeiro und Madrid gearbeitet. Zurück in Hannover wurde er mit dem Bau der Bahnstrecke Göttingen – Dransfeld – Münden betraut. Zusammen mit ihm führte Merkel die Stadt in den kommenden gut zwanzig Jahren in die Moderne. Im Dezember 1870 wurde Merkel nach dem Tod des bisherigen Stadtoberhauptes Heinrich Wunderlich einstimmig zum Bürgermeister gewählt, im November 1885 wurde er zum Oberbürgermeister ernannt. Das erste große Modernisierungsprojekt, dem er sich zuwandte, war der Bau einer Wasserleitung. Gutes Trinkwasser gab es nur im Reinsbrunnen, »der damals noch bei dem jetzigen kleinen Feuerteich8 als Quelle erschien und in ein Steinbassin endigte. Man stieg drei Stufen hinunter und konnte dann das Wasser schöpfen.«9 Doch der Weg dahin war weit. Deshalb kam der weitaus größte Teil des Wassers, sowohl zum Trinken als auch zu allen anderen Zwecken, aus den Pumpbrunnen in den Höfen und auf den Straßen. Als zwischen 1869 und 1871 in einigen Göttinger Stadtteilen Typhusfälle auf‌traten, ließ Merkel die Brunnen durch das chemische Institut seines Schwiegervaters Wöhler untersuchen. Die unmittelbare Nähe der meisten Brunnen zu den Aborten und Viehställen stellte sich als Ursache für die Verunreinigung des Wassers heraus. Die Ärzteschaft drang auf baldige Abhilfe, wobei sie von Merkel, der inzwischen von der Presse für die Todesfälle persönlich verantwortlich gemacht wurde, volle Unterstützung erhielt. Aber »die ganze ältere Generation, unter den bestehenden Verhältnissen alt geworden, hielt die Anforderungen der ›modernen Hygiene‹ für übertrieben und konnte zum Entschlusse des Baues einer Trinkwasserleitung […] nicht kommen«10. Ein weiterer Umstand half ihm dann aber doch, das Projekt in Angriff zu nehmen. Seit dem Mittelalter führte eine hölzerne Rohrleitung das Wasser aus der Reinsbrunnenquelle zu den beiden Brauhäusern in der Wenden- und Gronerstraße und zum Marktbrun-

Georg Merkel 21

nen. Sie bestand aus gebohrten Buchenstämmen aus dem Göttinger Wald und war an vielen Stellen undicht geworden. Als im Jahr 1872 Wasser besonders häufig in der Roten Straße und der Langen Geismarstraße austrat, wo die beiden heftigsten Widersacher gegen den Bau einer Wasserleitung wohnten, konnte Merkel zusammen mit Baurat Gerber die städtischen Kollegien endlich von der Notwendigkeit der Baumaßnahmen überzeugen. Gerber hatte die Pläne schon länger fertig, und man begann zügig mit dem Verlegen der Eisenrohre. Die erste Hauptleitung wurde von der Reinsquelle durch die Wenden- und die Rote Straße zum Marktplatz verlegt. Sie speiste einige öffent­ liche Brunnen und war mit Hydranten versehen, mit deren Hilfe Feuer schnell gelöscht und die Gossen gespült werden konnten. »Die Presse war des Lobes voll und so förderten der allgemeine Beifall und die Eifersucht der übrigen Stadttheile das große Unternehmen ungeahnt rasch.«11 Nachdem alle Straßen und danach die Häuser an die Wasserversorgung angeschlossen waren, wurden fast alle öffentlichen Brunnen stillgelegt. Als alle Haushalte aus der Reinsquelle versorgt wurden, reichte deren direkter Zufluß nicht mehr aus. Der Bau eines Wasserreservoirs am Ende des Hainholzweges, das 1877 in Betrieb genommen wurde, sollte dieses Problem lösen. Doch die Reinsquelle war nicht ­leistungsfähig genug, weshalb die Wassermenge schwankte und eine zuverlässige Versorgung nicht gewährleistet war. Daher suchte man in der Leineniederung nach hygienisch einwandfreiem Grundwasser und wurde östlich der Stegemühle fündig. Von dort wurde das Wasser mittels einer Pumpstation durch eine 3 000 Meter lange Rohrleitung in den Wasserbehälter am Hainberg gepumpt und führte, da es weicher war, zu einer Verbesserung der Wasserqualität. Die nächste große Maßnahme war der Bau der Kanalisation. »Bisher liefen alle Abwässer aus den Küchen und Waschhäusern, aus den Spitälern, Schlachtereien, Brauereien, aus den Ställen in die offenen Gossen hinab in den Leinekanal. Da aber der Zustand der gepflasterten Gossen ein höchst mangelhafter war und mangels eines ordentlichen Gefälles, namentlich in den unteren Stadttheilen der Inhalt in den Gossen stagnierte und in den Boden drang, so stand Göttingen wegen seiner

22  Georg Merkel ›stinkenden Gossen‹ in schlechtem Rufe.«12 Auch die Abwässer der Universitätsinstitute und Kliniken wurden oberirdisch entsorgt. Die Hoffnung, die Straßen ausreichend mit Hilfe der Hydranten reinigen zu können, hatte sich nicht erfüllt. Sämt­ liche Brauchwasser und ein Teil des Regenwassers sollten durch ein unterirdisches Kanalsystem 3 100 Meter von der nördlichen Stadtgrenze entfernt in die Leine eingeleitet werden. Ausgenommen davon waren »die menschlichen und thierischen Auswurfstoffe, welche durch eine geregelte Abfuhr beseitigt werden sollen«13. Diese Arbeiten wurden 1884 begonnen und 1890 zum Abschluß gebracht. Anschließend wurden die Straßen neu gepflastert. Schon während seiner Zeit als Syndikus hatte Merkel sich mit dem Thema Hainberg-Bewaldung beschäftigt, obwohl es nicht in seinen Arbeitsbereich fiel. Er bezeichnete die Bewaldung als seine »interessanteste aber auch schwierigste Aufgabe, die in Göttingen anzugreifen und vollkommen zu vollenden ich das seltene Glück hatte […] Um diesen Erfolg selbst ganz zu erleben, dazu gehört eben eine Seßhaftigkeit von etwa 30 Jahren an einem Orte.«14 Den kahlen Hainberg beschrieb Merkel folgendermaßen: »Der Anblick der Wüste ist kaum trost- und hoffnungsloser als der Blick auf die in brennender Sonne glänzenden öden, grauen Kalkhänge, welche unmittelbar vor den Stadttoren im Osten und Norden sich erheben.«15 Calcaire de Goettingue nannte Alexander von Humboldt das Gestein des Hainbergs. Abholzungen im 14. Jahrhundert und Beweidung durch Kühe, Ziegen, Schweine und große Schaf‌herden hatten diesen Zustand des Geländes oberhalb der Stadt verursacht. Seit der Mitte des 18.  Jahrhunderts hatte es mehrere Auf‌forstungsversuche gegeben, zunächst auf Initiative von Professoren und Studenten hin. Sie pflanzten 400 junge Eichen und versuchten es danach mit Buchen. Beides scheiterte. Schuld waren die schlechte Bodenqualität, aber vor allem die Beschädigung durch die Weidetiere und mutwillige Zerstörung durch die Viehhalter. Merkel schrieb 1897 von etwa dreißig »alten Herren«, die »Wind und Wetter, Thieren und Menschen zum Trotz, im 200. Semester

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stehen«16, und die als einzige die ersten Anpflanzungen überlebt haben, einige sogar bis heute. Vorbild für eine erfolgreiche Auf‌forstung war für Merkel der Baumeister Rohns. »Der Mann hat gezeigt, wie man es anzufangen hat! Schafe fort und möglichst dicht pflanzen […].«17 Rohns hatte in der Nähe seines 1830 eröffneten Gasthauses auf einer vorspringenden Bergplatte am Rand des Hainbergs von der Stadt gegen einen jährlichen Erbzins ein steiniges, ödes Gelände erhalten, auf dem er ein Wäldchen anlegen wollte. Er fand die Schäfereien ab, baute eine Mauer um sein Gelände, bepflanzte es so dicht wie möglich und hatte damit Erfolg. Merkel beschritt den gleichen Weg, hatte aber bis zur endgültigen Ablösung der Hut- und Weidegerechtsame große Widerstände zu überwinden. Es kam zu offener Feindschaft mit den Berechtigten, und in der Nacht nach dem entscheidenden Ablösungstermin im Jahr 1874 wurden in seinem Garten sämtliche Rosenstämme abgeschnitten. Eine weitere wesentliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Auf‌forstung war das Festhalten des Regen- und Schneewassers am Berg. »Häufige Beobachtungen lehrten, daß die kräftigsten Gewitterregen, auf die trocknen öden Kalkhänge fallend, ohne einzudringen rasch in die Molkengrund, Lange Nacht und Steinsgraben benannten Schluchten unter Mitnahme von guten Bodentheilen abliefen und in plötzlichen Bergströmen die ganze gelbe Wassermasse binnen einer halben Stunde zur Leine hinabstürzten […] Nach solchen Erfahrungen begriff ich das rasche, so viele Verwüstungen anrichtende Anschwellen der Leine und Weser wie aller großen deutschen Flüsse in den untern Läufen. Diese Verwüstungen verdanken die untern Flußbewohner solchen unvernünftigen Zuständen, wie sie, nach Entwaldung der Berge, ähnlich wie in Göttingen, fast im ganzen Oberlande zu beklagen sind.«18 In den Schluchten wurden an die achtzig Querdämme gelegt. »Es ist ein herzerhebender Anblick, wenn man jetzt nach einem heftigen Regen die Schluchten, namentlich der Langen Nacht hinuntersieht und der Blick auf einer ganzen Reihe von blinkenden Wasserbassins ruht, in welchen das segenbringende Naß so lange steht, bis es allmählich­ in den Berg versinkt.«19 Zusätzlich wurden oben am Hang

24  Georg Merkel Querrillen gezogen, in denen das Wasser gestaut wurde und, wenn der Graben voll war, in die darunterliegende Rille rieselte. Dadurch wurde der Boden festgehalten, und es konnten sich erste Pflanzen ansiedeln. Auch die Quellen wurden durch diese Maßnahmen verstärkt und lieferten so mehr Wasser für die Versorgung der Stadt. Am 11. April 1871 pflanzte Merkel im Beisein der Göttinger Schüler und der Turnerschaft die »Friedenseiche« in der Nähe des Reinsbrunnens. Mit diesem feierlichen Akt begann die Bewaldung des Hainberges. Gepflanzt wurde möglichst dicht, um den Boden zu beschatten, und vielfältig, vor allem mit Weichhölzern wie Erle, Akazie, Birke und an einigen Stellen Kiefern. So entstand im Laufe der Jahre eine ausreichende Humusdecke, die die spätere Anpflanzung von wertvolleren Nutzhölzern wie Ahorn und Esche ermöglichte. Endzweck aber war »der Buchenwald auf seinem Lieblingsboden, dem Kalkboden«.20 ­Merkel wußte, daß sein persönlicher Einsatz für das Gelingen der Auf‌forstung notwendig war. Deswegen ging er jeden Morgen von Sonnenaufgang bis Dienstbeginn im Rathaus gegen acht oder neun Uhr mit Gartengerät auf den Berg, um die A ­ rbeiten tatkräftig zu begleiten. Auf seinen häufigen Spaziergängen in späteren Jahren im Hain­ berg ließ er sich gern von Agathe Schütte, geborene v. Siebold, der Jugendliebe von Johannes Brahms, begleiten. Dabei hatte er immer Samenkörner in seiner Tasche, die er in Bayern, Thüringen oder auch im Ausland gekauft hatte. Sie wurden auf den Lichtungen ausgesät, so daß man dort noch heute so seltene Blumen wie Alpenveilchen, Enzian, das Tausendgüldenkraut oder auch Orchideen finden kann. Auch der dort wachsende Waldmeister ist Merkel zu verdanken.21 Als schattiger Verbindungsweg zwischen dem Hainholzweg mit seinen Alleebäumen und dem Wald wurde 1880 an der Nordseite der heutigen Schillerwiese, die bis 1905 Ackerland war, die Kaiserallee angelegt. Ein ähnlich schwieriges Unternehmen wie die Auf‌forstung war die Verkoppelung der Feldmark, die in 5 261 einzelne Parzellen zersplittert war. Auch hierbei hatte Merkel gegen starke Gegner anzukämpfen. Bei einer Sitzung mußte er sogar »Gensdarmen zuziehen und in einem anderen wilden Termine einen

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damaligen angesehenen Bürgervorsteher in erheblich steigende Geldstrafen nehmen!«22 Nach Abschluß der Maßnahme, die auch notwendige Voraussetzung für die Anlage des Stadtfriedhofs war, wünschte sich aber niemand die alten Zustände zurück. Ab Mitte der siebziger Jahre wandte Merkel sich der Neu­ organisation des Schulwesens zu. Das noch dem Mittelalter entstammende Gymnasium, das eine große finanzielle Belastung bedeutete, gab er an die preußische Regierung ab und konnte sich so der Förderung des Volksschulwesens widmen. Er hielt die Unterhaltung »dieser gelehrten hohen Schulen aus der Steuerkraft aller Bürger für eine Ungerechtigkeit, […] weil die oberen selbst sich besser zu helfen wissen«23. Es war ihm wichtiger, für die ärmere Bevölkerung zu sorgen. Deshalb wurden zunächst zwei neue große Schulgebäude gebaut, in denen die bisherigen »fünf kleinen dunkeln, schmutzigen Parochialschulen«24, die Schulen der einzelnen Kirchengemeinden, zusammengeführt wurden. 1879 konnte die östliche Volksschule (Albanischule) und 1880 die westliche Schule (Jahnschule) eingeweiht werden. Es folgten der Bau der Mittelschule an der Bürgerstraße und der Höheren Töchterschule an der Nikolaistraße. Die neuen sauberen Gebäude mit Zentralheizung und guter Belüftung waren auch für die Gesundheit der Kinder von Vorteil. Auf das Thema Hygiene wurde inzwischen ein solches Augenmerk gelegt, daß die Universität einen Lehrstuhl eigens dafür eingerichtet hatte. Aber »was helfen alle diese hygienischen Einrichtungen, wenn nun in diese gesunden Räume schmutzige Kinder mit allen möglichen Infektionskeimen am Körper und in den Kleidern hineinkommen?!«25 Damit war die Idee des Schulbadewesens geboren. Als erste Schule Deutschlands wurde 1884 die Albanischule mit Duschen ausgestattet. Für diese Duschen entwickelte der Göttinger Kupferschmiedemeister Holzapfel einen Mischapparat für warmes und kaltes Wasser und erhielt dafür 1887 das Reichspatent Nr. 41189.26 Dem freiwilligen Duschen entzog sich bald kein Kind mehr. Auch die Kleidung der Kinder wurde gepflegter, denn »da darf es beim Ausziehen keine allzu schmutzigen Hemden geben. ›Das sehen sonst die anderen Kinder, der Badewärter, die Oberaufsicht führenden Lehrer und

26  Georg Merkel Lehrerinnen‹, das sind so die Worte der Kinder zu Hause – und die Eltern werden mit den Kindern erzogen, sie mögen wollen oder nicht; sie werden an ihrer schwächsten Seite der Eitelkeit und Eifersucht gegen ihre näheren und ferneren Nachbarn gefaßt. Wenige Familien sind so verhärtet, daß sie sich diesem indirect erziehlichen Einfluß zu entziehen vermöchten, höchstens solche, in denen der Branntwein seine Verwüstungen angerichtet und jede Regung von Ehrgefühl getödtet hat.«27 Zum Vorbild für andere Schulen wurde die Albanischule als Modellschule auf der Weltausstellung 1893 in Chicago gezeigt. Merkel kümmerte sich des Weiteren um das Feuerlöschwesen, um den Bau eines Schlachthauses sowie als begeisterter Turner um das Errichten einer Turnhalle. Zudem wurde unter seiner Regie das Rathaus restauriert und der Stadtfriedhof angelegt, und schließlich setzte er sich für den Bau eines Theaters ein. Bis auf das Theater, dessen Bau der Berliner Architekt ­Gerhard Schnittger übertragen bekam, lagen alle Baumaßnahmen in den Händen von Baurat Heinrich Gerber. Merkel hatte eine schuldenfreie Stadt übernommen, da König Ernst August verlangt hatte, daß nur das ausgegeben werden dürfe, was auch eingenommen wurde, weil kommunale Schulden nur schwer wieder abzutragen wären. Die von ihm ver­anlaßten Maßnahmen kosteten viel Geld, so daß er seinem Nachfolger Calsow einen großen Schuldenberg, aber auch eine aus dem Mittelalter in die Moderne geführte Stadt hinterließ. Trotz seiner immensen Arbeitsbelastung war Merkel ein liebevoller Vater und Großvater. Hin und wieder nahm er seinen kleinen Enkel Fritz in das Rathaus mit, wo dieser dann mit am grünen Tisch im Sitzungsaal sitzen durfte. Auch als Bismarck mit dem Zug durch Göttingen fuhr, nahm der begeisterte Bismarckverehrer Merkel ihn mit zum Bahnhof. Tochter Franziska schilderte die Szene: »Großvater hielt Dich zu dem Fenster des Fürsten empor, und ich hörte, wie er Dich demselben vorstellte. Der große Mann ergriff eines Deiner kleinen Händchen und legte sie in seine Hand und hielt sie fest, so lange Großvater mit Bismarck sprach.«28 Im Herbst 1893 ließ sich Merkel, der inzwischen gesundheit­ liche Probleme hatte, pensionieren. Kurz vor seinem Tod wollte

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er noch einmal von seinem Berg und den Bäumen Abschied nehmen. Er ließ sich von Stadtgartenmeister August Ahlborn die Kaiserallee hinauf‌begleiten, schaffte es aber nur bis zur Mitte. »Führen sie mich wieder zurück,« sagte er mit feuchten Augen, »es geht nicht mehr; ich komme nicht mehr hinauf.«29 Am 4. September 1898 verstarb Georg Merkel im Alter von 69 Jahren. Er wurde bei seiner dreizehn Jahre vor ihm verstorbenen Frau Sophie beigesetzt. Daneben befindet sich die Familiengrabstätte seines Schwiegervaters Friedrich Wöhler, und auch seine Tochter Franziska und deren Ehemann Julius Rosenbach fanden 1936 und 1923 dort ihre letzte Ruhe. Die Göttinger Bürger legten Merkel als letzten Gruß Tannen- und Eichengewinde aus seinem geliebten Hainberg auf sein Grab. Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23

Queisser, Der Sprung ins 20. Jahrhundert, S. 61. Merkel, Erinnerungen, S. 9. Zitiert nach Rosenbach, Erinnerungen, S. 8 f. Ebd., S. 53. Merkel, Erinnerungen, S. 3. Ebd. Ebd., S. 3 f. Östlich des Schwänchenteichs. Rosenbach, Erinnerungen, S. 11. Merkel, Erinnerungen, S. 19. Ebd., S. 21. Ebd., S. 26. Ebd., S. 27. Ebd., S. 91. Ebd., S. 93. Ebd., S. 99. Grabenhorst / Saathoff, Göttingen, die Universitätsstadt im Grünen, S. 95. Ebd., S. 94. Ebd., S. 95. Ebd., S. 99. Vgl. Michelmann, Agathe von Siebold, S. 291 u. Brieke, Georg Merkel und seine Zeit, S. 53. Merkel, Erinnerungen, S. 33 f. Ebd., S. 41.

28  Georg Merkel 24 25 26 27 28 29

Ebd., S. 85. Ebd., S. 82. Vgl. Tageblatt vom 29.12.1989. Merkel, Erinnerungen, S. 86. Zitiert nach Rosenbach, Erinnerungen, S. 72. Zitiert nach Tecklenburg, Der Göttinger Hainberg, S. 34.

Friedrich Wöhler 31. Juli 1800 — 23. September 1882

»Probieren geht über Studieren.« Diesen Satz hat Friedrich ­Wöhler geprägt, der die Göttinger Chemie zu Weltruhm geführt hat. 1 Probiert hat er schon als fünfzehnjähriger Schüler in der Waschküche seines Elternhauses, die er sich als provisorisches Chemielabor hatte einrichten dürfen, obwohl seine Experimente nicht immer ungefährlich waren. Sichtbares Zeichen dafür waren zeitlebens die Narben an seiner Hand, die er sich bei einem seiner vielen Versuche zugezogen hatte. Wöhler wurde am 31. Juli 1800 als Sohn des fürstlichen Stallmeisters August Anton Wöhler, der Tierarzneikunde und Landwirtschaft studiert hatte, in Eschersheim bei Frankfurt geboren. Die Familie lebte einige Jahre am Hof des Herzogtums Sachsen-Meiningen, wo der Vater nicht nur die Landwirtschaft reformierte, sondern auch Intendant des berühmten Hof‌t heaters war. Zunächst unterrichtete er seinen Sohn selbst. Zurückkehrt nach Frankfurt, besuchte Wöhler dann das humanistische Gymnasium. Sein Interesse für die Naturwissenschaften und besonders für die Chemie wurde von einem Freund seines Vaters, dem Mediziner und Privatgelehrten Dr. Buch, geweckt. Das Sammeln von Mineralien und das Durchführen chemischer Versuche wurden nun seine Leidenschaft, »seine Stube […] verwandelte sich nach und nach in ein Laboratorium voller Gläser, Retorten, Kolben und Steine, alles in größter Unordnung«2. Wenn er nicht mit seiner kleinen Schwester als Assistentin in der heimischen Waschküche experimentierte, ließ Wöhler sich im Privatlabor von Dr. Buch in die experimentelle Chemie einweisen. An den Ausgaben für die dafür benötigten Materialien beteiligte er sich mit seinem Taschengeld, und den dann noch übriggebliebenen Rest gab er für chemische Geräte und Chemiebücher aus. Bei einem der gemeinsamen

30  Friedrich Wöhler Versuche isolierten Buch und Wöhler aus Rohzink Cadmium, das 1817 von Friedrich Stromeyer entdeckt worden war. Voller Begeisterung ging Wöhler zu Fuß nach Göttingen, um Strohmeyer das selbst hergestellte Cadmiummetall zu zeigen. 1836 sollte Wöhler nach Strohmeyers Tod Nachfolger auf dessen Lehrstuhl werden. 1820 begann er das Studium der Medizin in Marburg. Noch war die Chemie kein eigenständiges Fach, sondern ein Bereich der Medizin. Weil sein Marburger Professor Anstoß daran nahm, daß er sich mehr der Chemie als der Medizin widmete, wechselte Wöhler nach Heidelberg. Nach seiner Promotion zum Doktor der Medizin im Jahr 1823 ging er auf Anraten seines Heidelberger Professors Leopold Gmelin für ein Jahr zu Jens Jakob Berzelius, dem damals bedeutendsten Chemiker, nach Stockholm. Wöhler wollte seine Kenntnisse vertiefen und sich anschließend ganz der Chemie widmen. Bis zum Tod von Berzelius 1848 pflegten beide trotz des großen Altersunterschieds einen engen freundschaftlichen Kontakt. Nach seiner Rückkehr verzichtete er auf die zunächst angestrebte Habilitation und nahm die Stelle eines Lehrers für Chemie und Mineralogie an der neu gegründeten städtischen Gewerbeschule in Berlin an, verbrachte aber weiterhin viel Zeit mit dem Experimentieren im Labor. Die Jahre 1827 und 1828 machten Wöhler weltberühmt. Zunächst gewann er als Erster reines metallisches Aluminium, und ein Jahr später gelang ihm die Synthese des Harnstoffs. Mit dieser Synthese wurde das anorganische Ammoniumcyanat in den organischen Harnstoff umgewandelt und damit die Vorstellung widerlegt, daß organische Verbindungen nur durch eine nicht erklärbare Lebenskraft, die »vis vitalis«, oder einen göttlichen Funken zustandekommen können.3 Diese Umwandlung bezeichnete schon Wöhlers Zeitgenosse Justus von Liebig als den Beginn der organischen Chemie. Zwischen dem temperamentvollen und impulsiven Liebig und dem harmoniesuchenden, bedächtigen und zurückhaltenden Wöhler war es zunächst zu fachlichen Kontoversen gekommen, die aber durch persönliche Gespräche ausgeräumt werden konnten und letztlich zu enger Freundschaft und Zusammenarbeit führten.

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Die geglückte chemische Synthese teilte Wöhler seinem Lehrer und Freund Berzelius in einem Brief mit: »Ich kann sozusagen mein chemisches Wasser nicht halten und muß Ihnen sagen, daß ich Harnstoff machen kann, ohne Nieren und überhaupt ein Tier, sey es Mensch oder Hund, nöthig zu haben.«4 Ein Ausgangsstoff für die Untersuchungen mit Harnstoff, die sich über viele Jahre hinzogen, war Schlangenkot. Wöhler nutzte jede Möglichkeit, um ihn zu erwerben. So z. B. die Kassler Messe 1838, auf der eine Riesendame mit einer großen Schlange auf‌trat, die wie alle Lebewesen »von Zeit zu Zeit ihre Notdurft verrichtet«, wie er einem Freund in Frankfurt schrieb: »Der Dreck, den sie dabei von sich giebt, hat für mich grossen Werth – ich meine damit die weisze Masse, die der Harn ist, wie Du weiszt, und aus Harnsäure besteht.« Da die Riesendame anschließend auch in Frankfurt auf‌trat, bat Wöhler seinen Freund, »alles davon zu kaufen, was Du nur bekommen kannst, auch dabei auf

32  Friedrich Wöhler jeden Dreck zu pränumerieren und Beschlag zu legen, den die Schlange während ihres Aufenthaltes in Frankfurt von sich geben wird. Je mehr ich bekommen kann, um so besser, ich würde einen ganzen Wagen voll nehmen. […] Was Du bekommen hast, schicke mir durch die Post […]«5. Harnstoff bildete die Grundlage für künstlichen Dünger sowie für die Herstellung von Heilstoffen. Außerdem konnten Farbstoffe, die man bis dahin nur aus großteils eingeführten Pflanzen gewonnen hatte, jetzt künstlich und damit kostengünstiger hergestellt werden. In der Folge entstanden Farbenkonzerne und Wöhler wurde zum ­»Vater der Aluminium-Industrie«.6 Sein Aufenthalt in Berlin wurde durch die Cholera-Epidemie von 1832 beendet. Wöhler, seit 1830 verheiratet mit seiner Kusine Franziska, der Tochter des Staatsrats Theodor Wilhelm Wöhler, fürchtete um die Gesundheit seiner Frau und seines gerade geborenen Sohnes und ging nach Kassel, wo er eine Anstellung an der höheren Gewerbeschule fand. Ein Jahr später verlor er seine Frau durch die Geburt seiner Tochter Sophie. Um Wöhler von seinem Kummer abzulenken, lud Liebig ihn zu gemeinschaft­ lichen Arbeiten nach Gießen ein. Tochter Sophie heiratete später Georg Merkel, wodurch Wöhler der Schwiegervater des Göttinger Oberbürgermeisters wurde. 1836 bekam Wöhler auf Betreiben von Berzelius, Gauß und Weber einen Ruf auf den Lehrstuhl des im Jahr zuvor verstorbenen Professor Strohmeyer in Göttingen. So erfüllte sich sein zunächst zurückgestellter Wunsch, Hochschullehrer zu werden doch noch. Bis zu seinem Tod arbeitete Wöhler als Professor für Chemie und Pharmazie an der Göttinger Universität. Mit Julie, seiner zweiten Frau, zog er in die Direktorenwohnung im ersten Stock des Chemischen Laboratoriums in der Hospitalstraße ein. Zur Freude der Siebold-Töchter lebten nun auch Kinder im Nachbarhaus. Zu dem Sohn und der Tochter aus seiner ersten Ehe kamen noch vier Mädchen. Die Wöhlerund die Sieboldkinder wuchsen miteinander auf, und die beiden ältesten Mädchen waren die Freundinnen von Agathe von Siebold. Man traf sich in den Gärten, die durch eine Pforte miteinander verbunden waren. Die Väter kannten sich schon länger und waren Duzfreunde. An manchen Abenden traf man sich

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bei den Wöhlers zum Whist. Das Spiel mußten auch die Mädchen beherrschen, um notfalls einspringen zu können. Viele Jahre später diente Agathe, die Englisch, Französisch und Italienisch sprach, ihrem alten Freund Wöhler manchmal als Dolmetscherin. Wöhler war auch in Göttingen weiterhin sehr erfolgreich tätig, sowohl in der Forschung als auch in der Lehre. Er untersuchte u. a. Opiumbasen und isolierte als erster Kokain. Ein Kollege sagte über ihn: »er hat wie kein anderer das Gesamtgebiet der Chemie in seinem ganzen Umfange nach angebaut«7, und Justus von Liebig urteilte: »eine Schärfe der Beobachtung vereinigte sich in ihm mit einer künstlerischen Geschicklichkeit und einer Genialität in der Auf‌findung neuer Mittel und Wege der Untersuchung oder Analyse, wie sie wenige Menschen besitzen.«8 Wöhler veröffentlichte während seiner Zeit als Göttinger Hochschullehrer fast 400 wissenschaftliche Abhandlungen. Unter ihm wurde die Göttinger Chemie weltweit bekannt. Zwischen 1845 und 1870 bildete er 8 200 Studenten aus aller Welt aus,9 und in seinem Laboratorium arbeiteten zeitgleich bis zu achtzig Praktikanten. Das 1783 in den Garten des ehemaligen Hospitals St. Crucis­ am Geismartor gebaute Chemische Laboratorium, für dessen Fundament man die Steine der abgerissenen Kapelle verwandte, wurde 1842 zum ersten Mal erweitert. Sein Hörsaal war für 80 Zuhörer ausgestattet und das Laboratorium bot Arbeitsplätze für bis zu 40 Praktikanten. Die zweite Erweiterung erfolgte schon 1858. Bei der dritten Erweiterung, vier Jahre nach Wöhlers Tod, mußte der städtische Turnplatz dem neuen Anbau weichen. Die Chemischen Institute reichten jetzt vom Accouchierhaus an der Kurzen Geismarstraße bis zur Nikolaistraße. Bis auf das Ursprungsgebäude wurden alle Gebäude 1977 abgerissen. An der Stelle des Instituts von 1842 steht heute das Wöhler-Denkmal, zu dessen Füßen die Formel des Harnstoffs in den Boden eingelassen ist. Das Gebilde hinter seinem rechten Fuß stellt ein Stück Aluminium dar. Wöhler ist vielfach geehrt worden. Die Stadt Göttingen verlieh ihm das Ehrenbürgerrecht, das vor ihm nur Bismarck und der Physiker Wilhelm Weber erhalten hatten. Sein Schwieger-

34  Friedrich Wöhler sohn Georg Merkel beschrieb ihn in seiner Rede zur Verleihung als »bescheidenen, liebenswürdigen, herzensguten und edlen Bürger«, der von jedem Göttinger geliebt würde.10 Seine Studenten brachten ihm zum 70. und 80. Geburtstag einen Fackelzug. »Der Fackelzug zum 80. Geburtstag war besonders schön«, schrieb seine Enkeltochter Franziska, die älteste Tochter von Merkel: »Die Chemiker hatten statt der gewöhnlichen Fackeln Magnesiumfackeln, die mit ihrem roten, blauen, grünen und violetten Licht ganz wunderbar leuchteten.«11 Wöhler ging völlig in seiner Arbeit auf, worauf sich vielleicht seine Zerstreutheit in Alltagsdingen zurückführen läßt. So soll er sich, zum Unverständnis seiner Mitbürger, immer wieder in dem zu der Zeit doch sehr überschaubaren Göttingen verirrt haben. Laut Emilie Wöhler erfreute er sich bis in sein hohes Alter einer guten Gesundheit: »Er hatte einen vortreff‌lichen Schlaf und konnte mit unbewaffnetem Auge noch abends bei Licht lesen. Freunde, die am 31. Juli 1882 […] ihn beglückwünschten, bat er im Scherz, an seinem 90. Geburtstag wiederzukommen. Am 13.  September ergriff ihn ein plötzliches Unwohlsein, das sich zu einer bedenklichen, ruhrartigen Krankheit steigerte und am 23. September, morgens um 10 Uhr, dem teuren Leben das Ziel setzte.«12 Wöhler starb im Alter von 82 Jahren und wurde auf dem Stadtfriedhof beigesetzt. Seinem Wunsch entsprechend bedeckt eine einfache Steinplatte sein Grab. Vier Jahre später folgte ihm seine Frau Julie. Hinter der Grabstätte der Eltern befinden sich die Gräber der unverheiratet gebliebenen Töchter Helene und ­Emilie. Fast sechzehn Jahre später fand sein Schwiegersohn ­Georg Merkel auf der benachbarten Grabstelle seine letzte Ruhe. Anmerkungen 1 2 3 4 5 6

Vgl. Göttinger Monatsblätter 103, S. 11. Wöhler, Die Familie Wöhler, S. 20. Vgl. Glemser, Friedrich Wöhler, S. 201. Zitiert nach Göttinger Monatsblätter 57, S. 12. Göttinger Monatsblätter 35, S. 13. Erinnerungen an Friedrich Wöhler. In: Informationsblatt der Alcan Aluminiumwerke.

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Glemser, Friedrich Wöhler, S. 203. Zitiert nach ebd., S. 202 f. Vgl. Meinhardt, Die Universität Göttingen, S. 59. Zitiert nach Glemser, Friedrich Wöhler, S. 204. Rosenbach, Erinnerungen, S. 70 f. Wöhler, Die Familie Wöhler, S. 24.

Agathe von Siebold 5. Juli 1835 — 2. März 1909

Als Jugendliebe und heimliche Verlobte von Johannes Brahms sollte Agathe von Siebold in die (Musik)Geschichte eingehen, denn für sie hat er viele Lieder komponiert. Am 5.  Juli 1835 kam Sophie Luise Bertha Agathe von Siebold als zweite Tochter in einer musikbegeisterten Familie zur Welt. Ihr Vater Eduard von Siebold, Professor der Medizin und Geburtshilfe, war Direktor der ersten Universitätsfrauenklinik im deutschsprachigen Raum, der »Königlichen Entbindungsanstalt auf der Universität Göttingen«, auch Accouchierhaus genannt. Die Familie bewohnte seit 1832 im Obergeschoß dieses Krankenhauses eine Wohnung, die bald zum Zentrum der Göttinger Musikszene wurde. Eduard von Siebold spielte Klavier und Geige und hatte als Kind zudem Unterricht auf der Trommel erhalten. Diese »Fell- und Rasselinstrumente« waren sein größtes Vergnügen. Er selbst sprach von »Tympanomanie« und liebte es, gelegentlich bei öffentlichen Auf‌f ührungen seine »Timpani« zu schlagen.1 Friedrich Merkel, der Schwiegersohn des Göttinger Anatomieprofessors Jacob Henle, berichtete: »In Concerten, wo es darauf ankam, einen besonders guten Paukenschläger zu haben, sah man stets den berühmten Gynäkologen die Schlegel schwingen«, und Henle versicherte, daß man »auf den ersten Ton hätte hören können, ob Siebold oder der gewöhnliche Pauker in Tätigkeit war.«2 Außerdem war Siebold ein hervorragender Sänger. Seine Lieblingsoper war Webers »Freischütz«, dessen Frauen­ figur Agathe ihm den Rufnamen seiner zweiten Tochter lieferte. Daraus entwickelte sich die Tradition, daß in jeder Generation der Familie fortan eine Tochter mit erstem oder zweitem Namen Agathe heißen sollte.3 Im gastfreundlichen Hause Siebold verkehrten Vertreter aller Fakultäten. Zu dem großen Freundeskreis der Familie gehörten die angesehenen Universitäts­

38  Agathe von Siebold gelehrten Jakob Henle, mit dem Siebold an vielen Abenden musizierte, und dessen drei Jahre nach ihm nach Göttingen berufener Duzfreund Friedrich Wöhler. Vor allem die Mädchen genossen die Nachbarschaft der sechs Wöhler-Kinder. Sophie und Fanny waren enge Freudinnen von Agathe. Die Siebold-Eltern bemühten sich, ihren Kindern den »Sinn auf das Höhere zu lenken«, ihnen »die besten Lehrer« zu geben, und einen »reichen Bücherschatz« in ihre Hände zu legen. »In den damaligen Zeiten war das Leben ja auch noch ein ganz anderes wie heut’ zu Tage. Das Hasten, die Unruhe, den beständigen Wechsel der Jetztzeit kannte man nicht – man hatte mehr Zeit, mehr Gelegenheit, sich zu vertiefen, nachzudenken und zu arbeiten«, schrieb Agathe viele Jahre später in ihren Aufzeichnungen über ihre Jugend für ihre Kinder.4 Eine ganz besondere Rolle spielte in ihrem Leben die Musik. Sie erhielt Klavier- und Gesangsunterricht und trat als Pianistin und Sopranistin auf. Zusätzlich zur musikalischen Erziehung zeigte der Vater seinen Kindern die Welt. So nahm er die fünfzehnjährige Agathe mit nach Wien, Venedig und Verona. Sie schätzte die Natur sowie das für junge Damen noch als unsittlich angesehene Schlittschuhlaufen im Winter. Die Siebold-Mädchen waren die ersten Schlittschuhläuferinnen Göttingens auf dem Teich im Botanischen Garten, dort, wo heute das Auditorium steht. Tanzvergnügungen hingegen liebte Agathe nicht. 1855 kam der Musiker Julius Otto Grimm in der Hoffnung nach Göttingen, die frei werdende Stelle des Musikdirektors zu übernehmen, allerdings mußte er sich mit der Rolle eines Privatlehrers begnügen. Er übernahm die Schülerinnen seines Vorgängers, zu denen auch Agathe gehörte, und gründete den Chor Caecilienverein sowie ein Amateurorchester. Durch Grimm lernte sie den gefeierten Violinisten Joseph Joachim, Clara Schumann und Johannes Brahms kennen. Joachim, der spätere Direktor der Musikhochschule in Berlin, war seit 1853 am Hannoverschen Hof als Konzertmeister der Königlichen Kapelle angestellt, wo er Johannes Brahms zum ersten Mal traf. Den Sommer 1857 verbrachte Joachim wieder einmal in Göttingen, das er zu Studienzwecken zuvor schon des Öfteren aufgesucht hatte. Er nutzte seinen Aufenthalt unter anderem, um

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mit Agathe zu musizieren, denn er mochte ihre schöne Sopranstimme, die er einmal mit einer Amatigeige verglich. Auch auf dem Klavier durfte sie ihn begleiten. Er »war dabei so schön geduldig, wenn ich in meiner Weise stümperte oder Taktfehler […] machte. Dann hielt er nachher wohl seine Hand geöffnet hin und sagte: ›Ich bitte mir von ihnen so und so viel Achtel (oder Viertel oder Sechzehntel) aus um die sie mich betrogen haben‹.«5 Joachim schwärmte von ihren schwarzen Haaren, die sie in geflochtenen Schnecken über den Ohren trug. Bei einem ihrer gemeinsamen Ausflüge verfingen ihre Haare sich beim Ernten von Nüssen in den Zweigen und ihre Zöpfe öffneten sich, was ihn zu dem Ausruf veranlaßte: »Welch eine Lust, in solchem Haar zu wühlen.«6 Rebecca Lejeune Dirichlet, die Ehefrau des Mathematikers Peter Gustav Lejeune Dirichlet, verfolgte und kommentierte das Geschehen um Agathe aufmerksam. Im Dezember berichtete sie ihrem Neffen: »Die pikante schwarzäugige

40  Agathe von Siebold Agathe Siebold, die damals mit einem Amerikaner Braut war […]. Dieselbe hat mir feierlich angezeigt, daß sie ihre Verlobung wieder aufgehoben hat. […] Ich will nichts gesagt haben, aber es war diesen Sommer eine wüthende Courmacherei mit ihr und Joachim.«7 Auf Wunsch der Mutter hatte Agathe sich im Jahr zuvor mit ebendiesem amerikanischen Schwager ihrer Schwester, einem Rechtsanwalt, verlobt, die Verlobung aber wieder gelöst. Im Februar des folgenden Jahres konnte man in einem der Briefe Lejeune Dirichlets lesen: »Nächste Woche kommt Joachim zum Conzert herüber, man weiß nicht recht, was ihn eigentlich herzieht, ob Freundschaft oder Liebe zu der entlobten Agatha Siebold«8. Einige Wochen später konnte sie mitteilen, daß die Beziehung wohl nicht mehr existiere, aber Agathe »hat außer Joachim noch einen Verehrer in Reserve, denn sie würde eine sehr unliebenswürdige alte Jungfer werden«9. Mit dieser Aussage spielte Rebecka Lejeune Dirichlet auf den Sommer mit Johannes Brahms an. 1858 hatte Clara Schumann, mit der Brahms eine enge Freundschaft verband, ein Konzert in Göttingen angekündigt. Diese Bekanntmachung nutzte Grimm, um seinen Freund Brahms zu einem Aufenthalt in Göttingen zu bewegen. Er bot ihm in einem langen Schreiben Quartier, die Möglichkeit zu musizieren und lockte ihn mit der Aussicht, Clara Schumann mit seinem Kommen eine Freude zu bereiten. Brahms zögerte zunächst, entschied sich dann aber doch für einen Besuch an der Leine. Es wurde ein Sommer voller Musik und Spaß, »in den ihnen vertrauten Häusern am Ritterplan (Grimm) und in der Mühlenstraße (Lejeune Dirichlet) wurde eifrig musiziert und selbstverständlich neben Schubert, Schumann, Mendelssohn viel ›Brahms‹ gemacht. Besonders gern sang Agathe das SchumannLied ›Rastlose Liebe‹. Wenn nicht musiziert wurde, ging’s hinaus ›ins Holz‹, wie es in Göttingen hieß. Man lagerte im Moos und stimmte Lieder an.«10 Beim Anschlagverstecken im Spargelfeld sonderten sich Agathe und Johannes Brahms, in Gespräche vertieft, immer öfter von der Gesellschaft ab. Clara Schumann verfolgte das vergnügte Treiben der »jungen und verliebten Leute mit gemischten Gefühlen. Daß gerade ihr Johannes so ausgelassen und vergnügt daran beteiligt war – das konnte sie nicht

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­froher stimmen, ihre Laune nicht verbessern […]. Sie ließ ihren Johannes nicht aus den Augen. Nicht selten konnte Brahms dann plötzlich in seinem übermütigen Scherz zur Gathe sagen, wenn sie wieder abseits geblieben waren: ›Jetzt muß ich mit ihr ein bißchen gehen, sonst wird sie eifersüchtig!‹«11 Agathe und Johannes Brahms bemühten sich ihres guten Rufes wegen, ihre Gefühle füreinander vor Dritten zu verbergen. Es wurden »Sommertage verklärt von der Glorie der Liebe«, erinnerte sich Agathe.12 Abends traf man sich zu Gesellschaftsspielen, oder Brahms saß bei der Familie Grimm am Flügel und begleitete abwechselnd Agathe oder Joachim, der Violine spielte. Auf dem Ritterplan versammelten sich die Göttinger und erfreuten sich an den abendlichen Konzerten. Clara Schumann verfolgte die Entwicklung der Beziehung mit wachsendem Unmut. Und als Brahms während einer lustigen Rückfahrt von den Gleichen voll Vergnügen den Arm um seine Nachbarin Agathe in der Kutsche gelegt hatte, packte sie ihre Koffer und reiste am nächsten Tag ab. Von Agathe verabschiedete sie sich nicht. Agathe hat Clara Schumann nur noch einmal von weitem gesehen, sie aber nie wieder sprechen können. Unter den Unstimmigkeiten im Verhältnis zu der von ihr verehrten Frau hat sie lange gelitten. Nach zwei erfüllten Sommermonaten verließ Brahms die Stadt, um wieder seinen Pflichten als Musikerzieher am Hof des kleinen Fürstentums Lippe-Detmold nachzukommen. Die Familie des Musikdirektors Grimm war in die Liebesbeziehung der beiden eingeweiht. »Allen anderen Menschen gegenüber war die Liebe der beiden ein Geheimnis, wenn auch ein geahntes.«13 Viele Briefe wurden in den nächsten Wochen verschickt und am 30. Dezember kündigte Brahms seinem Freund Grimm seinen Besuch für den Neujahrstag an. Schon vor Weihnachten hatte er für den Neujahrsabend um eine »große Ladung Bier und Lustigkeit«14 nachgesucht. Agathe in ihren Erinnerungen: »[…] er kehrte nach drei Monaten zurück, so voll Liebe, wie er gegangen war, und der Himmel tat sich wieder für sie auf.«15 Sie fühlte sich ihm für immer verbunden und war sich seiner Gefühle und Treue sicher. Brahms schenkte ihr einen schmalen,

42  Agathe von Siebold goldenen Ring mit einem blauen Stein zur heimlichen Verlobung, den sie auch öffentlich trug, und er zeigte das Goldkettchen an seinem linken Ringfinger. Am 7.  Januar 1859 mußte Brahms wieder abreisen. Grimm, der väterliche Freund des heimlichen Paares, sorgte sich um Agathes Stellung in der Gesellschaft und erwartete jetzt, wo »das Geheimnis ihrer Liebe klargeworden war«, von Brahms eine Erklärung, »ob er sie fürs Leben an sich zu fesseln gedenke«16. Mit Ungeduld erwartete Agathe eine Antwort auf Grimms Brief. Als diese kam, mußte sie lesen: »Ich liebe Dich! Ich muß Dich wiedersehen! Aber Fesseln tragen kann ich nicht! Schreibe mir, ob ich wiederkommen soll, Dich in meine Arme zu schließen, Dich zu küssen, Dir zu sagen, daß ich Dich liebe!« »Da kämpfte das Mädchen einen harten Kampf,« liest man in ihren Erinnerungen, »den schwersten ihres Lebens; die Liebe wollte ihn um jeden Preis halten, komme was da wolle, die Pflicht, die Ehre gebot zu entsagen, und die Pflicht und die Ehre siegten. Das Mädchen schrieb den Scheidebrief und weinte, weinte jahrelang über ihr gestorbenes Glück.«17 Agathe hat Johannes Brahms nie wiedergesehen. Die meisten Briefe von Brahms wurden auf Agathes Wunsch hin vernichtet. Es blieben nur die beiden Schilderungen, die sie im Alter verfaßte, sowie Briefe und Ausführungen von Zeitgenossen. Wahrscheinlich hat Clara Schumann im Sommer 1858, als Brahms zur Heirat entschlossen war, zu seiner späteren Entscheidung beigetragen, indem sie ihm seine finanzielle Situation vor Augen führte und vor einer Ehe entschieden warnte. Einem Künstlerpaar drohe eine düstere Zukunft, »wenn sich nichts mit nichts verbindet«18. Später schlug sie ihm immer wieder vor zu heiraten. So auch in einem Brief von 1870: »Also eine schöne Wohnung hast Du? Nun könntest Du dir eigentlich eine junge Frau nehmen, mit etwas Geld nebenbei«19. Brahms aber hat nie geheiratet. »Wie ich die Leute hasse, die mich ums Heiraten gebracht haben!«, klagte er als alter Mann in Wien.20 Für Agathe folgten weitere traurige Ereignisse. Innerhalb weniger Wochen verstarb das Ehepaar Lejeune Dirichlet, in dessen Haus sie so viel musiziert hatte. Ihr Lehrer Grimm, an dessen Konzerten sie mitwirkte, ging 1860 nach Münster, und im Oktober 1861 starb ihr Vater. Die Familie mußte die schöne Dienst-

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wohnung am Wall für den Nachfolger räumen, und für den Lebensunterhalt der Familie blieb nur die Witwenpension der Mutter. Zusätzlich befand sich die ältere, in Amerika verheiratete Schwester Agathes mit ihrer kleinen Tochter seit 1860 wieder im Elternhaus und konnte wegen des nordamerikanischen Sezessionskrieges zunächst nicht zurückkehren. Die finanzielle Situation bewog Agathe, Gesangsunterricht gegen Honorar zu erteilen, und sie sang auch weiterhin mit Erfolg in Grimms Konzerten in Münster. Das Leben in Göttingen, wo sie als verlassene Braut galt, und die vielen schmerzlichen Erinnerungen, die sie mit der Stadt verband, wurden für sie zu einer immer größeren Last. 1863 verließ sie die Stadt und arbeitete die nächsten eineinhalb Jahre auf New­ park, einem einsamen Gut im Westen Irlands. Sie unterrichtete die neunzehn Jahre alten Zwillingsschwestern der Familie Duke. Brahms, der von ihrer Abwesenheit wußte, kam ein letztes Mal in die Stadt, um endgültig Abschied zu nehmen. Er wanderte mit seinem Freund Grimm noch einmal zur Plesse und auf die Gleichen und blieb länger vor dem Haus am Geismartor stehen. Nach diesem Aufenthalt entstanden die ersten drei Sätze des »Agathen-Sextetts«, mit dem er Abschied von seiner großen Liebe nahm. Über Agathe wurde in der Stadt wieder viel geredet. Daß eine junge Frau aus gutem Hause den Mut auf‌brachte, unabhängig zu leben und ihr eigenes Geld zu verdienen, war unüblich. Aber eine Versorgungsehe einzugehen, dazu war Agathe nicht bereit. Sie mochte ihre irischen Arbeitgeber, jedoch war ihr der geistige Horizont jenes Lebens zu eng. Deshalb nahm sie die schon vor längerer Zeit ausgesprochene Einladung der Familie Fitzwilliams, deren Sohn in Göttingen studiert hatte, an und genoß auf deren Landgut Gilgwyn in Wales den Frühsommer des Jahres 1865. Sie gewann dort ihre Lebensfreude wieder und bezeichnete diese Wochen als die schönsten ihres Lebens. Zurück in Göttingen im Juni 1865 arbeitete sie als Lehrerin an der Höheren Töchterschule, wo sie Englisch, Italienisch und Gesang unterrichtete. Ihre Schülerinnen schwärmten für den »Erzengel«, wie sie bei ihnen hieß.21 Agathe lebte zurückgezogen mit ihrer Mutter, die an den Folgen eines Schlaganfalles litt,

44  Agathe von Siebold vor dem Weender Tor. An geselligen Veranstaltungen nahm sie nicht mehr teil. Nur eine Reise in den Harz gönnte sie sich und genoß bei bestem Wetter die farbenfrohen Herbstwälder. Schon bevor Agathe nach Irland ging, hatte der die kranke Mutter betreuende Arzt Carl Schütte sich in sie verliebt. Sie spürte es wohl, war aber zu einer neuen Beziehung noch nicht bereit. Auch nach ihrer Rückkehr wartete er weiter geduldig auf ihr Ja-Wort, das sie ihm dann drei Jahre später endlich gab. Am 28.  April 1868, wurde die zweiunddreißigjährige Agathe die Frau des siebenunddreißig Jahre alten Dr. Carl Schütte. Am Abend vor ihrer Hochzeit verbrannte sie alle Andenken an Johannes Brahms. Sein Name wurde während ihrer Ehe nie mehr erwähnt, die alten Freunde durften ihr Haus nicht mehr betreten, und sie durfte nicht mehr in der Öffentlichkeit singen. Ihre Hochzeitsreise, die Agathe als wunderschön beschrieb, führte sie nach Dresden und Prag. Schütte war glücklich, ihr die wunderbaren Bauwerke zeigen zu können. Er war nicht musikalisch, war aber ein talentierter Zeichner und hatte Freude an der Architektur. Das erste Kind wurde tot geboren. Das Ehepaar bekam noch zwei Töchter und zwei Söhne. 1887 starb Carl Schütte sechsundfünfzigjährig. Ihr ältestes Kind war siebzehn, das jüngste zwölf Jahre alt. 22 Jahre mußte Agathe für die Kinder und für sich allein sorgen. Bei Agathe fühlten die Menschen sich wohl. Nach dem Tod ihres Mannes nahm sie wieder mit den Jugendfreunden Kontakt auf, und über ihrem Flügel hing ein neues Bild: »Johannes Brahms im weißen Bart«. Eine persönliche Begegnung mit ihm lehnte sie aber strikt ab. Der Gedanke an ihn schmerzte noch immer. »Warum hätte ich mir auferlegen sollen, da ferne zu stehen, wo ich einst so nah’ gestanden […]. Wenn es einmal so schön gewesen ist, wie zwischen Johannes und mir, so war für mich […] ein anderes Verhältnis unerträglich und ein nicht wieder Zusammentreffen bei weitem besser.«22 Regelmäßiger Gast in ihrem Haus war nun Joseph Joachim, der immer wieder Grüße von Brahms überbrachte. Doch erst 1894, fünfunddreißig Jahre nach ihrer Trennung, war Agathe bereit, die Grüße anzunehmen. »So grüßen sie ihn herzlich wieder«23, trug

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sie ihm auf und schloß damit ihren Frieden mit ihrer Jugendliebe. Einige Wochen später zeigte Joachim ihr einen Brief von Clara Schumann, in dem sie, ihre damaligen Befürchtungen zurücknehmend, schrieb: »Wenn er Agathen geheiratet hätte, wäre er gewiß ein ebenso herrlicher Mensch wie Komponist geworden.«24 Im Alter söhnte Agathe sich mit ihrem Schicksal aus. Ihre Erzählung über ihre große Liebe »In memoriam J. B.« schloß sie mit dem Satz »Besser, weit besser ist Verlieren als nie besessen zu haben!«25 Johannes Brahms schrieb während ihrer gemeinsamen Zeit in Göttingen einige Lieder für Agathe, darunter das »Ständchen« (»Gute Nacht mein liebster Schatz«, op. 14/7), vertonte ein Sonett aus dem 13. Jahrhundert (»Ach könnt’ ich, könnte ich vergessen sie«, op. 14/4) sowie »Der Kuß«, nach einem Gedicht des Göttinger Hainbund-Dichters Hölty (op. 19/1). Im Jahr 1864 widmete er sich noch einmal seiner Zeit mit ihr. Fast alles, was er in dem Jahr komponierte, hing mit ihr zusammen. Er zitierte in zwei seiner Kompositionen den Namen Agathe durch Notenschrift, schrieb die Lieder »Von ewiger Liebe« (op. 43/1), »Die Mainacht« (op. 43/2), den Liederzyklus op. 32 und das oben erwähnte Agathen-Sextett.26 Am 1. März 1909 ging ihre Tochter Toni wie immer ihrer Beschäftigung als Lehrerin im Lyzeum nach, und Agathe plante, sich nachmittags mit ihren Freundinnen zum Whist zu treffen. Doch völlig unerwartet verstarb sie im Laufe des Vormittags, zwölf Jahre nach Johannes Brahms, im Alter von 73 Jahren. Drei Tage später wurde sie neben ihrem 1887 verstorbenen Mann beigesetzt. Johannes Joachim, Sohn des berühmten Violinisten Joseph Joachim und Patensohn von Johannes Brahms, legte im Auf‌trag der Deutschen Brahms-Gesellschaft einen Lorbeerkranz auf ihrem Grab nieder – »Der Jugendfreundin des Meisters«. Agathes Grabstein trägt den Spruch: »Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibet, der bleibet in Gott und Gott in ihm«. In den Gräbern der Eltern wurden auch die Tochter Agathe und deren Mann Heinrich Danneel bestattet.

46  Agathe von Siebold Anmerkungen 1 Michelmann, Agathe von Siebold, S. 30. 2 Zitiert nach Küntzel, Brahms in Göttingen, S. 43. 3 Vgl. Brief der Ururgroßenkelin Gisela Daneel: Daneel, Leserbrief in: Göttinger Monatsblätter, S. 11. 4 Zitiert nach Küntzel, Brahms in Göttingen, S. 91 f. 5 Zitiert nach ebd., S. 97. 6 Zitiert nach Michelmann, Agathe von Siebold, S. 117 f. 7 Kühn, »In diesem ruhigen Kleinleben geht so schrecklich viel vor«, S. 119. 8 Ebd., S. 119. 9 Zitiert nach ebd. 10 Michelmann, Agathe von Siebold, S. 152 f. 11 Zitiert nach ebd., S. 153 ff. 12 Küntzel, Brahms in Göttingen, S. 99. 13 Ebd., S. 99. 14 Michelmann, Agathe von Siebold, S. 169. 15 Zitiert nach Küntzel, Brahms in Göttingen, S. 99. 16 Ebd. 17 Ebd., S. 100. 18 Michelmann, Agathe von Siebold, S. 177. 19 Zitiert nach ebd., S. 200. 20 Zitiert nach ebd., S. 197 f. 21 Ebd., S. 239. 22 Zitiert nach Küntzel, Brahms in Göttingen, S. 95 f. 23 Michelmann, Agathe von Siebold, S. 315. 24 Zitiert nach ebd., S. 317. 25 Küntzel, Brahms in Göttingen, S. 100. 26 Vgl. ebd., S. 55, 56, 73 f.

Jacob Henle 19. Juli 1809 — 13. Mai 1885

Der in Fürth als Sohn eines jüdischen Kaufmanns geborene ­Jacob Henle verkündete zu Beginn seiner Zeit an der Leine, »sein Leben ganz der Georgia Augusta zu weihen und in ihr ­beschließen«1 zu wollen. Henle gilt als der Begründer der Histologie und der mikroskopischen Anatomie. Er ist der Entdecker des haarnadelförmigen Verlaufs der Nierenkanälchen, der »Henleschen Schleife«. Aber nicht nur seine wissenschaftliche Bedeutung, sondern auch die Geschichte seiner ersten Ehe verdient es, erzählt zu werden. Die Familie Henle zog 1815 von Fürth nach Mainz und 1824 nach Koblenz. Jakobs Eltern förderten vor allem seine sprach­ liche Begabung, so erhielt er Unterricht in Französisch, Englisch, Italienisch und Dänisch. Auch die musikalische Förderung kam nicht zu kurz. Henle sang, spielte Klavier, Geige und Cello. Sein acht Jahre älterer Freund, der spätere Physiologe Johannes Müller, weckte sein Interesse für Naturwissenschaften. 1827 begann Henle mit dem Studium der Medizin in Bonn, wechselte für zwei Semester nach Heidelberg und schloß 1832 in Bonn sein Studium mit einer Dissertation über die Struktur des Auges ab. Anschließend ging er nach Berlin, um das für alle preußischen Ärzte obligatorische Staatsexamen abzulegen. Da sein Freund Müller inzwischen nach Berlin berufen worden war, blieb Henle dort und wurde 1833 sein Assistent in Anatomie. Schon in dieser Position gab er Mikroskopierkurse für Studenten. Er war ein Meister in der Anwendung und Weiterentwicklung mikroskopischer Techniken. Der Unterricht fand in der Anatomieabteilung, dem anatomischen Museum und in seiner Wohnung statt. Er hatte ein nach hinten gelegenes Zimmer im zweiten Stock über einer Gastwirtschaft gemietet.­

48  Jacob Henle »Büchsen und Gefäße mit Präparaten und Bücher in allen Formen und Gestalten, lebendige Krebse, Blutegel und Frösche liegen in ordentlicher Unordnung umher und geben dem angenehmen Stilleben, das uns umfängt, einen eigenen Reiz. Ein Muskelmann, Goethes Büste und eine Nymphe von Biskuit, ein ausgewachsenes Skelett empfangen uns freundlich und verkünden uns: hier kann nur ein Mensch wohnen.« So die Schilderung eines Zeitgenossen.2 Er bereitete sich auf seine Habilitation vor, die aber durch die Tatsache, daß er als Student wie sein Vorbild Müller einer verbotenen Burschenschaft beigetreten war, gefährdet war. Henle galt als staatsgefährdend, und 1835 wurde eine Untersuchung wegen Demagogie gegen ihn eingeleitet. Von seinem Posten als Assistent wurde er suspendiert. Im Juli war er vier Wochen in der Hausvogtei inhaftiert, kam aber durch Fürsprache von Alexander von Humboldt vor Beendigung der Untersuchung wieder frei. Im Januar 1837 wurde er zu sechs Jahren Festung, Kassation und zur Unfähigkeit, staatliche Ämter zu bekleiden, verurteilt. Eine erneute Intervention Humboldts führte zur endgültigen Begnadigung. Henle wurde wieder in sein Amt eingesetzt, habilitierte sich 1837 mit einer Arbeit über die Darmepithelien und arbeitete anschließend als Privatdozent an der Berliner Universität. 1840 beschrieb er in einem Aufsatz eine mit »Leben begabte, sich vermehrende Materie«3. Damit formulierte er als Erster den Gedanken, daß Krankheiten durch die Infektion mit mikroskopisch kleinen Lebewesen ausgelöst werden können. Sein Doktorand Robert Koch (promoviert 1868) führte diese Forschungen fort und entdeckte 1882 den Tuberkuloseerreger. Im Herbst 1840 ging Henle als Professor für Anatomie und Physiologie nach Zürich. Schon in Berlin waren seine Vorlesungen mit vielen mikroskopischen Demonstrationen verbunden gewesen. Auch bei seinen Verhandlungen mit der Universität Zürich spielte die mikroskopische Ausrüstung eine herausragende Rolle. Noch waren die Lichtverhältnisse die notwendige Voraussetzung für die Mikroskopie. Die beste Lichtquelle war die Sonne. »Aus diesem Grund wäre mir’s lieb, wenn Ihr mir im oberen Stock unseres niedlichen Häuschens ein Zimmer reservieren könntet, das die Morgensonne hat.«4

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1841 wurde Henles tausendseitiges Handbuch, die »Allgemeine Anatomie«, die rasch zum Standardwerk wurde, veröffentlicht. 1844 wechselte er auf eine außerordentliche Professur an der Universität Heidelberg. Dort schloß er sein »Handbuch der rationellen Pathologie« ab. Seiner Braut Elise Egloff schrieb er darüber am 24.  Februar 1846: »Soeben am Fastnacht Dienstag ¾ auf 6 Uhr, habe ich die letzte Zeile an meinem Buch vollendet. […] Ich habe ein Werk vollendet, auf das ich stolz bin, an dem ich seit 6 Jahren mit allem Fleiß vorgearbeitet habe, in 20 Bogen das Beste, was ich weiß, zusammengedrängt. Es wird einen Umschwung in der Medizin machen, mir die Alten zu Feinden machen und die Jungen an mich fesseln; mit dieser Einrichtung bist Du doch nicht unzufrieden? Nun habe ich mir redlich das Glück verdient, das ich bald in Deinen Armen finden soll und jetzt sollst Du mich haben mit Herz und Kopf und Allem.«5

50  Jacob Henle Von 1855–1871 erschien ein weiteres Standardwerk Henles, das dreibändige »Handbuch der systematischen Anatomie des Menschen«. Im Januar 1862 stellte er der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften, deren Mitglied er war, seine Entdeckung des haarnadelförmigen Verlaufs der Nierenkanälchen vor, der nur mikroskopisch erkennbar war. Die »Henlesche Schleife« ist seitdem ein fester Begriff in der Medizin. Wie schon die Züricher waren auch Henles Heidelberger Vorlesungen gut besucht, nicht nur von Medizinern. Er sprach ruhig und bildete einfache Sätze, war dabei unterhaltend und witzig. Einer seiner begeisterten Zuhörer, der Henle für dessen anthropologisches Kolleg von Zürich nachgereist war, war der Dichter Gottfried Keller, der die Vorlesung in seinem Roman »Der grüne Heinrich« beschrieb. Nach acht Jahren verließ Henle Heidelberg. Er übernahm 1852 eine Professur für Anatomie und Physiologie sowie die Leitung des Anatomischen Instituts in Göttingen. Hier sollte er die nächsten dreiunddreißig Jahre wirken. In einem Brief vom Sommer 1852 an seinen Freund, den Internisten Karl von Pfeufer, gab Henle seinen Eindruck von Göttingen wieder: »Bei aller Gelehrsamkeit fehlt es in den Straßen nicht an Ländlichkeit, des Morgens geht der Hirt mit einem Horn durch die Stadt und dann kommen aus allen Häusern Kühe herausspaziert, um auf der Masch zu weiden, und nachmittags gehen sie ganz gemütlich wieder heim. Behagt es der gehörnten breitgestirnten Schaar einmal, den Bürgersteig zu seinem Nachhauseweg zu benutzen, so muß der gelehrteste Professor, wenn er würdig hinschreitend über die höchsten ­Probleme der Wissenschaft nachsann, als der Gescheitere nachgeben und in eine offene Hausthür oder wenigstens auf eine der zahlreichen Steintreppen retiriren, welche allenthalben zu diesen Hausthüren emporführen. […] die Kollegen sind lauter aufgeschlagene Encyklopädien, sie sind alle so tugendhaft und fleißig, wie ich hier zu werden hoffe, weil man zu nichts Anderem Gelegenheit hat. […] Im öffentlichen und socialen Leben ist Vieles, was das Land seinem ehemaligen Anschluß an England verdankt. Bürgerliche Freiheit ist hier mehr als in irgend einem

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deutschen Lande; Verbote von Hüten, Büchern, Versammlungen und dergl. wären hier ganz ebenso unmöglich wie in England. Man weiß weder von der religiösen noch von der politischen Gesinnung seiner Nachbarn.«6 Henle wurde in Göttingen freundlich aufgenommen. Seine lebendigen Vorlesungen waren auch dort wieder überaus beliebt, »sein musikalisches Haus in der Geiststraße übte große Anziehungskraft aus« … »und er kam mit seinem Cello auch gern in befreundete Häuser«.7 Nach seiner Ankunft versuchte er gleich, ein Trio oder Quartett zu gründen. Er fand einen Geiger, doch die C-Saite seines Instruments war gerissen, und die Musikalienhandlung hatte mangels Nachfrage diesen Artikel seit zwei Jahren nicht mehr nachbestellt. So ließ man eine neue Saite spinnen, und den regelmäßigen Einladungen zum gemeinsamen Musizieren stand nichts mehr im Wege. Im Jahr 1843 begann, um seine und seiner Schwester Wortwahl zu nutzen, Henles privater »Roman«, die Geschichte der Erziehung seiner Braut. Im Hause eines Züricher Kollegen lernte er die zwanzigjährige Näherin Elise kennen. Sie erregte nicht nur durch ihre Schönheit, sondern auch durch ihr angenehmes Wesen seine Aufmerksamkeit. Er suchte ihre Nähe, indem er ihr wie zufällig begegnete und sie ein Stück begleitete. Er liebte ihre Unterhaltung, aber dann »passierte mir das lächerlichste, was einem Kavalier von Welt in solchem Verhältnis begegnen kann: ich interessierte mich nicht bloß für den Körper, sondern auch für die Seele des Mädchens. Mich gewann die Ehrlichkeit und Gutmütigkeit, ihre Wärme und ebenso ihr Stolz.« Sie kannte ihre Position in der Gesellschaft, und anders als »es unter ihren Kolleginnen« üblich war, versuchte sie nicht, sich »in äußeren Zeichen über ihren Stand [zu] erheben«.8 Elise Egloff war die uneheliche Tochter eines wohlhabenden Schweizers. Da ihre Mutter sie verlassen hatte, wuchs sie auf dem Land in der Familie ihrer Großeltern in einfachen Verhältnissen auf. Der Großvater starb, als sie siebzehn Jahre alt war. Von der Erbfolge ausgeschlossen, wurde sie nach dessen Tod ein weiteres Jahr von ihren Onkeln finanziell unterstützt. In dieser Zeit lernte sie Nähen, um sich ihren Lebensunterhalt

52  Jacob Henle selbst verdienen zu können. Wegen besserer Verdienstmöglichkeiten ging sie nach Zürich, wo sie aber in ihrem erlernten Beruf zunächst keine Arbeit fand. Mit Hilfe einer Zeitungsanzeige suchte sie eine Stelle als Kindermädchen und wurde von einer deutschen Familie eingestellt. Nachdem sie genügend Ersparnisse gesammelt hatte, ließ sie sich als selbstständige Näherin nieder und war so imstande, ein bescheidenes, aber finanziell unabhängiges Leben zu führen. Henle, der, wie er sagte, nicht egoistisch genug war, »um mit dem Glück eines noch so unbedeutenden Wesens mein Spiel zu treiben«9, wußte, daß eine Ehe gesellschaftlich für beide Seiten sehr problematisch werden würde. Er versuchte, seine »Liebhaber-Rolle allmählich in die eines väterlichen Freundes und Beschützers«10 umzuwandeln. Dazu schmiedete Henle den Plan, ihr einen Laden einzurichten, so daß sie sich dort, unbemerkt von der Züricher Gesellschaft, treffen konnten. Wenn beide alt genug wären, um keinen Anstoß mehr zu erregen, sollte sie dann als seine Haushälterin zu ihm ziehen. Da durchkreuzte ein Ruf nach Heidelberg Henles Vorhaben und ihm kam der Gedanke »an die Möglichkeit, ein Wesen aus ihr zu bilden, das ich vor den Augen der Welt […] als meine Geliebte erklären könne«11. Er erklärte Elise, er wolle ihr eine Ausbildung finanzieren, »mit welcher Du unter gebildeten Leuten Deinen Platz einnehmen kannst«12. Wenn sie die ausreichende Bildung erworben habe, könne er sie zur Führung seines Haushaltes aufnehmen. Er versprach ihr also keine Heirat, wußte aber, so erklärte er später in einem Brief an seine ältere Schwester Marie, daß sie ist zu klug war, »um nicht zu merken, daß ich im letzteren Falle wohl noch etwas anderes mit ihr vorhabe, […] mir ist es bis auf diesen Augenblick immer noch wichtig, ihr keine Versprechungen gemacht zu haben.«13 Für sein Erziehungsexperiment benötigte Henle Unterstützung. Er offenbarte sich zunächst nur dem Mann seiner Schwester, dem Landgerichtsrat Carl Mathieu aus Trier. Sie beschlossen, Elise für ein Jahr in ein Pensionat in Traben an der Mosel zu schicken, wo sie unterrichtet werden sollte. Erst wenn dieser schulische Teil des Experiments zu seiner Zufriedenheit verlaufen sollte, wollte Henle auch seine Schwester Marie Mathieu

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e­ inweihen und um Hilfe bitten. In ihrem Haus sollte Elise nach der Ausbildung im Pensionat ein weiteres Jahr verbringen und mit den gesellschaftlichen Umgangsformen des gebildeten Bürgertums vertraut gemacht werden. Elise stimmte den Plänen zu, obwohl es bedeutete, Zürich heimlich und ohne Abschied von Verwandten und Freunden zu verlassen. Im April 1844 reiste sie ab und wurde in Berncastel von Mathieu in Empfang genommen. Er begleitete sie nach Traben und stellte sie im Pensionat als Enkelin der ältesten Schwester seiner Mutter vor. Sie sei seit kurzem Vollwaise, aus dem Ausland zurückgekommen und habe sich an Mathieu um Hilfe gewandt. Der Welt sollte später, sobald Elise gesellschaftlich präsentabel war, vorgespielt werden, daß Henle sie bei Mathieus zufällig kennenlernt und sich in sie verliebt habe. Für Elise begannen zwei harte, einsame Jahre, in denen zunächst sogar der brief‌liche Kontakt zwischen Henle und ihr ausgesetzt wurde, und die sie nur wegen ihrer uneingeschränkten Liebe zu Henle durchhielt. Ab Mai 1845 lebte Elise dann im Haushalt des Ehepaares Mathieu, wo sie unter der ständigen Beobachtung Maries stand und zudem unter der finanziellen Abhängigkeit von Henle und seiner Familie litt. Er versuchte, ihr diese Bedenken zu nehmen. »[…] tue ich es nicht ebenso sehr meinet- als Deinetwegen? […] Und bin ich es Dir nicht von Rechtswegen schuldig, da ich Dich aus Deinem arbeitsamen Hinterstübchen hervorholte, wo Du genug zu leben hattest und Dich unter Leute brachte, wo Du Dir nichts erwerben darfst?«14 Trotz etlicher Mißverständnisse und Spannungen zwischen Marie und Elise beurteilte Marie die Entwicklung Elises als zufriedenstellend. Im Oktober 1845 kam es zum ersten Treffen von Henle und Elise nach eineinhalb Jahren der Trennung. Elise wurde seinem Vater und den beiden anderen Schwestern als seine Braut vorgestellt und stand jetzt unter Beobachtung der gesamten Familie. Nachdem auch der Vater versicherte, »daß ich mit Elise sehr zufrieden bin«15, wurde im Dezember die Verlobung öffentlich bekannt gegeben. Auch zu ihren Verwandten durfte sie jetzt wieder Kontakt aufnehmen. Elise schrieb Henle: »Glaube mir, liebes Herz, wenn ich Dich nicht grenzenlos

54  Jacob Henle geliebt hätte und lieben würde, ich hätte nicht alles durchmachen können.«16 Das Experiment, Henles »privater Roman«, war zu einem glücklichen Ende gelangt. Im März 1846 heirateten Elise und Jakob. Die Hochzeitsreise führte sie nach Wien und Weimar. Sie genossen ihr so mühsam errungenes gemeinsames Leben. Doch das Glück sollte nicht lange dauern. Wieder in Heidelberg verschlimmerte sich der Husten, unter dem Elise schon auf der Reise gelitten hatte. Da blutiger Auswurf hinzukam, diagnostizierte Henles Freund, der Mediziner Pfeufer, ein ernst zu nehmendes Lungenleiden und verordnete ihr eine Woche Ruhe. Vorübergehend verbesserte sich ihr Zustand. Darauf reisten sie in die Schweiz, um Elises Verwandte und Bekannte zu besuchen. Noch in der Schweiz erlitt sie einen Rückfall. Im Dezember wurde ihr erstes Kind, der Sohn Karl, geboren. Gesundheitlich nach wie vor angeschlagen, hatte Elise im nächsten Sommer wieder einen Blutsturz. Sobald sie reisefähig war, schickte ihr Arzt sie nach Badenweiler zur Kur. Schweren Herzens ließ sie Mann und Kind in Heidelberg zurück. Nach sieben Wochen kam sie wieder nach Hause. Der nächste Winter brachte einen verstärkten Ausbruch der Tuberkulose. Es waren für die schwangere Elise qualvolle Wochen. Am 20. Januar brachte sie ihre Tochter Elise zur Welt und einen Monat später starb sie in den Armen ihres Mannes. Im Sommer 1849 heiratete Henle Marie Richter, diesmal standesgemäß eine Generalstochter. Sie bekamen vier Töchter und einen Sohn. Die Liebesgeschichte zwischen dem Professor und der Näherin wurde schon zu Elises Lebzeiten in dem Roman »Die Frau Professorin« verarbeitet. Der Autor, der das Experiment aber scheitern ließ, war der mit Henles Schwager Schöll befreundete Berthold Auerbach. Henle war über die Veröffentlichung sehr verärgert. Gottfried Keller, der mit dem Ehepaar näher bekannt war, nahm Elise als Vorbild für »Regine« in seinem 1881, lange nach ihrem Tod, erschienenen Novellenzyklus »Sinngedicht«. Bei George Bernhard Shaw wurde sie zu »Eliza Doolittle« ebenso wie im Musical »My Fair Lady« von Frederick Loewe und Alan J. Lerner 1956.17

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Seit Herbst 1884 litt Henle an einer Nervenerkrankung. Er versuchte zwar zunächst, seine Schmerzen vor der Familie zu verbergen, doch die Lähmungserscheinungen nahmen zu, sodass er bald ans Bett gefesselt war und sich selbst mit Morphium behandelte. Als die Lähmung auch die Atmung befiel und er zusätzlich an Knochen- und Nierenkrebs erkrankte, starb Jakob Henle am 13. Mai 1885 im Alter von 75 Jahren in Göttingen. Sein Grab war lange Jahre unbekannt, da es hinter Eiben und unter Efeu verschwunden war. 2012 wurde es anläßlich einer Ausstellung im Torhaus mit Fotos von Grabmalen Göttinger Persönlichkeiten wieder zugänglich gemacht. Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17

Merkel, Jacob Henle, S. 310. Artelt, Jacob Henle, S. 148 f. Ude-Köller, Ausstellungstext. Ebd. Egloff / Henle, »Mein lieber, böser Schatz«, S. 205. Ebel, Briefe über Göttingen, S. 91. Michelmann, Agathe von Siebold, S. 39 u. 85. Egloff / Henle, »Mein lieber, böser Schatz«, S. 39. Ebd. Ebd., S. 40. Ebd., S. 42. Ebd., S. 43. Ebd. Ebd., S. 133. Ebd., S. 154. Ebd., S. 143. Ude-Koeller, Ausstellungstext.

Wilhelm Eduard Weber 24. Oktober 1804 — 23. Juni 1891

Wilhelm Weber gilt als der erste professionelle Physiker der Georgia Augusta. Zusammen mit Carl Friedrich Gauß konstruierte er den ersten elektrischen Telegraphen. Da er zu den »Göttinger Sieben« gehörte, die in einem Brief an König Ernst August von Hannover gegen dessen Auf‌hebung des Staatsgrundgesetzes protestierten, verlor er seinen Göttinger Lehrstuhl und verließ bis zu seiner Neuberufung für mehrere Jahre die Stadt. Wilhelm Webers Vater war Theologe und hatte bis zur Zusammenlegung mit der Universität Halle einen Lehrstuhl in Wittenberg. Dort kam Wilhelm als elftes von zwölf Kindern zur Welt. Von seinen elf Geschwistern erreichten nur vier ein höheres Alter, die anderen verstarben als Kinder oder junge Erwachsene. Ein Freund und Mietsherr der Familie Weber, der im selben Haus in Halle wohnte, war Professor für Naturgeschichte und von nicht geringem Einfluß auf die beruf‌lichen Entscheidungen der Webersöhne. Wilhelm Weber, sein ältester Bruder Ernst Heinrich und der nach ihm geborene Bruder Eduard Friedrich wurden Naturwissenschaftler. Seine Schulzeit verbrachte Weber in Halle am Pädagogium der Frankeschen Stiftungen. Schon während seiner Schulzeit bezog ihn sein Bruder Ernst Heinrich, der Professor für Anatomie und Physiologie in Leipzig war, in seine Untersuchungen zu Wellenbewegungen mit ein. Das bedeutete Fußmärsche von acht Stunden, die die beiden Brüder Ernst Heinrich und Wilhelm für ihre gemeinsame Arbeit regelmäßig auf sich nahmen. 1825 veröffentlichten sie diese Untersuchungen, wodurch Wilhelm schon als Student in der wissenschaftlichen Welt bekannt wurde. Ostern 1822 immatrikulierte Weber sich an der Philosophischen Fakultät der Universität Halle. Im August 1826 schloß er sein Studium mit der Promotion ab, habilitierte sich im Jahr

58  Wilhelm Eduard Weber darauf und arbeitete als Privatdozent und ab September 1828 als außerordentlicher Professor an der Universität Halle. Im ­Oktober hielt er auf der Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Berlin einen Vortrag über Orgelpfeifen, womit er die Aufmerksamkeit von Alexander von Humboldt und dessen Gast Carl Friedrich Gauß erregte. Weber verlängerte seinen Aufenthalt in Berlin und nutzte die Zeit, um Kontakte zu gleichaltrigen Fachkollegen zu knüpfen. Er ging in die Vorlesungen von Gustav Lejeune Dirichlet, mit dem er bald gut befreundet sein sollte. Diese Freundschaft trug später nicht unwesentlich zu dem Entschluß Dirichlets bei, einen Ruf nach Göttingen anzunehmen. Außerdem vertiefte Weber die Bekanntschaft mit den Brüdern Humboldt und bekam von Alexander von Humboldt den Rat, »bei der messenden Physik zu bleiben«1. 1830 schickte er einige Abhandlungen an Gauß, der ihm Anfang April antwortete: »Wohlgeborener Herr, Hochzuverehrender Herr Professor, Ihr gütiges Schreiben nebst ihren schätz­ baren akustischen Abhandlungen erhielt ich zu einer Zeit, wo die Überhäufung mit Geschäften mich nötigte, letztere einstweilen zur Seite zu legen […].«2 Gauß bekundete in dem ausführ­ lichen Antwortschreiben sein Interesse an Webers Arbeiten. Als im November desselben Jahres der Astronom und Kartograph Tobias Mayer starb, wandte Weber sich wieder an Gauß und bekundete sein Interesse an dessen Stelle in Göttingen. Gauß antwortete diesmal mit »Hochgeehrter Freund […]«, ermunterte ihn, sich zu bewerben und sagte ihm seine Unterstützung zu. Am 29.  April 1831 wurde Weber an die Universität Göttingen berufen.3 Trotz der nun großen Entfernung pflegten die drei WeberBrüder weiterhin ihre enge Beziehung. Ganz so oft wie zu ihrer Zeit in Halle und Leipzig konnten sie sich allerdings nicht mehr treffen. Ihr Weg, den sie zu Fuß in der einen oder anderen Richtung zurücklegten, verband jetzt die Orte Leipzig, Halle, Sangerhausen, Nordhausen, Heiligenstadt und Göttingen. Teils trafen sie sich an einem vorher festgelegten Ort, teils durchwanderten sie die ganze Strecke. Ihre Schwester Lina, die zu dem engen Bund der Brüder gehörte, führte in den Anfangsjahren Webers Haushalt in Göttingen.

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Für Gauß kam der siebenundzwanzig Jahre jüngere Weber gerade zur rechten Zeit. Minna, seine zweite Frau, war nach fast zehnjähriger schwerer Krankheit gerade verstorben. Sein begabter Sohn Eugen hatte sich als Student an der Universität in disziplinarische Schwierigkeiten gebracht und durch Glücksspiel hoch verschuldet. Gauß zeigte für dieses Verhalten kein Verständnis, es kam zum Zerwürfnis, und Eugen wurde zum Auswandern in die USA gezwungen. Auch das Verhältnis zu seinem zweiten Sohn aus der Ehe mit Minna gestaltete sich zunehmend schwieriger. Gauß litt unter all diesen persönlichen Schicksalsschlägen und Schwierigkeiten. Zwischen ihm und Weber bestand von Anfang an ein freundschaftliches, herz­ liches Verhältnis, und es kam zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit. Langsam überwand Gauß seine negative Sicht auf das Leben sowie seine Hoffnungslosigkeit. Auch Webers Schwester Lina erwähnte in einem Brief an den Bruder Ernst Heinrich die

60  Wilhelm Eduard Weber ­ ontakte zwischen den beiden Männern: »Wilhelm kann Gauß K jeden Tag so lange er will genießen. Gauß lebt sehr einsam, und Wilhelm ist ihm zu jeder Stunde willkommen. Gauß ist ein so gesellig gebildeter Mann, daß er in meiner Gegenwart nie von gelehrten Dingen spricht […].« Sie beklagte sich aber auch über die »häufigen und z. T. unvorbereiteten Einladungen«, welche Weber aussprach.4 Mit Weber zogen die physikalische Forschung sowie die Humboldtsche Idee von der Vereinigung von Forschung und Lehre in die Universität ein. Das alte »physikalische Cabinet« wurde modernisiert, sodaß »die Anfänge eines ›physikalischen Instituts‹ und eines ›physikalischen Praktikums‹ […] in den Anfang von Webers Göttinger Tätigkeit«5 fielen. Weber beteiligte sich zunächst an Untersuchungen von Gauß und verlegte seinen Forschungsschwerpunkt von der Akustik auf die Erforschung des Magnetismus und der Elektrizität. Ein Nebenprodukt dieser Arbeiten war die Erfindung des elektromagnetischen Telegraphen. Gauß und Weber forschten zwar an den gleichen Problemen, hatten aber weit voneinander entfernte Arbeitsplätze. Gauß saß in der Sternwarte an der Geismarlandstraße draußen vor der Stadt, und Weber im Physikalischen Institut am Leinekanal. Sie entwickelten den berühmten GaußWeber-­Telegraphen, der 1833 in Betrieb genommen wurde. Dafür mußte ein 1 071 Meter langer Doppeldraht über die Dächer Göttingens gespannt werden. Gauß schilderte die Konstruktion in einem Brief an Alexander von Humboldt: »Eine Drahtverbindung zwischen der Sternwarte und dem Physikalischen Kabinett ist eingerichtet; ganze Drahtlänge circa 5 000 Fuß. Unser Weber hat das Verdienst, diese Drähte gezogen zu haben (über den Johannisturm und Accouchierhaus) ganz allein. Er hat dabei unbeschreibliche Geduld bewiesen. Fast unzählige Male sind die Drähte, wenn sie schon ganz oder zum Teil fertig waren, wieder zerrissen (durch Mutwillen oder Zufall). Endlich ist seit einigen Tagen die Verbindung, wie es scheint, sicher hergestellt; statt des frühern feinen Kupferdrahts ist etwas starker Eisendraht (gefirnißt) angewandt. Die Wirkung ist sehr imponierend […]«.6 Der Telegraph diente elektrischen Messungen und bot die Möglichkeit, sich »Nachrichten mit Lichtgeschwindigkeit über

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die Dächer Göttingens« zuzuschicken.7 Und so wurde das erste Telegramm der Welt in Göttingen versandt. Es soll »Michelmann kömmt« gelautet haben. Gauß teilte Weber darin telegraphisch mit, daß sich Michelmann auf den Weg zu ihm gemacht habe. Ob die Geschichte stimmt, läßt sich nicht mehr nachweisen. Als Zeuge könnte Emil Michelmann, der Enkel, angeführt werden. Er schrieb 1909, daß Gauß »als erstes Wort meinen mir vom Großvater, Webers ›treuen Stütze‹, vererbten Namen« telegraphiert habe.8 Gesichert ist aber wohl der Inhalt des ersten offiziellen Telegramms: »Wissen vor Meinen, Sein vor Scheinen«, dessen Übermittlung 4 ½ Minuten dauerte.9 Erst nach der Fertigstellung der Telegraphenleitung holte Weber die Genehmigung für deren Installation mit einem Brief vom 15.  April 1833 an den Magistratsdirektor Ebell ein: »Ew. Hochwohlgeboren beehre ich mich, gehorsamst anzuzeigen, daß ich, zum Zwecke einer wissenschaftlichen Unternehmung, einen doppelten Bindfaden von dem mir untergebenen physikalischen Kabinet auf den hiesigen Johannisthurm und da weiter zur Sternwarte habe aufspannen lassen, – und verbinde damit die ergebenste Bitte, daß Sie diesem Unternehmen, welches nicht ohne Interesse für die Wissenschaft ist, möglichst Ihren Schutz angedeihen lassen mögen […].« Und zwei Absätze später: »Nur Übelwollen oder völlige Unkenntnis können Gerüchte verbreiten, als sey mit dieser Vorrichtung Gefahr irgend einer Art, z. B. bei Gewittern, verbunden.«10 Ein Blitzschlag zerstörte am 16. Dezember 1845 die Leitung, worüber es eine ausführliche Schilderung von Gauß gibt: »[…] Der auf den Johannisthurm aufgefallene sehr starke Blitzschlag hat sich wahrscheinlich ganz auf diese Drähte vertheilt, sie alle zerstört, in theils größere theils kleinere Stücke zerlegt, Stücke von 4–5 Zoll Länge und zahllose Kügelchen wie Mohnkörner, die alle einen prachtvollen Feuerregen gebildet haben. […] Schaden ist gar nicht geschehen, außer daß einer Dame von herabfallenden glühenden Drahtstücken ein paar Löcher durch den Hut gebrannt sind, aber sehr wahrscheinlich haben die Drähte den Thurm geschützt, der gar keine Ableitung darbietet, und, entzündet, bei dem heftigen Sturm, vielleicht Bibliothek und Stadt in große Gefahr gebracht haben würde.«11

62  Wilhelm Eduard Weber Wirtschaftliche Erfolge konnten Gauß und Weber mit dem Telegraphen nicht verzeichnen, obwohl sie Überlegungen zu seiner praktischen Verwertbarkeit anstellten. »Wäre nur zu den Kosten Rat zu schaffen, so meine ich, würde man unmittelbar von Göttingen nach Hannover korrespondieren können. Ich habe selbst den Einfall gehabt, ob man in Zukunft, wenn erst Eisenbahnen allgemeiner sind, nicht die Gleise selbst […] anstatt der Leitungsdrähte gebrauchen könnte«, schrieb Gauß in einem Brief im Juni 183312 und zwei Jahre später, im Herbst 1835: »Mich soll wundern, wo man zuerst die elektromagnetische Telegraphie praktisch und in großem Maßstabe ins Leben treten lassen wird. Früher oder später wird dies gewiß geschehen […] Bei mir bleibt dies freilich bloß eine Idee, da ich mich auf kostspielige Versuche, die keinen unmittelbar wissenschaftlichen Zweck haben, nicht einlassen kann.«13 Zur wirtschaftlichen Seite von wissenschaftlicher Arbeit soll Weber gesagt haben, daß die Gelehrten den Gedanken, ein Vermögen zu machen, ausdrücklich ablehnten, »da es ihnen nur darauf ankäme, daß die Menschheit gewönne«.14 Die fruchtbare Zusammenarbeit fand ihr vorläufiges Ende, als in Hannover König Ernst August die Herrschaft übernahm und als eine seiner ersten Amtshandlungen das von seinem Bruder Wilhelm IV. erlassene Staatsgrundgesetz auf‌hob. Er könne »das Staatsgrundgesetz von 1833 nicht zu Recht bestehend ansehen«. Er löste die Ständeversammlung auf und erklärte »die ›königlichen Diener‹ ihres Eides […] für entbunden«. Gleichzeitig forderte er sie zur Einsendung von Dienst- und Huldigungs-Reversen auf. Weber gehörte zu den Initiatoren und Unterzeichnern des von den »Göttinger Sieben« verfaßten Protestschreibens an den König.15 Er war bis in sein hohes Alter ein politisch sehr interessierter Mensch. Gauß hingegen hielt sich aus der Diskussion heraus. Er fürchtete Konsequenzen, denen er sich nicht mehr gewachsen fühlte. An Alexander von Humboldt schrieb er: »Anderswo […] von Neuem anzufangen ist in meinem Alter und bei mancherlei nicht so leicht abzuschüttelnden Bleigewichten, die an mir hängen, schwer, jedenfalls immer mit Verlust mehrerer Jahre, die man in meinem Alter höher anschlägt, verbunden.«16

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Im Dezember 1837 wurden die sieben Professoren entlassen. Der Historiker und Staatswissenschaftler Friedrich Christoph Dahlmann, die Sprach- und Literaturwissenschaftler Jacob und Wilhelm Grimm und der Historiker Georg Gottfried Gervinus wurden des Landes verwiesen und siedelten nach Kassel über. Gauß versuchte, auch unter Einschaltung von Alexander von Humboldt, Webers Entlassung rückgängig zu machen. Weber blieb »aus Anhänglichkeit an mich«, wie Gauß schrieb17, zunächst noch in Göttingen. Das Vorgehen des Königs und das Schicksal der Sieben erregte ganz Deutschland. Heinrich Weber schilderte die Reaktionen: »Von allen Seiten, sowohl aus Gelehrten- wie aus bürgerlichen Kreisen, liefen Schreiben der Teilnahme und Anerkennung ein, und Gedichte verherrlichten ihr Vorgehen. […] Es bildeten sich sofort über ganz Deutschland verbreitete Komitees, welche sich zur Aufgabe stellten, durch Sammlungen Geldmittel herbeizuschaffen, durch welche jedem der sieben Professoren das bis dahin bezogene Gehalt so lange ausbezahlt werden sollte, bis dieselben entsprechende Neuanstellungen erhalten haben würden.«18 Leipzig setzte sich an die Spitze der Bewegung, der auch Städte wie Hamburg, Berlin und andere folgten. Zunächst scheuten die Sieben sich, die Gelder anzunehmen. Webers Bruder Ernst Heinrich schrieb daher im Januar an ihn: »Es thut mir Leid, daß Ihr die subscribirten Summen anzunehmen und zu verwenden Bedenken tragt. Ich fürchte, daß dadurch die Subscription selbst ins Stocken kommen wird. Ich finde es höchst ehrenvoll, daß es zu einer solchen Subscription gekommen ist, und zwar nicht von Parteimännern, sondern von gemäßigten und zum Theil der Politik ziemlich fern stehenden.«19 In einem späteren Brief teilte er ihm mit, daß selbst im Voigtlande und Erzgebirge die ärmsten Leute sich beteiligt hätten. Das »Comité des Göttinger Vereines« in Leipzig konnte im Dezember 1842 seine Arbeit einstellen, nachdem auch Weber einen Ruf an die dortige Universität erhalten hatte, wo er dann Ostern 1843 seine Professur für Physik antrat. Aus den noch zur Verfügung stehenden Geldern zahlten sie Weber, der »zu Gunsten seiner Herrn Collegen auf einen großen Theil der ihm zukommenden Gelder« verzichtet hatte, den ihm noch zustehenden Anteil aus. Weber stellte dieses Geld einer Stiftung der

64  Wilhelm Eduard Weber Leipziger Universität zur Verfügung. Sein Umzug nach Leipzig führte ihn wieder mit seinen Brüdern zusammen, bei denen er zunächst abwechselnd Unterkunft fand. Das Jahr 1848 mit seinen revolutionären Unruhen ließ die deutschen Regierungen nicht unberührt und führte auch in Hannover zu einem Umdenken. König Ernst August hätte die sieben Professoren gern wieder an der Universität Göttingen gesehen. Im April 1848 erhielt Weber eine Anfrage aus Hannover, »ob er eventuell geneigt sein würde, in Göttingen wieder eine Professur anzunehmen«.20 Es war für ihn keine leichte Entscheidung, denn in Leipzig lebten seine Brüder, und er hatte einen großen Freundeskreis. Freunde und Kollegen rieten ab und auch Gauß schaltete sich ein: »[…] Der mathematischen Klasse unserer Societät würden Sie ein neues Leben geben. Daß wir zusammen so viel miteinander arbeiten würden, wie in jenen glücklichen früheren Jahren, darf ich vielleicht nicht hoffen, […], weil ich 10 Jahre älter, in meinen physischen Kräften sehr empfindlich herabgekommen« bin. »Ja, ich muß hinzusetzen, auch mein ganzer Lebensmuth ist gesunken, und daran haben eben jene früheren Ereignisse großen Antheil. Ich habe mich in den letzten Jahren so schmerzlich alleinstehend gefühlt. […] Aber weiter darf ich Ihren eigenen Entschließungen nicht vorgreifen. Von Herzen der Ihrige, C. F. Gauß«21. Ostern 1849 zog Weber wieder nach Göttingen. Sein Institut, das während seiner Abwesenheit von Johann Benedict Listing betreut worden war, wurde nach seiner Rückkehr in zwei Lehrstühle aufgeteilt. Weber wurde mit der Experimentalphysik, Listing mit der Mathematischen Physik betraut. Aus den Mitteln, die Weber jetzt zur Verfügung gestellt wurden, konnte er die Apparatesammlung modernisieren. Die Geräte sind heute noch in der Sammlung der historischen physikalischen Apparate vorhanden. Weber forschte weiterhin auf dem Gebiet der Elektrizität und auch seine in Leipzig begonnenen Forschungen zum Elektromagnetismus setzte er fort. Er realisierte die Stromeinheit, die später nach dem Franzosen AndréMarie Ampère benannt wurde. Einige Zeit nach seiner Rückkehr nach Göttingen kaufte er sich ein Grundstück mit einem kleinen, zunächst nur als Som-

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merhaus gedachten Gebäude in der Jüdenstraße 40. Es lag zwar mitten in der Stadt, war aber von Gärten umgeben und bot ihm Ruhe und die Möglichkeit zum Rückzug. Das Gebäude wurde 1914 im Zusammenhang mit dem Bau der Pestalozzischule abgerissen. Bis zum Tod von Gauß verblieben nur noch sechs Jahre der gemeinsamen Arbeit. Aber auch den Tod von jüngeren Freunden mußte Weber erleben. Peter Gustav Lejeune Dirichlet, den er hatte bewegen können, als Nachfolger von Gauß 1855 von Berlin nach Göttingen zu wechseln, verstarb vierundfünfzigjährig schon vier Jahre später.22 Da dessen Frau Rebecca, geb. Mendelssohn-Bartholdy, einige Monate zuvor im Alter von siebenundvierzig Jahren einem Schlaganfall erlegen war, nahm Weber sich als Vormund der verwaisten Kinder an. Seinen 70. Geburtstag feierte er nur in einem kleinen Kreis, und auch der Feier des fünfzigjährigen Doktorjubiläums entzog er sich durch eine Reise nach Karlsbad, wo ihn eine große Zahl offizieller Schriftstücke und Gratulationen erreichten. Doch den 80. Geburtstag und die 60. Wiederkehr des Jahrestages seiner Promotion feierte er in festlichem Rahmen. Er erhielt viele öffent­liche Ehrungen, war Mitglied in neunzehn Akademien und Gesellschaften der Wissenschaften und in etwa dreiundzwanzig wissenschaftlichen Vereinen im In- und Ausland. Weber war nicht verheiratet. Nach seiner zweiten Übersiedlung nach Göttingen führte ihm seine Nichte Sophie den Haushalt. Er pflegte viele persönliche Kontakte zu seinen Kollegen und deren Frauen und hatte gerne Gäste, die er manchmal mit selbstangebautem und selbstgekeltertem Wein bewirtete. Er bezeichnete sich als den einzigen Weinbauern des Leinetals. Seinem Wein hatte er den Namen »Borkenhäusler« gegeben. Er war rüstig bis ins hohe Alter, litt aber sehr unter seinem nachlassenden Gedächtnis. Anfang 1891 erkrankte er an einer Gelbsucht, die ihn sehr schwächte. Nach einer kurzen Erholungsphase kehrte die Krankheit zurück und er fühlte den Tod herannahen. Seine Gedanken weilten häufig bei seinem Bruder Ernst Heinrich. »Gott hat mich gerufen. Ich muß fort, mein Bruder Ernst erwartet mich.«23 Am 23.  Juni 1891, dem ersten sonnigen Tag nach einer längeren Regenperiode, bat er seine

66  Wilhelm Eduard Weber Nichte, ihn zu seinem Lehnstuhl in dem geliebten Garten zu bringen. Er verbrachte den Tag dort, immer wieder in einen leichten Schlaf versinkend. Kurz vor Sonnenuntergang verstarb er. Er wurde 86 Jahre alt. »Die Trauerkunde trug der Telegraph nach allen Richtungen fort, bei allen, die ihn gekannt hatten, innige Teilnahme erweckend. Am 26. Juni morgens fand das Begräbnis unter außerordentlicher Beteiligung statt. […] Jetzt liegt er gebettet in einer der ersten Grabstätten des Friedhofs in Göttingen.«24 Sein Grabmal ist mit der Inschrift »Von Gott zu einer höheren Thätigkeit abberufen ruht hier die sterbliche Hülle von Wilhelm Weber« versehen. Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24

Weber, Wilhelm Weber, S. 11. Ebd., S. 17. Ebd., S. 20. Ebd., S. 24 f. Hund, Die Geschichte der Göttinger Physik, S. 38. Zitiert nach Biermann (Hg.), Carl Friedrich Gauß, Brief 108, S. 153. Hoffmann / Maack-Rheinländer (Hg.), »Ganz für das Studium angelegt«, S. 184. Michelmann, Agathe von Siebold, S. 34. Hoffmann / Maack-Rheinländer (Hg.), »Ganz für das Studium angelegt«, S. 184. Brief von Weber vom 15. April 1833. Zitiert nach Drogge, 150 Jahre elektromagnetische Telegrafie, S. 82. Zitiert nach Biermann (Hg.), Carl Friedrich Gauß, Brief 108, S. 154. Zitiert nach ebd., Brief 113, S. 157. Zitiert nach Michelmann, Agathe von Siebold, S. 261. Vgl. Weber, Wilhelm Weber, S. 43 f. Ebd., S. 48. Biermann (Hg.), Carl Friedrich Gauß, Brief 123, S. 166. Weber, Wilhelm Weber, S. 48. Ebd. Ebd., S. 86. Zitiert nach ebd., S. 88. Das sehr gut erhaltene Grab des Ehepaares Lejeune Dirichlet befindet sich auf dem Göttinger Bartholomäusfriedhof. Weber, Wilhelm Weber, S. 109. Ebd., S. 110 f.

Max Born 11. Dezember 1882 — 5. Januar 1970

Max Born, der für seine grundlegenden Beiträge zur Quantenmechanik 1954 mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet wurde, hatte zweifelsohne großen Anteil an der Sternstunde der Göttinger Wissenschaft im 20.  Jahrhundert. Zugleich war er aber auch als Physiker jüdischer Herkunft Leidtragender eines der schwärzesten Kapitel der Göttinger Universitätsgeschichte. Born wuchs in einer großbürgerlichen deutsch-jüdischen Familie in Breslau auf. Sein Vater, lehrte als Dozent für Anatomie an der dortigen Universität. Borns Mutter, Tochter einer Fabrikantenfamilie, verstarb, als er ein Kleinkind war. Seinen Vater verlor er als Siebzehnjähriger, ein halbes Jahr vor seinem Abitur. 1901 immatrikulierte Born sich an der Breslauer Universität und belegte, dem Rat seines verstorbenen Vaters folgend, Vorlesungen verschiedener Fachrichtungen, um sich vor seiner Entscheidung einen Überblick zu verschaffen. Nach einem Jahr wechselte er an die Heidelberger Universität. »Nach Heidelberg und Freiburg ging man, wenn man ein fröhliches Sommersemester in schöner und romantischer Umgebung erleben wollte«1, so Max Born in seiner Autobiographie. Dort lernte er am ersten Tag den Experimentalphysiker James Franck kennen, der für seinen Beitrag zur Quantenphysik später ebenfalls den Nobelpreis erhalten sollte. Das war der Beginn ihrer lebenslangen Freundschaft. Auf Anraten eines Freundes ging Born 1904 nach Göttingen, wo die großen Mathematiker Felix Klein, ­David Hilbert, Hermann Minkowski und Carl Runge ihr Fach zu Weltruhm geführt hatten. Born konzentrierte sich jetzt auf die Physik und die Mathematik. 1905 wurde er von Hilbert als Vorlesungsassistent ausgewählt. Als Born stellvertretend für einen erkrankten Kollegen ein Referat vor Klein hielt und dieser ihn vor Begeisterung ob der erbrachten Leistung für den

68  Max Born ­jährlich verliehenen Preis der Philosophischen Fakultät vorschlagen wollte, lehnte Born eine Bewerbung zunächst ab. Dies führte zu heftiger Verärgerung des »großen Felix«, was Born und seinen Freunden besorgniserregend erschien, denn »Klein zum Feind zu haben bedeutete in Deutschland das Ende einer Mathematikkarriere.«2 Borns Entschuldigung, die er zur Schadensbegrenzung aussprach, wurde eisig aufgenommen, obwohl er die Arbeit doch noch einreichte und den Preis erhielt. Er promovierte 1906 bei Carl Runge, mündlich geprüft wurde er von den Mathematikern Hilbert und Runge, dem Physiker Woldemar Voigt und dem Astronom Karl Schwarzschild. Born über die Prüfung: »Als Astronomie an die Reihe kam, hatte ich mich so sehr beruhigt, daß ich mir eine ziemliche Unverschämtheit herausnahm. Schwarzschild begann mit der Frage: ›Was würden sie tun, wenn sie eine Sternschnuppe sehen?‹ Frech antwortete ich: ›Oh, ich würde mir etwas wünschen.‹ Hilbert, der zuhörte, lachte herzlich, doch Schwarzschild blieb ernst und sagte: ›So, wirklich? Aber was noch?«3 Direkt nach der Doktorfeier verließ Born Göttingen. »Ich hatte die Stadt ziemlich satt und beschloß, nie mehr zurückzukehren.«4 Nach Stationen in Cambridge und Breslau ließ sich Born im Dezember 1908 auf Bitten Minkowskis jedoch abermals in Göttingen nieder. Dort habilitierte er sich 1909 mit einer Arbeit über »Das relativistische Elektron«. Beruf‌lich und gesellschaftlich gut eingebunden, fühlte er sich jetzt entgegen seines vormals vehement gefassten Entschlusses wohl in der Universitätsstadt – es wurde viel musiziert und Tennis gespielt, man machte Spaziergänge im Hainberg und im Winter wurde zu Tanzabenden eingeladen. 1913 heirateten Max Born und Hedwig Ehrenberg, Tochter des Handelsrechtlers und Vaters des Versicherungsrechts ­Victor Ehrenberg und Enkeltochter des berühmten Rechtswissenschaftlers Rudolf von Jhering. Ihre Familie stammte über die mütterliche Linie vom ältesten Sohn Martin Luthers ab. Da Born, der jüdische Vorfahren hatte, es ablehnte, sich taufen zu lassen, gab es zwar »eine Hochzeit im großen alten Stil«, aber nur eine »halbreligiöse« Zeremonie im Haus seiner Schwester in Grünau. Ausgestaltet wurde sie von Pastor Luther, einem

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Freund des Hauses Ehrenberg und, wie Born vermutete, vielleicht ein entfernter Verwandter.5 Die Hochzeitsreise führte nach Kopenhagen, Schweden und zu einer Tagung nach Wien. Anschließend bezog das Ehepaar seine Göttinger Wohnung »Am Weißen Stein 4«. Dort wurde ihr erstes Kind, die Tochter Irene geboren. Im August 1914 erhielt Born einen »schicksalhaften Brief« aus Berlin.6 Der große Max Planck, einer der bedeutendsten Physiker Deutschlands, wollte zu seiner Entlastung eine außer­ ordentliche Professur einrichten lassen, die er Born anbot. Nachdem das Erziehungsministerium zugestimmt hatte, zogen die Borns 1915 nach Berlin in die Vorstadt Grunewald. Als schüchterner, zurückhaltender Mensch fand Born zunächst nur schwer Anschluß. Einer der ersten, zu denen er Kontakt aufnahm, war Albert Einstein, den Planck schon 1912 nach Berlin geholt hatte. Mit ihm fühlte er sich nicht nur durch die Physik,

70  Max Born sondern auch durch die Musik verbunden. »Bald kam er mit seiner Geige in unser Haus, um mit mir Sonaten zu spielen und erstaunte Hedi durch seine herrlich unkonventionellen Manieren. Er zog sein Jackett aus, nahm die losen Manschetten seines Hemdes – damals Röllchen genannt – ab und fiedelte mit größter Leichtigkeit und Begeisterung.«7 Born selbst war ein ausgezeichneter Pianist. Zu den frühesten Erinnerungen seines Sohnes Gustav gehörte, daß er unter den beiden Flügeln im elter­lichen Hause lag und »der wundervollen Musik« seines Vaters und Werner Heisenbergs zuhörte, »ein himmlisches Vergnügen für ein musikalisches Kind«8. Im Sommer 1915 veröffentlichte Born sein erstes Buch – die Abhandlung »Dynamik der Kristallgitter« –, das ihn bekannt machte. Kurz darauf drohte trotz seines Asthmas die Einberufung zum Kriegsdienst. Er meldete sich bei einer Einheit von Physikern und Technikern, die an der Entwicklung von Funkgeräten für Flugzeuge arbeiten sollten. Nach kurzer Zeit wechselte er zur Artillerie-Prüfungs-Kommission, die sich in Berlin befand und die eine Dienststelle für wissenschaftliche Messungen auf‌bauen sollte. Ihm unterstand eine Gruppe von Studenten der Mathematik und Physik. Er versuchte, die jungen Leute durch diese Arbeit so lange wie möglich vor dem Einsatz an der Front zu bewahren. Angebote, sich einer Gruppe von Physikern anzuschließen, die den Gaskrieg vorbereiten sollten, lehnte er mit Entschiedenheit ab. Zu Beginn des Jahres 1919 zog die Familie Born mit den beiden Töchtern – 1915 war die zweite Tochter Gritli geboren worden – nach Frankfurt. Der Grund für diesen Wechsel war Max von Laues Wunsch, zu seinem verehrten Mentor und Freund Max Planck nach Berlin zurückkehren zu können. Dazu Gustav Born: »Deshalb wandten sich die beiden jungen Mäxe an den älteren Max wegen des Tauschs der Lehrstühle; und dies wurde durch einen einseitigen Brief von Planck an den Minister zustande gebracht.«9 Das Ehepaar Born war froh, das unruhige, revolutionäre Nachkriegsberlin verlassen zu können. In Frankfurt erhielt Born seinen ersten ordentlichen Lehrstuhl und die Familie fand dort »das hübscheste Haus, das wir je besaßen«10.

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Schon zwei Jahre später wurde Born »unter höchst günstigen Bedingungen eine Professur in Göttingen angeboten.«11 Als Student hatte er sich »über das Leben in der langweiligen kleinen Stadt und über ihre spießbürgerlichen Bewohner«12 beklagt, in der er jetzt die nächsten zwölf Jahre bis zu seinem erzwungenen Abschied verbringen sollte. Bei seinen Verhandlungen mit dem Erziehungsministerium in Berlin bemerkte er, daß es eine zweite Vakanz gab. Er machte seine Zusage abhängig von der Besetzung dieses zweiten Lehrstuhls. Nicht nur dieser Bedingung wurde stattgegeben, Born konnte auch selbst einen Kandidaten benennen. Die Wahl fiel auf seinen Freund aus Heidelberger Tagen, James Franck. So konnte Born sich auf die theoretische Physik konzentrieren, während Franck die experimentelle Seite abdeckte. Unter Born und Franck begann 1921 das »goldene Jahrzehnt« der Göttinger Physik. In dieser Zeit brachte die Georgia Augusta eine ganze Generation von Atomwissenschaftlern von Weltrang hervor: Dazu gehörten Werner Heisenberg, Wolfgang Pauli, Robert Oppenheimer, Friedrich Hund, Maria Göppert-Mayer, Edward Teller und Max Delbrück, die sich um Born und Franck versammelten. »Der Kreis Borns und Francks war«, wie Friedrich Hund berichtete, »ein einzigartiges Zusammenspiel begeisterter junger Leute.« Es wurde aber nicht nur intensiv gearbeitet, sondern man »feierte zusammen Feste, wanderte zu Werra und Weser und trieb auch fröhlichen Unfug.«13 Die Borns zogen in Göttingen zunächst in eine Wohnung in der Planckstraße. Gustav Born, dort geboren, erinnerte sich: »Der Garten war groß, die Straße ruhig, abgesehen von einer schrillen Opernsopranistin im gegenüberliegenden Haus, die bei geöffnetem Fenster übte.«14 Nach einem weiteren Umzug kauften die Borns ein Haus in der Wilhelm-Weber-Straße, in das auch Hedis verwitweter Vater einzog. Die Wohnung hatte einen großen Salon, in dem die zwei Flügel Platz fanden. Es gab herrliche Musikabende, aber auch, laut Borns Schilderung, ein größeres Problem: »Eines Tages sah ich Irene und Gritli zu, wie sie auf dem Parkettboden des Musikzimmers mit Murmeln spielten, und dabei entdeckte ich ein merkwürdiges Phänomen: die Murmeln zeigten eine deutliche Tendenz, in die Mitte des

72  Max Born ­ immers zu rollen. Wohin sie auch von den kleinen Mädchen Z geworfen wurden – sie rollten langsam und wie von einer Kraft gezogen zur Mitte des Fußbodens zwischen den beiden Flügeln. Diese Beobachtung setzte das Gehirn des Physikers in Tätigkeit. Ich holte einen Bindfaden und ließ Irene und Gritli die Enden an den unteren Rand der gegenüberliegenden Wände halten. Es zeigte sich, daß sich der Bindfaden fünf oder sechs Zentimeter über dem Boden in der Mitte befand. Dies bedeutete offenbar, daß der Boden nicht stark genug war, um die beiden Flügel zu tragen.«15 Ein Träger mußte durch ein Loch in der Außenwand eingezogen werden und unter der Decke des Eßzimmers des unter ihnen wohnenden Herrn befestigt werden. 1926 erfolgte die Veröffentlichung der Untersuchungen der Prinzipien der Quantenmechanik, die »Drei-Männer-Arbeit« von Born, Heisenberg und Pascual Jordan. Den Winter 1925/26 verbrachte Born mit einer Vorlesungsreise über das neue Gebiet der Quantenmechanik in den USA . Sie zog viele Zuhörer an und eine beträchtliche Anzahl junger Physiker kam darauf‌hin nach Göttingen. Einer von ihnen war Robert Oppenheimer, der spätere »Vater der Atombombe«. Die Anzahl der Studenten Borns stieg stark an. Er hielt jetzt ein privates, rein theoretisches Fortgeschrittenen-Kolloquium im Studierzimmer seines Hauses. Viele Jahre später schrieb er in seinen Erinnerungen: »Dies war vermutlich die brillanteste Ansammlung junger Talente, die damals zu finden war. […] Ich kann mich nicht an irgendwelche speziellen Diskussionen bei diesen Zusammenkünften erinnern, sondern nur noch gut an den allgemeinen Eindruck, daß es bald sehr schwierig für mich war, den Argumenten dieser jungen intelligenten Burschen zu folgen.«16 Von der Reise in die USA brachte Born eine elektrische Eisenbahn mit. »Sie wurde in Erwartung einer Willkommensparty auf dem Fußboden des Wohnzimmers aufgebaut. Der Abend kam mit Getränken und Canapés, aber, entsetzlich, der Zug fuhr nicht. Die anwesenden Weltklassephysiker zückten Notizbücher und Stifte, um zu berechnen, was falsch sein könnte – anwesend waren sicherlich Heisenberg und Victor Weisskopf und Marie Göppert-Mayer und wahrscheinlich auch Robert Oppenheimer, Enrico Fermi, Wolfgang Pauli und andere auf

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diesem Niveau: Sie hatten kein Glück – die Berechnungen halfen nicht. Inzwischen wurde meine Mutter tätig, sie nahm die Schienen auseinander, testete eine nach der anderen, fand und tauschte die defekte aus und, hurra, es funktionierte zur großen Freude des Fünf‌jährigen,« amüsierte sich Gustav Born noch Jahre später.17 Der Wahlsieg der Nationalsozialisten 1933 und die darauf‌folgende antisemitische Kampagne setzten der glanzvollen Zeit der Universität ein jähes Ende. Anfang April wurde das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums erlassen. Beamte jüdischer Herkunft wurden darauf‌hin vom Dienst suspendiert. Davon waren mehr als fünfzig Göttinger Dozenten und Professoren betroffen, die ihre Namen aus den Zeitungen vom 25. April erfuhren. Die Borns zogen darauf‌hin ihren Sommerurlaub vor und fuhren am 9. Mai in die ihnen vom Vorjahr bekannte Ferienwohnung im Grödnertal. Dort erreichten Max Born Angebote mehrerer ausländischer Universitäten. In einem Brief an das Kultusministerium in Berlin vom 9.  August 1933 bat Born um seine endgültige Entlassung. Sein Ersuchen wurde abgelehnt. In der Chronik der Universität Göttingen liest man unter Punkt 17 vom Oktober 1933: »Professor Dr. phil. M. Born (theoretische Physik) wird für 3 Jahre zum Zweck wissenschaftlicher Arbeiten an der Universität Cambridge beurlaubt.«18 An seinen Münchner Kollegen Sommerfeld, der zusammen mit Planck und Laue versucht hatte, Borns Emigration abzuwenden, schrieb er: »Man kann einem Staate nicht dienen, der einen als Bürger zweiter Klasse behandelt und die Kinder gar noch schlimmer.«19 Ende September verließen die Borns das Grödner­ tal und emigrierten nach England. Ab 1934 lehrte und forschte Max Born zuerst in Cambridge, von 1936 bis zu seiner Emeritierung 1953 hatte er dann eine Professur für theoretische Physik in Edinburgh inne. Bis 1938 wurde sein Göttinger Gehalt auf ein gesperrtes Konto überwiesen, konnte also nicht ins Ausland transferiert werden. Im selben Jahr wurde er ausgebürgert und sein Eigentum konfisziert. Die Familie Born fühlte sich in Schottland sehr wohl. Trotzdem kehrten sie 1953 nach Deutschland zurück. Ein Grund war die finanzielle Situation. In Großbritannien erhielt Born nur

74  Max Born eine geringe Pension, von der die Familie nicht leben konnte. In Deutschland stand ihm wieder sein volles Professorengehalt zu, auf das er aber vom Ausland aus keinen Zugriff hatte. Ein anderer Grund war der Wunsch des Ehepaares, seinen Beitrag zur Wiederherstellung der Demokratie in Deutschland leisten zu können. Und Born empfand ein »unüberwindliches Heimweh nach der deutschen Sprache und Landschaft«20. Sie zogen nach Bad Pyrmont, an den Ort, den sie aus ihrer Verlobungszeit in guter Erinnerung hatten. Die Universität Göttingen stellte ihnen einen Wagen mit Chauffeur zur Verfügung, so daß die Stadt jederzeit und bequem erreichbar war. 1954 erhielt Max Born den Nobelpreis für Physik »für seine grundlegenden Forschungen in der Quantenmechanik, besonders für seine statistische Interpretation der Wellenfunktion«.21 Er nutzte sein internationales Ansehen jetzt, um auf die Gefahren des Atomzeitalters für die Menschheit aufmerksam zu machen. 1957 gehörte er zu den achtzehn Unterzeichnern der »Göttinger Erklärung« gegen die Rüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen. Sein Sohn Gustav Born blieb in England, seine beiden Töchter lernten ihre Ehemänner in Cambridge kennen und blieben ebenfalls dort: Gritli heiratete einen englischen Physiker, Irene einen Walliser. Irenes Familie wanderte in den späten 50er Jahren nach Australien aus, wo ihr Mann eine Professur für deutsche und französische Literatur antrat. Ihre jüngere Tochter Olivia Newton-John machte Karriere als Folk- und Popsängerin. Max Born war nicht nur ein hochmusikalischer Wissenschaftler, der Entspannung bei Kompositionen von Bach bis Brahms fand, er liebte auch Gedichte jeder Art, von denen er viele auswendig vortragen konnte. Nach seiner Emeritierung vergnügte er sich mit der Übertragung von Texten von Wilhelm Busch ins Englische. Seine Übersetzung des »Maler Klecksel« wurde in den USA ein großer Erfolg. Norbert Wiener hob Max Borns Liebenswürdigkeit hervor und schrieb über ihn: »Born ist stets eine ruhige, edle, musikalische Seele gewesen; es gab nichts Schöneres für ihn, als mit seiner Frau vierhändig Klavier zu spielen. Er war der bescheidenste Gelehrte, den ich kannte.«22

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Am 5. Januar 1970 starb Max Born in Göttingen. Er wurde 87 Jahre alt. Sein Grab, in dem zwei Jahre später auch seine Frau beigesetzt wurde, befindet sich neben dem Grab ihrer Eltern Ehrenberg und ihres Großvaters von Jhering. Den Grabstein ziert die für die Quantenmechanik essentielle Gleichung der »kanonischen Vertauschungsregel«: pq − qp = h/2πi. Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22

Born, Mein Leben, S. 103. Ebd., S. 152. Ebd., S. 158. Ebd., S. 158 f. Ebd., S. 159. Ebd., S. 225. Ebd., S. 233 Born, The Born Family, S. 26. Ebd., S. 37. Born, Mein Leben, S. 264. Ebd., S. 274. Ebd. Hund, Born, S. 37. Born, The Born Family, S. 41. Born, Mein Leben, S. 281. Ebd., S. 311. Born, The Born Family, S. 43 f. Universitätsbund Göttingen. Mitteilungen, S. 26. Zitiert nach Eckert, Die Atomphysiker, S. 157. Born, Mein Leben, S. 377. Das Göttinger Nobelpreiswunder, S. 113. Hermann u. a. (Hg.), Deutsche Nobelpreisträger, S. 111.

Rudolf von Jhering 22. August 1818 — 17. September 1892

Rudolf von Jhering kam 1837 zum Studium der Rechtswissenschaften nach Göttingen und setzte damit eine lange Familientradition fort. Über ganze Generationen hinweg waren seine Vorfahren väterlicherseits angesehene Juristen, überwiegend im Staatsdienst. Er gilt als einer der einf‌lußreichsten und international bekanntesten Juristen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Im Alter von sieben Jahren hatte Jhering seinen Vater verloren. Seine Mutter war in seinen Augen mit der Erziehung der sechs Kinder überfordert. Als junger Schüler überreichte er ihr eines Tages das dreibändige, international erfolgreiche Erziehungsbuch von August Hermann Niemeyer »Grundsätze der Erziehung und des Unterrichts für Eltern, Hauslehrer und Schulmänner«,1 und verlangte von ihr, ihn zukünftig danach zu erziehen. Der hochbegabte Jhering langweilte sich in der Schule und machte ein Jahr früher als seine Altersgenossen das Abitur. Mit siebzehn begann er im Mai 1836 das Studium der Rechte in Heidelberg mit dem Ziel, Verwaltungsjurist zu werden. Sein eigentliches Interesse galt aber der Literatur. So widmete er sich in seinen zwei Heidelberger Semestern mehr der Schriftstellerei als der Jurisprudenz. Das dritte Semester verbrachte er in München, wo er den Dichter Friedrich Hebbel, den er in Heidelberg kennengelernt hatte, wiedertraf. Unter dessen Einf‌luß gab er den Besuch von Vorlesungen jetzt endgültig auf. Er verfaßte eine Novelle und war davon überzeugt, das Talent zu einem humoristischen Schriftsteller zu haben. Stolz schickte er seiner Mutter das Manuskript einer seiner Geschichten. Doch statt der erwarteten Bewunderung kam die Auf‌forderung, sofort nach Hause zu kommen. Zum weiteren Studium wurde er nach Göttingen geschickt. »Damit war für mich der Gedanke einer Literatur­

78  Rudolf von Jhering existenz für immer abgethan, denn in Göttingen war dafür gesorgt, daß derselbe keine weitere Nahrung fand […].«2 Die Familie erwartete jetzt ein ernsthaftes Studium der Rechte von ihm. Professor Johann Heinrich Thöl, seinem Göttinger Lehrer und väterlichen Freund, gelang es zum Erstaunen aller, Jherings Interesse für die Rechtswissenschaften zu wecken. Er sollte sich nun im Laufe der Jahre zu einem der prominentesten Juristen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickeln. 1837 erlebte Jhering die Vertreibung der Göttinger Sieben durch König Ernst August, aber außer einer kurzen Tagebucheintragung ohne Stellungnahme gibt es keine weiteren Äußerungen des jungen Studenten zu diesem Ereignis. Politik war ihm nicht wichtig. Jherings Wunsch, in den hannoverschen Staatsdienst als Verwaltungsjurist einzutreten, scheiterte daran, daß sein älterer Bruder bereits in ebendiesen Dienst aufgenommen war. Zwei höhere Verwaltungsjuristen aus derselben Familie wollte man nicht beschäftigen. Sein Bruder Georg war bereit, seine »BeamtenCarriere aufzugeben u. Advokat zu werden unter der Bedingung, daß es auf diese Weise Dir gestattet werde, in die Beamten-Carriere zu treten. Denn ich wollte gar zu gerne, daß Du als Beamter fungiertest, weil Du alsdann Dich auszeichnen u. Glanz über die Jhering’sche Familie bringen wirst, was ich leider wegen meiner geringen Anlagen nicht vermag.«3 Jhering nahm das Angebot nicht an und entschied sich stattdessen für die Wissenschaft. Zu Ostern 1840 wechselte er an die Berliner Universität und schloß dort im Sommer 1842 sein Studium mit der Promotion ab. Ein Jahr später war er habilitiert und hielt seine erste Vorlesung zu dem Thema »Principien des römischen Rechts«, das ihn zeitlebens beschäftigte. Er plante, ein zweibändiges Werk darüber zu schreiben, dessen endgültiger Titel »Der Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung« lautete. Zehn Jahre nach seiner Vorlesung erschien der erste Band. Ostern 1845 zog Jhering nach Basel, wo er seinen ersten Lehrstuhl für römisches Recht einnahm. Vorher hatte er sich mit Helene Hoffmann aus Oldenburg, einer Freundin seiner Schwester, verlobt. Schon im folgenden Wintersemester erhielt er einen Ruf nach Rostock, wo inzwischen auch sein Göttinger Lehrer Thöl

Rudolf von Jhering 79

unterrichtete. Diese Tatsache und der Wunsch seiner Verlobten, ihn wieder im Norden sehen zu wollen, veranlassten ihn, den Ruf anzunehmen. Die Beiden heirateten und zogen nach Rostock, wo zwei beruf‌lich erfolgreiche Jahre folgten. Auch Jherings Privatleben war glücklich. Er pflegte sein »bedeutendes musikalisches Talent, war stets aufgelegt zu Spiel und Scherz und leichtlebig ohne Sorge für die Zukunft«.4 Nur das Heimweh seiner Frau nach ihren Angehörigen fiel als Schatten auf diese Zeit. Darum nahm er Kontakt mit der Universität Kiel auf. Doch bevor sie dorthin wechseln konnten, starb seine Frau neun Tage nach der Geburt ihres ersten Sohnes an einem Herzschlag. Jhering war verzweifelt, und zwei Monate später starb auch das Kind. Bis an sein Lebensende hat Jhering immer wieder von seiner ersten Frau erzählt und seine Tochter aus zweiter Ehe nach ihr benannt.5 Zum Sommersemester 1849 trat er seine Professur in Kiel an. Ende 1849 heiratete er Ida Fröhlich, die Tochter eines Advokaten

80  Rudolf von Jhering aus Schleswig. Mit ihr hatte er sechs Kinder, fünf Jungen und ein Mädchen. Das sechste Kind, ein Junge, starb im Alter von drei Monaten. Seit 1847 bemühte sich die Universität Gießen um den Rechtsgelehrten, doch die Stadt mit ihren knapp 9 000 Einwohnern schien ihm kein erstrebenswerter Ort zu sein. Er habe »gegen Gießen ein inneres Grauen«6, schrieb er an einen Kollegen. Doch die Gießener blieben hartnäckig, und 1851 trat er in ­Verhandlungen mit dem Dekan ein mit dem Vorsatz, Forderungen zu stellen, die die Universität ablehnen müßte. Als Voraussetzung für eine positive Entscheidung seinerseits nannte Jhering vor allem eine wesentliche Verbesserung seiner Bezüge. Er hoffte vergeblich auf einen ablehnenden Bescheid, denn die Universität nahm seine Bedingungen an. Im Frühjahr 1852 zog die Familie nach Gießen, wo sie die nächsten 16 Jahre verbringen sollte, obwohl Jhering die Stadt in einem Brief auch 1858 noch als elendes Nest bezeichnete. Doch sei die Besoldung gut und er habe den »bequemsten Posten von der Welt«.7 Neben seiner universitären Tätigkeit führte er ein reges gesellschaftliches Leben. Er war leitendes Mitglied der Musikalischen Gesellschaft und des angegliederten Gesangvereins, veranstaltete Kammermusikabende mit sich als Pianisten und lud Freunde und Bekannte zum Kartenspiel und zu Diskussionsabenden ein. Zu seinem Kreis gehörten nicht nur Fachkollegen, sondern auch Naturwissenschaftler. 1865 kaufte Jhering sein drittes Haus in Gießen, eine Villa mit vier Morgen Land, auf denen er landwirtschaftlich tätig wurde. Er widmete sich der Kälbermast, der Hühnerzucht, dem Obstbau und dem Anbau von Spargel. Auch seine Familie kam nicht zu kurz. Im September 1867, nach fast achtzehnjähriger Ehe, verstarb seine zweite Frau an Tuberkulose. Der Tod, obwohl seit längerem absehbar, traf Jhering schwer. Er verließ Gießen, wo ihn alles an sie erinnerte, und nahm einen Ruf nach Wien an, den er noch kurz zuvor abgelehnt hatte. In Wien bezog er im Spätsommer 1868 mit seinen jüngeren Kindern und deren Erzieherin eine Wohnung in einem mehrstöckigen Mietshaus. Im Oktober hielt er seine Antrittsvorle-

Rudolf von Jhering 81

sung. Neben Fachkollegen saßen auch Literaten und Vertreter der Presse im Publikum. »Mit klopfendem Herzen bestieg ich den Katheder, empfangen mit jubelndem Hurra. Das gab mir wieder etwas Mut, und nachdem ich einige Minuten geredet und mich sozusagen selber eingeführt hatte, fand ich […] meine ganze Kraft wieder, sprach mit lauter Stimme meine volle Stunde und darüber völlig frei, und, wie ich glaube, besser als je in meinem Leben«, so Jhering in einem Brief im Oktober an einen Freund.8 Zunächst genoß er sein Leben in Wien. Die beruf‌liche Anerkennung tat ihm gut. Sein Privatleben war ausgefüllt durch regelmäßige Opern- und Konzertbesuche, doch schon nach einem knappen Jahr häuften sich seine Klagen über das Wiener Klima, sowohl meteorologisch als auch gesellschaftlich. Seine Begeisterung über die vielen Einladungen und Veranstaltungen nahm merklich ab. Er machte sie unter anderem dafür verantwortlich, daß er mit seiner Arbeit über den »Geist des römischen Rechts« nicht recht vorankam. Auch für seine Kinder wünschte er sich mehr Ruhe. »Der Teufel hole das Wiener Klima! An die Tage in G. denke ich noch oft mit vieler Freude u. – Sehnsucht. Welche Idylle, welcher Frieden, welche Ruhe im Vergleich mit dem hiesigen unstäten Getriebe«9. Im Sommer 1869 heiratete er im Einvernehmen mit seinen Kinder deren Erzieherin Luise Wilders. Nach dem Krieg zwischen Deutschland und Frankreich 1870/71 zog es ihn verstärkt nach Deutschland zurück. Im Oktober 1871 erhielt er eine Voranfrage zwecks Wechsels nach Göttingen von seinem ehemaligen Lehrer Thöl, der seit 1849 wieder an der dortigen Universität lehrte. Er war bereit, den Ruf unter bestimmten Bedingungen anzunehmen, wohlwissend, daß er in Göttingen sehr viel weniger Hörer haben würde, erwartete aber, daß ihm dadurch mehr Zeit für seine wissenschaftlichen Arbeiten bleiben würde. »Wie freue ich mich, wenn ich mich dort ganz so, wie einst in Gießen, in meinen Geist einspinnen kann – das soll mir eine Lust und Freude sein, die mich für alles, was ich sonst entbehre, schadlos halten wird.«10 Doch nach vier Jahren in Göttingen schrieb er an eine Bekannte in Wien: »Sie haben recht prophezeit, wenn Sie mir ankündigten, daß ich mich hier recht gründlich langweilen würde. Ich habe dies damals bestritten, aber – aber – Sie

82  Rudolf von Jhering haben richtiger in die Zukunft geblickt als ich selber. In einer Art selbstmörderischer Pflichtstimmung habe ich mir gesagt: Wenn du nach Berlin, Leipzig, Heidelberg gehst, so ist es mit dem Ernst des wissenschaftlichen Lebens vorbei, opfere daher deine Annehmlichkeit der Pflicht, der Wissenschaft. […] ich weiß nicht: wenn die Auf‌forderung noch einmal an mich gelangte, nach Heidelberg zu kommen, trotz Pflicht und Wissenschaft ginge ich hin.«11 Der im März 1872 vor der Wiener Juristischen Gesellschaft gehaltene Vortrag mit dem Titel »Der Kampf ums Recht« verhalf Jhering zu internationalem Ruhm. Alle Türen standen ihm nun offen, und ihn erreichten »unausgesetzte Berufungen« auch von seiner langjährigen Wunschuniversität Heidelberg. Dennoch blieb er bei seiner Entscheidung für Göttingen und setzte seinen neuen Ruhm bei den nun folgenden abschließenden Verhandlungen sehr erfolgreich ein. Vor seinem Ausscheiden aus dem österreichischen Staatsdienst wurde Jhering das Ritterkreuz des Leopold-Ordens verliehen, was ihm das Recht gab, einen Antrag auf Erhebung in den erblichen Ritterstand zu stellen. Diesen Antrag stellte er im April 1872, sodaß er fortan ein Wappen führen und sich »von« Jhering nennen durfte. Im Juli zog er nach Göttingen. »Ich habe dort ein Haus gekauft, welches ganz meinen Wünschen entspricht, groß genug, um meiner ganzen Familie ein behagliches Unterkommen zu gewähren (11 Zimmer), frei vor dem Thor gelegen, mitten in einem schönen Garten, mit der relativ besten Aussicht, die man in Göttingen haben kann […].«12 Es handelte sich um das um 1835 gebaute Bergmann’sche Haus vor dem Wall (heute Bürgerstraße 12), eines der wenigen Wohnhäuser, die zu der Zeit vor dem Stadtwall lagen. Das Grundstück war damals deutlich größer als heute. Das Haus verfügte außer den Wohnräumen, Dienstbotenkammern und Wirtschaftsräumen über eine große Empfangshalle. »Hier hielt der ›Ritter vom Geist‹, wie er sich scherzhaft nannte, Hof, lud zur Tafel und musikalischen Soirée, begrüßte und beherbergte durchreisende Kollegen.«13 Auch regelmäßige Kartenspielrunden fanden hier statt. Er war ein begeisterter Whist-Spieler und zu seiner Kartenspielrunde gehörte hin und wieder auch Agathe von Siebold, die Jugendliebe

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von Johannes Brahms.14 In seinem geräumigen Arbeitszimmer im Erdgeschoß stand sein Flügel, auf dem man ihn, den begabten Pianisten, an fast jedem Tag spielen hören konnte. Hier entstand sein Werk »Der Zweck im Recht«, und hier wollte er den »Geist des römischen Rechts« vollenden. Das ursprünglich auf zwei Bände angelegte Vorhaben, war inzwischen auf drei Bände angewachsen und brach nach der Hälfte des vierten Bandes ab. Schon 1851, nach Abschluß des Verlagsvertrags für den ersten Band, hatte Jhering seine Befürchtungen formuliert: »Niemals habe ich mein Buch aus den Augen verloren, stets etwas ausgearbeitet – jetzt, wo ich drucken lassen soll, zittre ich, möchte noch aufschieben und immer aufschieben. Der Grund liegt in der Beschaffenheit des Gegenstandes, denn er gehört zu denen, mit denen man nie fertig ist […].«15 Im Kontrast zu seinen juristischen Texten verfasste Jhering, dessen Traum es einmal gewesen war, Schriftsteller zu werden, eine Abhandlung zur »Philosophie der gemischten Getränke«. Auf diesem Gebiet verfügte er über einige persönliche Praxiserfahrung und er genoss es zudem, daß er hierbei eine echte Pionierleistung erbringen konnte. Jhering war der auch international prominenteste Jurist der Göttinger Universität des ausgehenden 19. Jahrhunderts. In der Weserzeitung vom 19. Juni 1874 las man: »[…] Indessen macht die Universität nicht den Professor, sondern der Prof. die Univers.: Seitdem Jher. in Gött. ist, hat sich die jurist. Zuhörerschaft bedeutend vergrößert. Aus allen Theilen Europas strömen ihm Schüler zu, und namentlich sind es die Slawen, die sich durch Jherings große Ideen angezogen fühlen. Es war kaum je ein Prof. von den Studenten so vergöttert, wie JH . in Göttingen.«16 Jhering versuchte das Studium für seine Studenten so praxisnah wie möglich zu gestalten. Deshalb suchte er für die in Göttingen traditionellen Praktika möglichst interessante Fälle heraus, die er von seinen Studenten bearbeiten ließ.17 Er war seit seiner Studentenzeit davon überzeugt, daß die juristische Wissenschaft dem Leben zu dienen habe und so verlor er auch als Rechtsgelehrter nie die Praxis aus den Augen. 1892 feierte Jhering mit seiner Familie, bis auf den in Brasilien lebenden Sohn Hermann, sein fünfzigjähriges Doktorjubiläum in Kassel auf der Wilhelmshöhe. Er war schon länger

84  Rudolf von Jhering ­ nheilbar krank und mußte den Tag überwiegend im Bett und u im Rollstuhl verbringen, genoß aber das Beisammensein mit seinen Kindern und Enkeln. Wieder zu Hause, konnte er das Bett kaum noch verlassen und wußte, daß er seine Werke nicht mehr würde vollenden können. Am 17. September 1892 verstarb er an Herzversagen im Alter von 74 Jahren. Die Trauerfeier fand in seinem Haus statt. Auf seinem Grab, in dem 1909 auch seine Frau Louise beigesetzt wurde, steht ein Obelisk, auf dessen Rückseite die Inschrift steht: »Meine Seele liegt im Staube; erquicke mich nach deinem Wort. Ich erzähle meine Wege und du erhörest mich; lehre mich deine Rechte.« (Ps. 119) Heute steht Jherings Schreibtisch, den er sich schon während seiner Zeit in Rostock beschafft hatte und der ihn sein ganzes Leben begleitete, im Institut für Römisches und Gemeines Recht in Göttingen. Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17

Jhering, Beiträge und Zeugnisse, S. 62. Zitiert nach Kunze, Rudolf von Jhering, S. 12. Georg Jhering, Brief Nr. 1, in: Klippel, Jherings Gießener Jahre, S. 99. Ebd., S. 14. Vgl. Hall, Erinnerungen einer alten Rostockerin, S. 89. Klippel, Jherings Gießener Jahre, S. 31. Zitiert nach ebd., S. 32. Zitiert nach Kunze, Rudolf von Jhering, S. 19. Zitiert nach ebd., S. 27, Fußnote 116. Zitiert nach ebd., S. 21. Zitiert nach Ebel, Briefe über Göttingen, S. 106. Zitiert nach Jhering, Beiträge und Zeugnisse, S. 76. Kunze, Rudolf von Jhering, S. 21. Vgl. Michelmann, Agathe von Siebold, S. 263. Zitiert nach Kunze, Rudolf von Jhering, S. 14. Weserzeitung, 19.6.1874. Vgl. Sellert, Die juristische Fakultät, S. 64.

Gottlieb Planck 24. Juni 1824 — 20. Mai 1910

Der Jurist und Politiker Gottlieb Planck gilt als ein »Vater« und »Motor« des Bürgerlichen Gesetzbuches. Er gehörte zu den Mitbegründern der nationalliberalen Partei und hatte, bedingt durch sein Eintreten für liberale Ideen, im Beruf lange Jahre mit massiven Einschränkungen zu kämpfen. Planck kam als einziges Kind des Justizrats Georg Wilhelm Planck und seiner Frau Dorothea, geb. Oesterley im Graetzelhaus (heute Goetheallee 8) in Göttingen zur Welt. Zur Taufe bekam er vom Prorektor, dem Philologen C. W. Mitscherlich, eine unentgeltliche Matrikel geschenkt, d. h. er wurde schon als Täuf‌ling an der Göttinger Universität immatrikuliert. Seine Schulzeit verbrachte er in Celle, wohin sein Vater 1833 versetzt worden war. 1842 machte er sein Abitur mit der Note »Sehr Gut« und gehörte somit zu denen, die eine Abiturrede halten sollten. Der Siebzehnjährige wählte als Thema: »Der Mensch des Menschen größte Plage, der Mensch des Menschen größtes und süßestes Bedürfnis«. Am 25. April 1842 wurde er dank seiner ihm zur Taufe geschenkten Matrikel an der Göttinger Universität eingeschrieben. Obwohl sein Interesse den Naturwissenschaften galt, meldete er sich, der Familientradition folgend, an der juristischen Fakultät an. An der Universität herrschten hinsichtlich der Lehre keine guten Zustände, da auch 1842 die Auswirkungen des Protestes der Göttinger Sieben von 1837 gegen die Auf‌hebung des Staatsgrundgesetzes durch König Ernst August noch deutlich zu spüren waren. Die Stellen der entlassenen Professoren waren noch nicht nachbesetzt und der achtzigjährige ­Gustav Hugo, der der juristischen Fakultät am Anfang des Jahrhunderts großen Auf‌trieb gegeben hatte, war inzwischen etwas

86  Gottlieb Planck wunderlich geworden. So erfuhr man in seinem Kolleg auch, wie man sich selbst rasieren könne. Privat kümmerte der gastfreundliche Professor Hugo sich väterlich um seine wenigen Studenten, doch leider starb er schon kurz nach Plancks Studienbeginn. Nach sieben Semestern meldete Planck sich im Herbst 1845 zum Auditorenexamen, für das nur je ein Prüfungstermin im Frühjahr und im Herbst zur Verfügung stand. Auf Anordnung von König Ernst August durften pro Termin nur zehn Kandidaten zugelassen werden, die vor Prüfungsantritt ausgewählt wurden. Der König selbst achtete streng darauf, daß nur Adelige und Söhne von höheren Beamten in den Staatsdienst eintraten. Nach bestandenem Examen trat Planck 1846 seine erste, wenig abwechslungsreiche Stelle als Kanzlei-Auditor in der ländlichen Amtsvogtei Ilten südöstlich von Hannover an. Wegen seines Eintretens für die von der Frankfurter Nationalversammlung ausgearbeitete Reichsverfassung von 1848 wurde er 1849 nach Osnabrück strafversetzt, wohin er sich unverzüglich zu begeben hatte. Darauf‌hin stellte Planck sich die Frage, ob es nicht besser sei, den Staatsdienst zu verlassen und Advokat zu werden. Seinen Eltern teilte er in einem Brief mit: »Ich habe nach meiner ehrlichen Überzeugung gehandelt und werde das auch ferner thun; ich habe auch den Muth und die Kraft, mich nöthigenfalls auch gegen und ohne Regierung durchs Leben zu schlagen«1. Er blieb dann aber doch seinem Vorsatz, Richter zu werden, treu und sollte »den Muth« noch mehrmals benötigen. Es folgten zwei weitere Strafversetzungen nach Aurich und Dannenberg.2 Planck selbst wurde als Grund für die beiden ersten Strafversetzungen seine Teilnahme am politischen Vereinswesen genannt, für die dritte erhielt er keine Begründung. Während seiner gesamten Zeit als Richter im hannoverschen Staatsdienst stand er unter polizeilicher Aufsicht und es wurde ihm nicht erlaubt, an dem fünfzigjährigen Doktorjubiläum seines Vaters im Jahr 1857 teilzunehmen. Ebenso wurde sein Wunsch, aus Krankheitsgründen einen Urlaub auf Helgoland verbringen zu dürfen, abgelehnt, denn Bedienstete des Königreichs Hannover sollten eine hannoversche Insel aufsuchen. Im Gegensatz zu anderen wurde Planck vorgeschrieben, auf welche Insel er zu ge-

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hen habe. Gesichtspunkt dabei war, »ob und wo sich eine polizeiliche Überwachung herstellen ließe«. Ausgewählt wurde die Insel Spiekeroog. Für seine Überwachung war ein Gendarm abgestellt worden, der in einem kleinen Boot zur Insel übersetzte. Planck erfuhr von der Überwachung durch seine Wirtin, die ihm mitteilte, daß sein Zimmer und seine Lektüre regelmäßig kontrolliert würden.3 1858 bat er um einen vierwöchigen Urlaub wegen einer Familienangelegenheit in Göttingen. Er bekam die Genehmigung mit der Auf‌lage, »daß er bis zum Antritt seiner Rückreise Göttingen nicht verlassen dürfe«. Die Meldung kam ihm so unglaublich vor, daß er sie für einen Scherz hielt und lächelnd fragte: »Dann darf ich wohl auch nicht nach Mariaspring oder nach den Gleichen?« Ihm wurde gestattet, »sich auf die Höchstdauer von zwei Stunden täglich innerhalb eines Umkreises von einer halben Stunde von der Stadt aufzuhalten«. Vorher sollte er

88  Gottlieb Planck den Gendarmerierittmeister davon in Kenntnis setzen.4 Rechtliche Grundlagen für diese Behandlungen konnte Planck nicht erkennen. Später erfuhr er, daß all dieses vom König selbst angeordnet worden war, der wegen vermeintlicher regierungsfeindlicher Umtriebe Plancks diese außerordentlichen Maßnahmen gegen ihn durchgeführt sehen wollte. Welche regierungsfeindlichen Aktivitäten ihm zur Last gelegt worden waren, hat er nie erfahren.5 1859 wurden mehrere Obergerichte, u. a. Dannenberg, aufgehoben. Dem fünfunddreißigjährigen Planck, den man in Hannover loswerden wollte, wurde die Pension angeboten. Da er sich weigerte, in den Ruhestand zu gehen, wurde er auf Wartegeld gesetzt. Planck zog zu seiner Mutter, die seit dem Tod des Vaters wieder in Göttingen lebte. Von dort aus ging er zunächst auf Reisen durch Österreich, die Schweiz und nach Paris. Ab Herbst 1859 nutzte er die Zeit zum Studium der Nationalökonomie, der Philosophie und für staatswissenschaftliche Studien. Im September 1863 wurde der Wartestand aufgehoben, und Planck erhielt die Stelle eines Obergerichtsrats in Meppen, wo er aber weiterhin Beschränkungen unterworfen war. Der König befahl, daß Planck ohne seine ausdrückliche Genehmigung den Gerichtsbezirk Meppen nicht verlassen und während der Gerichtsferien »keinen Urlaub über die hannoversche Landesgrenze erhalten dürfe«.6 1865 heiratete Planck mit der obligatorischen Erlaubnis des Königs in Norden Johanne Steinbömer, die Tochter eines Arztes. Ein Jahr später wurde Wilhelm, das einzige Kind des Ehepaares, geboren. Ein Freund gratulierte ihm: »Der junge Weltbürger […] scheint einen guten Zeitpunkt in die Welt gewählt zu haben; ich denke, sein Lebensanfang bezeichnet den Beginn einer neuen Periode deutscher Geschichte, die wir, die national Gesinnten, freudig begrüßen dürfen.«7 Es waren politisch bewegte Zeiten mit positiven Auswirkungen für Plancks weiteren beruf‌lichen Weg. 1866, nach der Annexion Hannovers durch Preußen, entfielen die Einschränkungen in seinem Alltagsleben, und er wurde endlich seiner Qualifikation gemäß eingesetzt. Am 24. Dezember wurde er an das Obergericht Göttingen versetzt, doch ein angeborenes Augenleiden zwang ihn erst

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e­ inmal zu einer längeren Kur. Während seiner Studentenzeit hatte sich die Krankheit zunächst als Nachtblindheit bemerkbar gemacht, im Laufe der Jahre verschlechterte sich seine Sehleistung jedoch kontinuierlich. Nach der Kur, die eine vorübergehende Besserung bewirkte, nahm er im Juli 1867 seine Arbeit in Göttingen auf. Fast gleichzeitig erhielt er die Mitteilung, daß er zum Appelationsgerichtsrat in Celle ernannt worden war, wo er schließlich im November sein neues Amt antrat. Bedingt durch Plancks Augenleiden führte die Familie in Celle ein ruhiges gesellschaftliches Leben; politisch wurde Planck aber bald wieder aktiv. Er war mehrmals Landtagsabgeordneter in Hannover, 1867 Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses sowie von 1870 bis 1873 Mitglied des Reichstags und gehörte zu den Mitbegründern der nationalliberalen Partei.8 Plancks beruf‌liches und privates Leben verlief endlich zu seiner Zufriedenheit, aber seine kontinuierlich nachlassende Sehkraft warf einen Schatten auf sein Leben. 1873 war er vollständig erblindet. Sein Arzt verlangte »ein regelmäßiges stilles Leben; die parlamentarische Tätigkeit mit ihren Aufregungen und Unregelmäßigkeiten erklärte er geradezu für Gift«.9 In Celle konnte er den Weg zum Gericht noch allein gehen. Später war er auf die Hilfe seiner Frau angewiesen. Mit der Reichsgründung 1871 und der Schaffung eines Bundesstaates sollte die deutsche Gesetzgebung vereinheitlicht werden. Es wurde eine Gesetzgebungskommission in Berlin eingerichtet zur Ausarbeitung eines einheitlichen bürgerlichen Rechts, das gleichermaßen für alle Teile des Deutschen Reichs und dessen Bewohner gelten sollte. Planck wurde 1873 als Referent für Familienrecht in die erste Kommission zur Schaffung eines Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) berufen. Dafür wurde er von seiner Richterstelle beurlaubt und stellte seine parlamentarische Tätigkeit ein. Wieder einmal war ein Ortswechsel notwendig. 1874 zog die Familie in die neue Reichshauptstadt Berlin um. Weil Planck nicht mehr selbständig arbeiten konnte, hatte er aus Celle seinen Schreiber mitgebracht, und auch seine Frau unterstützte ihn. 1886, nach einem besonders anstrengenden Jahr mit viel Schlaf‌losigkeit, gingen die Plancks auf Reisen. Nachts, als ­a lles schlief

90  Gottlieb Planck und der Zug hielt, fragte jemand. »Wo sind wir?« Auf die Antwort »Fulda« hörte man Planck sagen: »Hier gilt die allgemeine Gütergemeinschaft nach der Verordnung von 1719«.10 Erst der Urlaub mit seinen Wanderungen machte seinen Kopf wieder frei. Nach Beendigung der fünfzehnjährigen Kommissionsarbeit in Berlin kamen die Plancks am 1. April 1889 wieder nach Göttingen zurück. Sie zogen in eine Wohnung im Schildweg, die zwar beschränkt war, aber den Vorteil hatte, »außerhalb des die Stadt einschnürenden Walles, in der Albanivorstadt, zu liegen«11. Er nahm Kontakt zur Universität auf und wurde zum ordentlichen Honorarprofessor ernannt. Seine akademische Lehrtätigkeit nutzte er zur Einführung in das neue bürger­ liche Gesetzbuch, über dessen Entwurf er eine öffentliche Vorlesung hielt. Das Ehepaar verspürte bald den Wunsch nach einer komfortableren Wohnung, »die besser den gesteigerten Bedürfnissen der Neuzeit, wie man sie in Berlin kennengelernt hatte, entsprach«12. Solche Mietwohnungen gab es in Göttingen nicht, und deshalb beschloß man, »sich in dem auf‌blühenden Stadtteil, der zwischen der Albanikirche und dem Fuße des Hainbergs heranwuchs, ein eigenes Haus zu bauen«13. Die Plancks kauften ein Grundstück am Ende des Hainholzweges. Bezogen wurde das Haus allerdings zunächst von ihrem Sohn und der Schwester von Johanne Planck, denn 1890 wurden die Arbeiten am Entwurf zum BGB erneut aufgenommen und Planck wurde trotz seiner Erblindung zum Generalreferenten der zweiten Kommission ernannt, weshalb das Ehepaar erneut nach Berlin zog. In den Sitzungen wurden lebhafte Debatten geführt, deren Ergebnisse er im Anschluß zur Abstimmung zusammenfaßte. »Es war wunderbar, wie Planck, der aller Anhaltspunkte für das Gedächtnis entbehren mußte, in seinem Geiste alles, was in der Debatte vorgekommen war, auf‌bewahrte und logisch zu gruppieren verstand. Dauerte eine Sitzung wohl einmal zu lange, so bat er den Präsidenten, man möge doch auf sein Gehirn Rücksicht nehmen.«14 Seinen 70. Geburtstag im Jahr 1894 feierte er, ein Jahr vor Beendigung der Kommissionsarbeit, in Berlin. Außer den Freunden

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und den Kommissionsmitgliedern erschienen Minister, Mit­ glieder des Bundesrates und des Reichsjustizamtes. Am 21.  Oktober 1895 wurde der Entwurf des BGB von der Kommission genehmigt und dem Reichskanzler zur weiteren Behandlung übersandt. Planck wurde vom Kaiser zum Wirklichen Geheimen Rat mit dem Prädikat Exzellenz ernannt. Obwohl Planck selbst betonte, daß das BGB aus der gemeinsamen Arbeit selbständiger Männer hervorgegangen sei, wurde er als Schöpfer des Bürgerlichen Gesetzbuches bezeichnet. Tatsächlich ist das Gesetzbuch überwiegend das Werk der zweiten Kommission, die Planck als Motor immer wieder zur Weiterarbeit angetrieben hat. 1895 konnten die Plancks endlich ihr Haus im Hainholzweg 42 beziehen. »Die Stadt seiner Kindheit hatte sich verändert. […] Aus den einzelnen vor den Toren gelegenen Wohn- und Gartenhäusern waren Vorstädte erwachsen, die Einwohnerzahl hatte sich gegen die Zeit, da Planck mit seiner Mutter hier lebte fast verdoppelt. […] Mit der Zahl hatte die Bequemlichkeit der Häuser zugenommen, der moderne Komfort Eingang gefunden.«15 Der inzwischen Dreiundsiebzigjährige nahm seine Vorlesungen an der Universität wieder auf. Seine Themen waren weiterhin die Einführung in das neue Gesetzbuch (BGB) sowie das Familien- und Erbrecht. Außer den Studenten gehörten auch Praktiker, wie Richter des Landgerichtsbezirk Göttingen, aber auch Laien zu seinen Zuhörern. Der Göttinger Frauenverein veranstaltete eine Vorlesungsreihe, in deren Rahmen Planck »zum Besten des Göttinger Frauenvereins« einen Vortrag über »Die rechtliche Stellung der Frau nach dem bürgerlichen Gesetzbuche«16 hielt. Er wurde 1899 veröffentlicht17. Seine Vorträge diktierte er vormittags seinem Sekretär und nachmittags seiner Frau und ließ sie sich vor öffentlichen Auf‌tritten wieder vorlesen. Sein außergewöhnliches Gedächtnis war ihm bei seinen Tätigkeiten eine große Hilfe. Planck wurde als »frei von beamtenmäßiger Steif‌heit und Feierlichkeit geschildert«18 und hielt auch als Professor ständigen Kontakt zu praktizierenden Juristen. Bis zu seinem Lebensende blieb er politisch und historisch interessiert, ließ sich aber

92  Gottlieb Planck auch Zeitschriften und Bücher zu naturwissenschaftlichen und ­geographischen Themen sowie Reisebeschreibungen vorlesen. Am besten Ausspannen konnte er auf Reisen, die ihn und seine Frau vorzugsweise in die Südschweiz oder nach Norditalien führten. In Göttingen erholte er sich von den geistigen Anstrengungen durch tägliche Spaziergänge mit seiner Frau, die auch den Achtzigjährigen noch bis zur Mackenröder Spitze führten, ein Weg, den er mühelos bewältigte. Wilhelm, das einzige Kind des Ehepaars, starb vor den Eltern im Jahr 1901. Der junge Jurist war drei Jahre zuvor an einer Rippenfellentzündung erkrankt, die ein Lungenleiden zurückließ und durch eine Influenza zum Tod des Fünfundreißigjährigen führte. In seinen letzten fünfzehn Lebensjahren wurden Planck viele Ehrungen zuteil. Am 1. Januar 1900 trat das Bürgerliche Gesetzbuch in Kraft. Man gratulierte ihm zu diesem Ereignis wie zu einem großen Geburtstag. Schon zu seinen Lebzeiten wurde die Straße, die zum Königlichen Gymnasium (dem heutigen MaxPlanck-Gymnasium) führte, nach ihm benannt, und an seinem 77. Geburtstag enthüllte man seine Büste im historischen Saal der Bibliothek. Doch den Höhepunkt brachte der 80. Geburtstag. Das Oberlandesgericht Celle, das Landgericht Göttingen, viele deutsche Universitäten, die Stadt Göttingen und die nationalliberale Partei ließen Glückwünsche durch Gesandte überbringen und auch der Kaiser gratulierte mit einem Schreiben. Ab 1907 ließen seine Kräfte nach einer schweren Erkrankung immer mehr nach. Doch er blieb weiterhin tätig. Noch am Morgen seines Todestages beschäftigte er sich mit den Vorbereitungen für die vierte Auf‌lage seines Kommentars zum BGB . Planck starb am 20. Mai 1910 im Alter von fast 86 Jahren. Nach einer häuslichen Andacht am 22. Mai wurde er am 23. Mai unter großer öffentlicher Anteilnahme auf dem Stadtfriedhof bestattet. Auf dem Sockel seines Grabmals steht der Bibelspruch: »Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe.« (Kor. 13). Dreizehn Jahre später wurde seine Frau neben ihm beigesetzt.

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Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18

Zitiert nach Frensdorff, Gottlieb Planck, S. 99. Vgl. Coester, Ein Vater des neuen bürgerlichen Rechts, S. 299. Frensdorff, Gottlieb Planck, S. 181. Ebd., S. 182. Vgl. ebd., S. 179 f. Ebd., S. 229. Zitiert nach ebd., S. 237. Vgl. Coester, Ein Vater des neuen bürgerlichen Rechts, S.  299, Fußnote 2. Ebd., S.283. Ebd., S. 321. Ebd., S. 347. Frensdorff, Gottlieb Planck, S. 348. Ebd., S. 348. Zitiert nach Coester, Ein Vater des neuen bürgerlichen Rechts, S. 352. Ebd., S. 383. Frensdorff, Gottlieb Planck, S. 394. Gottlieb Planck: Die rechtliche Stellung der Frau nach dem bürger­ lichen Gesetzbuche: Vortrag zum Besten des Göttinger Frauenvereins, Göttingen 1899. Coester, Ein Vater des neuen bürgerlichen Rechts, S. 315.

Gerhard Leibholz 15. November 1901 — 19. Februar 1982

Der Staatsrechtlehrer Gerhard Leibholz war zwanzig Jahre Richter am Bundesverfassungsgericht und hat die Rechtsprechung des höchsten deutschen Gerichts mitgeprägt. Verheiratet war er mit Sabine Bonhoeffer, der Zwillingsschwester des Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer. Gerhard Leibholz wuchs in einem großbürgerlich-liberalen Elternhaus in Berlin auf. Obwohl er jüdischer Abstammung war, ließ der Vater William Leibholz seine drei Söhne protestantisch taufen. Im Februar 1919 bestand der Siebzehnjährige das Abitur und meldete sich anschließend freiwillig beim »Grenzschutz-Ost«, einer Sammelorganisation zur Sicherung der Ostgebiete des Deutschen Reiches, wo er drei Monate Dienst leistete. Tatsächlich sollten diese drei Monate 1933 noch Bedeutung für ihn erlangen. Im Juni begann Leibholz das Studium der Philosophie, der Rechte und politischen Ökonomie in Heidelberg. In den Nachkriegsjahren wurden Zwischensemester angeboten, sodaß Leibholz in einem Jahr vier Semester absolvieren und sein Philosophiestudium mit nur neunzehn Jahren im Juli 1921 mit der Promotion abschließen konnte. Im August 1922 schloß er dann das Studium der Rechtswissenschaft in Berlin mit dem Ersten Staatsexamen ab und begann sein Referendariat am Kammergericht in Berlin. Im Dezember 1924 promovierte er zum Dr. iur. mit seiner berühmt gewordenen Studie über »Die Gleichheit vor dem Gesetz«, die bis heute zu den Standardwerken der Demokratietheorie zählt.1 Während seiner Studienzeit lernte Leibholz Klaus Bonhoeffer kennen und verkehrte seitdem in dessen Elternhaus. Der kluge und weltoffene Leibholz war ein gern gesehener, sehr geschätzter Gast. Trotzdem waren die Eltern Bonhoeffer »gar nicht Feuer und Flamme«, als die achtzehnjährige

96  Gerhard Leibholz Tochter Sabine ihnen mitteilte, daß sie sich mit Gerhard Leibholz verlobt hätte. Ihre Mutter, die erlebt hatte, wie ihr Mann, Professor für Neurologie und Psychiatrie, vergeblich versucht hatte, für einen begabten jungen jüdischen Wissenschaftler einen Lehrstuhl durchzusetzen, meinte: »Ach, Kind, du hättest es soviel leichter haben können, du wirst eine schwere Zeit haben. Gert wird vielleicht beruf‌lich nicht so weiterkommen, wie er es verdient, das ist dann sehr schwer für eine Frau mitanzusehen.«2 Da Vater Bonhoeffer seinen Töchtern eine Hochzeit erst mit zwanzig Jahren gestattete, mußten sie mit der Heirat noch warten. Im März 1926 bestand Leibholz sein Assessoren-Examen und sechs Tage später fand die Hochzeit statt. Sie dauerte, wie damals üblich, drei Tage. Die Hochzeitsreise führte das junge Paar nach Lugano. Anschließend nahm Leibholz seine Arbeit zunächst als Gerichtsassessor am Kammergericht in Berlin auf. Von dieser Tätigkeit wurde er aber schon im Oktober 1926 für eine Referententätigkeit am Kaiser-Wilhelm-Institut für Ausländisches und Öffentliches Recht und Völkerrecht in Berlin beurlaubt, wo er das Italien-Referat übernahm. Im Juni 1928 habilitierte er sich. Seine Antrittsvorlesung hielt er zu dem Thema: »Zu den Problemen des fascistischen Verfassungsrechts«.3 Danach arbeitete er als Privatdozent an der Berliner Universität. 1929 nahm er den Ruf auf eine außerordentliche Professur in Greifswald an. Aufgewachsen in der Großstadt Berlin, genoß das Ehepaar Leibholz mit den beiden Töchtern nun die kleine Universitätsstadt, die Ostsee und die direkt an ihr Haus angrenzenden blühenden Felder. Sabine Leibholz schrieb in ihren Erinnerungen: »Beruf‌lich war Gert nicht überlastet, die Vorlesungen, die Studenten im Seminar machten ihm Freude, er hatte Zeit zur wissenschaftlichen Arbeit, und es war eine behagliche Zeit.«4 Doch langsam zogen »politische Gewitterwolken«5 auf, und nach der Reichstagswahl 1930 mit dem starken Anwachsen der Nationalsozialistischen Partei wurde das alltägliche Leben immer beklemmender. Als Leibholz im Mai 1931 ein Ordinariat für Staatsrecht in Göttingen angeboten bekam, meinte er, daß sich ein neuer Anfang vielleicht gar nicht mehr lohne. Dennoch zog die Familie im Oktober 1931 nach Göttingen, und Leibholz

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trat sein neues Amt an. Sie bewohnten ein Haus in der Herzberger Landstraße mit einem »zauberhaften« Garten. »Noch hatten wir zwei Jahre in Göttingen, bis der Höllenspuk begann«, liest man bei Sabine Leibholz.6 Im April 1933, nach der Machtergreifung Hitlers, wurde das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums in Kraft gesetzt und nichtarische Beamte wurden aus dem Staatsdienst entlassen. Davon ausgenommen waren zunächst noch Frontkämpfer, zu denen auch Leibholz wegen seiner dreimonatigen Beteiligung am »Grenzschutz-Ost« nach Kriegsende gehörte. Schon in Greifswald war Familie Leibholz antijüdischen Anfeindungen ausgesetzt gewesen und auch bei seiner Berufung nach Göttingen gab es Vorbehalte, die zwar vordergründig sachlichen Ursprungs waren, aber in seiner jüdischen Abstammung zu suchen sind. Neben Mitgliedern, die sich für ihn aussprachen, »gab es doch in der Fakultät Herren, die ihre antisemitische Gesinnung kaum zu

98  Gerhard Leibholz kaschieren ­trachteten‹«.7 Seine erste Vorlesung nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde im Mai und Juni von SA-Männern verhindert. Ein Teil  seiner Studenten sowie einige Kollegen setzten sich für Leibholz beim Wissenschaftsminister ein und so konnte er bis Januar 1935 ungestört arbeiten. Im Februar veröffentlichte die Lokalzeitung »Göttinger Nachrichten« die Titel einiger von Leibholz für das Sommersemester geplanten Veranstaltungen und Vorlesungen, die bereits im Vorlesungsverzeichnis angekündigt waren, und drei Tage später druckte dieselbe Zeitung eine »Erklärung des NS -Studentenbundes«, in der es hieß: »Der Nationalsozialistische Studentenbund stellt dazu fest, daß Prof. Leibholz Jude ist. Aus diesem Grund muß er die oben genannten Vorlesungen ablehnen. Mit dieser Ablehnung richtet sich der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund allein gegen die Themenfestlegung, die Professor Leibholz getroffen und von sich aus zu verantworten hat.«8 Nicht dulden wollten sie die Vorlesungen mit dem Titel »Politische Ideengeschichte der Neuzeit« und »Das Staatsbild des 20. Jahrhunderts«. Leibholz wies in einem Schreiben an den Kurator darauf hin, daß er »bereits im Wintersemester 1933/34 eine Vorlesung unter dem Titel ›Das Staatsbild des 20. Jahrhunderts und seine geisteswissenschaftlichen Grundlagen‹ gehalten habe, die von beinahe hundert interessierten Studenten besucht worden sei«9. Am 1.  April 1935 wurde er von seinem Lehramt unter Beibehaltung seiner Bezüge beurlaubt und mit einem Beschäftigungsauf‌trag an die Universitätsbibliothek versetzt, wo »geeignete Maßnahmen« getroffen werden sollten, »daß Prof. Dr. Leibholz mit dem Publikum nach Möglichkeit nicht in Berührung kommt«10. Nach ein paar Tagen »bedeutete ihm der freundliche Direktor der Universitäts-Bibliothek, er solle lieber zu Hause bleiben, das mache weniger Ärger«11. Der Nationalsozialismus wirkte sich auch auf das persön­ liche Umfeld aus. Es gab Kollegen und Bekannte, die auf die andere Straßenseite wechselten. Einladungen wurden nur noch selten ausgesprochen. »Bald konnte niemand mehr mit Gewißheit sagen, ob ein sogenannter Kollege sich inzwischen in einen Denunzianten verwandelt hatte.« Beim Telefonieren wurden oft Codeworte benutzt.12 Zu den positiven Ausnahmen gehör-

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ten der Theologe Walter Bauer und der Professor für Zivilrecht Paul Oertmann. Wenn Bauer Leibholz auf der Straße traf, ging er auf ihn zu »und schimpfte, da er sehr schlechte Ohren hatte, oft so laut und deutlich auf Hitler und die Nazis, daß ich in Sorge rechts und links den ›deutschen Blick‹ sandte. Der alte Oertmann, Professor für Zivilrecht, kam sofort, als mein Mann sein Amt verlor, um uns einen Besuch zu machen. ›Herr Kollege, ich schäme mich, ein Deutscher zu sein‹, sagte er. Er hatte Tränen in den Augen.«13 Als am 15. September 1935 die Nürnberger Gesetze in Kraft traten, die eine Entlassung aller jüdischen Beamten ermöglichten, beantragte Leibholz seine Emeritierung, um seiner Entlassung zuvor zu kommen. In dem Vordruck, in dem ihm seine Emeritierung bestätigt wurde, waren folgende Worte gestrichen: »Ich spreche ihnen für Ihre akademische Wirksamkeit und die dem Reich geleisteten Dienste meinen Dank aus.«14 Ihm wurde ein Ruhegehalt bewilligt, und von nun an war er von jeglicher offiziellen akademischen Tätigkeit abgeschnitten. Schon länger hatte die Familie Leibholz erwogen, Deutschland zu verlassen, auch wegen der Töchter, die in der Schule aufgrund ihrer jüdischen Herkunft isoliert waren und schikaniert wurden. Doch deutsche Juristen hatten im Ausland kaum beruf‌liche Möglichkeiten. Im Hinblick auf eine Auswanderung hatten sich die Leibholzens 1934 einen Wagen gekauft. So oft wie möglich verließen sie Göttingen, entweder um die Eltern in Berlin zu besuchen oder um sich einen Auslandaufenthalt zu gönnen. Sie fuhren gern in die Schweiz und besuchten öfter Leibholz’ Bruder Hans in Holland, der mit seiner Frau 1935 dorthin emigriert war. 1940, nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Holland, nahmen diese sich das Leben. Der drohende Entzug des Reisepasses 1938 und die bevorstehende Besetzung der Tschechoslowakei durch deutsche Truppen veranlaßte Leibholz, Deutschland jetzt endlich zu verlassen. Es wurde ein überstürzter Auf‌bruch. Sabine Leibholz schrieb in ihren Erinnerungen dazu: »Als wir abends gegen 22 Uhr die Grenze in Basel erreichten, waren die Zollbeamten zu müde, um noch viel zu fragen oder uns zu durchsuchen. Ich hatte mit großer Angst der Grenze entgegengesehen. Es hatte mir vor den Durchsuchungen der Nazi-Zollbeamten, von denen man ge-

100  Gerhard Leibholz hört hatte, gegraut, aber wir hatten noch großes Glück.«15 Die damals elf‌jährige Tochter Marianne hatte schon länger gespürt, daß eine Auswanderung bevorstand. Sie erzählte nach dem Krieg, daß sie am Tag der Abreise wie immer frühmorgens vom Kindermädchen zum Schulbesuch geweckt wurden. Plötzlich war die Mutter ins Zimmer gekommen und hatte gesagt, sie würden heute für drei Tage nach Wiesbaden fahren. Der Schulbesuch falle aus. Dem Kindermädchen wurde aufgegeben, beiden Kindern möglichst alles doppelt anzuziehen. Marianne dazu: »Ich wußte sofort, daß etwas sehr Ernstes vor sich ging. Meine Eltern fuhren nie nach Wiesbaden, und Mutter hatte dies eindeutig nur gesagt, um das Kindermädchen irrezuführen, falls man sie nach uns fragen würde. Noch nie hatten wir mehr als ein Wollhemdchen anziehen müssen. Ich dachte: Wir gehen fort. Wir können nur mitnehmen, was in unser Auto geht. Weil wir kein Geld im Ausland haben, ist jedes extra Wollhemd, das wir über die Grenze bekommen, wichtig.« Sie schließt ihre längere Schilderung über die Fahrt mit dem Satz: »Das Gefühl der Befreiung, wenn man deutschen Boden verlassen hatte und über die Grenze in ein freies Land fuhr, war damals so überwältigend, daß noch heute, nach 28 Jahren, ein Echo dieses Gefühls in mir aufsteigt, wenn ich über die deutsche Grenze in die Schweiz fahre.«16 In der Schweiz wartete die Familie ab, ob der geplante Paßvermerk »J« für Juden umgesetzt würde, der die Ausreise aus Deutschland für Juden unmöglich machen sollte. Nachricht darüber hatten sie von den Eltern Bonhoeffer mit dem Codewort »paßt« erbeten. Nach Erhalt des Telegramms »Euer Kommen paßt jetzt nicht« bereiteten sie ihre Ausreise über Frankreich nach England vor. Das Ehepaar Leibholz betrat ein ihnen völlig fremdes Land, dessen Sprache sie nur rudimentär beherrschten. An einen beruf‌lichen Neubeginn war nicht zu denken, denn deutsche Juristen wurden, anders als Naturwissenschaftler, nicht gebraucht, und man stand deutschen Flüchtlingen häufig ablehnend gegenüber. Ihre erste Station war London, wo sie von Pfarrer Boeckheler in Empfang genommen wurden. Er war der Nachfolger von Sabines Zwillingsbruder Dietrich in der deutschen Gemeinde. Auch George Bell, der anglikanische Bischof von Chichester

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und Mitglied des Oberhauses, nahm im Januar 1939 Kontakt zu ihnen auf und war ihnen während ihrer Zeit in England eine große Hilfe. Er war ein Freund Dietrich Bonhoeffers aus dessen Londoner Zeit. 1940, als England eine deutsche Invasion befürchtete, wurden alle männlichen deutschen und österreichischen Männer zwischen 16 und 70 Jahren als »feindliche Ausländer« interniert. Leibholz wurde am Pfingstmontag abgeholt. »Nun werden Sie für Ihren Führer leiden müssen!« bemerkte ein Polizist. »Danke, das habe ich schon in Deutschland getan!« antwortete er.17 Erst nach zehn Tagen erhielt Sabine Leibholz die erste Nachricht von ihrem Mann. Sie nahm Kontakt zu verschiedenen Freunden auf und erreichte, vor allem mit der Hilfe des Bischofs von Chichester, seine Freilassung. Am 26. Juli 1940 war die Familie in Oxford wieder vereint, wohin Sabine inzwischen mit den Töchtern gezogen war. Eine große Last fiel von ihnen ab, denn viele Flüchtlinge wurden nach Australien oder Kanada abgeschoben. Gemeinsam mit Bischof Bell versuchte Leibholz die britische Regierung davon zu überzeugen, daß es einen Unterschied zwischen dem nationalsozialistischen Regime und dem deutschen Volk gebe. Sie wiesen erfolglos auf den deutschen Widerstand hin, zu dem auch vier Mitglieder der Familie Bonhoeffer gehörten. Aufgrund seines Engagements fiel Bell in Ungnade bei der britischen Regierung. 1957 wurde dem Bischof auf Anregung von Leibholz hin die Ehrenbürgerwürde der Universität Göttingen verliehen.18 Die Familie war nun zwar wieder zusammen und in Sicherheit, aber die finanzielle Lage war schwierig. Sie konnten noch auf eine Geldreserve aus Göttingen zurückgreifen, aber Überweisungen aus Deutschland, wo Leibholz noch bis 1940 sein Ruhegehalt gezahlt wurde, waren nicht mehr möglich. Er erhielt ein kleines Stipendium vom ökumenischen Rat der Kirchen und bekam nach seiner Internierung von der Universität Oxford die Erlaubnis, einzelne »tutorials« und Vorlesungen zu halten. Sabine Leibholz und Tochter Marianne trugen mit kunstgewerblichen Holzmalereien zum Familieneinkommen bei. Trotz des räumlich beengten und finanziell nicht einfachen Lebens und manchen Anfeindungen, mochte keiner in der

102  Gerhard Leibholz ­ amilie die Zeit in England missen. Laut Sabine Leibholz wurde F ihr Horizont durch ihr Leben dort »ganz enorm erweitert«19. Belastend war allerdings, daß die Leibholzens seit dem Herbst 1943 keine Nachrichten mehr über die Familie in Deutschland erhielten. Bis dahin hatten sie noch sporadisch kurze Informationen über den Weltkirchenrat in Genf und einen befreundeten Pfarrer in Zürich erhalten. Doch nach der Mitteilung über die Verhaftung von Dietrich Bonhoeffer und dem Schwager Hans von Dohnanyi zusammen mit seiner Frau Christel am 5. April 1943 brach Sabine Leibholz den Brief‌kontakt aus Angst, die Gefangenen noch mehr zu gefährden, ab. Bis zum Kriegsende lebten sie in ständiger Angst um die Familie. Auch nach dem Ende des Krieges bestand keine Möglichkeit der direkten Kontaktaufnahme zwischen den Familien in England und Deutschland. Am 31. Mai 1945 suchte Pastor Rieger aus London die Familie Leibholz auf und brachte ihnen die lange befürchtete Nachricht, daß die Brüder Dietrich und Klaus kurz vor Kriegsende hingerichtet worden waren. Dietrich Bonhoeffer wurde im KZ Flossenbürg am 9. April 1945 erhängt, Klaus am 23. April 1945 von der SS erschossen. »Irgendwie hatte ich ganz auf das Wiedersehen mit Dietrich in einem neuen, besseren Deutschland zugelebt, auf das Erzählen und Austauschen nach allen diesen schweren Jahren, und auch Dietrich hatte geschrieben, wie sehr er sich auf das Wiedersehen freue. Nun war mir, als seien alle Lichter verloschen.« schrieb Sabine Leibholz in ihren Erinnerungen.20 Auch die Schwäger Rüdiger Schleicher und Hans von Dohnanyi wurden im April 1945 hingerichtet. Von deren Tod erfuhr man in England im August 1945 durch den ersten Brief der Eltern Bonhoeffer. Endlich erhielt das Ehepaar Leibholz ebenfalls eine Schreiberlaubnis; auf eine Reiseerlaubnis mußten sie noch bis zum Frühsommer 1947 warten. Nach neun langen Jahren konnten sie die Eltern und Geschwister endlich wiedersehen. Das Verhalten der Nachkriegsjustiz gegenüber den Morden im Dritten Reich erbitterte Leibholz sehr, wie aus einem Interview kurz vor seinem Tod zu entnehmen ist: »Und so haben die Richter, die mit diesen Fällen befaßt waren, soweit ich sehe, fast übereinstimmend in allen diesen Fällen sich nicht zu einer Ver-

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urteilung der beteiligten Unrechtspersonen entschließen können, mit der Begründung, daß das, was zu diesem Unrecht geführt hat, zu jener Zeit als Recht betrachtet worden war. Für mich natürlich in keiner Weise überzeugend: Mord bleibt Mord, gleichgültig in welcher Form er begangen wird, und ich beklage natürlich auch zutiefst, daß diejenigen, die in diesen Prozessen mit involviert waren, in dieser Weise von der deutschen Justiz nicht zur Verantwortung gezogen worden sind. Aber, ich gebe zu, es ist die herrschende Auf‌fassung in den letzten Jahren, Jahrzehnten gewesen, und so ist es in der Tat das groteske Bild, daß all die Mörder unserer Geschwister nicht zur Rechenschaft gezogen worden sind. Und so entsteht manchmal eben das Bild, daß die Mörder noch unter uns leben.«21 Nach ihrer Erkundungsreise 1947 nach Deutschland nahm Leibholz eine Gastprofessur für Völkerrecht und politische Fragen an der Universität Göttingen an. Seine Lehrtätigkeit an der Universität Oxford, wo er inzwischen gut Fuß gefaßt hatte, wollte er auf jeden Fall weiter ausüben, zumal seine Töchter dort heimisch geworden waren und Marianne zudem in Oxford ihr Studium begonnen hatte. Die Göttinger Fakultät und der Kurator bemühten sich weiterhin, Leibholz zu einer endgültigen Rückkehr zu bewegen. Um weiterhin in England tätig sein zu können, bat er um eine fortgesetzte Gastprofessur. 1950 bot man ihm seinen ehemaligen Lehrstuhl an, aber Leibholz lehnte wiederum ab, ebenso die Rufe nach Berlin, München, Heidelberg, Frankfurt und Mainz. Erst den Auftrag, das Fachgebiet der politischen Wissenschaften bis zur Einrichtung eines neuen Ordinariats zu vertreten, nahm er 1951 an. Endgültig nach Göttingen zurück führte ihn aber wohl die Anfrage des Bundesministers der Justiz vom März 1951 nach seiner Bereitschaft, sich in das neu zu schaffende Bundesverfassungsgericht wählen zu lassen. Diese Aufgabe erschien ihm reizvoll, da er darin die Möglichkeit sah, »wirklich noch die Bundesrepublik neu mitzuprägen und ihr Gestalt zu geben«.22 Parteipolitisch nicht gebunden, wurde er von CDU und SPD gemeinsam vorgeschlagen. Am 4. September 1951 wurde er für vier Jahre gewählt. Nach zweimaliger Wiederwahl schied er nach insgesamt zwanzigjähriger Tätigkeit aus dem Bundesverfassungsgericht aus.

104  Gerhard Leibholz An der Göttinger Universität übernahm er 1958 das Ordinariat des neu eingerichteten Lehrstuhls für politische Wissenschaften und allgemeine Staatslehre, ab 1964 war er der Direktor desselben Instituts. 1970 wurde er emeritiert. Nachdem er seinen achtzigsten Geburtstag am 6.  Februar noch mit einem Fakultätsessen gefeiert hatte, verstarb Leibholz völlig unerwartet am 19.  Februar 1982. In der Familiengrabstätte wurde neben ihm siebzehn Jahre später seine Frau beigesetzt. Auch seine Tochter Christiane fand dort ihre letzte Ruhe. Unterhalb des Grabsteins des Ehepaares liegt ein Findling mit der Inschrift: »Fürchte Dich nicht denn ich habe Dich erlöst, ich habe Dich bei Deinem Namen gerufen, Du bist mein«, und davor wird des von den Nazis ermordeten Bruders und Schwagers Dietrich Bonhoeffer mit einer steinernen Platte gedacht. Anmerkungen 1 Vgl. Göttinger Jahrbuch 2002, S. 212. 2 Zitiert nach Leibholz-Bonhoeffer, Vergangen, erlebt, überwunden, S. 74. 3 Wiegand, Norm und Wirklichkeit, S. 22. 4 Ebd., S. 87. 5 Ebd., S. 88. 6 Ebd., S. 94. 7 Wiegandt, Norm und Wirklichkeit, S. 30. 8 Ebd., S. 38 f. 9 Ebd. 10 Ebd., S. 39. 11 Ebd., S. 40. 12 Leibholz-Bonhoeffer, Vergangen, erlebt, überwunden, S. 60. 13 Ebd., S. 99. 14 Wiegandt, Norm und Wirklichkeit, S. 41. 15 Leibholz-Bonhoeffer, Vergangen, erlebt, überwunden, S. 112. 16 Zitiert nach ebd., S. 115 f. 17 Ebd., S. 153. 18 Vgl. Laudatio von Josef Ackermann, in: Göttinger Jahrbuch 2002, S. 214. 19 Leibholz-Bonhoeffer, Vergangen, erlebt, überwunden, S. 196. 20 Ebd., S. 215. 21 Zitiert nach Wiegandt, Norm und Wirklichkeit, S. 58. 22 Ebd., S. 64.

Felix Klein 25. April 1849 — 22. Juni 1925

Felix Klein war der große Organisator der Mathematik und Physik an der Universität Göttingen. Unter ihm entwickelte sich die Hochschule zum Weltzentrum der Mathematik. Sein Geburtsdatum könne man sich, meinte Klein, leicht merken. Man müsse nur die Primzahlen 5, 2, und 43 mit sich selbst multiplizieren, um auf den 25. April 1849 zu kommen.1 Als geborener Düsseldorfer betonte Klein in seinen Erinnerungen, daß seine Eltern keine Rheinländer seien. Sein Vater stammte von einem Schmied im südlichen Westfalen ab, dort »wo der Märker Eisen reckt«.2 Für ihn waren Fleiß, Realitätssinn, Zuverlässigkeit und wohlbedachte Sparsamkeit unerlässlich für ein erfolgreiches Leben. Seine Mutter, ein fröhlicher und vielseitig interessierter Mensch, erteilte ihrem Sohn den ersten Unterricht, so daß er als Sechsjähriger mit guten Vorkenntnissen in eine private Elementarschule kam. Dort erhielt er erste Anregungen für naturwissenschaftliche Themen und ein intensives Training im Kopfrechnen. Ab Herbst 1857 besuchte er das achtklassige humanistische Gymnasium, an dem Naturwissenschaften kaum gelehrt wurden. Den Schülern wurde, wie Klein in seinen Erinnerungen schrieb, »eine wertvolle Fähigkeit übermittelt: Wir lernten arbeiten und nochmals arbeiten.«3 Seinen naturwissenschaft­ lichen Wissensdurst stillten der Vater eines Klassenkameraden, ein Apotheker, und der Leiter der kleinen Düsseldorfer Sternwarte. 1865 machte er sein Abitur und begann im Alter von 16 Jahren das Studium der Mathematik und Naturwissenschaften in Bonn. Schon nach einem halben Jahr wurde er Assistent von Professor Julius Plücker. Diesem half er bei der Vorbereitung und Durchführung der Vorlesungen über Experimentalphysik,

106  Felix Klein was Klein in seiner Absicht bestärkte, sich später als Physiker zu spezialisieren. Im Dezember 1868, nach dem Tod Plückers, promovierte der noch nicht Zwanzigjährige und wechselte an­ schließend nach Göttingen. Doch schon ein Jahr später trieb ihn »der Drang nach Erweiterung des Gesichtskreises fort, da ich über die Grenzen der wissenschaftlichen Schulen hinauswachsen wollte«4. Klein ging nach Berlin und im Sommer 1870 mit einem norwegischen Freund nach Paris. Dort wurden sie nach wenigen Wochen vom Deutsch-Französischen Krieg überrascht. Klein schaffte es gerade noch über die Grenze zurück nach Deutschland, sein Freund hingegen wurde wegen bei ihm gefundener Briefe in deutscher Sprache als Spion verhaftet. Da Klein nicht als Kriegsfreiwilliger angenommen wurde, meldete er sich, »erfüllt von dem Willen, an den großen Ereignissen teilzunehmen«5, beim Bonner Nothelferkorps. Typhuskrank wurde er jedoch Ende September ins Elternhaus zurückgebracht. Anfang 1871, der Krieg war inzwischen beendet worden, war Klein wieder in Göttingen und habilitierte sich. Im Sommer begann er mit physikalischen Vorlesungen, beschäftigte sich jedoch weiterhin auch mit der Mathematik. Im Herbst 1873 wurde der Dreiundzwanzigjährige als ordentlicher Professor für Mathematik nach Erlangen berufen. Klein akzeptierte, und damit war die Entscheidung für seine endgültige wissenschaftliche Ausrichtung gefallen. So früh mit einem solchen Amt betraut zu werden, bedeutete aber auch, daß ihm »durch diese Berufung im jugendlichsten Alter auch die Möglichkeit ruhigen Wachstums und stillen Ausreifens«6 genommen wurde. In Erlangen heiratete Klein Anna Hegel, eine Enkelin des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Er schenkte ihr während der Brautzeit ein Ballkleid mit aus mathematischen Formeln gebildeten Ornamenten, die er mit seinem Freund Lie in Paris publiziert hatte.7 Das Ehepaar bekam einen Sohn und drei Töchter. Elisabeth, die jüngste Tochter, studierte ebenfalls Mathematik und Physik.8 Ostern 1875 wurde Klein an die Technische Hochschule in München berufen, wo er Ingenieurstudenten und Lehramtskandidaten ausbilden sollte. »Bei der Annahme dieser Berufung schwebte mir das Ideal der polytechnischen Schule vor, wie es in

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Paris und Zürich verwirklicht schien und in München ebenfalls angestrebt wurde: Die praktische Ausbildung nach technischer Seite sollte Hand in Hand mit der theoretisch-wissenschaft­lichen Ausbildung gehen, so daß eine einheitliche Gesamtausbildung möglich erschien«, liest man in seinen Erinnerungen.9 Er wollte die Konfrontation zwischen reiner Wissenschaft und Praxis sowie das einseitige Spezialistentum überwinden. Endgültig scheiterte er 1888 mit dem Plan, Technische Hochschulen und Universitäten zu vereinigen, da die Technischen Hochschulen befürchteten, ihre Unabhängigkeit und ihre wissenschaftliche Bedeutung zu verlieren und den Vertretern der Universitäten die praxisbezogen Fächer nicht wissenschaftlich genug erschienen. Im Herbst 1880 wechselte Klein an die Leipziger Universität, wo er abermals versuchte, einige Neuerungen einzuführen, womit er, zumal er der jüngste Professor war, auf viel Widerstand stieß. Zusätzlich arbeitete er mit großem Einsatz an der Untersuchung eines mathematischen Problems, dessen Lösung er vor dem französischen Mathematiker Henry Poincaré finden wollte. Diese beständigen Überanstrengungen führten zum psychischen und körperlichen Zusammenbruch des Dreiunddreißigjährigen, und er mußte einen längeren Urlaub antreten.

108  Felix Klein Sein Leben lang hatte Klein mit Erschöpfungszuständen, Depressionen, Schlaf‌losigkeit, Migräne und anderen Beschwerden zu kämpfen. Zur Erholung fuhr er nach Hahnenklee oder Borkum, aber er war nicht bereit, sein Arbeitspensum zu reduzieren. 1888 schrieb ihm sein Freund Paul Gordan: »Ich lebe in der steten Angst, daß Sie sich überanstrengen; wie man andere Leute vom Laster abhält, so muß man Sie von der Mathematik abhalten. Die ist Ihr Laster.«10 Ostern 1886 kam Klein wieder nach Göttingen. Zur Begründung ließ er verlauten: »Zu der Annahme dieses Rufes bewegte mich vor allem der Wunsch, von der Großstadt loszukommen, die ich nie geliebt hatte, und die Hoffnung, in der kleinen Gartenstadt eine befriedigendere Existenz zu gewinnen. […] Schließlich kam noch die Überlegung hinzu, daß eine Tätigkeit in Preußen von weit durchgreifenderer Wirkung für die mathematischen Unterichtsverhältnisse sein mußte als das Arbeiten an einer noch so bedeutenden außerpreußischen Universität.«11 Er bezog das direkt neben dem Botanischen Garten ­liegende Haus in der Wilhelm-Weber-Straße 3.  Auch in Göttingen kümmerte Klein sich um die Verbesserung der Lehre und widmete sich verstärkt dem Thema, das ihm besonders am Herzen lag: der Organisation des Hochschul- und Schulunterrichts. Er wurde dabei von dem Ministerialdirektor Friedrich Althoff aus dem preußischen Kultusministerium intensiv unterstützt, der auch für die Berufung Kleins nach Göttingen gesorgt hatte. Mit seiner Hilfe konnte er herausragende Wissenschaftler für Göttingen gewinnen, so beispielsweise den weltbekannten Vertreter der theoretischen Mathematik David Hilbert. 1902 wurde ein dritter Lehrstuhl eingerichtet und mit Hermann Minkowski besetzt. Personell und finanziell war die Göttinger mathematische Abteilung, die noch zu der philosophischen Fakultät gehörte, die am besten ausgestattete in ganz Deutschland. Folgerichtig entstand dann 1922 an der Universität Göttingen die erste mathematische Fakultät in Deutschland. 1893 wurde Klein von Minister Althoff zur Weltausstellung nach Chicago gesandt, um dort bei dem mathematischen Kongreß die deutsche Wissenschaft zu vertreten. Er kam mit vielen Anregungen zu Finanzierungsmodellen zurück. Noch immer

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versuchte Klein, eine stärkere Verbindung zwischen Mathematik, Naturwissenschaften und Technik, d. h. den praktischen Anwendungen, herzustellen. Dafür brauchte er finanzielle Unterstützung, für die er auch die Industrie heranziehen wollte. »Den amerikanischen Anregungen folgend, war es von vornherein meine Absicht, industrielle Kreise für diese Gedankengänge im allgemeinen und für unser Institut im besonderen zu interessieren. Obwohl mich hierbei der Gedanke reizte, in unserm überall auf Staatshilfe wartenden Volke einmal aus privater Initiative Ideen zur Verwirklichung zu bringen, lag mir dennoch bedeutend mehr an der befruchtenden gegenseitigen Einwirkung, welche ich mir von der Zusammenarbeit des stillen Gelehrten und des im praktischen Leben stehenden, schöpferisch tätigen Großindustriellen versprach.« So legte es Klein in seinen Erinnerungen dar.12 Aus der Universität schlug ihm heftiger Widerstand entgegen. »Man warf mir Amerikanismus vor, sprach von Verrat an der Wissenschaft, ja man fürchtete sogar, durch die Annahme finanzieller Hilfe in gefährliche Abhängigkeit zu geraten.«13 Trotzdem gelang es ihm, zusammen mit interessierten Kollegen und Persönlichkeiten aus der Wirtschaft 1898 die »Göttinger Vereinigung zur Förderung der angewandten Mathematik und Physik« zu gründen. Jetzt kamen Klein seine in München geknüpften Freundschaften mit Industriellen zugute. Der Kältetechniker Carl von Linde gab ihm den Rat: »Wenn Sie, Herr Klein, bei Industriellen Geld sammeln wollen, werden Sie nicht viel zusammenbekommen. Derartiges muß so gemacht werden, daß man den Reichsten von den Industrieleuten für sich gewinnt und diesen sammeln läßt«14. Linde nutzte seine Kontakte zu anderen Industriebereichen, und so gewann Klein einen finanzkräftigen Förderkreis für die Universität. In den nächsten zehn Jahren konnte die Vereinigung den mathematisch-naturwissenschaftlichen Wissenschaftsgebieten 200 000 Mark zur Verfügung stellen.15 Neue Institute und Lehrstühle wurden eingerichtet, es entstanden in Göttingen die ersten Lehrstühle für Geophysik und Physikalische Chemie. Das Institut für Aerodynamik und Hydrodynamik wurde errichtet, und Göttingen wurde zum Zentrum der Forschung für die Luftfahrt in Deutschland.

110  Felix Klein Neben der Modernisierung der Lehre an den Universitäten kämpfte Klein für einen guten mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht an den höheren Schulen. Die Gymnasien waren einseitig auf den altsprachlichen Unterricht ausgerichtet, naturwissenschaftliche Fächer wurden kaum angeboten. Doch da die Technik im alltäglichen Leben einen immer größeren Raum einnahm, hielt Klein es für angebracht, neue Unterrichtsinhalte in die Lehrpläne aufzunehmen. Er wollte das Humanistische Gymnasium nicht abschaffen, aber die Gleichberechtigung der naturwissenschaftlichen Fächer hergestellt sehen. Die Verwirklichung seiner Vorstellungen konnte Klein auf der preußischen Schulkonferenz im Jahr 1900 erleben. Realgymnasien, die ohne alte Sprachen, dafür mit neuen Sprachen, Mathematik und Naturwissenschaften zum Abitur führten, entstanden. Auch um die Qualität der Didaktik kümmerte er sich. Er entwickelte Konzepte und richtete an der Göttinger Universität Ferienkurse für Mathematiklehrer ein. Ein wichtiges Merkmal für guten Unterricht war für Klein, daß Motivation zum Lernen vermittelt wurde. Seinen Studenten gab er mit auf den Weg: »Sie müssen ein Problem haben. Suchen Sie ein bestimmtes Ziel und steuern Sie darauf zu. Vielleicht erreichen Sie es nie, aber unterwegs werden Sie manches Interessante finden.«16 Klein lag außerdem die schulische und universitäre Ausbildung von Frauen am Herzen. Zusammen mit David Hilbert setzte er sich für die Aufnahme von Frauen an den Universitäten ein. Nach seiner Amerikareise sorgte er dafür, daß zwei Amerikanerinnen und eine Engländerin 1893/94 in Göttingen Mathematik und Physik studieren konnten. Dabei mußte er viele Widerstände überwinden, vor allem das Vorurteil, daß die Mathematik sich nicht für das »schwache Geschlecht« eigne. Sein Kommentar dazu: »Erst unterrichtet man die Frauen in Mathematik so wenig wie möglich, und dann wundert man sich hinterher, daß ihnen das mathematische Denken fremd geblieben ist, und sagt: da sieht man’s ja, daß sie dafür nichts taugen!«17 Unumstritten war Klein seinerzeit die zentrale Persönlichkeit der mathematisch-naturwissenschaftlichen Forschung in Deutschland. Im Jahr 1907 wurde er daher auch als Vertreter der Universität Göttingen in das preußische Herrenhaus ge-

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wählt. Seine Studenten nannten ihn den »großen Felix« und einer seiner Beinamen lautete »Papst der Mathematiker«18. Klein schaffte sein immenses Arbeitspensum nur durch Disziplin und seine Fähigkeit, gute persönliche Kontakte aufzubauen und Aufgaben zu delegieren. Er lebte nach einem strikt eingehaltenen Terminkalender und es heißt, daß selbst seine Tochter Elisabeth, ebenfalls Mathematikerin, eine Voranmeldung bei ihm brauchte.19 Um seine zahlreichen persönlichen Kontakte zu pflegen, besuchte er auswärtige Kollegen auf seinen Reisen und daheim in Göttingen spazierte er jeden Donnerstag mit Hilbert, Minkowski und Runge Fachgespräche führend zum Kehr, um dort Kaffee zu trinken.20 Im Herbst 1911 mußte Klein sich wegen gesundheitlicher Probleme zurückziehen. Nach einem einjährigen Erholungsaufenthalt in Hahnenklee versuchte er vergeblich, wieder Vorlesungen zu halten. Darauf‌hin ließ er sich zu Ostern 1913 emeritieren und arbeitete fortan von zu Hause aus, von wo er auf Wunsch seiner Kollegen die wissenschaftlichen Abhandlungen, die er im Laufe der Jahre geschrieben hatte, gesammelt herausgab. Allein dafür benötigte er fünf Jahre. 1914, schon in den ersten Wochen des Ersten Weltkrieges, fiel Kleins Schwiegersohn. Viele seiner Schüler sah er als Freiwillige in den Krieg ziehen und nicht zurückkehren. Da erschien es ihm als »selbstverständliche Pflicht, daß wir Alten, die wir zu Hause bleiben mußten, uns untereinander und mit den wenigen erreichbaren Studierenden zusammenschlossen, um die Tradition des wissenschaftlichen Betriebes aufrecht zu erhalten«21. 1923 schrieb er am Schluss seiner Erinnerungen: »Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, darf ich mit Dank sagen, daß die Vorsehung mir gestattet hat, die in mir liegenden Kräfte nach verschiedenen Richtungen zu entfalten, obwohl sie meiner Leistungsfähigkeit durch eine nicht ausreichende Gesundheit bestimmte Grenzen gezogen hat.«22 Am 22. Juni 1925 starb Felix Klein fünfundsiebzigjährig. Zwei Jahre später folgte ihm seine Frau. Über seinem Namen am oberen Rand des Grabsteins auf dem Stadtfriedhof steht sein ­Lebensmotto: »Sincere et constanter« (aufrichtig und standhaft), am Fuß des Steins der Bibelspruch »Gott ist getreu« (1. Kor. 10).

112  Felix Klein Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22

Vgl. Spektrum 1/99, S. 30. Klein, Göttinger Professoren, S. 11. Ebd., S. 13. Ebd., S. 15. Ebd., S. 16. Ebd., S. 17. Vgl. Felix-Klein-Gymnasium, Festschrift, S. 29. Vgl. Spangenberg, Felix Klein und Göttingen, S. 172. Klein, Göttinger Professoren, S. 19. Zitiert nach Spangenberg, Felix Klein und Göttingen, S. 204. Klein, Göttinger Professoren, S. 22. Ebd., S. 27. Ebd., S. 28. Zitiert nach Vogel-Prandtl, Ludwig Prandtl, S. 197. Vgl. Schlotter (Hg.), Die Geschichte der Verfassung, S. 149. Zitiert nach Popplow, Felix Klein, S. 204. Zitiert nach Felix-Klein-Gymnasium, Festschrift, S. 20. Popplow, Felix Klein, S. 204. Vgl. Spektrum 1/99, S. 33. Vgl. Spangenberg, Felix Klein und Göttingen, S. 178. Klein, Göttinger Professoren, S. 35. Ebd., S. 36.

Otto Wallach 27. März 1847 — 26. Februar 1931

Am 14. November 1910 erhielt Otto Wallach als erster Göttinger Wissenschaftler den Nobelpreis. Er erforschte die Zusammensetzung der ätherischen Öle und alizyklischen Verbindungen und legte damit den Grundstein für einen heute noch bedeutenden Industriezweig, der Herstellung von Duft- und Aromastoffen. Otto Wallach kam 1847 in Königsberg als Sohn eines preußischen Beamten, der häufig versetzt wurde, zur Welt. Seine Schulzeit brachte er in Potsdam zu. Dem dortigen Gymnasium bescheinigte er einen guten Unterricht in Mathematik und Physik, den sogenannten Realien, was für die damaligen humanistisch ausgerichteten Gymnasien ungewöhnlich war. Ein älterer Schulkamerad machte ihn mit chemischen Experimenten und der sich gerade entwickelnden Fotografie vertraut, wobei Wallach die Möbel in seinem Zimmer durch Verätzungen beschädigte. »Zu Hause fand diese, nicht immer zu wohlriechenden Produkten führende Experimentierneigung wenig Anklang, denn ich bin in einer Juristenfamilie groß geworden, der naturwissenschaftliche Interessen ferner lagen«1, erinnerte sich Wallach. In seinen ersten Schuljahren war Wallach häufig krank. Aber als Jugend­licher liebte er sportliche Aktivitäten und lange Spaziergänge mit Schulfreunden. Im Sommer verbrachten sie jeden Freitag­nachmittag auf einem Waldplatz mit Turngeräten und schwammen in der Havel, im Winter vergnügten sie sich mit Schlittschuhlaufen. Im Frühjahr 1867 begann Wallach zur Verwunderung seiner Familie und Freunde mit dem Studium der Chemie. Sein Vater hätte ihn gern als Landwirt gesehen. Zwar fühlte sich der Sohn zur Medizin hingezogen, er fürchtete aber, den körperlichen Anstrengungen nicht gewachsen zu sein. Auch scheute er die lange Ausbildungszeit. Dank eines Chemiestudiums, so hieß es, könne »man unter günstigen Umständen ungewöhnlich schnell

114  Otto Wallach materielle Unabhängigkeit« erreichen.2 Nur zwei Studienorte und deren renommierte Repräsentanten kamen für Wallach in Frage: Robert Bunsen in Heidelberg und Friedrich Wöhler in Göttingen. »Mein weniger auf Lebensgenuss als auf Unabhängigkeit gerichteter Sinn ließ mich aber Göttingen wählen, wo man, wie ich wusste, schnell zur Promotion gelangen konnte.«3 Der Einstieg in das Studium erwies sich als schwierig, da Wöhler und seine Assistenten unterschiedliche Richtungen der Chemie vertraten. Auch sprach Wöhler infolge einer Chlorvergiftung mit sehr leiser Stimme. Obwohl die sonstigen Bedingungen optimal waren – es gab 100 Laborplätze –, wechselte Wallach nach einem Semester an die Berliner Universität, aus persönlichen und nicht aus sachlichen Gründen, wie er betonte. Dort lebten seine Eltern, und auch einige seiner Schulfreunde traf er an der Universität wieder. Räumlich und personell fand er bei der Chemie aber katastrophale Bedingungen vor. Es gab nur alte, viel zu kleine »verstänkerte Laboratorien«4, die nicht zu beheizen und kaum zu lüften waren. Nur mit Mühe erhielt er einen Platz in einem privaten Labor. Hinzu kam eine mangelhafte wissenschaftliche Betreuung, sodaß Wallach in das ungeliebte Göttingen zurückkehrte, wo er versuchte, das verlorene Semester aufzuholen. In seinen Erinnerungen schrieb er dazu: »[…] es folgte eine Zeit rastloser Tätigkeit in Göttingen. Das Wöhlersche Laboratorium war dazu sehr geeignet. Unfleiß wurde dort überhaupt nicht geduldet. Wer seinen Arbeitsplatz nicht regelmäßig benutzte, mußte gewärtig sein, vom ›Hofrat‹ einen Brief zu erhalten, mit der Auf‌forderung, den Platz zu räumen.«5 Auch die, wie er sagt, »außerhalb des die Stadt umschließenden schönen Lindenwalls« völlig reizlose Umgebung Göttingens und die Tatsache, dass die Pedelle dafür sorgen mussten, dass die Studenten zur Polizeistunde um 11 Uhr abends die Wirtshäuser verließen, waren einem zügigen Studium förderlich.6 Göttingen war für ihn eine langweilige Kleinstadt, der auch die dürftigsten hygienischen Einrichtungen fehlten. 1869 schloss Wallach sein Studium mit einer Sondergenehmigung schon nach fünf Semestern ab. Nach dem Erhalt der Promotionsurkunde verließ er die Stadt »mit dem stillen aufrichtigen Wunsch: Auf nimmer Wiedersehen.«7

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Er trat zunächst eine Assistentenstellen bei Hermann Wichelhaus in Berlin und ab Mai 1870 bei August Kekulé, dem damals bedeutendsten Theoretiker in organischer Chemie und Entdecker des Benzolrings, in Bonn an. Die Zeit in Bonn wurde durch den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 unterbrochen. Da Wallach als nicht kriegstauglich eingestuft worden war, schloß er sich einem Lebensmitteltransport des Roten Kreuzes an die Front an. Sie gelangten bis Remilly, dicht vor Metz, »unmittelbar nach den blutigen Kampf‌tagen im August, […]. In dem kleinen Dorf lagen viele Tausende Verwundeter auf fauligem Stroh bei herrschendem Regenwetter im Freien und harrten schmerzlich des nur sehr langsam zu ermöglichenden Abtransports in Lazarette. Da erhielt man einen erschütternden, wenn auch nur kleinen Einblick in die Schrecken des Krieges.«8 Im Oktober 1870 konnte Wallach seine Forschungen in Bonn wieder aufnehmen, nachdem er zunächst nach seiner Rück-

116  Otto Wallach kehr aus Frankreich als Pfleger für das Rote Kreuz in Berlin gearbeitet hatte. Im Februar 1871 wurde ihm die Stelle als erster und einziger wissenschaftlicher Chemiker der »Actiengesellschaft für Anilin-Fabrikation«, der späteren »Agfa«, angeboten. Die Farbenfabrik war 1867 auf Veranlassung von Wallachs Göttinger Lehrer Friedrich Wöhler von Carl Alexander von Martius und Paul Mendelsohn-Bartholdy, dem Sohn des Komponisten Felix Mendelsohn-Bartholdy, gegründet worden. Da Wallach die wissenschaftliche Lauf‌bahn zu der Zeit als recht unsicher erschien, wagte er den Schritt in die Industrie. Wallach wurde die Überwachung der Chlorfabrikation übertragen. Die giftigen Chlor- und Anilindämpfe beeinträchtigten seine Gesundheit und machten ihn für mehrere Monate arbeitsunfähig. Darum trat er im Frühjahr 1872 doch wieder seine Assistentenstelle bei Kekulé in Bonn an, wo er sich 1873 mit einer Arbeit über die Bildung von Dichloressigsäure aus Chloral habilitierte. Er genoss das rheinländische Leben, die landschaftlich schöne Umgebung – »Eisenbahn oder Dampfschiff wurden fleissig genutzt« –, die gut erreichbaren Städte Belgiens und Hollands und auch London oder Paris waren seine Ziele für kürzere Arbeitsunterbrechungen. Er ritt gern mit Freunden aus: »Abends den Rhein entlang, […] wobei gern ein Galopp angeschlagen wurde und versucht, mit den stromauf fahrenden Dampfern mitzukommen.«9 Längere Ferien verbrachte er in Skandinavien, Ungarn, Italien oder Spanien. 1876 wurde er in Bonn zum außerordentlichen Professor ernannt. 1889 folgte Wallach dem Ruf nach Göttingen auf den Lehrstuhl des 1882 verstorbenen Friedrich Wöhler. Aber die Umstellung vom Rhein an die Leine fiel ihm schwer. »Wochenlanger Regen gab den Auf‌takt für die neue Existenz. […] Statt des Sonnenscheins und milden Herbstes ein nasskaltes, rauhes Klima und statt der leichtlebigen, leichtauf‌fassenden und weinfrohen Menschen diese schwerblütigen Niedersachsen mit ihrem die einfachsten ungewohnten Dinge nur schweraufnehmenden Naturell, an alt gewohntem klebend und jede dienstliche Anordnung mit einem endlosen breiten Geschwätz beantwortend. Statt des Welttreibens klösterliche Stille.«10

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Alsbald wurde Wallach für den Göttinger Alltag, zumindest am Ende des Winters, nicht ganz unwichtig. »Der Geheimrat trug noch immer einen wunderschönen altmodischen ­Havelock. Ältere Göttinger erzählten, daß früher der Tag am Ende des Winters, an dem Geheimrat Wallach das kurze Cape des Havelocks ablegte, für die Eingeborenen das Signal war, die Doppelfenster auf den Dachboden zu stellen und mit dem Frühjahrsputz zu beginnen«11. In Bonn hatte Wallach seinen zukünftigen Forschungsbereich gefunden, die Gruppe der ätherischen Öle und pflanz­ lichen Riechstoffe, ein noch unerforschtes Gebiet voller Rätsel. Er meinte dazu: »Ich wurde darauf aufmerksam, wie unsere Kenntnis der chemischen Natur der großen Gruppe der s. g. ätherischen Pflanzenöle, von denen einige auch in dem offizinellen Arzeneischatz Aufnahme gefunden hatten, noch vollkommen im Argen lag. Ich begann daher mit der Erforschung einiger grade in etwas größerer Menge zu Gebote stehender Stoffe der Art, vor deren näherer Untersuchung wegen der damit verbundenen Schwierigkeiten die Chemiker bisher zurückgeschreckt waren.«12 Diese Forschungen beschäftigten ihn für viele Jahre und fanden überwiegend während seiner Göttinger Zeit statt. 1909 erschien Wallachs Hauptwerk »Terpene und Campher. Zusammenfassung eigener Untersuchungen auf dem Gebiet der alicyclischen Kohlenstoffverbindungen«, das viele Jahre als »Bibel« der Naturstoffchemiker galt. 1910 erhielt er als erster Göttinger Wissenschaftler den Nobelpreis für sein wissenschaftliches Lebenswerk »in Anerkennung seiner Verdienste um die organische Chemie und die chemische Industrie durch seine Pionierarbeit auf dem Gebiet der alizyklischen Verbindungen«13. Von dem Preisgeld stiftete Wallach der Universität 20 000 Mark für die Otto Wallach Stiftung. Deren Zinsen sollten für »die Förderung der wissenschaft­ lichen Tätigkeit solcher jungen, wenig bemittelten Dozenten und ­Assistenten verwendet werden, die am Allgemeinen Chemischen Laboratorium der Universität beschäftigt sind.«14 Als lehrbegeisterter Professor machte Wallach die Göttinger Universität zu einer der in Deutschland bedeutendsten Ausbildungsstätten in Chemie. Zugleich war er aber auch ein gefürch-

118  Otto Wallach teter Dozent, vor allem für die Medizinstudenten, denn diesen drückte er bei Prüfungen zuweilen »ein in seinen hornigen Chemikerhänden sorgfältig erhitztes Reagenzglas in die Hand. Wenn der Kandidat es mit einem Aufschrei fallen ließ, brummte er nur grimmig: Ach was! Der alte Bunsen konnte glühende Platintiegel anfassen.«15 Zum 1. Oktober 1915 ließ er sich emeritieren. »In dem Jahr, in dem ich noch aktiv war, war es keine Freude mehr, einem Institut vorzustehen. Nur noch wenige männliche Praktikanten blieben bei ihrer Arbeit, da sie zum Waffendienst anfangs nicht brauchbar gefunden waren. […] Schon in diesem ersten Kriegsjahr waren alle meine bisherigen Assistenten und kaum promovierten Chemiker gefallen. […] Man hatte das niederdrückende Gefühl, durch die Jahre sich vergeblich um die Ausbildung des chemischen Nachwuchses bemüht zu haben.«16 Sein Nachfolger wurde Adolf Windaus. Am 26. Februar 1931 verstarb Otto Wallach in dem von ihm zunächst so ungeliebten Göttingen, wo er auf dem Stadtfriedhof seine letzte Ruhe fand. Er wurde 83 Jahre alt. Sein Grab bedeckt eine schwere, schlichte Grabplatte mit seinem Namen, den Lebensdaten und der Information: Professor der Chemie an der Universität Göttingen. Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16

Wallach, Lebensbilder von eigener Hand, S. 39. Beer / Remane (Hg.), Otto Wallach, S. 41. Ebd., S. 42. Ebd., S. 58. Wallach, Lebensbilder von eigener Hand, S. 40. Beer / Remane (Hg.), Otto Wallach, S. 57. Ebd., S. 61. Wallach, Lebensbilder von eigener Hand, S. 43. Beer / Remane (Hg.), Otto Wallach, S. 96, 120. Ebd., S. 122. Bamm, Eines Menschen Zeit, S. 31. Wallach, Lebensbilder von eigener Hand, S. 45. Das Göttinger Nobelpreiswunder, S. 268. Beer / Remane (Hg.), Otto Wallach, S. 146. Bamm, Eines Menschen Zeit, S. 31. Beer / Remane (Hg.), Otto Wallach, S. 156.

Johann Emil Wiechert 26. Dezember 1861 — 19. März 1928

»Ferne Kunde bringt Dir der schwankende Fels –: Deute die Zeichen«, dieser Satz Emil Wiecherts, des ersten Lehrstuhlinhabers für Geophysik überhaupt, steht über dem Eingang zum Alten Erdbebenhaus auf dem Wartberg oberhalb Göttingens. Das Gebäude gehört zum weltweit ersten Institut für Geophysik, dem Wiechert vorstand. Johann Emil, der einzige Sohn des früh verstorbenen Kaufmanns Johann Wiechert und seiner Frau Emilie, wurde 1861 im ostpreußischen Tilsit geboren. Er wuchs in Königsberg auf, wohin seine Mutter mit ihm nach dem Tod ihres Mannes gezogen war. Trotz der finanziell beschränkten Verhältnisse ermöglichte sie ihm den Besuch des Realgymnasiums, wo er 1881 das Abitur bestand. Anschließend studierte Wiechert an der Königsberger Universität Albertina Physik, wo er eine Reihe bedeutender Wissenschaftler kennenlernte. 1889 wurde er promoviert und im folgenden Jahr habilitierte er sich. Er blieb zunächst an der ­A lbertina und beschäftigte sich mit dem Auf‌bau der Materie und dem Wesen der Elektrizität. Seine Arbeiten interessierten die Göttinger Physiker Eduard Riecke und den 1893 aus Königsberg gekommenen Woldemar Voigt, die beide auf der Suche nach talentierten jungen Wissenschaftlern waren. Sie nahmen Kontakt zu Wiechert auf und konnten ihn für das Voigtsche Institut in Göttingen gewinnen, an das er 1897 wechselte. Zunächst widmete Wiechert sich weiter der Erforschung des Elektrons, dessen erstmaliger experimenteller Nachweis ihm im selben Jahr gelang. Zu dieser Zeit plante der Mathematiker Felix Klein, der den Ausbau der Universität in Zusammenarbeit mit dem preußischen Kultusministerium zu einem weltweit anerkannten Forschungszentrum vorantrieb, auch ein geophysikalisches Institut.

120  Johann Emil Wiechert Mit geophysikalischen Fragen hatten sich Astronomen und Physiker seit Beginn der Universität immer wieder befaßt. Ihren Ursprung hatte die Geophysik in den Arbeiten zum Erdmagnetismus von Carl Friedrich Gauß und Wilhelm Weber. Sie blieb weiterhin Teil des Arbeitsgebietes der Sternwarte, bis man 1898 bei deren Reorganisation eine außerordentliche Professur einrichtete und ein Institut gründete. Das war die Geburtsstunde der Geophysik als eigenständigen Fachs. Ihr erster Lehrstuhlinhaber und Direktor des Instituts wurde Emil Wiechert. Noch im Jahr 1898 begann man mit der Planung des Institutsgebäudes auf dem Hainberg, 1901 konnte dann das Hauptgebäude bezogen werden. Es war weithin sichtbar, denn der Beginn der Bewaldung der kahlen Hügel auf Initiative des Oberbürgermeisters Georg Merkel lag noch nicht allzu lange zurück. Elektrizität und Wasser gab es dort oben noch nicht, sodaß man Strom mit einem Benzinmotor erzeugte und in einer Zisterne Regenwasser aufgefangen wurde. Es wurden Seismik, also Erdbebenkunde, Erdmagnetismus,­ Luftelektrizität und Meteorologie gelehrt, das Hauptforschungsgebiet verlagerte sich aber immer mehr auf das Gebiet der Seismik, wofür neue Geräte gebaut werden mußten. Deshalb unternahm Wiechert 1899 eine Studienreise zu den seismischen Stationen in Italien. In Ländern mit großer Erdbebengefährdung hatte man schon lange Interesse an Erbebenmessgeräten. Der älteste Seismograph befand sich in Neapel, wo er 1784 konstruiert und aufgestellt worden war. Allerdings arbeitete dieser nicht zuverlässig. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde er zwar entscheidend verbessert, aber noch immer gab es keine exakt arbeitenden Apparaturen. Leichte Erschütterungen konnten die bestehenden Seismographen nicht aufzeichnen, und bei starken Erdbeben fielen sie häufig aus. Nach seiner Reise begann Wiechert sofort mit der Entwicklung neuer Seismographen. Gleichzeitig entstand das Erdbebenhaus. Wegen des notwendigen Temperaturschutzes wurde es in den Kalkberg hineingebaut. Seine Bodenplatte liegt etwa drei Meter unter der Oberfläche. Für magnetische Beobachtungen wurde das auf dem Gelände der Sternwarte stehende eisenfreie Gaußhaus zerlegt, von der Geismarlandstraße zu seinem neuen Standort beim

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geophysikalischen Institut transportiert und wieder aufgebaut. »Und nun begann«, so schrieb Wiecherts Schüler und späterer Nachfolger Gustav Angenheister, »die fröhliche Arbeit, diese Häuser mit den mannigfachsten Instrumenten zu bevölkern. Hier war Wiechert in seiner eigensten und liebsten Tätigkeit. Das große experimentelle Geschick, das sich schon in seinen physikalischen Arbeiten gezeigt hatte, kam hier zu voller Geltung.«1 Es entstanden verschiedene neue geophysikalische Instrumente, wobei ihm der Bau von seismischen Instrumenten am meisten am Herzen lag. Die Wiechertschen Seismographen wurden zusammen mit den Firmen Bartels und Spindler & Hoyer verwirklicht. Die Geräte arbeiteten hochpräzise und lieferten lesbare und dauerhafte Aufzeichnungen. Mit den Messungen der Ausbreitung natürlicher oder künstlich erzeugter Erdbeben konnte der innere Auf‌bau der Erde erforscht werden. Schon in Königsberg hatte

122  Johann Emil Wiechert Wiechert vermutet, daß die Erde einen Eisenkern besitzt. In Göttingen konnte er später die Richtigkeit seiner Annahme bestätigen und beweisen, daß die Erde dreigeteilt war: zwei Schalen um einen Eisenkern. Die vielen Fragen, die diese Forschungen aufwarfen, konnten nur mit Hilfe eines die Erde umspannenden Netzes von geophysikalischen Stationen gelöst werden. 1901 gründete die Akademie der Wissenschaften auf Samoa ein Observatorium, zunächst nur für erdmagnetische Messungen. 1902 brach auf Martinique der Vulkan Monte Pélé aus. Dreißigtausend Tote waren zu beklagen. Nach dieser Katastrophe richtete die deutsche Marine vor Ort in Tsingtau eine Erdbebenwarte ein, die als Außenstelle des Göttinger Instituts geführt wurde, und dort wurde der erste Wiechertsche Seismograph aufgestellt. In Göttingen zeichnet der Prototyp seit 1902 mit nur wenigen kurzen Unterbrechungen noch immer die »ferne Kunde«2 der weltweiten Erdbebentätigkeit auf. Für diese lückenlosen Aufzeichnungen interessieren sich heute Forscher aus aller Welt. Als beim großen Erdbeben von San Franzisco im Jahr 1906 alle Erbebenstationen Kaliforniens auf einmal ausgefallen waren, mußte man auf die Aufzeichnungen der deutschen Station in Samoa zurückgreifen. 1908 wurde Messina auf Sizilien zerstört und wieder arbeiteten nur die Wiechertschen Seismographen zuverlässig, worauf‌hin auch Neapel ein solches Gerät bestellte. Doch den größten Auf‌trag erhielt Spindler & Hoyer nach dem Erdbeben im September 1923 in Japan. Unter den Trümmern Tokios und der Umgebung lagen achtzigtausend Tote. Fast alle Geräte der japanischen Station waren sofort ausgefallen. Die deutschen Instrumente auf Samoa und in Tsingtau lieferten abermals die Meßdaten, was die japanische Regierung veranlasste, vierzig Seismographen in Göttingen zu bestellen. Bis zum Zweiten Weltkrieg gehörte auch China zu den regelmäßigen Kunden. Von Wiechert stammen darüber hinaus auch viele Beiträge zur Elektrodynamik, Relativitätstheorie und Mechanik. 1908 stellte er einen Antrag zum Studium unbemannter, telegraphisch gelenkter Flugzeuge zur Untersuchung der Atmosphäre. Damit eilte er seiner Zeit weit voraus, aber das Projekt wurde wegen zahlreicher Schwierigkeiten nicht weiter verfolgt.3

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Wiechert ging ganz in seiner Arbeit auf. »Er war stets äußerst beschäftigt, er hatte wenig Zeit. […] Im Haus, im Garten, in der Eisenbahn, selbst auf seinen beliebten Spaziergängen nach Nikolausberg, wo man ihn immer traf, stets war er mit seinen Plänen beschäftigt, er zeichnete, rechnete, letzteres mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit.«4 Er pflegte rege beruf‌liche Kontakte zu Kollegen, so unter anderem zu den Göttinger Gelehrten Max Born, Felix Klein, David Hilbert oder Hermann Minkowski und tauschte sich mit Albert Einstein und Max Planck aus. Privat lebte er hingegen sehr zurückgezogen. Im Sommer 1908 hatte er Helene Ziebart, die Tochter eines Göttinger Juristen, geheiratet. Die Ehe blieb kinderlos. Mit seiner Frau und seiner Mutter lebte er in der Direktorenwohnung im ersten Obergeschoß des Instituts. Die Heirat band ihn endgültig an Göttingen. Rufe nach Rostock, Königsberg, München und Potsdam lehnte er ab. Nichts habe ihn von seinem geliebten Hainberg fortlocken können, so Angenheister.5 Aus Wiecherts Arbeiten und denen seiner Schüler entwickelte sich im Laufe der Jahre ein Bild des Auf‌baus des Erdinneren, aber auch der Atmosphäre, durch Messungen der Schallwellen in der Luft. Viele seiner ihn verehrenden Schüler wurden später bedeutende Geophysiker. Einmal in der Woche versammelten sie sich abends bei ihm zum Tee und zur Besprechung der Institutsarbeiten. Wiechert war interessiert an neuen Ideen, offen für Kritik und »stets heiter, frisch, oft freudig erregt, besonders wenn ein Experiment geglückt war oder wenn seine aufmerksamen und schnell bewegten Augen einen neuen Zacken im Seismogramm entdeckten; oft ein heiteres Lachen, wenn seine Seismographen, seine überempfindlichen Kinder sich einmal besonders gut benommen hatten; ihre Unarten aber, mißglückte Versuche, drückten ihn nicht nieder, das waren Kinderkrankheiten, sogar sehr interessante, die aber bald überwunden sein würden.«6 Bis zu seinem Tod im Alter von sechsundsechzig Jahren hat er unermüdlich weitergearbeitet, erst recht, als er wußte, daß ihm nicht mehr allzu viel Zeit vergönnt war. Eine Operation schenkte ihm noch einmal zwei Jahre mit wechselhafter Gesundheit. Bis in die letzten Tage und die Fieberträume hinein

124  Johann Emil Wiechert beschäftigten ihn wissenschaftliche Fragestellungen. Der Tod riss ihn mitten aus der Arbeit heraus; er starb am 19. März 1928 und wurde neben seiner zwei Jahre zuvor verstorbenen Mutter auf dem Stadtfriedhof beigesetzt. Neunundzwanzig Jahre später fand seine Frau dort ebenfalls ihre letzte Ruhe. Seinen Grabstein schmücken ein Portraitmedaillon und eine Bronzeplatte mit seinem Namen und seinen Lebensdaten. Anmerkungen 1 Angenheister, Emil Wiechert, S. 114. 2 Schreiber, Historische Gegenstände und Instrumente, S. 9, siehe auch Oberdiek, Göttinger Universitätsbauten, S. 80. 3 Vgl. Rotta, Die Aerodynamische Versuchsanstalt, Fußnote 2, S. 303. 4 Angenheister, Aus den Nachrichten, S. 2. 5 Vgl. ebd. 6 Ebd., S. 4.

Lou Andreas-Salomé 12. Februar 1861 — 5. Februar 1937

»Wir wollen doch sehn, ob nicht die allermeisten sogenannten ›unübersteiglichen Schranken‹, die die Welt zieht, sich als harmlose Kreidestriche herausstellen.«1 Dieser Satz aus einem ihrer Briefe an Hendrik Gillot könnte als Leitsatz über dem Leben der alle konventionellen Regeln verachtenden Lou Andreas-Salomé gestanden haben. Lou – oder russisch Ljola – kam als sechstes Kind nach fünf Söhnen in St. Petersburg zur Welt. Ihr Vater Gustav von Salomé, der sich eine Tochter gewünscht hatte, war General am Zarenhof. Er stammte aus einer im Baltikum lebenden Hugenottenfamilie. Ihre Mutter Louise war die Tochter eines reichen Zuckerfabrikanten deutsch-dänischer Herkunft. Sie hoffte im Gegensatz zu ihrem Mann auf einen sechsten Sohn, da sie befürchtete, daß eine Tochter schwieriger zu erziehen sei und in dem männer­ dominierten Haushalt nur für Unruhe sorgen würde. Lou wuchs im Generalstabsgebäude gegenüber dem Winter­ palais des Zaren in feudalen Verhältnissen auf. Sie hatte ein ­russisches Kindermädchen, dem sie ihre Liebe zu Rußland und dem russischen Volk verdankte, und eine französische Gouvernante, die ihr weniger bedeutete, von der sie aber wenigstens die französische Sprache lernte. In der Familie und im Freundeskreis wurde vorwiegend Deutsch gesprochen, trotzdem fühlten die Salomés sich »nicht nur in russischem ›Dienst‹, sondern als Russen«2. Das Aufwachsen mit den Brüdern prägte Lous ­Einstellung zu Männern lebenslang, denn das »brüderliche Z ­ usammengehören von Männern war mir im Familienkreise als jüngstem Geschwister und einzigem Schwesterchen auf so überzeugende Weise zuteil geworden, daß es von dort aus dauernd auf alle Männer der Welt ausstrahlte; wie früh oder spät ich ihnen auch begegnete: immer schien mir ein B ­ ruder in

126  Lou Andreas-Salomé ihnen verborgen.«3 Alle Salomé-Kinder waren temperamentvoll und eigenwillig. Lou erinnerte sich, daß sie einmal, als einer ihrer Brüder sie wegen eines Fehlverhaltens tadelte, ihre Tasse mit heißer Milch nach ihm warf, »wobei sie, statt an ihm, an meinem Hals und Rücken glühend ausfloß; mein Bruder, obschon von derselben jähen Heftigkeit wie wir alle, sagte zufrieden: ›Siehst du, genauso meinte ich’s, wie es geht, wenn man’s falsch macht‹.«4 Lou war ein phantasievolles und gläubiges Mädchen. Jeden Abend erzählte sie Gott von den Geschehnissen ihres Tages. Sie begann immer mit den Worten »wie Du weißt« und fühlte sich durch diesen Tagesabschluß geborgen. Der vertrauensvolle Umgang mit einem personifizierten Gott nahm eines Abends ein jähes Ende, als sie ihn um Erklärung für eine sie beunruhigende Begebenheit bat.5 Vergeblich wartete sie auf Antwort. »Wahrscheinlich noch in derselben Nacht focht ich dieses Antwortheischen mit dem Lieben Gott aus. Für gewöhnlich hatte er sich ja nicht damit zu befassen, er hatte bei mir sozusagen nur Ohr zu sein für das, was er selber bereits wußte. Auch diesmal mutete ich ihm nicht viel zu: seinem stummen Munde brauchten ja nur ein paar kurze Worte über die unsichtbaren Lippen zu gehen. […] Daß er sich dazu nicht verstand, bedeutete jedoch eine Katastrophe. […] Denn nicht nur von mir hinweg entschwand je der Gott, […] sondern überhaupt – dem ganzen Universum entschwand er damit.«6 Das Thema Glaube begleitete sie ihr ganzes Leben, und auch in ihrem ersten Buch »Im Kampf um Gott« befaßte sie sich damit. Die Familie Salomé gehörte der deutsch-reformierten Kirche an, doch Lou faßte den Entschluß, die Konfirmation zu verweigern, die für sie nur eine »Proforma-Handlung« zur Vermeidung von Kummer in der Familie und Entrüstung im Freundeskreis gewesen wäre. Nur um den erkrankten Vater nicht zu beunruhigen, ließ sie sich von dem Pastor überreden, ihren Konfirmanden-Unterricht um ein Jahr zu verlängern. Nach dem Tod des Vaters Anfang 1879 vollzog sie, trotz aller Widerstände von Seiten der Familie, den Austritt aus der Kirche. Inzwischen hatte sie im Winter 1878 Hendrik Gillot, den Pastor an der holländischen Gesandtschaft in St. Petersburg, predigen gehört. Wegen

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seiner liberalen Ansichten – Wissenschaft und Glauben waren für ihn nicht unvereinbar – war er für die traditionellen Amtskollegen und Gläubigen ein Ärgernis, die zum Skeptizismus neigende russische Intelligenz füllte aber jeden Sonntag seine Kirche. Von dem Moment an, als er die Kanzel betrat, war Lou von ihm fasziniert. Sie wußte, daß sie zu ihm gehörte: »nun hat alle Einsamkeit ein Ende«, »das ist es ja, was ich gesucht«, »ein Mensch«, »er ist«, »ich muß ihn sprechen«.7 In einem Brief bat sie ihn um eine Unterredung, wobei sie betonte, daß sie den Menschen, nicht den Pastor sprechen wolle und gestand ihre Abneigung gegen die orthodoxe-protestantische Lehre. Gillot erkannte die Intelligenz der Siebzehnjährigen und begann systematisch, ihr bei der Ausbildung ihres Verstandes zu helfen. Er unterrichtete seine begabte Schülerin vor allem in klassischer Philosophie und Logik und legte damit die Grundlagen für ihre profunden philosophischen Kenntnisse, für die sie später

128  Lou Andreas-Salomé vielfach bewundert wurde. Sie arbeitete mit so viel Einsatz, daß sie mehrmals Ohnmachtsanfälle hatte. Diese für Lou so erfüllte Zeit fand ein jähes Ende, als der siebenunddreißigjährige Familienvater Gillot ihr, für sie völlig überraschend, einen Heiratsantrag machte. »Meine anhaltende Kindhaftigkeit« hatte ihn »gezwungen, zunächst vor mir zu verheimlichen, daß er die familiären Vorbereitungen zur Verbindung zwischen uns schon veranlaßte.«8 Sie war entsetzt und brach umgehend ihre Studien bei ihm ab. Den Kontakt zu ihm verlor sie aber nicht endgültig, und ihr Interesse für die Philosophie begleitete sie ihr Leben lang. Um ihren Wissensdurst weiterhin systematisch stillen zu können, beschloß Lou, ihre Studien an der Universität Zürich fortzusetzen. Das bedeutete erneute, wochenlange Kämpfe mit der Mutter und darüber hinaus ergab sich eine praktische Hürde. Ohne Paß konnte sie nicht nach Zürich reisen. Die russischen Behörden verlangten für die Ausstellung eines Passes aber die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, worauf‌hin Gillot, der nach Holland zurückgegangen war, ihr anbot, sie während eines Gottesdienstes in einer kleinen Kirche in Sandpoort zu konfirmieren. Dieser Einsegnung durch Gillot verdankte Lou ihren Namen, da der Holländer das russische Ljola nicht aussprechen konnte Nach der Konfirmation im Mai reisten Lou und ihre Mutter im September 1880 nach Zürich. Lou belegte vergleichende Religionswissenschaft, Philologie, Philosophie und Kunstgeschichte an der dortigen Universität. Sie stürzte sich mit so viel Einsatz in das Studium, daß im Sommer 1881 erneut Erschöpfungszustände auf‌traten und sie Blut hustete. Nachdem Aufenthalte in verschiedenen Kurorten nicht halfen, brachte Louise von Salomé ihre Tochter im Januar 1882 nach Rom, in der Hoffnung, daß sie sich in einem warmen Land erholen möge. Dort diskutierte Lou an vielen Abenden philosophische Themen in kleinem Kreise im Hause von Malwida von Meysenbug, die sich für die Frauenemanzipation einsetzte. Hier traf sie im März auf den zwölf Jahre älteren Philosophen Paul Rée. »Beim Nachhausegehn auf Umwegen […] durch die Straßen Roms im Mondund Sternenschein«9 setzten sie ihre Diskussionen über philoso-

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phische Ideen fort. Rée war von Lou fasziniert und bewunderte sie für ihre Kenntnisse. Er empfand sie als »ein energisches, unglaublich kluges Wesen mit den mädchenhaftesten, ja kind­ lichen Eigenschaften«10 und verliebte sich in die geistreiche junge Frau. Er hielt bei ihrer Mutter um ihre Hand an. L ­ ouise von Salomé, die in diesem Zusammenhang auch von den nächtlichen Spaziergängen erfuhr, wollte sofort mit ihrer Tochter nach St. Petersburg zurückkehren. Doch Lou, die von dem Heiratsantrag überrascht wurde und ablehnte, hatte inzwischen ganz andere Vorstellungen von ihrem weiteren Leben. Sie wünschte sich Rée als brüderlichen Freund und träumte von einer intellektuellen Wohngemeinschaft, ein für die damalige Gesellschaft unerhörter Gedanke, der auf heftigen Widerstand seitens der Mutter stieß. Rée, der sie nicht verlieren wollte, stimmte nach einigem Zögern zu. Als Lösung schlug er vor, seinen Freund, den emeritierten Universitätsprofessor Friedrich Nietzsche, als Mitbewohner aufzunehmen, um so das Vorhaben für die Öffentlichkeit akzeptabel erscheinen zu lassen. Er trat in Kontakt mit Nietzsche, der sich ebenfalls in Italien auf‌hielt. Das erste Treffen fand im Petersdom statt, wo Rée in einem Beichtstuhl zu arbeiten pflegte. »Von welchen Sternen sind wir uns hier einander zugefallen?« war der erste Satz, den Nietzsche zu Lou sprach.11 Der sechzehn Jahre ältere Philosoph war beeindruckt von Lous analytischem Verstand: »scharfsinnig wie ein Adler und mutig wie ein Löwe und zuletzt doch ein sehr mädchenhaftes Kind«12, charakterisierte er die Einundzwanzigjährige in einem Brief an einen Freund. Er willigte in den Plan einer Wohngemeinschaft ein, verkomplizierte die Lage zunächst aber durch zwei Heiratsanträge, die Lou aus grundsätzlicher Abneigung gegen die Ehe, wie sie ihm darlegte, ablehnte. Doch bevor der Plan umgesetzt werden konnte, zerbrach die »Dreieinigkeit«, unter anderem wegen Spannungen zwischen Rée und Nietzsche. Auch der Haß von Nietzsches Schwester Elisabeth und Verleumdungen ihrerseits trugen zur Trennung bei. Sie stürzte Nietzsche in tiefe Verzweiflung, aus der er sich durch die Niederschrift seines Werkes »Also sprach Zarathustra« befreite. Später hieß es: »Wenn Lou mit einem Mann in Berührung kam, brachte er neun Monate später ein Buch zur Welt.«13

130  Lou Andreas-Salomé Lou und Rée gingen im November 1882 nach Berlin, wo sie ihren Traum von einer intellektuellen Wohngemeinschaft verwirklichten. Sie wurden das Zentrum eines Kreises aus Naturwissenschaftlern, Orientalisten, Historikern und Philosophen. Lou genoß die wissenschaftlichen Diskussionen und nicht zuletzt ihre Freiheit, ihre Lebensweise wurde jedoch von der Gesellschaft, vor allem aber von den Geschwistern Nietzsche, heftig kritisiert. In dieser Phase schrieb Lou ihr Buch »Im Kampf um Gott«. Ihr Erstlingswerk erschien auf Druck ihrer Familie, die nicht damit in Verbindung gebracht werden wollte, unter dem Pseudonym Henri Lou. Es wurde im Freundeskreis und von der Kritik sehr gut aufgenommen. Lou begann ihr Leben mit schriftstellerischer Tätigkeit zu finanzieren. Im Laufe der Jahre hat sie zwanzig Bücher, Erzählungen, Theaterkritiken, mehr als hundert Aufsätze zu religions- und literaturpsychologischen und ab 1911 zu tiefenpsychologischen Themen geschrieben und eine Artikelserie sowie ein Buch über Nietzsche verfaßt. Ihr »Lebensrückblick« wurde erst nach ihrem Tod veröffentlicht. Auch aus ihrem Berliner Freundeskreis erhielt sie Heirats­ anträge, die sie aber allesamt abwies. Bis sie im August 1886 den Orientalisten Friedrich Carl Andreas kennen lernte, der sie ausdauernd umwarb. Andreas verband laut Lou West und Ost in sich. Sein Großvater mütterlicherseits, ein Norddeutscher, lebte auf Java und war mit einer Malaiin verheiratet. Deren Tochter, seine Mutter, heiratete einen Abkömmling eines alten persischen Fürstengeschlechts. Andreas kam 1846 in Batavia zur Welt. Als er sechs Jahre alt war, ließ sich die Familie in Hamburg nieder. Schon beim ersten Zusammentreffen beschloß Andreas, Lou zu heiraten. Nach einer erneuten Ablehnung eines seiner Heiratsanträge, kam es zu einem dramatischen Vorfall. »Mein Mann trug, für abendliche Heimgänge in seine damals sehr entlegene Wohnung, ein kurzes, schweres Taschenmesser bei sich. […] Mit einer ruhigen Bewegung hatte er danach gegriffen und es sich in die Brust gestoßen. […] Der Umstand, daß das der Hand entgleitende Messer die Klinge einklappte, hatte das Herz geschützt, doch gleichzeitig ein Dreieck verursacht, das die Wunde schwer heilbar machte.«14 Die Verlobung fand am Tag darauf, dem 1. November 1886, statt. Wie unter einem Zwang,

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den sie sich niemals hatte erklären können, heiratete sie Andreas im Juni des folgenden Jahres in Sandpoort. Lous Bedingungen für ihre Zustimmung zu dieser Ehe waren, daß Rée weiterhin zu ihrem gemeinsamen Leben gehören und die Ehe sexuell nie vollzogen werden sollte. Andreas stimmte beidem zu, hielt ihre zweite Bedingung aber für »Mädchenvorstellungen, die mit der Zeit vergehen«15. Darin sollte er sich aber täuschen, denn Lou blieb konsequent. Rée, der in der jetzigen Konstellation die Bruderrolle nicht länger ertragen konnte, hinterließ ihr nach ihrem letzten gemeinsamen Abend im Frühjahr 1887 einen Zettel mit den Worten »barmherzig sein, nicht suchen«.16 Sie hat ihn nie wiedergesehen. Fünf Jahre hatte sie mit ihrem »Geisteskameraden« zusammengelebt. Er lebte fortan in großer Einsamkeit und verunglückte im Oktober 1901 bei einer Bergwanderung tödlich. Lou hielt einen Selbstmord für möglich und war tief getroffen. In der ersten Zeit ihrer Ehe interessierten Lou und Andreas sich gegenseitig für ihre jeweiligen Arbeitsgebiete. Sie bewegten sich vorwiegend in der literarischen Avantgarde und Theaterszene. Doch schon bald begann für Lou eine Zeit mit vielen Reisen, auf denen sie der geistigen Elite Europas begegnete. Sie arbeitete unermüdlich und gehörte bald zum Kreis der erfolgreichen, anerkannten Schriftsteller. Auf einer dieser Reisen lernte sie 1895 in Wien den sieben Jahre jüngeren Mediziner Friedrich Pineles kennen, mit dem sie bald eine Liebesbeziehung verband. Seine Familie, vor allem seine Schwester, unterstützten diese Verbindung und sahen in Lou seine inoffizielle Frau, da sie wußten, daß Andreas sich nie scheiden lassen würde. Eine Schwangerschaft Lous endete zu ihrem Kummer mit einer Fehlgeburt. Die Beziehung dauerte mehrere Jahre, aber die Abstände zwischen ihren Besuchen wurden immer länger, und schließlich brach Pineles den Kontakt zu ihr ab. Er hat nie geheiratet. Im Frühjahr 1897 wurde Lou in München der zweiundzwanzigjährige Dichter Rainer Maria Rilke vorgestellt. Ihm waren ihr Roman »Ruth«, in dem Lou ihre Beziehung zu Gillot geschildert hatte, der Essay »Jesus der Jude« und einige ihrer Schriften bekannt. Rilke umwarb sie leidenschaftlich und bald begann eine gut dreijährige intensive Beziehung. Ihren ersten ­Sommer

132  Lou Andreas-Salomé verbrachten sie in einem Bauernhaus in Wolfratshausen, davon einen Monat gemeinsam mit Andreas. Im Herbst bezog Rilke eine Wohnung in Berlin. 1899 lud Lou ihn ein, sie und ihren Mann nach Rußland zu begleiten. 1900 reisten sie und Rilke noch einmal durch Rußland und besuchten wie auf der ersten Reise Tolstoi. Lou und die Rußlandaufenthalte hatten einen großen Einfluß auf Rilkes Werk. Auf der zweiten Reise begann Lou sich langsam aus dieser für sie nicht einfachen Partnerschaft zu lösen. Schließlich beendete sie 1901 die Liebesbeziehung, blieb aber bis zu seinem Lebensende eine Ansprechpartnerin für ihn. Rilke litt sehr unter der Trennung und suchte die räumliche Distanz. Er ging nach Worpswede, wo er Clara Westhoff heiratete. Lous wahre Beziehung zu Rilke, wie auch die zu Pineles schien Andreas nicht gekannt zu haben. Rilke war für ihn ein jugendlicher Freund und Pineles der Arzt von Lou. Bei all ihren Liebesbeziehungen war Lou sehr um Diskretion bemüht. 1903 erhielt Andreas einen Ruf auf den neu errichteten Lehrstuhl für Westasiatische Sprachen an der Universität Göttingen. Das Paar bezog ein einsam gelegenes Fachwerkhäuschen in einem alten Obstgarten auf der Rohnshöhe am Waldrand oberhalb Göttingens.17 Lou hat es sehr geliebt und schon ein Jahr später in dem Roman »Das Haus« beschrieben. Ihre Weigerung, sich am gesellschaftlichen Leben der Professorenfamilien zu beteiligen und ihre oft monatelangen Reisen sorgten in Göttingen für Gesprächsstoff. Schließlich soll eine Professorenfrau auf ihre Frage: »Habe ich recht, Frau Professor, ist die Unruhe, die Sie jedes Frühjahr überfällt, jenes Gefühl […]. Sie wissen ja, was ich meine«, von Lou die spöttische Antwort erhalten haben: »Allerdings, nur habe ich dieses Gefühl fast immer, nicht nur im Frühling.«18 Mit dem Ehepaar kam ihre Haushälterin Marie nach Göttingen. Hier brachte Marie zwei Kinder zur Welt, deren Vater Andreas war. Eines der Kinder starb früh, das andere, Maria »Mariechen«, wurde später von Lou adoptiert und von ihr als Haupterbin eingesetzt. 1911 kam Lou durch den schwedischen Psychotherapeuten Poul Bjerre in Kontakt mit der Psychoanalyse. Er nahm sie mit zum Weimarer Kongreß der Internationalen Psychoana-

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lytischen Gesellschaft und stellte sie Sigmund Freud vor. Freud lachte »mich für meine Vehemenz, seine Psychoanalyse lernen zu wollen, sehr aus«19. Den Winter über arbeitete sie sich intensiv im Selbststudium in die Psychoanalyse ein und fuhr danach für ein halbes Jahr nach Wien, um sich ausbilden zu lassen. »Als ich dann bei Freud in Wien anlangte, da lachte er mich, die Ahnungslose, noch herzlicher aus, da ich ihm mitteilte, außer ihm auch mit Alfred Adler, dem ihm inzwischen spinnefeind Gewordenen, arbeiten zu wollen.«20 Unter der Bedingung, daß sie weder bei Adler von ihm noch bei ihm von Adler reden dürfe, stimmte Freud zu. Sie entschied sich schließlich für die Schule Freuds, mit dem sie bis zu ihrem Tod in Freundschaft verbunden blieb. 1921 lud er sie zu einem sechswöchigen Aufenthalt in sein Haus in Wien ein. Er wünschte sich, daß sie sich mit seiner Tochter Anna anfreunden möge. Lou wurde für Anna Freundin und die »gute Mutter«. Es folgten gegenseitige Besuche der beiden Frauen in Wien und Göttingen und zwischen Lou, Freud und Anna gingen viele Briefe hin und her, auch noch als Freud als Jude gezwungen war, nach England ins Exil zu gehen. Für Lou war die Psychoanalyse zum Zentrum ihres Lebens geworden. Auf Anraten Freuds hatte sie nach dem Ersten Weltkrieg begonnen, als Analytikerin zu arbeiten, sowohl bei sich zu Hause als auch, wenn man nach ihr rief, in anderen Städten. Viele Menschen fanden den Weg zu ihr, zum Teil auf Empfehlung Freuds. »Psych.analyt Arbeit beglückt mich so, daß ich sogar als Milliardärin mitnichten von ihr ließe«, schrieb sie Rilke.21 Den Göttingern wurde sie durch diese Tätigkeit noch suspekter, und man soll sie in der Stadt als die Hexe vom Hainberg bezeichnet haben. Moritz Jahn, ein Pädagoge und Dichter, der ihr in Göttingen auf der Weender Straße begegnete, faßte seinen Eindruck von ihr folgendermaßen zusammen: »[…] vor mir her gingen zwei weibliche Gestalten, eine Dame schien es mir und irgendeine Haushilfe, Wirtschafterin oder ähnlich  – die Dame alt, aber von auf‌fallend schöner Haltung, auch irgendwie auf‌fallend in der Kleidung, vornehm, ohne Wert darauf zu legen – es war die Zeit der fußfreien Röcke, und so mußte es wohl auf‌fallen, daß ihre Strümpfe in Stockwerken hingen wie birmanische

134  Lou Andreas-Salomé Tempel. Ich erledigte meine Besorgungen […] und begegnete ihr dann von neuem, diesmal kamen wir uns entgegen: mir fielen die herrlich strahlenden Augen der Frau auf, ein ungewöhnlich geistvolles Gesicht […] Daß es Lou war, habe ich viel später in Erfahrung gebracht«22. 1930 verstarb Andreas im Alter von vierundachtzig Jahren. In den folgenden beiden Jahren schrieb Lou an dem »Grundriß« ihrer Lebenserinnerungen, ihrem letzten Buch, das 1951 unter dem Titel »Lebensrückblick« veröffentlicht wurde. Gleichzeitig verfaßte sie den Offenen Brief »Mein Dank an Freud«. Die Nationalsozialisten beobachteten sie mit Argwohn, behelligten sie aber nicht. Ihre letzten Lebensjahre verbrachte sie einsam in ihrem Haus, fast wie eine Einsiedlerin. Gern unternahm sie noch Spaziergänge im Hainberg und verbrachte viel Zeit in ihrem Garten. Mit fünfundsiebzig Jahren mußte sie sich noch einer Brustkrebsoperation unterziehen, sie litt an Diabetes und begann zu erblinden. Ein treuer Freund ihrer letzten Jahre wurde Ernst Pfeiffer, der sie Anfang der dreißiger Jahre aufgesucht hatte, um Hilfe für einen Freund zu erbitten. Ihm vermachte sie ihren literarischen Nachlaß. Am Abend des 5.  Februar 1937 verstarb Lou im Alter von 76 Jahren. Da ihre Urne nicht, wie von ihr gewünscht, auf ihrem Grundstück beigesetzt werden durfte, fand sie ihre letzte Ruhestätte im Grab ihres Mannes, allerdings ohne Erwähnung ihres Namens. Der Schriftzug »Lou« wurde erst 1990 auf Wunsch von »Mariechen« eingraviert. Einige Tage nach ihrem Tod räumte die Gestapo ihre Bibliothek aus und warf ihre Bücher in den Keller des Rathauses. Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8

Andreas-Salomé, Lebensrückblick, S. 78. Ebd., S. 60. Ebd., S. 43. Ebd., S. 44. Vgl. ebd., S. 15. Ebd., S. 15 f. Ebd., S. 222. Ebd., S. 29.

Lou Andreas-Salomé 135 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22

Ebd., S.75. Koepcke, Lou Andreas-Salomé, S. 74. Andreas-Salomé, Lebensrückblick, S. 80. Appignanesi / Forrester, Die Frauen Sigmund Freuds, S. 330. Peters, Lou Andreas-Salomé, S. 9. Andreas-Salomé, Lebensrückblick, S. 203. Ebd., S. 201. Ebd., S. 93. Vgl. Andreas-Salomé, Lebensrückblick, S. 169. Zitiert nach Peters, Lou Andreas-Salomé, S. 259 f. Andreas-Salomé, Lebensrückblick, S. 165. Ebd. Zitiert nach Peters, Lou Andreas-Salomé, S. 288. Zitiert nach Pfeiffer, »Hexe vom Hainberg?«.

Richard Zsigmondy 1. April 1865 — 23. September 1929

Richard Zsigmondys Interesse galt der Kolloidchemie, speziell der seinerzeit noch nicht erklärbaren Form gelartiger Substanzen wie Gelatine, Eiweiß oder flüssigem Glas, für deren Erforschung er 1925 den Chemie-Nobelpreis erhielt. Er war der dritte von vier Söhnen des Wiener Primararztes Adolf Zsigmondy, der sich auch als Dozent für Zahnheilkunde einen Namen gemacht hatte. Vater Adolf unternahm lange Wanderungen mit seinen Söhnen in der Umgebung Wiens und weckte so die Leidenschaft seiner Kinder zum Bergsteigen. Die Brüder Otto und Emil, beides Mediziner, entwickelten sich sogar zu bekannten Hochalpinisten, die mit ihren Erstbesteigungen in den Alpen einigen Ruhm erlangten. So trägt beispielsweise die Zsigmondy-Hütte in den Sextener Dolomiten ihren Namen. Adolf Zsigmondy bemühte sich außerdem schon früh, das naturwissenschaftliche Interesse seiner vier Kinder zu w ­ ecken; allerdings starb er, als Richard fünfzehn Jahre alt war, so daß seine Mutter Irma von Szakmary fortan die Kinder zu einen aktiven Leben, sowohl körperlich als auch musisch-künstlerisch ermutigte. Aufgrund dieser umfassenden Erziehung blieb Zsigmondy zeitlebens ein begeisterter Schwimmer und Bergsteiger, spielte Klavier und malte. Zudem führte er bereits in jungen Jahren eigenständig chemische Experiment durch.1 Folgerichtig studierte er nach dem Besuch der öffentlichen Oberrealschule in der Josefstadt ab 1883 Chemie an der Wiener Technischen Hochschule, ab 1887 an der Technischen Hochschule in München und wurde 1889 an der Universität Erlangen promoviert. In München wandte er sich neben der organischen Chemie auch der Elektrochemie zu. Nach seiner Promotion arbeitete er zwei Jahre als Assistent am Berliner Physikalischen Institut. Schon bevor er nach München ging,

138  Richard Zsigmondy hatte er sich für Lüsterfarben (­irisierend glänzender Überzug) auf Glas interessiert. Die Anregung dazu kam aus der böhmischen Glasindustrie. Das Ergebnis stellte er 1887 in seiner Untersuchung »Neue Lüster auf Glas« vor. Damit bewegte er sich schon in seinem späteren Arbeitsgebiet, der Kolloidchemie. Der Name Kolloid wurde für gelartige Substanzen wie Stärke, Gelatine, Eiweiß oder flüssiges Glas geprägt. Diese ungewöhnliche und noch nicht erklärbare Form der Materie machte Zsigmondy zu seinem Forschungsgegenstand. 1893 habilitierte er sich in Graz und arbeitete weiter an der technischen Herstellung von Lüstern sowie an der Untersuchung ihrer Zusammensetzung. Ab 1897 war er wissenschaft­ licher Mitarbeiter bei den Glaswerken Schott & Genossen in Jena. Dort entwickelte er gefärbte Gläser und das optische Jenaer Milchglas. Beides ließ er sich patentieren. Um sich intensiver seiner wissenschaftlichen Forschung widmen zu können, verließ er 1900 die Glaswerke Schott und lebte und arbeitete als Privatgelehrter in Jena sowie ab 1907 auf seinem Land- und Weingut Terlago bei Trient. In diese Zeit fiel die Entwicklung des Ultramikroskops. Er konstruierte es gemeinsam mit dem Physiker H. F. W. Siedentopf von den Jenaer Zeisswerken für die Untersuchung der kolloiden Substanzen. Mit Hilfe des Ultramikroskops konnten einzelne Nanoteilchen, die kleinsten Bausteine der Materie, wie schon die Griechen behauptet hatten,2 sichtbar gemacht werden, wodurch nun erstmals der experimentelle Nachweis ihrer Existenz erbracht worden war. In Jena heiratete Zsigmondy Laura Luise Müller, die Tochter eines Professors für Physiologie an der Friedrich-SchillerUniversität. Dort kamen auch ihre zwei Töchter zur Welt. 1907 zog die Familie Zsigmondy auf sein Gut in Terlago, wo ihn 1908 der Ruf als Professor und Direktor des Instituts für Anorganische Chemie an der Universität Göttingen erreichte. Auch an der Leine galt sein Interesse hauptsächlich der Kolloidchemie, und er baute die Göttinger Universität zu einem Zentrum dieses noch neuen Forschungsgebietes aus. Wichtig war Zsigmondy stets die praktisch-technische Anwendung der Chemie. Hierfür bot die Ausstattung der Göttin-

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ger Chemie ideale Bedingungen, sodaß er mit seinen Studenten aufwendige Experimente durchführen konnte. Er war ein ausgezeichneter Experimentator und sehr gründlicher Forscher. Seine Schüler erinnerten sich an ihn als »akademischen Lehrer im besten Sinne« und väterlichen Freund, der ihnen auch außerhalb des Universitätslebens zur Seite stand.3 Beliebt waren zudem seine Einladungen zum Kaffee, bei denen er für anregende, interessante Unterhaltung sorgte. Da Zsigmondy sehr gern Klavier spielte, nutzte er diese Treffen zum gemeinsamen Musizieren mit seinen Schülern und Mitarbeitern. Zusätzlich zum Ultramikroskop entwickelte er in Göttingen mit seinem Schüler Wilhelm Bachmann Membranfilter, die er zur weiteren Durchführung seiner kolloidwissenschaftlichenen Arbeiten benötigte. Diese Filter wurden von der Firma Sartorius, deren Schwerpunkt bis dahin die Fabrikation von Präzisionswaagen war, produziert und später weiterentwickelt. Auch heut­

140  Richard Zsigmondy zutage werden diese Filter in der Medizin, der Pharmazie sowie der Lebensmittelindustrie und Wasserwirtschaft verwendet. Beispielsweise erfolgt die Kontrolle von Trinkwasser mit diesen Filtern. Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg war eine Überprüfung des Wassers notwendig, da viele Leitungen zerstört waren und die Gefahr einer Cholerainfektion groß war.4 Nachdem Zsigmondy seit 1913 insgesamt acht Mal für den Nobelpreispreis vorgeschlagen worden war, erhielt er ihn schließlich 1925 »für seinen Nachweis der heterogenen Natur kolloider Lösungen und für die von ihm angewandten Methoden, die seitdem grundlegend für die moderne Kolloidchemie sind«.5 Mit dem Göttinger Chemie-Nobelpreisträger Otto Wallach, »für den Kleister keine ehrliche chemische Substanz war«, lag Zsigmondy »in lebenslangem Streit. Die beiden Geheimräte hatten die Gewohnheit, ehe sie sich, auf dem Heimweg von ihren Instituten trennten, mitten auf der Weender Straße stehenzubleiben und noch ein wenig zu streiten. Respektvoll lenkten die Bauern ihre Mistkarren um die Gelehrsamkeit herum. Bei den zuweilen heftigen Auseinandersetzungen der Herren Professoren pflegte einer des anderen Mantelknopf zu fassen und daran zu drehen. Die Auseinandersetzung wurde zuweilen so erregt, daß schließlich alle beide mit einem fremden Mantelknopf in der grimmig geschlossenen Faust nach Hause kamen. Die Knöpfe wurden von den Ehefrauen ausgetauscht, bis die Damen auf den Gedanken kamen, die Mäntel ihrer Ehemänner bei demselben Schneider machen zu lassen. Von da an konnte ohne weiteres der Kolloidknopf an die Chemie und der Chemieknopf an die Kolloide angenäht werden.«6 Zsigmondy war ansonsten zurückhaltend und eher schüchtern. In seiner Freizeit widmete er sich neben der Musik der Malerei. Mehr als zwanzig Aquarelle mit Motiven aus Göttingen und der Umgebung von Trient sind im Museum der Göttinger Chemie zu finden. Zsigmondy ruderte auch gern mit Freunden und Schülern, und er war oft mit dem Fahrrad unterwegs. Dabei stürzte er einmal mit dem Hochrad in den Starnberger See. J. Reitstötter berichtete in einem Vortrag, gehalten anläßlich eines Symposiums zum 100. Geburtstag von Zsigmondy, von einem gemein-

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samen Fahrradausflug, der zeigte, daß Zsigmondy durchaus sport­lichen Ehrgeiz entwickelte: »Ich erinnere mich noch, welch große Freude es ihm machte, als er an der Spitze von uns Jüngeren mit dem Rad den Gaußturm erklomm und wir alle mehr oder minder außer Atem ankamen und er uns dann sofort, […] in ein wissenschaftliches Gespräch verwickelte.«7 Nach langer, schwerer Krankheit verstarb Richard Zsigmondy im Alter von 64 Jahren am 24. September 1929. Sein Grab ist bedeckt von einer schweren Marmorplatte. Unten rechts am Fuß der Platte steht »Pace, Pace«. Neunundzwanzig Jahre später wurde seine Frau bei ihm bestattet. Anmerkungen 1 Vgl. »Richard Zsigmondy – Biographical«. Nobelprize.org. Nobel Media AB 2014. , zuletzt aufgerufen am 3.5.2017. 2 Vgl. Das Göttinger Nobelpreiswunder, S. 286. 3 Glemser (Hg.), Richard-Zsigmondy-Symposium, S. 79. 4 Vgl. Sartorius Chronik 1870–2005, S. 51. 5 Das Göttinger Nobelpreiswunder, S. 283. 6 Bamm, Eines Menschen Zeit, S. 32. 7 Glemser (Hg.), Richard-Zsigmondy-Symposium, S. 80 f.

Max von Laue 9. Oktober 1879 — 24. April 1960

Max Planck meinte einmal scherzhaft, »daß der Jahrgang 1879 für die Physik besonders prädestiniert sei: 1879 seien Einstein, Laue und Hahn geboren – und auch Lise Meitner müsse man dazurechnen, nur sei sie als vorwitziges kleines Mädchen schon im November 1878 zur Welt gekommen; sie habe ihre Zeit nicht abwarten können.«1 Alle Vier wurden hervorragende Naturwissenschaftler, und Albert Einstein, Max von Laue und Otto Hahn erhielten für ihre Arbeiten den Nobelpreis. Max von Laue war der Sohn eines Juristen in der preußischen Militärverwaltung, der berufsbedingt häufig versetzt wurde. Zur Zeit seiner Geburt lebte die Familie in Pfaffendorf bei Koblenz. Eingeschult wurde er in Posen, wo er die Volksschule und die ersten Klassen des Gymnasiums besuchte. 1891 zogen die Laues (der Vater wurde erst 1913 geadelt) für zwei Jahre nach Berlin, wo Max sich für Physik zu interessieren begann. Seine Mutter machte ihn auf die »Urania« aufmerksam, eine Gesellschaft zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse. In deren »Knopfdruckmuseum« waren physikalisch-chemische Versuchsanordnungen aufgebaut, die von den Besuchern selbst in Gang gesetzt werden konnten, also genau das Richtige für den zwölf‌jährigen Max. Den Ausschlag für seine Berufswahl gaben aber die letzten Schuljahre im Straßburger humanistischen protestantischen Gymnasium, wo guter naturwissenschaftlicher Unterricht erteilt wurde. Laue entwickelte zwar zunächst eine Vorliebe für die klassischen Sprachen und die griechische Philosophie, prägend für ihn wurde aber sein Lehrer für Mathematik und Physik, der ihn an mathematisches und wissenschaft­ liches Denken heranführte. Nach dem Abitur 1898 mußte Laue seinen Militärdienst ableisten. Da er den Konflikt von Eigenverantwortung und

144  Max von Laue unbeding­tem Gehorsam nicht ertrug, reichte er 1911 seinen ­Abschied ein. Parallel zum Militärdienst hatte er an der Straßburger Universität Physik und Mathematik studiert. Nach seiner Entlassung wechselte er 1899 für die nächsten vier Semester an die Göttinger Universität. Noch schwankte er zwischen den beiden Fächern. Bei den Koryphäen David Hilbert und Felix Klein hörte er Mathematik, bei dem Physiker Woldemar Voigt Vorlesungen über die optischen Erscheinungen der Kristalle. Voigts Einfluß führte schließlich zu Laues Entscheidung für die Physik. Das Wintersemester 1901/02 verbrachte er in München mit einem Praktikum bei Wilhelm Conrad Röntgen, ehe er sein Studium 1902 in Berlin, vor allem wegen Max Planck, von dessen Persönlichkeit ein Zauber ausgegangen sei, der jeden Zuhörer ergriffen habe,2 fortsetzte. Aus dem bewunderten Lehrer wurde im Laufe der Jahre trotz der zwanzig Jahre Altersunterschied ein guter Freund. Nach einem Jahr wurde Laue von Max Planck promoviert. Danach kam er für weitere vier Semester nach Göttingen zurück, um einige Spezialvorlesungen zu hören und sich auf das Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien vorzubereiten. Während dieser Zeit lernte er Max Born kennen. Anders als Born besuchte Laue während seines gesamten Studiums pflichtbewußt regelmäßig die Vorlesungen. Born erzählt in seinen Erinnerungen: »Als er meine Neigung, Voigts Vorlesungen aufzugeben, bemerkte, ging er so weit, mich aus meiner Bude zu holen und zum Hörsaal zu begleiten. Ich bin ihm dafür heute noch dankbar.«3 Nach seinem Staatsexamen im Jahr 1905 nahm Laue mit großer Freude eine ihm angebotene Assistentenstelle bei Max Planck an. 1906 habilitierte er sich und arbeitete zunächst weiter am Institut für theoretische Physik in Berlin, bis er 1909 als Privatdozent an das Institut von Arnold Sommerfeld nach München wechseln konnte. Hier kam er wieder mit der physikalischen Optik und der Physik der Kristalle in Berührung, mit der sich Röntgen intensiv befaßte. Und hier kam ihm auch die Idee, Röntgenstrahlen durch Kristalle zu schicken. 1912 wurde das Experiment an Sommerfelds Institut von den beiden Doktoranden Röntgens, Walther Friedrich und Paul Knipping, ausgeführt. Das Ergebnis wurde von den Physikern begeistert aufgenommen und brachte Laue inner-

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halb kürzester Zeit einen weltweiten Bekanntheitsgrad ein. Albert Einstein, den Laue 1906 kennengelernt hatte, schrieb ihm: »Ihr Experiment gehört zu dem Schönsten, was die Physik erlebt hat.«4 Man begann jetzt in den Auf‌bau der Materie »hineinzuleuchten«.5 1914 erhielt Laue für seine Forschungsergebnisse den Physik-Nobelpreis. Das »Laue-Verfahren« war die Grundlage für die wichtigste Methode zur Analyse von Kristallstrukturen.6 Laut Planck eröffnete diese Entdeckung »eine ganz neue Ära der Atomistik«7. Letzte Zweifel an der Realität von Atomen waren nun beseitigt. Laues Entdeckung der Röntgenstrahleninterferenz ermöglichte die Entwicklung neuer Wissenschaftszweige. Die Auswirkungen in Technik, Medizin und Industrie sind bis heute unübersehbar. Drei Jahre blieb Laue in München. 1910 hatte er die zwölf Jahre jüngere Magda Degen, die Tochter eines höheren Berufsoffiziers, geheiratet. Als junges Mädchen hatte sie in der Schweiz

146  Max von Laue gelebt und sprach fließend Französisch. Laue segelte gern auf dem Starnberger See und arbeitete im Sommer in seinem Pfahlbau in Feldafing mit Blick auf das Karwendelgebirge. »So gut habe ich es nie wieder getroffen«, schrieb er in seinen Erinnerungen. Hier verfaßte er auch die erste umfassende Monographie zur Relativitätstheorie Einsteins.8 Schon 1906, kurz nach der Veröffentlichung der speziellen Relativitätstheorie, war Laue nach Bern gefahren, um mit Einstein einige Fragen seiner Theorie zu diskutieren. Er suchte ihn im dortigen Schweizer Patentamt auf, wo er von ihm im Korridor in Empfang genommen werden sollte. »Einstein würde mir dort entgegenkommen«, war ihm geschrieben worden, »aber der junge Mann, der mir entgegenkam, machte mir einen so unerwarteten Eindruck, daß ich nicht glaubte, er könne der Vater der Relativitätstheorie sein. So ließ ich ihn an mir vorübergehen«9. 1912, kurz nach seiner bahnbrechenden Entdeckung, erhielt er einen Ruf auf eine außerordentliche Professur an der Universität Zürich, den er annahm. Einstein lehrte und forschte inzwischen als Professor für mathematische Physik an der dortigen Eidgenössischen Technischen Hochschule. Zwischen den beiden Männern entwickelte sich eine enge Freundschaft. Laue sollte aber nur zwei Jahre in Zürich bleiben. 1914 bot man ihm einen ordentlichen Lehrstuhl an der neu gegründeten Frankfurter Universität an. Laue, der Probleme mit dem Schweizerdeutsch hatte, und seine Frau, die unter dem Föhn litt, freuten sich über den Ortswechsel. Aber auch Frankfurt blieb nur eine Durchgangsstation, denn sein großer Wunsch war es, nach Berlin zurückzukehren. 1919 wandte Laue sich an seinen Freund Max Born in Berlin mit der Anfrage, ob er mit einem Tausch der Lehrstühle einverstanden wäre. Mit Billigung und Unterstützung Max Plancks und einer ministeriellen Genehmigung wurde der Tausch vollzogen, und Laue konnte nach zehn Jahren wieder in der Nähe seines verehrten Lehrers Planck arbeiten. Die Berliner Universität sah er als seine geistige Heimat an, aber die Stadt war ihm zu groß, um sich wohlzufühlen. Laue nutzte sein Preisgeld (der Nobelpreis war wegen des Ersten Weltkrieges erst 1920 überreicht worden), um in Zehlendorf ein Haus zu bauen. Ein Drittel des Geldes hatte er bereits

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an seine experimentellen Mitarbeiter Friedrich und Knipping abgetreten. Die Laues waren als liebenswürdige Gastgeber bekannt und man konnte mit ihnen sehr fröhlich sein, hieß es. Daß Laue zeitweise unter Depressionen litt, wußten nur seine engsten Freunde. 1923 wurde Laue der Nachfolger Plancks als Direktor des Instituts für theoretische Physik an der Berliner Universität. Er war zudem korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen und ab 1923 Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Wie seine Freunde Max Planck, Otto Hahn und Lise Meitner liebte er das Hochgebirge. Er sei glücklich, schrieb er 1955 an seine ehemalige Studentin, die Physikerin Ilse RosenthalSchneider, die »großen Drei, die Überreste der letzten Eiszeit«, die Berge Jungfrau, Mönch und Eiger noch einmal gesehen zu haben. Den Gipfel der Jungfrau habe er zweimal erreicht, als er »jünger, viel jünger war«.10 Mit Otto Hahn bestieg er den Hohen Dachstein und die Große Bischofsmütze. Im Jahr der großen Inflation in Deutschland, 1923, war er mit Hahn auf Urlaub im Berchtesgadener Land. Eine Episode dieser Fahrt erzählte Hahn später gern: »Am Ende dieser kurzen Reise fehlte von Laue für seine Rückfahrkarte eine Million Reichsmark. Ich konnte sie ihm leihen. In späteren Jahren, als es in Deutschland wieder gutes Geld gab, erinnerte ich ihn öfter daran, daß er mir noch eine Million schuldig sei. Schließlich überreichte er mir einen 50-Milliarden-Schein und sagte, das sei Zins und Zinseszins.«11 Eine weitere Leidenschaft Laues war das Autofahren: Die Umgebung Berlins wurde erkundet, und auch in die Ferien fuhr man ab 1929 mit dem eigenen Auto, einem Steyr. Als nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges alle Privatwagen eingezogen wurden, schrieb Laue am 2. März 1940 an Lise Meitner: »Gestern mußte ich unser neues Auto abliefern. Hilde fuhr es zum Gartentor hinaus, dann brachte ich es fort. Wir sind alle etwas traurig, denn es gehörte eigentlich ›zur Familie‹. Wir trösten uns, es in den 5/4 Jahren, die wir es benutzen konnten, ordentlich ausgenutzt zu haben. Ich war mit meiner Frau und Hilde zweimal mit ihm in den Alpen, ein drittes Mal mit Kol. Meissner und Frau,

148  Max von Laue weiter war ich im Herbst 38 mit meiner Frau auf der Physikertagung in Baden-Baden, mit Hanno Hahn [Sohn von Otto Hahn] im Sommer 39 in Dänemark, und außerdem sind meine Frau und ich im Dezember 38 in ihm zu Sommerfelds 70. Geburtstage nach München gefahren. Mit den zahlreichen Ausflügen in die Berliner Umgebung ergab das fast 24 000 Kilometer.«12 Politisch hielt Laue sich zurück, da er meinte, daß Wissenschaftler nicht für die Politik geeignet seien. Dem Antisemitismus und dem Rassenwahn der Nationalsozialisten trat er jedoch sofort nach deren Machtübernahme 1933 im Kollegenkreis offen entgegen.13 Schon seit seiner Schulzeit war er ein erbitterter Gegner des Faschismus. 1933 verteidigte er in einer Rede auf der Physikertagung seinen Freund Albert Einstein, der kurz zuvor während einer Vortragsreise in den USA beschlossen hatte, nicht wieder nach Deutschland zurückzukehren. Fast alle jüdischen Wissenschaftler wurden gleich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 aus dem Staatsdienst entlassen. Die Relativitätstheorie und die Quantentheorie, also die neue Physik des 20. Jahrhunderts, galten als jüdische Physik und waren verfemt. Es durfte nur noch die sog. deutsche Physik vertreten werden. Nach dem Tod des jüdischen Chemikers und Nobelpreisträgers Fritz Haber 1934, der nach seiner Entlassung in die Schweiz emigriert war, verfaßte Laue gegen den Willen des Regimes einen Nachruf, der in der Zeitschrift »Naturwissenschaften« veröffentlicht wurde. Wegen dieser Parteinahme für Einstein und Haber wurde Laue vom Kultusministeriums mit einem Verweis bestraft. Die Auf‌forderung, der SA-Reserve  II beizutreten, verweigerte er mit der Begründung, »er übernähme mit seinem Beitritt ›unter Umständen Verpflichtungen‹, die er mit seinem Gewissen nicht vereinbaren könnte«14. Auch damit zog er sich den Unwillen der Nazis zu, aber sein Weltruhm und der Nobelpreis verhinderten schlimmere Konsequenzen. Einstein schrieb später in einem seiner Briefe an Laue: »Wie hab’ ich mich mit jeder Nachricht von Dir und über Dich gefreut. Ich hab’ nämlich immer gefühlt und gewußt, daß Du nicht nur ein Kopf, sondern auch ein Kerl bist.«15 Das Ehepaar Laue traf sich weiterhin in der Öffentlichkeit mit seinen jüdischen Freunden, hielt zudem Kontakt zu Einstein in Princeton und führte einen

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regen Briefverkehr mit Lise Meitner in Stockholm. 1943 erhielt Laue die Erlaubnis, nach Stockholm zu reisen, um an der Universität zwei Vorträge zu halten. Lise Meitner berichtete später in ihrem Nachruf auf Laue, daß sie ihn gewarnt habe, sich mit ihr zu treffen. Er würde sicher von der deutschen Gesandtschaft überwacht, und das Zusammensein mit ihr könnte ihm schaden. Seine Antwort: »Ein Grund mehr, es zu tun.«16 Anläßlich seines 70. Geburtstages schrieb sie: »Daß ich die Jahre 33 bis 38 in Deutschland aushalten konnte, verdanke ich wirklich zu einem erheblichen Teile Ihnen und Ihrer Frau.«17 1943 stellte Laue seinen Antrag auf Emeritierung, vier Jahre vor Erreichen der gesetzlichen Altersgrenze. Wegen der ständigen Bombardierung Berlins wurde das Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik, dessen stellvertretender Direktor er seit 1917 war, 1944 nach Hechingen in Württemberg verlagert. Dort wurden er und andere deutsche Atomforscher im April 1945 von einer englisch-amerikanischen Sondergruppe von Atomspezialisten in Gewahrsam genommen, da man glaubte, die deutschen Forscher arbeiteten an Kernwaffen, und diese Kenntnisse sollten den Westalliierten zur Verfügung stehen. Am Tag vor der Gefangennahme tranken Otto Hahn und Laue, die sich seit Jahrzehnten kannten, Brüderschaft. Die Wissenschaftler wurden nach England gebracht und auf dem Landsitz Farmhall in der Nähe von Cambridge interniert. Dort erhielten sie die Nachricht vom Abwurf einer amerikanischen Atombombe auf das japanische Hiroshima im August 1945. Nach dieser Nachricht war Hahn, der Entdecker der Atomspaltung, so erregt, daß Laue, von Hahn unbemerkt, eine Nachtwache organisierte, um einen Selbstmord zu verhindern.18 Im Januar 1946 wurde Laue zusammen mit den anderen Forschern entlassen. Hahn und er kamen nach Göttingen, wo die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, die spätere Max-Planck-Gesellschaft, wieder aufgebaut werden sollte. Laue übernahm die Position des stellvertretenden Direktors des KWI /MPG für Physik und war gleichzeitig Honorarprofessor an der Göttinger Universität. Die Professur behielt er bis zu seinem Tod, das Institut verließ er jedoch 1951, um wieder nach Berlin zu gehen. Der Zweiundsiebzigjährige wurde dort als Direktor des Max-

150  Max von Laue Planck-Instituts für physikalische Chemie und Elektrochemie eingesetzt, das auf Laues Wunsch hin in Fritz-Haber-Institut umbenannt wurde. 1957 gehörte Laue zu den »Göttinger Achtzehn«, jenen Atomforschern, die in einem Manifest eine geplante Aufrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen verurteilten. Sie gerieten in heftige Auseinandersetzungen mit dem damaligen Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß und mit Bundeskanzler Adenauer.19 Das hielt die Gruppe jedoch nicht davon ab, das Manifest im April 1947 zu veröffentlichen. Rückblickend sagte Max von Laue über sich: »Als ich jung war, wollte ich Physik treiben und Weltgeschichte erleben. Die Physik habe ich getrieben, und daß ich Weltgeschichte miterlebt habe, wahrhaftig, das kann ich jetzt in meinen alten Tagen wohl sagen.«20 Am 8.  April 1960 befand sich Laue auf dem Weg zu einer dienstlichen Besprechung. Auf der AVUS in Berlin stieß er mit einem Motoradfahrer zusammen, worauf‌hin er sich mit seinem Wagen überschlug und schwere Kopfverletzungen erlitt, denen er am 24. April achtzigjährig erlag. Hahn schloß seinen Nachruf auf Laue mit den Worten: »Uns allen bleibst Du im Gedächtnis als der große Wissenschaftler, als der sehr mutige Mensch.«21 Es war Laues Wunsch, auf dem Göttinger Stadtfriedhof beerdigt zu werden, obwohl die Stadt schon lange nicht mehr sein Lebensmittelpunkt war. Am 18. Juni 1960 wurde er am Teich des Friedhofs beigesetzt. Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

Zitiert nach Hermann, Planck, S. 91. Vgl. Herneck, Max von Laue, S. 16. Born, Mein Leben, S. 135. Zitiert nach Lemmerich (Hg.), Briefwechsel, S. 24. Gedächtnisausstellung zum 100. Geburtstag, S. 15. Vgl. Brockhaus. Die Enzyklopädie. Herneck, Max von Laue, S. 36. Vgl. Das Göttinger Nobelpreiswunder, S. 208. Zitiert nach Herneck, Max von Laue, S. 23. Rosenthal-Schneider, Begegnungen mit Einstein, S. 97. Hahn, Mein Leben, S. 137 f. Zitiert nach Gedächtnisausstellung zum 100. Geburtstag, S. 99 f.

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Vgl. Lemmerich (Hg.), Briefwechsel, S. 26. Herneck, Max von Laue, S. 63. Ebd., S. 64. Lemmerich (Hg.), Briefwechsel, S. 257. Zitiert nach Gedächtnisausstellung zum 100. Geburtstag, S. 144. Vgl. Hahn, Mein Leben, S. 174. Vgl. Ebd., S. 231 f. Zitiert nach Gedächtnisausstellung zum 100. Geburtstag, S. 23. Zitiert nach Herneck, Max von Laue, S. 86.

Adolf Windaus 25. Dezember 1876 — 9. Juni 1959

»Wenn ich mir ein Denkmal vorstelle, das eine dankbare Mensch­­ heit einmal Windaus errichten wird, so drängen sich darauf um seine Gestalt Scharen von Kindern, die ihm Gesundheit und Heilung verdanken«, sagte Wilhelm Biltz in seiner Rede zum 65. Geburtstag von Adolf Windaus. Damit würdigte er dessen Entschlüsselung des Vitamin D.1 Adolf Windaus wurde als Sohn eines Textilfabrikanten in Berlin geboren. Über Generationen hinweg waren die Vorfahren väterlicherseits Tuchmacher und Fabrikanten, mütterlicherseits überwiegend Handwerker. Er besuchte das angesehene Französische Gymnasium in Berlin und liebte die Literatur. »Aber ich hatte als junger Mensch die Vorstellung, daß die Beschäftigung mit der Literatur eine Liebhaberei aber kein Lebensberuf sei.«2 Als er von den bahnbrechenden bakteriologischen Entdeckungen von Robert Koch und Louis Pasteur hörte, erwachten in ihm das Interesse für die Medizin und der Wunsch, den Menschen zu helfen. Seine Mutter, die gehofft hatte, er würde in die Fabrik seines früh verstorbenen Vaters eintreten, stellte ihre persön­ lichen Wünsche zurück und ließ ihrem Sohn bei der Berufswahl freie Hand. »Mir ist es zum Glück ausgeschlagen, daß ich in den entscheidenden Jahren suchen durfte, was meiner Begabung gemäß war und was mir Freude machte«3, sagte Windaus 1937 in seiner Antrittsrede vor der Preußischen Akademie der Wissenschaften in dankbarer Erinnerung. 1895 begann er mit dem Studium der Medizin an den Universitäten Freiburg und Berlin. In Berlin begeisterte ihn die Chemievorlesung von Emil Fischer so sehr, daß er seinen Studienschwerpunkt nach dem Physikum auf die Chemie verlagerte, denn sie schien ihm dazu berufen, »die Lebensvorgänge weitgehend aufzuklären«.4 Die Zusammensetzung von Stoffen rückte

154  Adolf Windaus immer mehr ins Zentrum seines Interesses. In seiner Lieblingsstadt Freiburg schrieb er eine Arbeit über pflanzliche Herzgifte, mit der er 1899 promoviert wurde. Zurück in Berlin entdeckte er das Hormon Histamin, und ab 1901 – wieder in Freiburg – widmete er sich der Struktur des Cholesterins. Windaus kam es nicht auf schnelle Erfolge an. Mit Beharrlichkeit, Sorgfalt und Geduld hat er sich der langwierigen Entschlüsselung des Cholesterins und des Vitamins D gewidmet. 1903 habilitierte er sich mit seiner Untersuchung zu diesem Thema, das ihn noch bis 1932 beschäftigen sollte. Bis 1913 arbeitete er als Privatdozent und außerordentlicher Professor in Freiburg und wechselte dann, nach einer Zwischenstation als ordentlicher Professor in Innsbruck, 1915 an die Universität Göttingen als Nachfolger von Otto Wallach. In Göttingen fühlte er sich heimisch, nicht zuletzt wegen der mit hervorragenden Wissenschaftlern besetzten mathematischnaturwissenschaftlichen Fakultät, die ihm ein gutes Arbeitsumfeld bot. 1915 heiratete er Elisabeth Resau und bezog mit ihr und den drei Kindern, Günter, Gustav und Margarete, ein Haus in der Dahlmannstraße. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als dem jetzt alleinlebenden Ehepaar das Haus zu groß wurde, ließen sie auf ihrem Grundstück, das bis an den Rohnsweg reichte, ein kleineres errichten. Göttingen gehörte damals neben Berlin und München zu den bedeutendsten chemischen Forschungsstätten in Deutschland, und die Universität hatte mit Windaus einen der führenden Naturstoffchemiker berufen. Unter seiner Leitung wurde das Institut in der Hospitalstraße um zusätzliche moderne Arbeitsräume erweitert. Windaus nutzte einen Ruf nach Freiburg dabei als Druckmittel, dessen Ablehnung er nur für den Fall sach­licher und personeller Verbesserungen in der Göttinger Biochemie in Aussicht stellte. Aber nicht nur sein Institut und seine Forschungsarbeiten lagen ihm am Herzen, sondern auch die Ausbildung und Förderung seiner Studenten und Mitarbeiter. Er hatte laut Adolf Butenandt »eine Schule von hohem Rang gegründet«5. So waren 1959, im Jahr seines Todes, zehn chemische Lehrstühle in Deutschland und zwei in den USA mit WindausSchülern besetzt.

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1925 bat ihn der New Yorker Physiologe Alfred Heß, sich an der anwendungsorientierten Erforschung des Vitamins D zu beteiligen. Man hoffte, damit ein Schutzmittel gegen Rachitis zu finden, deren Ausbruch durch Vitamin D-Mangel hervorgerufen wurde. Mehr als ein Jahrzehnt sollte bis zum erfolgreichen Abschluß dieser Forschungen vergehen. Durch das von Windaus geschaffene Medikament ist die Krankheit heute nahezu ausgestorben. 1928 erhielt Windaus den Nobelpreis »für seine Verdienste um die Erforschung des Auf‌baues der Sterine und ihres Zusammenhangs mit den Vitaminen«6. Im Zuge der Notverordnungen der Reichsregierung von 1932 wurde angeordnet, alle nicht verbeamteten Mitglieder des Lehrkörpers zu entlassen. Max Born, zu der Zeit Dekan der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultät, regte an, daß die Professoren einen gewissen Prozentsatz ihres Gehaltes in einen Fond einzahlen sollten, um so die jungen Männer als Privat­

156  Adolf Windaus dozenten halten zu können. Zu denen, die sofort zustimmten, gehörte Windaus. Während der Zeit des Nationalsozialismus versuchte Windaus, sein Institut aus politischen Auseinandersetzungen herauszuhalten. Im Exemplar der Institutsbibliothek von Hitlers »Mein Kampf« stand der handschriftliche Eintrag »Auf Anordnung der Regierung beschafft«.7 1935 fand in Windaus’ Institut eine massive Hetzkampagne von nationalsozialistischen Studenten gegen einen seiner jüdischen Doktoranden statt. Windaus drohte dem Kultusministerium mit seinem Rücktritt, falls das Ministerium nicht seinem Wunsch stattgeben würde, alle an der Hetze beteiligten Studenten von der Universität verweisen zu dürfen. Das Ministerium entsprach seiner Forderung, obwohl er sich ein Jahr zuvor einer Bitte des Präsidenten der Deutschen Forschungsgemeinschaft an alle Nobelpreisträger, ein Ergebenheitstelegramm an Hitler zu unterschreiben, mit der Bemerkung: »Ich unterzeichne keine Aufrufe für Hitler«, verweigert hatte.8 In dem Protokoll des Ministeriums ist zu lesen: »Daß Windaus kein Kämpfer für den heutigen Staat ist, war längst bekannt.«9 Man wollte Windaus nicht verlieren, um die erfolgreiche Arbeit eines der bekanntesten Chemischen Institute nicht zu gefährden, zumal er inzwischen zu einem der »zentralsten und wichtigsten Krankheitsprobleme der Gegenwart«10, dem Krebs, forschte. Windaus sah sich nach der Machtübernahme der Nazis immer wieder Repressalien ausgesetzt. So suchte er 1934 um die Genehmigung zur Teilnahme an einer Tagung nach. Die Ablehnung hatte folgenden Wortlaut: »Die Teilnahme des Prof. Windaus […] an einer wissenschaftlichen Tagung in London muß ich ablehnen. Der Genannte ist und bleibt Demokrat. Er lehnt die nationalsozialistische Bewegung ab. Weltanschaulich ist er für die NSDAP keineswegs tragbar. Seine Teilnahme an der Tagung muss ich daher aus politischen Gründen ablehnen. Man muss Prof. Windaus, der Nobelpreisträger ist, als ›Wissenschaftler von Rang‹ ansprechen. Es besteht m. E. aber immer die Möglichkeit, daß Personen mit einer derartigen Einstellung internationale Tagungen dazu benutzen, um im Auslande ein falsches Bild über Staat und Bewegung zu entwerfen. Gez. Maul (Gauleiter).«11 1937 verweigerte Windaus

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die Teilnahme an dem als Propagandafest gestalteten Universitätsjubiläum. Und nach einer Besprechung in der Aula erklärte er seinen Assistenten: »Meine Herren! Soeben habe ich unterschreiben müssen, daß ich gegen das Dritte Reich nicht mit Waffengewalt vorgehen werde. Nun, meine Herren, mit Waffen­ gewalt werde ich nicht vorgehen.«12 1944 ließ sich Windaus emeritieren, kam aber noch täglich ins Institut, wo er mit Interesse die Arbeiten auf dem Gebiet der Antibiotika verfolgte. In einem Dankschreiben zu Glückwünschen anläßlich seines 70. Geburtstags dachte über sein Leben nach: »Ich habe das Glück gehabt, daß wissenschaftliche Erkenntnis, die mir geglückt war, praktische Bedeutung gewonnen hat. Aber ich kann nicht mit Zufriedenheit auf die Jahre des Schaffens zurück­ blicken. Ich frage mich immer, ob ich etwas hätte tun können, um den politischen und wissenschaftlichen Zusammenbruch, den ich kommen sah, zu verhüten. Ich sage mir, wie gering meine Leistung ist verglichen mit dem furchtbaren Elend, das uns umgibt, und gegen das wir so wenig tun können. Ich neige zu einer optimistischen Lebensauf‌fassung, aber in den letzten Monaten habe ich oft gefürchtet, daß es uns nicht gelingen würde, unser wissenschaftliches und politisches Ansehen zurückzugewinnen.«13 Am 9. Juni 1959 verstarb Adolf Windaus im Alter von 82 Jahren, nachdem in den letzten Jahren die ihn fast sein ganzes Leben begleitende Rheumaerkrankung nahezu unerträglich geworden war. Sein Grab, in dem auch seine Frau, sein Sohn und seine Schwiegertochter beigesetzt sind, befindet sich am Teich des Stadtfriedhofs. Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7

Zitiert nach Butenandt, Adolf Windaus zum Gedenken, S. 19. Zitiert nach Dimroth, Adolf Windaus, S. 32. Zitiert nach Butenandt, Adolf Windaus zum Gedenken, S. 18. Dimroth, Adolf Windaus, S. 32. Zitiert nach Majer, Vom Weltruhm der zwanziger Jahre, S. 592. Das Göttinger Nobelpreiswunder, S. 279. Hausen, Was nicht in den Annalen steht, S. 99.

158  Adolf Windaus 8 9 10 11 12 13

Zitiert nach Dimroth, Adolf Windaus, S. 47. Zitiert nach Das Göttinger Nobelpreiswunder, S. 282. Majer, Vom Weltruhm der zwanziger Jahre, S. 605. Zitiert nach ebd., S. 603. Zitiert nach Hausen, Was nicht in den Annalen steht, S. 99. Zitiert nach Majer, Vom Weltruhm der zwanziger Jahre, S. 620.

Walther Nernst 25. Juni 1864 — 18. November 1941

Das Göttinger Institut für physikalische Chemie sowie der dazugehörige Lehrstuhl wurden eigens für Walther Nernst gegründet, der als Mitbegründer dieses Faches gilt. Von der Göttinger Bevölkerung wurde er als erster Autobesitzer bestaunt, aber auch gefürchtet. Walther Nernst kam als drittes Kind eines Richters in Briesen im damaligen Westpreußen zur Welt. Die Mutter starb kurz nach seiner Geburt. An den Wochenenden und in den Ferien nahmen sein Onkel mütterlicherseits und dessen Familie den Jungen auf ihrer Domäne Engelsburg auf. Die Aufenthalte dort, die er liebte, begünstigten seine zeitlebens andauernde Freude am Landleben und an der Jagd. Nernst schloß das Gymnasium in Graudenz als bester Schüler ab. Während seiner Schulzeit spielte er mit dem Gedanken, Dichter zu werden. Auch die Schauspielerei reizte ihn, und später schrieb er sogar ein Stück für eine Berliner Bühne. Dieses überlebte die Urauf‌führung allerdings nicht, weil das Theater am selben Abend in Konkurs ging. Trotz des zu dieser Zeit üblichen mangelhaften naturwissenschaftlichen Unterrichts an den Gymnasien gelang es einem Chemielehrer, Nernsts Interesse für dieses Fach zu wecken, und zur Durchführung eigener Experimente stellte ihm sein Vater zu Hause einen Kellerraum zur Verfügung. 1883 begann er mit dem Studium der Physik, Chemie und Mathematik zunächst in Zürich. Nach Stationen in Berlin und Graz schloß Nernst sein Studium 1887 in Würzburg mit der Promotion ab. In Leipzig, wo er als Assistent am Lehrstuhl für p ­ hysikalische Chemie arbeitete, habilitierte er sich 1889. 1890 kam er nach Göttingen an das Physikalische Institut von Professor Eduard Riecke. Mehrere Gründe führten zu dieser

160  Walther Nernst ­Entscheidung: Die Universität hatte einen sehr guten Ruf, er bekam, was ihm sehr wichtig war, eine Stelle am Physikalischen und nicht am Chemischen Institut; zudem hatte Riecke ihm nicht nur eine eigene Abteilung versprochen, sondern ihm ein baldiges Extraordinariat in Aussicht gestellt. Darüber hinaus sei Göttingen ein hübscher Ort, an dem man gut leben könne.1 Schon ein Jahr später wurde Nernst außerordentlicher Professor der physikalischen Chemie, wodurch Friedrich Althoff vom preußischen Kultusministerium erreichen wollte, daß er einen Ruf nach Gießen ablehnte. Noch nicht lange in Göttingen lernte er Emma Lohmeyer, seine spätere Frau, auf einem Ball kennen. Sie soll eines der hübschesten und humorvollsten Mädchen der Stadt gewesen sein.2 Ihr Vater war Professor der Chirurgie und hatte eine Privatklinik in seinem Wohnhaus im Rosdorfer Weg. Da Nernst sich an dem Abend ihres Kennenlernens sehr zurückhaltend verhielt – er tanzte nicht und stand die meiste Zeit abseits –, meinte Emma, sich seiner annehmen zu müssen. Nernsts Zurückhaltung war aber lediglich darauf zurückzuführen, daß sein Abendanzug an einer Stelle eingerissen und nur notdürftig geflickt worden war. Man traf sich auf weiteren Bällen, zu Spaziergängen und im Winter zu einer Schlittenfahrt. 1892, als Emma 21 Jahre alt war, fand die Hochzeit statt. Die anschließende Hochzeitsreise führte nach Italien. Im selben Jahr kam der gemeinsame Sohn Rudolf zur Welt. Es folgten noch drei Mädchen und Sohn Gustav. Die erste Tochter hieß Hildegard Elektra, die zweite, geboren an einem milden Vorfrühlingstag, Edith Primula und die dritte, in Erinnerung an die gerade verkaufte Domäne Engelsburg, Angela. Am Tag der Geburt seiner Tochter Hildegard erreichte Nernst der Ruf auf eine Professur in München. Abermals griff Althoff sofort ein und bot Nernst einen Platz in Berlin an, um ihn in Preußen zu halten. Die Universität Göttingen, die ihn nicht ziehen lassen wollte, stellte ihm darauf‌hin die Gründung des Instituts für physikalische Chemie und Elektrochemie in Aussicht, dessen Leitung er übernehmen sollte. Nernst fiel die Entscheidung schwer. Seine Tochter Edith von Zanthier schilderte seinen Ausweg aus dieser Situation: »Was nun tun? war die große Frage […].

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Da kaufte er 3 kleine Bälle, versah sie mit den Namen der 3 Städte und rief seinen kleinen Sohn von 2 Jahren, kugelte die Bälle ins Zimmer und sagte: ›Rudolf, nun hol mir einen Ball.‹ Rudolf griff ein Bällchen und brachte es: Göttingen!«3 Jedes Jahr wurde der Tag im Oktober, an dem die drei Rufe an Nernst ergangen waren, im Familienkreis festlich begangen.4 Das Ministerium kaufte für das neue Institut eine Villa in der Bürgerstraße, die für die neuen Zwecke zügig umgebaut wurde, so daß im Juni 1895 der Lehr- und Forschungsbetrieb beginnen konnte. Im oberen Stockwerk befand sich die geräumige Wohnung des Institutsdirektors. Auf dem dazugehörigen Altan wurde im Sommer, wie Tochter Edith berichtete, des Abends manche Bowle zusammen getrunken und auch Nernsts Schüler charakterisierten ihn als einen Menschen, »der voll Realismus dem Leben in all seiner Fülle zugewandt ist«: Er liebte schmackhafte Gerichte und süffige Weine.5 In die Göttinger Zeit fiel auch die Entwicklung der »NernstLampe«, die ihn zu einem der bekanntesten Physiker machen sollte. Zu Beginn der 1890er Jahre war die von Thomas Alva Edison erfundene Kohlefadenlampe, deren deutsche Patentrechte die AEG in Berlin erworben hatte, die einzige elektrische

162  Walther Nernst Beleuchtung für Innenräume. Sie leuchtete allerdings nur sehr schwach. Nernsts Lampe produzierte bei zweidrittel Stromersparnis ein strahlend helles, ruhiges Licht, allerdings war ihre Herstellung kostspielig und die Lampe benötigte fast eine Minute, bis sie ihr Licht aussandte. Er ließ sich seine Erfindung sofort patentieren und verkaufte das Patent für eine Million Mark an die AEG . Nernst soll seine Lampe zunächst im »Hotel National« im Graetzel-Haus in der Goetheallee ausprobiert haben. Da er, wie er selber sagte, schönen Frauen nichts abschlagen konnte, hatte er der blonden Wirtin mit einer Hypothek aus einer finanziellen Notlage geholfen und war, da sie das Geld nicht zurückzahlen konnte, Besitzer des Hauses geworden.6 Nun stellte er einen guten Manager ein, der das Haus wieder in die Gewinnzone brachte. Die AEG lieferte die ersten Lampen nach Paris zur Weltausstellung, wo der deutsche Pavillon durch sie heller als alle anderen strahlte. Auch der Eiffelturm war bis zur ersten Plattform mit diesen Lampen beleuchtet. Nernst, der interessant und modern zu unterrichten wußte, zog viele Schüler aus dem In- und Ausland an, so daß das Gebäude in der Bürgerstraße bald nicht mehr genug Platz für die vielen forschenden Studenten und Doktoranden bot. Dank der Einkünfte durch die Lampe und einer fast gleichzeitigen Erbschaft von Emma Nernst war die Familie nicht nur wohlhabend, sondern reich geworden, und so stifteten sie als erstes 40 000 Mark für die Errichtung eines Anbaus an sein Forschungsinstitut, »Nernstbau« genannt. Nernst, der ein Befürworter des Frauenstudiums war, ließ etliche Frauen an seinem Institut studieren, etwa die Amerikanerin Margaret Maltby, die als erste Frau in Deutschland in der physikalischen Chemie promoviert wurde. Das Ehepaar genoß seinen neuen Wohlstand, ohne zu vergessen, daß dieser nicht selbstverständlich war. Durch großzügige Einladungen oder Ausfahrten ließen sie auch Freunde sowie Nernsts Doktoranden und Studenten daran teilhaben. Außerdem entdeckte Nernst den Erwerb von Automobilen für sich. Manchmal besaß er vier gleichzeitig. In den Erinnerungen an ihren Vater beschrieb Edith den Kauf des ersten Autos: »Zu Weihnachten 1899 hatte mein Vater ein kleines hübsches Auto-

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mobil auf einer Ausstellung in Paris gekauft zur Freude meiner Mutter. Das Geschenk traf leider nicht pünktlich ein, jedoch am 2. Weihnachtstage eine telefonische Nachricht, es sei eine große Kiste für Nernst auf dem Bahnhof eingetroffen. Mein Vater natürlich sofort hin mit seinem vertrauten Mechaniker, Herrn Schlüter, die Kiste ausgepackt, die darin befindlichen Wagenteile zusammengesetzt und nun in die Bürgerstraße gefahren. Welch ein bedeutender Moment: Das erste Automobil in Göttingen!«7 Sobald die Göttinger Kinder die lauten Geräusche des Fahrzeugs hörten, riefen sie »Nernst kommt« und liefen zusammen, um das Wunder zu bestaunen, und die Erwachsenen warnten entrüstet vor der Gefahr, die von dem Gefährt ausging. Im Laufe der nächsten Jahre kaufte Nernst noch 17 weitere Automobile, die alle einen Namen bekamen, wie Don Carlos oder Angela. Ein Modell war Frau Nernst höchst unsympathisch. Es war dampfangetrieben und der Kessel befand sich unter dem Sitz. Bei schneller Fahrt und entsprechendem Wind züngelten lange Flammen aus dem Auspuff. Das beunruhigte nicht nur Frau Nernst, sondern auch Pferdebesitzer, die ihre Tiere am Durchgehen hindern mußten. Für Nernst waren Autos ein Symbol des modernen Zeitalters. Er sah in ihnen nicht nur ein Fortbewegungsmittel, vielmehr weckten sie in Anbetracht seiner Arbeiten zu chemischen Reaktionen bei hohen Temperaturen auch sein wissenschaftliches Interesse für den Verbrennungsmotor.8 Sport, den er für eine schreckliche Zeitverschwendung hielt, mochte Nernst nicht. Aber er hatte ein Hobby, für das er sich Zeit nahm, und das war die Jagd. Sie erinnerte ihn an seine glücklichen Aufenthalte auf dem Gut Engelsburg. Weil er ungeduldig war und nicht lange auf das Wild warten mochte, jagte er vorwiegend Hasen und Wildvögel. Er hatte eine Jagd im nahegelegenen Göttinger Stadtwald gepachtet und behauptete, nun wegen des kurzen Weges hinausgehen und einen Hasen schießen zu können, während die Suppe zuhause schon auf dem Tisch stand.9 Die fünfzehn Göttinger Jahre machten ihn zu einem weltberühmten Wissenschaftler. 1905 erhielt Nernst abermals einen Ruf an die Berliner Universität, wo er eine Professur für physi-

164  Walther Nernst kalische Chemie erhielt und Direktor des Instituts wurde. Die Fahrt nach Berlin sollte mit dem Automobil namens Don Carlos absolviert werden. Die vollzählige Familie, das Kinderfräulein, der Mechanikermeister des Instituts, der zur Vorsicht mitgenommen wurde, und zwei Ersatzreifen fanden im offenen Landauer Platz. Doch die Fahrt endete schon nach ein paar Metern mit einem Defekt und die Passagiere mußten in den kleineren Wagen umsteigen. Da dieser aber nicht für alle Platz bot, fuhr das Kinderfräulein mit den beiden Jungen mit der Bahn nach Genthin, wo alle wieder zusammentrafen und auf einen bestellten Wagen warteten. Zwei Tage später trafen alle wohlbehalten in Berlin ein. Es gab keine Erklärung für den Defekt des Autos, aber es ging das Gerücht um, »daß der Entdecker der Theorie der galvanischen Elemente am Vortag seine Batterie an die falschen Pole angeschlossen hatte«10. Auch in Berlin erlangte Nernst bald den Ruf, der gastfreundlichste Professor zu sein. Zu seinen Freunden gehörten der ­Maler Max Liebermann sowie der Dichter Hugo von Hofmannsthal und auch Max Born und Otto Hahn erinnerten sich gern an seine Einladungen. Nernsts Frau Emma war jederzeit auf Besuch eingestellt, und sorgte auch sonst für die Belange des großen Haushalts. Zusätzlich diktierte Nernst ihr alle seine Texte. Nie vergessen durfte sie die Kontrolle seiner Hemden vor der Wäsche, da ihr Mann sich Notizen auf die gestärkten Manschetten machte, die sie dann abschreiben mußte. Für das Frühjahr 1914 erhielt Nernst eine Einladung nach Südamerika, wo er an verschiedenen Universitäten Vorlesungen halten sollte. Dafür lernte er Spanisch, und seine Frau kontrollierte seine Lernfortschritte genauso wie sie die Hausaufgaben der Kinder überwachte. Sie unternahmen die Reise gemeinsam, und Emma Nernst schrieb ein Tagebuch für ihre Kinder. Es sollte die letzte unbeschwerte Zeit für das Paar sein. Als sie zurückkamen, deuteten alle Vorzeichen auf den kommenden Krieg hin. Nach Kriegsausbruch wurden die Söhne eingezogen. Beide sollten den Krieg nicht überleben. Nernst meldete sich gleich zu Anfang freiwillig. Er wurde als Kurier des Generalstabs eingesetzt und kam bald zu der Überzeugung, daß der Krieg nicht zu gewinnen sei. Er kehrte nach

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Berlin zurück und versuchte in seinem Institut Kampf- und Sprengstoffe zu entwickeln, die den Feind kampfunfähig machen sollten, ohne ihn zu töten. Dafür wurde er von den Siegermächten auf die Liste der Kriegsverbrecher gesetzt und mußte nach dem Krieg vorübergehend Zuflucht in der Schweiz und Schweden suchen. 1920 erhielt Walther Nernst den Nobelpreispreis für Chemie für seinen Dritten Hauptsatz der Thermodynamik. Seine Forschungsergebnisse dazu hatte er schon 1906 in Berlin in der Physikalischen Gesellschaft vorgestellt, die eigentlichen Vorarbeiten dafür fielen aber in die Göttinger Zeit. Die endgültige Fassung des Wärmesatzes wurde laut Tochter Edith 1905 im Waldschlößchen im Bremker Tal bei Göttingen formuliert. Dort machten die Nernsts nach ihrem Umzug nach Berlin zweimal mit ihren beiden jüngsten Kindern – sehr zu deren Bedauern – mehrere Wochen Sommerurlaub. Diese Zeit nutzte Nernst für die abschließenden Arbeiten an seiner Theorie. Den Aufstieg der Nationalsozialisten betrachtete Nernst mit Abscheu und großer Sorge. Er hatte viele jüdische Freunde, und zwei seiner Töchter waren mit Juden verheiratet. Antisemitismus war für ihn unvereinbar mit den Grundsätzen des menschlichen Anstandes. Nach Hitlers Machtübernahme 1933 trat er aus Protest gegen die politische Entwicklung von seiner Professur zurück und zog sich mit seiner Frau auf sein einige Jahre zuvor gekauftes Gut Zibelle bei Muskau in der Oberlausitz zurück. Wie in seiner Kindheit genoß Nernst das Landleben und die Jagd. Geleitet wurde der Betrieb, in dem es Kühe und Schweine gab und zu dem Wald, Wiesen und Getreidefelder gehörten, von einem Gutsverwalter. Außerdem gehörten zu dem Gut achtzehn Teiche, die er für Karpfenzucht nutzen wollte. Er vertiefte sich in Literatur über Fischzucht und ließ die Teiche herrichten. Die Karpfen wurden zu Weihnachten und Sylvester gewinnbringend in Berlin verkauft. Nernst war fasziniert von der thermodynamischen Effizienz von Fischen, die trotz der geringen Temperatur des Wassers fett werden konnten.11 1934 feierte Nernst seinen 70. Geburtstag mit seiner Familie und nur wenigen engen Freunden. Zu diesem Anlaß war die Familie zum letzten Mal vollständig versammelt. Die Tochter

166  Walther Nernst Hilde Cahn emigrierte kurz darauf mit ihrem Mann nach England. Als Chemiker bot sich ihm dort die Möglichkeit eines Neuanfangs. Angelas Mann, der Richter Albert Hahn, wurde 1935 entlassen. Seine beruf‌lichen Aussichten waren deutlich schlechter. Angela ließ sich in der Modebranche ausbilden und versuchte damit, die Familie finanziell durch die schwierigen Jahre zu bringen. Als 1938 endgültig klar war, daß sich die Lage für Juden noch einmal deutlich verschlimmern würde, wanderten sie mit Zwischenstation in England nach Brasilien aus. Der leidenschaftliche Familienmensch Nernst sollte beide Töchter und deren Familien nicht wiedersehen. Im Mai 1939 erlitt er einen schweren Herzanfall. Die in Kiel lebende Tochter Edith von Zanthier und deren Mann und Tochter besuchten die Eltern trotz der vierzehnstündigen Fahrt so oft wie möglich. Edith nahm diese Fahrt alle drei Wochen auf sich. Der brief‌liche Kontakt zu den Familien Cahn und Hahn wurde durch den Krieg unterbrochen, nur ganz selten gelang es, Nachrichten über die nach Schweden emigrierte Lise Meitner zu übermitteln. Am 18. November 1941 verstarb Walther Nernst. Die letzten Tage war er nur noch selten bei Bewußtsein. Seine Frau wachte an seinem Bett und schrieb auf, was er während der kurzen wachen Momente sagte. Sein letzter Satz war: »Ich bin schon im Himmel gewesen. Es ist da recht schön, aber ich habe ihnen schon gesagt, sie könnten es noch besser haben.«12 Er wurde 77 Jahre alt. Seine Urne wurde seinem Wunsch entsprechend in Berlin beigesetzt. 1944 zog die nun verwitwete Tochter Edith aus dem zerbombten Kiel zu ihrer Mutter auf das Gut Zibelle. Im Januar 1945 flüchteten sie in den Westen, über Halberstadt kamen sie nach Göttingen. 1947 zog Emma Nernst zu ihrer ältesten Tochter nach Wimbledon in England. Dort starb sie im Mai 1949. Da Berlin nach dem Krieg schlecht erreichbar war, beschlossen die Töchter, die Urnen beider Eltern nach Göttingen, wo Edith mit ihrer Familie lebte, überführen zu lassen. Sie wurden auf dem Stadtfriedhof beigesetzt.

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Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

Vgl. Mendelssohn, Walther Nernst und seine Zeit, S. 58. Vgl. ebd., S. 60. Von Zanthier, Erinnerungen an meinen Vater, S. 4. Vgl. ebd., S. 5. Hermann (Hg.), Deutsche Nobelpreisträger, S. 140. Vgl. Mendelssohn, Walther Nernst und seine Zeit, S. 70 f. Zitiert nach von Zanthier, Erinnerungen an meinen Vater, S. 5. Vgl. Mendelssohn, Walther Nernst und seine Zeit, S. 68 f. Vgl. ebd., S. 69 f. Mendelssohn, Walther Nernst und seine Zeit, S. 84. Vgl. ebd., S. 214. Ebd., S. 219.

Otto Hahn 8. März 1879 — 28. Juli 1968

1944 erhielt Otto Hahn den Chemie-Nobelpreis für die Ent­ deckung und den Nachweis der Kernspaltung. »Das Ergebnis waren die Bomben auf Hiroshima und Nagasaki«, sagte er anläßlich der Verleihung des Preises 1945 in Stockholm. Otto Hahn kam als dritter und jüngster Sohn eines Frankfurter Glasereibesitzers zur Welt. Seine Eltern waren »Eingewanderte« aus der Pfalz und aus Norddeutschland.1 Hahn und seine Brüder wurden auf die Oberrealschule geschickt, der Stief‌bruder Karl besuchte das humanistischen Gymnasium. Da die Eltern wenig Zeit hatten, übernahm der Stief‌bruder, der neun Jahre älter war als Otto, die Erziehung seiner drei jüngeren Brüder. Otto Hahn erinnerte sich, daß Karl sich ihnen überlegen fühlte. »Er vergaß auch später nicht, uns klarzumachen, daß wir keine humanistische Bildung hatten […]. Ich habe den Mangel an humanistischer Bildung nie ganz verwunden, wurde aber mehr als 60 Jahre später durch unseren ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss getröstet, als ich ihm nach meiner Wahl zum Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft dieses Bildungsmanko gestand.«2 Die beiden Brüder Otto Hahns verließen die Schule als Fünfzehnjährige mit dem »Einjährigen« und traten in die Firma des Vaters ein. Heiner baute das heute noch existierende Geschäft »Glasbau Heinrich Hahn« auf, Julius das »Kunsthaus Hahn«.3 Für den Sohn Otto hatte der Vater, der einige Häuser besaß, die Ausbildung zum Architekten vorgesehen. Da er aber als Linkshänder kein Talent zum Zeichnen hatte und es ihm nach eigener Einschätzung an jeglicher künstlerischeren Phantasie fehlte, schlug er seinem Vater vor, ihn nach dem Abitur Chemie statt Architektur studieren zu lassen. Im Sommersemester 1897 begann Hahn sein Studium der Chemie und Mineralogie an der Marburger Universität. Im

170  Otto Hahn Nebenfach belegte er Philosophie und Physik. Hahn genoß das Studentenleben. Seine Studentenzeit verlief »sorglos mit vielen vergnügten Stunden und frohen Erlebnissen; sorglos, weil ich nie vorhatte, Wissenschaftler zu werden, und annahm, daß es für eine Stelle in der Industrie nicht nötig sei, mehr als das Hauptfach, nämlich Chemie, zu pflegen.«4 Später bedauerte er, sich nicht intensiver mit Mathematik und Physik beschäftigt zu haben. Vater Hahn schien von dem Arbeitseifer seines Sohnes nicht allzu überzeugt gewesen zu sein. Laut Hahn antwortete er auf die Frage guter Bekannter, was sein Sohn mache: »Mein Sohn ist in Marburg und trinkt Bier.«5 Otto Hahns Erklärung dafür war, daß seine Eltern fast nur Karten mit dem nichts­ sagenden Inhalt: »von gemütlicher Kneipe sendet Euch herz­ liche Grüße« erhalten hätten.6 Im Juli 1901 beendete Hahn sein Studium in Marburg mit der Promotion. Er erhielt die Note Magna cum laude. Danach diente er als Einjährig-Freiwilliger bei dem 81. Infanterieregiment in Frankfurt am Main und trat anschließend bei seinem Doktorvater Professor Theodor Zincke eine Stelle als Vorlesungsassistent an. Hahn versprach sich davon eine gute Ausgangsposition für eine Stelle in der Industrie. Eine solche wurde ihm zwei Jahre später von der Chemischen Fabrik Kalle angeboten. Da er auch im Ausland eingesetzt werden sollte, erwartete man gute Kenntnisse der englischen und französischen Sprache. Sein Schulfranzösisch war ausreichend, zur Verbesserung seiner Englischkenntnisse hingegen verlangte die Firma einen halbjährigen Englandaufenthalt. Hahns Eltern sagten ihm eine nochmalige finanzielle Unterstützung zu. Darauf‌hin vermittelte Zincke ihm eine Stelle bei dem Nobelpreisträger Sir William Ramsay in London. Im September 1904 traf der fünfundzwanzigjährige Hahn in London ein. Ramsay, der Entdecker der Edelgase, interessierte sich inzwischen für die neuen, noch unbekannten radioaktiven Substanzen. »Mir blieb also gar nichts anderes übrig, als mich mit Radium und Radioaktivität zu beschäftigen.«7 Dieses junge Arbeitsgebiet, das Hahn völlig unbekannt war, sollte ihn sein ganzes Leben beschäftigen. Die ihm von Ramsay gestellten Aufgaben löste Hahn sehr erfolgreich und entdeckte dabei ein neues

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Element, das er Radiothor nannte. Ramsay war begeistert und schlug ihm am Ende des Halbjahres vor, sein Berufsleben weiter der Erforschung der Radioaktivität zu widmen, statt in die Industrie zu gehen. Auf Empfehlung Ramsays sagte ihm Emil Fischer – ebenfalls Nobelpreisträger – an der Berliner Universität einen Arbeitsplatz, aber keine Assistentenstelle, zu. Nach einem halbjährigen Forschungsaufenthalt in Montreal bei Ernest Rutherford meldete Hahn sich im Herbst 1906 in Berlin bei Fischer. Als Arbeitsraum wurde ihm die nicht mehr benötigte Holzwerkstatt zur Verfügung gestellt, ein Gehalt bekam er nicht. Mit der Radiochemie konnten die meisten Chemiker noch nichts anfangen, trotzdem setzte Fischer für Hahn die Habilitation in diesem noch nicht als eigenständig anerkannten Fachgebiet in der Fakultät durch. Weitaus mehr Interesse fanden seine Arbeiten bei den Physikern. Dort lernte er die junge Österreicherin Dr. Lise M ­ eitner

172  Otto Hahn kennen, die zwecks Weiterbildung bei Max Planck arbeitete. Sie suchte zusätzlich eine Möglichkeit zu experimenteller Arbeit und da sie auch auf dem Gebiet der Radioaktivität Erfahrungen hatte, wurde ihr Otto Hahn vorgeschlagen. Fischer erteilte die Genehmigung nur unter der Bedingung, daß sie als Frau das chemische Institut nicht betrat. Nur für die abseits gelegene Holzwerkstatt machte er eine Ausnahme. Im Herbst 1907 begannen sie mit ihrer gemeinsamen Tätigkeit, »und aus einem auf etwa zwei Jahre geplanten Aufenthalt in Berlin wurden mehr als 30 Jahre gemeinsamer Arbeit und dauernder Freundschaft«8. Was als gemeinsame Forschung begann, entwickelte sich im Laufe der Jahre zu zwei selbständigen Abteilungen: Radiochemie und Kernphysik. Meitner und Hahn arbeiteten aber weiterhin eng zusammen und veröffentlichten fast 50 Schriften unter ihrer beider Namen. Seit 1910 führte Hahn als Privatdozent der Berliner Universität den Professoren-Titel, eine Bezahlung war damit allerdings immer noch nicht verbunden, denn noch war die Radio­chemie kein Studienfach, sondern nur ein naturwissenschaftliches Sondergebiet. Erst 1912, mit Errichtung eines modernen Chemischen Instituts durch die neu gegründete Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, erhielt er eine auf fünf Jahre befristete Anstellung und neue Räumlichkeiten. Hahn wurde Leiter der Abteilung für ­Radioaktivität, Lise Meitner hingegen mußte bis 1914 auf einen Anstellungsvertrag warten. Hahn war ein humorvoller, geselliger Mensch. Er kam mit seinen Kollegen gut aus und schuf sich einen großen Freundeskreis. Dienstags oder mittwochs besuchte er die populären philharmonischen Konzerte. Auch Lise Meitner habe, so erinnerte er sich, einen musikerzieherischen Einfluß auf ihn ausgeübt, habe sie ihm doch während der stundenlangen Messungen im Labor Lieder von Brahms, Schumann und anderen vorgesummt. Sein wieder erwachtes Interesse an der Musik führte ihn 1909 sogar in den »Heiseren Fasan«, einen vierstimmigen Chor. Dieses »Gesangskränzchen« hatte etwa 25 Mitglieder. Neben Hahn sangen dort noch zwei Professoren, und im übrigen Töchter »aus guten Kreisen«, unter anderem die Nichten von Max Planck. »Zur Stärkung gab es nach dem Singen Bier und Kekse; dann fuhr man nach Hause.«9

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Im März 1913 heiratete Hahn die Kunststudentin Edith Junghans, die er im Sommer 1911 auf einem Kongreß kennengelernt hatte. »Meine Anstellung am Kaiser-Wilhelm-Institut war zunächst auf einige Jahre begrenzt. Nachdem aber im Institut eine Abteilung für Radioaktivität gegründet worden war, war es unwahrscheinlich, daß ich meine Stellung nach ein paar Jahren wieder verlieren würde. So konnte ich also ans Heiraten denken.«10 Die Hochzeitsreise führte sie nach Südtirol und an den Gardasee. 1915 wurde Hahn zum Kriegsdienst abkommandiert, wodurch seine wissenschaftliche Arbeit zunächst unterbrochen wurde. Im Dezember 1917 wurde er von der Front in das Große Hauptquartier in Berlin versetzt, was ihm die Möglichkeit einer Weiterarbeit in seinem Institut bot. 1928 wurde er Direktor des Instituts für Chemie der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und blieb Leiter der chemischen Abteilung an der Universität. Lise Meitner erhielt die Leitung der neuen selbständigen physikalischen Abteilung. Als neuer Mitarbeiter wurde Fritz Straßmann ab 1929 intensiv in die Arbeiten von Hahn und Meitner eingebunden. Im ersten Halbjahr 1933 befand Hahn sich anläßlich einer Gastprofessur an der Cornell-Universität in Ithaka, New York, um dort Vorträge zu halten. Von Freunden erhielt er Mitteilungen über die Behandlung der Juden durch die Nationalsozialisten nach der Machtübernahme Hitlers. Er bat den deutschen Botschafter Hans Luther in Washington um eine Unterredung, von der er hoffte, »wenigstens etwas zur Mäßigung in der Behandlung Andersdenkender beitragen zu können […]. Er nahm meine Hinweise zwar interessiert auf, versuchte aber das Vorgehen gegen die Juden als zum Teil von ihnen selbst verschuldet zu erklären.«11 Zurück in Berlin weigerte Hahn sich, in die NSDAP einzutreten, und am 31. Januar 1934 erklärte er sogar seinen Austritt aus der Berliner Universität, »um nicht zu den vielen offiziellen Parteiveranstaltungen gehen zu müssen«12. Darauf‌hin erschien sein Name auf einer Liste entlassener jüdischer Professoren, die im Rahmen einer antisemitischen Wanderausstellung mit dem Titel »Der ewige Jude« veröffentlicht wurde. Hahn wußte von dieser Einordnung, unternahm aber nichts dagegen.

174  Otto Hahn In den zwölf Jahren der NS -Herrschaft half das Ehepaar vielen Verfolgten, obwohl einige seiner Institutsmitarbeiter fanatische Hitler-Anhänger waren und die Hahns sich damit in ständige Gefahr begaben. 1938 machte er seinem Mitarbeiter Straßmann aufgrund der vielen Veröffentlichungen, an denen er mitgearbeitet oder die er allein erstellt hatte, den Vorschlag, einen Antrag auf Habilitation zu stellen. Da Straßmann die dafür erforderliche Mitgliedschaft in einer der nationalsozialistischen Organisationen verweigerte, wurde sein Antrag abgelehnt. Im Institut konnte er aber weiter ungestört arbeiten. Mit dem »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich 1938 geriet die österreichische Jüdin Meitner, die bis dahin unbehelligt geblieben war, in Gefahr. Der Präsident der KaiserWilhelm-Gesellschaft, Carl Bosch, versuchte vergeblich eine legale Ausreise für sie zu erwirken, die das Innenministerium ablehnte. Jetzt wurden enge Vertraute  – der Schweizer Physiker Paul Scherrer sowie die holländischen Wissenschaftler Dirk Coster, Adriaan Daniël Fokker und Wander Johannes de Haas – eingeschaltet. Sie erreichten die Zusage der holländischen Regierung, Lise Meitner ohne Visum über die Grenze zu lassen, was allerdings wegen des drohenden Risikos der Kontrollen von ins Ausland fahrenden Zügen durch die SS nicht ganz ungefährlich war. Professor Coster holte Lise Meitner in Hahns Institut ab. Hahn schenkte ihr für Notfälle den von seiner Mutter geerbten Brillantring, und am 13. Juli bestiegen sie und Coster den Zug. Die Ausreise glückte, und von Holland aus ging Lise Meitner nach Stockholm, wo ihr eine Arbeitsmöglichkeit angeboten worden war. An den gemeinsamen Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der Bestrahlung schwerer Atomkerne ließen Hahn und Straßmann ihre Kollegin Meitner dank beständigem Brief‌kontakt weiterhin teilhaben. So schilderte Hahn ihr in seinem Brief vom 19. Dezember zunächst die erstaunlichen Ergebnisse der laufenden Versuche und schrieb dann: »Ich habe zunächst mit Straßmann verabredet, daß wir nur Dir dies sagen wollen. Vielleicht kannst Du irgendeine phantastische Erklärung vorschlagen. […] Alles recht heikle Versuche.« Das Undenkbare, das Zerplatzen des Urankerns, wie er es nannte, war die einzig mögliche

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Deutung des Versuchsergebnisses.13 Hahn und Straßmann hatten auf chemischem Weg herausgefunden, daß der Atomkern zerplatzt war, Lise Meitner und ihr Neffe Otto Robert Frisch lieferten die physikalische Erklärung sowie den Begriff »Kernspaltung« dazu. Es war ein völlig überraschendes Ergebnis. Das Interesse an der Kernspaltung war groß. Überall auf der Welt beschäftigte man sich mit der Uranforschung. So wurde Hahn als Experte zu Vorträgen nach Stockholm, Oslo, Göteborg, Kopenhagen, London und Cambridge eingeladen. Die Physiker begannen, sich mit der praktischen Nutzung der Kernenergie zu beschäftigen. Seine Ängste formulierte Hahn 1939 gegenüber seinem jungen Kollegen Carl Friedrich von Weizsäcker: »Wenn meine Entdeckung dazu führen sollte, daß Hitler eine Atombombe bekommt, begehe ich Selbstmord.«14 Als nach 1944 wegen der ständigen Bombardierungen Berlins und der Zerstörung vieler Institute eine geregelte Arbeit nicht mehr möglich war, verlegte Hahn sein Institut nach Tailfingen in Württemberg. Dort wurde er zusammen mit neun führenden deutschen Atomphysikern im April 1945 von einer englisch-amerikanischen Sondertruppe mit Atomspezialisten in Gewahrsam genommen. Sie wurden über mehrere Stationen in Frankreich und Belgien nach England gebracht und im Landhaus Farmhall bei Cambridge interniert. Hahn schrieb dazu: »Unser Leben in England konnte man ohne Übertreibung als luxuriös bezeichnen.«15 Das Essen sei so gut gewesen, daß alle rapide zunahmen, aber sie waren hermetisch von der Außenwelt abgeschlossen, so daß niemand wußte, wo sie sich befanden. In dieses »friedliche Leben«16 platzte am 6. August die Nachricht vom Abwurf der Atombombe auf Hiroshima mit mehr als 100 000 Toten. Hahn weigerte sich zunächst, diese Meldung zu glauben. »Ich war unsagbar erschrocken und niedergeschlagen; der Gedanke an das große Elend unzähliger unschuldiger Frauen und Kinder war fast unerträglich […]. Nach einem langen Abend voller Diskussionen, Erklärungsversuchen und Selbstvorwürfen war ich so aufgeregt, daß sich Max von Laue und die anderen ernstlich um mich sorgten.«17 Laue organisierte, von Hahn unbemerkt, eine Nachtwache, um

176  Otto Hahn einen eventuellen Selbstmord des Entdeckers der Kernspaltung zu verhindern. Mit den ersten Briefen, die aus Deutschland eintrafen, erreichte ihn auch die Mitteilung, daß der Generalsekretär der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft Ernst Telschow geäußert habe, Hahn solle eventuell Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft werden.18 Hahn hoffte, »daß dieser Kelch an mir vorübergehen würde, denn außer meiner einwandfreien politischen Vergangenheit brachte ich nichts mit, was mich für dieses Amt geeignet erscheinen lassen konnte«19. Ende September befand sich in einer Postsendung von Max Planck ein Brief mit der tatsäch­ lichen Bitte, die Präsidentschaft zu übernehmen, er würde ihn bis zu seiner Rückkehr nach Deutschland vertreten. Nach Zureden von Werner Heisenberg, Laue und Weizsäcker stimmte Hahn zu. Im November erfuhr Hahn, der seit 1914 sechs Mal für den Chemie-Nobelpreis vorgeschlagen worden war, aus dem »Daily Telegraph«, daß ihm nun der Nobelpreis für seine Entdeckung der Spaltung schwerer Atomkerne für das Jahr 1944 verliehen worden sei. Die amtliche Benachrichtigung der Schwedischen Akademie erhielt er erst Anfang Dezember, da der Aufenthaltsort der Atomforscher noch immer unbekannt war. Hahn mußte die Teilnahme an der Verleihung des Preises am 10. Dezember ohne Angabe des wahren Grundes absagen. Kurz vor dem Weihnachtsfest 1945 wurde den Atomforschern mitgeteilt, daß sie in Kürze nach Deutschland in die britische Zone ausgeflogen würden, die sie zunächst aber nicht verlassen dürften. Am 13. Februar 1946 trafen Hahn und Heisenberg in Göttingen ein, wo sie auf dem Gelände der Aerodynamischen Versuchsanstalt untergebracht wurden. Otto Hahn löste Max Planck am 1.  April offiziell als Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft – ab September in Max-Planck-Gesellschaft umbenannt – ab. Da die Alliierten die ursprüngliche Bezeichnung ablehnten, hatte Hahn sich den neuen Namen gewünscht, nachdem er sich die Zustimmung Max Plancks eingeholt hatte. Am 10.  Dezember 1945 wurde ihm mit einem Jahr Verspätung in Stockholm der Nobelpreis für Chemie überreicht. In seiner Rede, bei der Lise Meitner im Publikum saß, sprach er bei

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der historischen Darstellung der Entdeckung ausschließlich von »wir«. Einen Teil seines Preisgeldes gab er an Meitner und Straßmann weiter. Der letzte Satz im Anhang zu seinem Nobelvortrag, in dem er die sich an die Kernspaltung anschließende Forschung, vor allem in den USA , darstellte, lautete: »Das Ergebnis waren die Bomben auf Hiroshima und Nagasaki.« In Vorträgen und Rundfunkappellen warnte Hahn immer wieder vor dem atomaren Wettrüsten. Am 12.  April 1957 veröffentlichte er gemeinsam mit 17 weiteren Wissenschaftlern die »Göttinger Erklärung der 18 Atomforscher«, in der sie sich gegen die geplante atomare Bewaffnung der Bundeswehr wandten. Das führte zu heftigen Reaktionen des damaligen Bundesverteidigungsministers Strauß. Hahn schilderte in seinen Erinnerungen den Ablauf der Ereignisse. »Wir in der Gruppe ›Kernphysik‹ zusammengeschlossenen Wissenschaftler hatten ihn [F. J. Strauß] in einem gemeinsamen Brief gebeten, öffentlich zu erklären, daß die Bundesrepublik Atomwaffen weder herzustellen noch zu lagern gedenke. Im Falle seiner Ablehnung wollten wir unseren Brief veröffentlichen.«20 Strauß zitierte sie für den 29. Januar nach Bonn. »Mit scharfen Worten malte er die Schadenfreude aus, die unsere Aktion bei den Sowjets auslösen würde.«21 Am 23. Februar konnte Hahn ein zweites Gespräch mit Strauß führen, in welchem der Bundesminister für Verteidigung erklärte, »die Deutschen könnten den Russen nicht mit ›Pfeil und Bogen‹ gegenüberstehen«22. Carl Friedrich von Weizsäcker entwarf einen neuen Text, mit dem die Gruppe schließlich an die Öffentlichkeit trat. Das »Göttinger Manifest« wurde am 12. April den drei größten Tageszeitungen übergeben. Hahn notierte sich am selben Tag: »Ergebnis: schon am frühen Nachmittag ruft mich Strauß an; mehr als eine Stunde ist er sehr böse und schimpft. Ungehobelter Mensch.«23 Hahn, Laue, von Weizsäcker, Walther Gerlach und Wolfgang Riezler mussten darauf‌hin ein weiteres Mal im Kanzleramt antreten. Hahn notierte sich am 17. April: »Um 10 Uhr der Kanzler und 9 Herren, also 10 gegen uns 5. Lange Einführung Adenauers: sehr versöhnlich und überlegt. Aufgeregter und weniger gewandt: Herr Strauß.« Es folgte eine mehrstündige Unterredung, die mit einer gemeinsamen Erklärung endete. Im Gegensatz zu Strauß waren Hahn

178  Otto Hahn und seine Kollegen mit dem Ergebnis zufrieden. Sie hatten ihren Standpunkt halten können.24 Das Ehepaar Hahn wohnte in Göttingen zunächst in der Herzberger Landstraße und ab 1953 im ersten Stock des Hauses Gervinusstraße 5.  Dort zeigte der von ihrem Sohn Hanno zu ­ihrer Silberhochzeit gebastelte Holz-Hahn im Verandafenster die An- oder Abwesenheit des Hausherren an. War Otto Hahn verreist, war auch der Hahn nicht da. Hahn nahm regelmäßig an der von ihm 1955 initiierten »Mainauer Kundgebung der Nobelpreisträger« teil. Eine Geschichte von dort erzählte er besonders gern. Unter den vielen Autogrammjägern war ein kleiner Junge, der ihm schon am Vortag aufgefallen war. Als er erneut um ein Autogramm bat, fragte er ihn streng: »Hör Bürschchen, warst Du nicht schon gestern bei mir wegen eines Autogramms?« »Ja, Herr Professor«, gab er kleinlaut zu. »Und warum kommst Du schon wieder?« Prompt kam die Antwort: »Ich brauche doch drei Hahns für einen Uwe Seeler.«25 Im Mai 1960 übergab der 81jährige Hahn die Präsidentschaft der Max-Planck-Gesellschaft seinem Nachfolger Adolf Butenandt. Wenige Monate später, am 29. August, verlor das Ehepaar ihr einziges Kind, den Sohn Hanno, durch einen schweren Auto­unfall in Südfrankreich. Die Schwiegertochter Ilse erlag ihren Verletzungen einige Tage später. Die Hahns nahmen den vierzehnjährigen Enkel Dietrich bei sich auf. Am 28. Juli 1968 verstarb Otto Hahn. Er wurde 89 Jahre alt. An der Trauerfeier in der Nikolaikirche am 1. August nahmen sechshundert Gäste aus aller Welt teil. Freunde, Kollegen, der Bundespräsident, der Landesbischof und viele Göttinger Bürger begleiteten ihn zu seinem Grab auf dem Stadtfriedhof. Er wurde neben Max Planck und in der Nähe von Max von Laue am Teich beigesetzt. Vierzehn Tage später verstarb seine Frau. Auf dem schmucklosen Grabstein stehen nur sein Name und die Formel der Uranspaltung. Am Fuß der Stele liegen zwei Kopfplatten, die die Namen und Lebensdaten des Ehepaares tragen.

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Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25

Hahn, Vom Radiothor zur Uranspaltung, S. 1. Hahn, Mein Leben, S. 15. Vgl. Hahn, Vom Radiothor zur Uranspaltung, S. 2 u. 5. Ebd., S. 6. Hahn, Mein Leben, S. 44. Ebd. Ebd., S. 60. Ebd., S. 47. Ebd., S. 58. Ebd., S. 102. Ebd., S. 144. Ebd. Ebd., S. 151. Ebd., S. 181. Ebd., S. 173. Ebd. Ebd., S. 171–174. Vgl. ebd., S. 176. Ebd. Hahn (Hg.), Otto Hahn. Leben und Werk, S. 276. Ebd. Hahn, Mein Leben, S. 231. Hahn (Hg.), Otto Hahn. Leben und Werk, S. 277. Hahn, Mein Leben, S. 236. Zitiert nach Göttinger Monatsblätter 28, S. 5.

Max Planck 23. April 1858 — 4. Oktober 1947

Werner Heisenberg bezeichnete Max Planck einmal als den letzten großen Vertreter der klassischen Epoche der Physik und zugleich als denjenigen, mit dem alles Neue begann.1 Sein berühmter Vortrag vom 14.  Dezember 1900 vor der Deutschen Physikalischen Gesellschaft wird als Beginn der Quantentheorie angesehen, einer völlig neuen Physik, als deren revolutionärer Begründer Planck gilt. 1918 erhielt er den Nobelpreis »als Anerkennung seiner Verdienste um den Fortschritt der Physik durch seine Entdeckung der Energie-Quanten«.2 Max Planck kam 1858 in Kiel zur Welt, wuchs aber in München auf, wo der Vater 1867 einen Lehrstuhl für Zivilprozeßrecht an der Universität erhalten hatte. Mit sechzehn Jahren legte er sein Abitur am Maximiliansgymnasium ab. Dort gab es zwar keinen naturwissenschaftlichen Unterricht, doch der Mathematiklehrer verstand es, seinen Schülern physikalische Gesetze durch anschauliche praktische Beispiele verständlich zu machen. »So kam es«, schrieb Planck später, »daß ich als erstes Gesetz, welches unabhängig vom Menschen eine absolute Geltung besitzt, das Prinzip der Erhaltung der Energie, wie eine Heilsbotschaft in mich aufnahm. Unvergeßlich ist mir die Schilderung, die Müller uns als Beispiel der potentiellen und der kinetischen ­Energie zum Besten gab, von einem Maurer, der einen schweren Ziegelstein mühsam auf das Dach eines Hauses hinaufschleppt. Die Arbeit, die er dabei geleistet hat, geht nicht verloren: sie bleibt unversehrt aufgespeichert, jahrelang, bis vielleicht eines Tages der Stein sich löst und einem vorübergehenden Menschen auf den Kopf fällt.«3 Planck war ein vielseitig begabter, pflichtbewußter und dabei fröhlicher Schüler. Er war hochmusikalisch, sang in Knabenchören Sopran und komponierte schon als Jugendlicher kleine

182  Max Planck Stücke für Theaterauf‌f ührungen in befreundeten Familien. Die Musik sollte ihn sein ganzes Leben begleiten, so spielte er bis kurz vor seinem Tod zur Entspannung täglich eine Stunde Klavier.4 Nach Abschluß der Schule zog er zunächst auch ein Musikstudium in Betracht, aber ein Musikprofessor riet ihm dringend davon ab. Auch Altphilologie wäre in Frage gekommen, doch er entschied sich für theoretische Physik, obwohl ihm der Münchner Physikprofessor Philipp von Jolly die Aussichtslosigkeit dieses Faches vor Augen führte: »Theoretische Physik, das ist ja ein ganz schönes Fach, obwohl es gegenwärtig keine Lehrstühle dafür gibt. Aber grundsätzlich Neues werden sie darin kaum mehr leisten können. […] Man kann wohl hier und da in dem einen oder anderen Winkel ein Stäubchen noch auskehren, aber was prinzipiell Neues, das werden Sie nicht finden.«5 Er sollte sich irren, denn die Physik wurde zur Schicksalswissenschaft des 20. Jahrhunderts. Zum Wintersemester 1874/75 nahm Max Planck sein Studium der Mathematik und Physik an der Philosophischen Fakultät der Münchner Universität auf. Er dachte: »Es mag nützlicher und daher besser sein, ein mittelmäßig guter Physiker zu sein, als ein mittelmäßiger Musiker.«6 Seine Liebe zur Musik konnte er im Akademischen Gesangverein ausleben, wo er zweiter Chorleiter war, als Solist sang und komponierte. Wie sein Vater liebte Planck die Berge und körperliche Bewegung. Von München aus unternahm er zusammen mit Studienfreunden 1877 eine Fußtour nach Italien. Sie gingen nach Venedig, Florenz, Genua und Mailand, wo sie sich an der Kunst und der Musik in der Scala erfreuten. Weitere Ziele waren Pavia, der Comer und der Luganer See, der Lago Maggiore, Brescia und der Gardasee.7 Nachdem er die letzten beiden Semester in Berlin verbracht hatte, bestand er im Oktober 1878 in München das Lehramtsexamen für Mathematik und Physik. Sieben Monate später promovierte der Einundzwanzigjährige mit »summa cum laude«. Die mündliche Prüfung fand im Mai 1879 statt. Planck fand die Fragen leicht zu beantworten, aber: »doch habe ich diese Prüfung in wenig angenehmer Erinnerung, da er [Prof. Adolf von Baeyer] mich ziemlich schnöde behandelte und durchblicken ließ,

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daß er die theoretische Physik für ein vollkommen überflüssiges Fach hielt«8. Ein Jahr später habilitierte Planck sich und arbeitete die nächsten fünf Jahre als unbesoldeter Privatdozent an der Münchner Universität. Ohne eigenes Einkommen lebte er weiterhin in seinem Elternhaus, sehnte sich aber nach Selbständigkeit. 1885 erhielt er einen Ruf auf eine außerordentliche Professur für theoretische Physik an der kleinen Universität Kiel. Er erhielt dort ein geringes Gehalt, das ihn jedoch finanziell unabhängig machte und für die Gründung eines eigenen Haushaltes reichte. Jetzt konnte er seine langjährige Verlobte, die attraktive und künstlerisch hochbegabte Bankierstochter Marie Merck heiraten. Planck erarbeitete sich schnell einen guten Ruf in Forschung und Lehre, und so konnte er 1890 an die führende deutsche Hochschule und das Zentrum der modernen Physik, die Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität wechseln. Dort fühlte er sich als einziger Theoretiker zunächst recht einsam und hatte das

184  Max Planck Gefühl, daß einige Kollegen sein Arbeitsgebiet als nutzlos ansahen. Dennoch forschte er für die folgenden knapp fünfzig Jahre sehr erfolgreich an der Berliner Universität und bildete viele hervorragende Wissenschaftler aus. Auf Außenstehende wirkte Planck distanziert und, wie Lise Meitner es beschreibt, »geheimrätlich«9. »Aber wie fern war ihm jede ›Geheimrätlichkeit‹. Er war von einer seltenen Gesinnungsreinheit und innerlicher Geradlinigkeit, der seine äußere Einfachheit und Schlichtheit entsprach. Nur zur Illustration sei erwähnt, daß er täglich in seine Vorlesung mit der Stadtbahn in der 3. Klasse fuhr, und dasselbe auch bis ins hohe Alter auf langen Reisen getan hat.«10 Dazu paßt auch, daß er mit über siebzig Jahren bei einer Tour über den Aletsch-Gletscher im Massenquartier übernachtete, obwohl ihm als Präsidenten der KaiserWilhelm-Gesellschaft ein Zimmer in der gesellschaftseigenen Station zugestanden hätte. Im persönlichen Gespräch »war er keineswegs nur der verehrte Universitätsprofessor, sondern ein Mensch, mit dem man ein Problem besprechen konnte«, erinnerte sich seine ehemalige Studentin Ilse Rosenthal-Schneider und auch Lise Meitner lobte Plancks Umgangsformen: »Wie viel menschliches Verständnis und wie viel Förderung habe ich von ihm bekommen. Seine rein äußerliche Zurückhaltung war weitgehend eine Folge seiner großen Gewissenhaftigkeit. Alles, was er sagte, wollte er voll verantworten können.«11 Am 14. Dezember 1900 hielt Planck vor der Deutschen Physikalischen Gesellschaft einen Vortrag über das »Gesetz der Wärmestrahlung«, in dem er seine neue Formel vorstellte, die fortan als Beginn der Quantenphysik galt. Plancks wichtigste Entdeckung bedeutete zugleich einen Bruch mit der klassischen Physik.12 Ein bejahrter Physiker soll den Raum verlassen haben mit den Worten: »Dies ist keine Physik mehr.«13 Planck war, ohne es beabsichtigt zu haben, zum Revolutionär geworden. Viele Jahre hat er versucht, seine eigene Quantentheorie mit der herkömmlichen Physik zu vereinbaren. »Meine vergeblichen Versuche, das Wirkungsquantum irgendwie der klassischen Theorie einzugliedern, erstreckten sich auf eine Reihe von Jahren und kosteten mich viel Arbeit. Manche Fachgenossen haben darin eine Art Tragik erblickt.«14 Es dauerte noch gut zwei Jahrzehnte, bis

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das wirkliche Ausmaß der Veränderungen des physikalischen Weltbildes erkannt wurde. Die Quantenphysik bestimmt noch heute maßgeblich unser Alltagsleben, ohne sie »gäbe es keine Laser und keine Mikroelektronik, mithin keine moderne Informations- und Computertechnik«15. Planck galt fortan als Oberhaupt der Physiker mit weltweitem Renommee. Er hatte bedeutende Ämter in fast allen Organisationen inne, die für sein Fach wichtig waren, und holte die bedeutendsten theoretischen Physiker nach Berlin, so auch Albert Einstein, den er 1905 entdeckt hatte. 1905 zog das Ehepaar Planck mit seinen vier Kindern in das neuerbaute Haus im Berliner Grunewald. Nachbarn waren der Historiker Hans Delbrück, der Mediziner Karl Bonhoeffer und der Theologe Adolf von Harnack. Die Familien pflegten freundschaftlichen Umgang miteinander. Regelmäßig veranstaltete Max Planck Hauskonzerte, bei denen er am Flügel saß. Er musizierte mit dem bekannten Geiger Joseph Joachim, dem Direktor der Berliner Hochschule für Musik. Mit Albert Einstein an der Violine sowie mit Erwin, seinem jüngsten Sohn am Cello, bildete er ein Trio. Die Plancks luden sonntags oft Freunde oder auch Max’ Doktoranden und Assistenten zum Mittagessen ein. »Er liebte fröhliche Gesellschaft und sein Haus war das Zentrum guter Kameradschaft. Im Sommer liefen wir im Garten umher, und Planck schloß sich uns mit einem fast kindlichen Ehrgeiz und Vergnügen an. […] Er versuchte uns zu fangen, während wir gelaufen sind, ja. Er konnte wunderbar laufen – er hatte lange Beine –, er war ein ausgesprochen gefälliger Mensch«, beschrieb ihn Lise Meitner rückblickend.16 Im Oktober 1909, vier Jahre nach Bezug des Hauses, starb Plancks Frau Marie an einem, wie man damals meinte, Lungenkatarrh. Es handelte sich wahrscheinlich um ein Lungenkarzinom oder eine Tuberkulose. An einen Freund schrieb er: »Es war ein fürchterlicher Schlag, der mich so unerwartet schnell betroffen […]. Nun muß für mich ein neues Leben beginnen, und ich hoffe, mit den Aufgaben, die mir durch die Sorge um die Kinder und durch die Wissenschaft gestellt sind, kommen auch die Kräfte wieder.«17 Beruf‌lich war Planck weiterhin stark eingespannt, doch versuchte er auch, möglichst viel Zeit seinen

186  Max Planck Kindern zu widmen. So reiste er mit seiner Tochter Emma anläßlich einer Tagung nach Königsberg mit einer anschließenden Dampferfahrt durch das Kurische Haff, und den Sohn Erwin begleitete er nach Flensburg. Im März 1911 heiratete er die fünfundzwanzig Jahre jüngere Marga von Hoeßlin, eine Nichte seiner verstorbenen Frau. Den Kindern und einigen Kollegen fiel es anfangs schwer, diese Entscheidung zu akzeptieren. Doch bald änderte Sohn Erwin seine Meinung: »Ich bin sehr froh, meine Stiefmutter Marga stets um ihn zu wissen, wenn ich auch in vielem einen anderen Geschmack habe wie sie, so ist sie doch mit ihrer unbedingt offenen Natur und ihrer großen Liebe zu meinem Vater für ihn eine wirklich gute Frau.«18 Und auch unter den Kollegen fand Plancks zweite Ehe nach kurzer Zeit Akzeptanz. Bei Kriegsausbruch 1914 wurden beide Söhne Plancks eingezogen. Erwin wurde in den ersten Kriegswochen verwundet, und Karl, der älteste Sohn fiel 1916 vor Verdun. Während des Krieges gingen die Studentenzahlen stark zurück. Planck kommentierte im Herbst 1915: »Meine Vorlesungen beginnen nächste Woche, ich bin sehr gefaßt auf eine gähnende Leere. Wenn die Damen nicht wären, könnte man überhaupt die Hörsäle schließen.«19 Er behielt die Intensität seiner Forschungen und seiner Vortragstätigkeit bei, obwohl schicksalsschwere Jahre folgten. Im Mai 1917 starb Plancks Zwillingstochter Grete nach der Geburt ihres ersten Kindes an einer Lungenembolie. Deren Schwester Emma zog darauf‌hin zu ihrem Schwager nach Heidelberg und übernahm die Betreuung der kleinen Grete-Marie. Mitte November 1919 erhielt Planck die Nachricht, daß ihm der Nobelpreis für 1918 verliehen worden sei. Nach dieser freudigen Nachricht erfolgte der nächste Schicksalsschlag. Seine Tochter Emma, die inzwischen ihren verwitweten Schwager geheiratet hatte, starb am 21. November bei der Geburt ihrer Tochter. Die kleine Emma überlebte. Im Juni 1920 wurden in Stockholm die Nobelpreise der Kriegsjahre überreicht. Fünf Deutsche wurden geehrt: die Physiker Max von Laue, Johannes Stark und Max Planck und die Chemiker Richard Martin Willstätter und Fritz Haber. Am 1.  Oktober 1926 wurde Planck nach sechsundvierzigjähriger

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­ ätigkeit als Hochschullehrer emeritiert. Er war weiterhin in T der Preußischen Akademie der Wissenschaften tätig und galt als Repräsentant der Universität sowie der Gelehrten- und Künstlerkreise. Zur Entspannung ging er viel spazieren. Es hieß, daß er jeden Weg um Berlin herum kenne. Auch mit siebzig ging er noch einmal in der Woche zum Turnen. 1930 wurde ihm das Amt des Präsidenten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft angetragen, das er nach längerer Bedenkzeit übernahm und bis 1936 ausübte. Damit führte er die Gesellschaft in den schwierigen ersten Jahren nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Seine Ablehnung der Nazis hatte er nie verheimlicht. Er versuchte im Rahmen dessen, was ihm möglich war, die jüdischen Kollegen vor dem Regime zu schützen. Im Mai 1933 brachte er bei einem Treffen mit Hitler, dem er als Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft seine »Aufwartung« zu machen hatte, die Entlassung des jüdischen Chemikers Haber zur Sprache, dessen Verdienste für Deutschland er hervorhob. Hitlers Reaktion: »Jud ist Jud; alle Juden hängen wie Kletten zusammen.«20 Im Laufe des Gesprächs wuchs Hitlers Erregung an. »Dabei schlug er sich kräftig auf das Knie, sprach immer schneller und schaukelte sich in eine solche Wut hinauf, daß mir nichts übrig blieb, als zu verstummen und mich zu verabschieden«, so schilderte Planck die Zusammenkunft.21 Haber mußte Deutschland verlassen und starb kurz darauf im Schweizer Exil. Zu seinem einjährigen Todestag beschloß Planck, eine Gedächtnisfeier abzuhalten. Alle Universitätsangehörigen erhielten vom Ministerium die Anweisung, der Feier fernzubleiben und Reden waren untersagt. Am Abend vor der Veranstaltung sagte Planck zu Lise Meitner: »Diese Feier werde ich machen, außer man holt mich mit der Polizei heraus.«22 Im voll besetzten Saal lautete der letzte Satz von Plancks Ansprache: »Haber hat uns die Treue gehalten, wir werden ihm die Treue halten.«23 Um Lise Meitner vor Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu schützen, hatte Planck sie mehrmals für den Nobelpreis vorgeschlagen, so 1933 gemeinsam mit Otto Hahn und noch einmal 1936. Für das Regime war Planck ein ständiges Ärgernis und nach dem Ende seiner Amtszeit als Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft sorgte die Reichsregierung dafür,

188  Max Planck daß der »weiße Jude«24 nicht noch einmal kandierte. Auch der Stadt Frankfurt untersagte sie 1943, Planck den Goethepreis zu verleihen. 1938 feierte Planck seinen 80. Geburtstag, zunächst mit Verwandten und Freunden, dann nachmittags im offiziellen Kreis im Berliner Harnack-Haus. Der große Saal war überfüllt, viele bedeutende Wissenschaftler, der französische Botschafter und der Gesandte der Schweiz waren anwesend, aber kein Vertreter der Reichsregierung nahm daran teil. Etwa neunhundert Gratulationen aus aller Welt erreichten Planck, die er alle eigenhändig in den folgenden drei Monaten beantwortet. Täglich nahm er sich dafür zwei Stunden Zeit. Jeder, »vom Minister bis zum ehemaligen Dienstmädchen bekam eine Antwort«.25 1939 brach der Zweite Weltkrieg aus. Planck verbrachte weiterhin viel Zeit auf Vortragsreisen. Im März 1943 wurde sein Haus in Berlin bei den zunehmenden Bombenangriffen so stark beschädigt, daß es unbewohnbar war. Darauf‌hin nahmen die Plancks das Angebot eines Freundes an, auf dessen Gut in Rogätz an der Elbe zu ziehen. Den Sommer 1943 verbrachten die Plancks zunächst für zwei Wochen am Tegernsee, bevor sie in ihren geliebten Ferienort St. Jakob in Kärnten fuhren. Sie genossen die Ruhe, und von dort aus hat Planck zum letzten Mal einige Dreitausender bestiegen. Der Bergführer weigerte sich zunächst, einen so alten Mann mitzunehmen. Als sich Planck und seine Frau darauf‌hin allein auf den Weg machten, folgte er ihnen und erzählte später, er habe selten jemanden begleitet, der so gut und sicher gestiegen sei.26 Die Rückfahrt im Oktober führte die Familie über Kassel, wo Planck einen Vortrag hielt. Am selben Abend brach, wie er es ausdrückte, »der Höllenspektakel los, der in der folgenden Nacht fast die ganze Stadt in Trümmer legte«27. In dieser Nacht verbrannten der wertvollste Teil seiner Korrespondenz und seine Tagebücher, und das, was noch übrig war, wurde bei einem Bombenangriff auf Berlin 1944 vernichtet. Am 23. Juli 1944 wurde Plancks Sohn Erwin im Zusammenhang mit dem Attentat auf Hitler am 20. Juli verhaftet. Planck, der von der aktiven Teilnahme seines Sohnes an dem Umsturzversuch nichts wußte, fuhr nach Berlin, um eine Begna-

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digung zu erreichen. An von Laue hatte er geschrieben: »So ist auch gegen meinen Sohn Erwin […] eine Untersuchung eingeleitet worden, deren einzige Grundlage die ist, daß er mit einigen Attentätern bekannt war […]. Man kann doch auf dieser Grundlage unmöglich ein vernünftiges Urteil auf‌bauen.«28 Dennoch wurde Erwin Planck am 23. Oktober zum Tode verurteilt. Am 25. Okto­ber schrieb Planck, der sich als Person nie in den Mittelpunkt gestellt hatte, den wohl schwierigsten Brief seines Lebens. Er wandte sich an Hitler persönlich und bat um das Leben seines Sohnes als »Dank des deutschen Volkes für meine Lebensarbeit, die ein unvergänglicher geistiger Besitz Deutschlands geworden ist«.29 Am 23. Januar 1945 wurde Erwin Planck hingerichtet. Man sagt, daß auch das Eintreten Plancks für Lise Meitner zu der gnadenlosen Haltung Hitlers ihm gegenüber beigetragen hat.30 Als im März 1945 der Magdeburger Raum und damit auch Gut Rogätz Kampfgebiet wurde, floh das Ehepaar in den Wald und verbrachte die Nächte in Heuschuppen. Es waren für den an starker Arthrose leidenden Max Planck qualvolle Wochen. Nach der deutschen Kapitulation kehrten die Plancks auf den Gutshof im sowjetisch besetzten Gebiet zurück. Da das Wohnhaus total verwüstet war, wurden sie von dem Melkerehepaar, das selbst nur ein Zimmer besaß, aufgenommen. Der Göttinger Physiker Robert Pohl machte sich Sorgen um seinen langjährigen Freund und bat den Astronomen Gerard Kuiper, einen amerikanischen Besatzungsoffizier, den Versuch zu unternehmen, das Ehepaar ohne Wissen der Sowjets nach Göttingen zu holen. Am 16. März fuhr Kuiper mit seinem Jeep in der Merkelstraße vor, wo Max und Marga Planck von seiner Nichte Hildegard Seidel liebevoll aufgenommen wurden. So verbrachte Planck die beiden letzten Jahre seines Lebens in der Stadt seines Urgroßvaters und Großvaters, die hier als Theologen gewirkt hatten. Im Juli 1945 übernahm Planck noch einmal auf Bitten der Briten die Präsidentschaft der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, deren Generalverwaltung bei Kriegsende aus dem zerstörten Berlin nach Göttingen verlegt worden war. Mit Genehmigung der britischen Militärregierung begann ihr Wiederauf‌bau, ihren alten Namen durfte sie aber nicht behalten. Am 1. April 1946 wurde

190  Max Planck Planck auf eigenen Wunsch von Otto Hahn abgelöst, im September 1946 wurde die Gesellschaft mit seiner Zustimmung in Max-Planck-Gesellschaft umbenannt, deren Ehrenpräsident er bis zu seinem Tod blieb. Nach einem Sturz, bei dem er sich einen Oberarmbruch und Prellungen zuzog, und mehreren Schlaganfällen verstarb Max Planck am 4. Oktober 1947. Die Trauerfeier in der Albanikirche leitete Professor Friedrich Gogarten von der Theologischen Fakultät. Otto Hahn und Max von Laue sprachen vor der Trauergemeinde. Unter den vielen Kränzen lag ein schlichter Kranz ohne Schleife. Max von Laue hatte ihn »für die Gesamtheit seiner Schüler niedergelegt, zu denen auch ich mich ja zähle, als ein vergängliches Zeichen unserer unvergänglichen Liebe und Dankbarkeit«31. Sechs Studenten der Physik trugen den Sarg zum Leichenwagen hinaus und während der langen Fahrt zum Stadtfriedhof läuteten die Glocken der Göttinger Kirchen. Max Planck wurde am Teich des Stadtfriedhofs beigesetzt. In dem Grab fanden auch seine Frau Marga und ihr gemeinsamer Sohn Hermann ihre letzte Ruhe. Am Kopfende des Grabes steht eine Stele, auf der Plancks Name zu lesen ist und an deren Fuß auf Initiative des Göttinger Physikers Robert Pohl die »Plancksche Konstante« eingraviert wurde.32 Liegeplatten enthalten die Namen und Lebensdaten der Verstorbenen. Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14

Vgl. Herrmann (Hg.), Deutsche Nobelpreisträger, S. 94. Das Göttinger Nobelpreiswunder, S. 235. Zitiert nach Hermann, Planck, S. 7. Vgl. Bührke, Sternstunden der Physik, S. 112. Zitiert nach ebd., S. 113. Rosenthal-Schneider, Begegnungen mit Einstein, S. 80. Vgl. ebd., S. 11–13. Zitiert nach ebd., S. 15. Rife, Lise Meitner, S. 52. Ebd. Zitiert nach ebd., S. 127. Vgl. Bührke, Sternstunden der Physik, S. 109. Rosenthal-Schneider, Begegnungen mit Einstein, S. 20. Zitiert nach Hermann, Planck, S. 43.

Max Planck 191 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32

Bührke, Sternstunden der Physik, S. 111. Zitiert nach Rife, Lise Meitner, S. 72 f. Zitiert nach Hermann, Planck, S. 45. Zitiert nach Pufendorff, Die Plancks, S. 47. Zitiert nach ebd., S. 101. Hermann, Planck, S. 84. Ebd., S. 86. Ebd., S. 89. Zitiert nach ebd., S. 86 f. Ebd., S. 92. Ebd., S. 97. Vgl. ebd., S. 105. Ebd. Zitiert nach Pufendorff, Die Plancks, S. 451. Zitiert nach ebd., S.459. Vgl. Kippenhahn, Atom, S. 216. Zitiert nach Hermann, S. 128. Vgl. ebd., S. 29.

Ludwig Prandtl 4. Februar 1875 — 15. August 1953

Ludwig Prandtl gilt als »Vater der Aerodynamik«1. Göttingen hat ihm und dem Mathematiker Felix Klein die Aerodynamische Versuchsanstalt (AVA) sowie das Kaiser-Wilhelm-Institut für Strömungsforschung zu verdanken. Ludwig Prandtl wurde 1875 in Freising geboren. Sein aus München stammender Vater Alexander war Professor an der landwirtschaftlichen Centralschule Weihenstephan, wo er an­gewandte Mathematik und Meliorationskunde, also Bodenverbesserungskunde, lehrte. Die Familie seiner Mutter Magdalena Ostermann war seit mehr als hundert Jahren dort ansässig und betrieb zuletzt einen Kolonialwarenladen. Ludwig war ein neugieriges Kind, das sich wegen der vielen Dinge, die es zu beobachten gab, immer wieder verspätete. Seine Tochter Johanna schilderte später eine seiner frühesten Erinnerungen: »Das einsame, verträumte Kind spielte wie so oft vor dem Haus auf der Straße, als eine dunkle Wolke plötzlich ihre Schleusen öffnete und es zu regnen begann. Statt gleich ins Haus zu laufen, blieb das Kind noch im Regen, denn es war ja so spannend zu beobachten, wie die Gosse sich mehr und mehr mit Wasser füllte und Blätter und Papierfetzen mit fortschwemmte. Indem eilte eine Frau an ihm vorüber, die ihr Gewand geschürzt hielt und das Ende ihres weiten Rockes wie eine Kapuze über den Kopf gezogen hatte. Dabei machte der kleine Ludwig eine unerwartete Entdeckung: Unter den Röcken der Frauen verbargen sich Beine, die wie diejenigen der Männer beschaffen waren.«2 Als Klassenbester durchlief Ludwig die Volksschule und anschließend besuchte er die Lateinschule auf dem Freisinger Domberg. Die häusliche Situation war nicht leicht für ihn, da seine Mutter an Herzanfällen und einer tiefen Gemütsverstimmung litt. Nach Ludwig hatte sie noch einen Sohn und eine

194  Ludwig Prandtl Tochter zur Welt gebracht, die beide innerhalb der ersten beiden Wochen verstarben. Sie erlitt noch vier weitere Fehlgeburten und war physisch und psychisch erschöpft, so daß sie 1888 in eine Nervenheilanstalt und danach in ein Pflegeheim gebracht werden mußte. Die unverheiratete Schwester seiner Mutter führte an ihrer Stelle den Haushalt, und auch der Vater kümmerte sich liebevoll um Ludwig. Er bestärkte dessen Interesse an physikalischen Vorgängen, erklärte ihm Maschinen und Instrumente, und auf Wanderungen, vor allem im Gebirge, führte er ihn an Naturbetrachtungen heran. Wenig Geduld hatte er hingegen, wenn Ludwig seine Schulaufgaben nicht zügig erledigte, weil er wieder einmal in Tagträume versunken war. Nachdem sich herausgestellt hatte, daß die Mutter dauerhaft im Pflegeheim bleiben mußte, wurde Ludwig als Internatsschüler auf das Münchner Ludwigsgymnasium geschickt. Dort waren seine naturwissenschaftlichen Leistungen hervorragend. Nach dem Abitur im Sommer 1894 bewarb er sich in Nürnberg bei der Maschinenbaugesellschaft, wo er die dem Studium vorgelagerte dreimonatige Werkstattpraxis absolvierte. Anschließend schrieb er sich an der Königlich Bayerischen Technischen Hochschule in München für das Fach Maschinentechnik ein. Während seines Studiums verstarb sein Vater im März 1896, und im Jahr 1898, als er sein Studium beendete, starb auch seine Mutter. Nach seinem Abschluß blieb der junge Maschineningenieur als Hilfsassistent noch ein Jahr an der technischen Hochschule, wo er sich im Laboratorium seines Lehrers August Föppl, dem berühmten Professor für technische Mechanik, auf seine Dissertation vorbereitete. Da die technische Hochschule 1899 noch kein Promotionsrecht besaß, reichte Prandtl seine Arbeit an der Universität München ein, wo er Ende Januar 1900 zum Doktor der Philosophie promoviert wurde. Am 1. Januar 1900 hatte er bereits seine Stelle als Ingenieur bei der Maschinenbaugesellschaft in Nürnberg angetreten. Dort befaßte er sich zum ersten Mal mit Strömungsfragen, denn seine Aufgabe war, die Anlage zur Absaugung von Hobelspänen in der neuen Abteilung für Waggonbau zu verbessern, da die Arbeiter durch den Staub und die feinen Hobelspäne

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in der Luft häufig lungenkrank wurden. Die »Prandtlsche Späneabsauganlage«, die er auf Grundlage seiner Ergebnisse entwickelte, wurde anschließend von der Fabrik in Serie hergestellt und erfolgreich vermarktet. Weiterhin stand er in engem fachlichen und persönlichen Kontakt zu seinem Lehrer Föppl, der ihn im Jahr 1901 für den frei gewordenen Lehrstuhl für Mechanik an der Königlich Technischen Hochschule in Hannover vorschlug, den Prandtl dann auch tatsächlich erhielt. Am 1. Oktober 1901 trat er seine Stelle als besoldeter Professor an. Neben den Vorlesungen, Übungen und Prüfungen widmete er sich auch hier intensiv der Erforschung von Strömungsvorgängen. Regelmäßig schickte Prandtl Rundbriefe aus dem Norden Deutschlands an seine Verwandten in der bayerischen Heimat, den ersten nach seinem Abschied in Nürnberg: »An der Hochschule in Hannover sind so ziemlich alle Gaue Deutschlands vertreten, wir haben Bayern, Schwaben, Badenser, Kurhessen,

196  Ludwig Prandtl Österreicher und natürlich ein ganzes Rudel von Preußen. (Meinen Diensteid habe ich noch nicht geschworen, also darf ich mich einstweilen noch als Nichtpreuße fühlen.)«3 Und in einem anderen Brief schrieb er: »[…] man sagt, in Hannover würde das reinste und beste Deutsch gesprochen […]. Meine erste Entdeckung war, daß ich den Hotelkellner nur schwer verstand, ebenso die Geschäftsleute. Aber ich machte bald die großartige Entdeckung, daß die hiesige Sprache aus dem Deutschen abgeleitet werden könne, wenn man nur eine Reihe von Ausspracheregelungen berücksichtigt […] Der spitze Stein ist hier sprichwörtlich, dabei wird aber das ›ei‹ gesprochen wie bei Euch das ›A‹ in Kas. Wenn man diese Ausspracheregeln einmal kann, dann findet man wohl, daß das Volk hier ziemlich gut Schriftdeutsch redet. Auch sonst hat Hannover verschiedene Eigentümlichkeiten: eine Straßenbahn, die mit Akkumulatoren fährt (keine Oberleitung in der inneren Stadt). Das Straßenbahnnetz ist nach Berlin das größte in Deutschland. Die Bahn fährt auch auf jedes Nest in der Lüneburger Heide hinaus, gerade als ob die Münchner bis Freising, Dachau, Starnberg, Wolfratshausen, Sauerlach und Grafing ginge.«4 Auch über das Klima äußerte er sich: »Das Wetter ist hier abwechselnd neblig, naß oder windig, zur Abwechslung auch mal naß und neblig oder naß und windig.«5 Und wie man einem weiteren Brief entnehmen kann, schien die norddeutsche Küche für ihn als einzigem nichtverlobten jungen Dozenten ein Grund gewesen zu sein, sich nicht unter den Töchtern des Landes umzusehen: »Trotzdem haben einstweilen die Mädchen Hannovers noch keine Aussicht, mich einzufangen. Ich bilde mir immer noch ein, die Meine müßte mal Knödel und Nockerln kochen können und nicht etwa Gelüste haben, in den Spinat Rosinen zu tun.«6 Zudem hatten die Hannoveraner hinsichtlich Sitte und Anstand etwas andere Vorstellungen als die Bayern. Bei einer geselligen Veranstaltung sollte unter Mitwirkung Prandtls eine bayerische Sängergruppe auf‌treten, die Herren natürlich in Lederhosen. Als die jungen Dozenten zur Probe in bayerischer Tracht erschienen, verlangte man von ihnen, unter der Lederhose fleischfarbene Beintrikots zu tragen, da man den Damen der Gesellschaft den Anblick von nackten männlichen Knien nicht zumuten wollte.7

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Prandtl verbrachte drei beruf‌lich erfolgreiche Jahre in Hannover. Im September 1903 nahm er auf der Rückfahrt von einem Aufenthalt in Bayern an einem Kongreß in Kassel teil, wo er die Bekanntschaft einer Reihe von Mathematikern und Physikern machte, die anschließend nach Göttingen fuhren. Prandtl schloß sich ihnen an und wurde vom Astronomen Karl Schwarzschild zum Übernachten eingeladen. Den nächsten Mittag verbrachte er mit der Familie von Walther Nernst, dem renommierten Professor für physikalische Chemie. Im Frühjahr 1904 fragte der Mathematiker Felix Klein bei Prandtl an, ob er die Leitung der Abteilung für Technische Physik mit der dazugehörigen außerordentlichen Professur übernehmen wolle. Diese Abteilung war 1896 auf Initiative von Klein gegründet worden. Zur Berufung Prandtls schrieb sein vormaliger Chef bei der Maschinenbaugesellschaft an Klein: »Herr Prandtl ist ein ungewöhnlich begabter und dabei äußerst fleißiger Mensch. Bei seinem verträglichen Charakter halte ich ein angenehmes Zusammenarbeiten für gewährleistet.«8 Nach längeren Verhandlungen nahm Prandtl den Ruf an, obwohl er damit einen ordentlichen Lehrstuhl gegen einen nur außer­ordentlichen eintauschte. Seine Entscheidung begründete er folgendermaßen: »Unter diesem Gesichtspunkt scheint mir der Übertritt an die Universität nur dadurch zu rechtfertigen zu sein, daß ich in dieser Stelle, die, wie ich denke, nicht meine letzte sein wird, außerordentliche Gelegenheit haben würde, meinen eigenen wissenschaftlichen Wert zu heben und mich für künftige Aufgaben vorzubereiten, andererseits auch durch den Gedankenaustausch mit den Theoretikern noch manche der Praxis naheliegende Fragen lösen helfen könnte.«9 Auch seine Bewunderung für Felix Klein trug zu seinem Entschluß bei. Auf einer Postkarte teilte er ihm seine Bereitschaft mit, den Ruf anzunehmen. Im August, kurz vor seinem Umzug nach Göttingen, hielt Prandtl auf dem III . Internationalen Mathematikerkongreß in Heidelberg einen Vortrag, in dem er die Grenzschichttheorie vorstellte, und den Klein als schönste Rede des ganzen Kongresses bezeichnete. Prandtl wurde mit seinen Ausführungen zum Begründer der modernen Strömungslehre.

198  Ludwig Prandtl Am 1.  Oktober 1904 nahm er seine Tätigkeit in Göttingen auf. Zu seiner Freude hatte auch der Mathematiker Carl Runge, mit dem ihn seit Hannover eine enge Freundschaft verband, einen Lehrstuhl in Göttingen erhalten. Ihre Arbeitsräume befanden sich im Michaelishaus in der Prinzenstraße, jenem Haus, in dem auch Wilhelm Weber gewirkt hatte. Prandtls Institut, zu dem auch ein Maschinenlaboratorium gehörte, wurde von den Kollegen als »Fakultät Schmieröl« bezeichnet.10 Im Zusammenhang mit einem Ruf nach Stuttgart 1907 wurde seine außerordent­liche Professur in ein persönliches Ordinariat umgewandelt, um ihn in Göttingen zu halten. Die geplante Motorluftschiffmodell-Versuchsanstalt erwies sich als weiterer Grund für Prandtl, in Göttingen zu bleiben. Als er zwei Jahre später vom Kultusministerium in Berlin beauf‌tragt wurde, auch das gesamte Gebiet der wissenschaftlichen Aeronautik zu vertreten, entstand damit der erste Lehrauf‌trag für Luftfahrt an einer Universität. Prandtl konstruierte den ersten Windkanal mit geschlossener Luftführung, der in der ganzen Welt zum Vorbild wurde. Seine Arbeiten waren von großer Bedeutung für die Luftfahrttechnik, aber Prandtl wollte lieber auf dem gesamten Gebiet der Strömungslehre forschen. So wurde in den Windkanälen auch der Winddruck an Brückenträgermodellen, auf Bauwerke, Gitterfachwerke oder Schornsteine durchgeführt. Seit Beginn der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts wurden auch Versuche an Dampflokomotivmodellen und Rennwagen durchgeführt. Es folgten Untersuchungen über Luftwiderstand und Fahrstabilität von Kraftfahrzeugen, welche zu einem Versuchswagen in Tropfenform führten, den man bei Testfahrten häufig auf den Göttinger Straßen und der Autobahn sehen konnte. Den Strömungsforscher faszinierte natürlich das Ballonfahren. Er gehörte zu den Gründern des Niedersächsischen Vereins für Luftfahrt und erlangte nach einigen Probefahrten 1909 das Patent als Freiballonführer. Im Januar 1908 fuhr er zusammen mit drei anderen Dozenten im Ballon nach Berlin, wo der Verein für Luftfahrt tagte. Sie prüften morgens die Windrichtung, und es gelang ihnen tatsächlich, nach siebenstündiger Ballonfahrt in großer Höhe und bei eisiger Kälte, rechtzeitig vor Beginn der Tagung am Müggelsee bei Berlin zu landen.

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Prandtl und die Familie Föppl hatten den Kontakt alle Jahre hindurch nicht abreißen lassen. Sie trafen sich regelmäßig in der Urlaubszeit in München oder im Sommerhaus der Familie am Starnberger See. Prandtl kümmerte sich auf Bitten von Föppl hin um dessen jüngeren Sohn Ludwig, der in Göttingen Mathematik studierte, bevor er sich für die Mechanik entschied. Der ältere Sohn Otto war zwei Jahre Assistent bei Prandtl in der Modellversuchsanstalt. Ostern 1909 hielt Prandtl schriftlich um die Hand der Tochter Gertrud an. Föppl antwortete ihm: »Lieber Herr Kollege! […] Ich habe Sie nicht nur als Gelehrten, sondern auch als Menschen stets sehr hoch geschätzt, und ich wüßte niemanden, den ich lieber als Schwiegersohn willkommen heißen möchte, als Sie. Da wir nun noch in engere Beziehung kommen werden als bisher, fordert die Grammatik, daß wir uns in Zukunft mit ›Du‹ anreden werden, und ich mache davon sofort Gebrauch. […] Dein alter Lehrer und neuer Schwiegervater.«11 Prandtl suchte sofort eine passende Wohnung. Er schrieb seiner Braut, daß ihr an Göttingen gefallen würde, »daß man überall die Natur so nahe hat, daß man überhaupt wie auf dem Lande wohnen kann, weil die neueren Stadtteile als Gartenstadt angelegt sind«12. Im Juli machte er ihr zwei Wohnungsvorschläge: »1. Prinz-Albrechtstraße 20 [heute Keplerstraße], erster Stock, bevorzugte, hübsche Lage, […] zwölf Minuten zum Institut.« Die zweite Wohnung war weiter entfernt. »Bei zweimaligen Institutsweg täglich 40 Minuten mehr Laufzeit, bei 288 Arbeitstagen im Jahr würde das acht volle Tage und Nächte ausmachen. Wenn ich alles gegeneinander abwäge, komme ich zu keinem Schluß, weil die Vorteile und Nachteile sich ausgleichen. Hoffentlich geht’s Dir besser als mir, hoffentlich neigst Du etwas Bestimmtem zu.«13 Nach der Hochzeit im September in München zog das junge Paar schließlich in die Prinz-Albrechtstraße. Am Tag ihrer Ankunft fuhr das Ehepaar in einer offenen Kutsche vom Bahnhof vorbei am Auditorium, die Weender-, Lange- und Kurze-Geismarstraße entlang zu ihrer Wohnung. Am nächsten Tag machte Gertrud Prandtl ein paar Einkäufe in der Stadt. Sie wurde überall äußerst zuvorkommend bedient, und ohne sich vorgestellt zu haben war die »Frau Professor« schon überall bekannt. »Wir haben Sie doch gestern Nachmittag

200  Ludwig Prandtl mit dem Herrn Professor in der Kutsche hier vorbeifahren sehen«,14 hieß es, was die Großstädterin amüsiert zur Kenntnis nahm. Da ihr Mann zunächst noch keine eigene Sekretärin hatte, übernahm sie die Schreibarbeiten. An den Wochenenden unternahm das Ehepaar lange Spaziergänge zu den umliegenden Dörfern, zum Kaiser-Wilhelm-Park oder zum Kehr im Hainberg, wo Kaffee getrunken wurde. Prandtls Schwager Ludwig Föppl erinnerte sich, daß Prandtl zum Schluß einer Kaffeetafel gern mit dem Essgeschirr zu hantieren begann. Er türmte Tassen und Teller übereinander und prüfte die Stabilität des Auf‌baus. Hin und wieder gab es dabei Scherben, und Prandtl entschuldigte sich dann vielmals und bezahlte den Schaden.15 Die Familie Prandtl pflegte Kontakte zu den Ehepaaren Hilbert, Klein, Runge, Wiechert und anderen, vermied es aber, zu viele gesellschaftliche Verpflichtungen einzugehen, da Prandtl meistens bis spät in die Nacht arbeitete. Regelmäßig kamen die Brüder von Gertrud, die inzwischen auch in Göttingen lebten, zu Sonntagsmittagsessen ins Haus. Zur Entspannung spielte Prandtl täglich auf seinem Flügel, richtete sich jedoch nicht nach Noten, sondern improvisierte über musikalische Themen von Bach, Mozart und Brahms. Auch das Professorenturnen, das jeden Samstag am späten Nachmittag stattfand, diente seiner Erholung. Prandtl war ein großer Naturliebhaber, nahm viele Details seiner Umwelt wahr und sah sich immer wieder zu Experimenten verlockt, und sei es nur, daß er einen Stein in eine Pfütze warf, um die Ausbreitung der Wellen zu beobachten. Sein engster Mitarbeiter Albert Betz meinte: »Kennzeichnend für ihn war sein unausweichlicher Drang, Probleme, die auf‌tauchen, aufzuklären. Er hatte dabei das seltene Geschick, verwickelte Vorgänge in einzelne grundlegende Teilaufgaben aufzulösen, welche klar zu durchschauen sind.«16 Dieser Forschungstrieb wurde aber auch ausgenutzt. »Wenn man zu faul ist, über ein auf‌tretendes Problem nachzudenken,« sagte ein junger Physiker, »so braucht man es nur Prandtl zu erzählen. Entweder kann sofort er die Sache klarstellen, weil er selbst schon längst über das gleiche Problem nachgedacht hat, oder die Anregung wird ihm keine Ruhe lassen, und er wird die Lösung in einigen Tagen sagen.«17 Sein wissenschaftliches Interesse reichte von rein phy-

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sikalischen und technischen Problemen über die Mechanik bis hin zur Astronomie und Geologie. Im Sommer 1920 bot man Prandtl den Lehrstuhl seines in den Ruhestand tretenden Schwiegervaters Föppl in München an. Das bedeutete für das bayerische Ehepaar eine große Versuchung, aber beide hingen auch sehr an Göttingen. Die Entscheidung fiel ihm schwer, und es folgten lange, zähe Verhandlungen, sowohl mit Göttingen als auch mit München. Im November 1921 wurde Prandtl nach sechszehnjähriger Tätigkeit in Göttingen schließlich doch zum planmäßigen Professor ernannt. Im Dezember 1923 fiel die endgültige Entscheidung für Göttingen, nachdem Prandtls Wünsche weitgehend erfüllt worden waren und er hier die besseren Forschungsmöglichkeiten erwartete. Die privaten Gründe nannte er in einem Brief an seinen Schwager: »Den Kindern, die hier sehr viel im Freien sind, geht es gut. Die Bergstraße [heute Calsowstraße] hier erlaubt ja das reinste Landleben. Sie waren deshalb sehr glücklich, als es hieß, wir bleiben hier. Sie haben auch so nette Freundinnen. Uns Großen wäre es hauptsächlich um den Hainberg leid gewesen, den wir nicht hätten mitnehmen können!«18 1920 wurde die Modellversuchsanstalt, 1907 gegründet als Motorluftschiffmodell-Versuchsanstalt, von der Kaiser-WilhelmGesellschaft (KWG) übernommen und in AerodynamischeVersuchsanstalt Göttingen umbenannt. Schon bei der Gründung der KWG hatte Felix Klein die Einrichtung eines Kaiser-Wilhelm-Instituts für Aerodynamik ins Gespräch gebracht und Prandtl im Februar 1911 veranlasst, eine Denkschrift dafür zu verfassen. Im Juni 1913 faßte die KWG den Beschluß zur Errichtung eines solchen Instituts. Der Erste Weltkrieg verhinderte jedoch zunächst die weitere Verfolgung dieses Plans. Erst am 16.  Juli 1925 wurde das »Kaiser-Wilhelm-Institut für Strömungsforschung, verbunden mit der Aerodynamischen Versuchsanstalt in Göttingen« eingeweiht. Der Initiator Felix Klein erlebte den glücklichen Abschluß seines vierzehn Jahre vorher vorgestellten Plans nicht mehr. Er war im Monat zuvor verstorben. Prandtl, der schon längst internationale Anerkennung als Begründer der modernen Strömungsforschung erlangt hatte, wurde der erste Direktor des Instituts.

202  Ludwig Prandtl Die nächsten Jahre führten ihn auf Vortragsreisen ins Ausland: nach London, nach Tokio sowie in die USA , wo er sich zweieinhalb Monate auf‌hielt und verschiedene Institute der Luftfahrt besuchte. Es folgten die schwierigen 30er Jahre. Prandtl weigerte sich, in die NSDAP einzutreten und lehnte es auch ab, ein Hitlerbild in seinem Direktorenzimmer aufzuhängen. In seinen Seminaren schimpfte er laut auf die Nazis. Die Entlassungen seiner Kollegen empörten ihn, und er beteiligte sich an der Protesteingabe gegen die Beurlaubung Richard Courants. Einen seiner Assistenten, der in die Partei eingetreten war, versuchte er dazu zu überreden, diesen Schritt rückgängig zu machen, da man sich nicht zum Nationalsozialismus bekennen dürfe. Die Antwort lautete: »Herr Professor, wir wollen auch mal etwas werden, Sie sind schon was!«19 Er weigerte sich, nach Einführung des sog. Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, das nicht nur Juden, sondern auch politisch mißliebige Mitarbeiter betraf, einen Angehörigen seines Instituts zu entlassen, nur, weil er als junger Mensch vorübergehend Mitglied einer den Kommunisten nahestehenden Jugendorganisation gewesen sei, und trennte sich sofort von einem Assistenten, der für die Nazis in der Universität spioniert hatte. Als er sich in einer anderen Angelegenheit weigerte, sieben Mitarbeitern zu kündigen, wurde er mit der Deportation in ein Konzentrationslager bedroht, mit der Begründung, daß er gegen den »nationalen Staat« revoltierte.20 Dennoch kämpfte er weiter, in diesem Fall erfolgreich, für seine Mitarbeiter. Eingebunden war zum Teil auch der Präsident der KWG , Max Planck, mit dem er auch persönlich verbunden war. Plancks zweite Frau war eine Schulfreundin von Gertrud Prandtl, mit der sie noch immer in reger brief‌licher Verbindung stand. 1938 mischte Prandtl sich in den Streit zwischen den Anhängern der sogenannten »arischen Physik« und der theoretischen Physik ein, die als die jüdische Physik galt. In einem Brief an Heinrich Himmler betonte er, daß es auch unter den »Nichtariern« Forscher allerersten Ranges gebe; der Physiker Einstein etwa sei erstklassig. Zu den Vertretern der »arischen Physik« meinte er: »Es ist aber unerhört, wenn solche experimentell eingestellten Leute nur die Theorien,

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weil sie i­ hnen nicht zu folgen vermögen, einfach als verderblich oder verwerf‌lich erklären und die Vertreter der Theorie deshalb glauben, mit Schmutz bewerfen zu können.«21 Sie seien nicht in der Lage, die moderne theoretische Physik zu verstehen, weil es ihnen an scharfem kritischen Denken auf mathematischer Grundlage mangele.22 Die Jahre 1940/41 brachten persönliche Schicksalsschläge. Das Baby seiner Tochter Hilde starb gleich nach der Geburt, im Dezember verlor Prandtl seine Frau und sein Schwiegersohn fiel im Juli 1941 an der Ostfront bei Riga. Seine Tochter Johanna blieb bei ihm und führte ihm den Haushalt. Während der Kriegsjahre versuchte Prandtl seine Forschungen weiter zu betreiben, wenn auch die großen Windkanäle so gut wie ausschließlich für Messungen der militärischen Flugzeugindustrie zur Verfügung stehen mußten. Am 9. April 1945, einen Tag nach der Übergabe der Stadt an die Amerikaner, übernahmen diese das Institut. Für mehrere Wochen erhielt Prandtl keinen Zutritt mehr. Erst im Mai wurden die Wissenschaftler wieder beschäftigt. Sie mußten Berichte über ihre Versuchsergebnisse während des Krieges abfassen. Da die Fortsetzung der aerodynamischen Forschungen untersagt war, beschäftigte Prandtl sich mit meteorologischen Fragen, die ihn schon immer interessiert hatten. Als im September 1945 die Göttinger Universität als erste Universität in Deutschland ihre Tore wieder öffnen konnte, hielt der inzwischen siebzigjährige Prandtl seine Vorlesungen wie zuvor. Im Wintersemester 1946 wurde er emeritiert und trat als Institutsdirektor zurück, leitete aber weiterhin eine Abteilung. Im Spätherbst 1950 erlitt Prandtl einen Hirnschlag, der ihn mehrere Wochen ans Haus fesselte. Von Besuchern wurde er über das Geschehen am Institut auf dem Laufenden gehalten und er setzte sich weiterhin mit fachlichen Fragen auseinander. Er erholte sich so weit wieder, daß er zu Fuß ins Institut gehen konnte, ermüdete bei der Arbeit aber schneller. Im August 1952 erlitt er einen zweiten Schlaganfall. Es folgte ein langes, geduldig ertragenes Krankenlager. Ein Jahr später verstarb Prandtl siebenundsiebzigjährig im Kreis seiner Familie. Er wurde neben seiner Frau beigesetzt. Da er kurz vor seinem Tod aus der

204  Ludwig Prandtl Kirche ausgetreten war, lehnten die Theologen der Universität es ab, an seinem Grab auf dem Stadtfriedhof ein paar Worte zu sprechen. Die Grabrede hielt darauf‌hin der Pfarrer der reformierten Gemeinde, Pastor Theodor Kamlah. 1968 wurde auch die verwitwete Tochter Hildegard dort beerdigt. Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22

Wuest, Sie zähmten den Sturm, S. 7. Vogel-Prandtl, Ludwig Prandtl, S. 8. Ebd., S. 21. Ebd., S. 22. Ebd. Ebd., S. 23. Vgl. ebd. Ebd., S. 26 f. Ebd., S. 27. Ebd., S. 32. Ebd., S. 47. Ebd., S. 49. Ebd. Ebd., S. 51. Ebd., S. 56. Wuest, Sie zähmten den Sturm, S 25. Zitiert nach Vogel-Prandtl, Ludwig Prandtl, S. 77. Zitiert nach ebd., S. 87 f. Ebd., S. 124. Vgl. ebd., S. 128. Zitiert nach ebd., S.140. Vgl. ebd., S. 150.

David Hilbert 23. Januar 1862 — 14. Februar 1943

»Wir müssen wissen, wir werden wissen«, ist am Fuß des Grabsteins von David Hilbert zu lesen. Es war der Schlußsatz seiner Rede anläßlich der Verleihung der Ehrenbürgerwürde der Stadt Königsberg im Jahr 1930. Für Max von Laue war Hilbert »vielleicht das größte wissenschaftliche Genie gewesen, das er jemals mit Augen geschaut habe«1. Hilbert hinterließ seinen Fachkollegen als »Hausaufgabe« für das nächste Jahrhundert dreiundzwanzig ganz verschiedenartige mathematische Probleme. Noch sind nicht alle gelöst.2 David Hilbert stammte väterlicherseits aus einer Königsberger Juristenfamilie. Sein Vater war Amtsgerichtsrat, seine Mutter Maria Theresia Erdtmann war die Tochter eines Kaufmanns. Der Vater wurde als geistig wenig beweglich beschrieben, die Mutter hingegen war wissenschaftlich sehr interessiert. Sie beschäftigte sich mit Philosophie, Astronomie und berechnete Primzahlen. Als Hilbert sechs Jahre alt war, wurde seine Schwester Elise geboren. Erst mit acht Jahren wurde er eingeschult, wahrscheinlich weil er vorher von seiner Mutter unterrichtet worden war. Er besuchte zunächst das humanistisch ausgerichtete Friedrichskolleg, wo er Schwierigkeiten hatte, dem Unterricht zu folgen. »Ich war in meiner Jugend etwas dammelig«, sagte er später einmal,3 und auch ein Familienmitglied erinnerte sich: »Alles, was ich von Onkel David weiß, ist, daß er für die ganze Familie als nicht ganz richtig im Kopf galt. Seine Mutter schrieb die Aufsätze für ihn. Andererseits konnte er seinem Lehrer mathematische Probleme erklären. Niemand zu Hause verstand ihn wirklich.«4 Ein Jahr vor dem Abitur wechselte er auf das naturwissenschaftlich-mathematisch ausgerichtete Wilhelm-Gymnasium, an dem er sich viel wohler fühlte und einen ausgezeichneten Abschluß schaffte.

206  David Hilbert Hilbert wußte schon als Schüler, daß er später Mathematik studieren würde. Trotz der Missbilligung seines Vaters schrieb er sich im Herbst 1880 statt bei den Rechtswissenschaften in der mathematischen Abteilung der Philosophischen Fakultät der Königsberger Universität ein. 1885 schloß der Dreiundzwanzigjährige das Studium mit der Promotion und dem Staatsexamen ab. Im Herbst desselben Jahres begab er sich auf eine Studienreise, die ihn zunächst nach Leipzig zum berühmten Felix Klein führte. Er besuchte dessen Vorlesungen und nahm an einem Seminar teil. Der Vortrag, den Hilbert in dem Seminar hielt, machte Klein auf ihn aufmerksam. »Als ich diesen Vortrag hörte, wußte ich sofort, daß er der kommende Mann in der Mathematik war.«5 Hilbert nahm schnell einen Platz im enge­ ren Kreis der Mathematiker ein. Im Juli 1886 habilitierte er sich in Königsberg, wurde dort Privatdozent, außerordentlicher Professor und 1893 Ordinarius. Auf seinen Wunsch hin wurde das freigewordene Extraordinariat mit seinem langjährigen Königsberger Freund Hermann Minkowski besetzt. Nach dem Ende der Zeit als Privatdozent teilte Hilbert seinem Förderer Klein mit, daß er über seine ordentliche Professur natürlich sehr glücklich sei. »In 4 Wochen etwa gedenke ich zu heiraten, so dass ich dann mit nächstem Semester schon in ganz geordnete Zustände komme.«6 Im Oktober 1892 heiratete Hilbert die achtundzwanzigjährige Käthe Jarosch, ein Jahr später wurde ihr einziges Kind, der Sohn Franz, geboren. Käthe Hilbert wurde von seinen Kollegen und Schülern sehr geschätzt. Sie galt als »gütig und kritisch und immer originell, ganz ebenbürtig an der Seite ihres Mannes« stehend,7 und Richard Courant, ein Schüler ihres Mannes, hielt fest: »Ohne sie hätte er das Leben, das er gelebt hat, nicht leben können.«8 Die Königsberger Jahre waren arbeitsintensiv und erfolgreich, und Hilbert behielt den regelmäßigen wissenschaftlichen Austausch mit Felix Klein bei, der, wann immer sich eine Möglichkeit bot, versuchte, ihn nach Göttingen zu holen: »so will ich Ihnen doch mitteilen, dass ich mir alle Mühe geben werde, in erster Linie Niemanden anders als Sie herzubringen. Sie sind der Mann, den ich als wissenschaftliche Ergänzung brauche: vermöge der Richtung Ihrer Arbeiten und der Kraft Ihres

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­mathematischen Denkens, und insofern Sie noch mitten in Ihrer productiven Periode stehen. Ich rechne, dass Sie der hiesigen mathematischen Schule, […] einen neuen inneren Gehalt bieten und vielleicht auf mich selbst eine verjüngende Wirkung ausüben werden«, schrieb er im Dezember 1894 an ihn.9 Hilberts Antwort folgte zwei Tage später: »Ihr Brief hat mich aufs freudigste überrascht: […] Ich würde selbstverständlich einem an mich gerichteten Ruf nach Göttingen ohne Besinnen und mit grosser Freude folgen. Vor allem wäre hierbei für mich die von Ihnen ausgehende wissenschaftliche Anregung, der größere Wirkungskreis und der Ruhm der Universität bestimmend. Außerdem würde mein und meiner Frau Herzenswunsch in Erfüllung gehen, in einer kleineren Universitätsstadt zu leben, die noch dazu so schön gelegen ist.«10 Zum Sommersemester 1895 kam Hilbert nach Göttingen und so begannen die glänzenden Jahre für die Georgia Augusta.

208  David Hilbert Durch Felix Klein, David Hilbert und Hermann Minkowski, der 1902 berufen wurde, entwickelte sich Göttingen international zum Mekka der Mathematik. Im Zentrum stand zweifellos David Hilbert, der systematisch verschiedene mathematische Gebiete bearbeitete: Zahlentheorie, Grundlagen der Geometrie, Variationsrechnung, Integralgleichungen, Grundlagen der Mathematik, mathematische Logik und mathematische Physik.11 Seine Begründung für die Beschäftigung mit der Physik war, daß die Physik viel zu schwer für die Physiker sei.12 Mit Einstein lieferte er sich 1915 ein »Wettrennen« um die Relativitätstheorie.13 Mit den physikalischen Fachausdrücken soll er allerdings teilweise etwas sorglos umgegangen sein, was den Physiker Woldemar Voigt so ärgerte, daß er zu Hilbert sagte: »Ihren Sohn können Sie nennen, wie Sie wollen; aber in der Physik haben Sie sich an die eingeführten Namen zu halten.«14 Bei aller Vorfreude auf Göttingen hatten die Hilberts wegen der »kühlen Göttinger Atmosphäre«15 Schwierigkeiten, sich einzuleben. Sie waren es gewohnt, sich über soziale Rangunterschiede hinwegzusetzen und zwanglos mit Privatdozenten und sogar Studenten zu verkehren. Das löste in der Göttinger Gesellschaft Unverständnis und teils empörtes Kopfschütteln aus. Allerdings blieb die Familie ihren Vorstellungen treu und bald hatten die Hilberts einen Freundeskreis Gleichaltriger und Gleichgesinnter, zu denen von Anfang an Walther Nernst und das Ehepaar Klein gehörten. Hilbert umgab sich gern mit der jungen Generation. »Ich setze mich zu den Jungen, bei denen ist noch etwas zu holen«, sagte er auf einer Naturforscherversammlung.16 Nach der Berufung seines engen Freundes Minkowski nach Göttingen fühlte er sich in der Stadt endgültig wohl, auch wenn ihnen nur sieben Jahre gemeinsamer Arbeit bis zu dem frühen Tod Minkowskis verblieben, der im Alter von vierundvierzig Jahren an einer Blinddarmentzündung verstarb. 1897 zogen die Hilberts vom Kreuzbergring in ihr neu erbautes Haus in der Wilhelm-Weber-Straße, in der auch etliche­ andere Professoren wohnten. Es war geräumig genug, um ihm Ruhe bei seiner Arbeit zu garantieren. Im Garten ließ er eine große Tafel aufhängen, da er am besten unter freiem Himmel arbeiten konnte. Die Hilberts kauften sich ihren ersten

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Hund, einen Terrier, dem noch viele folgen sollten und die alle den Namen Peter erhielten. Sorgen machte dem Ehepaar ihr Sohn Franz. Zunächst handelte es sich nur um schulische Probleme und Käthe Hilbert erhoffte sich von einem Schulwechsel eine Verbesserung der Situation. Hilbert bat seinen Doktoranden Courant, den halbwüchsigen Franz durch Nachhilfeunterricht auf die neue Schule vorzubereiten. Courant berichtete über Franz: »Er war nicht unintelligent oder untalentiert. Er war leicht zu erreichen […]. Aber ich war immer wieder überrascht von der Tatsache, daß vor mir ein Junge saß mit einem Gedächtnis wie eine fotographische Platte, die man in den Entwickler legt und ein sehr schönes Ergebnis erhält und dann, nach einer kurzen Zeit, erscheint ein Schleier; alles verschwimmt nach und nach und schließlich bleibt nichts auf der Platte zurück.«17 Lange Zeit hoffte Hilbert in Erinnerung an seine eigene Schulzeit noch auf Besserung, aber es handelte sich bei Franz nicht nur um eine Lernbehinderung, sondern er litt sein ganzes Leben unter einer nicht genau diagnostizierten psychischen Störung. Es wurde immer deutlicher, daß Franz dem Alltag nicht gewachsen war. In Frankfurt hatten die Eltern ihm eine Stelle in einer Buchhandlung besorgt. Eines Tages war er verschwunden. Während Käthe Hilbert und Courant sich darauf vorbereiteten, nach Frankfurt zu fahren, um Franz zu suchen, erschien er zu Hause, völlig verschmutzt und erregt. Unterwegs hatte er irgendwo den Zug verlassen, war zu Fuß weitergegangen, um seine Eltern vor bösen Geistern, die sie bedrohten, zu warnen und zu beschützen. Courant schilderte die Szene später: »Hilbert sagte zu Franz. ›Oh, Du dummer Junge, da ist nichts – hier sind keine Geister oder Teufel.‹ Darauf wurde Franz noch aufgeregter. Beide Seiten wurden immer lauter. Franz versuchte leidenschaftlich, uns von der Anwesenheit dieser unsichtbaren Kreaturen zu überzeugen, die uns schaden wollten. Hilbert schlug immer wieder mit seiner Hand auf den Tisch und sagte, ›da sind keine Geister‹. Es war eine unheimliche Szene.«18 Nachdem Franz mit einer Spritze ruhiggestellt worden war, brachten Courant und Hilbert ihn mit einem Taxi in die Klinik. Courant hörte Hilbert nach diesem Vorfall »in einer sehr traurigen, aber sehr entschlossenen Weise sagen: Von jetzt an muß ich mich als

210  David Hilbert jemand betrachten, der keinen Sohn mehr hat.«19 Käthe aber konnte ihren Sohn nicht aufgeben, und nach seinem Klinikaufenthalt nahm sie ihn wieder zu Hause auf, was zu Spannungen mit ihrem Mann führte. Hilbert war, laut Courant, »so intelligent, daß da keine wirkliche Gefahr bestand«20. Dennoch hatte Hilbert große Schwierigkeiten mit der neuen Situation im Haus und Probleme damit, die Krankheit seines Sohnes zu ertragen. Als Franz älter wurde, sah er seinem Vater auf befremd­liche Weise immer ähnlicher und ahmte dessen Verhaltensweisen nach. Er sagte laut zu allem seine Meinung, »ein Geräusch ohne Inhalt«, wie man in Göttingen sagte.21 Außerdem beschäftigte er sich intensiv mit verschiedenen Themen wie z. B. mit Goethe oder der Theologie und war auf Gebieten, die ihn interessierten, ein wirklicher »Kenner«. Auch sprach er oft davon, Mathematik studieren zu wollen, um das Werk seines Vaters würdigen zu können. David Hilbert forderte von seinen Studenten hohe Leistungen, hörte ihnen aufmerksam zu und korrigierte sie meistens zurückhaltend. Er galt als gütig, und obwohl er auch unvermittelt leidenschaftlich reagieren konnte, fühlten sich seine Studenten durchweg gut betreut. Stets erwähnt war Hilberts pointiertes »Aber Nein!«22, wenn er mit etwas nicht einverstanden war, oder sein »aber das ist doch ganz einfach«.23 Bekannt war er auch für seine scharfzüngigen Bemerkungen. So wird ihm der Satz zugeschrieben: »Es gibt viele Leute, die haben einen Gesichtskreis mit dem Radius Null und das nennen sie ihren Standpunkt.«24 Max Born, der bei ihm studierte und sein Vorlesungsassistent war, schätzte an den Lehrveranstaltungen, daß sie immer in Neuland führten. Hilbert schilderte seine Vorgehensweise folgendermaßen: »Es war mein Grundsatz in den Vorlesungen und erst recht in den Seminaren, nicht einen eingefahrenen und so glatt wie möglich polierten Wissensstoff, der den Studenten das Führen sauberer Kolleghefte erleichtert, vorzutragen. Ich habe vielmehr immer versucht, die Probleme und Schwierigkeiten zu beleuchten und die Brücke zu aktuellen Fragen zu schlagen […]. Höhere Vorlesungen dieser Art führten oft zu einer engen Wechselwirkung mit den Zuhörern, welche ihrerseits mit Kritik oder eigenen Gedanken hervortraten.«25

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Hilbert war einer der Prüfer in Max Borns Rigorosum. Vor der Prüfung fragte Born ihn, wie er sich auf die mathematischen Fragen vorbereiten solle. »Auf welchem Gebiet fühlen Sie sich am schlechtesten vorbereitet?«, fragte Hilbert. »Idealtheorie«. Hilbert sagte nichts mehr, und Born nahm an, daß er auf diesem Gebiet nicht befragt würde; doch am Tag der Prüfung bezogen sich alle Fragen auf die Idealtheorie. »Ja, ja«, sagte Hilbert hinterher, »es interessierte mich herauszufinden, was Sie über Dinge wissen, über die sie nichts wissen.«26 Born muß aber doch genügend Kenntnisse gehabt haben, denn er erzählte später, »lediglich eine nette mathematische Plauderei« mit Hilbert geführt zu haben.27 Beliebt waren Hilberts mathematische Spaziergänge mittwochs nach dem Vormittagsseminar mit ausgewählten Studenten »durch schweren Sturzacker«28 durch den Hainberg zum Mittagessen zum Kehr. Jeden Donnerstagnachmittag steuerte er mit den mathematischen Ordinarien dasselbe Ziel an. Gesprächsstoff waren fast immer mathematische Probleme oder Fakultätsangelegenheiten. Laut Blumenthal, einem Assistenten von Hilbert, wurde »die lebhafte Bewegung des mathematischen Gesprächs durch lebhafte körperliche Bewegung ergänzt«.29 Oft hörte man auch schallendes Gelächter. Eine große Lücke, sowohl in der Gruppe der Mathematiker als vor allem auch in Hilberts Privatleben, hinterließ der frühe Tod seines Freundes Minkowski im Jahr 1909. Hilbert arbeitete am liebsten im Freien. Während er den bedachten Wandelgang in seinem Garten in der Wilhelm-WeberStraße entlangschritt, Bäume beschnitt oder anders gärtnerisch tätig war, kreisten seine Gedanken um mathematische Fragen. Wahlweise sprang er auf sein Fahrrad, fuhr einige Runden um seine Rosenbeete, warf das Fahrrad auf den Boden, um wieder an der im Garten aufgehängten Wandtafel zu arbeiten. Richard Courant, der ihn vom Balkon aus beobachten konnte, erschien diese Arbeitsweise als eine »fantastische Balance zwischen intensiver Konzentration und vollständiger Entspannung«30. Von seinem Erscheinungsbild her war Hilbert wenig professoral. An warmen Tagen erschien er in den Vorlesungen in einem kurzärmeligen Hemd ohne Krawatte, zu jener Zeit ganz und gar

212  David Hilbert r­ egelwidrig. Im Restaurant oder Konzert borgte er sich, wenn er meinte, daß es zog, den Pelz oder die Federboa einer Dame, ohne sich um sein Erscheinungsbild zu kümmern. Seine ihm angeborene natürliche Würde verhinderte, daß irgendjemand über ihn lachte. Anders als Felix Klein lehnte er es ab, den Geheimratstitel, der ihm auf Grund seines Ruhms 1902 verliehen worden war, zu führen. Großes Vergnügen bereitete Hilbert das Skifahren. Der sportbegeisterte Carl Runge brachte ihn und einige jüngere Dozenten im Winter 1906 dazu, sich die Ausrüstung dafür in Norwegen zu besorgen. Noch wurden Skier in Deutschland nicht hergestellt. Geübt wurde zunächst an dem flachen Hügel unterhalb des Rohns. Wenn ausreichend Schnee lag, fuhr Hilbert mit seinen Skiern die leicht abschüssige Wilhelm-Weber-Straße zum Auditorium hinunter, wo er seine Vorlesungen hielt. Atemlos betrat er den Vorlesungssaal, bekleidet mit seinem dicken Norwegerpullover und den Skistiefeln, und begann schon auf dem Weg zum Pult zu reden. Die Hilberts waren bekannt für ihre herzliche Gastfreundschaft. Es gab gut und reichlich zu essen, anschließend humorvolle Auf‌f ührungen, und wenn die Teppiche weggerollt waren, wurde getanzt. Der Hausherr war dabei manchmal so ausgelassen, daß seine Frau ihn zur Ordnung rufen musste. Tanzveranstaltungen liebte er besonders, daher fuhr das Ehepaar gern nach Maria Spring bei Eddigehausen, wo unter freiem Himmel getanzt wurde und Hilbert, der für seine Neigung zum weiblichen Geschlecht bekannt war, seine neueste »Flamme« aus dem Kreis der Studentinnen, Frauen der Kollegen oder Schauspielerinnen im Tanz herumwirbelte und sie mit mathematischen Ideen unterhielt.31 Doch die wichtigsten Frauen in seinem Leben waren seine Frau Käthe und das Dienstmädchen Klärchen. Zu seinem fünfzigsten Geburtstag verfaßten seine Studenten das »Liebes-Alphabet«. Zu jedem Buchstaben gab es einen Vers zu einer von seinen »Lieben«. Zum Buchstaben »M« dichteten sie: »Malvinen gab er nie ein Busserl, dafür sorgt schon ihr Mann, der Husserl«.32 Als ihnen zum »K« keine seiner »Lieben« einfallen wollte, sagte seine Frau Käthe: »Also wirklich, Sie könnten vielleicht einmal auch an mich denken.«

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Darauf dichteten sie: »Gott sei Dank, nicht so genau, nimmt es Käthe, seine Frau.«33 Eine besonders schöne Anekdote über Hilbert, der gedanklich überwiegend in seiner mathematischen Welt lebte und im Alltag bisweilen zerstreut wirkte, schilderte Gustav Born in seiner Familiengeschichte. Die Borns hatten Hilbert, dessen Frau verreist war, zum Abendessen eingeladen. Weil ein starker Regenguß eingesetzt hatte, bot die Familie Born ihm an, bei ihnen zu übernachten, was er gern annahm. Sie statteten ihn mit den notwendigsten Utensilien aus, und alle gingen zu Bett. Eine halbe Stunde später klingelte es. Hilbert stand vor der Tür. Er war nach Hause gegangen, um sich seinen Schlafanzug zu holen.34 Wie Felix Klein setzte sich auch Hilbert für das Frauenstudium ein, wobei er heftige Auseinandersetzungen mit Kollegen nicht scheute. Besonders hoch schlugen die Wellen im Fall der Mathematikerin Emmy Noether. In einer Fakultätssitzung, in der es um den Zugang von Frauen zur Habilitation ging, soll Hilbert gesagt haben, daß er nicht verstehe, wieso in der Wissenschaft die Frage des Geschlechts eine Rolle spielen solle. Man befinde sich in einer Fakultät und nicht in einer Badeanstalt. Als seinen Vorstellungen nicht entsprochen wurde, setzte er durch, daß das Ministerium ihm erlaubte, Emmy Noether als seine ­Assistentin einzustellen. Er ließ sie unter seinem Namen Lehrveranstaltungen durchführen, wobei im Vorlesungsverzeichnis neben seinem Namen auch immer ihr Name aufgeführt wurde. Er machte damit deutlich, daß es sich dabei um ihre Veranstaltungen handelte.35 Hilbert hat insgesamt neunundsechzig Doktoranden betreut. Darunter befanden sich sechs Frauen. Im Ersten Weltkrieg löste sich der Kreis der Mathematiker und Physiker an der Göttinger Universität auf, weil die jüngeren Dozenten und Studenten zum Kriegsdienst eingezogen wurden. Die Älteren versuchten das wissenschaftliche Arbeiten weiter aufrechtzuerhalten. In dieser Zeit befaßte Hilbert sich überwiegend mit der Physik, insbesondere mit der Relativitätstheorie. Nach dem Krieg erlebten die Mathematik und die Physik in Göttingen dank der Berufungen von Max Born und James Frank 1921 einen rasanten Aufschwung, dem die National­

214  David Hilbert sozialisten nach der Machtübernahme 1933 noch im selben Jahr ein abruptes Ende bereiteten; den jüdischen Wissenschaftlern beider Fakultäten wurden ihre Lehrauf‌träge entzogen und die meisten verließen Deutschland. Hilbert blieb nahezu allein zurück. Bei einem Festessen saß er neben dem neu ernannten Erziehungsminister Bernhard Rust, der ihn fragte, wie es mit der Mathematik bestellt sei, nachdem sie vom jüdischen Einfluß befreit sei. Hilberts Antwort lautete: »Die Mathematik in Göttingen? Die gibt es nicht mehr.«36 Hilbert, der der sich nicht von Vorurteilen leiten ließ, war über die Ideologie und Politik der Nationalsozialisten äußerst aufgebracht. Nach seiner Emeritierung 1930 hatte er noch einige Vorlesungen gehalten, aber mit dem Ende des Wintersemesters 1933/34 betrat er das Institut nie wieder. Das Ehepaar bezog zu Beginn der Naziherrschaft öffentlich in so kritischer Weise Stellung, daß ihre Freunde Angst um ihre Sicherheit bekamen. Aber weil sie bald nicht mehr wußten, wem sie noch trauen konnten, verstummten auch sie.37 Hilbert hat in seinem Leben unzählige Ehrungen erhalten. Die liebste war ihm und seiner Frau aber die Verleihung des Ehrenbürgerrechts ihrer Heimatstadt Königsberg 1930. Dort hielt er seine bekannte Rede »Naturerkennen und Logik«, die mit dem Satz begann: »Das Erkennen der Natur und des Lebens ist unsere vornehmste Aufgabe«. Die wesentlichen Gesichtspunkte wiederholte Hilbert noch einmal im lokalen Rundfunksender. Er beendete die vierminütige Übertragung mit den Worten »Wir müssen wissen, wir werden wissen«.38 Am 14. Februar 1943 verstarb David Hilbert einundachtzigjährig. Mitten im Zweiten Weltkrieg kam nur ein knappes Dutzend Freunde zur Trauerfeier im Wohnzimmer der Familie zusammen. Sein alter Freund Arnold Sommerfeld sprach, neben seinem Sarg stehend, über Hilberts Lebenswerk. Zwei Jahre später, im Februar 1945, verstarb auch Käthe Hilbert. Sie war nahezu blind und, nachdem die alten Freunde das Land hatten verlassen müssen, vereinsamt. Käthe Hilbert wurde neben ihrem Mann auf dem Stadtfriedhof beigesetzt.

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Anmerkungen 1 Zitiert nach Herneck, Max von Laue, S. 14. 2 Vgl. https://www.math.uni-bielefeld.de/~kersten/hilbert/, zuletzt aufgerufen am 26.6.2017. 3 Zitiert nach Reid, Hilbert, S. 139. (Übers. v. d. Verf.). 4 Zitiert nach ebd., S. 6. 5 Zitiert nach ebd., S. 19. 6 Frei, Der Briefwechsel, Brief Nr. 71. 7 Reidemeister (Hg.), Hilbert, S. 3. 8 Zitiert nach Reid, Hilbert, S. 132. 9 Frei, Der Briefwechsel, Brief Nr. 97. 10 Ebd., Brief Nr. 98. 11 Vgl. Reidemeister (Hg.), Hilbert, S. 80. 12 Vgl. Reid, Hilbert, S. 127. 13 Neffe, Einstein, S. 246 f. 14 Zitiert nach Schwethelm, Sie machten die Geschichte, S. 56. 15 Reidemeister (Hg.), Hilbert, S. 78. 16 Zitiert nach Blumenthal, David Hilbert, S. 71. 17 Zitiert nach Reid, Hilbert, S. 123 f. 18 Ebd., S. 138. 19 Zitiert nach ebd., S. 138 f. 20 Ebd., S. 152. 21 Ebd., S. 210. 22 Blumenthal, David Hilbert, S. 71. 23 Reid, Hilbert, S. 53. 24 Zitiert nach Merian, S. 73. 25 Reidemeister (Hg.), Hilbert, S. 79. 26 Zitiert nach Reid, Hilbert, S. 105. 27 Born, Mein Leben, S. 158. 28 Blumenthal, David Hilbert, S. 71. 29 Ebd. 30 Reid, Hilbert, S. 109. 31 Ebd., S. 91. 32 Born, Mein Leben, S. 114 f. 33 Reid, Hilbert, S. 132. 34 Vgl. Born, The Born Family, S. 47. 35 Vgl. Tollmien, »Sind wir doch der Meinung«, S. 180 f. 36 Zitiert nach Reid, Hilbert, S. 105. 37 Ebd., S. 209. 38 Ebd., S. 196.

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Danksagung

Mein besonderer Dank gilt dem Team des Göttinger Stadtarchivs für die langjährige, immer freundliche Hilfsbereitschaft, insbesondere Herrn Schröer. Für die Unterstützung durch Auskünfte und Texte danke ich Herrn Prof. Dr. Christoph Viebahn vom Institut für Anatomie und Embryologie im Zentrum Anatomie, Herrn Dr. Günther Beer und Herrn Dr. Ulrich Schmitt vom Museum der Göttinger Chemie und dem Bibliotheksbeauf‌tragten vom Institut für Geophysik der Georg-AugustUniversität Göttingen. Dem Fachdienst Friedhöfe möchte ich meinen Dank für die langjährige, gute Zusammenarbeit aussprechen. Frau Dr. Martina Kayser bin ich dankbar, weil dieses Buch ohne ihren Anstoß und Einsatz nicht entstanden wäre.

Bildnachweis Bayerische Staatsbibliothek, Signatur 4 Med.for. 5 t: Seite 15. Reiner Frank: Seite 19, 31, 39, 49, 59, 69, 79, 87, 97, 107, 115, 121, 127, 139, 145, 155, 161, 171, 183, 195, 207. Städtisches Museum Göttingen: Seite 13.

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