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German Pages 136 [137] Year 2004
MICHAEL KRUGMANN
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht
Schriften zum Völkerrecht Band 150
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht Von
Michael Krugmann
Duncker & Humblot . Berlin
Bibliografische Infonnation Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten 1) 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0251 ISBN 3-428-11317-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 €9 Internet: hnp://www.duncker-humblot.de
Inhaltsverzeichnis A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 I.
Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Zusammenhang mit der Gefährdung des Weltfriedens .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
II.
Allgemeine Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Völkerrecht ........ . ................................... . ...... II III . Unterschiede in der nationalen und internationalen Bedeutung ........... 12 IV. Ziel der Begriffsbestimmung ................ .. ......... .. ........ 14
B. Empirische Betrachtung .. . ...................................... .. . 15 I.
Das Recht auf Selbstverteidigung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 I. Grundzüge der Entwicklung des Gewaltverbotes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 2. Wechselwirkungen zwischen Gewaltverbot und Selbstverteidigung ..... 17 3. Die Verhältnismäßigkeit der Selbstverteidigung nach Art. 51 UN-Charta . 19 4. Die inhaltliche Unbestimmtheit der Verhältnismäßigkeit .............. 20 a) Verhältnismäßigkeit des Verteidigungsmittels .................... 21 b) Verhältnismäßigkeit der Verteidigungsdauer ..................... 22
H.
III. IV.
V.
"Präventive Intervention" ........................................ 22 I. Die "Präventive Intervention" in der Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten von Amerika .. . ............................. 22 2. Rechtliche Grundlagen der "Präventiven Intervention" ............... 3. Die Verhältnismäßigkeit der "Präventiven Intervention" .............. "Humanitäre Intervention" ....................................... Repressalien .............. ... ....................... . .........
23 25 26 28
I. Abgrenzungsprobleme ........................................ 29 2. Verhältnismäßigkeit als Schadensvergleich? ...... . . .. ..... .. ..... . 30 Maßnahmen des Sicherheitsrates zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit .... . ...... ... ................ .... .. ... . 32 I. Befugnisse des Sicherheitsrates .... . ....... . .......... .. ........ 32 2. Kein "Gewaltmonopol" des Sicherheitsrates .. . .......... . ......... 33
VI.
3. Verhältnismäßigkeit als Errnessensbindung? ...... . ................ 34 Humanitäres Völkerrecht ....................... . .......... . ..... 36
VII. Individualrechtsschutz .. . .. . ....... .. ..... .. ................... . 38 VIII. Zwischenergebnis ............................. ... ........ . ..... 39
Inhaltsverzeichnis
6
C. Rechtsvergleichende Betrachtung .. . ..................... . . ... .. ..... 41
I.
11.
III.
Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im deutschen Staatsrecht .... ........ 41 I. Ursprung und Ableitung ....................................... 41 a) Philosophischer Ursprung ......... .. . . ..... ....... ........ ... 42 b) Polizeirechtliche Entwicklung ..... ....... . . .. . ............... 43 c) Verfassungsrechtliche Ableitung ......... ............. .. . .... . 44 2. Begriffsvielfalt ....... ....... .. . . ............. .... . .. ........ 46 3. Eignung und Erforderlichkeit ...... . .... . ....... .. . . ........... . 47 a) Zwecksetzungsfreiheit und Zwecktauglichkeit . .. ...... . . ........ . 47 b) Zweck-Mittel-Relation ....... ... .. ....................... . . . 49 4. Abwägung .................................................. 50 5. Unterscheidung zwischen Erforderlichkeitsgebot und Abwägungsgebot .. 55 a) Ermessensentscheidungen . . . ...... .. ..... . .. . ...... .... . . .. . . 57 b) Gebundene Entscheidungen ........ ........ ...... . . ... ... . .. . 57 Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im europäischen Unionsrecht .... .... 59 I. Charta der Grundrechte der Europäischen Union ...... ....... ....... 61 2. Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ... ...... . . ... . . ... . 62 Zwischenergebnis ..... .. ... . ... . ... . ..... . ......... .... . . .. . . .. 65
D. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Völkerrecht
I.
11.
III.
.. . .. ........ ....... 67
Begliindung und Grenzen des Erforderlichkeitsgebotes ................. I. Das Erforderlichkeitsgebot als Grundsatz des Individualrechtsschutzes .. 2. Schädigungsverbot .... ..... .... .... .............. ... .... ... .. 3. Zwecksetzungsfreiheit und Zwecktauglichkeit .... . ................. 4. Zwischenergebnis ............................................ Begliindung des Abwägungsgebotes ............................... I. Billigkeit im Völkerrecht? ... ..... . .. . . . . ... ....... . ........ ... 2. "Rechtsstaatlichkeit"? .... ...... .. ..... . .. .. . .................. 3. Menschenrechtsschutz? ........ . ...... . ....... .... . .... ....... 4. Allgemeines völkerrechtliches Abwägungsgebot? .... ... ....... ..... 5. Allgemeines Schädigungsverbot? ...... . .... .. ................. .. 6. Zwischenergebnis ............................................ Grenzen der Angemessenheitsprüfung .............................. I. Abwägung im Repressalienrecht .... ... ...... ........... ..... ... a) Abwägungsgegenstand ... ... .... . ..... .. . . .................. b) Schaden-Nutzen-Vergleich ........ .... .. ........ ...... .. ..... c) Gewichtungen ....... . ....... .. ... ......... . ..... .... .. .. . . d) Zwischenergebnis ...... .... ............. ......... ...... .. .. 2. Abwägung bei der Selbstverteidigung ........... .. . ........ .. ....
68 68 69 72 74 75 75 77 77 80 83 83 84 85 86 87 88 89 90
Inhaltsverzeichnis
7
a) Völkerrechtliche Würdigung des Atomwaffeneinsatzes durch den Internationalen Gerichtshof ... .. ...... ...... .... ... . ... . . . . ... 91 b) Beschränkung durch das hwnanitäre Völkerrecht . .. .. ...... .. .. .. 93 c) Abwägungsgegenstand .. . ........... ........ .... . .. ..... . ... 95 d) Abwägungsmaßstab ...... .. ..... ...... . . . . . . ...... ........ . 97 aa) Rechtslogischer Einwand gegen den Ausnahmecharakter des Selbstverteidigungsrechtes .. ... .. . ... .. . .. .. ... ... ..... 98 bb) Inhaltlicher Einwand gegen den Ausnahmecharakter des Selbstverteidigungsrechtes ... ..... . . ...... .. .. ... . . ... 101 cc) Zwischenergebnis . . ...... . ...... .... ... . . . .. . .. .. . . . . .. 104 3. Abwägung im Sicherheitsrat . . . .... . ... .... . . ..... .... . ... . . .. . a) Errnessensbindungen . ... ... .. ..... ..... . . .. .... ......... .. b) Errnessensfehler bei Maßnahmen nach Kapitel VI und VII .... ..... c) Errnessensfehlerfolgen .. . ....... . . ..... ... .... . . .. .. .. ... ..
104 104 107 109
d) Die "Hwnanitäre Intervention" als Folge der Untätigkeit des Sicherheitsrates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 aa) Kein Versagen des Sicherheitsrates . . . ....... .. ..... . . ...... 112 bb) Keine allgemeine (moralische) "Güterabwägung" .. .. . .... . ... 113 cc) Keine "Nothilfe" . ..... .. ...... .... ...... .. .. ... ..... . . . 115 e) "Notkompetenz" der Staaten durch Pflichtverletzung des Sicherheitsrates? ..... .. . ... . . . . ... . . . . ...... ...... . . . . .... 117 aa) Schutzpflichtverletzung .. .. . ...... ...... .... .. . . . .. ...... 117 bb) Verfahrenssicherungen zwn Schutz vor Mißbrauch ... ..... .... 120 4. Zwischenergebnis . ... ........... . .. .. .. . . .. .. .. ... . .... .. .. . 122 IV.
Ergebnis ... . . ........ . ... .... ..... .. ... . ........... . . .... . .. 123
Literaturverzeicbnis ... .... . ...... . . .. .. .. . ... ... . .. .. . .... . . .. .. .. . . 126 Sticbworlverzeicbnis . . . .... ... .. . . ... . .... .. . .. .. . .. ... .. .......... . 134
A. Einführung I. Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Zusammenhang mit der Gefährdung des Weltfriedens Im Anschluß an die großen politischen Veränderungen in Osteuropa und dem damit einhergehenden Wegfalls des aus dem Gegenüber der bei den Blöcke "NATO" und "Warschauer-Pakt" entstandenen Konfliktpotentials hätte die Völkergemeinschaft ihrem Ziel, den Weltfrieden und die internationale Sicherheit dauerhaft zu wahren (Art. I Ziff. I UN-Charta), einen großen Schritt näherkommen können. An die Stelle der Blockkonfrontation sind aber, das beweisen die Ereignisse der letzten Jahre, neue Gefahren für den Frieden getreten. Die Staatengemeinschaft ist, wie das Beispiel des Zerfalls Jugoslawiens! und insbesondere der sich anschließende Kosovo-Konflikf gezeigt haben, zunehmend weniger bereit, schwerwiegende innerstaatliche Menschenrechtsverletzungen tatenlos hinzunehmen. Dies führte dazu, daß die Staaten des Nordatlantikvertrages, ohne hierzu durch einen entsprechenden Beschluß des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen ermächtigt worden zu sein, Militärkräfte gegen das dortige Regime unter Berufung auf den gebotenen Menschenrechtsschutz einsetzten. Nach der Konstruktion des in der Charta der Vereinten Nationen enthaltenen Gewaltverbotes (Art. 2 Ziff. 4) soll demgegenüber nur der Selbstverteidigungsfall (Art. 51 UN-Charta) oder ein entsprechender Beschluß des Sicherheitsrates (Art. 42 ff. {TN"-Charta)3, eine Gewaltanwendung legitimieren können.
Eine weitere Gefahr droht dem Weltfrieden durch den internationalen Terrorismus und seiner Bekämpfung4 • Die Überlegungen der Vereinigten Staaten von I V gl. dazu etwa M Wenig, Möglichkeiten und Grenzen der Streitbeilegung ethnischer Konflikte durch die OSZE, 1996, S. 168 ff.
2
Vgl. dazu unten B. III. und D. III . 3. d).
) Vgl. zur Befreiung Kuwaits nach der Besetzung durch den Irak, Res. 660 v. 2. August 1990; Res. 678 v. 29. November 1990. 4 Vgl. zu den Anschlägen vom 11. September 2001 gegen die USA: T Bruha / M Bart/eid, Terrorismus und Selbstverteidigung, VN 2001, S. 161 ff.; M Krajewski,
Selbstverteidigung gegen bewaffuete Angriffe nicht-staatlicher Organisationen - Der 11. September 200 I und seine Folgen, A VR 40 (2002), S. 183 ff.
A. Einfiihrung
10
Amerika im Jahre 2002, zum eigenen Schutz notfalls auch ohne eine entsprechende Ermächtigung durch die Vereinten Nationen, einen Krieg gegen den Irak zu fUhren, muß ebenso wie die Idee einer "Präventiven Intervention" zumindest im Hinblick auf das Völkerrecht der Gegenwart Bedenken auslösen s. Es hat den Anschein, als würde sich bei einigen Staaten die Ansicht durchsetzen, daß unter bestimmten Bedingungen, ohne Rücksicht auf das bestehende Gewaltverbot und den daraus folgenden Grenzen für eine gerechtfertige Gewaltanwendung, die KriegstUhrung dennoch legitim sein könne. Die Wiederbelebung und Rechtfertigung der Lehre vom "gerechten Krieg"6 erfolgt nunmehr unter Berufung auf das "humanitäre Völkerrecht". Die Frage nach der Berechtigung zum Einsatz von Gewalt weicht der Überlegung, welchen Grenzen solche Maßnahmen unterliegen. So schreibt z. B. Robert Kolb: "Das interessante ist, daß die Einhaltung des humanitären Völkerrechts mittlerweile häufig als Ersatz rur die Einhaltung des Gewaltverbotes dient. Das Argument scheint zu sein: Ich halte ja das humanitäre Völkerrecht ein, also kann ich Gewalt anwenden. Die Einhaltung des humanitären Völkerrechtes wird zu einer Hintertür-Legitimation fiir Gewaltanwendung. Das ius in bello (humanitäres Völkerrecht) verdrängt entgegen klassischer Trennung oder Unterordnung das ius contra bellum (Gewaltverbot)"7.
Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der bereits seit langem dem humanitären Völkerrecht bekannt ist, erlangt in diesem Zusammenhang seine weitergehende Bedeutung. Eine Begrenzung der "Erosion des Gewaltverbotes"S läßt sich möglicherweise im Wege der Heranziehung und Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erreichen. Wenn es zu militärischen Auseinandersetzungen kommt, dann muß infolgedessen nicht nur jede einzelne Maßnahme, sondern auch die Grundentscheidung zum Angriff selbst verhältnismäßig sein9• Derartige oder ähnliche Forderungen besitzen auf den ersten Anschein eine gewisse Plausibilität. Wer indes jenseits allgemeiner Aussagen, wie etwa "die S Vgl.
B. 11.
Vgl. R. Schmücker, Gibt es einen gerechten Krieg?, DZPhil48 (2000), S. 319 ff.; B. Ladwig, Militärische Interventionen zwischen Moralismus und Legalismus, DZPhil 48 (2000), S. 133 ff. 6
7 R. Kolb, Perspektiven des "humanitären Völkerrechts", in: Neue Züricher Zeitung (NZZ) v. 7./8. September 2002, S. 67. 8 R. Kolb, Perspektiven des "humanitären Völkerrechts", in: Neue Züricher Zeitung (NZZ) v. 7./8 . September 2002, S. 67.
9 Vgl. zur Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im ius ad bellum und dem ius in bello auch G. Gardam, Proportionality and force in internationallaw, AJIL 87 (1993), S. 391 ff.; R. Schmücker, Gibt es einen gerechten Krieg?, DZPhii 48 (2000), S. 319 (327 ff.).
II. Allgemeine Bedeutung
11
Anwendung von Gewalt dürfe nicht über das erforderliche Maß hinausgehen", nach dem Inhalt eines völkerrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes fragt, wird schnell feststellen müssen, daß hierzu nur wenig wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse vorliegen und diese darüber hinaus nicht einmal miteinander übereinstimmen. Es empfiehlt sich daher, über den konkreten Anwendungsbereich hinaus nach weiteren Hinweisen zu suchen, mit Hilfe derer der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz inhaltlich ausgefüllt werden könnte.
11. Allgemeine Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Völkerrecht Eine erste oberflächliche Betrachtung des deutschsprachigen völkerrechtlichen Schrifttums zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit führt zunächst zu einer einfachen Feststellung: Die Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist allem Anschein nach, über den Anwendungsbereich der europäischen Menschenrechtskonvention hinaus, im Völkerrecht anerkannt'°. Jedoch finden sich in bezug auf seine Anerkennung als allgemeiner Grundsatz des Völkerrechts oftmals nur mehr oder weniger, z. T. auch sich widersprechende pauschale Aussagen. So heißt es z. B. im Zusammenhang mit dem Notwehrrecht: "Unter Verhältnismäßigkeit versteht man auch im Völkerrecht einerseits das Verhältnis zwischen den angewandten Maßnahmen und dem verfolgten defensiven Zweck und zwar in dem Sinne, daß die Maßnahme nicht über das hinausschießen soll, was zur Erreichung des Zweckes notwendig ist; andererseits natürlich auch das Ausmaß und die Intensität der Defensivhandlungen im Verhältnis zu den Angriffshandlungen")) .
Von einem anderen Autor wird der Begriff demgegenüber eingeschränkt: "Dabei wird die Verhältnismäßigkeit in diesem Zusammenhang verstanden wie die aus dem deutschen Verfassungs- und Verwaltungsrecht bekannte Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinne. Ein Verhältnismäßigkeitsbegriffim weiteren Sinn, der erst in die Wertungsstufen legitimes Ziel, Geeignetheit, Erforderlichkeit mit dem Gebot des geringstmöglichen Eingriffs sowie Angemessenheit als Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne aufzusplitten ist, wird im Völkerrecht im allgemeinen nicht verwandt"l2.
10 Vgl. A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechts lehre, 1995, S. 680; G. Gardam, Proportionality and force in international law, AJIL 87 (1993), S. 393 ff.; J Delbrück, Proportionality, in: R. Bernhardt, EncycIopedia ofpublic internationallaw, Vol. 3, 1997, S. 1140 ff. 11 M Genoni, Die Notwehr im Völkerrecht, 1987, S. 132.
12
R. Voigtländer, Notwehrrecht und kollektive Verantwortung, 2001, S. 34.
12
A. Einfuhrung
Das Vorhaben einer fundierten Inhaltsbestimmung führt zur Differenzierung. Zunächst kann der Grundsatz nicht wie im deutschen Recht als Totalvorbehalt für nahezujedwedes Verhalten aller Völkerrechtssubjekte verstanden werden. Einer solchen Annahme fehlt bereits eine entsprechende dahingehende Legitimation. Ein Totalvorbehalt ist weder vertraglich vereinbart, noch als Völkergewohnheitsrecht anerkannt. Daraus folgt, daß es nur bestimmte Bereiche geben kann, in denen der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Geltung hat. Zu ermitteln sind mithin zunächst die Teilbereiche, in denen der Grundsatz dem Völkerrecht bekannt ist. In einem zweiten Schritt kann dann sein Inhalt untersucht werden. Weitergehende Überlegungen sollen erst auf der Grundlage einer Kenntnis der einzelnen tatsächlichen Anwendungsbereiche des für sich genommen wenig aussagekräftigen Begriffs der Verhältnismäßigkeit angestellt werden. Diese werden die Kritik und Schwächen, die sich bereits im Zusammenhang mit anderen bekannten Wirkungsfeldern des Grundsatzes gezeigt haben, aufgreifen. Insofern wird sich die völkerrechtliche Begriffsbildung auch mit den bekannten Unzulänglichkeiten der Begriffsausfiillung in anderen Rechtsbereichen auseinander zu setzen haben.
III. Unterschiede in der nationalen und internationalen Bedeutung Dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz begegnen wir heute in vielen Rechtskreisen und auf den unterschiedlichsten Ebenen der Rechtsordnungen. Im deutschen Recht gilt er nahezu umfassend. Er ist im Zivilrecht und im Strafrecht ebenso zu beachten, wie im Staats- und Verwaltungsrecht. Nahezu das gesamte Staatshandeln ist im Laufe der Zeit unter den Vorbehalt seiner Verhältnismäßigkeit gestellt worden 13. Darüber hinaus ist der von der deutschen Rechtswissenschaft maßgeblich mitgeprägte Grundsatz auch im europäischen Recht nachweisbar. Insbesondere der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 14 und der Europäische GerichtshofS greifen in ihrer Rechtsprechung auf die Verhältnismäßigkeit als Prüfungsmaßstab zurück.
13 Eine Übersicht gibt L. Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981, S. 25 ff.; vgl. auch K. Stern, Zur Entstehung und Ableitung des Übermaßverbots, in: P. Badura / R. Scholz, Wege und Verfahren des Verfassungs lebens, Festschrift fur Peter Lerche zum 65. Geburtstag, 1993, S. 165. 14
Dazu unten B. VII.
15
Dazu unten C. 11.
III. Nationale und internationale Bedeutung
13
Anscheinend dringt er zunehmend auch in die nationale Rechtsprechung einzelner Mitgliedstaaten vor l6 . So wird z. B. das englische Verwaltungshandeln inzwischen nicht nur an den Kontrollstandards der "illegality" und "irrationality", sondern auch am Maßstab der "unreasonableness" gemessen und in diesem Rahmen zunehmend nach der Verhältnismäßigkeit gefragt. Diese Entwicklung stieß allerdings nicht aufuneingeschränkte Zustimmung. So wurde auch in Großbritannien der Einwand erhoben, die Gerichte würden in diesen Fällen nur ihre eigene Beurteilung gegen die Würdigung der an sich zuständigen Exekutive austauschen 17. Der Rückgriff auf vertraute nationale Begriffsinhalte und deren Übertragung auf völkerrechtliche Anwendungsfälle scheidet zwar nicht apriori aus, es ist hierbei jedoch Vorsicht geboten. Denn aus der Verwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in anderen Rechtskreisen folgt noch nicht zwingend, daß damit zugleich die übliche deutsche Dreiteilung verbunden ist. Diese ist - wie zu zeigen sein wird - nicht begriffsimmanent. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, daß im deutschen Schrifttum bislang keine Einigung über eine einheitliche Terminologie erzielt werden konnte. Statt dessen hat die deutsche Rechtswissenschaft hier eine ganz erhebliche Begriffs- und Bedeutungsvielfalt entwickelt. In der Sache werden vor allem zwei Gebote, namentlich das Erforderlichkeitsgebot und das Angemessenheitsgebot, unterschieden 18 • Im Hinblick auf diese Unterscheidung werden auch die Inhalte des völkerrechtlichen Verständnisses zu bestimmen sein.
In den internationalen Vereinbarungen werden ebenfalls keine einheitlichen Begriffe verwendet. Auch hier wird nicht unmittelbar deutlich, wie sich die unterschiedlichen Termini zueinander verhalten l9 • Die englischen Fassungen des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte und der Europäischen Menschemechtskonvention verwenden z. B. den Begriff "nescessary"20. Im 16 Vgl. zum französischen und englischen Recht: S. Heinsohn, Der öffentlichrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Diss. Münster 1997, S. 130 ff. u. 183 ff.; The Rt. Hon. Lord Hoffmann, The Intluence ofthe European Principle ofProportionality upon UK Law, in: E. Ellis (Hrsg.), The Principle ofProportionality in the Laws ofEurope, 1999, S. 107 ff.
17 M Herdegen, Landesbericht Großbritannien, in: J. Abr. Frowein, Die Kontrolldichte bei der gerichtlichen Überprüfung von Handlungen der Verwaltung, 1993, S. 45 ff. m. w. Nw. Vgl. zur Gefahr der Kompetenzüberschreitung durch die Rechtsprechung auch F. G. Jacobs, Recent Developments in the Principle ofProportionality in European Community Law, (ebd.), S. 1 ff. (20).
18
Vgl. unten C. I. 5.
19
Vgl. zur Begriffsvielfalt C. I. 2.
20
V gl. Artt. 12, 18, 19, 21, 22 IPBPR; Artt. 8-11 EMRK.
14
A. Einführung
Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte taucht an mehreren Stellen die Formulierung "excessive in relation" auf l . In der deutschen Fassung dieser Schutzvereinbarungen heißt es entsprechend "in keinem Verhältnis". Auf der allgemeinen Sprachgebrauchsebene wird im englischen fernerhin zwischen "proportional" und "appropriate" unterschieden. Auch aus diesen Begriffen ergibt sich nicht ohne weiteres, ob eine Proportionalitätsprüfung nur die Erforderlichkeit bzw. Notwendigkeit und/oder das Angemessenheitskriterium umfaßt. Wenn aber die verwendeten Begriffe nicht jeweils das gleiche meinen, dann muß bei einer Übertragung aus einem Rechtsgebiet in ein anderes zuallererst Klarheit darüber geschaffen werden, welcher spezifischer Bedeutungsgehalt zugrunde gelegt wird. Insofern ist zu fragen, ob und in welchem Umfang Erkenntnisse aus dem deutschen und/oder dem europäischen Recht Einfluß auf den völkerrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz haben können 22 •
IV. Ziel der Begriffsbestimmung Mit der Ermittlung der Rechtmäßigkeit konkreter Handlungen am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sind erhebliche Auslegungs- und Bewertungsschwierigkeiten verbunden. Dessen Inhalt ist - wie die nähere Betrachtung zeigen wird - alles andere als geklärt. Die nachfolgenden Bemühungen gelten gleichwohl weniger der Verhältnismäßigkeit konkreter völkerrechtlich relevanter Verhaltensweisen einzelner Völkerrechtssubjekte, als vielmehr der Gewinnung von allgemeinen Erkenntnissen, mit Hilfe derer der völkerrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz klarere Konturen erhält. Im Zentrum der Untersuchung stehen daher die üblicherweise zur Konkretisierung des Grundsatzes verwendeten Elemente der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit i. e. S. Es soll aufgezeigt werden, daß der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stets das Erforderlichkeitsgebot umfaßt, nicht aber auch die regelmäßig als Verhältnismäßigkeit i. e. S. bezeichnete Angemessenheit. Diese wird nur in bestimmten Fällen, insbesondere dann wenn es um die Beurteilung von Eingriffen in die Individualfreiheit geht, zum Prüfungsmaßstab.
21 Vgl. Artt. 51 Abs. 5 b); 57 Abs. 2 a) iii) und b) Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (Genfer Abkommen, I. Zusatzprotokoll). 22
Vgl. unten D.
B. Empirische Betrachtung Die auch als allgemeiner ungeschriebener Grundsatz des Völkerrechts' bezeichnete Verhältnismäßigkeit kann in verschiedenen Bereichen des Völkervertragsrechts nachgewiesen werden. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wird - wie bereits eingangs angeführt - nicht nur im ius in bello, sondern unter dem Regime Charta der Vereinten Nationen auch fiir das ius ad bellum herangezogen 2 • Zu den wichtigsten Anwendungsfallen zählen damit vor allem das Selbstverteidigungsrecht, die Repressalie, das humanitäre Völkerrecht sowie der Schutz der Menschenrechte3•
I. Das Recht auf Selbstverteidigung Besondere Relevanz hat der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei der Ausübung des Selbstverteidigungsrechts. Wegen des engen Zusammenhanges mit dem völkerrechtlichen Gewaltverbot, ist dieses miteinzubeziehen. Für die Inhaltsbestimmung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und insbesondere für die Auswahl der heranzuziehenden Prämissen kommt es nämlich auch darauf an, ob das Selbstverteidigungsrecht als ,,Ausnahme vom Gewaltverbot" oder als "natürliches Recht eines jeden Staates" zu qualifizieren ist. Im ersten Fall wird mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eine Ausnahme begrenzt. Dies spricht für eine den Regelfall, mithin das Gewaltverbot erhaltende Auslegung des Grundsatzes. Im zweiten Fall begrenzt er einen Regelfall, was seine restriktive Auslegung nahelegt. Der Unterschied kann daher für die methodologische Betrachtung nicht unberücksichtigt bleiben4 •
I
A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechts Iehre, 1995, S. 680.
2
G. Gardam, Proportionality and force in internationallaw, AJIL 87 (1993), S. 393 ff.
Vgl. die Übersicht bei J Delbrück, Proportionality, in: R. Bernhardt, Encyclopedia of pub1ic internationa11aw, Vol. 3, 1997, S. 1140 ff. J
4
Vgl. dazu noch unten D. III. 2. d).
16
B. Empirische Betrachtung
1. Gründzüge der Entwicklung des Gewaltverbotes
Das heute geltende Gewaltverbot ist das Ergebnis einer in mehreren Schritten verlaufenden Entwicklung. Bis zum Ende des 1. Weltkrieges galt grundsätzlich ein freies Kriegsfiihrungsrecht (liberum ius ad bellum). Gleichwohl wurde die im alten Rom entwickelte Theorie vom "gerechten Krieg" bis in die heutige Zeit hinein in verschiedenen Variationen fortwährend diskutiert. Überragende Bedeutung hat die Theorie im Mittelalter aufgrund der Arbeiten Augustinus und Thomas von Aquin erhalten. Danach ist der "gerechte Krieg" an drei Erfordernisse gebunden: Das Vorhandensein der Ermächtigung durch einen zur Kriegfiihrung ermächtigten Herrscher (auctoritas principis), das Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes (iusta causa) und der richtigen Absicht (reeta intentior Da die Erfordernisse der "iusta causa" und der "recta intentio", mithin die Notwendigkeit, daß der Kriegführende von der Absicht geleitet sein mußte, dem Guten zum Sieg zu verhelfen oder das Böse zu vernichten, religiösen Vorstellungen entsprang, war der "gerechte Krieg" primär das Ergebnis moraltheologischer Betrachtungen 6 • Die Wandlungen der Lehre vom gerechten Krieg führten demgegenüber zu einer Formalisierung und damit zu einer Säkularisierung. In den Vordergrund trat die Beachtung der Regeln über die vorherige Kriegserklärung und die Einhaltung bestimmter Kriegsregeln7 • Modernerem Denken entsprach die Lehre von der Indifferenz des Völkerrechts, wonach die Kriegsfiihrung weder verboten noch erlaubt war. Recht spät, nämlich erst im Jahre 1928, wurde mit dem Briand-Kellogg-Pakt endlich ein allgemeines Verbot eines Angriffskrieges vereinbart. Die Vertragschließenden verurteilten seinerzeit den Krieg als Mittel fiir die Lösung internationaler Streitfälle und verzichteten darauf, ihn als Werkzeug nationaler Politik in ihren gegenseitigen Beziehungen zu verwenden (Art. I). Die Schwäche der Vereinbarung lag darin, daß sie "nur" den Krieg, nicht aber auch andere Formen der Gewalt erfaßte und keine Sanktionsmechanismen enthielt8 •
5 Vgl. dazu K.-H. Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, 1994, § 18 IV.; W G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1984, S. 131 ff. (136). 6
V gl. A. Nussbaum, Geschichte des Völkerrechts, 1960, S. 39 ff. (41).
7
W G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1984, S. 240 ff.
Vgl. H. Weh berg, Beruht das Recht zur Selbstverteidigung auf einer allgemeinen Regel des Völkerrechts?, 1952, S. 5 f.; M Bothe, Friedenssicherung und Kriegsrecht, in: W. GrafVitzthum, Völkerrecht, 2. Aufl. 2001, VIII Rn. 3 ff., S. 606 ff.; A. RandelzhoJer, zu Art. 2 Ziff. 4 Rdnr. 3 ff., in: B. Simma, Charta der Vereinten Nationen, 1991. 8
I. Das Recht auf Selbstverteidigung
17
Nach dem 2. Weltkrieg wurde dann mit Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta das weitergehende heute geltende Gewaltverbot geschaffen9 • Die Vertragsstaaten haben sich hierin verpflichtet, in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates lO gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt zu unterlassen. Historisch betrachtet diente das Gewaltverbot dabei vorrangig der Sicherung des Weltfriedens. Gegenwärtig entspricht es der allgemeinen Überzeugung, daß das Gewaltverbot Bestandteil des ius cogens ist und damit auch außerhalb der Charta Geltung beansprucht. Dies hat wiederum zur Folge, daß es nicht aufregionaler Ebene durch vertragliche Vereinbarungen abbedungen werden kannlI. Die seit dem Inkrafttreten der Charta beobachteten Verstöße gegen das Gewaltverbot ändern hieran nichts. Sofern die Staaten zum Mittel der Gewalt gegriffen haben, haben sie regelmäßig zugleich versucht, diese zu rechtfertigen 12 • 2. Wechselwirkungen zwischen Gewaltverbot und Selbstverteidigung Das Recht auf Selbstverteidigung war - anders als das Gewaltverbot - von früh an als allgemeine Regel des Völkerrechts anerkannt. Diskutiert wurde in erster Linie, ob es sich nur um eine Regel des völkerrechtlichen Gewohnheitsrechts oder auch um ein allgemeines Rechtsprinzip der Kulturstaaten handelt 13 • Da sowohl das Gewaltverbot als auch das Selbstverteidigungsrecht nicht nur eine gewohnheitsrechtliche, sondern auch eine vertragliche Grundlage haben, stellt sich bei bei den das Problem, ob sich ihr jeweiliger Inhalt unabhängig hiervon 9 Vgl. J. Delbrück, Die Effektivität des UN-Gewaltverbotes, Die Friedens-Warte 74 (1999), S. 141 ff. 10 Ob es sich hierbei um eine Einschränkung des Gewaltverbotes handelt, ist umstritten, vgl. K. Hai/bronner, Die Grenzen des völkerrechtlichen Gewaltverbots, in: Schindler / Hailbronner, Die Grenzen des völkerrechtlichen Gewaltverbotes, 1986, S. 56.
11 Vgl. Art. 103 UN-Charta; B. Simma, Die NATO, die UN und militärische Gewaltanwendung: Rechtliche Aspekte, in: R. MerkeI, Der Kosovo-Krieg und das Völkerrecht, 2000, S. 11; A. RandelzhoJer, zu Art. 2 Ziff. 4 Rdnr. 56, in: B. Simrna, Charta der Vereinten Nationen, 1991. 12 Vgl. auch R. Voigtländer, Notwehrrecht und kollektive Verantwortung, 2001, S. 25 f.; M Bothe, Friedenssicherung und Kriegsrecht, in: W. Graf Vitzthum, Völkerrecht, 2. Auft. 2001, VIII Rn. 8, S. 608. 13 Vgl. H. Wehberg, Beruht das Recht zur Selbstverteidigung auf einer allgemeinen Regel des Völkerrechts?, 1952, S. 8 f.
2 Kmgmann
B. Empirische Betrachtung
18
deckt oder ob sich aus der gewohnheitsrechtlichen Anerkennung den Inhalt der Charta übersteigende Rechte oder Pflichten ergeben können l4 • Die in Art. 51 UNCharta gewählte Formulierung: "Diese Charta beeinträchtigt ... keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung" spricht rur die Annahme, daß das Selbstverteidigungsrecht dort nicht abschließend geregelt ist l5 • Gegenüber dem im Briand-Kellogg-Pakt vereinbarten Verbot eines Angriffskrieges beinhaltet das Gewaltverbot einen enormen Fortschritt. Gleichwohl geht dieses heute wohl nicht so weit, daß auch hinter der Anwendung von Waffengewalt zurückbleibende Formen der Gewalt unter das Verbot fallen l6 • Das Phänomen repressiver zwischenstaatlicher Zwangsmaßnahmen, die keine Waffengewalt darstellen, wird derzeit nicht vom allgemeinen Gewaltverbot erfaßt. Auch das Se\bstverteidigungsrecht ist nach Art. 51 UN-Charta ausdrücklich an das Vorliegen eines "bewaffueten Angriffs" (arrned attack) gebunden. Für die Begriffsbestimmung des "bewaffueten Angriffs" hat sich bislang kein allgemeinverbindlicher Konsens herausbilden können. Gleichwohl bleibt festzuhalten, daß das Verbot der ,Androhung oder Anwendung von Gewalt" gegenüber dem "bewaffneten Angriff" der weitere Begriff ist. Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta verbietet zwar auch die Androhung von Gewalt, aber ein Verstoß hiergegen berechtigt den Bedrohten grundsätzlich nicht zur Selbstverteidigung 17. Hinsichtlich des Einsatzes von Waffengewalt decken sich beide Begriffe indes weitgehend. Auf Verhaltensweisen von Staaten, die sich nicht unter den Terminus "bewaffneter Angriff' fassen lassen, kann daher unabhängig davon, welche Folgen sie 14 Vgl. dazu auch IGH, ICJ-Reports 1986, 14 (83 ff.), § 175 ff. - "Nicaragua"; R. Lagoni, Gewaltverbot, Seekriegsrecht und Schiffahrtsfreiheit im Golfkrieg, in: Fürst / Herzog/ Umbach, Festschrift für Wolfgang Zeidler, Bd. 2,1987, S. 1837, Anm. 17. Nach Ansicht von A. RandelzhoJer, zu Art. 2 Ziff. 4 Rdnr. 61, in: B. Simma, Charta der Vereinten Nationen, 1991, ist das gewohnheitsrechtliche Gewaltverbot erheblich enger als das der Charta. Das gewohnheitsrechtliche Gewaltverbot enthalte den Kern des Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta, der nach Substraktion der umstrittenen Randbereiche übrig bleibe.
15 Auf die diesbezüglich im Schrifttum kontrovers geführte Diskussion wird zurückzukommen sein (s. unten D. III. 2. d) bb)). Da Fälle ausschließlicher innerstaatlicher Gewalt weder vom Gewaltverbot der Charta noch vom gewohnheitsrechtlichen Gewaltverbot erfaßt werden (es handelt sich nicht um zwischenstaatliche Konflikte), kann die Beurteilung der Rechtmäßigkeit etwaiger Notwehrhandlungen der Betroffenen grundsätzlich nicht nach internationalem Recht erfolgen. 16 Vgl. zum Streitstand A. RandelzhoJer, zu Art. 2 Ziff. 4 Rdnr. 13 ff., in: B. Simma, Charta der Vereinten Nationen, 1991; K. Ipsen, Völkerrecht, 4. Aufl . 1999, § 59 Rz.12 (H. Fischer). 17
Vgl. zur präventiven Selbstverteidigung sogleich unter II.
I. Das Recht auf Selbstverteidigung
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haben, nicht auf der Grundlage des vertraglichen Selbstverteidigungsrechts reagiert werden. Zu denken wäre hier an alle Formen der Vorstufen eines Krieges, wie z. B. kleinere Schußwechsel an der Landesgrenze oder an Umweltimmissionen, die zu schweren Gesundheitsschäden bei der Bevölkerung fUhren können. Die Suche nach einem Ausweg aus diesem Dilemma kann zur Erweiterung bestehender und/oder zur Schaffung neuer Rechtsgrundlagen der erlaubten Selbsthilfe, aber auch zur Heranziehung internationaler Streitschlichtungsmechanismen fUhren I8 • Dementsprechend wurde im Schrifttum diskutiert, ob die Lücke zwischen Art. 2 Ziff. 4 und Art. 51 UN-Charta als "von der Charta so gewollt" hingenommen werden muß oder zu ihrer Beseitigung die bei den Tatbestände zur Deckung gebracht werden können l9 • Eine Übereinstimmung läßt sich durch eine einschränkende Auslegung des Gewaltverbotes oder durch eine erweiternde Interpretation des Selbstverteidigungsrechtes herstellen. Äußerst umstritten ist der Rückgriff auf ein außerhalb der Charta bestehendes weitergehendes "natürliches Selbstverteidigungsrecht" oder auf eine möglicherweise gewohnheitsrechtlich begründbare ungeschriebene Ausnahme vom Gewaltverbot20 •
3. Die Verhältnismäßigkeit der Selbstverteidigung nach Art. 51 UN-Charta Liegen die übrigen Voraussetzungen von Art. 51 UN-Charta vor, wird das Recht auf Selbstverteidigung im allgemeinen zusätzlich an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden21 • Die Ansicht, Verhältnismäßigkeit und Erforderlichkeit der Notwehrhandlung seien, da der Wortlaut des Notwehrartikels diese nicht enthalte, keine zwingenden Elemente der Selbstverteidigung, konnte sich nicht durchsetzen. Mithin scheint es eine allgemeine Überzeugung dahingehend zu geben, daß das Erforderlichkeitsgebot und die Verhältnismäßigkeit i. e. S. das
18 Vgl. zum Problem ausführlich K. Doehring, Völkerrecht, 1999, Rdnr. 760 ff. und 1037. 19 Vgl. die Zusammenfassung bei A. Randelzhofer, zu Art. 51 Rdnr. 6, in: B. Simma, Charta der Vereinten Nationen, 1991.
20
Vgl. unten D. III. 2. d) bb).
G. Gardam. Proportionality and force in intemationallaw, AJIL 87 (1993), S. 403; A. Randelzhofer, zu Art. 51 Rdnr. 37, in: B. Simma, Charta der Vereinten Nationen, 1991; M Bothe, Friedenssicherung und Kriegsrecht, in: W. GrafVitzthum, Völkerrecht, 2. Aufl. 2001, VIII Rn. 19; M Genoni, Die Notwehr im Völkerrecht, 1987, S. 132; D. Schindler, Die Grenzen des völkerrechtlichen Gewaltverbots, in: Schindler / Hailbronner, Die Grenzen des völkerrechtlichen Gewaltverbotes, 1986, S. 17. 21
2*
20
B. Empirische Betrachtung
völkerrechtliche Selbstverteidigungsrecht begrenzen 22 . Welchen Inhalt diese Begrenzung durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz darüber hinaus im einzelnen hat, ist weitgehend ungeklärt. Angewendet auf das Völkerrecht ergibt sich aus dem deutschen Verständnis des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, daß Maßnahmen zur Selbstverteidigung nicht über das zur Abwehr eines bewaffneten Angriffs erforderliche Maß hinausgehen dürfen. Ausmaß und Mittel der Verteidigungshandlung dürfen dann nicht außer Verhältnis zur Schwere des Angriffs stehen23 • Geboten ist danach eine Güterabwägung zwischen der Wirkung des Verteidigungsmittels und dem mit diesem angestrebten Zweck24 • 4. Die inhaltliche Unbestimmtheit der Verhältnismäßigkeit Die inhaltliche Unbestimmtheit der Verhältnismäßigkeit liegt nicht nur darin begründet, daß sie erst im jeweiligen Anwendungsfall konkretisiert werden muß. Die verwendeten abstrakten Begriffe werfen sowohl im Rahmen der theoretischen, als auch der praktischen Anwendung fundamentale Fragen auf. Wie wird die Erkenntnis gewonnen, wann eine Maßnahme zu weit geht? Welche Mittel sind Verteidigungsmittel? Wie schwer wiegt ein Angriff? Welche Überlegungen soll der das Selbstverteidigungsrecht Ausübende anstellen, wenn er unmittelbar angegriffen wird? Er wird sich vermutlich solange verteidigen, bis er der Meinung ist, seine Sicherheit sei gegeben 25 • Dabei kann nicht unberücksichtigt bleiben, daß die Entscheidung über den Einsatz des richtigen "Mittels" regelmäßig unter hohem Zeitdruck steht. Wenn der Angegriffene die Lage falsch einschätzt, wird man ihm dies nur selten zum Vorwurf machen können. Dies wäre dann der Fall, wenn unzweifelhaft Vergeltungsschläge oder Bestrafungsaktionen nach dem Ende eines Angriffs durchgeführt werden. Im Hinblick auf das Abwägungsgebot drängt sich zudem die Frage auf, welches Gewicht der Umstand haben soll, daß
22 Vgl. IGH, ICJ-Report 1996, 226 (245) - "Nuklearwaffen"; ICJ-Report 1986, 14 (103) Ziff. 194 - "Nicaragua"; M Donner, Die Begrenzung bewaffueter Konflikte durch das moderne jus ad bellum, AVR 33 (1995), S. 169; R. Vogtländer, Notwehrrecht und kollektive Verantwortung, 2001, S. 34 ff. 23 Vgl. T. Bruha / M Bortfeld, Terrorismus und Selbstverteidigung, VN 2001, S. 161 (167);A. RandelzhoJer, zu Art. 51 Rdnr. 37, in: B. Simma, Charta der Vereinten Nationen, 1991; 0. Kimminich / S. Hobe, Einführung in das Völkerrecht, 7. Aufl. 2000, S. 282.
24 So R. Lagoni, Gewaltverbot, Seekriegsrecht und Schiffahrtsfreiheit im Golfkrieg, Festschrift für Wolfgang Zeidler, Bd. 2 1987, S. 1833 (1844).
25 Vgl. dazu auch die Darstellung bei T. Bruha, Die Definition der Aggression, 1980, S. 173 f.
1. Das Recht auf Selbstverteidigung
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der Aggressor das Selbstverteidigungsrecht ausgelöst hat. Verdient dieser überhaupt den Schutz des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes?
a) Verhältnis mäßigkeit des Verteidigungsmittels Die Begrenzung des Selbstverteidigungsrechts durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beinhaltet damit vor allem zwei Kernprobleme. Das erste ergibt sich im Zusammenhang mit der Auswahl der einzusetzenden Waffen. Dürfen diese eine größere Zerstörungskraft haben, als sie für die Abwehr des Angriffs erforderlich ist? Kann z. B. ein begrenzter Nuklearschlag auf einen konventionellen Angriff eines "Nicht-Kernwaffen-Staates" verhältnismäßig sein? Ob die Verteidigungshandlung waffentechnisch stets auf derselben Stufe wie der Angriff stehen muß, ist umstritten 26 • Der Internationale Gerichtshof hat in seinem der Generalversammlung erstatteten Gutachten zur völkerrechtlichen Zulässigkeit von Atomwaffentests im Jahre 199627 die Frage, ob der Einsatz von Nuklearwaffen im Rahmen der Ausübung des Selbstverteidigungsrechts nicht stets unverhältnismäßig ist, offengelassen28 • Ist "Waffengleichheit" nicht geboten, hindert der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch nicht den Einsatz atomarer Waffen als Reaktion auf einen Angriff mit konventionellen Waffen. Der Einsatz von Nuklearwaffen wird vom Schrifttum demgegenüber dann für unzulässig gehalten, wenn der Angriff ohne Gefährdung lebenswichtiger Interessen auch mit Hilfe konventioneller Waffen abgewehrt werden kann29 • Hinter dieser Auslegung verbirgt sich die Prämisse, daß nicht etwa Art, Inhalt und Ausmaß des Angriffs, sondern allein die Wirksamkeit der Verteidigung Bezugsgröße für die Auswahl und Begrenzung des Verteidigungsmittels sein so1l30.
26 Dagegen A. RandelzhoJer, zu Art. 51 Rdnr. 37 , in: B. Simma, Charta der Vereinten Nationen, 1991; a. A. K. Ipsen, Völkerrecht, 4. Aufl. 1999, § 59 Rz. 39 (H. Fischer). 27
IGH, ICJ-Report 1996,226 (244 f.) - "Nuklearwaffen".
Vgl. auch T. Marauhn / K. Oellers-Frahm, Atomwaffen, Völkerrecht und die internationale Gerichtsbarkeit, EuGRZ 1997, S. 221 (233); sowie unten D. III. 2. a). 28
29
G. Dahm, Völkerrecht 11, 1961, S. 417.
In diesem Sinne M Donner, Die Begrenzung bewaffueter Konflikte durch das modeme jus ad bellum, A VR 33 (1995), S. 182. 30
22
B. Empirische Betrachtung
b) Verhältnismäßigkeit der Verteidigungsdauer Das zweite Kernproblem betrifft die Dauer der Verteidigungshandlung. Hierbei ist zwischen dem Wegfall der Voraussetzungen für die Selbstverteidigung und der unverhältnismäßigen Ausdehnung der Verteidigungshandlung zu unterscheiden. Ein anderes Ziel als das der Selbstverteidigung darf schließlich nicht verfolgt werden. Deshalb sollen Vergeltungs- oder Bestrafungsaktionen nicht vom Selbstverteidigungsrecht gedeckt sein 31 • Dennoch bleibt die Frage bestehen, ab welchen Zeitpunkt der Einsatz von Waffengewalt trotz einer noch vorhandenden Selbstverteidigungssituation nicht mehr verhältnismäßig ist.
11. "Präventive Intervention" 1. Die "Präventive Intervention" in der Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten von Amerika Die "Präventive Intervention" stellt einen Sonderfall des Selbstverteidigungsrechts dar, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts erneute Aktualität erhalten hatn . Zu den Reaktionen der Vereinigten Staaten von Amerika auf den gegen sie gerichteten Terroranschlag vom 11 . September 2001 gehörte neben den gegen das Regime der Taliban in Afghanistan ergriffenen Maßnahmen auch die Androhung eines militärischen Angriffs gegen den Irak33 • Die gegen den Irak ausgesprochene Drohung steht im Zusammenhang mit der zuvor entwickelten und im September 2002 verkündeten neuen Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten. Darin heißt es zunächst im Anschluß an allgemeine Zielformulierungen: "To achieve these goals, the United States will :... strengthen alliances to defeat global terrorism and work to prevent attacks against us and our friends ...,,34.
31 G. Dahm. Völkerrecht II, 1961 , S. 417; K. Ipsen, Völkerrecht, 4. Aufl. 1999, § 59 Rz. 39 (H. Fischer). 32 Der Interventionsbegriff ist inhaltlich offen und dementsprechend umstritten, vgl. J Isensee, Weltpolizei für Menschenrechte, 1Z 1995, S. 421 (423 f.) ; G. Zimmer, Rechtsdurchsetzung (Law Enforcement) zum Schutz humanitärer Gemeinschaftsgüter, 1998, S. 36 ff.
33 Vgl. auch D. Murswiek, Die amerikanische Präventivkriegsstrategie und das Völkerrecht, NJW 2003, S. 1014 ff. 34
The National Security Strategy ofthe United States of America, 2002, I. S. 1.
II. "Präventive Intervention"
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Diese Vorgabe wird im dritten Teil weiter ausgefUhrt: "We will disrupt and destroy terrorist organizations by: ... defending the United States, the American people, and our interests at horne and abroad by identifying and destroying the threat be fore it reaches our borders. While the Uni ted States will constantly strive to enlist the support ofthe international community, we will not hesitate to act alone, if necessary, to exercise our right of self-defense by acting preemptively against such terrorists, to prevent them from doing harm against OUT people an our country .. .',]5.
Damit beanspruchen die Vereinigten Staaten ein präventives Selbstverteidigungsrecht, das ihnen ihrer Ansicht nach eine von den Beschlüssen der Vereinten Nationen unabhängige "präventive" bzw. "defensive"36 Intervention gestattet. Ein Angriff auf den Irak ist danach als Akt einer präventiven Selbstverteidigung gerechtfertigt37 .
2. Rechtliche Grundlagen der "Präventiven Intervention" Die Erwägung, daß es Situationen geben kann, in denen es einem Staat nicht zuzumuten ist, einen Angriff abzuwarten, bevor er seinerseits im Rahmen des Selbstverteidigungsrechts Gewalt anwenden darf, ist nicht neu. Vor allem seit der Äußerung des amerikanischen Secretary of State Webster im Caroline-Fall aus dem Jahre 1837 "in which the necessity of self-defense is instant, overwhelming and leaving no choice of means, and no moment for deliberation"38 wird die Problematik diskutiert. Kündigt ein Staat einem anderen Staat den Einsatz von Massenvemichtungswaffen an, wird dieser mit seinen Verteidigungsmaßnahmen nicht darauf warten, bis der Angriff tatsächlich erfolgt ist. Es liegt daher nahe, diesem das Recht zur Abwehr dieser Bedrohung einzuräumen. Die Gegner der präventiven Selbstverteidigung verweisen demgegenüber darauf, daß diese sehr mißbrauchsanfallig sei und letztendlich die in Art. 51 UNCharta vorgenommene Begrenzung des Selbstverteidigungsrechts aushöhlen würde 39 . Das eigentliche Problem liegt daher in der Aufstellung von verläßlichen 35
Ebenda S. 6.
36 Vgl. dazu die Pressemitteilungen von L. Rühl, "Defensive Intervention", Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 19.06.2002, S. 12; R. Müller, Präventive Selbstverteidigung?, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 30.10.2002, S. 12. J7 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 24.07.2002, S. 2: "Rumsfeld: AngritTaufden Irak wäre Selbstverteidigung".
38 J B. Moore, A Digest ofInternational Law, Vol. II, 1906, S. 409 tT. (412). 39 Vgl. zum Streit K. Ipsen, Völkerrecht, 4. Aufl. 1999, § 59 Rz. 29 f. (H. Fischer); A.
RandelzhoJer, zu Art. 51 Rdnr. 34, in: B. Simma, Charta der Vereinten Nationen, 1991.
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B. Empirische Betrachtung
Kriterien, die eine Abgrenzung der rechtmäßigen von der rechtswidrigen Selbstverteidigung ermöglichen. Nur wenn sich nachprüfbare Kriterien finden lassen, die den Mißbrauch weitgehend ausschließen und verhindern, daß ein anderes Ziel als die Abwehr einer unmittelbaren Gefahr verfolgt wird, kann die Zulässigkeit einer präventiven Selbstverteidigung erwogen werden. Da der Wortlaut von Art. 51 UN-Charta insoweit eindeutig einen "bewaffneten Angriff' voraussetzt, kann eine Bedrohungslage allein nicht ausreichen, der Angriff muß bereits eingesetzt haben oder zumindest unmittelbar bevorstehen40 • Mithin kann die präventive Selbstverteidigung ihre Grundlage nur im der Charta vorausgehenden Völkergewohnheitsrecht finden. Ob neben dem Selbstverteidigungsrecht aus Art. 51 UN-Charta ein weitergehendes gewohnheitsrechtliches Selbstverteidigungsrecht besteht, ist - wie bereits oben (11. 1. b)) erwähnt umstritten. Unter der Prämisse, daß Art. 51 in dieser Hinsicht abschließend ist, kann eine präventive Selbstverteidigung in keinem Fall rechtmäßig sein. Ein bedrohter Staat könnte sich nur an die Vereinten Nationen wenden und diese um Schutz bitten. Dann kann der Sicherheitsrat eine Friedensbedrohung feststellen und entsprechende Maßnahmen nach Kapitel VII beschließen (Art. 39 UN-Char-
tat·
Dementsprechend wurde im Ausgangsfall auf Drängen einiger europäischer Verbündeter der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit der Angelegenheit befaßt. Dieser hat mit seiner Resolution 1441 vom 8. November 2002 auf das Verhalten des Iraks reagiert. In der Nichtbefolgung der früheren Resolutionen des Rates sowie der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und Langstreckenflugkörpern durch den Irak sah der Sicherheitsrat eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit. Auf der Grundlage von Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen wurde der Irak sodann verpflichtet, die bestehenden Resolutionen zu erfiillen und sich einer umfassenden Kontrolle seiner Waffenproduktion zu unterwerfen. Der Exekutivvorsitzende der eingesetzten Überwachungs-, Verifikations- und Inspektionskommission der Vereinten Nationen (UNMOVIC) und der Generaldirektor der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) wurden angewiesen, im Falle einer Verletzung der Pflichten, dem Rat Bericht zu erstatten (Ziff. 11). Weitere Maßnahmen gegen den Irak sollten erst nach dem Eingang entsprechen-
40 A. Randelzhofer, zu Art. 51 Rdnr. 34, in: B. Simma, Charta der Vereinten Nationen, 1991; D. Murswiek, Die amerikanische Präventivkriegsstrategie und das Völkerrecht, NJW 2003, S. 1017. 4\ Vgl. zum Sicherheitsrat sogleich unter V.
II. "Präventive Intervention"
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der Berichte und im Anschluß an eine weitere Beratung im Rat beschlossen werden (Ziff. 12). Damit war zum damaligen Zeitpunkt die Grundlage für die Berufung auf das Selbstverteidigungsrecht praktisch entfallen. Aufgrund der in Art. 51 UN-Charta enthaltenen Subsidiaritätsklausel ist - ungeachtet des Streites um die Reichweite des Selbstverteidigungsrechts - ein Rückgriff auf das Selbstverteidigungsrecht der Charta grundsätzlich ausgeschlossen. Aber auch die Heranziehung eines weitergehenden gewohnheitsrechtlich anerkannten Selbstverteidigungsrechts scheidet praktisch aus. Solange sich die Waffeninspektoren im Irak aufhielten, wäre die Vorbereitung eines Angriffskriegs im Irak gegen die Vereinigten Staaten sofort entdeckt worden, so daß eben solche nicht zu erwarten waren42 • 3. Die Verhältnismäßigkeit der "Präventiven Intervention"
Wer eine "Präventive Intervention" als besonders gelagerten Fall des Selbstverteidigungsrechts für zulässig erachtet, muß hierfür adäquate Voraussetzungen benennen. Zu diesen Voraussetzungen könnte auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zählen. Die typischen ihm anhaftenden offenen Fragen und Probleme wurden soeben im Zusammenhang mit dem allgemeinen Selbstverteidigungsrecht erörtert43 • Hinzu treten einige Besonderheiten, die sich aus der zeitlichen Vorverlegung des Selbstschutzes ergeben. Da es sich um einen Sonderfall handelt, mithin die präventive Selbstverteidigung Ausnahmecharakter hat, spricht dieser Umstand dafür, der Prüfung der Verhältnismäßigkeit besonders strenge Maßstäbe zugrunde zulegen. Für den Fall, daß ein Angriff unmittelbar bevorsteht, gilt es, die zur Abwehr geeigneten Mittel auszuwählen. Wenn Ausmaß und Umfang des Angriffs aber nicht bekannt sind, was der Regelfall sein dürfte, dann muß der Angegriffene bei seinen Verteidigungsüberlegungen von unterschiedlichen Szenarien mit variierender Angriffsintensität ausgehen. Besitzt der einen Angriff vorbereitende Staat Massenvernichtungswaffen und ist mit deren Einsatz zu rechnen, wäre nur eine extensive Selbstverteidigung "geeignet", mithin die völlige Zerschlagung des Bedrohungspotentials. Ob diese im Einzelfall wirklich erforderlich ist, entzieht sich aber einer zuverlässigen Prognose.
42 Darauf weist zu recht C. Tomuschat, Der Sicherheitsrat ist gestärkt, Frankfurter Allgemeine Zeitung (F.A.Z.) v. 11.11.2002, S. 12, hin. 43 B. I. 4.
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B. Empirische Betrachtung
Welche Wirkung das Erforderlichkeitsgebot auf die Auswahl alternativer Maßnahmen hat, die die Bedrohung abwenden könnten, ist ebenfalls ungeklärt. Auch über die Angemessenheit der Reaktionsmaßnahmen läßt sich nur wenig vorhersagen, da der Umfang und die Auswirkungen des abzuwehrenden Angriffs kawn oder gar nicht bekannt sind. Möglicherweise führt die Heranziehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes stets zur Annahme, daß eine "Präventive Intervention" praktisch in jedem Falle unzulässig ist. Aber auch dann, wenn ein ,,neutraler Beobachter" eine Unvereinbarkeit mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz annehmen müßte, bleibt es dabei, daß die Beurteilung dessen, was im Rahmen einer "Präventiven Intervention" noch verhältnismäßig ist, allein dem Verantwortungsbereich des sich "Verteidigenden" unterfällt. So kann dieser jeden Angriffskrieg als verhältnismäßigen und damit gerechten "Präventivkrieg" ausgeben. Gleichwohl bleibt die Abgrenzung von Bedeutung, da gegen die rechtmäßige Selbstverteidigung keine Selbstverteidigung zulässig sein kann.
III. "Humanitäre Intervention" Der Begriff der "Hwnanitären Intervention" ist insbesondere im Zusammenhang mit dem Einsatz internationaler militärischer Verbände im ehemaligen Jugoslawien zu einem vielfach verwendeten Terminus geworden. Die Entscheidung der Bundesrepublik Deutschland, die Bundeswehr im Kosovokrieg einzusetzen, hat zu einer anhaltenden kontroversen Diskussion über die Legalität oder auch nur die Legitimität dieser "Hwnanitären Intervention" geführt. Die Befiirworter einer solchen "Gewaltanwendung aus hwnanitären Gründen" haben dabei eine Vielzahl von unterschiedlichen Rechtfertigungsmodellen entwickelt44 •
44 Vgl. aus dem breiten Spektrum der Veröffentlichungen z. B.: J Delbrück, Die Effektivität des UN-Gewaltverbotes, Die Friedens-Warte 74 (1999), S. 139 ff.; K. Ipsen , Der Kosovo-Einsatz - Illegal? Gerechtfertigt? Entschuldbar?, Die Friedens-Warte 74 (1999), S. 19 ff.; D. Thürer, Der Kosovo-Konflikt im Lichte des Völkerrechts: Von dreiechten und scheinbaren - Dilemmata, AVR 2000, S. 1 ff.; C. Tomuschat, Völkerrechtliche Aspekte des Kosovo-Konfliktes, Die Friedens-Warte 74 (1999), S. 33 ff.; H. Wilms, Der Kosovo-Einsatz und das Völkerrecht, ZRP 1999, S. 227 ff. Vertreter der Gegenansicht sind z. B.: M Bothe / B. Martenczuk, Die NATO und die Vereinten Nationen nach dem Kosovo-Konflikt, VN 1999, S. 125 ff.; E. Denninger, Menschenrechte, Menschenwürde und staatliche Souveränität, ZRP 2000, S. 192 ff.; W Hummer / J Mayr-Singer, Der Kosovo-Krieg vor dem internationalen Gerichtshof, Neue Justiz 2000, S. 113 ff.; B. Simma, Die NATO, die UN und militärische Gewaltanwendung: Rechtliche Aspekte, in: R. Merkei, Der Kosovo-Krieg und das Völkerrecht, 2000, S. 9 ff. Vgl. Zu den grundsätzlichen Bedenken insbesondere G. Zimmer, Rechtsdurchsetzung (Law Enforcement) zum Schutz humanitärer Gemeinschaftsgüter, 1998, S. I ff.
III. "Humanitäre Intervention"
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Auf die damit verbundenen Probleme wird zurückzukommen sein45 • Hervorzuheben ist an dieser Stelle lediglich der Umstand, daß es unterschiedliche Auffassungen vom Gegenstand und vor allem von den Voraussetzungen einer "Humanitären Intervention" gibt. Um eine "Humanitäre Intervention" handelt es sich nämlich auch dann, wenn der Sicherheitsrat Maßnahmen nach Kapitel VII der Charta zum Schutze von Menschenrechten beschließt. Dies ist ein vertraglich vorgesehener Gewalteinsatz46 • Nachfolgend soll die Terminologie "Humanitäre Intervention" nur für Formen zwischenstaatlicher Gewaltanwendung zur Verwirklichung humanitärer Ziele ohne Mandat der Vereinten Nationen stehen. Da diese vom völkerrechtlichen Gewaltverbot abweichen, bedarf es hierfür einer besonderen Rechtfertigung. Unter denjenigen Autoren, die sich um die Aufstellung von Kriterien bemühen, deren Erfiillung die Anwendung bewaffneter Gewalt ausnahmsweise auch außerhalb des Regelwerks der Charta der Vereinten Nationen gestatten, finden sich einige, die neben anderen Voraussetzungen auch die Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes verlangen. Im Rahmen des von Daniel Thürer entworfenen Begründungsmodells muß die Intervention zunächst zum Schutz der von ihm genannten internationalen Fundamentalwerte geeignet sein. Vorrang sollen alle traditionellen Methoden der diplomatischen und politischen Streitregelung haben. Diese müssen entweder ausgeschöpft sein oder sich als offensichtlich aussichtslos erwiesen haben. Erst danach könne die Gewaltanwendung als "ultima ratio" gerechtfertigt sein. Und schließlich müssen die zu schützenden Werte schwerer wiegen als die durch die Aktion allenfalls gefährdeten, wobei auch langfristige Risiken für die Autorität und Stabilität der internationalen Rechtsordnung insgesamt mit ins Kalkül zu ziehen seien47 • In ähnlicher Weise bindet Jost Delbrück die "humanitäre Nothilfe" an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Diese sei erst nach Erschöpfung anderer geeigneter Maßnahmen zum Schutze der bedrohten Menschen als letztes Mittel zulässig. Sie sei nur dann gerechtfertigt, wenn sie in Zielsetzung und Durchfiihrung strikt auf das humanitäre Anliegen begrenzt bleibt, und sie müsse sich an das humanitäre Völkerrecht und insbesondere an das Proportionalitätsprinzip halten 48 • 45
Unten D. III. 3. d).
46
Vgl. auch K. Ipsen, Völkerrecht, 4. Aufl. 1999, § 59 Rz. 26 (H. Fischer).
47 D. Thürer, Der Kosovo-Konflikt im Lichte des Völkerrechts: Von drei - echten und scheinbaren - Dilemmata, A VR 2000, S. 8. 48 J Delbrück, Die Effektivität des UN-Gewaltverbotes, Die Friedens-Warte 74 (1999), S. 152 f. AuchH. Wilms, Der Kosovo-Einsatz und das Völkerrecht, ZRP 1999, S. 230 und
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B. Empirische Betrachtung
Auf welcher rechtlichen Grundlage die Heranziehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfolgt, bleibt zunächst unklar. Da es keinen Totalvorbehalt der Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht gibt49 , muß ihre Geltung für den konkreten Anwendungsbereich begründet werden. Soweit Überschneidungen mit anderen Bereichen des Völkerrechts bestehen, in denen die Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes anerkannt ist, ergeben sich keine Besonderheiten. Maßgebend ist der dort ermittelte Inhalt. Eine darüber hinausgehende Begründung kann sich daher nur aus der Rechtfertigung der Gewaltanwendung jenseits des positiven Rechts ergeben. Methodologisch betrachtet handelt es sich um eine Begrenzung der Reichweite des neu geschaffenen Tatbestandes zulässiger Gewaltanwendung. D. h. Maßnahmen, die auf diesen neuen Tatbestand gestützt werden, sind nur rechtmäßig, wenn sie auch verhältnismäßig sind. Die Einhaltung der Verhältnismäßigkeit ist insofern integraler Bestandteil der Definition der "Humanitären Intervention". Wer ihre Voraussetzungen definiert, kann auch den Inhalt der Verhältnismäßigkeit bestimmen. Dazu zählt vor allem die Entscheidung darüber, ob nur das Erforderlichkeitspostulat oder auch das Abwägungsgebot zu beachten ist. Während das Verbot einer unnötigen Gewaltausübung naheliegt, führt das Abwägungsgebot wiederum zu den bekannten, bereits vorangehend angesprochenen offenen Folgeproblemen.
IV. Repressalien Die Repressalie zählt ebenfalls zu den traditionellen Mitteln der Selbsthilfe im Völkerrecht. Mit der Repressalie, die selbst einen völkerrechtswidrigen Akt darstellt, wird auf einen vorausgegangenen Völkerrechtsbruch eines anderen Staates reagiert. Liegen die Voraussetzungen für das Ergreifen einer Repressalie vor, ist es dem verletzten Völkerrechtssubjekt gestattet, die Verbindlichkeit einer zwischen ihm und dem anderen Subjekt bestehenden Völkerrechtsnorm zu suspendieren. Da die zulässige Repressalie rechtmäßig ist, ist gegen sie keine Gegenrepressalie erlaubt50 •
E. Klein, Keine innere Angelegenheit, Frankfurter Allgemeine Zeitung (F.A.Z.) v. 21.06.1999, S. 15, haben sich fiir die Begrenzung militärischer Maßnahmen durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ausgesprochen. 49 Vgl. oben Einführung A. II. so P. Malanczuk, Zur Repressalie im Entwurf der International Law Commission zur Staatenverantwortlichkeit, ZaöRV 45 (1985), S. 296.
IV. Repressalien
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Während die Retorsion als unfreundliche, aber nicht rechtswidrige Maßnahme nicht verhältnismäßig sein muß, ist die Selbsthilfe in Gestalt einer Repressalie nach allgemeiner Auffassung zumindest seit Mitte des letzten Jahrhunderts SI an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden s2 • Die frühere Unterscheidung zwischen der Anwendung der Repressalie als Kriegsersatz im Friedenszustand und als Mittel zum Übergang in den "totalen Krieg" im Kriegszustand S3 , ist durch die Charta der Vereinten Nationen obsolet geworden. Da die Repressalie bereits durch das allgemeine völkerrechtliche Gewaltverbot begrenzt wird, ist die Anwendung bewaffneter Gewalt als "Repressalie" bereits deswegen unzulässig S4 • Der Übergang von der Friedensrepressalie zur Gewalt würde einen Verstoß gegen das zwingende Gewaltverbot beinhalten. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wird daher nicht mehr in gleicher Weise benötigt, um der Gefahr der Eskalation zu begegnen.
1. Abgrenzungsprobleme In welcher Weise sich der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unterhalb der Schwelle der Verletzung des Gewaltverbotes nunmehr auf die Friedensrepressalie auswirkt, konnte bislang nicht abschließend geklärt werden. Fest steht insoweit nur, daß die Repressalie zu be enden ist, wenn sie ihr Ziel erreicht hat Ss • Das hat ebenfalls zu gelten, wenn das Ziel nicht erreichbar oder die begehrte Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes unmöglich ist. Umstritten ist, ob mit Hilfe einer Repressalie auch Strafzwecke verfolgt werden dürfen. Da sich im Einzelfall der Strafzweck nicht immer mit der nötigen Exaktheit vom anerkannten Wiedergutmachungszweck trennen läßt, kann es zu Überschneidungen und Abgrenzungsschwierigkeiten kommen s6 •
51
B. Dzida, Zum Recht der Repressalie im heutigen Völkerrecht, 1997, S. 185.
52 0. Kimminich / S. Habe, Einfiihrung in das Völkerrecht, 7. Aufl. 2000, S. 228; A. Bleckmann, Gedanken zur Repressalie, in: I. v. Münch, Staatsrecht-VölkerrechtEuroparecht, Festschrift fiir Hans-Jürgen Schlochauer zum 75 . Geburtstag, 1981, S. 209 ff. 53
W. G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1984, S. 733 ff.
54 A. RandelzhoJer, zu Art. SI Rdnr. 14, in: B. Simma, Charta der Vereinten Nationen, 1991; K. Ipsen, Völkerrecht, 4. Aufl. 1999, § 59 Rz. 48 (H . Fischer); B. Dzida, Zum Recht der Repressalie im heutigen Völkerrecht, 1997, S. 197 ff. 55
K. Ipsen, Völkerrecht, 4. Aufl. 1999, § 59 Rz. 45 (H. Fischer).
56 Vgl. dazu ausführlich B. Dzida, Zum Recht der Repressalie im heutigen Völkerrecht, 1997, S. 78 ff. (80).
30
B. Empirische Betrachtung
Darüber hinaus wirft der Versuch einer Abgrenzung von "verhältnismäßigen" und "unverhältnismäßigen" Repressalien erhebliche Probleme aufi 7 • Erleichternd wirkt der Umstand, daß anders als beim Selbstverteidigungsrecht bei einer Repressalie meist ein längerer Zeitraum zur Verfügung steht, in dem nach einer verhältnismäßigen Maßnahme gesucht werden kann. Da die Auswahl der als Repressalie dienenden Maßnahme regelmäßig der alleinigen Entscheidungsverantwortung des agierenden Staates obliegt, wird der eine Verletzung seiner Rechte Rügende auch hier zum Richter in eigener Sache und muß das Maß der Verhältnismäßigkeit selbst bestimmen58 • Nicht ausgeschlossen ist, daß eine konkrete Maßnahme zwar nicht geeignet gewesen ist, sie aber dennoch nicht "unverhältnismäßig" war. So etwa, wenn ein Staat eine nach objektiven Kriterien verhältnismäßige Maßnahme ergriffen hat, aber der von dieser Repressalie Betroffene entweder überhaupt nicht reagiert hat oder er zwar künftig seinerseits die Rechtsverletzung unterläßt, sich aber weigert, den alten rechtmäßigen Zustand wiederherzustellen 59 • Wie weit darf der Geschädigte dann gehen und inwieweit ist bei der Bewertung der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen, daß schließlich der Schädiger der Auslöser des Streites ist? Gilt hier nur das Gebot der Erforderlichkeit, so können die Maßnahmen ohne Rücksicht auf die Interessen des "Gegners" in ihrer Intensität gesteigert werden, bis der beabsichtigte Erfolg eintritt. Da dieser die ursprüngliche Rechtsverletzung uneingeschränkt zu vertreten und es regelmäßig in der Hand hat, seine Rechtsverletzung einzustellen bzw. den vorherigen Zustand wiederherzustellen, kann auch die Ansicht vertreten werden, das Abwägungsgebot spiele hier keine Rolle und müsse deshalb außer Betracht bleiben. 2. Verhältnismäßigkeit als Schadensvergleich?
Schließlich könnte das Gebot zur Beachtung der Verhältnismäßigkeit die Relation zwischen dem Schaden, der bereits eingetreten und dem Schaden, der
57 Vgl. zur Kritik auch A. Bleckmann, Gedanken zur Repressalie, in: L v. Münch, Staatsrecht-Völkerrecht-Europarecht, Festschrift fiir Hans-Jürgen Schlochauer zum 75. Geburtstag, 1981, S. 210. 58 V gl. dazu auch P. Malanczuk, Zur Repressalie im Entwurf der International Law Commission zur Staatenverantwortlichkeit, ZaöRV 45 (1985), S. 297; A. Bleckmann, Gedanken zur Repressalie, in: Lv. Münch, Staatsrecht-Völkerrecht-Europarecht, Festschrift fiir Hans-Jürgen Schlochauer zum 75. Geburtstag, 1981, S. 213.
59
Vgl. dazu auch K. Döhring, Völkerrecht, 1999, § 21 II Rn. 1033.
IV. Repressalien
31
beim "Gegner" zu erwarten ist, meinen. Danach darf dem "Rechtsbrecher" im Ergebnis nicht mehr Schaden zugefügt werden, als dieser selbst verursacht hat60 • Ein so verstandener Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der auf die Beeinträchtigung und nicht auf die Zielerreichung abstellt, unterscheidet sich erheblich vom nationalen Verständnis der Verhältnismäßigkeit61 • Unter diesem Vorzeichen käme es also nicht darauf an, ob die konkrete Repressalie eine tatsächliche Wirkung hat, sondern auf eine Bewertung der wechselseitigen Mißachtung der Rechtspositionen. Gestattet die Repressalie die Nichtbefolgung des Völkerrechts deshalb, weil der verletzte Staat im Wege der Selbsthilfe seine Rechte durchsetzen darf und sich zugleich für die Einhaltung der objektiven Rechtsordnung einsetzt, kommt es demgegenüber entscheidend darauf an, ob die reaktive Rechtsverletzung hierzu geeignet und erforderlich ist62 • Der Unterschied zeigt sich im Zusammenhang mit der Retorsion. Bei abstrakter Betrachtung ist die Retorsion, die lediglich rechtmäßige, wenn auch unfreundliche Maßnahmen gestattet, gegenüber der Rechtsverletzung durch die Repressalie das "mildere Mittel". Im konkreten Fall können Retorsionen demgegenüber sehr viel härtere Wirkungen haben. Die Streichung von Entwicklungshilfegeldern kann großen Schaden bei den Betroffenen anrichten, aber dennoch aus anderen Gründen wirkungslos bleiben. Sie kann aber gerade deshalb auch wirkungsvoller als eine Repressalie sein63 • Die Beendigung wichtiger Entwicklungshilfeleistungen kann einen schweren Schaden anrichten, aber zugleich das einzige Mittel zur Wiederherstellung der objektiven Rechtsordnung sein.
60 M Schröder, Verantwortlichkeit, Völkerstrafrecht, Streitbeilegung und Sanktionen, in: W. GrafVitzthum, Völkerrecht, 2. Aufl. 2001, VII V 3 a). Rn. 111.
61 A. Bleckmann, Gedanken zur Repressalie, in: Lv. Münch, Staatsrecht-VölkerrechtEuroparecht, Festschrift tUr Hans-Jürgen Schlochauer zum 75. Geburtstag, 1981, S. 209.
62 HieraufstelltA. Bleckmann, Gedanken zur Repressalie, in: I. v. Münch, StaatsrechtVölkerrecht- Europarecht, Festschrift tUr Hans-Jürgen Schlochauer zum 75. Geburtstag, 1981, S. 210 und 211 ab. Unklar bleibt, warum er zuerst den völkerrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz durch den nationalen ersetzen will, letzteren aber auf die Bestandteile der Eignung und Erforderlichkeit reduziert. 63 Vgl. dazu auch A. Bleckmann, Gedanken zur Repressalie, in: I. v. Münch, Staatsrecht- Völkerrecht- Europarecht, Festschrift fiir Hans-Jürgen Schlochauer zum 75. Geburtstag,198l,S.2l2.
32
B. Empirische Betrachtung
v. Maßnahmen des Sicherheitsrates zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit 1. Befugnisse des Sicherheitsrates Um ein schnelles und wirksames Handeln der Vereinten Nationen zu gewährleisten, haben ihre Mitglieder dem Sicherheitsrat die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit übertragen (Art. 24 UN-Charta). Die zur Erfüllung dieser Aufgabe notwendigen Befugnisse finden sich im wesentlichen in den Kapiteln VI, VII, VIII und XII der Charta. Während Kapitel VI zunächst die Befugnisse des Sicherheitsrates zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten beinhaltet, folgen in Kapitel VII die Grundlagen für Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen. Gemäß Art. 33 UN-Charta sind zunächst die Parteien einer Streitigkeit, deren Fortdauer geeignet ist, die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu gefahrden, verpflichtet, diese durch geeignete Mittel friedlich beizulegen. Der Sicherheitsrat kann, sofern er dies für notwendig hält, die Parteien hierzu auffordern. Voraussetzung für das Ergreifen von Maßnahmen nach Kapitel VII ist nach Art. 39 UN-Charta die Feststellung des Sicherheitsrates, daß eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt. Der Inhalt der auf der Tatbestandsseite enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffe ("Bruch des Friedens", "Friedensbedrohung", ,,Angriffshandlung"), ist bislang weitgehend offen geblieben. Die Entscheidung darüber, ob eine Bedrohung des Friedens vorliegt, eröffuet damit dem Sicherheitsrat einen großen Beurteilungsspielraum64 • Aber auch dann, wenn der Sicherheitsrat die Voraussetzungen des objektiven Tatbestandes bejaht hat, liegt es in seinem Ermessen, ob und welche Maßnahmen er gegen wen beschließt. Er hat dann die Wahl zwischen der Abgabe von Empfehlungen und dem Beschluß gewaltloser aber auch militärischer Sanktionen (vgl. Art. 41 und Art. 42 UN-Charta). Fernerhin wählt er den Adressaten seiner Maßnahme aus, ohne daß es dabei auf eine Rechtsverletzung durch diesen ankommt. Die Maßnahmen müssen aber der Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit dienen. Der Sicherheitsrat kann gegebenenfalls regionale Abmachungen oder Einrichtungen, die sich ebenfalls die 64 Vgl. J. Arntz, Der Begriff der Friedensbedrohung in Satzung und Praxis der Vereinten Nationen, 1975, S. 18 ff.; J. Abr. Frowein, zu Art. 39 Rdnr. 9 ff., in: B. Simma, Charta der Vereinten Nationen, 1991; B. Lorinser, Bindende Resolutionen des Sicherheitsrates, 1996, S. 40 ff.; sowie die nicht bindende Aggressionsdefinition der Generalversammlung vom 14. Dezember 1974 (Res. 3314).
V. Maßnahmen des Sicherheitsrates
33
Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zur Aufgabe gemacht haben, zur Durchführung von Zwangsmaßnahmen unter seiner Autorität in Anspruch nehmen, sofern deren Wirken mit den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen vereinbar ist (Art. 52 und 53 UN-Charta). Der Vorrang gewaltloser gegenüber militärischer Sanktionen ergibt sich dabei bereits aus dem Wortlaut von Art. 42 UN-Charta: "Ist der Sicherheitsrat der Auffassung, daß die in Artikel 41 vorgesehenen Maßnahmen unzulänglich sein würden oder sich als unzulänglich erwiesen haben, so kann er mit Luft-, See- oder Landstreitkräften die zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen durchfUhren". Das Prinzip des milderen Mittels ist hier ausdrücklich angeordnet worden.
2. Kein "Gewaltmonopol" des Sicherheitsrates Im Zusammenhang mit den Aufgaben und Befugnissen des Sicherheitsrates ist gelegentlich die Rede vom "Gewaltmonopol der Vereinten Nationen"65. Die Bezeichnung des in der Charta enthaltenen Instrumentariums zur Beendigung von Verstößen gegen das Gewaltverbot sollte vor dem Hintergrund, daß der Terminus "Gewaltmonopol" innerstaatlich eine ganz andere Bedeutung hat, vermieden werden. Das innerstaatliche Gewaltmonopol66 ist nicht mit der Aufgabe des Sicherheitsrates vergleichbar67 . Innerstaatlich ist dem Bürger die private Gewaltanwendung grundsätzlich versagt. An ihre Stelle ist die staatliche Gewalt getreten, die im Rechtsstaat eng begrenzt ist. Der Staat muß zum Ausgleich für das umfassende Verbot privater Gewalt sein Gewaltmonopol sichern und durchsetzen. Er kann nur dann in legitimer Weise dem Bürger die Selbsthilfe verbieten, wenn er ihm zum Ausgleich einen Anspruch aufRechtsdurchsetzung verleiht. Die Schutzpflicht des Staates gleicht die dem Bürger auferlegte Friedenspflicht aus68 . 65 So z. B. bei R. Voigtländer, Notwehrrecht und kollektive Verantwortung, 2001, S. 141; S. Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, 1992, S. 214; einschränkend T. Bruha / M Krajewsld, Funktionswandel des Sicherheitsrats als Verfassungsproblem, VN 1998, S. 17 "prinzipielles Gewaltmonopol" . 66 Vgl. dazu J. Isensee, Staat und Verfassung, in: J. Isensee / P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts I, 1987, § 13 Rdnr. 74 ff.; D. Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, 1975, S. 29 ff.
67 So auch M Bothe, Friedensicherung und Kriegsrecht, in: W. Graf Vitzthum, Völkerrecht, 2. Aufl. 200 I, VIII Rn I, S. 606; zuvor jedoch inkonsequent in: M Bothe / B. Martenczuk, Die NATO und die Vereinten Nationen nach dem Kosovo-Konflikt, VN 1999, S. 129.
68 J. Isensee, Staat und Verfassung, in: 1. Isensee / P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts 1,1987, § 13 Rdnr. 82. 3 Krugmann
34
B. Empirische Betrachtung
Diese Wechselbeziehung der beiderseitigen Verpflichtung ist zentraler Bestandteil des innerstaatlichen Gewaltmonopols. Eine vergleichbare Beziehung zwischen den Staaten und dem Sicherheitsrat bzw. den Vereinten Nationen existiert derzeit nicht. Die Tätigkeit des Internationalen Gerichtshofs ist nicht mit der innerstaatlichen Rechtsprechung vergleichbar. Thr Umfang reicht fiir die Annahme eines Gewaltmonopols nicht aus 69 • Weder hat sich ein Weltstaat herausgebildet, noch ein Anspruch der Staaten auf ein Tätigwerden der Organe der Vereinten Nationen. Da der Sicherheitsrat kein Gewaltmonopol besitzt, kann er dieses auch nicht durch Untätigkeit gefährden. Denjenigen, die geneigt sind, zur Begründung eines Gewaltmonopols die künftige Schaffung eines Weltstaates trotz der bestehenden und unüberbrückbar scheinenden tiefgreifenden Gegensätze zwischen den Staaten zu befiirworten, sei an dieser Stelle lediglich ein Zitat aus Immanuel Kants Schrift ,,zum ewigen Frieden" entgegengehalten, das vor der damit verbundenen Gefahr eines Despotismus "auf dem Kirchhofe der Freiheit" warnt: "Die Idee des Völkerrechts setzt die Absonderung vieler von einander unabhängiger benachbarter Staaten voraus; und obgleich ein solcher Zustand an sich schon ein Zustand des Krieges ist (wenn nicht eine föderative Vereinigung derselben dem Ausbruch der Feindseligkeiten vorbeugt): so ist doch selbst dieser, nach der Vernunft idee, besser als die Zusammenschmelzung derselben, durch eine die andere überwachsende und in eine Universalmonarchie übergehende Macht, weil die Gesetze mit dem vergrößerten Umfange der Regierung immer mehr an ihrem Nachdruck einbüßen, und ein seelenloser Despotismus, nachdem er die Keime des Guten ausgerottet hat, zuletzt doch in Anarchie verfällt,,70.
3. Verhältnismäßigkeit als Ermessensbindung? Ob und in welchem Umfang der Sicherheitsrat von seinen Befugnissen Gebrauch macht, liegt in seinem Ermessen, das wie aufgezeigt, nicht durch die aus einem Gewaltmonopol folgende Verpflichtung zur Rechtsdurchsetzung beeinflußt 69 Der IGH ist gemäß Art. 36 Abs. I seines Statuts nur zuständig, wenn die Parteien ihm die Rechtssache unterbreiten. Haben sie dies getan, kann der Sicherheitsrat nach Maßgabe von Art. 94 Abs. 2 UN-Charta allerdings "Maßnahmen beschließen, um dem Urteil Wirksamkeit zu verschaffen". Vgl. dazu auch T. Bruha / M Krajewski, Funktionswandel des Sicherheitsrats als Verfassungsproblem, VN 1998, S. 18. 70 I. Kant, Zum ewigen Frieden, Akademie-Ausgabe 1912, Bd. VIII S. 367; vgl. aus dem Schrifttum der Gegenwart S. Defer, Internationale Organisation oder Weltföderation?, in: H. Brunkhorst / M. Kettner, Globalisierung und Demokratie, 2000, S. 213 ff.
V. Maßnahmen des Sicherheitsrates
35
wird. Sein Ermessen kann dennoch in Anlehnung an die Terminologie des deutschen Verwaltungsrechts als Entschließungs- und Auswahlermessen gekennzeichnet werden. Überall dort, wo ein Ermessen betätigt wird, kann dem Entscheidenden bei der Ausübung des Ermessens ein Fehler unterlaufen. Zu den Fehlern, die im deutschen Recht regelmäßig zur Rechtswidrigkeit von Ermessensentscheidungen fUhren, zählt vor allem die Mißachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes 71 • Zur Frage, welche Bedeutung und welchen Inhalt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Zusammenhang mit den Entscheidungen des Sicherheitsrates hat, hat sich bislang noch keine einheitliche Überzeugung herausgebildet. Immerhin wird im Schrifttum vereinzelt die Verhältnismäßigkeit als Schranke des Handlungsspielraumes des Sicherheitsrates genannt 72 • Ungeachtet der Probleme, die sich im Hinblick auf die Geltendmachung eines Fehlers des Sicherheitsrates ergeben, soll im folgenden zunächst davon ausgegangen werden, daß die Ermessensbetätigung des Sicherheitsrates an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden ist. Weitgehend unproblematisch ist hierbei die Bindung an das Erforderlichkeitsgebot. Die Anwendung militärischer Mittel kann deshalb nur als ultima ratio in Betracht kommen 73 • Unter der Prämisse, daß der Sicherheitsrat darüber hinaus auch an das Abwägungsgebot gebunden sein soll, ergeben sich einige fundamentale Fragestellungen. Von entscheidender Bedeutung ist zunächst die Bestimmung deIjenigen Güter und Inhalte, die fiir den Abwägungsvorgang in Betracht kommen sollen. Diese können rechtlicher, politischer aber auch wirtschaftlicher Art sein. Verfolgt der Sicherheitsrat mehrere Ziele, so kann er deren Gewicht losgelöst vom konkreten Anlaß abstrakt oder aber konkret ermitteln. Wie soll er sich entscheiden, wenn er den Erhalt des zwischenstaatlichen Friedens mit der Verletzung von innerstaatlichen Menschenrechten abwägen muß? Welches Gewicht haben jeweils der Weltfriede und die Menschenrechte und was wiegt gegebenenfalls schwerer? Wie verhält sich eine abstrakte Gefahr fiir den Weltfrieden zu einer konkreten Verletzung von Menschenrechten? Kann eine Gefährdung des Weltfriedens überhaupt durch andere Güter aufgewogen werden? In welchem Umfang dürfen faktische und/oder politische Rücksichten in die Abwägung einbezogen werden? Gibt es Erwägungen, von denen sich der Sicherheitsrat nicht leiten lassen darf?
71
Vgl. H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2000, § 7 Rdnr. 23.
72 G. Dahm, Völkerrecht II, 1960, S. 394; J Abr. Frowein, zu Art. 42 Rdnr. 11, in: B. Simma, Charta der Vereinten Nationen, 1991; J Delbrück, Staatliche Souveränität und die neue Rolle des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, VRÜ 1993, S. 20.
73
1*
G. Dahm, Völkerrecht II, 1960, S. 394.
B. Empirische Betrachtung
36
Die in tatsächlicher Hinsicht wohl gewichtigste Frage knüpft an den Umstand an, daß der Sicherheitsrat in der Vergangenheit oftmals auch dann untätig geblieben ist, wenn die objektiven Voraussetzungen für das Ergreifen von Maßnahmen nach Kapitel VII der Charta vorlagen. Kann es sich unter noch zu bestimmenden Voraussetzungen um einen Abwägungsfehler handeln, wenn der Sicherheitsrat keine Maßnahmen ergreift, obwohl eine Gefährdung oder ein Bruch des Friedens vorliegt? Läßt sich hier der in der deutschen Rechtswissenschaft für den Fall der gänzlichen oder teil weisen Untätigkeit nationaler öffentlicher Gewalt entwickelte Gedanke eines Untermaßverbotes als Gegensatz zum Übermaßverbot auf das Ermessen des Sicherheitsrates übertragen, obwohl der Sicherheitsrat kein Gewaltmonopol hat?74
VI. Humanitäres Völkerrecht Das humanitäre Völkerrecht dient dem Schutz der von internationalen bewaffneten Konflikten betroffenen Menschen. Da das Gewaltverbot allein bislang nicht in der Lage war, eben diese auch tatsächlich zu verhindern, haben die Regeln über die Kriegsfiihrung ihre volle Berechtigung behalten. Solange gegen das Gewaltverbot verstoßen wird, kann auf die Errungenschaften des humanitären Völkerrechts nicht verzichtet werden 75 . Die beiden bedeutendsten Kodifikationen des humanitären Völkerrechts bilden das sogenannte "Haager Recht" und das "Genfer Recht"76. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wird hierin entweder konkret angeführt oder aber der ihm zugrundeliegende Gedanke herangezogen. In materieller Hinsicht hat das Gebot insbesondere in Art. 23 Haager Landkriegsordnung (HLKO) seinen Niederschlag gefunden. Dieser enthält u.a. für die Kriegsfiihrung ein Verbot des Gebrauches von Waffen, Geschossen oder Stoffen, die geeignet sind, unnötig Leiden zu verursachen 77. Ausdrücklich wird in der deutschen Fassung von Art. 57 Abs. 2 a) und b) des
1. Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen von 1949 auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Bezug genommen. Wer einen Angriff plant oder beschließt, hat 74
Vgl. dazu unten D. III. 3. e).
75 Vgl. 0. Kimminich / S. Hobe, Einfiihrung in das Völkerrecht, 2000, S. 439 ff.; K. Ipsen, Völkerrecht, 4. Aufl. 1999, § 63 S. 1039.
76
Vgl. die Darstellung bei K. Ipsen, Völkerrecht, 4. Aufl. 1999, § 63 Rz. 1 ff.
Art. 23 e) Haager Landkriegsordnung (HLKO); vgl. auch Art. 35 Abs. 2 Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffueter Konflikte (Genfer Abkommen, I. Zusatzprotokoll). 77
VI. Humanitäres Völkerrecht
37
danach von jedem Angriff Abstand zu nehmen, bei dem damit zu rechnen ist, daß er auch Verluste unter der Zivilbevölkerung ... verursacht, die in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen78 • Entsprechendes gilt fiir die Einstellung und Beendigung des Angriffs 79 • Die praktische Umsetzung ist hierbei besonders problematisch. Im Anwendungsfall müssen die Erfordernisse einer schnellen Umsetzung des militärischen Zieles, die Schonung der eigenen Soldaten und der Schutz der Zivilbevölkerung miteinander in Einklang gebracht werden. Hier besteht die Gefahr, daß die militärisch Verantwortlichen ihrem Ziel auch dann Vorrang verleihen, wenn dies "unverhältnismäßig" ist. Die Disproportionalität muß nicht vorsätzlich entstehen, sie kann auch auf einer Fehleinschätzung beruhen und unerkannt bleiben80 • Mit einer Fehleinschätzung ist vermehrt dann zu rechnen, wenn die Entscheidung unter großem Zeitdruck getroffen werden muß. Abgrenzungsschwierigkeiten entstehen, wenn beim Einsatz von Waffengewalt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Beschränkung des Selbstverteidigungsrechts Geltung beansprucht und er zugleich aufgrund der Anwendung des humanitären Völkerrechts den bewaffneten Konflikt regelt!l, seine Subsumtion aber zu unterschiedlichen Ergebnissen fUhrt, weil ihm jeweils andere Ziele oder Prüfungsmaßstäbe zugrunde gelegt werden. So ist der Fall denkbar, daß rur die Selbstverteidigung ein höheres Maß der Gewalt erforderlich ist, als es nach den Grundsätzen des humanitären Völkerrechts erlaubt wäre. Wie ist zu entscheiden, wenn der Einsatz von Nuklearwaffen als verhältnismäßige Selbstverteidigungshandlung gerechtfertigt ist, diese aber gegen die Grundsätze des humanitären Völkerrechts verstößt? Wird das Selbstverteidigungsrecht vom Kriegsvölkerrecht begrenzt oder befreit das Recht auf Selbstverteidigung von den Bindungen anderer völkerrechtlicher Gebote 82 ? 78 Art. 57 Abs. 2 a) Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (Genfer Abkommen, I. Zusatzprotokoll).
79 Art. 57 Abs. 2 b) Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (Genfer Abkommen, I. Zusatzprotokoll). V gl. auch Art. 51 Abs. 5 b) ebenda. 80
409. 81
Vgl. G. Gardam, Proportionality and force in internationallaw, AJIL 87 (1993), S. Vgl. Dazu auch K. Ipsen, Völkerrecht, 4. Aufl. 1999, § 59 Rz. 40 (H. Fischer).
82 Vgl. dazu auch T. Marauhn / K. Oel/ers-Frahm, Atomwaffen, Völkerrecht und die internationale Gerichtsbarkeit, EuGRZ 1997, S. 221(234/235), die den Widerspruch dahingehend auflösen wollen, "daß man den Gesichtspunkt des Überlebens des Staates in das kriegsrechtliche Verhältnismäßigkeitsurteil einbezieht", sowie unten D. IIl. 2. b).
38
B. Empirische Betrachtung
VII. Individualrechtsschutz Im Bereich des Individualrechtsschutzes gebieten insbesondere der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) sowie die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. In die in den Artt. 12, 18, 19, 21und 22 IPBPR enthaltenen Rechte darf nur eingegriffen werden, soweit dies zum Schutz der im einzelnen jeweils genannten Zwecke "erforderlich" bzw. "notwendig" ist83 • Der Wortlaut deutet zunächst auf eine auf den Zweck des Eingriffs bezogene Erforderlichkeitsprüfung, so daß eine darüber hinausgehende Güterabwägung nicht zwingend ist84 • Auch für die Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention soll der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gelten 85 , wobei hier ebenfalls nicht ohne weiteres erkennbar ist, aus welchen Bestandteilen sich dieser zusammensetzt. Nach dem Wortlaut der Charta in den Artikeln 8-11 kommt es für die Einschränkung der dort genannten Rechte auf deren Notwendigkeit an. Erfreulicherweise wurden die Zwecke - ebenso wie im IPBPR - aufgrund derer ein Eingriff vorgenommen werden darf, unmittelbar in der jeweiligen Schrankenregelung aufgenommen. Nur soweit der Eingriff zur Zweckerreichung notwendig ist, darf in die in den Artikeln 8-11 EMRK garantierten Freiheiten eingegriffen werden. Der Begriff der "Notwendigkeit" deutet zunächst wiederum auf eine "Erforderlichkeitsprüfung" hin. Sofern es ein "milderes Mittel" gibt, ist der Eingriff nicht ,,notwendig". Da auch im Einzelfall "Unzumutbares" zur Zweckerreichung "notwendig" sein kann, schließt die "Notwendigkeit" nicht zwingend die Verhältnismäßigkeit i. e. S. bzw. das Abwägungsgebot ein. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verwendet demgegenüber die auch aus dem deutschen Recht bekannte Formel, wonach der Eingriff in einem angemessenen Verhältnis zu dem damit verfolgten legitimen Zweck stehen muß 86 • 83 Auch Art. 4 IPBPR und Art. 4 IPWSR nehmen Bezug auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. 84 Für eine Güterabwägung anscheinend G. Nowak, UNO-Pakt über bürgerliche und politische Rechte und Fakultativprotokoll, CCPR-Kommentar, 1989, Art. 12 Rn. 33; Art.
19 Rn. 37; Art. 22 Rn. 21.
8S Vgl. J Abr. Frowein l W. Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 1996, Vorbemerkung zu Art. 8-11, Rn. 16 f.
86 Vgl. z. B. EGMR, Urt. v. 26. April 1979 - Times Newspaper Ud u.a. gegen Vereinigtes Königreich, abgedruckt in: EuGRZ 1979, 386 (389); Urt. v. 25 . März 1985Nr. 10/1983/66/101, abgedruckt in: EuGRZ 1985, 170 (174 f.); Urt. v. 18. Februar 1991 Nr. 31/1989/191/291, abgedruckt in: EuGRZ 1993,552 (554); Urt. v. 26. September 1995 - Nr. 7/1994/454/535, abgedruckt in: EuGRZ 1995,590 (597,599).
VIII. Zwischenergebnis
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VIII. Zwischenergebnis Die vorstehende Skizzierung der wesentlichen Anwendungsfalle des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Völkerrecht genügt, um aufzuzeigen, daß sich eine allgemein anerkannte Dogmatik bislang nicht herausgebildet hat. Zu konstatieren ist ferner, daß nicht alle völkerrechtlich relevanten Verhaltensweisen unter dem Vorbehalt ihrer Verhältnismäßigkeit stehen. In den dargelegten Anwendungsfallen wird der Grundsatz sodann mit unterschiedlichen Inhalten verknüpft. Die Spezifika des Völkerrechts, zu denen insbesondere der Umstand zählt, daß die völkerrechtlichen Rechtsschutzsysteme bislang nur schwach ausgebildet sind und es deshalb nur wenige Gerichtsverfahren mit bindenden Urteilen gibt, erschweren die Herausbildung allgemein verbindlicher Begriffsinhalte. Das unspezifische Postulat, Maßnahmen der Selbsthilfe müßten dem Gebot der Verhältnismäßigkeit entsprechen, erscheint nur bei einer abstrakten Betrachtung plausibel. Eine nähere Analyse zeigt demgegenüber, daß nicht nur die Reichweiten des Gewaltverbotes und des Selbstverteidigungsrechtes umstritten sind, sondern auch die Wirkung, die der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Zusammenhang mit dem Gewaltverbot haben soll, weitgehend unbestimmt ist. Die mit den Schlagworten "Präventive Intervention" und "Humanitäre Intervention" verbundenen Bemühungen, das Gewaltverbot zurückzudrängen, könnten ihrerseits durch die Heranziehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatz begrenzt werden. Soweit mit Hilfe der Verhältnismäßigkeit einer Erosion des Gewaltverbotes erfolgreich entgegengewirkt werden kann, würde ihr eine wichtige friedenserhaltende Funktion zukommen. Anhand konkreter Fragestellungen werden die Schwierigkeiten einer sinnvollen Bestimmung des Inhaltes des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes deutlich. Das Gebot kann sich auf die Erforderlichkeit einer Maßnahme, aber auch auf ihre Angemessenheit beziehen. Der Bewertung einer Maßnahme kann sie selbst oder aber ihre Wirkung zugrunde gelegt werden. Ungeklärt ist z. B. wie zu entscheiden wäre, wenn zwar eine Maßnahme erforderlich und aus der Sicht eines neutralen Beobachters fiir sich genommen auch angemessen ist, sie aber gleichwohl unangemessene Folgen fiir den Betroffenen auslöst? Soll der objektive oder ein subjektiver Maßstab zugrundegelegt werden? Erschwerend kommt hinzu, daß die Beteiligten bei der Auswahl der Waffen, dem Umfang und der Intensität der Selbstverteidigungsmaßnahmen oder der Repressalien regelmäßig Richter in eigener Sache sind und ihre Entscheidungen häufig unter Zeitdruck entstehen. Faktisch kann das Gebot der Verhältnismäßigkeit hier am Ende kaum mehr als nur eine appellierende Funktion übernehmen.
40
8. Empirische Betrachtung
Unter Zugrundelegung der im deutschen Verwaltungsrecht zum Ermessen entwickelten Grundannahmen ist auch eine Bindung des Sicherheitsrates an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit denkbar. Die Mißachtung der Verhältnismäßigkeit durch den Sicherheitsrat stellt unter dieser Prämisse einen Ermessensfehler dar, der zur Rechtswidrigkeit einer Maßnahme fUhren kann. Weitaus bestimmter ist demgegenüber die Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Zusammenhang mit dem Individualrechtsschutz. Im Krieg soll das humanitäre Völkerrecht den Einzelnen vor übermäßigen Kriegshandlungen schützen. In Friedenszeiten ist es Aufgabe der Menschenrechte, übermäßige Freiheitseingriffe zu verhindern. Klärungsbedürftig ist auch hier, ob das Abwägungsgebot neben das Gebot der Erforderlichkeit tritt. Im Schrifttum besteht anscheinend nur in bezug auf die grundsätzliche Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eine gewisse Übereinstimmung. Dies gilt nicht hinsichtlich seines Inhaltes. Positivrechtlich nachweisbar sind immerhin Bindungen an das Erforderlichkeitsgebot. Ob und wann ein völkerrechtlich relevantes Handeln darüber hinaus an das Abwägungsgebot gebunden ist, ist bislang nicht überzeugend dargetan worden. Damit ist offen, in welchem Umfang auch Völkerrechtssubjekte die Verwirklichung eigener Interessen mit den Interessen anderer abzuwägen haben und gegebenenfalls auch auf ein an sich "erforderliches Mittel" verzichten müssen. Hierauf wird nach der sich anschließenden rechtsvergleichenden Erörterung des deutschen Staatsrechts und des europäischen Gemeinschaftsrechts im vierten Teil zurückzukommen sein.
C. Rechtsvergleichende Betrachtung I. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im deutschen Staatsrecht Der Inhalt des im vorliegenden Zusammenhang besonders interessierenden öffentlich-rechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes konnte im deutschen Recht bislang nicht abschließend bestimmt werden 1. So unumstritten seine prinzipielle Geltung auch ist, umso vielfältiger sind die Bemühungen, diesen Begriff mit Inhalt zu rullen und über ihn allgemeingültige Aussagen zu treffen. Ein Rückzug auf die Feststellung, sein Inhalt ergebe sich jeweils im konkreten Anwendungsfall, kann vor dem Hintergrund seiner zunehmenden internationalen Bedeutung nicht zufriedenstelIen. Da ihm seine Schwächen auf seinem Siegeszug durch die unterschiedlichsten Rechtsbereiche anhaften, kann dieser nicht uneingeschränkt begrüßt werden. Nachfolgend sollen deshalb die bedeutendsten offenen Fragen und Probleme, die sich aus dem bisherigen Stand der Diskussion ergeben, kurz zusammengefaßt werden.
1. Ursprung und Ableitung
Aufschluß über den Inhalt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes könnte zunächst die Suche nach seinem Ursprung bzw. seiner Ableitung geben. Die Herkunft des Verhältnismäßigkeitsgedankens läßt sich indes nicht ohne weiteres ausmachen. Die Antwort auf die Frage nach dem "Urheber" hängt davon ab, ob nach dem hinter dem Grundsatz stehenden Gedanken, nach seinem Begriff oder nach seinen einzelnen Elementen gesucht wird.
1 Vgl. etwa R. v. Krauss, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1955; P. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961; E. Grabitz, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 98 (1973); B. Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, 1976; L. Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981; G. Ress, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im deutschen Recht, in: Deutsche Sektion der Internationalen Juristen-Kommission, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in europäischen Rechtsordnungen, 1985; R. K. Albrecht, Zumutbarkeit als Verfassungsmaßstab, 1995;W. Leisner, Der Abwägungsstaat, 1997.
C. Rechtsvergleichende Betrachtung
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a) Philosophischer Ursprung Eine frühe philosophische Begrundung der Verhältnismäßigkeit kann den Ausführungen Aristoteles' zur Billigkeit entnommen werden. In seiner Nikomachischen Ethik befindet sich die Grundlegung für eine gesetzeskorrigierende Heranziehung der Verhältnismäßigkeit: "Recht und Billigkeit sind also einerlei, und obschon beide trefflich und gut sind, so ist doch die Billigkeit das Bessere. Die Schwierigkeit rührt nur daher, daß das Billige zwar ein Recht ist, aber nicht im Sinne des gesetzlichen Rechts, sondern als eine Korrektur desselben. Das hat darin seinen Grund, daß jedes Gesetz allgemein ist und bei manchen Dingen richtige Bestimmungen durch ein allgemeines Gesetz sich nicht geben lassen ... Wenn demnach das Gesetz allgemein spricht, aber in concreto ein Fall eintritt, der in der allgemeinen Bestimmung nicht einbegriffen ist, so ist es, insofern der Gesetzgeber diesen Fall außer acht läßt und, allgemein sprechend, gefehlt hat, richtig gehandelt, das Versäumte zu verbessern, wie es auch der Gesetzgeber selbst, wenn er den Fall vor sich hätte, tun, und wenn er ihn gewußt hätte, es im Gesetz bestimmt haben würde"2.
Ausgangspunkt der Überlegungen von Aristoteles war zunächst die Unzulänglichkeit des Gesetzes. Die Korrektur erfolgt im Einzelfall durch den Richter, der mit Hilfe der Billigkeit das Gesetz ergänzt. Damit ist die Billigkeitskorrektur im Grunde ein Anwendungsfall der rechtsfortbildenden Lückenfiillung im Interesse der Herstellung von materieller Gerechtigkeit. Dem Werk Aristoteles können mit IngolfPernice drei Kriterien für die Zulässigkeit der Billigkeitskorrektur entnommen werden. Dazu zählen der Wille bzw. die Wertung des Gesetzgebers, der allgemeine Maßstab der proportionalen Gleichheit und das Gebot der Rücksichtnahme als Mißbrauchsverboe. Dabei geht es aber nicht um eine "Korrektur des Gesetzes als solchen, sondern um eine dem Sinn des Gesetzes entsprechende, an materielle Gleichheit und Verhältnismäßigkeit gebundene Anwendung der Norm im besonderen Einzelfall"4. Der Zusammenhang von Billigkeit und Verhältnismäßigkeit ist im Grunde durch Aristoteles zum festen Bestandteil der rechtswissenschaftlichen Forschung worden5 • Die Gefahren, die mit einer "gesetzeskorrigierenden" Billigkeitsrechtsprechung einhergehen, sind weitgehend bekannt6• In der Korrektur des Gesetzes aufgrund 2Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1137b (10/20), herausgegeben von G. Bien, 1972; vgl. dazu auch K. Adomeit, Rechts- und Staatsphilosophie, Bd. 1, 2. Aufl. 1992, S. 110 f.
31. Pernice, Billigkeit und Härteklauseln im öffentlichen Recht, 1991, S. 34 ff. 41. Pernice. Billigkeit und Härteklauseln im öffentlichen Recht, 1991, S. 38. 5
I. Pernice, Billigkeit und Härteklauseln im öffentlichen Recht, 1991, S. 476 ff.
Vgl. zur Kritik insbesondere W. Leisner. "Abwägung überall" - Gefahr fiir den Rechtsstaat, NJW 1997, S. 636 ff.; ders., Der Abwägungsstaat, 1997, S. 14 ff./39 ff. 6
1. Verhältnismäßigkeit im deutschen Staatsrecht
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von Billigkeits-, mithin Verhältnismäßigkeitsüberlegungen liegt immer auch ein Stück Desavouierung des Gesetzgebers. Führen der Gesetzesgehorsam des Richters und der Anspruch des Bürgers auf Einzelfallgerechtigkeit zu unterschiedlichen Ergebnissen, gilt es zu klären, unter welchen Bedingungen ein nach den anerkannten Methoden aus dem Gesetz abgeleitetes Ergebnis unter Berufung auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in Frage gestellt werden darf. Aus der damit verbundenen Grundproblematik sei hier nur auf folgendes hingewiesen. In allen Fällen, in denen nicht das Gesetz den Einzelfall unbillig erfaßt, und der Rechtsanwender dennoch einen "Fehler des Gesetzes" korrigiert, überschreitet er seine Kompetenzen, wenn er seine individuelle Billigkeitsentscheidung an die Stelle des Gesetzes setzt. Dabei handelt es sich letztlich um das allgemeine Problem der Grenzen der richterlichen Rechtsgestaltung. Mit dem Hinweis auf die Unzulänglichkeit des allgemeinen Gesetzes bei gleichzeitiger Heranziehung des Abwägungsgebotes kann auch ein gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz verstoßendes gesetzeskorrigierendes Richterrecht verschleiert werden. b) Polizeirechtliche Entwicklung
Im Zentrum der begrifflichen Spurensuche steht die Rechtsentwicklung in Preußen. Im Preußischen Allgemeinen Landrecht hatte der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vor allem die Aufgabe, polizeiliche Handlungsbefugnisse zu beschränken. Das Preußische Oberverwaltungsgericht kannte bereits die heute verwendeten Elemente der Verhältnismäßigkeit, verlangte jedoch zunächst nur die "Erforderlichkeit" polizeilicher Eingriffe 7 • Später findet sich zumindest im Hinblick auf die Ermittlung dessen, was als "erforderlich" zu gelten hat, ein ergänzender Hinweis auf eine Interessengegenüberstellung: "Was dagegen das polizeiliche Vorgehen, wie es hier stattgefunden hat, unzulässig macht, ist die Außerachtsetzung der gewerblichen Interessen des Klägers. Hierfiir kommt es nicht darauf an, zu untersuchen, ob die Behauptung des Klägers richtig ist, daß ihm, nach der besonderen Lage seines Betriebs, durch die polizeiliche Auflage ungewöhnlich große Opfer zugemutet worden seien. Von dergleichen mehr zufälligen Umständen ist die Rechtsbeständigkeit der Verfügung nicht abhängig. Vielmehr erweist sich der geschehene Eingriff in die gewerblichen Interessen des Klägers fiir jeden Fall als zu weit gehend. Die Polizei darf nur die zur Erfüllung ihrer Aufgaben nötigen Beschränkungen bestehender Rechte vornehmen .... Jedoch befreite dieser Umstand die Polizeibehörde nicht von der Verpflichtung, die gewerblichen Interessen des Klägers, deren Schädigung keinesfalls ausgeschlossen war, bei ihrem Vorgehen mit 7 Vgl. Urt. v. 10. April 1886, PrOVG 13,424 (425 f.); Urt. v. 21. September 1903, PrOVG 41,342 (343).
c. Rechtsvergleichende Betrachtung
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in Betracht zu ziehen und sie gegen die von ihr selbst wahrzunehmenden Interessen der Allgemeinheit abzuwägen. Nur so ließen sich die zur Erreichung des polizeilichen Zweckes nötigen Maßnahmen ermitteln"s.
Nach § 41 des Preußischen PolizeivelWaltungsgesetzes vom 1. Juni 1931 waren Maßnahmen der Polizei indes nur am Maßstab der Erforderlichkeit zu messen: ,,(1) Polizeiliche Verfügungen sind, sofern sie nicht auf Grund einer Polizeiverordnung oder eines besonderen Gesetzes erlassen werden, nur gültig, soweit sie zur Beseitigung einer Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung oder zur Abwehr einer im einzelnen Falle bevorstehenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung erforderlich sind. (2) Kommen zur Beseitigung einer Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung oder zur wirksamen Abwehr einer polizeilichen Gefahr mehrere Mittel in Betracht, so genügt es, wenn die Polizei behörde eines dieser Mittel bestimmt. Dabei ist tunlichst das den Betroffenen und die Allgemeinheit am wenigsten beeinträchtigende Mittel zu wählen ... ".
Im übrigen lassen sich die Ursprünge der einzelnen Elemente des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht mit letzter Gewißheit benennen. Auch im 18. und 19. Jahrhundert finden sich Spuren der Begriffe der "Geeignetheit" und der "Erforderlichkeit"9. Die Verhältnismäßigkeit i. e. S. entwickelte sich im Anschluß daran im 20. Jahrhundert1o • Als Abwägungsgebot kennen wir sie eigentlich erst seit Mitte des 21. Jahrhunderts 11.
c) Verfassungsrechtliche Ableitung Seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes greift der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit immer mehr Platz. Er ist inzwischen zu einem Vorbehalt fiir nahezu das gesamte Staatshandeln geworden. Gleichwohl ist die Ableitung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes umstritten. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 1965 dem Grundsatz verfassungsrechtlichen Rang zugewiesen: S
Vgl. Urt. v. 27. Mai 1907, PrOVG 51, 284 (288 f.).
S. Heinsohn, Der öffentlichrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Diss. Münster 1997, S. 14 ff. 9
10 S. Heinsohn, Der öffentlichrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Diss. Münster 1997, S. 57 ff.
11 S. Heinsohn, Der öffentlichrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Diss. Münster 1997, S. 61 ff.; L. Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981, S. 14; F. Ossenbühl, Maßhalten mit dem Übermaßverbot, in: P. Badura / R. Scho1z, Wege und Verfahren des Verfassungslebens, Festschrift für Peter Lerche zum 65. Geburtstag, 1993, S. 152 f.
l. Verhältnismäßigkeit im deutschen Staatsrecht
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"Er ergibt sich aus dem Rechtsstaatsprinzip, im Grunde bereits aus dem Wesen der Grundrechte selbst, die als Ausspruch des allgemeinen Freiheitsanspruchs des Bürgers gegenüber dem Staat von der öffentlichen Gewalt jeweils nur so weit beschränkt werden dürfen, als es zum Schutz öffentlicher Interessen unerläßlich ist,,12.
Sowohl die auf der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beruhende übliche Ableitung aus dem Rechtsstaatsprinzip als auch aus den Grundrechten selbst, wird nicht ohne Grund kritisiert. Einerseits ist das im Grundgesetz angelegte Rechtsstaatsprinzip wenig aussagekräftig, andererseits gibt der Wortlaut der Grundrechte diesbezüglich wenig her. Insoweit ist nicht verwunderlich, daß weitere Ableitungsvorschläge im Schrifttum diskutiert werden l3 • Dazu zählt insbesondere die Ableitung aus der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG l4 • Die verfassungsrechtliche Ableitung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist deshalb von Bedeutung, weil sie Einfluß auf die Reichweite des Grundsatzes haben kann ls . Wird er nur auf die Grundrechte gestützt, so wäre seine Geltung außerhalb des Anwendungsbereichs der Grundrechte zweifelhaft und müßte anderweitig begründet werden. Es sollen hier aber weder die Ableitung noch die verschiedenen Stationen der Entwicklung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Vordergrund stehen, sondern vielmehr seine Verbreitung, die trotz der mit ihm verbundenen ungeklärten Fragen, anscheinend sehr erfolgreich ist und kaum mehr aufhaltbar scheint. Dieser "Siegeszug" wurde vom Schrifttum bereits im Hinblick auf den europäischen Rechtskreis kritisch konstatiert l6 • Die Anerkennung und Prüfung des Grundsatzes innerhalb des europäischen Gemeinschaftsrechts durch den Europäischen Gerichtshof wird im allgemeinen auf den deutschen Einfluß zurückgefUhrt l7 • An dieser Stelle sei klargestellt, daß sich die Kritik nicht pauschal gegen jedwede Heranziehung richtet. Sie wendet sich vielmehr gegen die damit verbundene begriffliche und inhaltliche Unbestimmtheit. Je offener und unklarer der Inhalt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist, desto eher kann er als Einfallstor 12
BVerfGE 19,342 (348 f.).
13 Eine Übersicht gibt z. B. A. v. Arnauld, Die normtheoretische Begründung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, JZ 2000, S. 276 ff. 14 Vgl. dazu noch unten D. 11. 3.
15 Vgl. B. Schlink, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, in: BaduralDreier, Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht 11, 2001, S. 447. 16 Vgl. F. Ossenbühl, Abwägung im Verfassungs recht, in: W. Erbguth u.a., Abwägung im Recht, 1996, S. 26.
17 Vgl. S. Heinsohn, Der öffentlichrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Diss. Münster 1997, S. 105 ff. Zunehmend finden sich auch französische und britische Gerichtsentscheidungen, die sich auf den Grundsatz berufen (ebd. S. 130 ff.; 183 ff.).
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C. Rechtsvergleichende Betrachtung
für richterliche Willkür auf der Grundlage subjektiven Gerechtigkeitsdenkens mißbraucht werden. Dies ist vor allem dann zu bedenken, wenn der Grundsatz ins Völkerrecht übertragen wird oder werden soll.
2. Begriffsvielfalt Angesichts der allgemeinen Anerkennung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erstaunt die begriffliche Vielfalt, die jenseits der grundsätzlichen Zustimmung beobachtbar ist. Diese Vielfalt der Tenninologie ist zu beklagen, da die fehlende Einheitlichkeit dazu fiihren kann, daß nicht erkennbar wird, welcher Inhalt dem jeweiligen Begriff im Einzelfall zugrundegelegt wird. Aus der häufig anzutreffenden Unterscheidung der Verhältnismäßigkeit i. w. S. und der Verhältnismäßigkeit i. e. S. folgt eine erhebliche Begriffsunsicherheit, wenn die Verwendung nur des Tenninus ohne Zusatz erfolgt. Schon früh wurde deshalb vorgeschlagen, den Grundsatz der Erforderlichkeit vom Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu unterscheiden J8 • Später wurden dann die Begriffe Übennaßverbot und Proportionalität empfohlen, da die Unterscheidung eines engeren und weiteren Sinnes verwirrend sei. Überdies suggeriere der Oberbegriff" Verhältnismäßigkeit" eine nicht bestehende Gleichartigkeit der logischen Struktur der in ihm enthaltenen Begriffe l9 • Dieses ließe sich dadurch venneiden, daß für die dritte Stufe der Prüfung der Begriff der "Proportionalität" verwendet werde20 • Der daneben gebräuchliche Begriff des Übennaßverbotes wird allerdings wiederum in unterschiedlicher Weise verwendet, und kann, soweit eine Erläuterung fehlt, nur den Grundsatz der Erforderlichkeit, nur die Verhältnismäßigkeit i. e. S., beide zusammen aber auch alle Stufen meinen 21 • Da sich bislang kein einheitlicher Sprachgebrauch herausgebildet hat, müssen für den Fortgang der vorliegenden Untersuchung zunächst die Begriffe bestimmt werden. Vor dem Hintergrund der gestellten Aufgabe, namentlich Auslegungshilfen für das völkerrechtliche Verständnis zu gewinnen, sind fernerhin die jeweils mit ihnen einhergehenden offenen materiellen Fragen und Probleme zu ennitteln.
18
R. v. Krauss, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1955, S. 18.
E. Grabitz, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 98 (1973), S. 571. 19
20 So insbesondere E. Grabitz, Der Grundsatz der VerhäItnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 98 (1973), S. 571; vgl. auch K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland I, 2. Autl. 1984, S. 866. 21 Vgl. die Übersicht mit Nachweisen bei L. Hirschberg, Der Grundsatz der VerhäItnismäßigkeit, 1981, S. 19/21.
1. Verhältnismäßigkeit im deutschen Staatsrecht
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3. Eignung und Erforderlichkeit Das Erfordernis der Eignung kann zunächst negativ dahingehend umschrieben werden, daß das eingesetzte Mittel nicht ungeeignet sein darf, den mit ihm angestrebten Erfolg zu erzielen. Dabei handelt es sich um eine formale Betrachtung des Verhältnisses zwischen dem gesetzten Zweck und dem gewählten Mittel. In diesem Zusammenhang stellen sich im wesentlichen zwei Probleme. Einerseits ist nach den Grenzen der Zwecksetzungsfreiheit zu fragen, andererseits ist zu klären, welche Anforderungen an die Ermittlung der Zwecktauglichkeit zu stellen sind. a) ZwecksetzungsJreiheit und Zwecktauglichkeit
Die Zwecksetzungsfreiheit korrespondiert mit der Kompetenzzuweisung des Grundgesetzes. Im Rahmen seiner Gesetzgebungskompetenz kann der Gesetzgeber qua Gesetz bestimmte Zwecke festlegen. Einigkeit dürfte insoweit bestehen, daß der Staat nur legitime Zwecke, d.h. nur solche, die ihm nicht von der Verfassung selbst verboten sind, verfolgen darf 2. Da im konkreten Einzelfall der Zweck hoheitlichen Handeins oftmals nicht eindeutig erkennbar ist oder er sich aus einer Gemengelage unterschiedlicher Zwecke ergibt2 3, kann eine Maßnahme sowohl verfassungskonforme als auch verfassungswidrige Ziele verfolgen. Dabei wird man zugunsten des Staates von der Vermutung ausgehen dürfen, daß nur legitime Zwecke verfolgt werden sollen. Verfassungswidrige Zwecke müßten zuvor durch eine (zulässige) Verfassungsänderung nach Maßgabe von Art. 79 GG legitimiert werden. Damit besteht für den Gesetzgeber eine weitgehende Zwecksetzungsfreiheit. Demgegenüber ist die Verwaltung durch die legislative Zwecksetzung gebunden und unterliegt somit einer stärkeren Kontrolle. Dies gilt insbesondere für das Polizei recht. Die Beurteilung, ob das eingesetzte Mittel der Zweckerfüllung dient, mithin zwecktauglich ist, erfordert eine Prognose darüber, ob sich das Mittel zumindest als nicht völlig ungeeignet erweisen wird. Bei der gerichtlichen Kontrolle wird hierbei eine ex-ante Betrachtung zugrundegelegt24. Das Bundesverfassungsgericht 22 B. Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, 1976, S. 192; ders., Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, in: Badura/Dreier, Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht 11, 2001, S. 450; R. K. Albrecht, Zumutbarkeit als Verfassungs maßstab, 1995, S. 70. 23
Vgl. R. K. Albrecht, Zumutbarkeit als Verfassungsmaßstab, 1995, S. 69.
Vgl. auch G. Ress, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im deutschen Recht, in: Deutsche Sektion der Internationalen Juristen-Kommission, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in europäischen Rechtsordnungen, 1985, S. 17 f.; R. K. Albrecht, 24
C. Rechtsvergleichende Betrachtung
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läßt die bloß abstrakte Möglichkeit der Zweckerreichung genügen 25 • Ausreichend ist die Wahrscheinlichkeit zumindest einer Teileignung bzw. teilweisen Förderung des Zieles. Wollte man hier mehr fordern, wäre der Handlungsspielraum von Legislative bzw. Exekutive in einer nicht mehr dem Gewaltenteilungsprinzip entsprechenden Weise eingeschränkt. Die Prognosetätigkeit erstreckt sich fernerhin auf die Auswahl bei mehreren in Betracht kommenden Mitteln. Wenn absehbar ist, daß ein weniger eingreifendes Mittel den Zweck nicht oder nur unzureichend verwirklichen kann, scheidet es aus. Stellt sich heraus, daß aufgrund eines zu eng gewählten Zwecks das Mittel nicht erforderlich ist, kann der Zweck entsprechend erweitert werden, so daß das Mittel dann diesem Ziel dient. In diesen Fällen bestimmt das bevorzugte Mittel die Auswahl des Zwecks. Diese Umkehrung der Zweck-Mitte I-Bestimmung wird nur durch äußerste Grenzen begrenzt. Der Handlungsspielraum des Gesetzgebers wird durch die hier in Rede stehenden Bestandteile der Eignung und Erforderlichkeit mithin kaum begrenzt. Es ist nur danach zu fragen, ob es einen nicht verbotenen, mithin legitimen Zweck gibt, dessen Erfolg mit dem gewünschten Mittel gefördert werden kann. Nur dort, wo entweder der Gesetzgeber sich zuvor selbst auf die Verfolgung eines bestimmten Zwecks festgelegt (,,zweckselbstbindung") hat oder dort, wo der Verwaltung ein bestimmter Zweck vorgegeben ist, kann die Erforderlichkeit wirkungsvoll geprüft werden. Festzuhalten bleibt, daß die Wahl eines bestimmten Zwecks die zulässigen Mittel bestimmt und umgekehrt, sich die Zulässigkeit des Mittels durch die Festlegung des Zwecks legitimieren läßt26 • Aufgrund dieser Nähe und Abhängigkeit von Eignung und Erforderlichkeit wurde im Schrifttum in Frage gestellt, ob eine Trennung zwischen bei den als eigenständige Prüfungspunkte überhaupt sinnvoll sei 27 • Beginnt die Prüfung mit der Frage nach dem milderen Mittel, also nicht mit der Zweckbestimmung, so ist bei der Suche nach einem solchen auf den
Zumutbarkeit als Verfassungsmaßstab, 1995, S. 70; L. Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981, S. 64. 25
BVerfDE 67,157 (175); \03,293 (307).
Vgl. zur Austauschbarkeit von "Zweck" und "Mittel" auch M eh. Jakobs, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, DVBI. 1985, S. 97; kritisch auch J Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, 1977, S. 322 f.; L. Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981, S. 158 ff.; verteidigend B. Schlink, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, in: Badura/Dreier, Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht 11, 2001, S. 450. 27 Vgl. zur Nähe L. Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981, S. 59 ff.; für eine Beibehaltung R. K. Albrecht, Zumutbarkeit als Verfassungsmaßstab, 1995, S. 70. 26
1. Verhältnismäßigkeit im deutschen Staatsrecht
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Zweck abzustellen, ohne den überhaupt nicht erwogen werden kann, ob ein milderes Mittel ebenso geeignet ist. b) Zweck-Mittel-Relation
Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit könnte mit der Feststellung enden, daß mit einer konkreten Maßnahme ein legitimer Zweck gefördert wurde. Der Gesetzgeber formuliert ein verfassungskonformes Ziel und wählt ein taugliches Mittel zur Zweckerreichung aus. Dies soll nach allgemeiner Ansicht indes nicht ausreichen; vielmehr soll darüber hinaus der Zweck und das Mittel ins Verhältnis zueinander gesetzt werden. Dabei können der geforderten relationalen Betrachtung je nach Fallgestaltung unterschiedliche Ebenen zugrunde gelegt werden. Zum einen kann der Aufwand, den der Staat betreibt, um sein Ziel zu erreichen, unter dem Aspekt eines effektiven Staatshandelns betrachtet werden, ohne daß es dabei auf die Auswirkungen auf den Bürger ankommt. Dann werden Aufwand und möglicher Erfolg abstrakt ins Verhältnis zueinander gesetzt. Demgegenüber werden im Zusammenhang mit Grundrechtseingriffen regelmäßig die Auswirkungen auf das Individualrecht betrachtet und mit dem mit dem Eingriff verfolgten staatlichen Ziel ins Verhältnis gesetzt. Legen beide Ebenen unterschiedliche Ergebnisse nahe, bedarf es weiterer Überlegungen zur Bestimmung des Vorrangs. Der Prüfung einer Zweck-Mittel-Relation muß daher die Festlegung ihrer Bezugspunkte vorangehen. Hierzu ein Beispiel: Angenommen, der Staat möchte seine Bemühungen fiir den Schutz seiner Bürger vor der organisierten Kriminalität steigern. Dieses Ziel kann er z. B. durch die Bereitstellung einer größeren Anzahl von Polizeibeamten erreichen, die mit Überwachungs- und Aufklärungsaufgaben betraut werden. Das Mittel ist legitim und geeignet. Bei einer ex-ante Betrachtung darf der Staat angesichts des ihm zustehenden Prognosespielraums davon ausgehen, daß andere Maßnahmen zur Kriminalitätsbekämpfung weniger Erfolg haben werden, so daß die Maßnahme nicht im Widerspruch zum Erforderlichkeitsgebot steht. Für die Beurteilung der Angemessenheit i. S. einer Zweck-Mittel-Relation ergeben sich zwei Betrachtungsmöglichkeiten. Zunächst benötigt der Staat zur Erreichung seines Zieles entsprechende finanzielle Mittel. Deshalb könnte der finanzielle Aufwand fiir weitere Beschäftigte ins Verhältnis zum erwarteten Erfolg gesetzt und abgewogen werden. Zu fragen wäre dann, ob der zu erwartende Erfolg bei der Kriminalitätsbekämpfung den damit verbundenen Einsatz von Haushaltsmitteln rechtfertigt.
4 Krugmann
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C. Rechtsvergleichende Betrachtung
Da die Verteilung der Haushaltsmittel Aufgabe des Parlaments und nicht der Gerichte ist, würden diese ihre Kompetenz überschreiten, wenn sie die Anstellung weiterer Beamten zu Lasten der Erfiillung anderer Staatsaufgaben fiir unverhältnismäßig erklärten. Die Gerichte sind diesbezüglich nur dann befugt, Entscheidungen des Staates zu rügen, wenn das eingesetzte Mittel zugleich in Grundrechte der Bürger eingreift. Soweit daher mit der Tätigkeit der Polizei z. B. Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung oder der Unverletzlichkeit der Wohnung verbunden sind, können diese im Hinblick auf ihre Angemessenheit überprüft werden. Hier geht es nunmehr um die Frage, ob der Schutz vor Kriminalität Vorrang vor dem Erhalt des Interesses auf weitgehenden Schutz der Privatsphäre hat. Bei typischen Eingriffen in die Individualfreiheit bezieht sich das Gebot zur Wahl des mildesten Mittels zwar auf die Intensität des Grundrechtseingriffs, läßt aber die Frage, ob der Eingriff vorgenommen werden darf, letztlich unberührt, solange ein legitimer Zweck verfolgt wird und dieser nicht durch eine weniger einschneidende Maßnahme verwirklicht werden kann. Ob die hoheitliche Zweckverfolgung und die Intensität der Beeinträchtigung eines Individualrechts in einer angemessenen Relation stehen, ist weder eine Frage der Eignung noch der Erforderlichkeit, sondern Gegenstand der dritten Stufe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. 4. Abwägung Die dritte Stufe der Prüfung (Verhältnismäßigkeit i. e. S., Proportionalitätsgrundsatz) enthält das Abwägungsgebot28 • Bei der Beurteilung der Erforderlichkeit kam es - wie aufgezeigt - nicht auf die Interessen desjenigen an, der von einer staatlichen Maßnahme betroffen ist. Das Verhältnis von Zweck und Mittel kann regelmäßig auch losgelöst von der Eingriffsintensität erörtert werden, wenn nur danach gefragt wird, welchen Aufwand der Staat leisten muß, um die sich selbst gesteckten Ziele zu erfiillen. Tatsächlich aber wurde die Verhältnismäßigkeit i. e. S., mithin das Abwägungsgebot zumindest auch erfunden, damit die Belastung des Einzelnen ins Verhältnis zur staatlichen Zielverfolgung gesetzt werden kann. M. a. W. es wird geprüft, ob die Ziele die zu ihrer Verwirklichung eingesetzten Mittel und damit die jeweilige Eingriffsintensität rechtfertigen.
28 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland III/2, 1994, S. 676/814 ff. und F. Ossenbühl, Abwägung im Verfassungsrecht, in: W. Erbguth u.a., Abwägung im Recht, 1996, S. 29.
I. Verhältnismäßigkeit im deutschen Staatsrecht
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Das Bundesverfassungsgericht untersucht hier, ob der Eingriff seiner Intensität nach außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und den vom Bürger hinzunehmenden Einbußen steht. Bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht sowie der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe müsse die Grenze der Zumutbarkeit fiir die Adressaten des Verbots gewahrt werden (Übermaßverbot)29. Die Prüfung an diesem Maßstab könne dann dazu führen, daß ein an sich geeignetes und erforderliches Mittel des Rechtsgüterschutzes nicht angewandt werden darf, weil die davon ausgehenden Beeinträchtigungen der Grundrechte des Betroffenen den Zuwachs an Rechtsgüterschutz deutlich überwiegen, so daß der Einsatz des Schutzmittels als unangemessen erscheineo. Hier zeigt sich wiederum, daß das Abwägungsgebot typischerweise auf die Beurteilung staatlicher Eingriffe in die Rechte des Bürgers abzielt und deshalb im Zusammenhang mit anderen Handlungen, die am Maßstab der Verhältnismäßigkeit geprüft werden sollen, unpassend wirkt3l • Jenseits der weitgehend konsentierten Auffassung, Eingriffe in die Rechte des Bürgers dürfen nicht außer Verhältnis zu den mit ihnen verfolgten Zwecken stehen, besteht weiterhin erheblicher Klärungsbedarf. Nach welchen Grundsätzen soll das Bundesverfassungsgericht eine Abwägungsentscheidung des Gesetzgebers überprüfen, die keinen Grundrechtseingriff zum Gegenstand hat? Anhand welcher Kriterien soll das Gericht beurteilen, ob eine Abwägung des Gesetzgebers fehlerhaft war? Ein Abwägungsfehler des Gesetzgebers ist letztendlich nur denkbar, wenn im Ausnahmefall völlig unsachliche Überlegungen den Ausschlag fiir die Zustimmung gegeben haben. In allen anderen Fällen gebietet der Gewaltenteilungsgrundsatz, daß die Gerichte nicht ihre eigenen Abwägungen an die Stelle des Gesetzgebers setzen J2 • Stets besteht die bereits erwähnte Gefahr, daß in einer "abgewogenen" Entscheidung des Gerichts eine KompeteIlZÜberschreitung enthalten ist 33 • Das Hauptproblem des Abwägungsgebotes liegt darin, daß bislang kaum inhaltliche Maßstäbe fiir das richtige Abwägen gefunden wurden, es sich mithin
29
BVerfDE 30, 292 (316 f.); 67,157 (178); 90,145 (173).
30
BVerfDE 90,145 (185).
31 F. Ossenbühl, Abwägung im Verfassungsrecht, in: W. Erbguth u. a., Abwägung im Recht, 1996, S. 29. 32 Vgl. dazu auch B. Schlink, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, in: Badura / Dreier, Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht II, 2001, S. 462. JJ Vgl. zu diesem Aspekt auch F. Ossenbühl, Abwägung im Verfassungsrecht, in: W. Erbguth u. a., Abwägung im Recht, 1996, S. 36 ff.
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weitgehend um eine Leerfonnel handelt34 . Trotz des Mangels an allgemeinen subsumtionsfähigen Obersätzen können dennoch einige Hilfsmittel, die zumindest die Richtung vorgeben, benannt werden. Dazu zählt etwa die sogenannte JeDesto-Fonnel, die weitgehend plausibel erscheint. Je intensiver der Eingriff in eine geschützte Individualrechtsposition wirkt, desto dringlicher muß die Verwirklichung öffentlicher Interessen sein 35 . Danach ist die Eingriffsintensität auf der einen und das verfolgte Gemeinwohlziel auf der anderen Seite zu ennitteln und zu gewichten. Als Indiz filr das Gewicht eines Grundrechts kann z. B. seine spezifische Schrankenregelung gewertet werden. Grundrechte ohne Gesetzesvorbehalt oder mit qualifizierten Vorbehalt scheinen nach dem Willen der Verfassungsgeber dem Bürger einen besonderen Schutz zu verleihen. In den Fällen, in denen sich entweder nur das eine oder andere Interesse durchsetzen kann, weil keine abgestuften Entscheidungen möglich sind, die Zwischenlösungen erlauben, muß die Fonnel indes versagen 36 . Einigkeit dürfte dahingehend bestehen, daß im Ergebnis immerhin grundrechtliche Mindestpositionen des Bürgers zu wahren sind 37 • Da dies in der Regel auf den Schutz des Wesengehalts i. S. v. Art. 19 Abs. 2 GG hinausläuft38 , wäre zu klären, ob die Begrenzung auf eine Garantie des Mindestgehaltes bzw. eine Reduzierung auf die Wesensgehaltsgarantie die Güterabwägung ersetzen oder nur einer umfassenderen Abwägungsentscheidung eine äußerste Grenze ziehen soll39
34 G. Ress, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im deutschen Recht, in: Deutsche Sektion der Internationalen Juristen-Kommission, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in europäischen Rechtsordnungen, 1985, S. 21; w: Leisner, Der Abwägungsstaat, 1997, S. 11 ff.; ders., "Abwägung überall" - Gefahr für den Rechtsstaat, NJW 1997, S. 636 ff.; B. Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, 1976, S. 17 ff.; R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 143 ff.; F. Ossenbühl, Abwägung im Verfassungs recht, in: Erbguth / Oebbekke / Rengeling / Schulte, Abwägung im Recht, 1996, S. 25 ff.; ders., Maßhalten mit dem Übennaßverbot, in: P. Badura / R. Scholz, Wege und Verfahren des Verfassungslebens, Festschrift für Peter Lerche zum 65 . Geburtstag, 1993, S. 156 f.; w: Enderlein, Abwägung in Recht und Moral, 1992, S. 45 ff.; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 404 ff. 35 Vgl. auch G. Ress, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im deutschen Recht, in: Deutsche Sektion der Internationalen Juristen-Kommission, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in europäischen Rechtsordnungen, 1985, S. 23; w: Leisner, Der Abwägungsstaat, 1997, S. 49.
w: Leisner, Der Abwägungsstaat, 1997, S. 49 ff.
J6
Ausführlich dazu
37
So der Ansatz von B. Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, 1976, S. 192.
JI Darauf weist K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland III/2, 1994, S. 677 hin. 39
Vgl. bereits J. Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, 1977, S. 76 f., 322.
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oder es sich schlicht um zwei inhaltlich verschiedene Prüfungsmaßstäbe handelt40 • Auch der gelegentlich verwendete Begriff der Unzumutbarkeit gibt hier lediglich die Richtung an, ist aber ebenfalls nur bedingt subsumtionsfähig41 • Ein Grundrechtseingriff, so könnte formuliert werden, der dem Bürger nicht einmal eine Mindestposition beläßt, greift in den Wesensgehalt ein und ist deshalb unzumutbar42 • Es kann vorliegend nicht darum gehen, die mit dem Abwägungsgebot verbundenen und bislang weitgehend ungelösten Begriffsbestimmungen abschließend zu erörtern. Das Abwägungsgebot dient im deutschen Recht in erster Linie nicht der Kontrolle des Gesetzgebers, sondern der Verwirklichung des materiellen Rechts und ist insoweit unverzichtbar. Es kann im Aristotelischen Sinne der Billigkeit, mithin der Herstellung von Gerechtigkeit im Einzelfall dienen, wenn das Gesetz in seiner allgemeinen Fassung "versagt" hat. Als verfassungsrechtlicher Anknüpfungspunkt kommt Art. 20 Abs. 3 GG in Betracht, der die Rechtsprechung an "Gesetz und Recht" bindet. Zwar decken sich regelmäßig beide Begriffe, in besonderen Fällen kann aber das Recht gegenüber dem Gesetz einen "überschießenden Sinngehalt" haben 43 , der eine "Billigkeitsentscheidung" rechtfertigt. Vorsicht ist demgegenüber geboten, wenn mit Hilfe der Abwägung das bis dahin durch eine methodengerechte Auslegung erzielte Ergebnis verworfen und in sein Gegenteil verkehrt werden soll. Eine allgemeine Abwägung erlaubt auch die Korrektur des Gesetzes durch das Rechtsgefiihl desjenigen, der irrtümlich glaubt, seine Sicht der Dinge entspreche ohne Rücksicht auf den Gesetzeswillen der Billigkeit. Das reine Abwägungsverfahren fUhrt vor dem Hintergrund der üblich gewordenen Auslegungsmethoden zu schwerwiegenden Bedenken. Der Sachverhaltsermittlung folgt die Suche nach einschlägigen Rechtsnormen und diese werden - vereinfacht ausgedrückt - anhand der in ihnen enthaltenen Begriffe konkretisiert. In der Auslegungstätigkeit liegt regelmäßig der Kern der juristischen Arbeit. Mit Hilfe von Definitionen und Ableitungen werden Lebenssachverhalt und 40 Dafür G. Ress, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im deutschen Recht, in: Deutsche Sektion der Internationalen Juristen-Kommission, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in europäischen Rechtsordnungen, 1985, S. 33. 41 Vgl. zur Zumutbarkeit als Element der Verhältnismäßigkeit insbesondere J. Lücke, Die (Un-)Zumutbarkeit als allgemeine Grenze öffentlich-rechtlicher Pflichten des Bürgers, 1973, S. 53 ff. 42 Vgl. dazu auch B. Schlink, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, in: Badura / Dreier, Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht II, 200 I, S. 451 ff. 43
Vgl. dazu M Krugmann, Evidenzfunktionen, 1996, S. 43 ff. m. w. Nw.
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C. Rechtsvergleichende Betrachtung
Normbegriff einander näher gebracht. Im Idealfall verleiht das Subsumtionsverfahren dann der Entscheidung die nötige Rationalität44 • Ganz anders würde sich das Abwägungsgebot darstellen, wenn es dem Rechtsanwender erlauben sollte, das zuvor in methodologisch fehlerfreier Arbeit gefundene Ergebnis zu verwerfen. Wer die Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit allein in der Abwägung sucht, benötigt im Grunde keine Rechtsnormen mehr. Er betreibt dann vielleicht Politik, in keinem Falle aber Rechtswissenschaft. Vor diesem Hintergrund wird die allgemeine Gefahrenwarnung verständlich, wonach durch die Abwägung im Einzelfall das Gesetz überrollt werde45 • Die Heranziehung des Abwägungsgebotes fUhrt aber, wie die Überlegungen zur Billigkeit gezeigt haben, nicht stets zu einer Mißachtung des Gesetzes, sondern kann auch der Vervollkomnmung dienen. Zu kritisieren ist vielmehr der Mißbrauch des Abwägungsgedanken, oder milder formuliert, dessen fehlerhafte Anwendung. Damit offenbart sich das eigentliche Problem der Abwägung. Da es bislang nicht gelungen ist, verläßliche Abwägungskriterien und Abwägungsmaßstäbe zu entwickeln, kann auch keine klare Grenze zwischen zulässiger und unzulässiger Abwägungsergebnisse gezogen werden. Oftmals kann das Übergewicht des einen über das andere Interesse nur gefühlsmäßig nicht aber rational begründet werden. Auf die Rationalität der Begründung kann und darf indes nicht verzichtet werden46 • Der Gesetzgeber kann dieser besonderen Gefahr durch die Verwendung eindeutiger Begriffe und der Formulierung klar umgrenzter Zwecke begegnen, die den Raum fiir irrationale Abwägungen einengen. Die Offenheit der Abwägungsergebnisse steht den rechtsstaatlichen Geboten der Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit staatlicher Entscheidungen entgegen. Insofern kann ein zuviel der Abwägung seinerseits mit dem Rechtsstaatsgedanken in Konflikt treten47 • Schließlich ist mit dem Abwägungsgebot noch ein weiteres Dilemma verbunden: Hat der Abwägungsgrundsatz eine größere Intensität als die Wesensgehaltssperre, dann würde sein ersatzloser Wegfall den Grundrechtsschutz verringern48 , zugleich aber das Gesetz vor seiner fehlerhaften Anwendung schützen.
44
Vgl. zum Syllogismus bereits M Krugmann, Evidenzfunktionen, 1996, S. 62 ff.
45
W Leisner, Der Abwägungsstaat, 1997, S. 14,44,132.
Vgl. F. Ossenbühl, Abwägung im Verfassungsrecht, in: W. Erbguth u.a., Abwägung im Recht, 1996, S. 34. 46
47
W Leisner, Der Abwägungsstaat, 1997, S. 127 f.
48
Darauf weist J. Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, 1977, S. 322 hin.
I. Verhältnismäßigkeit im deutschen Staatsrecht
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5. Unterscheidung zwischen Erforderlichkeitsgebot und Abwägungsgebot Die unterschiedlichen Prüfungs inhalte beim Erforderlichkeitsgebot und beim Abwägungsgebot sollten sich auch in der Begriffswahl widerspiegeln. Im Rahmen der Erforderlichkeit geht es zunächst nur darum, ob das eingesetzte Mittel tauglich ist, den beabsichtigten Zweck zu erfiillen. Sind unterschiedliche Mittel denkbar, sind diese miteinander im Hinblick auf ihre Wirkung fiir den Betroffenen zu vergleichen, ohne daß es dabei auf eine Rechtsgüterabwägung ankommt49 • Während also Eignung und Erforderlichkeit eng miteinander verbunden sind, und weitgehend eine Einheit bilden, gilt dies nicht fiir das dritte Element5o •
Im Hinblick auf einen bestimmten Zweck kann das Mittel, mit dem dieser Zweck erreicht werden soll, regelmäßig losgelöst von der Frage, ob es dem Betroffenen zuzumuten ist, beurteilt werden. Maßnahmen, die sich im Rahmen des Notwendigen halten, können sowohl unverhältnismäßig als auch verhältnismäßig sein5l . Eine nicht erforderliche Maßnahme kann dennoch zumutbar sein, etwa weil es sich um eine marginale Grundrechtsbeeinträchtigung handelt (z. B. Blutentnahme zur DNA-Analyse52 ). Ein schwerwiegender Grundrechtseingriff kann sich im Einzelfall als einzige unerläßliche Maßnahme zur Erreichung eines bestimmten Zieles erweisen (z. B. "gezielter Todesschuß"53). Damit ist sie erforderlich, aber nur dann rechtswidrig, wenn der Zweck im Hinblick auf die Rechtseinbuße des Betroffenen als nachrangig gewertet wird. Erst bei der Prüfung der Angemessenheit bedarf es der Gewichtung und Wertung. Notwendigkeit und Angemessenheit unterscheiden sich grundlegend voneinander. Die Notwendigkeitsprüfung stellt sich als ein weitgehend objektives Verfahren dar, während die Angemessenheit im Wege des subjektiven Wertens ermittelt wird. Die Notwendigkeit einer Maßnahme ergibt sich aus dem mit ihr 49 Vgl. auch B. Schlink, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, in: Badura / Dreier, Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht 11, 2001, S. 458; J. Lücke, Die (Un-) Zumutbarkeit als allgemeine Grenze öffentlich-rechtlicher Pflichten des Bürgers, 1973, S. 53 ff. 50 So hat fiir W Leisner, Der Abwägungsstaat, 1997, S. 197, die Verhältnismäßigkeit als Zweck-Mittel-Relation nichts mit der Erforderlichkeit gemein, weshalb auch die Unterscheidung "im engeren und weiteren Sinn" verfehlt sei. 51
Vgl. bereits R. v. Krauss, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1955, S. 15.
52 Vgl. etwa BVerfD, NJW 1996,3071 ff. Eine Alternative zur Blutentnahrne wurde hier nicht einmal in Erwägung gezogen. 53
412.
Vgl. zur Problematik V Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 1995, Rdnr.
C. Rechtsvergleichende Betrachtung
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verfolgten Zweck. Ein anderes Mittel ist insoweit objektiv vorhanden oder nicht. Die Belange des Betroffenen spielen zunächst nur dann eine Rolle, wenn es um die Existenz eines milderen Mittels geht, wobei die Beurteilung der gleichen Wirksamkeit anband einer Prognose zu beurteilen ist. Die Frage, ob das verfolgte staatliche das private Interesse überwiegt oder nicht, ist hierbei irrelevant. Schließlich beinhaltet der Begriff der Abwägung die Möglichkeit, daß jedes Interesse, also auch das des Einzelnen, gegenüber dem anderen nicht nur zurücktreten, sondern auch obsiegen kann54 • Im Rahmen der Notwendigkeit ist das nicht möglich; nie weicht hier das öffentliche Interesse dem Individualinteresse. Soweit also von Verhältnismäßigkeit die Rede sein soll, muß klargestellt werden, ob der Begriff als Oberbegriff für das Erforderlichkeitsgebot und die Verhältnismäßigkeit i. e. S., mithin dem Abwägungsgebot, verwendet wird oder bloß nach der Proportionalität fragt. Im folgenden soll trotz allem am Oberbegriff des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes festgehalten werden, um die mit diesem verbundene umgangssprachlich verfestigte Grundanschauung zu erhalten. Unterschieden werden sollen aber seine Bestandteile, namentlich das Erforderlichkeitsgebot und das Abwägungsgebot55 • Diese Unterscheidung ergibt sich nicht nur aus dem Bestreben nach begrifflicher Klarheit, sondern empfiehlt sich auch aus inhaltlichen Erwägungen. In den Fällen, in denen das Gesetz oder eine vertragliche Vereinbarung auf die Erforderlichkeit abstellt, spricht einiges dafiir, daß es auch nur diese meint. Daß es darüber hinaus auch auf das Abwägungsgebot ankommen soll, ergibt sich nicht als Selbstverständlichkeit aus der verwendeten Terminologie, sondern muß erst besonders begründet werden. Die vorstehend aufgezeigten Probleme sind in Erinnerung zu rufen, wenn es um die Anwendung dieses Prüfungsschritts in anderen Rechtsbereichen geht. Im deutschen Recht verfolgt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vor allem zwei zentrale Anliegen. Einerseits dient er der Gerechtigkeitsidee, indem er Einzelfallgerechtigkeit dort schaffen soll, wo das Gesetz dies wegen seiner allgemeinen Fassung nicht leisten kann. Andererseits begrenzt er staatliche Eingriffe in die individuelle Freiheit. Vor dem Hintergrund legislativer Zwecksetzungsfreiheit verdient die Heranziehung des Grundsatzes der Erforderlichkeit keine Kritik. Staatliches Handeln, das nicht erforderlich ist, hat grundsätzlich zu unterbleiben. Dies gilt auch für Maßnahmen außerhalb von Eingriffen in die Freiheit des Individuums. Man kann ein solches Gebot damit rechtfertigen, daß es sich in diesen 54
R. v. Krauss, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1955, S. 16.
55 V gl. zur Unterscheidung von "Notwendigkeit" und "Verhältnismäßigkeit" bereits R. v. Krauss, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1955, S. 14 ff.
I. Verhältnismäßigkeit im deutschen Staatsrecht
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Fällen zumindest um eine Verschwendung staatlicher Ressourcen handelt, die regelmäßig durch Steuern finanziert werden. a) Ermessensentscheidungen Wegen der weitgehenden Zwecksetzungsfreiheit des Gesetzgebers wirkt sich der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hauptsächlich auf die Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Handlungen der Verwaltung, insbesondere der Eingriffsverwaltung, aus. Der Gesetzgeber gibt der Verwaltung die zu verfolgenden Zwecke vor und die Rechtsprechung wacht über ihre Einhaltung. Damit ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sowohl als Erforderlichkeitsgebot als auch als Abwägungsgebot zentraler Bestandteil der Ermessensausübung und ihrer Kontrolle. Aufgrund der gegebenen normativen Vorgaben läßt sich regelmäßig schnell Klarheit über die Eignung des gewählten Mittels und die Abwesenheit eines milderen Mittels schaffen. Die sich anschließende Durchfiihrung einer Angemessenheitskontrolle verweist in den Kernbereich der Ermessenausübung. Überall dort, wo ein Ermessen eingeräumt wird, darf die Ermessensausübung zu keinem unangemessenen Ergebnis auf der Rechtsfolgenseite fiihren.
b) Gebundene Entscheidungen Bei gebundenen Entscheidungen ist die Heranziehung des Verhältnismäßigkeitsprinzips demgegenüber, wie sich am Beispiel der gewerberechtlichen Unzuverlässigkeit anschaulich darstellen läßt, sehr problematisch56 • Nach § 35 Abs. 1 S. 1 GewO ist die Ausübung eines Gewerbes von der zuständigen Behörde ganz oder teilweise zu untersagen, wenn Tatsachen vorliegen, welche die Unzuverlässigkeit des Gewerbetreibenden oder einer mit der Leitung des Gewerbebetriebes beauftragten Person in bezug auf dieses Gewerbe dartun, sofern die Untersagung zum Schutze des Allgemeinheit oder der im Betrieb Beschäftigten erforderlich ist. Als spezielle Norm des Gefahrenabwehrrechts nimmt § 35 Abs. 1 GewO mehrfach Bezug auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Einerseits muß die Untersagung, mithin der Eingriff in die Berufsfreiheit erforderlich sein, andererseits muß eine Teiluntersagung genügen, wenn damit die Ziele der Eingriffsnorm bereits erreichbar sind. Das Problem entsteht hier, wenn die Auslegung und Subsumtion ergeben hat, daß der Gewerbetreibende unzuverlässig ist und die S6 Vgl. dazu ausführlich M Krugmann, Unzuverlässigkeit und Verhältnismäßigkeit, GewArch 1995, S. 398 ff.
C. Rechtsvergleichende Betrachtung
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vollständige Untersagung der weiteren Ausübung des Gewerbes zwar auch erforderlich ist, die darauf fußende Betriebsschließung aber unangemessen erscheint, etwa weil die Verfehlungen des Gewerbetreibenden - "subjektiv betrachtet" - nicht so schwer wiegen, wie die Folgen einer Betriebsschließung. Darfhier die Verwaltung oder der Richter die Entscheidung des Gesetzes unter Berufung auf das Abwägungsgebot im Rahmen einer Billigkeitsentscheidung korrigieren? Offenbar hat der Gesetzgeber die Bewertung dessen, was verhältnismäßig ist, in § 35 GewO vorweggenommen. Der Zweck, der sich regelmäßig aus dem Tatbestand der Eingriffsnonn ergibt, und das Mittel, mithin die vorgesehene Rechtsfolge, sind dem Gesetz zu entnehmen. Nach Ennittlung der gesetzlichen Voraussetzungen gibt dieses zugleich die Rechtsfolge, mithin das einzusetzende Mittel vor. Der Gesetzgeber will im hier gewählten Beispiel die Allgemeinheit und die im Betrieb Beschäftigten vor unzuverlässigen Gewerbetreibenden schützen. Wer unzuverlässig ist, darf danach kein Gewerbe betreiben. Dies ist die grundsätzliche Wertung des Gesetzgebers. Damit hat die Eingriffsverwaltung kein Ennessen bei der Rechtsfolgenwahl. Wäre die Wertung des Gesetzgebers unverhältnismäßig, dann wäre das Gesetz selbst zu beanstanden. Für diese Annahme besteht indes kein Anlaß. Problematisch ist demgegenüber die Situation, in der das Ergebnis, mithin die gesetzlich vorgesehene Rechtsfolge im konkreten Einzelfall unbillig erscheint. Damit ist ein zentrales Problem des deutschen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aufgedeckt: Erlaubt das Abwägungsgebot eine Korrektur einer gesetzlich vorgesehenen Rechtsfolge auch dort, wo der Verwaltung kein Ennessen eingeräumt wurde? Wenn, so könnte argumentiert werden, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips ist und nicht nur das Erforderlichkeitsgebot, sondern auch das Abwägungsgebot enthält, dann ist es nur logisch und konsequent, wenn jede hoheitliche Entscheidung nicht nur abgewogen sein muß, sondern dieser Abwägungsvorgang stets der gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Diese würde dann im Rahmen einer verfassungskonfonnen Auslegung der jeweils in Rede stehenden Nonn den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz anwenden 57 und sich dabei letztlich auf den Billigkeitsgedanken stützen58 • Gegen eine solche Sichtweise sei hier dreierlei angefiihrt. Zum einen würden dann auch gebundene Entscheidungen de facto zu Ennessensentscheidungen, da stets der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und mit ihm das Abwägungsgebot zum Zuge käme. Zum anderen ist die Korrektur der Entscheidung des Gesetzgebers auf der Rechtsfolgenseite überflüssig, wenn die Umstände, die das Abwägungs57
Kritisch L. Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981, S. 224.
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Vgl. zur Billigkeit C. I. I. a).
11. Verhältnismäßigkeit im europäischen Unionsrecht
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defizit begründen, bereits auf der Tatbestandsseite berücksichtigt werden. Im vorstehenden Beispiel gebietet der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eine restriktive Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Unzuverlässigkeit. Geschieht dies, so wird die Unzuverlässigkeit stets die Untersagung rechtfertigen, so daß diese ausnahmslos verhältnismäßig ist59 • Schließlich spricht angesichts der fehlenden Abwägungsmaßstäbe und -kriterien vieles gegen einen allgemeinen Abwägungsvorbehalt gegenüber jeglicher Staatstätigkeit. Auf das allgemeine staatsrechtliche Problem, ob und nach welchen Kriterien eine Abweichung vom positiven Recht im Ausnahmefall gerechtfertigt sein kann, kann hier nicht weiter eingegangen werden60 • Festzuhalten ist aber, daß nicht jede aus dem Gesetz abgeleitete Einzelentscheidung zusätzlich unter dem generellen Vorbehalt der Prüfung ihrer Angemessenheit stehen kann bzw. sollte. Wer wann die Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes überwacht, ergibt sich aus der Aufgabenzuweisung im gewaltengeteilten Rechtsstaat. Im Idealfall werden unverhältnismäßige Gesetze vom Bundesverfassungsgericht fiir verfassungswidrig erklärt; unverhältnismäßige Verwaltungsakte werden entweder im Widerspruchsverfahren oder von den Gerichten aufgehoben und unverhältnismäßige Gerichtsentscheidungen werden im Rechtsmittelverfahren korrigiert. Die Entscheidung über die Angemessenheit einer Maßnahme bleibt dabei stets das Ergebnis einer dem Rechtsstaat eher abträglichen subjektiven Einschätzung des zur Entscheidung berufenen Organs. Erst durch die Einbindung in entsprechende rechtsstaatliche Verfahren wird aus einer "willkürlichen", weil im höchsten Maße individuellen Abwägungsentscheidung eine "rechtsstaatliche" Entscheidung. Durch die Möglichkeit der Einlegung von Rechtsmitteln und die vorherige Regelung der jeweiligen Zuständigkeiten werden die Voraussetzungen geschaffen, fiir eine am Ende verbindliche und rechtsstaatskonforme allerdings letztlich "autoritäre" Abwägungsentscheidung.
11. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im europäischen Unionsrecht Die Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Europäischen Gemeinschaftsrecht dürfte im Grundsatz unstreitig sein. Er ist als angewandtes Richterrecht im Laufe der Entscheidungspraxis des Europäischen Gerichtshofes zum
59
M Krugmann, Unzuverlässigkeit und Verhältnismäßigkeit, GewArch 1995, S. 399
60
Vgl. dazu M Krugmann, Evidenzfunktionen, 1996, S. 43 ff. m. Nw.
f.
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c. Rechtsvergleichende Betrachtung
festen Bestandteil seiner Rechtsprechung geworden61 • Mit der Aufnahme der Subsidiaritätsklausel durch den Vertrag von Maastricht hat er in Art. 5 Abs. 3 EGV inzwischen eine vertragliche Grundlage erhalten. Fernerhin sind nach Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union Einschränkungen der in der Charta gewährten Rechte nur unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zulässig. Leider ist auch im europäischen Kontext nicht immer klar erkennbar, ob lediglich das Erforderlichkeitsgebot oder auch das Abwägungsgebot gemeint ist. So heißt es in Art. 5 Abs. 3 EGV: "Die Maßnahmen der Gemeinschaft gehen nicht über das für die Erreichung der Ziele dieses Vertrags erforderliche Maß hinaus". Der Wortlaut stellt mithin nur auf den Erforderlichkeitsmaßstab, nicht aber auf das Abwägungsgebot ab. Für eine Beschränkung auf ersteren spricht auch der Zusammenhang mit dem Subsidiaritätsprinzip. Hier geht es nicht um Abwägung, sondern um die Begrenzung VOn Kompetenzen. Demgegenüber wird im Schrifttum unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vielfach die Ansicht vertreten, es seien alle drei Stufen zu prüfen62 • Die Entscheidungspraxis des Europäischen Gerichtshofes ist indes nicht eindeutig. So hat das Gericht z. B. in einer Entscheidung aus dem Jahre 2000 lediglich auf die Grundsätze der Geeignetheit und Erforderlichkeit abgestellt63 • Deshalb bedarf es einer näheren Betrachtung des Gemeinschaftsrechts. Aufhellende Anhaltspunkte für die Auslegung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im europäischen Recht ergeben sich dabei aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und vor allem aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. 61 Vgl. aus dem neueren Schrifttum: E. Pache, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung der Gerichte der Europäischen Gemeinschaften, NVwZ 1999, S. 1033 f.; U Kischel, Die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit durch den Europäischen Gerichtshof, EuR 2000, S. 380 ff.; M Zuleeg, Zum Verhältnis nationaler und europäischer Grundrechte, EuGRZ 2000, S. 512. 62 So z. B. C. Calliess / M Ruffert, Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Aufl.2002, Rz. 46 zu Art. 5 EGV; J. Schwarze, EU-Kommentar, Rz. 39 zu Art. 5 EGV; T. Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. 1999, Rz. 521; E. Pache, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung der Gerichte der Europäischen Gemeinschaften, NVwZ 1999, S. 1035. 63 Vgl. Rs T-87/98, Sig. II - 3179 (3195): "Nach dem in Artikel3b EG-Vertrag niedergelegten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit setzt die Rechtmäßigkeit einer Gemeinschaftsregelung voraus, dass die gewählten Mittel zur Erreichung des mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Zieles geeignet sind und das Maß des hierzu Erforderlichen nicht übersteigen, wobei von mehreren geeigneten Maßnahmen grundsätzlich die arn wenigsten belastende zu wählen ist".
II. Verhältnismäßigkeit im europäischen Unionsrecht
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1. Charta der Grundrechte der Europäischen Union
Die am 7. Dezember 2000 vom Rat, Europäischen Parlament und Kommission unterzeichnete europäische Grundrechtscharta64 enthält in ihrem Art. 52 Abs. 1 zwar eine "Legal definition" der Verhältnismäßigkeit, diese klärt aber die vorliegende Fragestellung nicht mit der gebotenen Eindeutigkeit. Einschränkungen dürfen danach nur vorgenommen werden, "wenn sie notwendig sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen". Nach dem Wortlaut kommt es auch hier nur auf die Erforderlichkeit an. Es darf zur Erreichung der Gemeinschaftsziele kein milderes Mittel geben. Allenfalls aus dem Wort "entsprechen" könnte das Abwägungsgebot abgeleitet werden. Warum, so ist hier zu fragen, verzichtet die Definition auf die ausdrückliche Erwähnung des Abwägungsprinzips? Näheren Aufschluß könnte die Schrankensystematik der Charta geben. Anders als das Grundgesetz kennt die Grundrechtscharta kein differenziertes Schrankensystem, das auf die Bedeutung des jeweiligen Grundrechts Rücksicht nimmt. Die in der Charta enthaltenen Rechte und Freiheiten stehen nach Art. 52 Abs. I S. I lediglich unter einem allgemeinen "Gesetzesvorbehalt", wobei Gemeinschaftsrechtssetzungsakte vermutlich als "Gesetze" gelten sollen6s • Der Individualrechtsschutz findet damit zunächst nur über die Zweckbindung statt. Für die Zweckermittlung kann z. B. auf Art. 2 EGV, der die Aufgaben der Gemeinschaft umschreibt, zurückgegriffen werden. Alles was den Zielen der Europäischen Union dient, rechtfertigt danach einen Eingriff in die Freiheitsrechte. Der tatsächliche Umfang der Gewährung der Individualrechte ist mithin auch hier, ebenso wie im deutschen Recht, von den Zielen, die den Zweck des Eingriffs vorgeben und ihrer Auslegung abhängig. Wenn die individuelle Freiheit immer dann eingeschränkt werden kann, wenn ein freiheitsbeschränkender Rechtsakt Ziele der Gemeinschaft verfolgt und diese nicht mit weniger einschneidenden Mitteln erreicht werden können, dann bleibt als Ergebnis dieses Subtraktions64 Nach Art. 51 gilt die Charta rur die Organe (vgl. Art. 7 EGV) und Einrichtungen der Union unter Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchruhrung des Rechts der Union. 65 Vgl. Mitteilung der Kommission zur Grundrechtscharta der Europäischen Kommission KOM (2000) 559, 3.5 Ziff. 26. Kritisch in bezug auf die Schrankenregelung M. Kenntner, Die Schrankenbestimmungen der EU-Grundrechtecharta - Grundrechte ohne Schutzwirkung, ZRP 2000, S. 423 ff. (424). T Schmitz, Die EU-Grundrechtecharta aus grundrechtsdogmatischer und grundrechtstheoretischer Sicht, 1Z 2001, S. 838 nennt den Gesetzesvorbehalt insoweit treffender Rechtsnormvorbehalt.
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C. Rechtsvergleichende Betrachtung
verfahrens nur ein sehr kleiner Bereich übrig, in dem die Individualfreiheit nicht einschränkbar ist. Zu einem anderen Ergebnis fiihrt auch nicht die durch Art. 52 Abs. 2 der Charta gebotene Heranziehung der Europäischen Menschenrechtskonvention. Soweit sich einzelne Rechte der Charta und der EMRK überschneiden, darf das Schutzniveau der EMRK nicht unterschritten werden. Diese Verknüpfung könnte nicht nur den Gewährleistungsumfang bei der Festlegung der jeweiligen Schutzbereiche festlegen, sondern auch die Heranziehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gebieten. Wie bereits oben erwähnt, spricht der Wortlaut auch dort fiir eine Begrenzung auf den Erforderlichkeitsmaßstab66 • Festzuhalten bleibt, daß das positive Gemeinschaftsrecht ein Abwägungsgebot nicht kennt. Als Instrument, mit dem im Einzelfall individuelle Rechtspositionen "gerettet" werden, kann es sich z. Zt. daher nur im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung durchsetzen und auf diese Weise zum europäischen Kontrollrnaßstab werden. Daher bedarf es einer weiteren Betrachtung der Rechtsprechungspraxis des Europäischen Gerichtshofes. Nur am Rande sei hier auf die mit der Verwendung verschiedener Maßstäbe einhergehende Gefährdung der Rechtssicherheit hingewiesen. Wenn das Bundesverfassungsgericht, der Europäische Gerichtshof und der Gerichtshof fiir Menschenrechte in der gleichen bzw. einer vergleichbaren Sache angerufen werden und diese jeweils unterschiedliche Prüfungsinhalte und Prüfungsmaßstäbe der Verhältnismäßigkeit zugrunde legen, stünde dies im Widerspruch zum berechtigten Anliegen der Rechtseinheitlichkeit67 •
2. Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Im Schrifttum wird überwiegend die Ansicht vertreten, der Europäische Gerichtshofwilide, beeinflußt vom deutschen Recht, nicht nur die Geeignetheit und Erforderlichkeit, sondern auch die Verhältnismäßigkeit i. e. S. prüfen. Dabei wird
66
Vgl. oben B. VII.
67 Vgl. zu dem Verweis auf die EMRK verbundenen Probleme auch S. Alber / U Widmaier, Die EU-Charta der Grundrechte und ihre Auswirkungen auf die Rechtsprechung, EuGRZ 2000, S. 497 ff. (500 ff.); C. Grabenwarter, Die Charta der Grundrechte für die Europäische Union, DVBI. 2001, S. 1 ff. (2); P. J. Tettinger, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, NJW 2001, S. 1010 ff. (1012); T Schmitz, Die EUGrundrechtecharta aus grundrechtsdogmatischer und grundrechtstheoretischer Sicht, JZ 2001, S. 838 f.
11. Verhältnismäßigkeit im europäischen Unionsrecht
63
auf frühere Urteile des Gerichts verwiesen 68 • Noch in den Jahren 1989 und 1990 definierte das Gericht den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wie folgt: "Dabei ist, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen; ferner müssen die verursachten Nachteile in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen"69.
In späteren Entscheidungen gehörte die Angemessenheitsprüfung aber nicht mehr zum Standardprüfungsumfang. Das Gericht beschränkte den Prüfungsumfang darin auf den Erforderlichkeitsmaßstab70 • Von einem angemessenen Verhältnis war dort keine Rede mehr71 • Im Bananenstreit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Rat hat der Europäische Gerichtshof im Jahre 1994 sogar nur die Geeignetheit geprüft: "Zwar ist nicht auszuschließen, daß andere Mittel in Betracht kommen konnten, um das angestrebte Ergebnis zu erreichen; der Gerichtshof kann jedoch nicht die Beurteilung des Rates in der Frage, ob die vom Gemeinschaftsgesetzgeber gewählten Maßnahmen mehr oder weniger angemessen sind, durch seine eigene Beurteilung ersetzen, wenn der Beweis nicht erbracht ist, daß diese Maßnahmen zur Verwirklichung des verfolgten Zieles offensichtlich ungeeignet waren"n.
In einer Entscheidung aus dem Jahre 2002 ("Pfizer") heißt es dagegen wiederum: "Zunächst ist daran zu erinnern, daß nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der zu den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts gehört, die Handlungen der Gemeinschaftsorgane nicht die Grenzen dessen überschreiten dürfen, was zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist. Dabei ist, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen; ferner müssen die verursachten Nachteile in
68 Vgl. U Kischel, Die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit durch den Europäischen Gerichtshof, EuR 2000, S. 384 (Anm. 20 und 21); S. Heinsohn, Der öffentlichrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Diss. Münster 1997, S. 120 ff. 69 Vgl. Rs. 265/87, Urt. v. 11. Juli 1989, Sig. 2263 (2269); Rs. C-33 1/88, Urt. v. 13. November 1990, Slg. 1 - 4057 (4063). 70 Vgl. Rs. C-I77/99, Urt. v. 19. September 2000, Sig. 1,7013 Rz. 43/60; Rs. T-55/99, Urt. v. 29. September 2000, Slg. 11, 3207 Rz. 163.
71 Herstellbar ist ein Zusammenhang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Verhältnis Grundgesetz - Europarecht: 1974 = "Solange I" ("Vorbehalt"); 1986 = "Solange Il" ("nicht ausüben"); 1993 = "Maastricht" ("Kooperationsverhältnis"). Böswillige könnten folgern, daß sich der EuGH aufgrund der Solange-Rechtsprechung zunächst bemühte, einen vergleichbaren Standard zu gewährleisten, diesen aber nach der Entscheidung von Maastricht zunächst wieder aufgegeben hat.
n EuGH, Rs. C-280/93 Urt. v. 5. Oktober 1994, I - 5039 (5069).
C. Rechtsvergleichende Betrachtung
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angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen ... Unter Berücksichtigung des Vorstehenden wird das Gericht nachfolgend die Stichhaltigkeit des Vorbringens der Verfahrensbeteiligten zu den Fragen prüfen, ob erstens die angefochtene Verordnung eine zur Erreichung des verfolgten Zieles offensichtlich ungeeignete Maßnahme ist (b), ob zweitens weniger belastende Maßnahmen hätten getroffen werden können (c ), ob drittens die durch die angefochtene Verordnung verursachten Nachteile im Hinblick auf das verfolgte Ziel unverhältnismäßig sind (d) und ob viertens diese Nachteile im Rahmen einer Kosten-Nutzen-Analyse außer Verhältnis zu den Vorteilen stehen, die sich aus einem Untätigbleiben ergeben würden (e),,73.
Im übrigen gewährt der Europäische Gerichtshof den Organen der Gemeinschaft stets einen weiten Gestaltungsspielraum. Infolgedessen vergleicht Eckhard Pache die Kontrollintensität mit dem aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in bestimmten Fällen angewandten Evidenzkontrollmaßstab74 • Dieser dient wegen seiner inhaltlichen Offenheit regelmäßig aber nur dazu, ein bereits feststehendes Negativurteil unangreifbar zu machen 75 • Gleich ob der Europäische Gerichtshof formal die Angemessenheit als PTÜfungsmaßstab wählt, seine Verletzung aber nur eine theoretische Möglichkeit bleibt, oder er die PTÜfung auf die Erforderlichkeit beschränkt, bleibt im Ergebnis festzuhalten, daß der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Schutzinstrument individueller Freiheit schwach ausgeprägt ist. Dies ist denn auch der entscheidende Einwand gegen einen allzu sorglosen Verweis auf den Stand des europäischen Rechtsschutzes, wenn es um die Frage nach der Vergleichbarkeit des deutschen und europäischen Grundrechtsschutzes gehe 6 • Kritisch anzumerken ist hierbei, daß aufgrund des gewählten Maßstabes die AngemessenheitspTÜfung selten zugunsten des Individuums ausfallen wird. Dies verdeutlicht die abstrakte Gegenüberstellung der zu wägenden Interessen. Welches Individualinteresse wird die Verwirklichung der Gemeinschaftszwecke, die die Organe der Gemeinschaft mit einer Beschränkung der Freiheit verfolgen, aufwiegen können? In Anbetracht der Bedeutung der Zweckverwirklichung, der 73 EuGH I. Instanz, Urt. v. II.September 2002, Az. T-13-99 ("Pfizer gegen Rat der Europäischen Gemeinschaft"), Ziff. 411/413.
74 E. Pache, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung der Gerichte der Europäischen Gemeinschaften, NVwZ 1999, S. 1039/1040. 75
Vgl. zur Kritik am Evidenzbegriff M Krugmann, Evidenzfunktionen, 1996, S. 1 ff.
Vgl. zur Kritik auch K. Ritgen, Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, ZRP 2000, S. 372. Daß das Ausmaß des eingeräumten Gestaltungsermessen durch den EuGH und das BVerfG vergleichbar ist (in diesem Sinne wohl U Kischel, Die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit durch den Europäischen Gerichtshof, EuR 2000, S. 380 und M Zuleeg, Zum Verhältnis nationaler und europäischer Grundrechte, EuGRZ 2000, S. 512) darf angesichts der mit der Meßbarkeit verbundenen Probleme bestritten werden. 76
III. Zwischenergebnis
65
weiten Schrankenregelung und des ebenfalls weiten Gestaltungsfreiraums der Organe der Europäischen Union kann nicht ausgeschlossen werden, daß einzelne Freiheitsrechte in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nur ein geringes Schutzniveau erhalten werden. Dieser Gefahr kann in ExtremHillen immerhin durch die Heranziehung der Wesensgehaltsgarantie77 begegnet werden. Die Wesensgehaltssperre hat trotz der bestehenden Defizite in bezug auf die Herausarbeitung ihres konkreten Inhaltes als äußerste Grenze der Beschränkung individueller Freiheit in Art. 52 Abs. 1 Eingang in die Grundrechtscharta gefunden 78 • Wenn eine Beschränkung der Freiheit dem Erforderlichkeitsgebot genügt, kann sie im Ausnahmefall an der Wesensgehaltsgarantie scheitern, da kein Gemeinschaftsinteresse einen solchen Eingriff rechtfertigen kann79 • Dieses Ergebnis muß nicht unbedingt auf Ablehnung stoßen, da es immerhin den Respekt des Gerichts vor den Entscheidungen der Gemeinschaftsorgane zum Ausdruck bringt, wenn es darauf verzichtet, seinen eigenen subjektiven Wertungen Vorrang zu geben. Dieser kursorische Einblick in das Gemeinschaftsrecht gestattet zunächst die Feststellung, daß auch hier zwischen dem Erforderlichkeitsgebot und dem Abwägungsgebot unterschieden wird. Fernerhin konnten zumindest Ansätze der Zurückdrängung des Abwägungsgebotes nachgewiesen werden. Da sich auch das Gemeinschaftsrecht weiterentwickelt, bleibt abzuwarten, ob sich das gegenwärtige deutsche Verständnis von der Dreiteilung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes am Ende durchsetzen wird, oder ob z. B. die Wesensgehaltsgarantie an die Stelle der Abwägung tritt und das Erforderlichkeitsgebot ergänzen wird.
III. Zwischenergebnis Der frühe philosophische Ursprung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes kann in den Ausfiihrungen von Aristoteles zur Billigkeit gesehen werden. Mit Hilfe der Verhältnismäßigkeit soll im Einzelfall die Unzulänglichkeit des Gesetzes korrigiert werden. In der Bundesrepublik Deutschland wird der innerstaatliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz heute überwiegend auf das Rechtsstaatsgebot und die Grundrechte gestützt. Im Europäischen Gemeinschaftsrecht finden sich zwar 77 Diese zählt auch zu den Anforderungen des "Solange II"-Beschlusses des Bundesverfassungsgerichtes, vgl. BVerfDE 73,339 Ls. 2.
78 Art. 52: "Jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten muss gesetzlich vorgesehen sein und den wesentlichen Gehalt dieser Rechte und Freiheiten achten".
79
So auchK. Ritgen, Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, ZRP 2000, S. 374 .
.5 Krugmann
66
C. Rechtsvergleichende Betrachtung
sowohl in den Verträgen als auch in der Rechtsprechung Hinweise auf die Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, eine selbständige Ableitungsdogmatik hat sich bislang hieraus aber nicht entwickelt. Die Veröffentlichungen der deutschen Rechtswissenschaft zeichnen sich insbesondere durch ihre Begriffsvielfalt aus. Die fehlende Einheitlichkeit der den Verhältnismäßigkeitsgedanken umschreibender und ausrullender Begriffe kann zu Mißverständnissen fuhren. Wenn allgemein von der Verhältnismäßigkeit die Rede ist, ist zunächst nicht erkennbar, ob ihr der "engere" oder "weitere" Sinn zugrunde liegt. Wünschenswert wäre daher eine Einigung zumindest im Hinblick auf den Sprachgebrauch. Wegen des engen Zusammenhanges zwischen den Merkmalen "Eignung" und "Erforderlichkeit" auf der einen und des strukturellen Unterschiedes zur ,,zumutbarkeit" auf der anderen Seite sollte zwischen einem "Erforderlichkeitsgebot" und einem ,,Abwägungsgebot" unterschieden werden. Ersteres knüpft an objektivierte, letzteres an subjektive Maßstäbe an. Die Beurteilung der Eignung eines gewählten Mittels, mithin die Frage nach dem milderen Mittel, hängt von dem verfolgten Zweck ab. Die Formulierung des angestrebten Zwecks und die Auswahl des dazu erforderlichen Mittels sind eng miteinander verbunden. Aus der Zwecksetzungsfreiheit folgt zugleich auch die Freiheit der Mittelwahl. Für ein Mittel A wird es regelmäßig ein Ziel B geben, das nicht durch ein milderes Mittel erreichbar ist. Das Erforderlichkeitsgebot kann deshalb nur Wirkung entfalten, wenn der Adressat des Gebotes in seiner Zwecksetzungsfreiheit bestimmten Bindungen unterliegt. Werden die Handlungszwecke begrenzt, dann werden zugleich die dazu erforderlichen Mittel reduziert. Die Erreichbarkeit bestimmter Ziele mit bestimmten Mitteln läßt sich weitgehend objektiv feststellen und entsprechend überprüfen. Das Abwägungsgebot verlangt demgegenüber vom Rechtsanwender eine Gratwanderung zwischen der Herstellung von Gerechtigkeit im Einzelfall und einem Verstoß gegen die Gesetzesbindung. Abwägungsentscheidungen sind regelmäßig nur selten vorhersehbar und darüber hinaus nur schwer überprütbar, da sie das Ergebnis individueller Einschätzung sind. Ihnen haftet stets ein gewisses Rationalitätsdefizit an, das im Extremfall zum berechtigten Vorwurf der Willkür fuhren kann. Dieser subjektive Charakter des Abwägungsgebotes ist im wesentlichen der Grund rur die im Schrifttum gegen das "abwägen" erhobenen Einwände.
D. Der VerhäItnismäßigkeitsgrundsatz im Völkerrecht Auf der Grundlage der vorstehenden empirischen sowie der rechtsvergleichenden Betrachtung kann nunmehr der Versuch unternommen werden, den Inhalt des völkerrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes näher zu beschreiben. Voraussetzung für eine Mißverständnisse vermeidende Terminologie ist auch hier zunächst die Verwendung differenzierender Begriffe. Der völkerrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kann wie im deutschen Recht als drei stufiger (Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit) oder aber als ein neben der Erforderlichkeit stehender selbständiger Prüfungsmaßstab verwendet werden. Nicht verwunderlich ist deshalb, daß die im deutschen Recht beobachtete sprachliche Vielfalt sich auch im deutschsprachigen völkerrechtlichen Schrifttum wiederholt. So wird hier - freilich jeweils in unterschiedlichen Kontexten und nicht immer ganz eindeutig erkennbar - der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz mit dem Erforderlichkeitsgeboe, dem Erforderlichkeitsgebot und dem Angemessenheitsgebot2 oder nur mit dem Angemessenheitsgeboe gleichgesetzt. Fernerhin wird der Terminus der Proportionalität als Oberbegriff" aber auch als Teilbegrifr verwendet.
1 J Abr. Frowein, Rn. 11 zu Art. 42, in: B. Simma, Charta der Vereinten Nationen, 1991; A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, 1995, S. 680. 2 M Donner, Die Begrenzung bewaffueter Konflikte durch das moderne jus ad bellum, A VR 33 (1995), S. 169, R. Lagoni, Gewaltverbot, Seekriegsrecht und Schiffahrtsfreiheit im Golfkrieg, Festschrift für Wolfgang Zeidler, Bd. 2 1987, S. 1844; T Bruha IM Bortfeld, Terrorismus und Selbstverteidigung, VN 2001, S. 167; M Genoni, Die Notwehr im Völkerrecht, 1987, S. 132.
J 0. Kimminich I S. Hobe, Einfiihrung in das Völkerrecht, 7. Aufl. 2000, S. 39, 282; R. Voigtländer, Notwehrrecht und kollektive Verantwortung, 2001, S. 34; vgl. aber auch ebenda S. 36 "Erforderlichkeit und Proportionalität". 4 A. Randelzhofer, Rn. 37 zu Art. SI, in: B. Simma, Charta der Vereinten Nationen, 1991. 5 J Delbrück, Staatliche Souveränität und die neue Rolle des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, VRÜ 1993, S. 20. Der IGH unterscheidet ebenfalls "necessity" und "propotionality", vgl. IGH, ICl Report 1986, 14 (103), Ziff. 194 und (122) Ziff. 237 "Nicaragua"; IGH, ICl Report 1996,226 (242) - "Nuklearwaffen".
5'
68
D. Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht
Erfolgt die Heranziehung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ohne einen klarstellenden Zusatz, so fUhrt dies auch im Völkerrecht regelmäßig zu erheblichen Einbußen an inhaltlicher Bestimmtheit und damit zu einem Mangel an Rechtssicherheit6 • Zur Herstellung eines Minimums der begrifflichen Klarheit bedarf es - ebenso wie im nationalen und europäischen Rechtskreis - vor allem einer Trennung zwischen dem Gebot der Erforderlichkeit auf der einen und dem Abwägungsgrundsatz auf der anderen Seite. Neben den mit der unterschiedlichen Terminologie verbundenen Bedenken werden inhaltliche Zweifel an der Richtigkeit einer expandierenden Instrumentalisierung der Verhältnismäßigkeit als Rechtsgebot treten. Am Beginn des Versuchs, diesem einen eigenständigen Gehalt zu geben, steht auch im Völkerrecht zunächst die Suche nach seinem Ursprung bzw. seiner Ableitung. Die nähere Betrachtung des Erforderlichkeitsgebotes wird aufzeigen, daß dieses im Völkerrecht - anders als im nationalen Recht - weitgehend leerläuft. Auch das Abwägungsgebot kann, wie nachgewiesen wird, im völkerrechtlichen Kontext wegen der Unterschiede, die zwischen dem Völkerrecht und dem nationalen Recht bestehen, nur eine begrenzte Wirksamkeit entfalten.
I. Begründung und Grenzen des Erforderlichkeitsgebotes 1. Das Erforderlichkeitsgebot als Grundsatz des
Individualrechtsschutzes
Auch im Völkerrecht besteht ein Zusammenhang zwischen der Ableitung des Grundsatzes und seines potentiellen Wirkungsbereichs 7• Zur Ableitung eines völkerrechtlichen Erforderlichkeitsgebotes kann nur z.T. an innerstaatliche Begründungen angeknüpft werden. Eine gedankliche Verbindung zum Individualrechtsschutz läßt sich immerhin in bezug auf das polizeirechtliche Eingriffsrecht herstellen. Das Erforderlichkeitsgebot, mithin der Grundsatz des mildesten Mittels, findet sich, wie die bisherigen Ausfiihrungen gezeigt haben, nicht nur in vielen internationalen Vertrags bestimmungen, sondern dürfte als allgemeiner Rechtsgrundsatz generell für den Individualrechtsschutz gelten.
Im Rahmen des Schutzes des Individualfreiheit ergibt sich ein Geltungsgrund für das Erforderlichkeitsgebot zwanglos aus der Menschenrechtsidee. Der Grund6 So ist z. B. bei 0. Kimminich / S. Hobe, Einführung in das Völkerrecht, 7. Aufl. 2000, S. 228 und bei K. Doehring, Völkerrecht, 1999, § 21 Rn. 1033 nicht unmittelbar erkennbar, welcher Maßstab anzusetzen ist.
7
Zur Ableitung im deutschen Recht s.o. C. I. I.
I. Begründung des Erforderlichkeitsgebotes
69
satz, daß ein Eingriff in die Rechte des Individuums nicht weitergehen soll als erforderlich, dürfte damit zu den wesentlichen Bestandteilen des Individualrechtsschutzes zählen. Er haftet ihm gleichsam an, da dieser ohne diese "SchrankenSchranke" kaum Wirkung entfalten würde. Die einschlägigen internationalen Vereinbarungen zum Schutz von Individualrechten begrenzen staatliche Eingriffe auf das, was erforderlich ist. Nationaler Grundrechtsschutz und internationaler Schutz der Menschenrechte unterscheiden sich hierin nicht wesentlich. Zwischen dem Menschenrechts- bzw. Grundrechtsschutz und dem Erforderlichkeitsgebot besteht anscheinend ein innerer sachlicher Zusammenhang. Demgegenüber muß außerhalb des Individualrechtsschutzes eine andere Begründung für die Geltung des Erforderlichkeitsgrundsatzes gegeben werden. Im Völkerrecht begegnen sich regelmäßig gleichberechtigte souveräne Staaten. Der zwischen den Staaten typischerweise bestehende gleiche Rang kann als Koordinationsverhältnis bezeichnet werden. Eine Ableitung aus dem subordinationsrechtlich geprägten Individualrechtsschutz ist hier nicht möglich. Warum also sollen eine Repressalie, das Selbstverteidigungsrecht oder auch eine Maßnahme des Sicherheitsrates nicht über das hinausgehen können, was erforderlich ist? 2. Schädigungsverbot
Im Postulat, daß Einschränkungen der Individualrechte durch das Erforderlichkeitsgebot begrenzt werden müssen, gelangt die Erkenntnis zum Ausdruck, daß staatliche Eingriffe, die nicht erforderlich sind, das Individuum in nicht gerechtfertigter Weise beeinträchtigen, ihn mithin "schädigen". Es handelt sich deshalb um ein Schädigungsverbot. Soweit ein allgemeines Schädigungsverbot im Völkerrecht anerkannt ist, kann demzufolge ein über den Individualrechtsschutz hinausgehendes Erforderlichkeitsgebot ebenfalls hierauf gestützt werden. Die im zweiten Teil dargestellten Anwendungsbeispiele aus dem Völkervertragsrecht lassen erkennen, daß das Erforderlichkeitsgebot positiv-rechtlich begründet ist. Anhand der angefiihrten Beispiele kann als Inhalt eines weitergehenden al1gemeingültigen Rechtsgedankens deshalb folgende These formuliert werden: Soweit eine Maßnahme eines Völkerrechtssubjekts ein Recht eines anderen Völkerrechtssubjekts berührt, darf dessen Beeinträchtigung nicht über das jeweils erforderliche Maß hinausgehen. Das Erforderlichkeitsgebot könnte sich insoweit als Bestandteil bzw. ein Anwendungsfal1 eines al1gemeinen Rechtsmißbrauchsbzw. Schädigungsverbotes erweisen. Geltung, Inhalt und Umfang des Rechtsmißbrauchsverbotes im Völkerrecht sind umstritten. Während z. B. Albert Bleckmann bereits im Jahre 1995 die
70
D. Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht
Rechtsmißbrauchstheorie und das seiner Ansicht nach in ihr enthaltene Verhältnismäßigkeitsprinzip zur Lösung von Interessenkollisionen heranzieht8, konstatiert Knut Ipsen noch vier Jahre danach, daß ein Mißbrauchsverbot weder als ein allgemeiner Rechtsgrundsatz i.S. des Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut, noch sonst als allgemeiner Grundsatz der Völkerrechts anerkannt sei 9 • Regelmäßig sei ein Rückgriff auf das Rechtsmißbrauchsverbot nicht nötig, da in den in Betracht kommenden Fällen bereits eine andere völkerrechtliche Gebots- oder Verbotsnorm verletzt sei lO • Wiederum andere wollen den Anwendungsbereich des Rechtsmißbrauchsverbotes auf Extremfälle beschränken 11 . Demgegenüber hat im Zusammenhang mit dem internationalen Umweltschutz der Rechtsmißbrauchsgedanke in Gestalt eines umweltrechtlichen Schädigungsverbotes weitgehende Zustimmung erfahren. Hier wird das "Verbot erheblicher grenzüberschreitender Umweltbeeinträchtigungen" zunehmend als Satz des Völkergewohnheitsrechts verstanden, das einerseits auf den Schutz der territorialen Integrität als Bestandteil der Souveränität und andererseits auf den Grundsatz 21 der Erklärung der Konferenz der Vereinten Nationen über die Umwelt des Menschen vom 16. Juni 1972 gestützt wird 12 • Das auf dem Souveränitätsdenken der Staaten beruhende weite Ermessen wird im modernen Völkerrecht aufgrund der zunehmenden zwischenstaatlichen Abhängigkeiten und der wechselseitigen Einbindung der Staaten in die Völkerrechtsgemeinschaft begrenzt. Vor allem die Bemühungen um einen verbesserten Schutz der Menschenrechte beweisen die Tendenz der Zurückdrängung eines grenzenlo8 A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, 1995, S. 679 f. und S. 953 ff.; vgl. aber auch schon ders., Grundprobleme und Methoden des Völkerrechts, 1982, § 12, S. 251 ff. (259). 9 K. Ipsen, Völkerrecht, 4. Aufl. 1999, § 39 Rz. 46. Gegen die Existenz eines Rechtsmißbrauchsverbotes spricht sich insbesondere R. K. Neuhaus, Das Rechtsmißbrauchsverbot in heutigen Völkerrecht, 1984, S. 11 ff. (183 ff.) aus.
10
K. Ipsen, Völkerrecht, 4. Aufl. 1999, § 39 Rz. 45.
Vgl. dazu P. Hector, Das völkerrechtliche Abwägungsgebot, 1992, S. 141 ff. (144) m.w.Nw. 11
12 Vgl. jeweils m. w. Nw.: A. Epiney, Das "Verbot erheblicher grenzüberschreitender Umweltbeeinträchtigungen": Relikt oder konkretisierungsfähige Grundnorm?, AVR 33 (1995), S. 323; G. Zimmer, Internationale Sicherheit und völkerrechtlicher Umweltschutz, 1998, S. 21 ff. Der Grundsatz lautet: "Die Staaten haben nach der Charta der Vereinten Nationen und den Grundsätzen des Völkerrechts das souveräne Recht, ihre eigenen Naturgüter gemäß ihrer eigenen Umweltpolitik zu nutzen, sowie die Pflicht, dafür zu sorgen, daß durch Tätigkeiten, die innerhalb ihres Hoheitsbereichs oder unter ihrer Kontrolle ausgeübt werden, der Umwelt in anderen Staaten oder in Gebieten außerhalb der nationalen Hoheitsbereiche kein Schaden zugefiigt wird".
I. Begründung des ErforderIichkeitsgebotes
71
sen Souveränitätsverständnisses. So kann heute auch eine innerstaatliche Verletzung von Menschenrechten eine Friedensbedrohung darstellen, die die Zuständigkeit des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen begründet 13 • Für die Annahme eines völkerrechtlich verbindlichen allgemeinen Rechtsmißbrauchsverbotes sprechen wiederum diejenigen Menschenrechtsschutzbestimmungen, die den Vertragspartnern eine den Zwecken der jeweiligen Vereinbarung zuwiderlaufende Interpretation verbieten. So heißt es z. B. in Art. 5 Abs. 1 IPBPR: "Keine Bestimmung dieses Paktes darf dahin ausgelegt werden, daß sie fiir einen Staat, eine Gruppe oder eine Person das Recht begründet, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung zu begehen, die auf die Abschaffung der in diesem Pakt anerkannten Rechte und Freiheiten oder auf weitergehende Beschränkungen dieser Rechte und Freiheiten, als in dem Pakt vorgesehen, hinzielt,,14.
Die inhaltlichen Anforderungen an ein völkerrechtliches Rechtsmißbrauchsverbot und die Abgrenzungskriterien zu verwandten Grundsätzen sind ebenfalls umstritten 15 . Für den vorliegenden Zusammenhang interessieren dabei vor allem das Erfordernis der absichtlichen Schädigung eines anderen Staates und das Verbot, ein Recht zu einem anderen Zweck als vorgesehen, auszuüben. Auf das hier ebenfalls genannte Verbot, wonach die Rechtsausübung keinen Schaden verursachen darf, der unverhältnismäßig höher als der eigene Nutzen ist 16, wird wegen der Nähe zum Abwägungsgebot sogleich dort zurückzukommen sein. Da der Rechtsmißbrauchsvorwurfbegrifflich auf ein subjektives Fehlverhalten verweist, wird regelmäßig eine Schädigungsabsicht vorausgesetzt. Diese wäre etwa gegeben, wenn der handelnde Staat ein ihm zustehendes Recht, wie etwa die Repressalie oder das Selbstverteidigungsrecht nutzt, um einem anderen Staat einen Schaden zuzufügen. In der Praxis dürfte dieses Erfordernis nur ausnahmsweise feststellbar sein. Kaum ein Staat wird sich dazu bekennen, mit Schädigungsabsicht gehandelt zu haben. Sobald das Verhalten zugleich auf ein nichtschädigendes Motiv gestützt werden kann, dürfte der Nachweis der Schädigungs13 Vgl. Res. 794: Schaffung eines sicheren Umfeldes fiir die humanitären Hilfsmaßnahmen in Somalia mit allen erforderlichen Mitteln, vom 3. Dezember 1992.
14 Ähnliche Auslegungsverbote enthalten Art. 30 AEMR, Art. 5 IPWSKR, Art. 17 und 18 EMRK. 15 AusfiihrIich C. Rinds, Das Prinzip "sie utere tuo ut alienum non laedas" und seine Bedeutung im internationalen Umweltrecht, A VR 30 (1992), S. 302 ff. 16 C. Rinds, Das Prinzip "sie utere tuo ut alienum non laedas" und seine Bedeutung im internationalen Umweltrecht, A VR 30 (1992), S. 302 m. w. Nw. Vgl. zum SchadenNutzen-Vergleich bereits oben B. IV. 2. und sogleich zu D. III. I. b).
72
D. Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht
absicht nicht mehr gelingen. Letztlich kann auf diese nur aufgrund der Umstände geschlossen werden. Das könnte der Fall sein, wenn das Verhalten gegen das Erforderlichkeitsgebot verstößt. Eine zweckbestimmte aber nicht erforderliche Beeinträchtigung der Interessen eines anderen Staates indiziert hier den Vorwurf der Schädigung. Damit ist eine nähere Betrachtung des Zusammenhanges von "Erforderlichkeit" und ,,zwecksetzungsfreiheit" geboten.
3. Zwecksetzungsfreiheit und Zwecktauglichkeit Die am Beginn dieses Abschnitts angedeutete begrenzte Wirksamkeit des Erforderlichkeitsmaßstabes ergibt sich aus der Offenheit der Zweckbestimmung 17 • Welchen Zweck eine Handlung verfolgt, bestimmt zunächst das grundsätzlich souverän handelnde Völkerrechtssubjekt, mithin die jeweils zuständigen Organe eines Staates. Diese unterliegen bei der Setzung ihrer Handlungszwecke grundsätzlich keiner Bindung. Da sich darüber hinaus Zweck und Mittel wechselseitig beeinflussen, also die Auswahl des Zwecks die zur Zweckerreichung erforderlichen Mittel bestimmt und umgekehrt mit den ausgewählten Mitteln ein bestimmter Zweck erreicht werden kann, ist im Ergebnis alles was der Erreichung eines legitimen Zweckes dient zugleich "erforderlich". Einem Staat ist es im allgemeinen nicht verwehrt, zunächst den Einsatz eines bestimmten Mittels zu beschließen, um danach den Zweck zu ermitteln, der den Einsatz gerade dieses Mittels rechtfertigt. Die Entscheidungskompetenz über die zu verfolgenden Zwecke ist der Ausgangspunkt für die Bestimmung dessen, was "erforderlich" ist. Nur durch eine Begrenzung der Zwecksetzungsfreiheit kann auch eine Begrenzung der dann erforderlichen Mittel erfolgen. Die Wechselbeziehung zwischen dem Erforderlichkeitsgebot und der Zwecksetzungsfreiheit sei anband des nachfolgenden drastischen Beispiels veranschaulicht: Angenommen, ein Staat möchte eine Volksgruppe, die sich im Grenzgebiet zum Nachbarstaat aufhält, bekämpfen, weil einige Angehörige dieser Gruppe gelegentlich Sprengstoffanschläge zur Erreichung weitgehender Autonomierechte auf seinem Staatsgebiet verüben. Als Mittel wird der Einsatz einer biologischen Waffe erwogen, die auf den Menschen flächendeckend tödlich wirkt. Lautet das Ziel des Kampfmitteleinsatzes "Bekämpfung der Sprengstoffanschläge", dann dürfte das Mittel "flächendeckende Tötung durch den Einsatz einer biologischen 17 V gl. zur Bedeutung der Zwecksetzung auch F. Ermacora, Das Verhältnismäßigkeitsprinzip im österreichischen Recht sowie aus der Sicht der Europäischen Menschenrechtskonvention, in: Deutsche Sektion der Internationalen Juristen-Kommission, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in europäischen Rechtsordnungen, 1985, S. 67 f.
I. Begründung des Erforderlichkeitsgebotes
73
Waffe" zwar geeignet, nicht aber auch erforderlich sein. Lautet der Zweck hingegen Vernichtung der Volksgruppe, dann ist das Mittel geeignet und erforderlich. Die Frage nach einem milderen Mittel kann sich dann allenfalls auf die Auswahl der dafür einzusetzenden Waffe beziehen. Das Beispiel belegt die Wichtigkeit und Notwendigkeit einer Begrenzung der staatlichen Zwecksetzungsfreiheit. Im nationalen deutschen Recht erfolgt diese zuallererst durch die Verfassung, die die Verfolgung ihr entgegenstehender Zwecke verbietet. Umfassenden Zweckbegrenzungen unterliegt die Verwaltung durch die Gesetzesgebundenheit. Da sich diese innerstaatlichen Wirkungsweisen der Machtbegrenzung in dieser Form nicht in vergleichbarer Weise im Völkerrecht wiederfinden, müssen sich die Grenzen der Zwecksetzungsfreiheit des Staates als Völkerrechtssubjekt aus anderen Quellen ergeben. Die flächendeckende Tötung einer Volksgruppe verstößt im Ausgangsfall gegen die Völkermordkonvention 18 und kann deshalb keinen legitimen Zweck abgeben. Wäre ein Völkermord erlaubt, dann würden sich hier zwei Lösungsvarianten ergeben. Stützt der Staat sein Verhalten auf den Zweck Bekämpfung der Sprengstoffanschläge, dann wäre der Einsatz der Waffe nicht zwingend erforderlich, da mildere Mittel in Betracht zu ziehen wären. Würde er hingegen den Einsatz mit dem Zweck "Vernichtung der Volksgruppe" begründen, wäre der Einsatz konsequenterweise "gerechtfertigt". Die Beschränkung der Zwecksetzungsfreiheit kann sich mithin aus internationalen Vereinbarungen ergeben, in denen sich die Vertragsstaaten verpflichten, bestimmte Zwecksetzungen zu unterlassen. Weitere Begrenzungen können sich aus bindenden Beschlüssen internationaler Organisationen und insbesondere aus dem Völkergewohnheitsrecht und vor allem aus den als ius cogens geltenden Überzeugungen ergeben. Der Bestand solcher Zweckverbote ist naturgemäß begrenzt. Zu nennen sind neben dem Verbot des Völkermordes in erster Linie das Verbot der Sklaverei und das Gewaltverbot l9 • Ist danach der Zweck illegal, dann ist es auch das Mittel zur Zweckerreichung. Bedeutung erhält der Erforderlichkeitsgrundsatz danach nur in den Fällen, in denen für ein bestimmtes Mittel kein legaler Zweck denkbar ist oder das handelnde Völkerrechtssubjekt sich selbst bindet, indem es einen bestimmten Zweck verbindlich erklärt und diesen mit einem nicht erforderlichen Mittel zu erreichen versucht. Dieses könnte dann als Verstoß gegen den Grundsatz des "venire contra factum proprium" gewertet 18 Vgl. Art. II der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes vom 9. Dezember 1948. 19 s. a. S. Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, 1992, S. 210 ff.; K. Ipsen, Völkerrecht, 4. Aufl. 1999, § 15 Rz. 59 (Heintschel v. Heinegg).
74
D. Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht
werden. Staaten, denen es um die Wahl bestimmter Mittel geht, kann daher nur in den Fällen ein Verstoß gegen den Erforderlichkeitsgrundsatz vorgeworfen werden, in denen kein dazu passender erlaubter Zweck denkbar ist. Damit verliert der Grundsatz weitgehend seine eigenständige Bedeutung. In den Vordergrund rückt demgegenüber die Ermittlung der Grenzen der Zwecksetzungsfreiheit. In bezug auf das Selbstverteidigungsrecht führt dies z. B. zur Auslegung der Grenzen der Selbstverteidigung. Maßnahmen, die nicht unter das Selbstverteidigungsrecht fallen, sind auch nicht erforderlich. Eine Begrenzung der als rechtmäßig zu erachtenden Verteidigungshandlungen beginnt bei der Subsumtion der Voraussetzungen des Selbstverteidigungsrechtes, nicht erst bei der Erforderlichkeit, gleich ob diese Bestandteil der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist oder nicht.
4. Zwischenergebnis Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, daß das Erforderlichkeitsgebot fiir einen effektiven Individualrechtsschutz unerläßlich ist. Bei Eingriffen in die Freiheit des Individuums kommt gerade der Begrenzung der staatlichen Zwecksetzungsfreiheit eine besondere Bedeutung zu. Die vertraglichen Verpflichtungen zum Schutz der Bürger enthalten regelmäßig Hinweise darauf, zu welchem Zweck die Staaten in die Rechte ihrer Bürger eingreifen können. Diese vertraglichen Zwecksetzungsgrenzen sind wesentliche Garanten fiir den Erhalt bzw. fiir die Entwicklung individueller Freiheit. Daher kann dort der Erforderlichkeitsmaßstab seine volle Wirkung entfalten. Eingriffe in Rechte des Einzelnen, die nicht den vertraglich vereinbarten Eingriffszwecken dienen, sind unzulässig. Dienen sie dem vereinbarten Zweck, so dürfen sie nicht über das zur Zweckerreichung erforderliche Maß hinausgehen. Fehlen umgekehrt Zweckbestimmungen, können beliebige Interessen zum Anlaß genommen werden, die Freiheit des Einzelnen nachhaltig zu beschränken.
Im Zusammenhang mit Handlungen souveräner Völkerrechtssubjekte außerhalb von Eingriffen in die Individualfreiheit handelt es sich bei der Erforderlichkeitsprüfung hingegen um ein sehr schwaches Begrenzungskriterium. Nur dort, wo die Staaten Zwecke verfolgen, die ihnen vom Völkerrecht, insbesondere durch zwingendes Völkerrecht verboten sind oder sie sich vertraglich selbst gebunden haben, kann ein Zweckverstoß in Betracht kommen. Dann aber bedarf es nicht mehr der Figur des Rechtsrnißbrauchs, da bereits regelmäßig eine "allgemeine" Rechtsverletzung vorliegt.
II. Begründung des Abwägungsgebotes
75
11. Begründung des Abwägungsgebotes 1. Billigkeit im Völkerrecht? Die Suche nach einem Geltungsgrund fiir das Abwägungsgebot fUhrt auch im Völkerrecht zunächst zur Billigkeitsidee. Dem Völkerrecht ist der Gedanke der Billigkeit ebensowenig fremd wie dem deutschen Recht20 . Dabei interessiert im vorliegenden Zusammenhang weniger die durch Art. 38 Abs. 2 des Statuts des Internationalen Gerichtshofs (IGH-Statut) gegebene Möglichkeit, mit Zustimmung der Parteien ex aequo et bono zu entscheiden, sondern vielmehr das dem Völkerrecht innewohnende allgemeine Billigkeitsprinzip, das auch ohne Zustimmung der Parteien zur Entscheidungsfindung herangezogen werden kann21 . Die Diskussion um den Inhalt des heute geltenden, hinsichtlich seiner Ableitung und seines Inhaltes aber gleichwohl umstrittenen, modernen Billigkeitsrechts findet ihren Ursprung in der Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs vom 20. Februar 1969 zum Nordsee-FestiandsockeJ2 2. Da nach den seinerzeit zur Verfiigung stehenden Entscheidungsgrundlagen eine zufriedenstellende Kontinentalschelfabgrenzung zwischen den Niederlanden, der Bundesrepublik Deutschland und Dänemark nicht möglich erschien23 , griff der Gerichtshof auf den Billigkeitsgrundsatz zurück und sorgte auf diese Weise fiir eine "gerechtere" Aufteilung des Kontinentalschelfs. Die Entscheidung wurde in der Folgezeit dahingehend verstanden, daß eine Billigkeitsentscheidung nur dort Platz greifen kann, wo den Richtern trotz ihrer Bindung an das positive Recht noch ein Entscheidungsfreiraum verbleibt (Billigkeit intra legem)24. Die zum Ausdruck gelangte Funktion der Billigkeit liegt damit nicht wie bei Aristoteles in der Korrektur des "Gesetzes" (Billigkeit contra 20 Vgl. dazu bereits C. I. l.a). 21 Unterschieden wird im allgemeinen zwischen einer innerrechtlichen, mithin immanenten und einer außerrechtlichen, durch die Zustimmung der Parteien bewirkte Billigkeit, vgl. IGH, ICJ Report 1969, 3 (48 ff.), Ziff. 88 - "Nordsee-Festlandsockel"; A. Verdross / B. Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984, § 658. 22 lOH, JCJ Report 1969,3 ff. - "Nordsee-Festlandsocke1"; vgl. aus dem Schrifttum M E. Villiger, Die Billigkeit im Völkerrecht, AVR 25 (1987), S. 174 ff.; M W. Janis, The
ambiguity ofequity in intemationallaw, Brook1yn Journal ofIntemational Law 1983, S. 7 ff.
23 Vgl. Art. 76 ff. Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1982.
24 M E. Villiger, Die Billigkeit im Völkerrecht, A VR 25 (1987), S. 185; K. Ipsen, Völkerrecht, 4. Aufl. 1999, § 19 Rz. 14 (Heintsche1 von Heinegg).
D. Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht
76
legem)25, sondern in der Legitimation einer begrenzten Lückenschließung. Richterliche Billigkeitsentscheidungen werden deshalb im Völkerrecht allgemein darm anerkarmt, wenn sie ihren Ursprung im positiven Recht haben, diesem mithin immanent sind. Sie sollen aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls Rechtshärten mildem und sich innerhalb des richterlichen Entscheidungsspielraums bewegen. Ob das Völkerrecht eine darüber hinausgehende Ermächtigung zu einer Lückenschließung bereithält, die neues Recht schafft, ist umstritten. Nach dem gegenwärtigen Entwicklungsstand des Völkerrechts dürfte die Ermächtigung zur Lückenschließung contra legern aber weder als Bestandteil des Völkergewohnheitsrechts noch als allgemeiner Rechtsgrundsatz gemäß Art. 38 Abs. 1 IGHStatut anerkarmt sein 26 . Dessen ungeachtet würde sich auch hier die Frage nach verläßlichen, der Rechtssicherheit dienender Kriterien stellen, die einer Billigkeitsentscheidung des Internationalen Gerichtshofs die notwendige Akzeptanz verleihen. Für den vorliegenden Kontext sind die Vor- und Nachteile dieser Billigkeit im Völkerrecht jedoch nicht entscheidend27 . Maßgebend ist der Umstand, daß die Aufgaben und die Stellung des Gerichtshofs nicht mit denen der innerstaatlichen Gerichtsbarkeit vergleichbar sind. Nach dem deutschen Rechtsstaatsverständnis ist der Richter befugt, im Einzelfall zur Verwirklichung der Gerechtigkeit rechtsschöpfend tätig zu sein. Das Gewaltrnonopol des Staates verpflichtet diesen überdies dazu, für die Durchsetzung von Rechtsansprüchen seiner Bürger zu sorgen28 . Die weitgehende richterliche Lückenschließungsbefugnis ist Bestandteil des Rechtsschutzsystems. Dem Völkerrecht fehlt aber eine obligatorische zur Rechtsfortbildung ermächtigte Justiz. Selbst in den Fällen, in denen der Internationale Gerichtshof tätig wird, ist ihm eine mit der "Korrektur des Gesetzes" vergleichbare "Vertragskorrektur" nicht gestattet. Sein Spielraum bewegt sich innerhalb des geltenden Rechts und der anerkarmten Auslegungsregeln 29 . Deshalb karm dem Billigkeitsgedanken im Völkerrecht nicht die gleiche Bedeutung zukommen, die er z. B. im deutschen Recht hat. Als begrenztes richterliches Instrument scheidet die völkerrechtliche Billigkeit damit auch als allgemeingültiger 25
Vgl. dazu oben C. I. l.a).
K. Ipsen, Völkerrecht, 4. Aufl. 1999, § 19 Rz. 9 ff. (Heintschel v. Heinegg); M E. Vi/liger, Die Billigkeit im Völkerrecht, A VR 25 (1987), S. 174 (185 ff.); IGH, ICJ-Report 26
1969,3 (53 f.) - "Nordsee-Festlandsockel". 27
Vgl. dazu M E. Villiger, Die Billigkeit im Völkerrecht, A VR 25 (1987), S. 198 ff.
28
Vgl. zum Gewaltmonopo! oben B. V. 2.
29
Vgl. Art. 31 ff. des Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (WVRK).
II . Begründung des Abwägungsgebotes
77
Legitimationsgrund für den "Verhältnismäßigkeitsgrundsatz", d. h. hier für das Abwägungsgebot, aus. 2. "Rechtsstaatlichkeit"? Eine Ableitung des Abwägungsgebotes aus dem Rechtsstaatsgedanken scheidet aus, solange die Völkerrechtsordnung nicht mit einem rechtsstaatlichen Gebilde vergleichbar ist. Erst mit der Gründung eines Weltstaates, der eine obligatorische Justiz bereithält, würde der Grundsatz gleichsam Verfassungsrang erhalten, so daß dann auch ein Rückgriff auf das Prinzip der Billigkeit die Ableitung des "Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes" ennöglichen würde. Ob die Entstehung eines solchen Staates überhaupt wünschenswert ist, kann angesichts der geringen Chancen einer Verwirklichung hier dahingestellt bleiben 30 •
3. Menschenrechtsschutz? Im Zusammenhang mit dem Menschenrechtsschutz kann zur Begründung und Rechtfertigung der Notwendigkeit einer Rechtsgüterabwägung wiederum auf die Erkenntnisse des nationalen Rechts zurückgegriffen werden, soweit die Heranziehung des Abwägungsgebotes dort auf dem im Laufe der Entwicklung des deutschen Grundrechtsschutzes erlebten Bewußtseinswandel beruht. Ein ähnliches Menschenrechtsverständnis scheint sich auch auf internationaler Ebene abzuzeichnen. Diese Entwicklung ist jedoch nicht zwingend. Der Individualrechtsschutz kann sich, wie im frühen deutschen Polizeirecht zunächst vorgesehen, auch auf eine Erforderlichkeitsprüfung beschränken. Demgegenüber gebietet ein modernes und effektives Schutzsystem die Hinzuziehung des Abwägungsgebotes, da es grundsätzlich den Freiheitsschutz des Einzelnen erweitert. Die zusätzliche Begrenzung staatlicher Entscheidungsbefugnisse zur Beschränkung individueller Freiheit folgt aus dem Willen zur Durchsetzung eines wirksamen Menschenrechtsschutzes. Danach können für die Zweckerreichung erforderliche Mittel bei übennäßiger Belastung des Einzelnen rechtswidrig sein. Abwägungstätigkeit ist in erster Linie Richterarbeit und obliegt damit den Gerichten. Zwar bindet nach nationalem Verständnis der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz grundsätzlich die gesamte hoheitliche Gewalt, aber es handelt sich im Grunde um Richterrecht, das seine volle Wirkung erst im Rahmen einer justizf6r30
Vgl. zum Weltstaatsgedanken oben B. V. 2.
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D. Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht
migen Überprüfung hoheitlicher Akte im Einzelfall entfaltet. Die europäischen Staaten haben sich dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte unterworfen, der die Rechtmäßigkeit der von den Vertrags staaten vorgenommenen Eingriffe überprüft3l • Über die Einhaltung des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte wacht der Ausschuß für Menschenrechte, sofern die Staaten dem darauf gerichteten Fakultativprotokoll beigetreten sind32 • Entscheidungen der zum Schutz des Einzelnen geschaffenen Einrichtungen bedürfen in erheblichem Maße der Akzeptanz der von ihr betroffenen Staaten. Das der deutschen Verfassung zugrunde liegende Freiheitsverständnis wird nicht in gleichem Maße von allen anderen Staaten der Erde geteilt. Eine sehr weitgehende oder gar ausufernde Bemühung des Abwägungsgebotes durch internationale Gerichte und anderen Organen könnte sich hier kontraproduktiv auswirken. Es besteht die Gefahr, daß die Staaten diejenigen Entscheidungen nicht beachten, bei denen sie den Eindruck gewinnen müssen, sei seien das Ergebnis einseitiger Gewichtungen. Zu den zentralen Vorbehalten gegen eine "alles abwägende" Rechtsprechung zählte auch in Bezug auf die deutsche Rechtsprechung vor allem die Gefahr, daß die Gerichte der Versuchung erliegen könnten oder bereits erlegen sind, ihre Kompetenz durch eine extensive, das positive Recht im Ergebnis korrigierende Heranziehung des Abwägungsgrundsatzes zu überschreiten33 • Deshalb ist ein durch Richterrecht geschaffenes Abwägungsgebot nur bedingt empfehlenswert. Hinzu kommt, daß Abwägungsentscheidungen grundsätzlich das Ergebnis höchst subjektiver Einschätzungen sind. Außer in Extremfällen läßt sich das Übergewicht des einen über das andere Rechtsgut nicht mit einer hinreichenden Eindeutigkeit feststellen. Das Gewichtungsergebnis ist daher regelmäßig offen. Im Streit zweier Staaten werden die Kontrahenten meist wechselseitig davon überzeugt sein, daß gerade ihr eigenes Interesse schwerer wiegt, als das ihres Gegenübers. Deshalb bedarf es der Entscheidung einer dazu ermächtigten Instanz. Denn wer eine Entscheidung eines anderen anhand des Abwägungsgebotes überprüft, setzt sein eigenes persönliches Abwägungsergebnis an die Stelle des anderen. Die deutsche Rechtsprechung ist im Rahmen der ihr zugewiesenen 31
Artt. 19 ff. EMRK.
32 Vgl. Gesetz zum Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 21. Dezember 1992, BGBI. II 1992, S. 1246 ff. Nach Art. 2 des Fakultativprotokolls können Einzelpersonen, die behaupten, in einem ihrer im Pakt niedergelegten Rechte verletzt zu sein, und die alle zur Verfiigung stehenden innerstaatlichen Rechtsbehelfe erschöpft haben, dem Ausschuß fiir Menschenrechte eine schriftliche Mitteilung zur Prüfung einreichen. 33
Vgl. oben C. I. 4.
H. Begründung des Abwägungsgebotes
79
Aufgaben (Herstellung materieller Gerechtigkeit mit der Befugnis zur Rechtsfortbildung) hierzu zumindest berechtigt, wenn nicht sogar verpflichtetl 4 • Sie bewegt sich aber an der Grenze zur Kompetenzüberschreitung, wenn das Abwägungsergebnis keine ausreichende Stütze im positiven Recht findet. Die aufgezeigten Gefahren dürften im Bereich des internationalen Rechts zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht besonders groß sein. Dies vor allem deshalb nicht, weil die Mechanismen zum Individualrechtsschutz im Völkerrecht (noch) nichtwie im nationalen Recht - die Qualität einer "dritten Gewalt" haben. Der latent stets bestehenden Gefahr einer Kompetenzüberschreitung und einem damit zusammenhängenden Akzeptanzverlust internationaler Gerichtsbarkeit kann mit einer restriktiven Auslegung, mithin mit einer zurückhaltenden Prüfungsintensität, begegnet werden. Die sich abzeichnende Neigung, auch im internationalen Individualrechtsschutz den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als ungeschriebenes Richterrecht heranzuziehen, begegnet geringeren Bedenken, wenn dadurch nur solche Verhaltensweisen erfaßt werden, die nachhaltig in die Rechte der Betroffenen eingreifen. Zu denken wäre etwa an die Wiederbelebung der in Art. 19 Abs. 2 des deutschen Grundgesetzes enthaltenen Wesensgehaltsgarantie, die auch in Art. 52 Abs. 1 S. 1 der Europäischen Grundrechtscharta aufgenommen wurde 35 • Der im deutschen Schrifttum gefiihrte Streit um den Inhalt der Wesensgehaltsgarantie dürfte sich dann auf völkerrechtlicher Ebene nicht wiederholen. Voraussetzung ist, daß der Inhalt der Wesengehaltsgarantie nicht mit dem allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gleichgesetd 6, sondern enger gefaßt wird. Dafiir spricht vor allem, daß die Wesengehaltsgarantie ohnehin nur mit dem Abwägungsgebot verknüpft wird, nicht aber auch mit dem Erforderlichkeitsgebot. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hat sich als differenzierende Schranken-Schranke erwiesen, die im Streitfall bereits dort eingreifen kann, wo der Wesensgehalt nicht in Gefahr ist 37 • Eine Wesensgehaltsgarantie des Völkerrechts muß sich auf den Schutz vor einer Aushöhlung der Freiheitsrechte beschränken und kann deshalb nur einen
34
Dazu M Krugmann, Evidenzfunktionen, 1996, S. 43 ff. und 53 ff. m. Nw.
35
Vgl. oben C. 11. I.
Vgl. zur "relativen Theorie" P. M Huber, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG I, Art. 19 Rdnr.143 ff. ; H. Krüger / M Sachs, in: Sachs, Grundgesetz, 3. Aufl . 2003, Art. 19 Rdn. 42; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IIII2, 1994, § 85 III, S. 867 ff. 36
J7 Vgl. zu dieser Abgrenzung H. Dreier, in: H. Dreier, Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, 1996, Art. 19 Abs. 2 Rn. 14.
80
D. Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht
Mindeststandard garantieren 38 • Die Geltung der Wesensgehaltsgarantie unterstellt, müssen Eingriffe, die zwar mit dem Erforderlichkeitsgebot vereinbar sind, dennoch unterbleiben, wenn sie den Wesensgehalt eines Rechts antasten. Das Schutzgebot fiir den Wesensgehalt umschreibt eine äußerste Grenze, die nicht durch staatliche Eingriffe überschritten werden darf. Ein geeigneter und auch erforderlicher Eingriff, der einem legitimen Zweck dient, darf nicht allein deshalb fiir rechtswidrig erklärt werden, weil die Auffassung vertreten wird, der Eingriff würde "zu schwer" wiegen. Die jeweilige Streitschlichtungsinstanz muß vielmehr begründen, daß in den Grundbestand einer Rechtsposition nachhaltig eingegriffen wird. Das ist erst dann der Fall, wenn der Mindestgehalt eines Individualrechts angetastet wird. Ein darüber hinausgehender wünschenswerter effektiver und umfassender Freiheitsschutz kann nicht gleichsam durch die Hintertür des Abwägungsgebots eingefiihrt werden, sondern setzt bei der Vereinbarung der Zwecke, die einen Eingriff gestatten an. Fortschritte im Individualrechtsschutz müssen im tatsächlichen erzielt werden, etwa indem wirkungsvolle Schutzmechanismen Platz greifen. Die Zuständigkeit hierfiir liegt bei den Staaten, nicht bei den Interpreten des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Sollte sich trotz allem im internationalen Individualrechtsschutz eine weite Auslegung des Abwägungsgebotes durchsetzen, muß dies nicht zugleich zu einer Proportionalitätsprüfung bei der Beurteilung des Verhaltens eines Völkerrechtssubjekts gegenüber einem anderen fiihren. Die von gleichberechtigten Rechtssubjekten eingegangenen vertraglichen Rechtsverhältnisse unterscheiden sich in ihrer Struktur grundlegend von den Menschenrechtsschutzbestimmungen. Warum sollte etwa ein sich verteidigender Staat verpflichtet sein, zu prüfen, ob die von ihm ergriffene Repressalie oder seine Verteidigungshandlung "abgewogen" und dem anderen Staat zumutbar ist? 4. Allgemeines völkerrechtliches Abwägungsgebot?
Das im vorliegenden Zusammenhang zu erörternde Abwägungsgebot ist von einem möglicherweise bestehenden allgemeinen völkerrechtlichen Abwägungsgebot zu unterscheiden. Der Unterschied besteht sowohl hinsichtlich des Anwendungsbereiches als auch des Anwendungsinhaltes. Der Verhältnismäßigkeits38 Vgl. zur "absoluten Theorie" P. M Huber, in: v. Mangoldt I Klein I Starck, GG I, Art. 19 Rdnr. 140 ff.; H. Krüger / M Sachs, in: Sachs, Grundgesetz, 3. Aufl. 2003, Art. 19 Rdn. 41.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IIII2, 1994, § 85 III, S. 865 ff.
11. Begründung des Abwägungsgebotes
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grundsatz gilt zwar als allgemeiner Grundsatz, sein tatsächlicher Anwendungsbereich erstreckt sich aber im wesentlichen auf die hier erörterten Fälle. Demgegenüber ist die Geltung eines allgemeinen im gesamten Völkerrecht geltenden Abwägungsgrundsatzes umstritten 39 • Letzterer kann, sofern seine Existenz überhaupt anerkannt wird, nicht mit dem im Verhältnismäßigkeitsgrundsatz enthaltenen Abwägungsgebot gleichgesetzt werden40 • Das allgemeine Abwägungsgebot wird vor allem dann benötigt, wenn sich zwei Entscheidungen souveräner Staaten überschneiden, ohne daß sich mit Hilfe einer bestimmten Regel des Völkerrechts der Vorrang des einen oder anderen Interesses ergibt. In diesen Fällen könnte die Lösung tatsächlich in einem allgemeinen Abwägungsverfahren liegen41 • Zur Begründung dieser Differenzierung bedarf es einer Rückbesinnung auf das Grundverständnis staatlicher Handlungsfreiheit. Da die aus der Souveränität ableitbare Handlungsfreiheit der Staaten strukturell mit der individualrechtlichen Handlungsfreiheit vergleichbar ist 42 , kann eine Übertragung des für die Prüfung von Freiheitsrechten entwickelten drei stufigen Schemas (Schutzbereich, Schranke und Schranken-Schranke) in Erwägung gezogen werden. Im Einzelfall könnte die Wahrnehmung der staatlichen Handlungsfreiheit durch A in Konflikt mit den aus der Handlungsfreiheit von B ableitbaren Abwehrrechten treten. Typisch hierfür sind z. B. die mit grenzüberschreitenden Umweltverschmutzungen einhergehenden Interessenkonflikte. Das hierin enthaltene Grundproblem geht über den Anwendungsbereich des Umweltschutzes hinaus und betrifft das Verhältnis der staatlichen Souveränität zum Völkerrecht: Zieht das Völkerrecht der natürlichen Handlungsfreiheit der Staaten von außen Grenzen oder begründet es die Handlungsfreiheit erst43 ? Steht Staat A aufgrund der territorialen Souveränität und der natürlichen Handlungsfreiheit z. B. ein "Verschmutzungsfreiheitsrecht" zu, dann kann sein Nachbar B diesem nur ein völkerrechtliches Verbot oder ein anderes wider39 Vgl. dazu P. Hector, Das völkerrechtliche Abwägungsgebot, 1992, S. 128 f., 133 fT. (208 f.), der den Versuch unternimmt, ein solches vor dem Hintergrund eines gewandelten Souveränitätsverständnisses zu begründen und dabei auf die Erkenntnisse der Topik zurückgreift.
40
P. Hector, Das völkerrechtliche Abwägungsgebot, 1992, S.210.
41 So der Vorschlag von P. Hector, Das völkerrechtliche Abwägungsgebot, 1992, S. 167, 193f. 42 A. Bleckmann, Das Souveränitätsprinzip im Völkerrecht, A VR 23 (1985), S. 450 (464 f.). 43 Vgl. dazu A. Bleckmann, Das Souveränitätsprinzip im Völkerrecht, AVR 23 (1985), S. 450 (474).
6 Krugmann
82
D. Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht
streitendes Recht entgegenhalten. Die aus dem Völkerrecht abgeleiteten Abwehrrechte erweisen sich dann als Schranken der Handlungsfreiheit. Hat demgegenüber der A-Staat schon keine "Verschmutzungsfreiheit", weil die Handlungsfreiheit von vornherein nicht jedes Handeln umfaßt, sondern nur solches, das völkerrechtlich gestattet ist, dann handelt es sich nicht um eine Rechtsausübung44 • Das hat u.a. zur Folge, daß die Handlungsfreiheit nicht durch eine Schranke (z. B. durch das Rechtsmißbrauchsverbot) begrenzt wird und sich infolge dessen auch nicht die Frage nach einer Schranken-Schranke stellt. Der Unterschied liegt - wie im deutschen Recht - also darin, daß eine verengende Auslegung der Freiheitsgewährleistung dazu führt, daß keine Abwägung mehr stattfinden kann. Im Umweltrecht geht es regelmäßig um die Verwirklichung zunächst legaler nationaler Interessen. In Rede stehen dann die "Nebenwirkungen" eigennütziger Handlungen. Wenn die Verschmutzung durch A wegen der nachteiligen Auswirkungen auf B völkerrechtlich unzulässig ist, weil die Souveränität von A bereits durch die Souveränität von B auf der Tatbestandsebene eingeschränkt ist, dann darf er diese nicht vornehmen, ohne daß es noch auf eine Abwägung der widerstreitenden Interessen ankommt. Begrenzen die Rechte anderer Staaten hingegen die staatliche Handlungsfreiheit, dann bedarf es eines dritten Prüfungsschrittes, der darüber befindet, welchem Recht der Vorrang zu geben ist. Innerhalb dieser weiteren Prüfung kann gleichsam als Schranken-Schranke das Abwägungsprinzip zur Geltung kommen. In den Fällen, in denen die Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes anerkannt ist, im wesentlichen also beim Repressalienrecht, dem Selbstverteidigungsrecht, dem humanitären Völkerrecht und der Friedenssicherung durch die Vereinten Nationen, geht es nicht um eine allgemeine Abwägung in Fällen miteinander unvereinbarer Rechtsausübung, sondern um Reaktionen auf nicht von der völkerrechtlichen Handlungsfreiheit gedeckte Rechtsverstöße. Das Selbstverteidigungsrecht ist, da das Gewaltverbot zwingend ist, nicht etwa die Schranke eines "freien Kriegsfiihrungsrechts"; es verbietet nur nicht die Anwendung von Gewalt beim Vorliegen eines bewaffneten Angriffs. Das Abwägungsgebot kann daher nur eine "Souveränitätsschranke", nicht aber eine "Schranken-Schranke" der Handlungsfreiheit sein.
44 Vgl. G. Zimmer, Internationale Sicherheit Wld völkerrechtlicher Umweltschutz, 1998, S. 30 ff.
II. Begründung des Abwägungsgebotes
83
Die Begrenzung von Souveränitätsrechten unterliegt strengen Maßstäben45 ; sie bedarf vor allem einer entsprechenden Legitimation. Innerstaatlich kann die Begrenzung legislativer und exekutiver Gestaltungsspielräume durch die Judikative unschwer auf die Bedingungen im gewaltengeteilten Rechtsstaat gestützt werden. Im Völkerrecht scheidet dieser Rückgriff aus. Zum einen gibt es auf internationaler Ebene kein Gebilde, das mit einem Rechtsstaat gleichgesetzt werden könnte, zum anderen ist das Rechtsschutzsystem lückenhaft. Überall dort, wo eine funktionsfähige Justiz im Völkerrecht fehlt, hat ein allgemeines Abwägungsgebot deshalb keine wirkliche Existenzberechtigung. 5. Allgemeines Schädigungsverbot? Erwägenswert ist schließlich, die Geltung des Abwägungsgebotes auf ein allgemeines völkerrechtlich verbindliches Schädigungsverbot zu stützen. Als These wäre zu formulieren: Wer von einem ihm zustehenden Recht in einer Weise Gebrauch macht, daß dieser zu einer unzumutbaren Beeinträchtigung eines anderen fUhrt, schädigt ihn in einer nicht gerechtfertigten Weise. Danach würde ein negativer Schaden-Nutzen-Saldo, mithin eine fehlerhafte Abwägung, den Vorwurf des Rechtsrnißbrauchs implizieren. Ergänzend wäre danach zu klären, ob eine Schädigungsabsicht vorliegen muß46 • Auf eine Vertiefung dieser Problematik kann z. Zt. jedoch verzichtet werden. Gegenwärtig ist nicht davon auszugehen, daß die Geltung des Abwägungsgebotes in Rechtsbeziehungen zwischen einzelnen Völkerrechtssubjekten Bestandteil des Völkergewohnheitsrechts oder sonstwie allgemein gültig geworden ist. Eine dahingehende Entwicklung des Völkerrechts kann aber für die Zukunft nicht ausgeschlossen werden. 6. Zwischenergebnis Ein allgemeiner Geltungsgrund für ein völkerrechtliches Abwägungsgebot konnte nicht nachgewiesen werden. Im Rahmen des Menschenrechtsschutzes 45 So auch C. Hinds, Das Prinzip "sic utere tuo ut alienum non laedas" und seine Bedeutung im internationalen Umweltrecht, AVR 30 (1992), S. 312. 46 Nach C. Hinds, Das Prinzip "sic utere tuo ut alienum non laedas" und seine Bedeutung im internationalen Umweltrecht, AVR 30 (1992), S. 305/324, würde es sich hierbei um einen Fall des Grundsatzes "sic utere tuo ut alienum non laedas" ("Ein Staat soll seine Rechte nicht so gebrauchen, daß einem anderen Staat ein Schaden entsteht") handeln, der das Ergebnis einer gewohnheitsrechtlichen Weiterentwicklung des Rechtsrnißbrauchs darstelle (vgl. S. 299/316 ff.), die keine Schädigungsabsicht voraussetze.
6*
D. Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht
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spricht das Interesse an einem wirksamen Schutz zwar für die Heranziehung des Abwägungsgedankens, diese sollte aber zurückhaltend erfolgen. Außerhalb des Individualrechtsschutzes fällt eine völkerrechtliche Ableitung der Geltung des Abwägungsgebotes dagegen schwer. Soweit im Schrifttum die Verbindlichkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatz behauptet wird, ist nicht erkennbar, worauf der Geltungsanspruch letztendlich gestützt wird47 • Da es sich hierbei aber um einen offenen Entwicklungsprozeß handelt, könnte sich das Abwägungsgebot künftig in Gestalt von Völkergewohnheitsrecht, von Richterrecht oder gar als Vertragsrecht verfestigen. Dahingehenden Entwicklungstendenzen sind die gegen das Abwägungsgebot sprechenden Einwände entgegenzuhalten. Dazu zählt neben der dem Gebot unmittelbar anhaftenden Kritik vor allem die Gefahr des Abwägungsmißbrauches. Eine den Staaten auferlegte Rechtspflicht zu jeweils abwägungsfehlerfreien Entscheidungen begegnet zahlreichen praktischen Problemen sowie offenen und bislang wohl auch unbeantworteten Fragestellungen. Anhand eines vereinfachenden fiktiven Fallbeispieles sollen deshalb nachfolgend die wesentlichen Gründe aufgezeigt werden, die gegen die Heranziehung des Abwägungsgebotes in den Rechtsbeziehungen zwischen Völkerrechtssubjekten sprechen.
III. Grenzen der Angemessenheitsprüfung Angenommen, die bei den Nachbarstaaten A und B sind seit langem verfeindet. Da nur B, nicht aber auch A, über Atomwaffen verfügt, besteht zwischen bei den Staaten ein besonderes Spannungsverhältnis, das schon mehrfach zu kleineren aber letztlich friedlichen Auseinandersetzungen geführt hat. Da B nur einen Zugang zum angrenzenden Meer mit einem Hafen hat, verhängt A mit Hilfe seiner Streitkräfte nunmehr eine Hafenblockade mit der das Einlaufen sämtlicher Handelsschiffe verhindert wird. Nachdem alle Verhandlungen gescheitert sind und Adern Beendigungsverlangen von B nicht nachkommt, reagiert B nach einer entsprechenden Ankündigung mit der Einfrierung aller in B befindlichen Guthaben von A. A beantwortet diesen Schritt mit einem massiven Einsatz von Bodentruppen mit konventioneller Bewaffnung im Grenzgebiet, welches besetzt wird. B wäre möglicherweise in der Lage, sich gegen diesen Angriff mit konventionellen Waffen zu verteidigen, möchte dies aber nicht, weil die militärische Führung der Auffassung ist, ein Zurückdrängen des Angriffs würde längere Zeit dauern, sehr kostspielig sein und zu vielen Opfern unter der eigenen Zivilbevölke-
.7
Vgl. die Nachweise unter B.
III. Grenzen der Angemessenheitsprüfung
85
rung führen. Im übrigen hat B vor dem Hintergrund seiner nuklearen Bewaffnung seine konventionelle Schlagkraft deutlich reduziert. B reagiert daher mit dem Einsatz einer Atombombe, die über eine nach dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft kleinstmögliche Zerstörungs kraft verfUgt. Die Bombe wird über einer Kleinstadt in A abgeworfen, die eine wichtige Rolle bei der Versorgung des besetzten Gebietes spielt. Neben Angehörigen des Militärs werden auch viele Zivilisten getötet oder einer lebensbedrohlichen Strahlung ausgesetzt. A zieht sich daraufhin aus B zurück, wendet sich aber sofort an den Sicherheitsrat und bittet um Schutz vor weiteren Angriffen durch B. Der Sicherheitsrat trifft aber keine Entscheidung, da sich die Staatenvertreter nicht einigen können. Der Sachverhalt enthält im wesentlichen drei Verhaltensweisen, die auf ihre Vereinbarkeit mit dem Erforderlichkeitsgebot und gegebenenfalls auch dem Abwägungsgebot zu überprüfen sind. Das ist das Einfrieren von Guthaben (1.), der Einsatz von Nuklearwaffen durch den B-Staat (2.) und die Entscheidung des Sicherheitsrates, untätig zu bleiben (3 .). Die Hafenblockade durch den A-Staat ist dagegen völkerrechtswidrig48 , ohne daß es auf die Erforderlichkeit oder Verhältnismäßigkeit ankommt. Die abstrakte Bedrohungslage allein rechtfertigt grundsätzlich keinen Völkerrechtsbruch49 • Da das Verhalten von B zunächst unterhalb der Schwelle eines bewaffneten Angriffs liegt, kann sich A im Zusammenhang mit dem von ihm ausgehenden konventionellen Angriff nicht auf das Selbstverteidigungsrecht berufen. Das Verhalten ist schlicht völkerrechtswidrig. 1. Abwägung im Repressalienrecht
Das Einfrieren von ausländischen Guthaben zählt zu den klassischen von den Staaten eingesetzten Mitteln 50 • Als Reaktion auf die ebenfalls rechtswidrige Hafenblockade erfUllt es die Voraussetzungen einer Repressalie i. S. des Völkerrechts. Nach der allgemein im Schrifttum vertretenen Auffassung ist diese aber nur gestattet, wenn sie auch "verhältnismäßig" ist51 • Unter Zugrundelegung eines weiten Verhältnismäßigkeitsbegriffs müßte sie sowohl dem Erforderlichkeitsgrundsatz als auch dem Abwägungsgebot gerecht werden.
48 Vgl. Art. 3 c) der Aggressionsdefinition v. 14. Dezember 1974, UN-Generalversammlung Nr. 3314 (XXIX). 49
Vgl. zum Präventivschlag bereits oben B. Il.
so Weitere Beispiele bei B.
1997, S. 62 ff. SI
Nachweise oben B. IV.
Dzida, Zum Recht der Repressalie im heutigen Völkerrecht,
86
D. Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht
Die Entscheidung über die Erforderlichkeit einer Maßnahme setzt die Ermittlung eines Zwecks voraus. Zwecksetzungsbefugt ist im Ausgangsfall B. Dieser könnte als Zweck angeben, er wolle A wegen der langjährigen Abneigung "ein wenig schädigen". Eine solche oder vergleichbare Zweckbestimmung wird er bei realistischer Betrachtung vermutlich nicht vornehmen; er wird vielmehr auf die Beendigung der Schiffahrtsbeeinträchtigung abstellen. Hinsichtlich der Erforderlichkeit der Maßnahme bestehen dann keine durchgreifenden Bedenken. Ihre Eignung zur Zweckerreichung ist grundsätzlich gegeben. Im übrigen gilt, daß dort, wo mehrere den gleichen Erfolg versprechende Repressalienmittel zur Verfiigung stehen, das "schonendere Mittel" auszuwählen ist. Hält B den Erfolg eines milderen Mittels für ausgeschlossen, so kann seine dahingehende Prognose nicht beanstandet werden. a) Abwägungsgegenstand Schwierigkeiten ergeben sich demgegenüber bei dem Versuch zu begründen, warum die Kontensperrung fehlerfrei abgewogen, mithin angemessen sein muß. Zunächst ist zu ermitteln, was denn überhaupt abgewogen werden soll. Für die Ermittlung der Proportionalität kommen verschiedene Bezugspunkte in Betracht. Es kann der jeweilige Schaden, das Ziel und der Zweck, die Wirkung der Maßnahme oder allgemein Handlung und Reaktion verglichen und "abgewogen" werden. Die Betrachtung kann abstrakt oder konkret am Einzelfall erfolgen. Soll sich das Abwägungsgebot auf die objektive Angemessenheit des eingesetzten Mittels und/oder die Dauer des Einsatzes und/oder auf seine konkreten Auswirkungen im Rahmen eines Schadensvergleichs beziehen? Konkret ist fraglich, ob es sich um einen objektiven Vergleich zwischen den beiden Maßnahmen, also im Beispielsfall zwischen einer Hafenblockade mit einer allgemeinen "Guthabeneinfrierung" handeln soll oder ob auf die jeweiligen konkreten Auswirkungen im Einzelfall abzustellen ist? Im ersten Fall wären beide Maßnahmen abstrakt zu gewichten. Es müßte ermittelt werden, welches Gewicht diese Beeinträchtigungen objektiv haben und welche schwerer wiegt. Wieso sollte eine Hafenblockade schwerer oder leichter wiegen, als eine Einfrierung von Konten? Ohne Kenntnis der konkreten Umstände ist eine Gewichtung kaum möglich. Das Ausmaß der Beeinträchtigung hängt entscheidend von der spezifischen, insbesondere aber der wirtschaftlichen Bedeutung des Hafens und der Geldmittel ab. Eine Gewichtung kann allenfalls nur vorgenommen werden, wenn bekannt ist, welche konkrete Bedeutung der Hafen für B auf der einen Seite und die Guthaben für A auf der anderen Seite haben. Aber wie weit reicht die daraus folgende Sachverhaltsaufklärungspflicht
III. Grenzen der Angemessenheitsprüfung
87
des agierenden Staates? Soll er den Schaden wissenschaftlich errechnen oder bloß allgemein schätzen? Ist es nicht vielmehr so, daß er zu einer bestimmten Repressalie greift, um mit ihr die größtmögliche Wirkung zu erzielen? Wenn die Maßnahmen nur geringfiigige Nachteile fiir den anderen bewirken, dann können sie ihren Zweck nicht erfiillen. b) Schaden-Nutzen- Vergleich
Es verbleibt die Möglichkeit eines konkreten Schaden-Nutzen-Vergleichs. Die Schäden, die jeweils angerichtet werden, müssen sich dann "proportional" zueinander verhalten. Ein Schadensvergleich kann aber nur dann in Betracht kommen, wenn die Schäden tatsächlich meß- und vergleichbar sind. Das ist aber vielfach nicht der Fall, so z. B. wenn nicht bezifferbare materielle Schäden auf der einen, immaterielle aber auf der anderen Seite entstehen. Welches Gewicht haben immaterielle Schäden? Sollen bei der Ermittlung des "Gewichts" zusätzlich mögliche Spätfolgen berücksichtigt werden? Auch wenn die Beteiligten bei abstrakter Betrachtung den gleichen Schaden anrichten, muß dies bei einer konkreten Schadensanalyse nicht der Fall sein. Selbst reziproke Repressalienmittel müssen nicht stets proportional sein, da sie sich unterschiedlich intensiv auswirken können52 • Wenn der Sinn der Repressalie darin liegt, den anderen zu einem rechtstreuen Verhalten zu bewegen, dann wird dieser entleert, wenn lediglich angemessene, mithin abgewogene und zumutbare Maßnahmen ergriffen werden dürfen. Zumutbare Sanktionen werden nur ausnahmsweise die Rechtstreue wiederherstellen. Kommt es auf die Wirkung an, die mit der Repressalie erreicht werden soll, so ist fraglich, ob bei jeder Steigerung der Intensität einer Repressalie die "Proportionalität" beachtet werden muß. Typischerweise wird mit der Repressalie auf ein vorangegangenes rechtswidriges und vor allem fortdauerndes Verhalten eines anderen Völkerrechtssubjekts reagiert. Dieses kann aber jederzeit zu einem rechtmäßigen Verhalten zurückkehren. Es hat damit die Beendigung der ergriffenen Maßnahmen selbst in der Hand. Was und vor allem warum sollte also hier noch abgewogen werden? Käme es allein auf die Wirkung an, wären in den Fällen, in denen der verletzende Staat sich weigert, sein nur geringfiigiges völkerrechtswidriges Verhalten zu
52
Vgl. dazu auch B. Dzida, Zum Recht der Repressalie im heutigen Völkerrecht, 1997,
S. 187 f./191.
D. Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht
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ändern oder Wiedergutmachung zu leisten, auch solche Repressalienmittel erlaubt, die bei einem abstrakten Vergleich eindeutig unangemessen wären 53. c) Gewichtungen
Schließlich ist eine allgemeine Gewichtung der jeweils in Rede stehenden Interessen denkbar. Die Deutung der Angemessenheitsprüfung als reines Interessenabwägungsgebot unterliegt aber auch im Völkerrecht grundlegenden Einwänden. Im deutschen Staatsrecht wird regelmäßig das Staatsinteresse dem Individualinteresse gegenüber gestellt und nach einem Übergewicht des einen oder des anderen gesucht, ohne daß sich bisher eine "Gewichtungstabelle" oder etwas vergleichbares entwickelt hat. Hinreichend allgemeingültige Gewichtsbestimmungen fehlen nicht nur im nationalen Recht, sondern auch im Völkerrecht54 • Welches Gewicht die jeweils relevanten völkerrechtlichen Interessen haben, vermag wohl niemand mit hinreichender Genauigkeit zu sagen. Nach welchen Regeln soll im Völkerrecht darüber entschieden werden, ob das Interesse des Staates A Vorrang vor dem Interesse des Staates B haben SOll55? Welches Gewicht haben eigennützige Staatsinteressen? Welches Gewicht hat die Souveränität? Welches Gewicht sollen wirtschaftliche oder gar geopolitische Interessen haben? Auf diese Fragen kann z. Zt. keine befriedigende Antwort gegeben werden 56 . Selbst dann, wenn sich die jeweiligen "Gewichte" willkürfrei ermitteln ließen, würden anerkannte Maßstäbe fiir den eigentlichen Abwägungsvorgang fehlen. Es ist völlig offen, ob nach den jeweiligen konkreten Umständen eine Hafensperre oder das Einfrieren von Konten "objektiv" schwerer wiegt. Das Erfordernis der
53 B. Dzjda, Zum Recht der Repressalie im heutigen Völkerrecht, 1997, S. 189, sieht darin die Gefahr des Leerlaufens des Proportionalitätserfordernisses als Beschränkung des Repressalienrechts. Dem ist entgegenzuhalten, daß der Sinn des Verhältnismäßigkeitsgedankens auch darin liegen kann, daß nur erforderliche Maßnahmen ergriffen werden dürfen. Schließlich kann der Erstschädiger nachgeben und sein Verhalten ändern.
54 Vgl. zu diesem Kritikansatz auchA. Bleckmann, Gedanken zur Repressalie, in: I. v. Münch, Staatsrecht-Völkerrecht-Europarecht, Festschrift fiir Hans-Jürgen Schlochauer zum 75. Geburtstag, 1981, S. 210. 55
Ebenfalls kritisch A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, 1995,
S.962.
56 Der Versuch von P. Hector, Das völkerrechtliche Abwägungsgebot, 1992, S. 173 ff., ein allgemeines völkerrechtliches Abwägungsgebot mit Hilfe der Heranziehung der Topik zu konstruieren, dürfte hier nicht übertragbar sein, da es sich hier nicht um sich überschneidende bzw. ausschließende oder konkurrierende souveräne Akte handelt.
III. Grenzen der Angemessenheitsprüfung
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Unangemessenheit eröffnet eine weite Bandbreite fiir die Wahl des Maßstabes 57 • Bereits zwischen den oftmals verwendeten Kriterien "unangemessen" und "auffälliges Mißverhältnis" können erhebliche Unterschiede liegen. Nirgendwo ist festgelegt, wann welches Kriterium und welcher Maßstab zugrunde zu legen ist. Dies alles kann nur zu dem Schluß fUhren, daß der Proportionalitätsgrundsatz keinen feststehenden Inhalt hat und demjenigen, der das Urteil zu fällen hat, einen umfassenden Entscheidungsspielraum einräumt. Dieser ist der Einzige, der im Anwendungsfall das jeweilige Kriterium und denjeweiligen Maßstab der Proportionalität festlegt. Solange sich kein wirkliches internationales Gewaltmonopol mit einem fiir alle Streitfälle zuständigen Justizsystem herausgebildet hat, kann eine solche enorme freie Entscheidungsbefugnis nur bei den Staaten selbst liegen. Wenn der Einsatz von Gewalt keine erlaubte Form der Repressalie darstellt 58 , wird das Abwägungsgebot nicht benötigt, um eben diesen zu begrenzen. Ergänzend sei bemerkt, daß in Ermangelung eines effektiven Kontrollinstrumentariums die Frage ohnehin nicht besonders relevant ist. Wer hier trotz allem noch abwägen will, wird zu einem rein auf einer subjektiven Wertung beruhendem Ergebnis gelangen. Das allgemeine Gebot, ein Einfrieren von Auslandsguthaben dürfe nicht völlig außer Verhältnis zu einer Hafenblockade stehen, ist leicht aufgestellt. Wann dies indes konkret der Fall ist, läßt sich kaum rational begründen oder gar vorhersehen. Jedenfalls ist diese Offenheit der Ergebnisse nur schwer mit dem Grundbedilrfnis nach Rechtssicherheit zu vereinbaren. d) Zwischenergebnis Im Rahmen der rechtlichen Würdigung einer Repressalie ist eine Abwägung in vielerlei Hinsicht möglich. Dementsprechend kommen verschiedene Abwägungsmodelle in Betracht. Das Verdikt der Unangemessenheit einer Repressalie kann in ganz besonders gelagerten Fällen durchaus auf allgemeinen Zuspruch stoßen. Eine allgemeine Verpflichtung zur sachgemäßen Abwägung kann dem Völkerrecht dennoch nicht entnommen werden. Überdies fehlt jenseits der beschränkten Möglichkeiten des Internationalen Gerichtshofs eine Instanz, die Abwägungsfehler korrigieren kann. Von Extremfällen einmal abgesehen, bleibt im völkerrechtlichen Repressalienrecht die Entscheidung über die Angemessenheit einer Maßnahme demjenigen vorbehalten, der sie auswählt. An diesen kann letztlich nur allgemein appelliert werden, die Interessen seines Gegenübers zu ermitteln 57 Vgl. zur Kritik an der Offenheit des Maßstabes auch B. Dzida, Zum Recht der Repressalie im heutigen Völkerrecht, 1997, S. 192 f.
58
Vgl. dazu bereits oben B. IV.
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D. Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht
und in seine Entscheidung miteinzubeziehen59 • Für eine auch in rechtstheoretischer Hinsicht befriedigende Lösung reicht dies nicht aus. Seine Begrenzung erfährt das Repressalienrecht daher im wesentlichen nur durch das aus dem Schädigungsverbot abgeleitete Erforderlichkeitsgebot. 2. Abwägung bei der Selbstverteidigung Das Abwägungsgebot könnte, wie von Teilen des Schrifttums behauptet wurde60 , im Begriff der Notwehr immanent enthalten sein. Eine solche Annahme ist nur über eine ergänzende Auslegung möglich, die über den Wortlaut hinausgeht. Der Begriff der Notwehr bzw. der Selbstverteidigung sagt fiir sich genommen noch nichts darüber aus, ob darauf basierende Maßnahmen dem Gebot der Proportionalität entsprechen müssen und wann dies der Fall ist. Aus dem Wortlaut allein folgt das Gebot der Proportionalität nicht. Jedoch könnten sich aus der Auslegung des Selbsthilferechts Grenzen ergeben, die der Verwirklichung der Ziele des Verhältnismäßigkeitsgedankens dienen. Für die Annahme einer völkergewohnheitsrechtlichen Geltung des Abwägungsgebotes bedarf es schließlich nicht nur des Nachweises einer entsprechenden Staatenpraxis, sondern auch eines entsprechenden Inhaltes. Bei der rechtlichen Würdigung des hier gebildeten Beispielsfalles wird deutlich, daß das Abwägungsgebot bei Maßnahmen, die der Selbstverteidigung dienen, nur eine begrenzte Wirksamkeit entfalten kann. Der Vollständigkeit halber und zur Abgrenzung des fiir das Abwägungsgebot verbleibenden potentiellen Anwendungsbereichs sind vorab zunächst die Wirkungen des Erforderlichkeitsgebotes zu erörtern. Eine unvoreingenommene Subsumtion des Ausgangsfalles unter das Erforderlichkeitsgebot ergibt zunächst, daß der Einsatz nuklearer Waffen regelmäßig geeignet ist, wenn nur der Einsatzzweck hinreichend bestimmt ist. Hinsichtlich der Auswahl der zur Verteidigung erforderlichen Waffen kommt es wiederum auf das Ausmaß bzw. den Umfang der Zwecksetzungsfreiheit an. Der B-Staat möchte den Angriff des A-Staates möglichst schnell unter Schonung der eigenen Bevölkerung abwehren. Der Einsatz von Atomwaffen dürfte hierfiir objektiv geeignet sein. Fraglich ist danach nur, inwieweit ein milderes Mittel, mithin der Einsatz konventioneller Waffen, geboten ist. Ob die Verteidigungshandlung auch in diesem Sinne erforderlich ist, hängt davon ab, ob S9 V gl. zu dieser ernüchternden Erkenntnis auch A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechts lehre, 1995, S. 962, der die Maßstäbe der Ermessenskontrolle heranzieht. 60 So z. B. M Genoni, Die Notwehr im Völkerrecht, 1987, S. 132 und ihm folgend R. Voigtländer, Notwehrrecht und kollektive Verantwortung, 2001, S. 36.
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der sich verteidigende Staat tatsächlich über andere Waffensysteme verfUgt, mit denen er den Angriff ebenfalls, den Gegner aber weniger belastend, zurückschlagen kann. Nach der im Ausgangsfall gewählten Konstellation kann B sein Ziel aber nicht durch den Einsatz konventioneller Waffen erreichen, sondern nur dadurch, daß er mit Hilfe einer Kernwaffe A zum Rückzug bewegt. Dem Erforderlichkeitsgebot wird damit auch dann entsprochen, wenn ein Staat auf konventionelle Waffen vollständig verzichtet und ausschließlich über Nuklearwaffen verfUgt. Da er selbst auf einen geringfUgigen bewaffneten Angriff "nur" mit dem Einsatz einer Nuklearwaffe reagieren kann, würde er in einem solchen Fall nicht gegen das Erforderlichkeitsgebot verstoßen. Im Vergleich mit einem großflächigen Einsatz nuklearer Waffentechnologie hat B zur Erreichung seines Zweckes überdies auch das "mildeste Mittel" eingesetzt. Ein Ergebnis, das in der Sache kaum überzeugt, da der Handelnde selbst bestimmt, was am Ende erforderlich ist. Mit Hilfe des Erforderlichkeitsgebotes läßt sich der Atomwaffeneinsatz daher nur unzureichend begrenzen. Insofern liegt es nahe, die streitenden Parteien bei der Wahl der Waffen an das Abwägungsgebot zu binden. Der Einsatz von Kernwaffen im Rahmen der Ausübung des Selbstverteidigungsrechts nach Art. 51 UN-Charta wäre dann ausgeschlossen, wenn dieser in Anbetracht ihrer außerordentlichen Zerstörungskraft generell "unverhältnismäßig", mithin automatisch fehlerhaft abgewogen wäre. Gestützt werden könnte diese These vor allem auf ein Schädigungsverbot.
a) Völkerrechtliche Würdigung des Atomwa.fJeneinsatzes durch den Internationalen Gerichtshof Die völkerrechtliche Würdigung des Einsatzes von Kernwaffen fällt im Spannungsverhältnis zwischen glaubwürdiger Abschreckung auf der einen und dem Wissen um ihre verheerenden tatsächlichen Auswirkungen auf der anderen Seite naturgemäß schwer. Der Internationale Gerichtshof hat in seinem Gutachten, das er im Jahre 1996 der Generalversammlung zur Zulässigkeit von Atomwaffentests erstattet hat, die hier entscheidenden Fragen weitgehend offengelassen. Mit einem Stimmenverhältnis von sieben zu sieben hat er aufgrund der dann ausschlaggebenden Stimme des Präsidenten von einer eindeutigen Entscheidung darüber, ob und wann der Einsatz von Atomwaffen gerechtfertigt sein könnte, abgesehen. Der Einsatz von Nuklearwaffen steht, so das Gericht, nicht unter allen Umständen im Widerspruch zu den Geboten der "necessity and proportionality"61.
61
IGH, ICJ-Report 1996,226 (245), Ziff. 41 f. - "Nuklearwaffen".
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Die Mehrheit hielt den Einsatz von Nuklearwaffen in extremen Selbstverteidigungssituationen anscheinend für vertretbar: "It follows from the above-mentioned requirements that the threat or use of nucIear weapons would generally be contrary to the rules of international law applicable in armed conflict, and in particular the principles and rules ofhurnanitarian law; However, in view ofthe current state ofinternationallaw, and ofthe elements offact at its disposal, the Court cannot concIude definitively whether the threat or use of nucIear weapons would be lawful or unlawful in an extreme circurnstance of se\f-defence, in which the very survival of aState would be at stake; ... "62.
Die hier zum Ausdruck gebrachte Ausnahmefallthese fuhrt zu erheblichen Subsumtionsproblemen, da kaum Anhaltspunkte dafür bestehen, mit Hilfe derer "extreme Umstände" von "anderen Umständen" voneinander abgegrenzt werden können. M. a. W. was zeichnet einen Sachverhalt aus, der den Einsatz von Atomwaffen rechtfertigt? Was bedeutet in einem Nuklearkrieg "überleben"? Hinzu treten spezifische Gleichheitsprobleme, wenn die Möglichkeit des Einsatzes anderer Waffenarten hinzugezogen wird. Ein sich aus den Regeln des humanitären Völkerrechts ergebendes und auf konventionelle Waffen bezogenes Verbot muß auch für den Nuklearwaffeneinsatz gelten. Wenn das humanitäre Völkerrecht in Ausnahmesituationen nicht generell unanwendbar sein soll, dann kann es auch nicht im Rahmen der nuklearen Selbstverteidigung seine Geltung einbüßen. Andernfalls würde sich die paradoxe Konsequenz ergeben, daß ein Staat die Wahl haben könnte zwischen dem rechtswidrigen Einsatz konventioneller Waffen und dem rechtmäßigen Einsatz von Nuklearwaffen63 • Im Ausgangsfall ist B mit konventionellen Waffen angegriffen worden, so daß er vom Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 UN-Charta Gebrauch machen kann. Aufgrund der Verteidigungsstrategie von B, die den Einsatz von Atomwaffen nahelegt, drängt sich auch die Heranziehung des Abwägungsgebotes zunächst auf. In Anbetracht des mit einem Einsatz verbundenen großen Leides ist die Suche nach einer Begrenzung naheliegend und nachdrücklich zu befürworten. Indes erscheint das Abwägungsgebot nicht als adäquates Mittel zur Ächtung des Nuklearwaffeneinsatzes.
62
IGH, ICJ-Report 1996,226 (266), Ziff. 105 (2) E. - "Nuklearwaffen".
Vgl. zur Kritik auch L. Tischler, Der internationale Gerichtshof zwischen Politik und Recht, 2001, S. 170 ff. 63
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b) Beschränkung durch das humanitäre Völkerrecht Der Einsatz nuklearer Waffen kann mit den Regeln des humanitären Völkerrechts kollidieren. Denn auch dann, wenn die Rechtmäßigkeit des Einsatzes von Nuklearwaffen im Grundsatz denkbar ist (kein Verstoß gegen das "ius ad bellum"), bleiben - wie auch der Internationale Gerichtshof erklärte - die bestehenden Bindungen des "ius in bello" bestehen: "The proportionality principle may thus not in itself exclude the use of nuclear weapons in self-defence in all circumstances. But at the same time, a use of force that is proportionate under the law of self-defence, must, in order to be lawful, also meet the requirements ofthe law applicable in armed conflict which comprise in particular the principles and rules ofhumanitarian law,,64.
Die kontrovers geführte Diskussion um die Ächtung von Atomwaffen zeigt, daß sich bislang auch aus den Einzelbestimmungen des humanitären Völkerrechts kein allgemeines unmittelbar geltendes zwingendes Verbot von Atomwaffen ergeben hat65 • Daraus folgt, daß in jedem Einzelfall darüber entschieden werden muß, ob ein konkreter Einsatz einer Nuklearwaffe gegen einzelne Bestimmungen des humanitären Völkerrechts verstoßen würde. Im Anschluß daran wäre zu erwägen, ob die zitierten Passagen des Gutachtens des Internationalen Gerichtshofs den Schluß gebieten, daß in dem angesprochenen Ausnahmefall auch ein Dispens von den Bestimmungen des humanitären Völkerrechts eingeschlossen ist66 • Dagegen spricht vor allem ein Vergleich mit dem Einsatz anderer Waffen. Der Schutz des humanitären Völkerrechts unterscheidet grundsätzlich nicht nach der Art der eingesetzten Waffe, sondern nach ihren Auswirkungen. Ausnahmetatbestände müßten sich daher auf alle Waffenarten beziehen, die die gleichen 64 IGH, ICJ-Report 1996,226 (245), Ziff. 42 - "Nuklearwaffen". 65 Vgl. Z. B. H Fischer, Der Einsatz von Nuklearwaffen nach Art. 51 des I. Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen von 1949, 1985, S. 81 ff.; S. Forch / R. Harndt, Neue Regeln für den Einsatz von Kernwaffen?, JR 1986, S. 45 (46 ff.); H-M Empell, Völkerrecht und nukleare Abschreckung, 1988, S. 11 ff.; H Meyrowitz, Kriegsrecht und Kernwaffen, EA 1981, S. 689 ff.; M C. Ney, Der Einsatz von Atomwaffen im Lichte des Völkerrechts, 1985, S. 59 ff.; 0. Kimminich / S. Hobe, Einführung in das Völkerrecht, 7. Autl. 2000, S. 460 ff. 66 V gl. dazu auch L. Tischler, Der internationale Gerichtshof zwischen Politik und Recht, 200 I, S. 175. Die vom IGH angeführten "extreme circumstances" könnten etwa dann vorliegen, wenn der Nuklearwaffeneinsatz einen rechtswidrigen nuklearen bewaffneten Angriff unter Einsatz von Atomwaffen abwehren soll. Sofern sich der Aggressor nicht an das humanitäre Völkerrecht hält, kann dieses in einem solchen Fall auch nicht vom sich Verteidigenden erwartet werden.
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Wirkungen erzielen. Nach Art. 32 der Wiener Vertragsrechtskonvention verbietet sich aber eine Auslegung, die zu einem offensichtlich sinnwidrigen oder unvernünftigen Ergebnis fUhrt. Der Einsatz von Nuklearwaffen muß mithin mit den Bestimmungen zum Gebrauch von Waffen und zum Schutz der Zivilbevölkerung vereinbar sein. In Betracht kommen hier neben Art. 11 der Völkermordkonvention und Art. 23 der Haager Landkriegsordnung insbesondere die Vereinbarungen im I. Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen von 1949. Zu den in Art. 35 Zusatzprotokoll I aufgestellten Grundregeln der Kriegsfiihrung zählt das Verbot, Waffen einzusetzen, die überflüssige Verletzungen und unnötige Leiden verursachen. Fernerhin dürfen keine Mittel eingesetzt werden, die dazu bestimmt sind oder von denen erwartet werden kann, daß sie ausgedehnte, langanhaltende und schwere Schäden der natürlichen Umwelt verursachen 67 • Gemäß Art. 51 Abs. 2 darf die Zivilbevölkerung nicht das Ziel von Angriffen sein. Die Anwendung oder Androhung von Gewalt mit dem hauptsächlichen Ziel, Schrecken unter der Zivilbevölkerung zu verbreiten, ist verboten. Unterschiedslose Angriffe, die militärische Ziele und Zivilpersonen unterschiedslos treffen, sind ebenfalls verboten. Ein Angriff ist vor allem dann unterschiedslos, wenn er, die Kampfmethode oder das Kampfrnittel sich nicht gegen ein bestimmtes militärisches Ziel richtet oder die Wirkung nicht entsprechend den Vorschriften des Protokolls begrenzt werden kann (Abs. 4). Dazu zählen insbesondere die zu beachtenden Vorsichtsmaßnahmen beim Angriff (Art. 57). Bei Kriegshandlungen ist stets daraufzu achten, daß die Zivilbevölkerung, Zivilpersonen und zivile Objekte verschont bleiben. Das humanitäre Völkerrecht erweist sich im Rahmen seiner Reichweite grundsätzlich als Schranke des Selbstverteidigungsrechts. Zweifel bestehen z. B. hinsichtlich der Anwendbarkeit von Art. 35 Zusatzprotokoll I, da die Teilnehmerstaaten der Auffassung gewesen sein sollen, daß diese Vereinbarung auf Kernwaffen gerade keine Anwendung finden sollte68 • Letztlich handelt es sich bei den Vereinbarungen aber um positivierte und zugleich konkretisierte Aussagen zur "Verhältnismäßigkeit". Was dort verboten ist, ist deshalb verboten, weil es fiir unangemessen gehalten wurde. Die Entscheidung, ob im Einzelfall der Einsatz von Nuklearwaffen völkerrechtlich legitim ist, ist im übrigen auf einer grundsätzlicheren Ebene zu treffen. Der Weg zur Konkretisierung einer "unverhältnismäßigen Kriegsfiihrung" durch Vereinbarungen ist der Ächtung durch die Überfrachtung eines konturenlosen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vorzuziehen.
f.
67
Vgl. zum Schutz der natürlichen Umwelt auch Art. 55 des I. Zusatzprotokolls.
68
So M C. Ney, Der Einsatz von Atomwaffen im Lichte des Völkerrechts, 1985, S. 208
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Aufgrund des hohen Zerstörungspotentials für den Menschen und seine Umwelt kann die Antwort nicht aus dem "Verhältnismäßigkeitsgrundsatz" abgeleitet werden. VorzugsWÜfdig ist ein generelles völkerrechtlich verbindliches Verbot oder zumindest die Vereinbarung von bestimmten Zwecksetzungsverboten, insbesondere dem Verbot des "atomaren Erstschlages".
c) Abwägungsgegenstand Die Heranziehung des Abwägungsgebotes im Rahmen des Selbstverteidigungsrechts fUhrt vor allem deshalb nicht weiter, weil mit ihm eine Vielzahl offener und anscheinend unlösbarer Fragen verbunden sind. Welche Überlegungen muß ein Staat konkret anstellen, wenn er nach einem bewaffneten Angriff vom Selbstverteidigungsrecht Gebrauch machen will? Muß der sich Verteidigende während anhaltender Verteidigungsmaßnahmen stets der Auffassung sein, daß die Fortdauer auch bei gegebener Erforderlichkeit darüber hinaus noch dem Proportionalitätsgrundsatz entspricht? Muß der Verteidiger bei der Auswahl der Verteidigungsmittel auf ihre objektive Zerstörungskraft oder auf ihre Wirkung beim Gegner abstellen? Ist ein Schadensvergleich zwischen den Folgen der Angriffshandlung und den Folgen der Selbstverteidigungsmaßnahmen anzustellen? In welchem Maße ist das eine Maßnahme auslösende rechtswidrige Verhalten zu berücksichtigen? Verdient dieser überhaupt den Schutz des Abwägungsgebotes? Inwieweit ist das Selbsterhaltungsinteresse zu berücksichtigen? Kann eine Maßnahme zur Selbstverteidigung gleichzeitig erforderlich und disproportional sein, etwa weil der Angriff nicht "schwer wiegt" und alle in Betracht kommenden Verteidigungsmaßnahmen ein größeres Zerstörungspotential als dieser haben? Soll der Verteidiger sich wirklich im Rahmen einer Betrachtung ex-ante bei der Auswahl der Verteidigungsmittel darüber Gedanken machen müssen, ob diese dem Gegner zuzumuten sind? Oder handelt es sich vielmehr nur um eine Betrachtung ex-post, anhand derer darüber entschieden wird, ob der sich Verteidigende Schadensersatz leisten muß, weil ihm - rückblickend betrachtet - ein Abwägungsfehler unterlaufen ist? Welche Folgen sollen seine Irrtümer und Fehleinschätzungen haben? Der sich Verteidigende muß die Entscheidung zum Einsatz der Nuklearwaffen regelmäßig innerhalb einer kurzen Zeitspanne treffen, ohne daß die Anrufung einer "neutralen" Instanz zur Streitschlichtung möglich wäre. Anders als im nationalen Recht, in dem z. B. im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes schwere Abwägungsfehler aufgedeckt werden können, kann im Völkerrecht erst nach dem Einsatz der Nuklearwaffen festgestellt werden, ob diese
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Selbstverteidigungsmaßnahme zutreffend "abgewogen" war. Dann aber sind die verheerenden Folgen des Nuklearwaffeneinsatzes bereits eingetreten. Nur soweit das Schädigungsverbot reicht, scheint die Forderung nach der "Verhältnismäßigkeit" der Mittel berechtigt zu sein. An dieser Stelle kann wiederum auf die vergleichbare Regelung im deutschen Recht verwiesen werden. Mit gutem Grund verzichtet das deutsche Notwehrrecht grundsätzlich auf die Verhältnismäßigkeit. Auch das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch beinhaltet ein allgemeines Schädigungsverbot69 • Verteidigungshandlungen dürfen zwar nicht über das jeweils erforderliche Maß hinausgehen. Die zivilrechtliche Notwehr70 und die Selbsthilfe71 sind aber anders als der Notstand 72 darüber hinaus nicht an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebunden 73. Die Ausübung des Notwehrrechts soll jedoch dann mißbräuchlich und unzulässig sein, wenn zwischen dem angegriffenen und dem durch die Verteidigungshandlung verletzten Rechtsgut ein krasses Mißverhältnis bestehe4 • Auch bei der strafrechtlichen Notwehr wird neben der Erforderlichkeit zunächst keine weitergehende Verhältnismäßigkeit verlangt. Es soll zwar "auf eine gewisse Proportionalität zwischen Angriffs- und Abwehrverhalten ankommen, nicht dagegen auf die Verhältnismäßigkeit zwischen den widerstreitenden Rechtsgütern"75.
Im übrigen wird das Notwehrrecht ebenfalls durch den Rechtsmißbrauchsgedanken eingeschränkt, sofern zwischen den Werten von Angriffsobjekt und 69 Nach dem in § 226 BGB enthaltenen Schikaneverbot ist die Ausübung eines Rechts unzulässig, wenn sie nur den Zweck haben kann, einem anderen Schaden zuzufügen.
70 § 227 BGB. 71 § 229 BGB. Die Selbsthilfe wird durch § 230 BGB an den Erforderlichkeitsgrundsatz, nicht aber an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebunden. 12 Demgegenüber muß im Falle des Notstandes die Rechtsbeeinträchtigung nicht nur erforderlich sein, sondern der durch die Notstandshandlung verursachte Schaden darf darüber hinaus nicht außer Verhältnis zu der diese auslösenden Gefahr stehen (§ 228 BGB). Vgl. auch § 904 BGB. 73 H. Heinrichs, § 227 RdNr. 8, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 61. Aufl. 2002; B. v. Feldmann, § 227 RdNr. 6, § 229 RdNr. 7, § 230 RdNr. 1, in: Münchener Kommentar Bürgerliches Gesetzbuch, 3. Aufl. 1993.
74 H. Heinrichs, § 227 RdNr. 8 und § 230 RdNr. 1, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 61. Aufl. 2002; B. v. Feldmann, § 227 RdNr. 6 in: Münchener Kommentar Bürgerliches Gesetzbuch, Bd. 1,3. Aufl. 1993; H. Fahse, § 227 Rdnr. 39, in: Soergel, Bürgerliches Gesetzbuch, Allgemeiner Teil 2, 13. Aufl. 1999. 75 Spendel, § 32 RdNr. 224, in: Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, 10. Aufl. 1985; Schönke I Schröder, Strafgesetzbuch, 26. Aufl. 2001, § 32 Rn. 46 f.
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dem in Notwehr zu verletzendem Gut ein ganz ungewöhnliches und krasses Mißverhältnis bestehe6 • Ungeachtet des Umstandes, daß - wie im Ausgangsfall vorgegeben - der Verzicht auf konventionelle Waffen eher theoretischer Natur bleiben wird, erlaubt die aufgezeigte Möglichkeit die formale Rechtfertigung atomarer Erstschläge. In sachlicher Hinsicht beweist das Beispiel, daß es auch im völkerrechtlichen Selbsthilferecht Fälle geben kann, die aufgrund eines krassen Mißverhältnisses von Anlaß und Reaktion dem Vorwurf des Rechtsrnißbrauchs begegnen und deswegen rechtswidrig sein können. Für diese bedarf es aber nicht der Heranziehung des Abwägungsgebotes. d) Abwägungsmaßstab Am Beginn der empirischen Betrachtung77 wurde bereits angedeutet, daß es bei der Inhaltsbestimmung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Zusammenhang mit der Ausübung des Selbstverteidigungsrechtes auch auf seine Wechselbeziehung zum Gewaltverbot ankommt. Handelt es sich bei der Selbstverteidigung um eine Ausnahme vom Gewaltverbot, so könnte dies unschwer als ein gewichtiges Indiz fiir die Herausbildung eines strengen Abwägungsmaßstabes gewertet werden. Liegt ein Regel-Ausnahme-Verhältnis vor, dann sind folgerichtig strenge Anforderungen an die Rechtmäßigkeit von Maßnahmen, die der Selbstverteidigung dienen, zu stellen.
Eine Restriktion wäre neben einer entsprechenden Auslegung der tatbestandlichen Voraussetzungen des Selbstverteidigungsrechtes auch durch einen strengen Abwägungsmaßstab zu verwirklichen. Die Deutung des Inhaltes des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Sinne einer "Abwesenheit einer offensichtlichen Unangemessenheit"78 würde hierfür nicht ausreichen. Der Abwägungsmaßstab müßte darüber hinausgehen, indem er auch unter dieser Schwelle liegende "Unangemessenheiten" erfaßt. Steht das Selbstverteidigungsrecht als eigenständiges Recht gleichsam neben dem Gewaltverbot, kann sich ein strenger Maßstab als Richtschnur fiir die Abwägung nicht mehr aus dem Ausnahmecharakter ergeben. Ein solcher wäre dann gegebenenfalls auf andere Weise zu begründen. Der Ausnahmecharakter würde also grundsätzlich fiir einen strengen Abwägungsmaß76 Spendel, § 32 RdNr. 313, in: Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, 10. Aufl. 1985; Schönke / Schröder, Strafgesetzbuch, 26. Aufl. 2001, § 32 Rn. 50 "grobes" Mißverhältnis. 77 Oben B. 1. 78
261.
Vgl. M C. Ney, Der Einsatz von Atomwaffen im Lichte des Völkerrechts, 1985, S.
7 Krugmann
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stab sprechen; der Regelfallcharakter dieser Annahme hingegen die Grundlage entziehen. Umgangssprachlich betrachtet ist die Charakterisierung als Ausnahme naheliegend. Auf der einen Seite steht das umfassende Gewaltverbot, auf der anderen Seite das in Art. 51 UN-Charta enthaltene Selbstverteidigungsrecht. "Nur" im Falle eines an sich verbotenen bewaffneten Angriffs ist der betroffene Staat zur Gegenwehr berechtigt. Es handelt sich mithin auf den ersten Blick tatsächlich um ein Regel-Ausnahme-Verhältnis. Bei einer näheren kritischen Betrachtung der zugrundeliegenden Strukturen ergeben sich indes durchgreifende logische und inhaltliche Einwände gegen die Annahme eines auch im Rechtssinne bestehenden Regel-Ausnahme-Verhältnisses.
aa) Rechtslogischer Einwand gegen den Ausnahmecharakter des Selbstverteidigungsrechtes Das Selbstverteidigungsrecht wird von weiten Teilen des Schrifttums als Ausnahme vom Gewaltverbot bezeichnee9 • Lediglich vereinzelt ist mitunter von "Grenze des Gewaltverbotes"So, "Rechtfertigungsgrund"sl oder auch "Gegenmaßnahme gegen seine Verletzung"S2 die Rede. Dabei handelt es sich nicht nur um sprachliche Unterschiede. Die Entscheidung rur oder gegen den Ausnahmecharakter hat auch rechtslogische Konsequenzen. Trifft die Ausnahmefallthese zu, dann verstößt auch die Selbstverteidigung gegen das Gewaltverbot; dieser Verstoß ist aber ausnahmsweise erlaubt. Der Betroffene handelt daher grundsätzlich völkerrechtswidrig, wenn er einen rechtswidrigen Angriffzurückschlägts3. Wird die Selbstverteidigung dagegen als tatbestandsimmanente Schranke des Gewalt79 Vgl. z. B. B. Simma, Die NATO, die UN und militärische Gewaltanwendung: Rechtliche Aspekte, in: R. Merkei, Der Kosovo-Krieg und das Völkerrecht, 2000, S. 12 ff.; D. Thürer, Der Kosovo-Konflikt im Lichte des Völkerrechts: Von drei - echten und scheinbaren - Dilemmata, ArchVR 2000, S. 5; A. RandelzhoJer, zu Art. 51 Rdnr. 3, in: B. Simma, Charta der Vereinten Nationen, 1991; K. Ipsen, Völkerrecht, 4. Aufl. 1999, § 59 Rz. 10 (H. Fischer); W. Hummer / J Mayr-Singer, Der Kosovo-Krieg vor dem internationalen Gerichtshof, Neue Justiz 2000, S. 114; T Bruha / M Bort/eld, Terrorismus und Selbstverteidigung, VN 2001, S. 162; R. Voigtländer, Notwehrrecht und kollektive Verantwortung, 2001, S. 58 ff. (64 f.). 80 D. Schindler / K. Hailbronner, Die Grenzen des völkerrechtlichen Gewaltverbots, 1986, S. 11 ff. (Schindler), S. 49 ff. (Hailbronner). 81 M Bothe / B. Martenczuk, Die Nato und die Vereinten Nationen nach dem KosovoKonflikt, VN 1999, S. 129. 82 N. Krisch, Selbstverteidigung und kollektive Sicherheit, 200 I, S. 296. 83 s. auch R. Voigtländer, Notwehrrecht und kollektive Verantwortung, 2001, S. 60 f.
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verbotes gedeutet, darm liegt keine Verletzung des Gewaltverbotes vor, da dies schon nicht betroffen istS4 • Die Annahme, daß sowohl ein "bewaffueter Angriff', als auch die dagegen erfolgte "Selbstverteidigung" jeweils im Grunde rechtswidrig sind, karm nur darm überzeugen, wenn keine andere - demgegenüber rechtmäßige - Lösung möglich ist. Diese könnte theoretisch im Tätigwerden des Sicherheitsrates zu sehen sein. Jedoch karm dieser schon rein tatsächlich nicht in jedem Falle sofort reagieren und den angegriffenen Staat schützen. Die Selbstverteidigung ist den Maßnahmen des Sicherheitsrates regelmäßig zeitlich vorgelagert. Insoweit ist die These von der Rechtswidrigkeit der Selbstverteidigung nicht nachvollziehbar. Die Ausnahmefallthese indiziert und ermöglicht zudem eine restriktive Interpretation des Selbstverteidigungsrechts. Die Geltung des in der Methodenlehre verwendeten Orientierungssatzes "Ausnahmen sind eng auszulegen" erscheint auch hier zunächst plausibel. Je mehr Sachverhalte unter die Ausnahme fallen, desto mehr wird die Regel in Frage gestellt, bis die Ausnahme selbst zur Regel wird. Bedenken gegen diese im Grunde überzeugende Einsicht ergeben sich aus einer näheren Betrachtung der Entstehung von Regel und Ausnahme. In der Methodenlehre wird nämlich auch daraufhingewiesen, daß die Wertung, eine Norm sei eine Ausnahmevorschrift, nicht ohne weiteres erkennbar ist, sondern das Ergebnis der Interpretation und Konkretisierung sein muß ss . Ob ein Regel-Ausnahme-Verhältnis vorliegt, ergibt sich nicht maßgebend aus der allgemeinen Normformulierung, sondern aus der Absicht des Normgebers. In der Methodenlehre Karl Larenz heißt es dazu: "Nur wo es sich um eine Ausnahme auch der Sache nach handelt, hat die angefiihrte Auslegungsregel einen beschränkten Wert. Um eine Ausnahme auch der Sache nach handelt es sich vornehmlich dort, wo das Gesetz eine Regel, der es in möglichst weitem Umfang Geltung zu verschaffen sucht, für bestimmte, meist eng umgrenzte Fälle durchbrochen hat, weil ihre Durchführung auch in diesen Fällen dem Gesetzgeber wenig praktikabel oder als unangebracht erscheint und er deshalb hier glaubte, darauf verzichten zu können"s6. Rechtslogisch betrachtet ist eine Ausnahme also eine vom Recht vorhergesehene Abweichung von einer Regel. Es muß sich um eine vom Normgeber gewollte Durchbrechung einer Regel handeln, weil dieser auf die Beachtung der Regel in bestimmten Fällen verzichtet. Eine Norm stellt ein Verhaltensgebot aufund sagt Kritisch R. Voigtländer, Notwehrrecht und kollektive Verantwortung, 2001, S. 62 f. F. Müller, Juristische Methodik, 7. Aufl. 1997, Rn. 370; sowie ihm folgend K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 355. 86 K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 355 f. 84
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zugleich, wann dieses nicht befolgt werden muß. In vorherbestimmten Ausnahmefällen braucht die Regel also nicht beachtet zu werden. Entscheidend wird damit die Ermittlung der Regel und der Bedingungen rur die Annahme des Ausnahmefalles. Wie also lautet die Regel im Zusammenhang von Gewaltverbot und Selbstverteidigung? Vor dem Hintergrund ihres Ursprunges könnte die Regel vereinfacht lauten: Wir, die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen, wenden keine Gewalt an, es sei denn wir werden angegriffen. Nach der Logik der Regel konnte es - ihre Einhaltung vorausgesetzt - nur zu einer zwischenstaatlichen Gewaltanwendung kommen, solange nicht alle Staaten an die Charta gebunden sind. Dann gibt es einerseits Staaten, die sich verpflichtet haben, keine Gewalt anzuwenden und andererseits solche Staaten, die nicht vom Gewaltverbot erfaßt wären und dieses ungeachtet der Entwicklung des gewohnheitsrechtlichen Gewaltverbotes auch nicht beachten müssen. Gegen Angriffe letzterer würde das Selbstverteidigungsrecht ausgeübt werden. Da aber das Gewaltverbot heute alle Staaten erfaßt, hat sein Regelcharakter einen anderen Inhalt bekommen. Die Regel muß nunmehr lauten: Alle Staaten unterlassen die Anwendung zwischenstaatlicher Gewalt, es sei denn ein Staat verstößt gegen diese Vereinbarung bzw. das allgemeine Gewaltverbot. Hierin liegt gegenüber der ersten Variante ein entscheidender gedanklicher Zwischen schritt. Ausgangspunkt der Regel ist m.a.W. das generelle Verbot der Gewaltanwendung. Wird dieses Gebot von allen beachtet, bedarf es überhaupt keiner Selbstverteidigung, da es regelmäßig keinen Grund mehr rur die Anwendung von Gewalt gibt. Wenn also keine Verstöße gegen die Regel erlaubt werden sollen bzw. vorgesehen sind, dann bedarf es auch keiner Ausnahme von der Regel. Erst das Wissen um die mögliche Verletzung der Regel weckt das Bedürfuis nach Anerkennung des Selbstverteidigungsrechts. Das Selbstverteidigungsrecht ist damit heute eine Reaktion auf einen Rechtsverstoß und keine Ausnahme von einer Regel im Rechtssinne, so daß zwar umgangssprachlich von einer Ausnahme die Rede sein kann, nicht aber rechtslogisch. Ein Vergleich mit der Struktur des innerstaatlichen Notwehrrechts zeigt ebenfalls den Unterschied auf und fUhrt hinüber zu den inhaltlichen Gründen, die gegen den Ausnahmecharakter sprechen. Auch innerstaatlich ist Notwehr keine Ausnahme vom Verbot privater Gewaltanwendung, mithin der bürgerlichen Friedenspflicht, sondern eine Ausnahme vom Gewaltmonopol des Staates. Dieses ist nur gerechtfertigt, weil der Staat den Schutz seiner Bürger rur diese übernommen hat 87 • Nicht die Friedenspflicht kennt eine Ausnahme, sondern die Inan87
Drews / Wacke / Vogel / Martens. Gefahrenabwehr. 9. Aufl. 1986, S. 547.
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spruchnahme der alleinigen Rechtsdurchsetzungsmacht durch den Staat. Da die Charta, wie oben aufgezeigt 88 , kein Gewaltmonopol zugunsten der Vereinten Nationen enthält, kann das Selbstverteidigungsrecht insoweit auch hiervon keine Ausnahme sein. bb) Inhaltlicher Einwand gegen den Ausnahmecharakter des Selbstverteidigungsrechtes Die inhaltlichen Einwände gegen den Ausnahmecharakter des Selbstverteidigungsrechts ergeben sich im Zusammenhang mit der Bestimmung seiner Voraussetzungen und Grenzen. Die Reichweite des in Art. 51 UN-Charta angesprochenen Selbstverteidigungsrechts war stets umstritten. Einerseits ist das Gewaltverbot in Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta weit ge faßt, andererseits wird das Selbstverteidigungsrecht von vielen eng interpretiert, so daß den Staaten nicht gegen alle Verletzungen des Gewaltverbotes das Selbstverteidigungsrecht zuzustehen scheint. Nicht zuletzt wegen dieser Schutzlücke wird darüber gestritten, ob es über den Anwendungsbereich von Art. 51 UN-Charta hinaus ein weiterreichendes allgemeines Selbstverteidigungsrecht gibt, welches dieser unberührt lasse89 • Uneinigkeit herrscht in diesem Zusammenhang infolgedessen im Hinblick auf die sich daraus ergebende Frage, ob das Selbstverteidigungsrecht in Art. 51 der UNCharta deklaratorisch ist oder konstitutiv wirkt90 • Der Wortlaut der Charta ("inherent right of self-defence") spricht zunächst für die Geltung eines von ihr unabhängigen "natürlichen Selbstverteidigungsrechts". So heißt es in Art. 51: "Die Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung... ". Mithin geht die Charta von der Existenz eines naturrechtlich gegebenen Selbstverteidigungs88
Oben B. V. 2.
Vgl. statt vieler A. RandelzhoJer zu Art. 51 Rdnr.4 ff., in: B. Simma, Charta der Vereinten Nationen, 1991; K. Doehring, Völkerrecht, 1999, Rn. 757 ff.; K. Ipsen, Völkerrecht, 4. Aufl. 1999, § 59 Rz. 28 ff. (H. Fischer); R. Voigtländer, Notwehrrecht und kollektive Verantwortung, 2001, S. 39 ff. Vgl. zum Streit um die Reichweite des Selbstverteidigungsrechts im anglo-amerikanischen Schrifttum insbesondere D. W Bowett, SelfDefence in International Law, 1958, S. 182 ff.; I. Brownlie, International Law and the Use of Force by States, 1963, S. 251 ff.; S. A. Alexandrov, Self-Defense Against the Use of Force in International Law, 1996, S. 93 ff.; G. K. Walker, Anticipatory Collective SelfDefense in the Charta Era: What the Treaties Have Said, Cornell International Law Journal 1998, S. 350 ff. 89
90 Vgl. R. M Derpa, Das Gewaltverbot der Satzung der Vereinten Nationen und die Anwendung nichtmilitärischer Gewalt, 1970, S. 96 ff. m. w. Nw.
102
D. Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht
rechtes aus, das nicht beeinträchtigt werden sollte. Der internationale Gerichtshof hat überdies seinem Nicaragua-Urteil ausdrücklich ein außerhalb von Art. 51 UNCharta existierendes Selbstverteidigungsrecht zugrunde gelegt91 • Dessen ungeachtet soll ein weitergehendes Selbstverteidigungsrecht vor allem dann begründet sein, wenn sich Art. 51 UN-Charta im Einzelfall als zu eng erweise oder die Vereinten Nationen keinen effektiven Schutz garantieren können 92 • Die Gegner dieser Ansicht verweisen darauf, daß ein über das in Art. 51 UNCharta enthaltene Selbstverteidigungsrecht hinausgehendes Recht das Gewaltverbot selbst in Frage stellen würde 93• Die Charta müsse daher das Selbsthilferecht auf die Abwehr eines bewaffneten Angriffs beschränken94 • Ein weitergehendes Selbstverteidigungsrecht könne den Zielen der Charta nicht gerecht werden. Schließlich habe der Internationale Gerichtshof in der genannten Entscheidung zwar auf der Grundlage eines gewohnheitsrechtlich begründeten Selbstverteidigungsrechts entschieden, dieses aber inhaltlich mit Art. 51 UN-Charta gleichgesetzt. Art. 51 der Charta würde nunmehr ein eventuell vorhandenes darüber hinausgehendes Völkergewohnheitsrecht überlagern und verdrängen95 • Diejenigen, die das Selbstverteidigungsrecht als Ausnahme vom Gewaltverbot sehen, müßten eigentlich vom konstitutiven Charakter ausgehen, um zu begründen, daß es dann als vom Vertrag vorgesehene Abweichung vom Gewaltverbot eng auszulegen sei. Dann wäre das Selbstverteidigungsrecht aber nur in bezug auf die von der Charta geschaffene neue Rechtsordnung konstitutiv, da niemand ernstlich bestreiten wird, daß das Selbstverteidigungsrecht schon vor der Entstehung der Charta anerkannt war. Da sich die Charta nicht näher mit dem Begriff befaßt, geht sie offenbar von seiner Existenz aus. Ein Selbstverteidigungsrecht gab es also schon vor der Charta und wird es vermutlich auch geben, wenn einmal die Charta selbst keinerlei Geltung mehr beanspruchen sollte. Nur wenn man annimmt, durch die Charta sei das zuvor schon vorhandene Selbstverteidigungs9\
lGH, lCJ Report 1986, 14 tT. - "Nicaragua".
92 K. Doehring, Völkerrecht, 1999, § 14 Rn. 764; vgl. auch R. Voigtländer, Notwehrrecht und kollektive Verantwortung, 2001, S. 40. 93 K. Hailbronner, Die Grenzen des völkerrechtlichen Gewaltverbots, in: Schi nd Ier / Hailbronner, Die Grenzen des völkerrechtlichen Gewaltverbotes, 1986, S. 55; R. M Derpa, Das Gewaltverbot der Satzung der Vereinten Nationen und die Anwendung nichtmilitärischer Gewalt, 1970, S. 97 f. m. w. Nw. 94 B. Simma, Die NATO, die UN und militärische Gewaltanwendung: Rechtliche Aspekte, in: R. Merkei, Der Kosovo-Krieg und das Völkerrecht, 2000, S. 13; A . RandelzhoJer zu Art. 51 Rdnr. 9 tT., in: B. Simma, Charta der Vereinten Nationen, 1991.
tT.
95
AusfiihrlichR. Voigtländer, Notwehrrecht und kollektive Verantwortung, 2001, S. 40
IlI. Grenzen der Angemessenheitsprüfung
103
recht durch das in Art. 51 beschriebene Recht ersetzt und gleichsam neu geschaffen worden, kann von einem konstitutiven Charakter die Rede sein. Letztendlich kann die Frage nach dem konstitutiven oder dem deklaratorischen Charakter fiir die hier anstehende Fragestellung unbeantwortet bleiben, da sich das entscheidende Problem, namentlich die Bestimmung der Voraussetzungen und Grenzen des Selbstbestimmungsrechts, unabhängig hiervon stellt. Überdies deutet einiges daraufhin, daß Art. 51 UN-Charta in bezug auf das Selbstverteidigungsrecht weder konstitutiv noch deklaratorisch, sondern eher modifizierend wirkt. Möglicherweise haben sich die Staaten in Art. 51 UN-Charta bloß zu einem eingeschränkten Gebrauch ihres Selbstverteidigungsrechts verpflichtet. Aus der Prämisse, daß dem Selbstverteidigungsrecht kein absoluter Schutz anhaftet, folgt, daß es den Staaten grundsätzlich freisteht, auf ihr Selbstverteidigungsrecht ganz oder teilweise zu verzichten. Formal betrachtet gestattet die Souveränität der Staaten jegliche freiwillige Aufgabe eigener Rechte96 . Von dieser Freiheit haben sie in Art. 51 UN-Charta Gebrauch gemacht. Soweit die Charta eine Beschränkung des Selbstverteidigungsrechts enthält, ist dies Ausdruck staatlicher Selbstbestimmung. Entscheidend ist daher der Umfang der selbst auferlegten Beschränkung. Für die These der Selbstbeschränkung spricht vor allem das in Art. 51 UNCharta vorgesehene Verfahren. Das Selbstverteidigungsrecht endet, wenn "der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat". Damit verzichten die Staaten auf ihre "Kompetenz zur Verteidigung"97 zugunsten der Vereinten Nationen. Auch das Tatbestandsmerkmal des "bewaffneten Angriffs" kann als Selbstbeschränkung verstanden werden, so daß daneben kein Raum fiir einen dem früheren Völkerrecht entsprechenden weiteren Umfang verbleibt. Die als herrschend bezeichnete Ansicht, Art. 51 UN-Charta erfasse das Selbstverteidigungsrecht abschließend98 , stützt ebenfalls die Deutung der Vereinbarung als Selbstbeschränkung. Wenn die Staaten danach auf die Inanspruchnahme eines weitergehenden Selbstverteidigungsrechts verzichtet haben, dann konnten sie aber keine Ausnahme vom Gewaltverbot schaffen.
96
N. Kriseh, Selbstverteidigung und kollektive Sicherheit, 2001, S. 332 ff.
97
S. Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, 1992, S. 214.
98 Vgl. stellvertretend A. RandelzhoJer zu Art. 51 Rdnr. 10 m. w. Nw., in: B. Simma, Charta der Vereinten Nationen, 1991.
104
D. Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht
cc) Zwischenergebnis Die gegen den Ausnahmecharakter des Selbstverteidigungsrechtes angefiihrten logischen und inhaltlichen Einwände fUhren zu dem Schluß, daß es sich nicht um ein Regel-Ausnahme-Verhältnis handelt. Mithin kann ein für sich genommen begrüßenswerter strenger Abwägungsmaßstab nicht auf den Ausnahmecharakter gestützt werden. Infolgedessen verbleibt für eine restriktive Interpretation des Selbstverteidigungsrechts nur der Rückgriff auf die in Art. 51 UN-Charta enthaltenen Tatbestandsmerkmale und auf alle sonstigen Vereinbarungen, insbesondere auf die in Art. 1 und 2 der Charta genannten Ziele und Grundsätze. Im übrigen bleiben die Maßstäbe, die einer Abwägung zugrunde zulegen wären, wiederum unentdeckt. 3. Abwägung im Sicherheitsrat Der Sicherheitsrat hat bei seinen Entscheidungen seiner besonderen Aufgabe entsprechend einen weiten Gestaltungs- bzw. Ermessensspielraum99 • Überall dort, wo ein Ermessen besteht und betätigt wird, besteht die Möglichkeit und zugleich die Gefahr einer fehlerhaften Ermessensausübung. Es kann zumindest nicht von vornherein ausgeschlossen werden, daß auch dem Sicherheitsrat ein Fehler unterläuft und er dadurch gegen Grundsätze des Völkerrechts verstößt. Unter der Prämisse, daß der Sicherheitsrat nicht von jeglicher Bindung an das Völkerrecht befreit ist, sind Ermessensbindungen grundsätzlich denkbar. Folglich sind in einem ersten Schritt die Grenzen des Ermessens zu benennen. Im Anschluß daran ist zu klären, welche Folgen die Mißachtung einer solchen Ermessensbindung haben kann.
a) Ermessensbindungen Aufgrund der besonderen Stellung des Weltsicherheitsrates und dem Umstand, daß die Entscheidungsfindung des Sicherheitsrates nicht durch ein Gewaltmonopol begrenzt wird, ist im Hinblick auf die Postulierung von Ermessensbindungen zunächst Zurückhaltung angebracht. Gleichwohl würde der Sicherheitsrat seine eigene Existenzberechtigung gefährden, wenn er selbst gegen Ziele der Charta verstößt. Seine Autorität würde schwinden, wenn er bei seinen Entscheidungen das geltende Völkerrecht, insbesondere die Bestandteile des ius cogens, mißachtet. So wäre z. B. eine Resolution, die einen Völkermord anordnet, kaum zu 99
Vgl. bereits oben zu B. V.
III . Grenzen der Angemessenheitsprüfung
105
rechtfertigen lOo • Inwieweit dies auch in bezug auf andere materielle Schutzgüter gilt, kann demgegenüber nicht ohne weiteres beantwortet werden 101. Eine weitere Bindung könnte sich z. B. aus der Aufgabenzuweisung ergeben. Der Sicherheitsrat könnte seine Kompetenzen überschreiten, indem er die in Art. 39 UN-Charta enthaltene Zweckbindung seiner Regelungsbefugnis mißachtet und aus anderen möglicherweise sachfremden Motiven heraus handelt. Da der Begriff der Friedenswahrung aber sehr weit ist, mithin der Sicherheitsrat einen weiten Interpretationsspielraum hat, wird die Möglichkeit eines derartigen Ermessensfehlgebrauchs nur ausnahmsweise gegeben sein l02 • Klarstellend ist an dieser Stelle anzumerken, daß Gewaltmaßnahmen des Sicherheitsrates nicht, wie im Schrifttum oftmals behauptet wird, Ausnahmen vom Gewaltverbot sind lol • Das in den Artt. 39 ff. UN-Charta beschriebene Verfahren zur Ergreifung von Maßnahmen zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens durch den Sicherheitsrat ist zweifelsohne ein Fall legaler Anwendung von Gewalt und damit auf den ersten Blick eine Ausnahme vom Gewaltverbot. Würde es sich aber tatsächlich um einen Ausnahmetatbestand handeln, müßte der Satz vom Gebot restriktiver Auslegung von Ausnahmen gelten, der dann das Ermessen des Sicherheitsrates einschränken würde. Daß es sich dabei um eine Ausnahme im Rechtssinne handeln soll, überzeugt indes aus zwei Gründen nicht. Zunächst widerspricht diese Annahme dem Wortlaut der Charta. In Art. 2 Ziff. 4 haben sich die Staaten, nicht aber auch der Sicherheitsrat dem Gewaltverbot unterworfen. Diese Vereinbarung bindet den Sicherheitsrat überhaupt nicht; er wird schlicht nicht vom Gewaltverbot erfaßt. Aus systematischer Sicht wäre dies auch nicht wünschenswert, da gerade die Vereinten Nationen als eigenständiges Völkerrechtssubjekt berufen sind, den Frieden zu wahren bzw. ihn herbeizufiihren. Hierzu bedarf es als letztes Hilfsmittel des Einsatzes von Gewalt. Der Sicherheitsrat soll nach der Logik der Charta das Mittel der Gewalt einsetzen, wenn friedliche Maßnahmen zur Streitbeilegung nicht zum Ziel gefiihrt haben oder fUhren. 100
B. Lorinser, Bindende Resolutionen des Sicherheitsrates, 1996, S. 52 f.
101
V gl. dazu auch B. Lorinser, Bindende Resolutionen des Sicherheitsrates, 1996, S. 54
tT.; B. Martenczuk, Rechtsbindung und Rechtskontrolle des Weltsicherheitsrats, 1996, S.
269 ff.
102 Vgl. dazu auch B. Lorinser, Bindende Resolutionen des Sicherheitsrates, 1996, S. 52; B. Martenczuk, Rechtsbindung und Rechtskontrolle des Weltsicherheitsrats, 1996, S. 260. 103 Üblicherweise werden Maßnahmen nach Kapitel VII und das Selbstverteidigungsrecht zusammen als die bei den Ausnahmen vom Gewaltverbot bezeichnet, vgl. dazu die zitierten Quellen oben D. III. 2. d) aa).
106
D. Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht
Eine Ausnahme zeichnet sich dadurch aus, daß es sich um eine nonnativ gewollte Abweichung von einer Regel handelt lO4 • Im Zusammenhang mit den Aufgaben des Sicherheitsrates ist mit dieser Charakterisierung ein Ausnahmefall nicht zu begründen. Die Annahme eines Ausnahmetatbestandes fuhrt zu Ende gedacht zu einer restriktiven Handhabung der Befugnisse des Sicherheitsrates, der dann nur ausnahmsweise den Frieden mit Gewalt sichern oder wiederherstellen darf. Es wäre somit im wesentlichen auf friedliche Maßnahmen zur Streitbeilegung begrenzt. Der weitgefaßte Verbotstatbestand (Gewalterbot) paßt nicht zu eng begrenzten Reaktionsmöglichkeiten (friedliche Maßnahmen). Wenn die Friedenssicherung bei den Vereinten Nationen konzentriert sein soll, so muß der Sicherheitsrat auch das Recht haben, umfassende Maßnahmen nach Kapitel VII zu beschließen. Diese sind im Vergleich mit der Anwendung von Gewalt durch einzelne Staaten die Regel und nicht die Ausnahme vom Gewaltverbot. Mithin wird das Ennessen des Sicherheitsrates nicht durch den ,,Ausnahmecharakter" begrenzt 105 • Sofern eine Bindung des Sicherheitsrates nicht grundsätzlich verneint wird, könnte sich demgegenüber der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Grenze der Entscheidungsfreiheit erweisen ,06 • Die Behauptung, der Sicherheitsrat sei an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden, bedarf gleichwohl einer näheren Begründung, da die Charta jenseits der Bezugnahme auf die "erforderlichen Maßnahmen" in Art. 51 UN-Charta keinen unmittelbaren Hinweis auf das Abwägungsgebot enthält. Letzteres bindet den Sicherheitsrat auch nicht als Völkergewohnheitsrecht. Eine Übertragung der deutschen Ennessensfehlerlehre auf das Ennessen des Sicherheitsrates empfiehlt sich nicht. Diese ist wegen ihrer intensiven Kontrolldichte grundsätzlich nicht übertragbar und dürfte überdies auch über die Bindungen der Verwaltung in anderen Staaten hinausgehen ,07 •
104
Vgl. bereits oben D. III. 2. d) aa).
105 Eine Begrenzung der Befugnisse des Sicherheitsrates ließe sich mit einer restriktiven Auslegung der objektiven Tatsachen fiir das Ergreifen der Maßnahmen nach Kapitel VII erreichen (dafiir: J. Arntz, Der Begriff der Friedensbedrohung in Satzung und Praxis der Vereinten Nationen, 1975, S. 54). In diesem Fall wären militärische Zwangsmaßnahmen regelmäßig gerechtfertigt, so daß kein Raum fiir Abwägungsfehler verbleibt. 106 So z. B. T Bruha / M Krajewski, Funktionswandel des Sicherheitsrats als Verfassungsproblem, VN 1998, S. 17; dagegen B. Martenczuk, Rechtsbindung und Rechtskontrolle des Weltsicherheitsrats, 1996, S. 277 ff. 107 Vgl. dazu auch S. Oeter, Die Kontrolldichte hinsichtlich unbestimmter Begriffe und des Ermessens, in: J. Abr. Frowein, Die Kontrolldichte bei der gerichtlichen Überprüfung von Handlungen der Verwaltung, 1993, S. 272 ff.
III. Grenzen der AngemessenheitspTÜfung
107
Der Versuch, eine Bindung an die Verhältnismäßigkeit zu legitimieren, kann demgegenüber an die Erfiillung der Aufgaben des Sicherheitsrates anknüpfen \08. Soweit der Sicherheitsrat im Zusammenhang mit der Wahrung und Herstellung des Friedens befaßt wird, übernimmt er gleichsam polizeiliche Aufgaben. Im Rahmen seines Tätigwerdens trifft er Maßnahmen, die die Souveränität der betroffenen Staaten beeinträchtigen. Das Verhältnis zwischen dem Sicherheitsrat und dem betroffenen Einzelstaat ist in dieser Hinsicht vergleichbar mit dem innerstaatlichen Verhältnis zwischen Staat und Bürger. Die Gründe, die bei Eingriffen in die Freiheit des Bürgers fiir eine Bindung des Verwaltungsermessens an das Abwägungsgebot sprechen, fechten hier auch fiir die Bindung des Ermessens des Sicherheitsrates. Dann aber können die betroffenen Staaten vom Sicherheitsrat verlangen, daß seine Beschlüsse nicht zu unverhältnismäßigen Eingriffen in ihre Souveränität fUhren und sich insoweit auch auf das Schädigungsverbot als allgemeinen Rechtsgrundsatz berufen \09.
b) Ermessens/ehler bei Maßnahmen nach Kapitel VI und VII Der Sicherheitsrat ist danach bei Maßnahmen, die er aufgrund der Kapitel VI und VII der Charta der Vereinten Nationen ergreift, zunächst an das Erforderlichkeitsgebot gebunden. Nach dem Wortlaut des Art. 42 UN-Charta kann er die "erforderlichen Maßnahmen durchfUhren", wenn er der Auffassung ist, daß die in Art. 41 UN-Charta vorgesehenen Maßnahmen unzulänglich sein würden oder sich als unzulänglich erwiesen haben. Mithin kann der Sicherheitsrat nur solche Maßnahmen auswählen, die er fiir "erforderlich" hält. Liegen die Voraussetzungen fiir die Durchführung von Maßnahmen vor, dann ist es möglich, daß der Sicherheitsrat über die Ziel erreichung hinaus wirkende - mithin nicht erforderliche - Maßnahmen beschließt, etwa weil er sich bei der Einschätzung ihrer Wirkung geirrt hat. Da er aber nicht darauf verpflichtet werden kann, jeweils vorab die mögliche tatsächliche Wirkung seiner Maßnahmen zu ermitteln, können ihm Fehler bei der Einschätzung im allgemeinen nicht im nachhinein vorgeworfen werden. Auch
108
Vgl. zur Ableitung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bereits oben C. I. 1.
109 Vgl. zum Schädigungsverbot oben D. I. 2. sowie zur Souveränität J De/brück, Staatliche Souveränität und die neue Rolle des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, VRÜ 26 (1993), S. 6 ff. (20); T Bruha / M Krajewski, Funktionswandel des Sicherheitsrats als Verfassungsproblem, VN 1998, S. 15; J Isensee, Weltpolizei fiir Menschenrechte, JZ 1995, S. 425.
108
D. Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht
hier greifen letztendlich die Lehren vom Prognosespielraum 11o • Der Einschätzung des Sicherheitsrates kann daher kaum entgegengetreten werden, so daß im Ergebnis das Rechtsfolgeerrnessen hier nahezu unbegrenzt ist!!!. Der Sicherheitsrat wird von sich aus bei der Auswahl der "erforderlichen Maßnahmen" stets auch deren Bedeutung und Wirkung "abwägen". Welche Gesichtspunkte er hierbei in die Waagschale wirft und welches Gewicht er diesen verleiht, bleibt ihm überlassen. Maßgebend ist allein die Auffassung des Sicherheitsrates. Dennoch darf zumindest als theoretischer Fall nicht die Möglichkeit außer acht gelassen werden, daß er eine Entscheidung trifft, die auf völlig sachfremden Erwägungen oder auf einer groben Fehleinschätzung der SchadenNutzen-Relation beruht. Im Hinblick auf das Ergreifen nichtmilitärischer Maßnahmen stellt sich hier kein besonderes Abwägungsproblem. Sofern das Angemessenheitspostulat einen Vergleich zwischen dem verursachten Schaden und dem angestrebten Zweck gebietet, sind Abwägungsfehler praktisch ausgeschlossen. Beim Vorliegen der objektiven Voraussetzungen, also einem Bruch oder einer Bedrohung des Friedens, können gewaltlose Sanktionen nach Art. 41 UNCharta kaum in einem Mißverhältnis zu den zu erwartenden Schäden stehen ll2 • Anders verhält es sich bei der Gegenüberstellung einer Friedensbedrohung auf der einen Seite und dem Ergreifen von militärischen Sanktionen auf der anderen Seite. Je nach Ausmaß der tatsächlichen Friedensbedrohung und den konkreten Schäden einer militärischen Intervention kann durchaus ein Mißverhältnis zwischen beiden bestehen. Es sei hier nur daran erinnert, daß von militärischen Maßnahmen regelmäßig auch die Zivilbevölkerung betroffen ist und diese darüber hinaus geeignet sind, langanhaltende, den konkreten Anlaß überdauernde Spannungen zwischen den Völkern der beteiligten Staaten zu erzeugen. Stets ist bei der Entscheidung für Maßnahmen nach Kapitel VII eine Fülle von Gesichtspunkten heranzuziehen und gegeneinander "abzuwägen". Letztlich wird es kaum möglich sein, konkrete Kriterien anzugeben, die verläßlich darüber Auskunft geben könnten, wann eine gewaltsame Bekämpfung einer Friedensbedrohung "unangemessen" ist. Theoretisch ist der Fall denkbar, daß der Sicherheitsrat aus zweckfremden Motiven anläßlich einer geringfügigen Bedrohung des Friedens umfassende Gewaltmaßnahmen beschließt. Ein solches Vorgehen wäre dann tatsächlich errnessensfehlerhaft.
JlO
Vgl. oben C. I. 3. a).
JlI B. Martenczuk, Rechtsbindung und Rechtskontrolle des Weltsicherheitsrats, 1996, S. 279. ll2 Darauf weist zu Recht B. Martenczuk, Rechtsbindung und Rechtskontrolle des Weltsicherheitsrats, 1996, S. 279 f., hin.
III. Grenzen der Angemessenheitsprüfung
109
Im Vergleich zum eher praxis fernen Fall einer übermäßigen Reaktion des Sicherheitsrates besitzt das Unterlassen friedenswahrender Maßnahmen eine weitaus größere tatsächliche Relevanz. Kritisiert wurde der Sicherheitsrat bislang weniger wegen zu weit gehender Maßnahmen, sondern eher wegen seiner mangelnden Effizienz ll3 . In dem oben gewählten fiktiven Ausgangsfall ist der Sicherheitsrat untätig geblieben, obwohl es zum Einsatz einer atomaren Waffe komme 14. Auch in der Wirklichkeit hat es seit Gründung der Vereinten Nationen zahlreiche Fälle gegeben, in denen trotz Bruchs oder schwerwiegender Gefahren für den Frieden der Sicherheitsrat auf militärische Zwangsmaßnahmen verzichtet hat lls • Auf den deswegen erhobenen Vorwurf, dieser habe "versagt", wird sogleich zurückzukommen sein. Vorab sind die wesentlichen Fallkonstellationen und der rechtstheoretische Hintergrund für die Annahme, die Untätigkeit des Sicherheitsrates könnte als Ermessensfehler gewertet werden und Rechtsfolgen nach sich ziehen, kurz zu erläutern.
Im wesentlichen handelt es sich um drei Fallkonstellationen. In der ersten wird der Sicherheitsrat nicht angerufen, obwohl die Voraussetzungen zum Tätigwerden, insbesondere ein Bruch oder eine Gefährdung des Friedens, vorliegen. Der Grund dürfte hierfür regelmäßig darin zu sehen sein, daß aufgrund vorheriger Stellungnahmen der Staaten eine Abstimmungsniederlage vorhersehbar ist. Zweitens: Der Sicherheitsrat wird zwar angerufen, es kommt aber wie im Ausgangsfall zu keiner Einigung. Und schließlich drittens: Der Sicherheitsrat untersagt einem angegriffenen Staat die Selbstverteidigung, obwohl deren Voraussetzungen gegeben sind l16 • Er kann nämlich zu der Überzeugung gelangen, daß zur Wahrung des Weltfriedens nicht nur die Selbstverteidigung, sondern auch sonstige militärische oder nicht militärische Maßnahmen unterlassen werden sollen. Soweit der Sicherheitsrat sein Ermessen betätigt, liegen diesem Abwägungsprozesse zugrunde, die wegen einer Unausgewogenheit fehlerhaft sein können. c) Ermessensfehlerfolgen Unter der Prämisse, daß der Abwägungsprozeß des Sicherheitsrates fehlerhaft sein kann, gilt es nachfolgend zu klären, welche Folgen ein "Ermessens fehler" 113 Vgl. statt vieler J Delbrück, Staatliche Souveränität und die neue Rolle des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, VRÜ 26 (1993), S. 14 f. 114
s. oben zu D. JlI.
115 Vgl. die Beispiele bei B. Martenczuk, Rechtsbindung und Rechtskontrolle des Weltsicherheitsrats, 1996, S. 164 ff. 116 Vgl. zu diesem besonderen Problem ausfiihrIich N Kriseh, Selbstverteidigung und kollektive Sicherheit, 200 I, S. 315 ff.
lID
D. Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht
haben kann. Folgen hätte eine fehlerhafte Ennessensausübung nur, wenn der Sicherheitsrat einer entsprechenden Fehlerkontrolle unterliegen oder aber der Fehler unmittelbar zur Nichtigkeit seines Beschlusses führen würde. Der Internationale Gerichtshof scheidet als Kontrollorgan bereits aufgrund seiner begrenzten Zuständigkeit aus. Allenfalls im Rahmen einer Inzidentprüfung l17 könnte der Gerichtshof einen ,,Abwägungsfehler" feststellen. Denkbar wäre auch, daß die Generalversammlung in einem entsprechenden Beschluß erklärt, daß sie zu einem anderen Abwägungsergebnis gelangt ist (Art. 10 UN-Charta). Verbindliche Folgen hat aber auch dies nicht. Solange der Sicherheitsrat nicht im Rahmen eines rechtsstaatlichen Überbaues, z. B. als Organ unter anderen, in einem gewaltengeteilten Gefüge eingebunden ist, bleiben seine Entscheidungen unanfechtbar. Die Bindung an das Angemessenheitsgebot kann zwar postuliert werden, maßgebend bleibt aber die jeweils regelmäßig primär nach politischen und nicht nach rechtlichen Kriterien getroffene Einschätzung des Sicherheitsrates. Vorstellbar ist immerhin, daß eine Entscheidung, mithin auch eine Resolution des Sicherheitsrates, von vornherein nichtig ist. Für die Annahme der prinzipiellen Möglichkeit einer nichtigen Resolution spricht der theoretische Fall, in dem diese nicht im dafür vorgesehenen Verfahren mit den notwendigen Mehrheiten zustandegekommen ist. Folglich kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden, daß eine Entscheidung des Sicherheitsrates an einem derart schweren Mangel leiden kann, der das Verdikt der Nichtigkeit nach sich zieht. Daß aber gerade ein Abwägungsfehler so schwer wiegt, daß ein Beschluß nach Art. 42 UNCharta nichtig ist, ist demgegenüber nur schwer vorstellbar l18 • Innerhalb einer Kontrolle der Ennessensbetätigung kann der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstanden als Abwägungsgebot allenfalls nur in äußersten Extremfällen als verletzt gelten 1l9 • Das wären Fälle, in denen das Abwägungsergebnis völlig disproportional ist, so daß die Entscheidung im Ergebnis als willkürlich bezeichnet werden kann. Dies dürfte aber vor dem Hintergrund der gegenwärtig
117 Vgl. dazu B. Lorinser, Bindende Resolutionen des Sicherheitsrates, 1996, S. 118 ff./155; T Bruha / M Krajewski, Funktionswandel des Sicherheitsrats als Verfassungsproblem, VN 1998, S. 18. 118 Vgl. zu den Rechtsfolgetheorien im Völkerrecht B. Lorinser, Bindende Resolutionen des Sicherheitsrates, 1996, S. 131 ff., zum deutschen Recht M Krugmann, Evidenzfunktionen, 1996, S. 146 ff. 119 S. Oeler, Die Kontrolldichte hinsichtlich unbestimmter Begriffe und des Ermessens, in: J. Abr. Frowein, Die Kontrolldichte bei der gerichtlichen Überprüfung von Handlungen der Verwaltung, 1993, S. 274.
BI. Grenzen der Angemessenheitsprüfung
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geltenden Regeln zur Abstimmung im Sicherheitsrat (Art. 27 UN-Charta) ein rein theoretischer Fall bleiben. Abwägungsfehler bei Maßnahmen des Sicherheitsrates werden daher regelmäßig keine Rechtsfolgen haben. Ob dies auch stets in den Fällen gelten muß, in denen der Sicherheitsrat überhaupt keine oder nur unzureichende Maßnahmen zur Verwirklichung der Ziele der Charta der Vereinten Nationen ergreift, bedarf einer weiteren Untersuchung. Die Untätigkeit oder ein Unterlassen des Sicherheitsrates könnte ermessensfehlerhaft sein, wenn der Nachweis geführt werden könnte, daß der Sicherheitsrat hätte handeln müssen. Die damit angesprochene Problematik stellte sich insbesondere im Zusammenhang mit dem Eingreifen der Staaten des Nordatlantikpaktes anläßlich des Kosovo-Konfliktes. Die militärischen Zwangsmaßnahmen wurden von den Staaten beschlossen, ohne daß sie durch ein entsprechendes Mandat der Vereinten Nationen hierzu ermächtigt worden waren. Die Diskussion um die Rechtfertigung dieses als "Humanitäre Intervention" bezeichneten "Verstoßes" gegen das Gewaltverbot offenbarte, das einige Staaten nicht bereit waren, in diesem Fall eine Untätigkeit der Vereinten Nationen und die damit verbundenen Folgen rur die betroffenen Menschen im Kosovo hinzunelunen.
d) Die" Humanitäre Intervention" als Folge der Untätigkeit des Sicherheitsrates Die Erfahrung zeigt, daß es Situationen geben kann, in denen ein Teil der Staatengemeinschaft zu dem Schluß gelangt, er müsse sich über die Vereinbarungen in der Charta der Vereinten Nationen hinwegsetzen. Dieser Rechtsbruch könnte im Einzelfall möglicherweise gerechtfertigt sein, so daß einzelne Staaten unter bestimmten Voraussetzungen berechtigt wären, selbst gegen schwere Verletzungen des Völkerrechts vorzugehen. Anläßlich des als "Humanitäre Intervention" bezeichneten Vorgehens der NATO-Staaten im Kosovo wurden vom Schrifttum eine Reihe von Begründungsansätzen vorgestellt, die das Abweichen von den Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen rechtfertigen sollten. Die rur den vorliegenden Kontext bedeutsamsten Begründungsvarianten sollen wegen der gegen sie bestehenden Bedenken nachfolgend kurz zusammengefaßt werden. Einzuwenden ist an dieser Stelle nicht, daß die Figur der "Humanitären Intervention" grundsätzlich abzulehnen sei, sondern daß viele Rechtfertigungsansätze unzutreffenderweise auf der Grundlage einer Gegenüberstellung vom Interesse am Schutz von bedrohten Menschen und dem Gewaltverbot erfolgen und im Rahmen einer Rechtsgüterabwägung zu begründen versuchen, daß dem Men-
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D. Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht
schenrechtsschutz in bestimmten Fällen Vorrang gebühre 120 . Das einfache Argumentationsschema, bei dem zunächst auf eine schwerwiegende Verletzung der Menschenrechte abgestellt wird, um sodann aus dem Umstand, daß die Vereinten Nationen kein Mandat erteilt haben, den Schluß zu ziehen, dieser hätte "versagt" und die Staaten könnten deshalb ausnahmsweise auch ohne vom Sicherheitsrat autorisiert zu sein, Gewalt anwenden, wird der völkerrechtlichen Problematik nicht in vollem Umfang gerecht. aa) Kein Versagen des Sicherheitsrates Zunächst ist der allgemein gehaltenen Behauptung, der Sicherheitsrat habe im umstrittenen Fall versagt12!, entschieden entgegenzutreten. Der Vorwurf des Versagens bezieht sich regelmäßig darauf, daß der Sicherheitsrat trotz des Vorliegens von Menschenrechtsverletzungen keine Entscheidung getroffen hat, weil z. B. ein Mitglied mit ständigem Sitz seine Zustimmung verweigert hat (vgl. Art. 27 Abs. 3 UN-Charta). Dabei handelt es sich jedoch keineswegs um ein Versagen des Sicherheitsrates, sondern um eine von der Charta vorgesehene Folge des Abstimmungsverhaltens. Nur weil das Ergebnis einer Abstimmung nicht den Erwartungen entspricht, kann noch keine Rede von einem Versagen des Sicherheitsrates sein 122 • Allenfalls könnten die Staaten bei der Ausarbeitung der Charta versagt haben, indem sie das sogenannte Vetorecht vereinbart haben. Im übrigen käme niemand ernsthaft auf die Idee, von einem Versagen des Bundesverfassungsgerichts zu sprechen, wenn ein Antrag scheitert, weil das Ergebnis der Abstimmung 4:4Iautet J23 • 120 Der Ansicht, es würde sich um eine völkergewohnheitsrechtlich legitimierte Gewaltanwendung handeln, ist entgegenzuhalten, daß die Staaten zumindest bis zum Beginn der Jugoslawienkrise überwiegend die Auffassung vertraten, daß solche "Humanitäre Interventionen" unzulässig seien. Daher kann es sich im Fall des Kosovo allenfalls um den Beginn einer neuen Staatenpraxis handeln, die bis zur Verfestigung rechtswidrig bleibt. Gegen die Befürwortung der Herausbildung einer künftig gewohnheitsrechtlieh anzuerkennenden Ausnahme vom Gewaltverbot spricht allerdings, daß es sich dann um die einzige Ausnahme handeln würde. Damit bestünde die Gefahr einer ersten EinbruchsteIle, die in ihrem Gefolge das Gewaltverbot selbst in Frage stellen könnte, etwa wenn zwar auch humanitäre Gründe vorliegen, im wesentlichen aber ganz andere Interessen die Entscheidung zum Ergreifen "Humanitärer Gewalt" bestimmen. 121 So etwaD. Senghaas, Recht auf Nothilfe, Frankfurter Allgemeine Zeitung (F.A.Z.) v. 12.07.1999, S. 12.
122 Gegen die Annahme eines Versagens auch H. Weber, Rechtsverstoß, Fortentwicklung oder Neuinterpretation?, Frankfurter Allgemeine Zeitung (F.A.Z.) v. 09.07.1999, S. 8; S. Tönnies, Die gute Absicht allein ist suspekt, Frankfurter Allgemeine Zeitung (F.A.Z.) v. 07.06.1999, S. 12. 123
Vgl. § 15 Abs. 4 S. 3 BVerfGG.
III. Grenzen der Angemessenheitsprüfung
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Der Vorwurf des Vers agens basiert mäglichweise auf der irrigen Annahme, der Sicherheitsrat habe ein Gewaltmonopol124, das ihn zum Handeln zwinge. Wenn dieser tatsächlich verpflichtet wäre, gegen jede Verletzung der Friedenspflicht vorzugehen, könnte der pauschale Vorwurf des Versagens in Betracht gezogen werden. Da er nicht verpflichtet ist, gegen jedwede Friedensgefahr vorzugehen, ihm aber gleichwohl gewisse Aufgaben übertragen wurden, bedarf es einer differenzierenden Betrachtung. Auf die Frage, ob der Sicherheitsrat im Einzelfall pflichtwidrig entschieden hat und ihm deshalb eine Verletzung einer ihm übertragenen Aufgabe vorgeworfen werden kann, ist deshalb sogleich zurückzukommen. Von einem allgemeinen Versagen des Sicherheitsrates im rechtlichen Sinne kann jedenfalls nicht ausgegangen werden. Nur am Rande sei bemerkt, daß für die restriktiven Regelungen in Art. 27 UN-Charta auch gute Gründe sprechen 125 • bb) Keine allgemeine (moralische) "Güterabwägung" Zu den zentralen Rechtfertigungsbemühungen der "Humanitären Intervention" zählte die Gegenüberstellung des Gewaltverbotes mit dem ebenfalls vom Völkerrecht beabsichtigten Menschenrechtsschutz. Der Schutz der Menschenrechte stehe neben dem Gewaltverbot, mit der Folge, daß zwischen bei den Rechtsgütern abgewogen werden müsse. Im Einzelfall müsse eine Güterabwägung darüber entscheiden, welches Gut Vorrang haben soll, wobei den Menschenrechten regelmäßig der Vorrang vor der Einhaltung der Charta einzuräumen sei l26 • Die Werteorientierung des Völkerrechts habe Vorrang vor der "Gewaltverbots-Fixierung"127. Gegen diesen Begründungsansatz spricht zunächst der Umstand, daß die bestehenden völkerrechtlichen Vereinbarungen zum Schutze der Menschenrechte keine Bestimmungen enthalten, die bei einer Verletzung den Einsatz von Gewalt erlauben. Die Staaten haben bei der Begründung des Menschenrechtsschutzes entweder bewußt auf die Vereinbarung von Zwangsmitteln verzichtet oder aber es 124
Vgl. zum Gewaltmonopol oben B. V. 2.
125 Dazu zählt vor allem die Vermeidung von Konfrontationen und Spannungen zwischen den Mitgliedern, die zu einer Gewalteskalation führen können. 126 C. Tomuschat, Völkerrechtliche Aspekte des Kosovo-Konfliktes, Die FriedensWarte 74 (1999), S. 34 f.; H. Wilms, Der Kosovo-Einsatz und das Völkerrecht, ZRP 1999, S. 227 ff. 127 So D. Senghaas, Recht auf Nothilfe, Frankfurter Allgemeine Zeitung (F.A .Z.) v. 12.07.1999, S. 12.
8 Krugmann
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D. Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht
fehlte den Vertragsstaaten ein dahingehender übereinstimmender Bindungswille. Es ist nicht erkennbar, daß sich aufgrund einer anderslautenden über einen längeren Zeitraum erstreckenden Staatenpraxis hieran etwas geändert hat 128 . Daher würde auf diese Weise die gewaltsame Durchsetzung der Menschenrechte gleichsam durch die Hintertür in die bestehenden Verträge eingefiihrt werden. Der Haupteinwand ergibt sich hiervon unabhängig daraus, daß bereits die Benennung der sich vorgeblich gegenüberstehenden Rechtsgüter einer genaueren Betrachtungsweise nicht standhält. Es geht nämlich nicht um eine Abwägung zwischen dem Menschenrechtsschutz und der Beachtung der Charta der Vereinten bzw. dem Gewaltverbot, sondern um die Frage, wer und in welchem Verfahren den Schutz der Menschenrechte gewährleistet. Zweifelsohne kann die gewaltsame Beendigung eines Völkermordes gerechtfertigt sein. Der Sicherheitsrat hat in der Somaliaresolution 1992 klargestellt, daß auch die Verletzung von Menschenrechten eine Friedensbedrohung darstellen kann l29 • Die Vereinten Nationen wollen schließlich nicht nur den Weltfrieden bewahren, sondern auch die Menschenrechte schützen. Das Gewaltverbot dient dem Menschenrechtsschutz, indem es den Krieg als schwerste Bedrohung der Menschenrechte verbietet. Werden aufgrund des Abstimmungsergebnisses im Sicherheitsrat keine Maßnahmen zum Schutze der Menschenrechte ergriffen, dann ist die Hinnahme der Verletzungen die beabsichtigte Folge der Charta. Der Grund hierfiir liegt darin, daß die Charta sowohl die Vermeidung eines Weltkrieges als auch die Vermeidung anderer Menschenrechtsverletzungen zum Ziel hat, sie also in beiden Fällen dem Schutz der Menschen dient. Mit den Abstimmungsregelungen hat sie der Weltkriegsvermeidung tendenziell den Vorrang eingeräumt I3 o. Das Spannungsverhältnis besteht heute zwischen der Idee der Gewaltkonzentration bei den Vereinten Nationen einerseits und der Billigung von Regionalgewalten auf der anderen Seite. Eine Abwägung kann wenn überhaupt - nur zwischen diesen "Gütern" erfolgen. In der Sache wurde in der Diskussion um die Rechtmäßigkeit der Gewalt im Kosovo-Konflikt und den dort beobachteten Menschenrechtsverletzungen auf ein entsprechendes humanitäres Bedürfuis verwiesen und der Krieg damit letzt-
128 So auch H. Weber, Rechtsverstoß, Fortentwicklung oder Neuinterpretation?, Frankfurter Allgemeine Zeitung (F.A.Z.) v. 09.07.1999, S. 8. 129 Res. 794: Schaffung eines sicheren Umfeldes für die humanitären Hilfsrnaßnahmen in Somalia mit allen erforderlichen Mitteln, vom 3. Dezember 1992. 130 So explizit S. Tönnies, Die gute Absicht allein ist suspekt, Frankfurter Allgemeine Zeitung (F.A.Z.) v. 07 .06.1999, S. 12.
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endlich moralisch gerechtfertigtI31. Das Eingreifen der Staaten könnte aus dem Recht der "Menschheit" bzw. "Menschlichkeit"132 unter bestimmten Voraussetzungen geboten gewesen sein. Wer indes unter Hinweis auf die Moral die Verletzung staatlicher Souveränität zum Schutze der Menschenrechte rechtfertigen will, sollte sicher sein können, daß seine Aussage allgemeingültig ist. Andernfalls könnten sich je nach dem in welcher Region der Erde der Konflikt ausgetragen wird, sehr unterschiedliche Vorstellungen von einem solchen "gerechten Krieg" entwickeln. Deshalb sei abschließend Jürgen Habermas zitiert: "Selbst 19 zweifellos demokratische Staaten bleiben, wenn sie sich selbst zum Eingreifen ermächtigen, Partei. Sie üben eine Interpretations- und Beschlußkompetenz aus, die, wenn es heute bereits mit rechten Dingen zuginge, nur unabhängigen Institutionen zustünde; insoweit handeln sie paternalistisch. Dafür gibt es gute moralische Gründe. Wer aber im Bewußtsein der Unvermeidlichkeit eines vorübergehenden Paternalismus handelt, weiß auch, daß die Gewalt, die er ausübt, noch nicht die Qualität eines im Rahmen einer demokratischen Weltbürgerschaft legitimierten Rechtszwanges besitzt. Moralische Normen, die an unsere bessere Einsicht appellieren, dürfen nicht wie etablierte Rechtsnormen erzwungen werden" 133. cc) Keine "Nothilfe" Schließlich sind noch kurz die Bedenken gegen eine Lösung über die Figur der Nothilfe zu skizzieren. Danach soll bei schweren Menschenrechtsverletzungen in Analogie zur Notwehr ein Recht auf Nothilfe bestehen I34 • Soweit auch hier zur Rechtfertigung auf die Handlungsunfahigkeit des Sicherheitsrates verwiesen wird, ist daran zu erinnern, daß der Sicherheitsrat weder unfahig ist, noch versagt hat, wenn fiir Maßnahmen nach Kapitel VII der Charta nicht die erforderliche Mehrheit erzielt wurde.
131 Vgl. zur Moraldiskussion M Köhler, Wie guter Wille in schweres Unrecht führt, Frankfurter Allgemeine Zeitung (F.A.Z) v. 22.05.1999, S. 46; J Habermas, Bestialität und Humanität, Die Zeit Archiv 18/1999; R. Schmücker, Gibt es einen gerechten Krieg?, DZPhii 48 (2000), S. 319 ff. 132 M Köhler, Wie guter Wille in schweres Unrecht führt, Frankfurter Allgemeine Zeitung (F.A.Z.) v. 22.05.1999, S. 46.
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J Habermas, Bestialität und Humanität, Die Zeit Archiv 18/1999.
Delbrück, Die Effektivität des UN-Gewaltverbots, Die Friedens-Warte 74 (1999), S. 152, unter Hinweis auf K. Doehring, Völkerrecht, 1999, Rdnr. 1015; B. Ladwig, Militärische Interventionen zwischen Moralismus und Legalismus, DZPhil, 48 (2000), S. 133 ff. (143). 134 J
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Der zentrale Einwand richtet sich hier gegen den Mangel an begrifflicher Klarheit. Im Völkerrecht begegnen sich regelmäßig Völkerrechtssubjekte. Grundsätzlich kommt fiir die Nothilfe nur die Hilfe eines Völkerrechtssubjekts einem anderen gegenüber in Betracht. Wem also soll geholfen werden? Der Sicherheitsrat benötigt keine Hilfe; ihm soll auch nicht geholfen werden. Soweit die Menschenrechtsverletzung von einem Staat ausgeht, soll auch diesem keine Hilfe geleistet werden, sondern den betroffenen Bürgern. Diese müßten damit als gleichwertiges Völkerrechtssubjekt anerkannt werden, damit die in der Gewaltanwendung liegende Verletzung staatlicher Souveränität gerechtfertigt sein kann. Bislang galt allerdings die Überzeugung, daß die Staaten, nicht aber die Bürger, Adressaten des Gewaltverbotes und des Selbstverteidigungsrechtes sind 135 • Es würde sich folglich - überspitzt fonnuliert - um staatliche Nothilfe fiir den Privatbürger eines anderen Staates handeln. Auch dann, wenn das Individuum zum vollwertigen Völkerrechtssubjekt aufgewertet werden könnte, ist die Ausgangsfrage wiederum eine andere. Mit der Nothilfefigur müßte begründet werden, warum sie einzelnen Staaten gestattet, die eigentlich dem Sicherheitsrat zugewiesene Aufgabe der Friedenswahrung selbst in die Hand zu nehmen. In diesem Fall handelt es sich nicht mehr um eine Nothilfe, sondern um eine Art "Notkompetenz". Das bedeutet zugleich, daß die Rechtfertigung fiir eine "Humanitäre Intervention" nicht die Begründung einer Ausnahme vom Gewaltverbot zum Gegenstand hat. Dem Einwand, gegen die Annahme einer solchen "Notkompetenz" spreche die Entstehungsgeschichte und Logik der Charta der Vereinten Nationen 136, da gerade die unautorisierte Gewaltanwendung verhindert werden sollte, kann entgegengehalten werden, daß das in der Charta vorgesehene Friedenssicherungssystem möglicherweise einen erneuten Weltkrieg verhindert, im übrigen aber nicht so funktioniert hat, wie es hätte sollen. Mit dem allgemeinen Vorwurf eines Versagens, einer allgemeinen Güterabwägung und dem Gedanken der Nothilfe läßt sich ein Handeln der Staaten ohne Mandat der Vereinten Nationen nicht überzeugend rechtfertigen 137 • Es ist daher an den Ausgangspunkt der Überlegung zurückzukehren.
l3S A. RandelzhoJer. zu Art. 2 Ziff. 4 Rdnr. 28, in: B. Simma, Charta der Vereinten Nationen, 1991. 136 Vgl. zu diesem Aspekt T. Bruha, Die Definition der Aggression, 1980, S. 177. ll7 Vgl. zur Diskussion um die Rechtfertigung des Gewalteinsatzes im Kosovo die Nachweise oben zu B. III.
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e) "Notkompetenz " der Staaten durch Pflichtverletzung des Sicherheitsrates? Ein in erster Linie völkerrechtlich geprägter Begründungsansatz kann sich auf den Wandel der tatsächlichen Verhältnisse und die prinzipielle Offenheit des Völkerrechts für neue Entwicklungen stützen. Die Charta konnte zunächst nur solche Fälle im Auge haben, die bei Vertragsschluß bedeutsam erschienen, mithin klassische zwischenstaatliche Konflikte. Zwar führen die Staaten auch heute noch herkömmliche Kriege; sie haben aber anscheinend eine geringere Relevanz. Die in der Gegenwart aktuellen Konfliktsituationen und die daraus resultierenden Friedensgefährdungen haben die Vertragsstaaten anscheinend nicht vorhergesehen. Soweit neue Phänomene wie die Zunahme von Bürgerkriegen und des internationalen Terrorismus sich nicht in das einfache Schema: Verstoß gegen das Gewaltverbot einerseits und Selbstverteidigung bzw. Maßnahmen nach Kapitel VII andererseits, einordnen lassen, müssen auch neue Lösungen in Betracht gezogen werden. Eine Rolle könnte hierbei spielen, daß die Menschenrechte und das Verbot des Völkermordes als "ius cogens" gelten und "erga omnes" wirken, so daß im Falle der Zuwiderhandlung alle Staaten als "verletzt" gelten 138 • Die Fortentwicklung kann durch eine Vertragsrevision oder aber durch eine entsprechend gewandelte Staatenpraxis erfolgen, die neues Recht schafft, das auch den Einsatz von Gewalt außerhalb eines Mandates der Vereinten Nationen legitimiert. Wegen der damit verbundenen Gefahr des Akzeptanzverlustes der Charta ist hier besondere Vorsicht angebracht. Sofern aber eine Veränderung durch Vertragsgestaltung nicht in Aussicht ist, könnte eine vermittelnde Lösung Platz greifen, die einerseits die bestehende Staatenpraxis berücksichtigt und andererseits di:: Vereinten Nationen einbindet. aa) Schutzpflichtverletzung An dieser Stelle können die aus dem deutschen Verfassungsrecht bekannten Überlegungen zur staatlichen Schutzpflicht und dem pflichtwidrigen Unterlassen vergleichend herangezogen werden I39 • Die Kehrseite des innerstaatlichen Verbo138 Vgl. dazu auch D. Thürer, Der Kosovo-Konflikt im Lichte des Völkerrechts: Von drei - echten und scheinbaren - Dilemmata, ArchVR 2000, S. 6. 139 Vgl. BVerfGE 46, 160 (164 f.); 49, 89 (142); 88, 203 (251); J Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: J. Isensee / P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts V, 2. Aufl. 2000, § 111 Rn. 77 ff.; J Dietlein, Die Lehre von den
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tes der Privatgewalt ist die Verpflichtung des Staates zur Gewährleistung von Sicherheit l40 . Kommt der Staat seiner aus dem Gewaltmonopol folgenden Schutzpflicht gegenüber seinen Bürgern nicht nach, kann er den von ihm erhobenen Anspruch auf alleinige Befugnis zur Anwendung von Gewalt nicht aufrechterhalten l41 . Zwar verfügt der Sicherheitsrat, wie oben aufgezeigtl42, nicht über ein Gewaltmonopol, so daß von einer unmittelbaren Schutzpflicht keine Rede sein kann, aber aus der in der Charta angelegten Gewaltkonzentration bei den Vereinten Nationen kann eben auch die Verpflichtung, diese Aufgabe tatsächlich wahrzunehmen, abgeleitet werden. Mit der Verletzung des Friedensgebotes sind schließlich regelmäßig massive Verletzungen von Menschenrechten verbunden. Wenn der Sicherheitsrat die berechtigten Schutzinteressen der Menschen vernachlässigt, indem er dringend gebotene Schutzmaßnahmen unterläßt, stellt er selbst die Berechtigung der Gewaltkonzentration bei den Vereinten Nationen in Frage. Wenn in Fällen von Völkermord und vergleichbar schwerwiegenden Verletzungen der Menschenrechte im Sicherheitsrat die nach Art. 27 UN-Charta erforderliche Mehrheit für Maßnahmen nach Kapitel VII nicht zu erzielen ist, droht ihm der Verlust seiner Akzeptanz. Durch eine nachhaltige Untätigkeit des Sicherheitsrates könnte das gesamte Friedenssicherungssystem der Vereinten Nationen in Frage gestellt werden. Dieses muß deshalb im Grundsatz auf der Verpflichtung des Sicherheitsrates zum Schutz der Menschenrechte aufbauen. Es ist Aufgabe des Sicherheitsrates, die in der Charta enthaltenen Ziele ernsthaft zu verfolgen. Diese Handlungsverpflichtung ergibt sich nicht nur aus dem Sinn und Zweck der Charta, sondern auch aus dem Wortlaut des Art. 51 S. 2 UNCharta. Darin ist neben der Befugnis des Sicherheitsrates zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit auch eine ausdrückliche Verpflichtung hierzu ausgesprochen. Der sich daraus ergebenden Auslegungsfrage, ob es sich hierbei tatsächlich um eine "Pflicht" handelt und welche Konsequenzen ein Pflichtverstoß haben könnte, wurde vom Schrifttum bislang kaum Beachtung geschenkt. So hält Jost DelbTÜck grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 17 ff.; P. Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, 1996, S. 20 ff. \40
G. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 13 ff. (192).
Zum Verhältnis von Gewaltmonopol und Unterrnaßverbot: V. Götz, Innere Sicherheit, in: J. Isensee / P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts III, 1988, § 79 Rn. 30 f. \42 B. V. 2. \4\
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den Begriff "Pflichten" in Art. 24 UN-Charta für eine unglückliche Wahl. Es ginge hier nur um die dem Sicherheitsrat von der Charta übertragenen Aufgaben oder Funktionen, da die Charta ihrem Wesen nach eine Kompetenzordnung darstelle l43 . Dem ist entgegenzuhalten, daß mit der Übertragung einer Aufgabe regelmäßig die Erwartung verbunden ist, diese werde auch wahrgenommen. Die Idee einer Ausnahme von der gegenwärtig geltenden Zuständigkeitsverteilung zur Wahrung der Menschenrechte in Gestalt einer "Notkompetenz" könnte nach alledem in nachfolgender These zusarnrnengefaßt werden: Vernachlässigt der Sicherheitsrat nachhaltig seine Aufgabe, den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren, so kann unter bestimmten Umständen die Zuständigkeit für die Bekämpfung von Friedensgefährdungen bzw. Friedensbrüchen in die Verantwortung der Staaten fallen, bis diese gewohnheitsrechtlich oder durch Vertragsergänzung ein modernes multilaterales Friedenssystem geschaffen haben. Zur Unterstützung der These einer Notkompetenz kann ergänzend Art. 53 UNCharta ins Feld geführt werden. Danach kann der Sicherheitsrat regionale Abmachungen oder Einrichtungen zur Durchführung von Zwangsmaßnahmen unter seiner Autorität in Anspruch nehmen. Diese dürfen ohne Ermächtigung des Sicherheitsrates indes keine Zwangsmaßnahmen ergreifen. Schon frühzeitig vertraten dagegen die Vereinigten Staaten die Ansicht, daß die Ermächtigung nicht stets vorher, sondern auch nachträglich, ausdrücklich oder stillschweigend erfolgen könne l44 . Rückblickend betrachtet kann das Verhalten des Sicherheitsrates im Anschluß an das Eingreifen der westafrikanischen Friedenstruppe Ecomog in Liberia l45 , als auch nach dem Vorgehen der NATO im ehemaligen Jugoslawienl 46 sowie in Afghanistan l47 hierfür als Indiz herangezogen werden l48 . Es handelt sich möglicherweise um von den Staaten gebilligte Anwen-
143 1. Delbrück zu Art. 24 Rdnr. 11 Anm. 27, in: B. Simma, Charta der Vereinten Nationen, 1991. 144
Vgl. dazu T Bruha, Die Definition der Aggression, 1980, S. 178 m. Nw.
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Res. 788 (1992) v. 19. November 1992; Res. 866 (1993) v. 22. September 1993.
Res. 836 (1993) v. 4. Juni 1993; Res. 1199 (1998) v. 23. September 1998; Res. 1203 (1998) v. 24. Oktober 1998; Res. 1244 (1999) v. 10. Juni 1999. In der Resolution vom 23. September 1998 hat der Sicherheitsrat eine Bedrohung des Friedens festgestellt. 146
147 Res. 1368 (2001) v. 12. September 2001; Res. 1373 (2001) v. 28. September 2001. 148 Problematisch bleibt die Frage, unter welchen Voraussetzungen regionale Bündnisse, wie etwa die NA TO, als "regionale Abmachung" i.S. von Art. 53 UN-Charta gelten können, vgl. A. RandelzhoJer zu Art. 53 Rdnr. 36 ff., in: B. Simma, Charta der Vereinten Nationen, 1991.
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dungsfälle einer nachträglichen Zustimmung l49 • Die weitere Entwicklung der Staatenpraxis könnte hier Klarheit schaffen. Da der Sicherheitsrat zum einen keiner obligatorischen Gerichtsbarkeit unterworfen ist und zum anderen auch hinsichtlich der Rechtsfolgenentscheidung ein weites Ermessen hat, so daß er grundsätzlich auch im Falle eines Friedensbruchs untätig bleiben kann l50 , ist ein vorwerfbares Unterlassen nur in Gestalt einer groben Pflichtverletzung denkbar. Gegenwärtig dürfte die These, daß eine fehlerhafte Abwägung einen Ermessensfehler und eine Schutzpflichtverletzung beinhaltet, die die Staaten ermächtigt, allgemein auf großen Widerspruch stoßen. Sofern aber die Staatenpraxis im und außerhalb des Sicherheitsrates diese Richtung einschlägt, bedarf es zur Begrenzung des in der Figur der "Notkompetenz" liegenden Gefahrdungspotentials, insbesondere der Mißbrauchsgefahr, weiterführender Überlegungen zu ihren Voraussetzungen. bb) Verfahrenssicherungen zum Schutz vor Mißbrauch Wenn nach alledem die Anerkennung einer Ausnahme von der Zuständigkeitskonzentration beim Sicherheitsrat erwogen werden soll, so kann diese nicht voraussetzungslos sein. Hier hat der Satz von der restriktiven Auslegung von Ausnahmetatbeständen seine volle Berechtigung. Grundsätzlich ist also der Sicherheitsrat zuständig, ausnahmsweise wären es aber auch einzelne Staaten. Da es sich um eine verfahrensrechtliche Lösung handelt, sollten zunächst auch verfahrensrechtliche Bindungen im Vordergrund stehen. Deshalb müßte in jedem Falle der Sicherheitsrat beteiligt, d. h. angerufen werden i51 • Das gilt auch vor dem Hintergrund, daß die Staaten dazu neigen, auf eine förmliche Abstimmung zu
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Dagegen wird von den Kritikern eingewendet, daß eine (bloße) de-facto-Tolerierung
fiir die Bildung neuen Gewohnheitsrechts nicht ausreiche, W. Hummer / J Mayr-Singer,
Der Kosovo-Krieg vor dem internationalen Gerichtshof, Neue Justiz 2000, S. 116; B. Simma, Die NATO, die UN und militärische Gewaltanwendung: Rechtliche Aspekte, in: R. Merkei, Der Kosovo-Krieg und das Völkerrecht, 2000, S. 27; M Bathe / B. Martenczuk, Die Nato und die Vereinten Nationen nach dem Kosovo-Konflikt, VN 1999, S. 127 f.; M Herdegen: Der Wegfall effektiver Staatsgewalt im Völkerrecht: "The Failed State", in: D. Thürer / M. Herdegen / G. Hohloch, Der Wegfall effektiver Staatsgewalt: "The Failed State", 1996, S. 75 . 150 B. Larinser, Bindende Resolutionen des Sicherheitsrates, 1996, S. 50 f.; B. Martenczuk, Rechtsbindung und Rechtskontrolle des Weltsicherheitsrats, 1996, S. 254 . 151 So im Ansatz auch M Herdegen : Der Wegfall effektiver Staatsgewalt im Völkerrecht: "The Failed State", in: D. Thürer / M. Herdegen / G. Hohloch, Der Wegfall effektiver Staatsgewalt: "The Failed State", 1996, S. 75 .
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verzichten, wenn davon auszugehen ist, daß die gemäß Art. 27 ON-Charta erforderliche Mehrheit fiir Maßnahmen nach Kapitel VII nicht erzielt werden wird. Wird der Sicherheitsrat angerufen, würde es zunächst genügen, wenn dieser eine Friedensbedrohung bzw. einen Friedensbruch feststellt und damit geklärt ist, daß er selbst berechtigt wäre, Gewalt anzuwenden. Wird die Frage verneint, so muß die Annahme einer Notkompetenz ausscheiden. Wenn im Anschluß daran zumindest ein ständiges Mitglied seine Zustimmung zu Maßnahmen nach Kapitel VII verweigert oder im übrigen keine Mehrheit erzielt wird, spricht dies vor dem Hintergrund der mit regionaler Gewaltanwendung verbundenen Risiken, insbesondere der Gefahr eines Flächenbrandes bis hin zu einem erneuten Weltkrieg, zunächst gegen die Annahme einer Notkompetenz. Das Festhalten an der Gewaltfreiheit kann trotz Vorliegens einer Friedensbedrohung die bessere Lösung sein. Ist dies nicht der Fall, kann die Unterlassung dann in einem weiteren Sinne pflichtwidrig sein. Im Anschluß daran sollte zunächst und vorrangig die Generalversammlung eingebunden werden. Diese hat bereits im Jahre 1950 einen allerdings bislang nicht genutzten Weg gewiesen, wonach zumindest die Generalversammlung sich unter bestimmten Voraussetzungen über die fehlende Zustimmung des Sicherheitsrates hinwegsetzen kann l52 . In der Resolution 377 ("Uniting for Peace") wurde beschlossen, daß "in allen Fällen, in denen eine Bedrohung des Friedens, ein Friedensbruch oder eine Angriffshandlung vorzuliegen scheint und in denen der Sicherheitsrat mangels Einstimmigkeit seiner ständigen Mitglieder seine Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit nicht wahrnimmt, die Frage unverzüglich von der Generalversammlung behandelt wird, mit dem Ziel, zur Wahrung bzw. Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit den Mitgliedstaaten geeignete Empfehlungen rur Kollektivmaßnahmen zu geben, die bei Friedensbrüchen oder Angriffshandlungen erforderlichenfalls auch den Einsatz von Streitkräften einschließen können,,153.
Gelangt auch die Generalversammlung zu keiner Entscheidung, müßte die Annahme, die Weigerung des Sicherheitsrates, Maßnahmen nach Kapitel VII zu ergreifen, sei pflichtwidrig, darüber hinaus an weitere materiell-rechtliche Voraussetzungen geknüpft werden. Diese können nur aus allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts und der Charta selbst abgeleitet werden. Hier wäre zuallererst
152 Vgl. dazuJ. Delbrück, Die Effektivität des UN-Gewaltverbotes, Die Friedens-Warte 74 (1999), S. 149. 153 Res. 377 v. 3. November 1950.